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German Pages 428 Year 2015
Laura Frahm Jenseits des Raums
Band 2
2010-03-18 09-07-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e236688166338|(S.
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Editorial Die interdisziplinäre Reihe Urbane Welten versammelt aktuelle Positionen zu einem jungen und im Entstehen begriffenen Forschungsfeld: der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung. Im Zentrum der Reihe steht das wechselseitige Bezugsverhältnis zwischen Kultur und Urbanität: Kulturen und kulturelle Artikulationen werden in urbanen Zusammenhängen stets neu konturiert. Zugleich wird Urbanität durch eine Vielfalt medialer Inszenierungen neu erschaffen und transformiert, werden städtische Wandlungsprozesse durch Medien sichtbar, hörbar, fühlbar und lesbar. Die Reihe Urbane Welten führt internationale Forschungsdiskurse der urban studies unter medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zusammen und bietet besonders jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Publikations- und Diskussionsforum. Die Reihe wird herausgegeben von Laura Frahm und Susanne Stemmler.
Laura Frahm (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Raumtheorien und mediale Topologien, Theorie und Geschichte des Films sowie kulturelle Perspektiven der Metropolenforschung.
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Laura Frahm Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen
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Gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, des Centers for Metropolitan Studies, Berlin, sowie der FAZIT-Stiftung, Frankfurt.
SCHRIFTEN DES INTERNATIONALEN KOLLEGS FÜR KULTURTECHNIKFORSCHUNG UND MEDIENPHILOSOPHIE Band 5 Eine Liste der bisher erschienenen Bände findet sich unter www.ikkm-weimar.de/schriften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Martin Goihl: »Beton(t) fortschrittlich 1«; Photocase.com Lektorat: Julika Zimmermann Satz: Laura Frahm Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1121-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Vorwort 7
Einleitung 13
I. Raumtheoretische Grundlagen und Topologien 35
Raumbegriffe und Raumkonzepte: Drei Zugriffe auf den Raum 45
Entwicklungslinien des relationalen Raums 68
Die drei Wendungen der Topologie 81
Das Glatte und das Gekerbte 101
II. Der filmische Raum: Ein topologischer Entwurf 105
Dispositiver, medialer und modaler Raum 118
Von den filmischen Orten zum filmischen Raum 135
Der filmische Raum und die Bewegung 146
Topographien und Topologien des filmischen Raums 167
III. Metropolen in Transformation: Eine Zwischenbetrachtung 179
IV. Die Produktion von Sichtbarkeit: Zum frühen Stadtfilm der zwanziger Jahre 199
Topologien der Ambivalenz: Die Entgrenzung der Gegensätze 208
Bewegungstopologien und die Rhythmen der Metropole 225
Abstrakte Topologien: Im Wechselspiel der Künste 241
V. Das Unsichtbare der Metropolen: Film noir der vierziger und fünfziger Jahre 257
Polare Topologien: Die Verschränkung des Gegensätzlichen 269
Die Ausweitung der Metropole und Topologien des Transfers 281
Netztopologien: Die Verknüpfung der Noir-Stadt 293
VI. Fragmentierte Sichtbarkeiten: Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre 307
Mikrotopologien und die Fragmentierung der Metropole 321
Zwischenräume, Übergänge und Transittopologien 336
Topologien des Zufalls: Das Denken der Welten 349
VII. Epilog. Zwischen Topographie und Topologie: LOS ANGELES PLAYS ITSELF 367
VIII. Schlussbetrachtung 385
Literatur 399
Filmographie 419
Abbildungsverzeichnis 423
Danksagung 427
VORWORT Der Gedanke, es könne ein Jenseits des Raums geben, scheint zunächst genau so paradox wie die Annahme vom Ende (oder dem Anfang) der Zeit: Was immer Anfang und Ende hat, liegt bereits in der Zeit, benötigt und schafft sie. Und genau so bettet doch die Differenz von Diesseits und Jenseits das, was ihr unterworfen wird, unhintergehbar in den Raum ein und generiert überall, wo sie Anwendung findet, Raum. Jenseits des Raums kann uns deshalb eigentlich nur eines erwarten: Raum. Und dennoch ist es etwas völlig anderes. Raum diesseits und jenseits des Raums ist nicht dasselbe; beide unterscheidet etwas ganz Grundlegendes, eine topologische Differenz, die den Unterschied zwischen inneren und äußeren Topologien konstituiert. Die topologische Differenz markiert nämlich die verschiedenen Herkünfte, aus denen der Raum hervorgeht. Innere Topologien lassen Raum aus unhintergehbaren Bewusstseinsprozessen erstehen, aus einer allem Raum vorgängigen ‚Leibräumlichkeit‘, wie die Phänomenologie sie beschrieben hat. Äußere Topologien dagegen erschließen Raum durch Differenzerfahrungen und Transformationsprozesse zwischen verschiedenen räumlichen Ordnungen. Sie haben ihren Ort daher in Handlungssystemen und Textstrukturen, wie sie vor allem im Poststrukturalismus analysiert worden sind. Die Entdeckung dieser Differenz, die zunächst als operative Kategorie eingeführt wird, ist eine der Hauptleistungen der hier vorliegenden Studie. Das Potenzial dieser Differenz, die das Jenseits des Raums denkbar und, was mehr ist, vorstellbar, ja wahrnehmbar macht, ist kaum zu überschätzen. Die Wahrnehmbarkeit der topologischen Differenz ist dabei keine nachträgliche Größe. Denn von innerer und äußerer Topologie konnten wir lange nichts oder nicht viel wissen. Da wir beide nie zugleich sehen konnten, waren wir nicht in der Lage, in dem jeweils anderen, ausgeschlossenen Raum, im Raum jenseits des Raums – im Sinne der obigen Paradoxie – etwas anderes als die Fortschreibung des Raums zu sehen. So lange also war der Raum stabil und homogen, eine Menge oder Summe von Aufenthaltsorten. Erst als wir die innere Topologie des Bewusstseins im Außenraum wahrnehmen und die äußere Topologie der Handlung als Innenraum erfahren konnten, änderte sich das. Nun wurde Raum, statt als unendliche Fortschreibung, als topologische Differenz zwischen verschiedenen beteiligten 7
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Topologien sichtbar. Wir konnten jetzt Raum instabil, dynamisch und in Bewegung wahrnehmen, seine Dilatationen und Kompressionen, seine wandelnden Ausdehnungen und Aggregatzustände sehen. Aus dem Raum als – feste – Form wurde der Raum als – formbares – Medium. In seiner neu sichtbar und erfahrbar gewordenen Beweglichkeit und Transformationsfähigkeit zwischen Bewusstseinsraum und Handlungsraum konnte der Raum jetzt vor unseren Augen über seine eigenen Grenzen hinauswachsen in das, was jenseits des jeweiligen Raums liegt. Er konnte auch auf sich selbst zurückkommen und dann das, was nicht Raum ist, was außerhalb des Raums liegt, mitbringen. Und statt nun jenseits des Raums immer noch und immer nur auf Raum zu stoßen, zeigte sich das Jenseits des Raums als ein Anderes des Raums – und dennoch im Raum, nämlich – eben in topologischer Differenz – als Veränderung des Raums; und als unausgesetzte Veränderung wiederum dieser Veränderung. So wenig wie wir den Raum des ganz Kleinen, Mikroskopischen, oder des ganz Großen, das Universum, unbewehrt wahrnehmen können, so wenig können wir auch ins Jenseits des Raums einfach hineinblicken. Um Erfahrungen mit der Transformation des Raums, dem Jenseits des Raums und der topologischen Differenz zu machen, bedürfen wir eines technischen Hilfsmittels, eines Mediums, wie auch Mikroskop und Teleskop welche sind. Dieses Medium nun, mit dessen Hilfe wir ins Jenseits des Raums schauen können, ist der Kinematograph. Die kinematographische Erfahrung eröffnet einen Raumtypus eigenen Rechts und Zuschnitts. Denn der Kinematograph ist nicht nur eine Maschine zur Wiedergabe und Konstruktion, zur Visualisierung und Montage des Normalraums. Filme spielen nicht einfach im Raum unserer alltäglichen, dreidimensionalen Erfahrungswelt. Vielmehr erzeugen sie einen komplett plastischen produktiven, deformierbaren, transformierbaren und generativen Raum, wie wir ihn in dieser Form ausschließlich durch den Kinematographen, zumindest aber erst seit dem Kinematographen haben können. Aus dieser Logik erwachsen drei Verfahrensweisen, entlang derer der Film Raum erzeugt, repräsentiert und konzipiert. In aller Regel verfolgt er sie in einem Zug, einander eingeschrieben und verbunden. Sie können jedoch in einzelnen Filmen sehr unterschiedlich gewichtet, thematisiert und geformt sein. Dies sind, wie Laura Frahm entwickelt, erstens die polare Konstruktion, die über die Einsetzung und Überschreitung von Gegensätzen erfolgt wie etwa Innen und Außen, Rahmen und Fenster, Stadt und Land, Oben und Unten, Arm und Reich, Diesseits und Jenseits. Zweitens schafft der Film Raum durch Bewegungen, durch Ver- und Entrückungen aller Art sowohl der sichtbaren Objekte im Bild als auch des Bildes selbst. Eingeschlossen sind hier auch die Rhythmisierungen der Montage und die narrativen Bewegungen. Schließlich aber stiftet 8
VORWORT
Film Raum durch die Medialisierung, d. h. durch Verknüpfung des Verschiedenen, ja Inkompatiblen, durch Transformation, Überführung des Einen ins gänzlich Andere: ins Jenseits des Raums. Und genau hier haben wir es mit der topologischen Differenz zu tun. Diese besondere Leistung des Kinematographien in der Erzeugung von Raum ist auch schon früh erahnt und umschrieben worden. Bereits ganz frühe Texte zum Film, erst recht die frühe Filmtheorie, sind davon beeindruckt. Es scheint auch so, als dass die filmische Artikulation der topologischen Differenz dabei unausgesprochen mitschwingt. An einem Beispiel jüngerer Theoriebildung, das Laura Frahm aufführt, kann das beobachtet werden: Gilles Deleuzes Film-Philosophie ist um die Leitdifferenz des Bewegungsbildes vom Zeitbild herum organisiert. Sie kann auf die topologische Differenz hin gelesen werden. Etwa führt Deleuze den Begriff des ‚beliebigen Raums‘ als eine zentrale Kategorie kinematographischer Raumbehandlung. Ein beliebiger Raum ist bar aller eigentlichen Raumeigenschaften innerer oder äußerer Art. Er fungiert rein funktional, indem er als selbstbewegliche Scharnierstelle im ohnehin bewegten Raum der Filmhandlung einen Wechsel der Bewegungsrichtung, eine Umschichtung des Raums usw. ermöglicht. Dieses Transformationspotenzial kann er nun in innerer oder äußerer Topologie entfalten. Im klassischen Bewegungsbild Deleuzes nämlich begegnet der beliebige Raum als Affektbild, und das heißt immer: an eine Subjektivierungs- oder Bewusstseinsinstanz gebunden, an ein Innen verwiesen. Der beliebige Raum des Bewegungsbildes spannt damit eine innere Topologie auf. Im Zeitbild dagegen wird der beliebige Raum äußerlich und ausdrücklich, unmittelbar entsubjektiviert in Bildern und Blicken wirksam: eine äußere Topologie. Aber nicht nur der Filmtheorie, auch – und vor allem – dem Film selbst hat diese seine besondere Fähigkeit keine Ruhe gelassen. Der Film hat sich ständig selbst dabei beobachtet, wie er sich in die äußere Topologie jenseits des Denkraums ausdehnt und den Handlungsraum als innere Topologie aufnimmt und hereinholt. Die topologische Differenz laufend zu artikulieren, indem er sie überbrückt, war ihm nicht genug. Sie hat ihn vielmehr sehr beschäftigt, er hat sie ständig reflektiert und weiterentwickelt und so versucht, sich über sie klar zu werden. Er hat sich selbst unter die Bedingung des neuen Raumkonzepts und seiner Möglichkeiten gestellt, die er doch erst hervorgebracht hatte. Zu diesem Zweck hat der Film seinen eigenen Aus- und Eingriff in den Raum beobachtbar gemacht. Er hat ihn gleichsam externalisiert. Er hat einen Gegenstand entwickelt, an dem er seine Raumgebungsverfahren in besonderer Weise experimentell erproben und fortentwickeln, auf den er sein eigenes Konzept des Transformationsraums bevorzugt projizieren konnte. Indem er diesem Gegenstand seine eigenen 9
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Raumgebungs- und -umformungsverfahren unterstellte, konnte er sie nun beobachten und ihrerseits transformieren, ausgestalten. Dieser privilegierte Gegenstand, an dem der Film seine topologischen Operationen ausführt wie an sich selbst, ist die moderne Metropole. Die Thematik des Städtischen ist es, die dem Film zum ausgelagerten Objekt wird, in dem der Film seine eigenen Verfahren in einen filmisch beschreibbaren Raum hinein verlagert. Der Stadt- oder Metropolenfilm schreibt der Stadt zu, was ihn selbst ausmacht, und tritt so in eine Reflexionsbeziehung zu seinen eigenen Spatialisierungspraktiken ein. Die Stadt oder die Metropole ist deshalb kein mehr oder weniger beliebiges filmisches Thema wie viele andere. Die moderne metropolitane Stadt ist nämlich ein Objekt, das (und vor allem ein Raum, der) ohne den Film überhaupt nicht wahrnehmbar wäre. Sie ist das Produkt eines Blicks und einer Erfahrung, die immer schon vom Film herkommt. Wenn uns die Stadt als ein Jenseits des Raums erschließbar ist, dann deshalb, weil wir diese Erschließbarkeit über den Kinematographen erschlossen bekommen haben. Der Avantgardefilm der zwanziger Jahre etwa arbeitet zunächst auf der Basis relativ einfacher polarer Schemata, widmet sich dann jedoch der Entgrenzung und Auflösung genau dieser Strukturierungen. Gerade darin, in dieser Zerlegung des schon längst Gewohnten, immer unausdrücklich Gebliebenen, machen sie die grundlegende Konstruiertheit, insbesondere die Montiertheit des filmischen wie des metropolitanen Raums deutlich. Später, im Film noir, übernehmen die Lichträume diese Funktion. Hell und Dunkel wirken in der Erzeugung von Rastern und Mustern, flächigen Bildgliederungen, Eingrenzungen und Ausgrenzungen unentwegt zusammen, ohne jedoch zu Zwischen- und Mittellösungen – etwa fein abgestuften Grauwerten – zu finden. Auch die Bewegung, der Übergang zwischen den abgegrenzten Raumteilen und quer zu ihnen, als filmtypische Operation der Raumgenerierung wird in den Filmen selbst verhandelt. Im Avantgardefilm zum Beispiel geschieht dies, indem Bewegungsverdoppelungen, Bewegungsexzesse, aber auch Stillstellungen vorgenommen werden. Im Film noir wird der Raum, der von der Bewegung durchzogen wird und in dem sie sich vollzieht, ausgeblendet und durch bewegte Räume oder Bewegungsräume und -motive ersetzt wird: Fahrzeuge, meist Automobile und Telefone. Schließlich verwirklicht der Avantgardefilm eine Art der äußeren Topologie, indem er nämlich die Zugriffe anderer Medien auf den Filmgegenstand, die Metropole, reflektiert. Fotografie, Malerei, Poesie werden in den Filmtext aufgenommen und vom Film zugleich integriert wie von ihm in ihm und durch ihn unterschieden, sodass ein abstrakter Medienraum aufgespannt wird, durch den sich der Film wiederum als ein beweglicher Raum innerhalb dieses Raums hindurch bewegen kann und der hier 10
VORWORT
bildthematisch mit dem Raum der Metropole identifiziert wird. Im Film noir kommt die topologische Differenz da zum Austrag, wo der Stadtraum als unsichtbares Netz inszeniert wird. Die unwahrscheinlichsten Querverbindungen sorgen dafür, dass das eben noch Ausgeschlossene, Abwesende dennoch das Anwesende steuert und dominiert. Das geschieht etwa als Omnipräsenz der Korruption, in der jeder Eintrag im Raumnetz als etwas anderes fungiert als das, was ihn als Ort eigentlich ausmacht. Der Stadtfilm der achtziger und neunziger Jahre dann verlässt sich mehr und mehr auf die Erfahrung und Artikulation topologischer Differenz. Es gibt hier nicht mehr eine Strukturgebung, eine Beweglichkeit, eine Transformation, aus der der Raum hervorginge, in dem sie sich zugleich vollziehen, sondern deren mehrere. Keine kann die andere ersetzen, ergänzen oder gar erfassen. Zwischen dem sichtbaren Raum und dem unsichtbaren, dem sensiblen und dem intelligiblen Raum, eben dem Bewusstseins- und dem Handlungsraum, durch deren Trennung sich moderne Raumkonzepte so profilieren, gibt es dabei zunehmend keine Grenzziehung mehr. So treten New York und Los Angeles gar nicht mehr als Ganzes oder als Summe aus Teilen auf. Sichtbar werden Einzelwelten, Binnenräume, Mikrotopologien, die in sich funktionieren, ohne Hinblick auf andere, neben ihnen vorkommende Welten und deren Binnenraum. LOS ANGELES PLAYS ITSELF schließlich setzt sich mit einer Stadt auseinander, die ohne Film (und ohne die Film) überhaupt nicht denkbar wäre. Die Bewegung des Bildes wird zu einer Bewegung durch die historische Tiefe und der historischen Transformation dieser Bilder und damit der Stadt. Und schließlich wird, so eine der Aussagen des Films, die Stadt sich ihrer selbst bewusst, nicht ohne Außenweg über den Ort, an dem ihre Vorstellung ihrer selbst sichtbar werden kann. Und in einem Zug damit vollzieht sich die Selbstbewusstwerdung des filmischen Raums. Aus der Reflexion des Films auf den städtischen oder metropolitanen Raum resultieren also im Zuge der Filmentwicklung Blicke des Films auf seinen Blick, bildet sich ein transformierbarer Raum räumlicher Transformation. In der Folge bildet der Film dann verdichtete Konzepte aus, regelrechte Auffassungen von einem Raum, wie er nur nach einem Durchgang durch das Jenseits des Raums möglich wird. Bislang aber haben diese kinematographischen Konzepte und Auffassungen, die aus dem Stadt- und Metropolenfilm erwachsen, noch nicht zu einem Dialog mit den Begriffen, Argumentationen und Theorien gefunden, die vor allem in der Soziologie, der Kulturwissenschaft und der Philosophie, aber auch in anderen Wissenschaften, um den Raum gezogen worden sind. Sie sind in die derzeit so hoch entwickelte Theoriedebatte um Raum-Denken und Raum-Konzepte noch nicht eingebunden.
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Laura Frahms große Studie nun ändert dies. Sie zeigt, wie Film Raum überschreitet, transformiert und reflektiert; und zwar insbesondere den Raum dieser seiner eigenen Operationen, den er also ebenfalls überschreitet, transformiert und reflektiert. Dabei spricht sie dem FilmRaum ein Reflexionspotential zu, das den Modellen und Konzepten der begrifflich arbeitenden Raumtheorien, insbesondere der jüngeren Debatten in den Kultur- und Sozialwissenschaften und in der Philosophie, funktional äquivalent sind, auch wenn sie im Medium des bewegten Bildes – statt der Theoriesprache – gefasst sind. Die Übersetzung der filmisch verfassten Konzepte vom Jenseits des Raums und von der topologischen Differenz in Begriffssprache und theoretisch verfahrende Argumentation ist die Hauptleistung dieser Studie. Sie erstellt nicht weniger als ein originäres, transformables Konzept des Raums, vom Jenseits des Raums gesehen, das filmbasiert ist, das aber letztlich theoretisch-philosophisch zu verstehen ist. Die kinematographisch begründete Differenz der inneren und der äußeren Topologie, die Laura Frahm einführt, kann nun verwandten Konzepten, etwa der berühmten Dichotomie vom glatten und gekerbten Raum bei Gilles Deleuze oder anderen Konstrukten rezenter Raumtheorien wie derjenigen von Topologie und Topographie bei Stephan Günzel oder von Ort und Raum bei Michel de Certeau beigestellt werden. Zur inneren Topologie nunmehr des Konzepts gehört dann auch, dass es nach innen binnendifferenziert ist, sodass es als Entwicklungs- und Transformationsgeschehen deutlich wird. Zu seiner äußeren Topologie gehört, dass es gegen solche anderen Konzepte konturiert ist, insbesondere aber mit ihnen in produktiven Wechsel- und Überkreuzungsverhältnissen steht. Es ist deshalb so wichtig wie wunderbar, dass Laura Frahms Jenseits des Raums nun einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden kann. Diese Arbeit hat jede Aufmerksamkeit verdient und wird der weiteren Debatte jenseits des Spatial Turn entscheidende Impulse verleihen. Weimar, im Januar 2010 Lorenz Engell
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EINLEITUNG Der Blick fällt auf eine Baustelle. Überall liegen Bretter, Stahlrohre, Träger und andere bauliche Versatzstücke; der Film läuft im Zeitraffer ab, und in Sekundenschnelle lässt sich mitverfolgen, wie das Gebäude – das Star Theatre in Manhattan – aufgebaut wird, Stock für Stock, wie der Dachstuhl errichtet und die Fassade mit Markisen, Schautafeln und Schriftzügen versehen wird. Dann hält die Bewegung des Films kurz inne, der Zeitraffer wird angehalten und der Blick für eine Weile auf das fertiggestellte Theater freigegeben, um im nächsten Moment wieder einzusetzen; nun jedoch in umgekehrter Bewegungsrichtung. Auf einmal sieht man, dass das Star Theatre, eben noch errichtet, wieder abgebaut wird, um am Ende der drei Minuten, die der Film dauert, wieder bei der Ausgangssituation angelangt zu sein: der Baustelle. Was hier beschrieben wird, ist der Verlauf von DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE, einem im Jahr 1901 von Frederick S. Armitage für die American Mutoscope and Biograph Co. gedrehten Kurzfilm, aufgenommen aus den gegenüberliegenden Büros der Filmproduktionsfirma, in einem Abstand von jeweils vier Minuten. Dieses frühe Filmdokument lässt sich als Gründungsurkunde der filmischen Raumkonstruktion lesen, und dies aus drei Gründen: Denn was in diesem kurzen Beispiel vorgeführt wird, sind nichts weniger als drei Stufen bzw. drei Logiken der filmischen Transformation, die bei aller Schlichtheit und Einfachheit ihrer Ausführung dennoch auf einen zentralen Kern der Möglichkeiten der filmischen Raumkonstruktion verweisen. Da ist zunächst die Aufzeichnung von Bewegung als erste Stufe der filmischen Transformation, die als Sichtbarmachung einer räumlichen Veränderung und Umformung inkraft tritt. Da ist zweitens der Einsatz des Zeitraffers als zweite Stufe der filmischen Transformation, welcher der abgefilmten Wirklichkeit nicht inhärent ist, sondern eine spezifisch filmische Form der Bewegungserzeugung (neben anderen möglichen Formen) bezeichnet, die in diesem Fall zu einer Beschleunigung und Steigerung der Bewegung führt. Und da ist drittens der Faktor der Umkehrbarkeit beider Bewegungen – der äußeren wie der inneren –, der sich als Paradoxie und als Kuriosum in den Film einschreibt. Denn bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass sich die Figuren zu Beginn rückwärts 13
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bewegen, was bedeutet, dass die Zeitspur nicht allein deutlich beschleunigt, sondern gleichzeitig umgekehrt wird, wodurch die filmische Transformation allein in Rückgang auf das zuvor Dagewesene (wie in der ersten Hälfte des Films) oder aber als Vorausdeutung auf die ausstehende räumliche Dekonstruktion zu begreifen ist (wie in der zweiten Hälfte), um am Ende wieder genau dort anzugelangen, wo der Film seinen Anfang genommen hat: am Endpunkt einer räumlichen Transformation.1 Während im ersten Fall die Transformation auf das Sichtbare bezogen wird und damit auf das, was sich als Gegebenes in den Film einschreibt (als Aufbau und Abbau eines Gebäudes), so erfolgt im zweiten Fall die Transformation in Bezug auf das Unsichtbare bzw. auf das allein durch den Film Sichtbare, das dem Film als Medium der Bewegung unmittelbar eingeschrieben ist und das sich in jeder filmischen Raumkonstruktion mitteilt (als Bewegtheit des Mediums selbst). Die dritte Stufe der Transformation bezeichnet dann die Umkehrung und Wendung dieser ersten beiden Transformationsstufen, insofern sie das Paradoxe in die Raumkonstruktion einführt, das ebenso auf die Transformation des Sichtbaren bezogen ist, wie es auf die spezifisch filmische Bewegtheit des Mediums abzielt und beide Seiten in eine Endlosschleife überführt, die weder einen eindeutigen Anfang noch ein eindeutiges Ende kennt. Nun wäre es zu kurz gefasst, die Komplexität der filmischen Raumkonstruktion in einer dreifachen Transformationsdynamik der sichtbaren, der beschleunigten und der paradoxierten Bewegung des filmischen Bildes aufgehen zu lassen, ebenso wie es zu kurz gefasst wäre, den filmischen Raum allein auf seine innere und äußere Bewegung hin zu befragen. Vielmehr dienen diese drei Szenarien der filmischen Raumkonstruktion als erste Zeichen einer Transformation, die im Laufe der Ausführungen dieser Studie bzw. im Zuge der Entwicklungsdynamiken der filmischen Metropole als eine vielfältige Struktur unterschiedlicher, sich überlappender und teilweise auch widersprüchlicher Transformationsstufen entfaltet werden. Unter diesem Blickwinkel werden auch die Filme, die im Zentrum der Betrachtungen stehen, immer wieder auf ihre Artikulationen eben dieser Transformationsräume des Films hin befragt, während sie gleichzeitig zu einzelnen Momenten verdichtet werden, in denen das Transformative des filmischen Raums auf besondere Weise hervortritt. 1
Dabei ist festzuhalten, dass die Umkehrung der filmischen Bewegung in der Frühzeit des Films keine Seltenheit war und auch nicht als ‚räumliche Umkehrung‘ begriffen, sondern vielmehr als Kuriosum des Mediums Film aufgeführt wurde; vgl. hierzu etwa Gunning, Tom: „An Aesthetic of Astonishment. Early Film and the (In)Credulous Spectator“, in: Linda Williams (Hg.): Viewing Positions. Ways of Seeing Film. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press 1995, S. 114-133. 14
EINLEITUNG
Dabei verweisen die drei Szenarien filmischer Bewegung in DEMOLIBUILDING UP THE STAR THEATRE auf einen gemeinsamen Kernpunkt, welcher den raumtheoretischen Ausführungen dieser Studie zutiefst eingeschrieben ist: Filmische Räume sind Räume, die weder mit dem Verständnis eines in sich geschlossenen, grundsätzlich unbewegten und unbeweglichen Behälterraums zu vereinen sind, noch mit denjenigen Raumkonzepten, denen ein Mindestmaß an Stabilität und Materialität unterlegt wird, wie es in der Geschichte des Raumproblems, selbst in ihren progressivsten Konzepten, immer wieder versucht wurde.2 Denn filmische Räume sind selbst in Bewegung, es sind genuin bewegte Räume, die einer kontinuierlichen und mehrschichtigen Transformation unterliegen.3 Dabei äußert sich die Transformation des Raums durch den Film nicht allein in einer spezifisch filmischen Bewegung, die stets – wie die ersten beiden Transformationsstufen verdeutlichen – zwei Seiten hat, sondern ganz grundlegend in den Konstruktionsmechanismen eines übergreifenden filmischen Raums aus einzelnen räumlichen Versatzstücken. Dieser Aspekt verweist unmittelbar auf die zweite Eigenschaft filmischer Räume: Sie sind konstruierte Räume, in denen potenziell jeder Anschluss und jede Raumfolge möglich ist und die zugleich als paradoxe Raumkonstruktionen in Erscheinung treten können – und darauf verweist die dritte Transformationslogik des filmischen Raums. In dieser Hinsicht entziehen sich filmische Räume einer unmittelbaren Rückführung auf den materiellen Raum, oder präziser gefasst: Selbst wenn sie auf einen SHING AND
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Besonders deutlich wird dies im Raummodell der klassischen Mechanik bei Isaac Newton als ‚absolutem, wirklichen Seienden‘, das in der Folgezeit immer wieder mit dem Modell des sogenannten ‚Container-Raums‘ kurzgeschlossen wird und an dem sich aktuelle Raumdiskurse nach wie vor abarbeiten; vgl. Newton, Isaac: Die mathematischen Prinzipien der Physik. Hg. v. Volkmar Schüller. Berlin/New York: de Gruyter 1999. Doch selbst in der Relativitätstheorie Einsteins geht es in Abgrenzung zu Leibniz’ monistischer Position um eine Rückbindung des Raums bzw. des Feldes an seine materiellen Gegebenheiten und damit letztendlich um einen modifizierten Dualismus von Raum und Materie; vgl. von Weizsäcker, Carl F.: Aufbau der Physik. München: dtv 31994, S. 261ff. Diesen Aspekt nimmt auch Erwin Panofsky in seinem einflussreichen Essay Stil und Medium im Film zum Ausgangspunkt, um den Film noch einmal auf seine besondere „Dynamisierung des Raumes“ und seine „Verräumlichung der Zeit“ hin zu lesen: „Es bewegen sich nicht nur Körper im Raum, der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an [...]. Eine Welt von Möglichkeiten öffnet sich, von denen das Theater niemals träumen kann.“ Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film. Frankfurt/M.: Campus 1993 [1936/47], S. 17-48, hier S. 23. 15
JENSEITS DES RAUMS
materiellen Raum zurückgeführt werden, so geschieht dies allein im Durchgang durch eine komplexe filmische Transformation, die sich als solche im Film wiederum mitteilt, wodurch filmische Räume in ihrer dritten Eigenschaft als mediale Räume in Erscheinung treten. Aus diesen ersten Vorbemerkungen wird bereits ersichtlich, dass es dieser Arbeit in erster Linie um die Herleitung eines spezifisch filmischen Raumkonzepts geht, das in der Lage ist, diese einzelnen Transformationsstufen und Eigenschaften des filmischen Raums in einem umfassenden Konzept zu integrieren. Das Konzept der filmischen Topologie, das hier vorgeschlagen wird, bringt besonders zwei Facetten in die Diskussion des filmischen Raums ein: Erstens steht die filmische Topologie für die Möglichkeit, den Prozess der filmischen Transformation als die grundlegende, immanente Raumlogik des Films zu begreifen; und zweitens birgt sie das Potenzial, die filmische Raumbildung als Überlagerung unterschiedlicher Topologien und damit als eine komplexe räumliche Struktur zu begreifen, die sich jeweils hinsichtlich ihrer Anordnungsund Beziehungsgefüge verschiebt und modifiziert. Dabei markieren die sichtbare, die beschleunigte und die paradoxierte Bewegung, die hier als erstes, wesentliches Zeichen einer filmischen Transformation eingeführt wurden, lediglich den Anfangspunkt dessen, was die filmischen Entwürfe des Urbanen an Raumtransformationen hervorbringen werden. Die Transformation wird zu einem Schlüsselbegriff dieses Buchs, indem sie nicht allein denjenigen Punkt bildet, auf welchen die raumund filmtheoretischen Herleitungen im ersten Teil konsequent zulaufen, sondern indem auch die filmischen Topologien der Metropole, die im zweiten Teil dieses Buchs entwickelt werden, von einem transformativen, bewegten Raumdenken zutiefst durchdrungen sind. Der filmische Raum wird hier als ein genuiner Transformationsraum begriffen, der von einem gänzlich anderen Punkt der Raumbetrachtung ausgeht: Er erschließt ein Jenseits des Raums, in dem nicht mehr jene Abbildungs- bzw. Repräsentationsverhältnisse greifen, die gerade im Bereich des Stadtfilms allzu oft die entscheidende Bestimmungsgröße markieren. Vielmehr geht es in diesem Buch um die Ergründung eines spezifischen Potenzials des Films: um das Potenzial, komplexe Räume aus einzelnen, sich überlappenden Topologien zu generieren, mithin um das Potenzial, ein spezifisch filmisches Raumdenken freizusetzen und damit nicht zuletzt um das Potenzial einer filmischen Raumtheorie, zu weiterführenden Aussagen über die Implikationen filmischer, medialer und in letzter Konsequenz auch philosophischer Räumlichkeit zu gelangen.4 4
Die begriffliche Differenz zwischen ‚Raum‘ und ‚Räumlichkeit‘ wird in diesem Buch in Anschluss an die raumtheoretischen Ausführungen von Stephan Günzel mit der Differenz zwischen dem, „wie Raum bedingt“ 16
EINLEITUNG
Damit positioniert sich die Arbeit zuallererst innerhalb einer aktuellen, sehr breit geführten Raumdebatte, die eine schier unüberschaubare Fülle an Konzepten und Perspektiven, an Neufassungen und Rückdatierungen des Raums hervorgebracht hat. Die Omnipräsenz räumlicher Konzepte in der gegenwärtigen Forschungslage birgt dabei sowohl eine Problematik als auch eine große Chance: Problematisch daran ist, dass die Diskussion mittlerweile übersättigt scheint bzw. dass zunehmend bemängelt wird, der allgemeine Fokus auf den Raum verstelle wiederum andere zentrale Fragestellungen.5 Demgegenüber stehen jedoch auch die Errungenschaften einer breit geführten Raumdebatte, die mittlerweile so weit fortgeschritten ist, dass eine Diskussion räumlicher Konzepte nicht mehr darin aufgehen muss, so die zentrale These, eine grundlegende Dynamisierung und Flexibilisierung der Raumkategorie in Abgrenzung zu statisch operierenden Raumvorstellungen zu postulieren und zu begründen. Mit anderen Worten: Eine dynamische und prozessuale Konzeption des Raums muss nicht mehr den Zielpunkt der theoretischen Auseinandersetzung bilden, sondern die grundlegende Relationalität und Prozessualität des Raums kann mittlerweile als Prämisse jeglicher weiteren Theoriebildung zum Raum zugrunde gelegt werden. Die gegenwärtige Raumdiskussion hat damit, wie diese ersten Beobachtungen zeigen, ein neues Stadium erreicht. Sie steht an einem Punkt, an dem sich zwei unterschiedliche Entwicklungsperspektiven eröffnen: Eine Möglichkeit ist es, die Relationalität und Wandelbarkeit des Raums noch konsequenter weiter zu denken und an die Grenzen dessen zu gelangen, was unter Raum bzw. Räumlichkeit überhaupt noch zu fassen ist – und an diese Grenzpunkte werden wir im Bereich der Diskussion
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und dem, „wie Räumlichkeit bedingt ist“, kurzgeschlossen, wobei Günzel unter Räumlichkeit „die Möglichkeit einer Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte“ versteht; vgl. Günzel, Stephan: „Raum – Topographie – Topologie“, in: ders. (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript 2007b, S. 13-29, hier S. 13. Vgl. Lippuner, Roland; Lossau, Julia: „In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften“, in: Georg Mein und Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld: transcript, 2004, S. 4763. Auch der Historiker Karl Schlögl äußert in seiner Betrachtung des Wechselverhältnisses von Raum und Geschichte, er halte „eine Geschichtsschreibung, die nun (nach einer langen Zeit einer gewissen Blindheit oder Unaufmerksamkeit) partout zu einer ‚Geschichte von Räumen‘ werden will, für einen Irrweg und eine Sackgasse“; vgl. Schlögel, Karl: „Räume und Geschichte“, in: Günzel 2007a, S. 33-51, hier S. 33. 17
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des filmischen Raums bzw. der filmischen Topologie immer wieder stoßen. Eine andere Möglichkeit ist es, und dies soll vor allem in den raum- und filmtheoretischen Grundlegungen dieser Studie entwickelt werden, von diesem Punkt ausgehend wiederum Fragen nach möglichen Rückdatierungen der aktuellen Raumdebatte bzw. nach einer erneuten Fundierung des Raums zu stellen, nun jedoch unter den Bedingungen „kultureller, sozialer und mediengebundener Räumlichkeit“.6 Bringt man diese Aussagen mit dem eingangs aufgerufenen Szenario dreier Transformationslogiken des filmischen Raums zusammen, so wird die Zielrichtung dieser Arbeit unmittelbar deutlich: Es geht um eine Neukonzeption des filmischen Raums unter der Prämisse einer umfassenden, mehrstufigen filmischen Transformation und zugleich vor dem Hintergrund einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Raumdebatte, aus deren Errungenschaften wiederum zentrale Konsequenzen für die theoretische Konzipierbarkeit des filmischen Raums gezogen werden sollen. Denn nimmt man die theoretischen Implikationen der aktuellen Raumdebatte, zumindest in ihren progressivsten Konzepten, ernst, so scheint eine Modifizierung der bisherigen Konzepte des filmischen Raums ein folgerichtiger und notwendiger Schritt. Und dies nicht allein, um im filmtheoretischen Bereich einen entscheidenden Richtungswechsel im Raumdenken zu vollziehen, sondern um zudem zu weiterführenden Aussagen zur Konzeption medialer Formen von Räumlichkeit zu gelangen. Für eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Phänomen des filmischen Raums findet sich jedoch auch noch ein zweites, weiterführendes Argument. Denn betrachtet man die einschlägigen Arbeiten in diesem Bereich, so fällt auf, dass hier dem filmischen Raum in seiner medialen Spezifik kaum Rechnung getragen wird. Es zeigt sich vielmehr das Paradox, dass diese filmischen, bewegten Räume, wie sie am Beispiel von DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE in einer dreistufigen Logik der filmischen Bewegung aufgerufen wurden und die nur den Anfangspunkt dessen bilden, was der Film an Raumentwürfen hervorbringen wird, in den meisten Fällen vor dem Hintergrund eines Raumkonzepts analysiert werden, das in seiner (impliziten oder expliziten) Referenz auf einen weitgehend unbewegten, statischen Raum weit hinter den Möglichkeiten des Films zurückfällt und damit das spezifische Potenzial der filmischen Raumkonzeption schlichtweg untergräbt. Genau an diesem Punkt setzt die vorliegende Studie an, wenn sie ein Konzept des filmischen Raums vorschlägt, das auf einer relationalen und topologischen Raumvorstellung basiert, deren besonderer Gewinn darin besteht, den Übergang von einer euklidischen Raumvorstellung hin zu
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Günzel 2007b, S. 13. 18
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einem Denken des Raums in Strukturen und Relationen zu vollziehen, das in dieser Ausrichtung stets auf eine Transformation (im Sinne einer Umformung ebenso wie im Sinne einer Prozessualität) bezogen ist. Für den Bereich des Films ist das Potenzial, das diese beiden raumtheoretischen Zugänge bieten, noch bei Weitem nicht voll ausgeschöpft.7 Denn konzipiert man den filmischen Raum als grundlegend relationaltopologischen Raum und begreift man die filmische Raumkonstruktion in jeglicher Hinsicht in Bezug auf die beiden Faktoren von Relation und Transformation, so wird nicht allein dem Substanzdenken des (filmischen) Raums jegliche Grundlage entzogen, sondern im gleichen Zuge lassen sich auch die bewegten, konstruierten und medialen Räume des Films nicht mehr als Ableitungen aus einem grundsätzlich statischen, unbewegten Raum und damit nicht mehr als zweiter Schritt innerhalb der filmischen Raumkonstruktion begreifen. In anderen Worten: Es geht in dieser Arbeit nicht mehr um ein statisches Raumkonzept, das dann durch den Film in irgendeiner Weise ‚in Bewegung‘ gebracht wird, sondern in der relationalen und topologischen Raumvorstellung bilden die Relation und die Transformation den Ausgangspunkt jeglicher Konzeption des Raums und damit den Nullpunkt räumlichen Denkens. Dabei geht es keineswegs darum, den filmischen Raum in einer unendlichen, entgrenzenden Transformationsbewegung und einer hochgradig dynamisierten Raumkategorie aufgehen zu lassen, ebenso wenig, wie es darum geht, jeglicher Materialität des Films eine grundlegende Absage zu erteilen. Den Zielpunkt bildet hier vielmehr ein Wechsel der Blickrichtung auf den filmischen Raum, oder präziser: das Einnehmen einer Position am anderen Ende des Spektrums, bei welcher das Transformationspotenzial des filmischen Raums den Ausgangspunkt seiner Konzeption bildet. Die Grundlage für eine derartige Konzeption des filmischen Raums bildet das Verständnis des Films als eines Mediums, das grundlegend auf Transformation und Prozessualität hin ausgerichtet ist; eines Mediums also, das sein Potenzial erst dann in vollem Maße entfaltet, wenn es ganz 7
Erste wichtige Grundlegungen zu diesem Themenkomplex finden sich vor allem in dem bereits erwähnten Sammelband von Stephan Günzel: Topologie (2007), wobei insbesondere die beiden Artikel von Ute Holl: „Risse und Felder. Zur Raumwahrnehmung im Kino“, S. 85-98, und von Marc Ries: „Zur Topologie des Kinos. Und darüber hinaus“, S. 297-308 hervorzuheben sind. Auch Ulrich Meurer wendet sich den filmischen Artikulationen eines neu gefassten Raumkonzepts zu; er verhandelt dieses jedoch einerseits unter dem Überbegriff der Topographie und konzentriert sich dabei andererseits vornehmlich auf eine postmoderne Raumästhetik; vgl. Meurer, Ulrich: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne. München: Wilhelm Fink 2007. 19
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in seinen räumlichen Relationen aufgeht, deren Konstruiertheit, Bewegtheit und Medialität es in jedem Schritt seiner Konstruktion mitdenkt. Denn geht man davon aus, dass Medien „ihren Status als wissenschaftliches, d. h. systematisierbares Objekt gerade dadurch [gewinnen], dass sie das, was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind“8, so wird auch der Zugriff auf den filmischen Raum immer nur und ausschließlich unter denjenigen medialen Bedingungen zu finden sein, die der Film selbst produziert und die ihm selbst innewohnen. Dabei ist anzumerken, dass der hohe Grad an Relationalität und Reflexivität des Films als Medium, den diese ersten Aussagen unmittelbar implizieren, nicht in jedem Film zu finden sein wird bzw. sich eine Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten des Mediums nicht in jedem Film auf unmittelbare, sichtbare Weise mitteilt. Dennoch ist die Vorstellung des Films als Indikator und mehr noch, als Motor eines umfassenden Wandels9, einer Veränderung und Umformung auf das Tiefste in der Geschichte des Films (und insbesondere des Stadtfilms) verankert, was sich nicht allein in den theoretischen Konzeptionen des filmischen Raums, sondern insbesondere auch in den Konfigurationen der filmischen Metropole zeigen wird. Die Metropole bildet in dieser Studie sowohl den Ausgangspunkt als auch den Zielpunkt einer vielschichtigen filmischen Transformation. Denn das Urbane wird durch den Film auf besondere Weise sichtbar und hörbar gemacht, während es sich selbst zutiefst in die filmische Raumkonstruktion einschreibt. Es entsteht ein zweiseitiger Prozess der Generierung des Raums, in dem sowohl der Film als auch das Urbane ihre je eigene Form von Räumlichkeit produzieren, wodurch sich zwei komplexe räumliche Systeme gegenüber stehen, die im Prozess der filmischen Raumkonstruktion untrennbar ineinandergreifen.10 Dabei zeichnet sich vor dem Hintergrund des bisher Gesagten bereits ab, dass es in dieser Studie weniger um die Korrespondenzen und Differenzen zwischen den gebauten Strukturen der Stadt einerseits und ihrer filmischen Inszenie8
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Engell, Lorenz; Vogl, Joseph: „Vorwort“, in: Claus Pias et al. (Hg): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 2002, S. 8-11, hier S. 10. Vgl. hierzu die grundlegenden Ausführungen von Lorenz Engell zum Konzept des modernen Films, der ein „Eigenkonzept als Bild des Wandels“ entwirft; vgl. Engell, Lorenz: Bilder des Wandels. Weimar: VDG 2003, insbes.: „Zeichen und Werden des modernen Films“, S. 8-21. Zur Komplexität der Stadt, die in den letzten Jahren verstärkt diskutiert wird, vg1. Eckardt, Frank: Die komplexe Stadt. Orientierungen im urbanen Labyrinth. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, insbes. „Konturen einer komplexen Stadtforschung“, S. 187-231. 20
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rung andererseits gehen wird, die allzu oft in Abgleich mit der komplizierten Kategorie einer ‚Wahrhaftigkeit‘ bzw. ‚Realität‘ der Stadt verhandelt werden11, sondern in erster Linie um den Prozess der filmischen Transformation selbst, der sich zwischen diesen beiden Polen entfaltet. Der Film wird also einerseits mit Blick auf die Grenzen und Möglichkeiten seiner Raumkonstruktion untersucht. Andererseits, und darauf aufbauend, wird es jedoch darum gehen, das Urbane durch den filmischen Raum hindurch zu sehen, wodurch es immer schon als eine gewendete, eine transformierte und bewegte Form von Räumlichkeit in Erscheinung tritt, die dennoch ihre eigenen räumlichen Komplexitäten herausbildet. Zu den einzelnen Kapiteln Den Kernpunkt dieser Studie bildet die Herleitung, Entfaltung und Erprobung eines genuin filmischen Raumkonzepts: der filmischen Topologie. In drei eng verzahnten Schritten werden zunächst raum-, dann filmtheoretische Diskurse dargelegt und einer topologischen Wendung zugeführt, um anhand der daraus entwickelten Thesen die filmischen Entwürfe der Metropole als filmische Topologien neu zu lesen. Vorbedingung für ein derartiges Vorgehen ist ein zentraler Richtungswechsel im Raumdenken und zugleich ein raumtheoretisches Experiment: die (zeitweise) Verabschiedung von Materialität und Stabilität des Raums zugunsten eines flexiblen, dynamischen Raumdenkens, die Dispersion des Räumlichen zugunsten seiner Neuformierung unter topologischem Blickwinkel. Denn die Topologie verlangt, den Raum zunächst zu vergessen, ihn ganz aufzugeben und hinter sich zu lassen, um ihn dann erneut wieder in die Betrachtungen hineinzuholen und unter neu gesetzten Prämissen des Raumdenkens weiterzuentwickeln; eine Grundbewegung, die der inneren Anlage dieses Buchs zutiefst eingeschrieben ist. Das topologische Raumdenken durchdringt den übergreifenden Argumentationsgang ebenso wie die einzelnen Kapitel: Es markiert den Horizont der raumtheoretischen Zugriffe ebenso wie deren (potenzielle) Überschreitung und Umkehrung. Es bewirkt eine Neuordnung der bisherigen Positionen zum filmischen Raum, indem es sie in Bezug auf genuin transformative Formen filmischer Räumlichkeit fokussiert. Als solche Raum überschreitende Figur schreibt es sich schließlich in die Stadtfilme ein und variiert ihre räumlichen Anlagen zu filmischen Topologien. Diese ersten, zunächst abstrakten Aussagen verweisen auf einen zentralen Punkt: Der vorliegenden Studie geht es keinesfalls darum, die Topologie 11
Auf die (ironische) Wendung dieser Perspektive in einem Meta-Film zu Los Angeles wird im Epilog dieses Buchs am Beispiel von LOS ANGELES PLAYS ITSELF (Thom Andersen, 2003) näher eingegangen; vgl. Kap. VII. 21
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auf den Prüfstein zu legen, sie allein auf ihre Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit für die Konzeption des filmischen Raums hin zu testen. Denn im Blick des Films wandelt sich auch die Topologie; sie wird modifiziert und aufgefächert in einzelne filmische Figuren; sie teilt sich auf in innere Topologien und äußere Topologien, die rückwirkend wiederum Einfluss auf die zu Beginn entfalteten theoretischen Positionen nehmen. Vor dem Hintergrund dieser doppelten Bewegung lässt sich die Arbeit in zwei Richtungen lesen: Die erste Richtung betrifft ihren stetigen, fortschreitenden Argumentationsgang, die schrittweise Entfaltung der topologischen Perspektive, der mit jedem Kapitel neue Bedeutungsebenen verliehen werden, indem eine kontinuierliche Ausdifferenzierung der ersten Prämissen in Gang gesetzt wird. Dieser ersten, scheinbar klar auf ihren Zielpunkt ausgerichteten Argumentationslinie unterliegt jedoch noch eine zweite, konträre Linie, in der die entwickelten theoretischen Positionen und Leitdifferenzen des filmischen Raums einer kontinuierlichen Befragung unterzogen werden. In diesem flexiblen, modifizierenden Denken werden die theoretischen Positionen stets beweglich gehalten, fließen die am Film entwickelten Raumlogiken wiederum in die ersten topologischen Annahmen ein und modifizieren die Ausgangsbedingungen, ebenso wie sich einzelne raumtheoretische Linien quer durch die Arbeit hindurchziehen und kontinuierlich neue, teilweise paradoxe Querverbindungen entstehen lassen. Im Folgenden soll das Ineinandergreifen beider Linien schrittweise durchgespielt und nachgezeichnet werden. Folgt man der Arbeit zunächst entlang ihrer primären Argumentationslinie, so markieren die Raumtheoretischen Grundlagen und Topologien den Anfangspunkt. Dieses grundlegende, erste Kapitel betrifft im Wesentlichen die raumtheoretische Wegbereitung für das filmische Raumkonzept. Dabei steht die Arbeit vor der doppelten Herausforderung, die mittlerweile exzessiv geführte, breit gefächerte Raumdebatte zu bewältigen und zugleich zu einer klaren, eigenen Positionierung zu gelangen. Die Entwicklung wesentlicher Prämissen der Raumkonzeption bzw. die Erarbeitung spezifischer Zugriffe auf den Raum erfolgt einerseits mit Blick auf das Feld aktueller Theoriebildung zum Raum, andererseits in Bezug auf die Geschichte des Raumproblems. In Abgrenzung zu aktuellen Raumkonjunkturen wird das Augenmerk zunächst auf zwei zentrale Raumwenden – den Spatial Turn der achtziger Jahre und den Topographical Turn dieses Jahrzehnts – gerichtet, um nicht allein den Kontext und Hergang eines zunehmend präsenter werdenden Topological Turn zu erläutern, sondern im selben Zuge anhand der (begrifflichen) Unterscheidung von Topographie und Topologie den Weg für eine der zentralsten Leitdifferenzen dieses Buchs zu bereiten. Diese Differenz für eine Weile beiseite lassend, steigt die Studie einstweilen in die Geschichte der 22
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Raumtheorie ein, deren vielfältige und oftmals divergente Perspektiven stets mit Blick auf die Theoriebildung des filmischen Raums zu drei zentralen Zugriffen auf den Raum verdichtet werden: erstens die Differenz von Ort und Raum, zweitens die Überkreuzung von Raum und Bewegung in einer dynamischen RaumZeit und drittens die Auffächerung in einzelne Dimensionen bzw. Sinnordnungen des Raums. Die Grundlegungen der Ort-Raum-Differenz reichen zurück bis in die antiken Vorstellungen von topos (Aristoteles) und chôra (Platon). Sie bilden den Ausgangspunkt, um von dort aus in einzelnen Schritten die Auffächerung des Räumlichen in das Punktuelle, Begrenzte, Statische des Ortes einerseits und das Bewegte, Ausgedehnte, Übergreifende des Raums andererseits mit ihren wechselnden und teilweise widersprüchlichen Polen bis in die Frühe Neuzeit zu verfolgen. Mit dem Konnex von Raum und Bewegung erfolgt ein Zeitsprung in das frühe 20. Jahrhundert, in dem die raumtheoretischen Positionen, wie anhand der ineinandergreifenden Linien von Mathematik, Physik und den Künsten verfolgt wird, in einer umfassenden Dynamisierung der Raumkategorie konvergieren. Diese Verdichtung zu einer unauflösbaren RaumZeit ist jedoch nur eine Seite des raumtheoretischen Diskurses um 1900. Denn in dem Moment, in dem die Gewissheit um den einen Raum zunehmend ins Wanken gerät, öffnet sich zugleich der Blick auf einzelne, sich überlappende Sinnordnungen des Räumlichen, setzt eine Auffächerung der Raumkategorien ein, die hier exemplarisch anhand der Trias des materiellen, des sozialen und des symbolischen Raums ausgearbeitet wird. Mit den drei Zugriffen auf den Raum sind zentrale Grundlagen für die Betrachtung des filmischen Raums gelegt, wenngleich sie ihn noch nicht vollständig erfassen; sie bilden die notwendige Bedingung für die Betrachtung des filmischen Raums, nicht jedoch seine hinreichende. In anderen Worten: Die Ausgedehntheit, Dynamisierung und Dimensionalität des Räumlichen vermag zwar an die Grenzen des Raumdenkens zu gelangen, bleibt jedoch letztendlich, selbst in ihrer Abgrenzung, auf einen fixierbaren Raum bezogen. Erst mit dem relationalen, dann mit dem topologischen Raum lässt sich jenes Jenseits des Raums erschließen, in dem sich die filmische Räumlichkeit entfaltet. Denn es ist selbiges Vergessen und Neudenken des Raums, wie zuvor angesprochen, das den relationalen und topologischen Raumvorstellungen zugrunde liegt, wenn sie die Relation und die Transformation als Nullpunkt von Räumlichkeit setzen, um von dort aus alle Aussagen zum Raum abzuleiten. Das relationale Raumdenken wird anhand zweier zentraler Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz ergründet: einerseits in einem Briefwechsel mit Samuel Clarke aus den Jahren 1715/16 und andererseits in seiner frühen mathematischen Abhandlung De Analysi Situs von 1693. 23
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Ausgehend von der grundsätzlichen Infragestellung des Raums als „absolutes wirkliches Seiendes“ (Newton) wird der Raum bei Leibniz als „Ordnung des Nebeneinanderbestehens“ (spatium est ordo coexistendi) und damit allein aus seinen Beziehungsstrukturen und Lagerelationen heraus definiert. Der Raum wird hier zu einer selbstbezüglichen, allein aus sich selbst heraus denkenden Figur, die nicht mehr auf einen materiellen Substanzraum rückführbar ist, sondern gerade im Monismus von Raum und Materie aufgeht. Als solche ‚abstrakte Relationalität‘ setzt er sich deutlich von der zentralen Newton’schen Dichotomie von absolutem und relativem Raum ab, zieht mit diesen gleichzeitig aber auch ein Spannungsfeld auf, das insbesondere in den neueren Positionen der Raumsoziologie zu einem zentralen Denkmodell avanciert. In einer weiteren Zuspitzung wird die Relationalität des Raums als ‚dritte Position‘ diskutiert, die sich einerseits in Henri Lefèbvres dreistelligem Modell einer Production of Space, andererseits, und in Fortführung der Thesen Lefèbvres, in Edward Sojas Konzept des ‚Thirdspace‘ abzeichnet, wo sie als Überscheitungsund als Rückkopplungsfigur des Räumlichen inkraft tritt. Das topologische Raumkonzept, wie es im Bereich der Mathematik Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wird, greift in vielerlei Hinsicht die Ideen des relationalen Raums auf und verleiht ihnen eine signifikante Wendung. In drei historischen Schnitten werden hier drei zentrale Facetten bzw. drei Wendungen des euklidischen Raumkonzepts durch das topologische Raumdenken herausgearbeitet: erstens der Übergang von der Quantität zur Qualität bzw. Modalität bei Johann Benedict Listing, zweitens der Übergang von metrischen zu n-dimensionalen räumlichen Mannigfaltigkeiten bei Bernhard Riemann und drittens der Übergang vom Substanzdenken des Raums zu seiner Transformativität in Felix Kleins Erlanger Programm. Indem die Topologie kontinuierlich (topologische) Räume aufeinander abbildet und ineinander überführt, wird die Transformation zu ihrem Grundprinzip, die sich einerseits auf die Vergleichbarkeit räumlicher Strukturen, andererseits aber auch auf die Ununterscheidbarkeit räumlicher Relationen beziehen lässt. Die Bezugnahme auf die Topologie dient folglich einerseits dazu, die Facetten eines Raumkonzepts zu umreißen, das in allererster Linie auf der Vorstellung einer stetigen Transformation des Räumlichen basiert. Andererseits, und darauf aufbauend, wird jedoch auch eine signifikante Ausdifferenzierung der topologischen Perspektive in Gang gesetzt. Die Topologie wird hier zum Ausgangspunkt genommen, um zwei gegensätzliche Aspekte des topologischen Denkens zu entwickeln, die auch für die Ergründung filmischer Räumlichkeit von entscheidender Bedeutung sind: eine ‚Topologie des Innen‘ und eine ‚Topologie des Außen‘, die unter Einbeziehung ausgewählter Positionen der Phänomenologie und 24
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des Poststrukturalimus dargelegt werden. Die innere Topologie greift die mengentheoretische Definition der Topologie über die ‚inneren Punkte‘ auf und deutet diese in Richtung einer intrinsischen Betrachtungsweise aus, die in dem topologischen Geflecht einer unvordenklichen und unhintergehbaren Leibräumlichkeit aufgeht. Demgegenüber verbindet sich die äußere Topologie unter Einbeziehung der Thesen von Homotopie und Homologie mit einer extrinsischen Position der Raumbetrachtung, die einerseits mit der Zwischenräumlichkeit der différance und andererseits mit dem Bordismus als Wiedereinführung des Außen in Form heterotoper (An-)Ordnungen in Zusammenhang gesetzt wird. Den zentralen Markierungspunkt und zugleich die Rahmung des ersten Kapitels bildet die Differenz zwischen Topologie und Topographie, die in einem letzten Schritt anhand der Denkfigur des glatten und des gekerbten Raums in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Mille Plateaux (1980) erneut aufgenommen und nun – im Durchgang durch das erste Kapitel – nicht mehr allein in begrifflicher, sondern vielmehr in konzeptueller Hinsicht diskutiert werden kann. Im Rekurs auf das Gekerbte (als Dimensionales, als Metrisches) und das Glatte (als Nicht-Dimensionales, als Nicht-Metrisches) wird es möglich, die divergenten Raumvorstellungen von Topographie und Topologie, die in der aktuellen Raumdiskussion allzu oft in eins gesetzt werden, auf den Punkt zu bringen und sie zugleich als zwei unterschiedliche räumliche Sinnordnungen für die Theoriebildung des filmischen Raums fruchtbar zu machen. Im zweiten Kapitel Der filmische Raum: Ein topologischer Entwurf nähert sich die Arbeit erneut dem Phänomen des filmischen Raums, nun jedoch im Zuge einer filmtheoretischen Auseinandersetzung, die sich an ganz anderen Kernfragen orientiert und ganz neue Linien in die Diskussion einbringt. Die Gratwanderung, die in diesem Kapitel vollzogen wird, begründet sich vor allem darin, die filmtheoretischen Positionen einerseits für sich selbst stehen zu lassen bzw. sie aus ihrer spezifisch filmischen Logik heraus zu begreifen, andererseits jedoch auch nicht mehr hinter die bisherigen Aussagen zum Raum zurückzufallen. Auf der einen Seite lässt sich dieses filmtheoretische Kapitel folglich als eine konsequente Weiterführung der im ersten Kapitel entwickelten Thesen begreifen, indem es die zentralen raumtheoretischen Linien aufgreift und im Hinblick auf den Film weiterentwickelt. Auf der anderen Seite unterliegt ihm jedoch auch ein variierender Zugriff, denn der Film hat gerade die Eigenschaft, sich den ihm angelegten Raumzugriffen immer wieder zu entziehen. Er lässt eine andere Art von Räumlichkeit entstehen, die insofern topologisch ist, als sie das Räumliche suspendiert und in eine neue mediale Raumordnung überführt. Den filmischen Raum topologisch zu denken bedeutet daher, an einem grundsätzlich anderen Punkt anzuset25
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zen: bei der Medialität, der Konstruktivität und der Bewegtheit des filmischen Raums, die als drei Prämissen der Raumbetrachtung und zugleich als drei Grundlinien des Kapitels eingeführt werden. Als Verbindungsstück zwischen der Raum- und der Filmtheorie weisen sie einerseits zurück auf die im ersten Kapitel entwickelten Raumfragen der Ort-RaumDifferenz, dem Wechselverhältnis von Raum und Bewegung und den drei räumlichen Sinnordnungen. Andererseits umreißen sie jedoch auch drei zentrale Diskursfelder der Filmtheorie und stehen damit zunächst für drei divergente Konzeptionen des filmischen Raums. Gemeinsam lassen sich die Aspekte der Medialität, der Konstruktivität und der Bewegtheit des filmischen Raums als Vorbedingungen für die Konzeption einer filmischen Topologie begreifen. Denn in ihnen hat bereits das räumliche Referenzsystem gewechselt: Sie setzen nicht mehr bei einem statischen, materiellen, noch ‚zu bewegenden‘ Raum an, um ihn im Folgenden zu dynamisieren. Vielmehr gehen sie unmittelbar von der Prämisse eines filmisch-bewegten Raums aus, ebenso wie sie sich deutlich vom Raumdenken der Relation und der Transformation durchdrungen zeigen. Den dreifachen Annäherungen an den filmischen Raum liegt damit zunächst eine ähnliche Zielrichtung wie dem ersten Kapitel zugrunde, indem sie gleichermaßen jenem Richtungswechsel innerhalb des Raumdenkens zuarbeiten, der im topographisch-topologischen Zugriff seinen Zielpunkt findet. Entscheidend dabei ist jedoch, dass dies bereits im Durchgang durch die erarbeiteten Raumthesen des ersten Kapitels geschieht, die nun eine komplexere, dichtere Struktur erhalten. Den ersten Schritt zur Ergründung des filmischen Raums markiert die Diskussion dreier unterschiedlicher Sinnordnungen des Raums, die in Anschluss an Joachim Paech als dispositiver Raum, medialer Raum und modaler Raum entfaltet werden.12 Dabei kommt insbesondere – wie die erste Prämisse des filmischen Raums bereits besagt – der Ebene des medialen Raums eine zentrale Bedeutung zu, indem sie einerseits zwischen dem dispositiven und dem modalen Raum vermittelt, andererseits aber auch deutlich darüber hinausgeht. Denn das Mediale schreibt sich ebenso in die dispositive (An-)Ordnung des Kinos ein, wie es auch diejenigen Bedingungen setzt, unter denen der modale Raum überhaupt erst produziert werden kann. Dabei geht es weniger um eine trennende Bestimmung des Dispositiven, Medialen und Modalen, als vielmehr um die Herausarbeitung des Relationsgefüges des medialen Raums innerhalb dieser Trias. Der mediale Raum bezeichnet hierin zunächst einen 12
Vgl. Paech, Joachim: „Eine Szene machen. Zur räumlichen Konstruktion filmischen Erzählens“, in: Hans Beller u. a. (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raums. Ostfildern: Hatje Cantz 2000, S. 93-121. 26
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abstrakten, unsichtbaren Raum, der allein über die komplexen räumlichen Beziehungen, die er zum dispositiven und zum modalen Raum unterhält, in Erscheinung treten kann. Denn in Bezug auf den dispositiven Raum, dessen theoretisches Fundament insbesondere im Zuge der Apparatus-Debatte gelegt wird, tritt das Mediale als Bruch medialen Gelingens inkraft, während es in Bezug auf den modalen Raum in einer zweifachen Überschreitungsfigur wirksam wird: in den selbstreflexiven Figuren des Films als Übergang der Unsichtbarkeit zur (potenziellen) Sichtbarkeit sowie in der einflussreichen Denkfigur von cadre und cache als Übergang von der Endlichkeit zur (potenziellen) Unendlichkeit. Den zweiten Zugriff auf den filmischen Raum bildet die Frage nach der Ort-Raum-Differenz, die im Bereich des Films insbesondere durch André Gardies entfaltet wird.13 Dabei geht es einerseits um eine Weiterentwicklung der bisherigen Thesen zum dispositiven, medialen und modalen Raum, andererseits wird jedoch auch die zweite Prämisse – die Konstruiertheit des filmischen Raums – in die Überlegungen einbezogen. Auf dieser Basis wird ein umfassendes Konzept des filmischen Raums entwickelt, das deutlich über die Betrachtung singulärer filmischer Orte hinausgeht. Mehr noch: Indem der filmische Raum als Synthese einzelner, miteinander in Kontakt tretender filmischer Orte aufgefasst wird, rücken zugleich die spezifischen Relationen in den Vordergrund; einerseits als eine dynamische Kategorie, die zwischen beiden Seiten vermittelt und kontinuierlich neue Verknüpfungen herstellt, durch die auch der filmische Raum immer wieder seine Beschaffenheit ändert; andererseits, und in abstraktem Sinne, als eine zirkuläre Beziehung, durch welche die filmischen Orte unablässig auf den filmischen Raum einwirken und umgekehrt. Die Ort-Raum-Relationen des Films lassen sich in erster Hinsicht über das Verhältnis von Aktuellem und Virtuellem näher greifen, insofern dem ‚virtuellen‘ filmischen Raum die Eigenschaft zugesprochen wird, durch die filmischen Orte immer wieder aktualisiert zu werden und dadurch zugleich seine Beschaffenheit zu ändern. In zweiter Hinsicht zielt die Ort-Raum-Relation unmittelbar auf das Verhältnis von Ensembles und Ganzem (Deleuze), denn im filmischen Raum wird das sich beständig transformierende ‚Dividuelle‘ des Ganzen wirksam, das die einzelnen filmischen Orte niemals ganz geschlossen sein lässt, sondern sie stets auf eine übergreifende, modifizierende Größe bezieht. Die dritte und letzte Annäherung in diesem Kapitel bildet die Prämisse des filmischen Raums als bewegtem Raum, in welchem die spezifisch filmische Bewegtheit in zwei Seiten aufgeschlüsselt wird: Die erste Seite betrifft die sichtbare, quantifizierbare Bewegung im Film, während die 13
Vgl. Gardies, André: L’espace au cinéma. Paris: Meridiens Klincksieck 1993, insbes. Kapitel „Le lieu et l’espace“, S. 69-72. 27
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zweite Seite die unsichtbare, qualitative Bewegung des Films umfasst; eine Differenzierung, die als ‚äußere‘ und ‚innere Bewegung‘ auch die Positionen der frühen Filmtheorie durchzieht, so etwa die sowjetische und die französische Schule der zwanziger Jahre und dreißiger Jahre. In einem zweiten Schritt, und darauf aufbauend, wird es um die Zuspitzung des Verhältnisses von Raum und Bewegung in den Kinobüchern von Gilles Deleuze L’image-mouvement (1983) und L’image-temps (1985) gehen14, durch die es nicht allein möglich wird, an die Grenzen der filmischen Bewegung zu stoßen, sondern – und besonders im Zuge der Diskussion der beliebigen Räume des modernen Films – darüber hinaus zu gehen und ein ‚Jenseits der Bewegung‘ aufzuziehen, das sich im Übergang von der Bewegung zur Zeit, vom Raum zur Topologie konstituiert. Indem die Transformation hier zum zentralen Faktor avanciert, lassen sich Deleuzes Aussagen zum beliebigen Raum zugleich als Anhaltspunkte zweier genuin topologischer Konstellationen begreifen, mit denen die ‚innere Topologie‘ und die ‚äußere Topologie‘ näher an Kontur gewinnen. Während im ersten Fall die Umgebung des Affekts in der Großaufnahme des Bewegungsbildes als ‚reine Potenzialität‘ in Erscheinung tritt, die auf eine intrinsische Form der Raumbetrachtung abzielt, so zeigt sich im zweiten Fall ein genuin extrinsisches Raumdenken, im Sinne einer Einführung des Außen in die Topologie, das in den Zeitbildern des modernen Films als räumliche Dissoziation konfiguriert wird. Ausgehend von diesen drei Prämissen wird der filmische Raum im Spannungsfeld von filmischer Topographie und filmischer Topologie verortet. Während die filmische Topographie den Blick in Richtung der städtischen Strukturen und mehr noch, in Richtung der Verhältnisse zwischen dem gebauten Raum der Architektur (materielle Ebene), dem gelebten Raum der einzelnen Figuren (soziale Ebene) sowie dem symbolischen Raum und den räumlichen Repräsentationsformen (symbolische Ebene) lenkt, setzt sie sich mit dem Sichtbaren der filmischen Raumkonstruktion auseinander und fragt danach, welche Repräsentationstechniken und Gestaltungsmechanismen im Film am Werke sind. Die filmische Topologie bezeichnet hingegen die abstrakte, übergreifende Ebene des filmischen Raums, bei der Fragen des Mediums bzw. der medialen Spezifik auf den Plan gerufen werden, die nicht in jeder Einstellung und nicht in jedem Film unmittelbar zu entdecken ist, sondern sich oftmals auf sehr versteckte Weise in die einzelnen Einstellungen einschreibt – als 14
Deleuze, Gilles: Cinéma I. L’image-mouvement. Paris: Editions de Minuit 1983; sowie Cinéma II. L’image-temps. Paris: Editions de Minuit 1985; im Folgenden werden durchgängig die deutschen Übersetzungen der beiden Kinobücher, Das Bewegungs-Bild (1997a) und Das Zeit-Bild (1997b), beide Frankfurt/Main: Suhrkamp, zitiert. 28
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das Topologische, das Paradoxe und das Unerklärliche und damit als das, was das Ganze stets zum Denken hin öffnet. Damit bewegt sich die filmische Topologie nicht im Bereich des unmittelbar Sichtbaren, das heißt des unmittelbar im Bild Gegebenen, sondern bezeichnet ein bestimmtes Potenzial und eine bestimmte Qualität des filmischen Raums. Das Wiederaufgreifen der Leitdifferenz von Topographie und Topologie ist an dieser Stelle insofern entscheidend, als sie eine Präzisierung und Justierung der bisherigen Thesen zum filmischen Raum ermöglicht. Denn wenngleich in diesem Buch konsequent der topologischen Perspektive zugearbeitet wird, so bedeutet dies keineswegs die vollständige Verwerfung des Topographischen. Im Gegenteil: Die filmische Topographie wird zu einer unerlässlichen Voraussetzung der filmischen Topologie, indem sie den Blick auf das richtet, was sich unmittelbar in den Film einschreibt (als Sichtbares, als Spur, als Gekerbtes) und das sich in seine materiellen, sozialen und symbolischen Raumdimensionen aufschlüsseln lässt. Erst auf dieser Basis kann die filmische Topologie als das begriffen werden, was den filmischen Raum stets auf das Werden, auf das Prozessuale bezieht (als Unsichtbares, als Mediales, als Glattes) und somit das transformative Potenzial des Filmischen freisetzt. Als zwei ineinandergreifende Sinnordnungen des filmischen Raums sind die filmische Topographie und die filmische Topologie ohne einander nicht denkbar. Erst in ihrem Zusammenspiel eröffnen sie das Potenzial, den filmischen Raum neu zu fassen. Denn sie führen die Medialität, die Konstruktivität und die Bewegtheit des filmischen Raums zu einer Synthese, während sie eine Überschreitung und Neuformierung des Räumlichen bewirken. In der Hinwendung zu den Metropolenfilmen im dritten Kapitel Metropolen in Transformation: Eine Zwischenbetrachtung scheinen die Thesen zur Konstruktion des filmischen Raums zunächst greifbarer zu werden, und zwar in dem Sinne, dass sich die Filme nun mit einem (vermeintlich) klar umgrenzten Gegenstand – der Metropole – auseinandersetzen. Im selben Zuge wird das Verhältnis von filmischer Topologie und filmischer Topographie jedoch auch weitaus vielschichtiger, denn gerade aufgrund der hohen räumlichen Komplexität der Metropole werden diese beiden Logiken der Raumkonstruktion nicht allein kontinuierlich ineinander verschachtelt, sondern im selben Zuge ausdifferenziert und multipliziert. Im Blick auf die filmische Metropole, deren Grenzpunkte hier in einer allgemeinen Perspektive auf das 20. Jahrhundert umrissen werden, wird deutlich, dass der Film nicht allein darin aufgeht, filmische Topologien im Sinne abstrakter Raumstrukturen und -relationen zu generieren, sondern dass er vielmehr das Potenzial hat, eine Reihe divergenter, sich überlappender Topologien herauszubilden. Diese stehen wiederum in einem Spannungsverhältnis zur filmischen Topographie, die 29
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sich in ihrem Blick auf das Urbane an den vielschichtigen und wechselnden Strukturen der Metropolen kontinuierlich neu auszurichten hat. Die Historiographie der filmischen Metropole, die in dieser Studie punktuell und ausschnitthaft nachvollzogen wird, lässt sich folglich als Wechselspiel zwischen den topographischen und topologischen Facetten des filmischen Raums lesen. Ihren übergreifenden Argumentationsbogen gewinnt sie dabei aus der Frage nach der Sichtbarkeit bzw. der Unsichtbarkeit der filmischen Metropole, die im frühen Stadtfilm, im Film noir und im Episodenfilm jeweils unterschiedliche Gestalt annimmt, während ihren Referenzpunkt stets die filmische Topographie bildet. Demgegenüber durchkreuzt die filmische Topologie diese Linien und lässt kontinuierlich neue Querverbindungen zwischen den einzelnen Phasen entstehen. Sie ist das, was sich der schrittweisen Abfolge dieser drei Filmkomplexe entzieht, wenngleich sie das Topographische nicht vollkommen aufgibt. Sie bezeichnet eine Potenzialität des filmischen Raums, die ständig in Bewegung ist und die jenseits der aufgezogenen Kategorien von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit agiert, indem sie stets neue Raumdynamiken generiert. Dabei wird in den Filmkapiteln der Blick darauf gelenkt, inwiefern sich die topologischen Facetten der Raumkonstruktion jeweils zu einzelnen filmischen Topologien verdichten, die ebenso verschiedenartig sind wie sie eine Reihe abstrakter Korrespondenzen aufziehen. So treten in jedem Kapitel drei Grundfiguren der filmischen Topologie bzw. drei aufeinander aufbauende Transformationslogiken des filmischen Raums hervor, die in den einzelnen Filmen jeweils als selbstbezügliche, innere Topologie, als ausgreifende, bewegte Topologie und als rückkoppelnde, äußere Topologie entfaltet und verdichtet werden. Diese Linie aufgreifend, diskutiert das vierte Kapitel Die Produktion von Sichtbarkeit: Zum frühen Stadtfilm der zwanziger Jahre zunächst die Grundlegungen der filmischen Stadt, die hier – wenngleich bereits eine Fülle früherer Beispiele existiert – eine entscheidende Ausrichtung erhält. Dabei nähert sich das Kapitel den filmischen Stadtentwürfen der zwanziger Jahre von drei Seiten und zugleich ausgehend von drei unterschiedlichen Phasen des frühen Stadtfilms. Das erste Teilkapitel setzt sich unter dem Aspekt der Topologien der Ambivalenz insbesondere mit dem frühen Weimarer (Straßen-)Film auseinander, so etwa mit Karl Grunes DIE STRASSE (1923) und Georg Wilhelm Pabsts DIE FREUDLOSE GASSE (1925), um hierin die Wechselwirkungen und Verschränkungen von Innenraum und Außenraum, von Stadt und Land, von Tag und Nacht auszuloten, die zumeist in einer Rückbestätigung der Geschlossenheit und Selbstbezüglichkeit der Stadt münden. Demgegenüber beschäftigt sich das zweite Teilkapitel der Bewegungstopologien mit den unterschiedlichen Arten der Bewegungserzeugung und des bewegten Ausgreifens 30
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des Blickfeldes in die Innen- und Außenräume der Stadt, die in den Filmen der Neuen Sachlichkeit – als Beispiele werden hier etwa DER LETZTE MANN (Friedrich Wilhelm Murnau, 1924) und MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak, 1930) angeführt – auf dynamisch-abstrakte Weise durchgespielt werden. Erst mit BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (Walter Ruttmann, 1927) und DER MANN MIT DER KAMERA (Dziga Vertov, 1929) wird die (topologische) Bewegtheit des Films jedoch derart an ihre Grenzen geführt, sodass sie einerseits in einer abstrakten Reihung großstädtischer Elemente aufgeht und andererseits selbst als Medium der Sichtbarmachung städtischer Bewegung reflektiert wird. In einem dritten Schritt geht es am Beispiel der abstrakten Topologien um die Reflexion dieser beiden Konstruktionsmechanismen der sich verdichtenden Ambivalenz einerseits und der multiperspektivischen Bewegung andererseits in einer Gruppe amerikanischer Avantgardefilme, die als frühe Stadtsinfonien den Bezugspunkt des Städtischen auf eine abstrakte, dritte Position (sei dies nun die Lyrik, die Musik oder auch die Fotografie) lenken, die sich gleichermaßen in den filmischen Raum einschreibt wie sie ihn zu seiner Entgrenzung führt. In Filmen wie MANHATTA (Charles Sheeler, Paul Strand, 1920/21) und SKYSCRAPER SYMPHONY (Robert Florey, 1929) wird diese Dynamik als Wechselspiel der Künste im Modus einer Mediendifferenz von lyrischen, visuellen und rhythmischen Strukturen lesbar. Die Produktion von Sichtbarkeit, mit der sich die frühen Stadtfilme auf je eigene Weise auseinandersetzen, gerinnt dabei in einzelnen Filmen, so etwa in TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND (Robert Flaherty, 1927), zu konkreten Bildern der Fabrikation des Städtischen, welche die filmische Metropole als ein sich unablässig selbst reproduzierendes räumliches Gebilde erscheinen lassen. Die Beispiele des Film noir, die im fünften Kapitel Das Unsichtbare der Metropolen: Film noir der vierziger und fünfziger Jahre eingehend untersucht werden, weisen in vielerlei Hinsicht zurück auf die Raumkonstruktion der frühen Stadtfilme. Gleichzeitig betten sie jedoch das Räumliche in einen modifizierten Kontext ein: in die Doppelbödigkeit und Untergründigkeit einer Topologie des Verbrechens. Dabei steht auch hier zunächst eine Dreiteilung des filmischen Korpus im Vordergrund, die sich auf einzelne Phasen des Film noir bezieht. Denn die polaren Topologien, die in einem ersten Schritt beleuchtet werden, sind vor allem den frühen Beispielen eingeschrieben, so etwa PHANTOM LADY (Robert Siodmak, 1944) und DOUBLE INDEMNITY (Billy Wilder, 1944). Wie die Topologien der Ambivalenz des frühen Stadtfilms speisen sie sich aus dem permanenten Aufziehen von Gegensätzen, die hier jedoch in ein und dasselbe Bild integriert werden. Die Verhältnisse von Licht und Schatten, von Innen und Außen, von Realem und Imaginärem werden in den 31
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polaren Topologien folglich nicht erst schrittweise ineinander überführt, sondern in ihrer Ununterscheidbarkeit von Beginn an ausgestellt. Die Topologien des Transfers, die im zweiten Teilkapitel herausgearbeitet werden, betreffen insbesondere die Spätphase des Film noir. Hier wird die Geschlossenheit der Stadt der polaren Topologien in Richtung eines permanenten Zwischenzustands und Ausgreifens des Städtischen gewendet, das sich in einem weitreichenden räumlichen Umbruch befindet, wovon THE ASPHALT JUNGLE (John Huston, 1950) und THE BIG HEAT (Fritz Lang, 1953) ein deutliches Zeugnis ablegen. In dieser Transformationsbewegung, die Edward Dimendberg auf die treffende Formel eines Raumwechsels vom centripetal space hin zum centrifugal space gebracht hat, tritt zugleich eine permanente Ausrichtung auf das Außen hervor, das über die Bewegung erschlossen wird. Die Topologien des Transfers des Film noir folgen einer Logik der Verschiebung, insofern sie im unablässigen Übergang der Figuren von einer Stadt zur nächsten ihr zentralstes Motiv finden, was vor allem GUN CRAZY (Joseph H. Lewis, 1949) in allen seinen (Bewegungs-)Facetten durchspielt. In einem dritten Schritt werden diese zwei räumlichen Dynamiken des Film noir wiederum einander zugeführt, indem sich die Netztopologien, die den Typus des semi-documentary weithin charakterisieren, sowohl in einem sich ausweitenden, bewegten, medial durchsetzten städtischen Raum als auch in hochgradig verdichteten, symbolisch aufgeladenen Bildern der Noir-Stadt artikulieren. Diese Raumordnungen können einerseits auf unterschiedliche Zeitebenen verteilt werden, wie im Fall von CALL NORTHSIDE 777 (Henry Hathaway, 1948), oder aber sie werden, wie in THE NAKED CITY (Jules Dassin, 1948), dezidiert an eine Ikonographie des Verbrechens gekoppelt. Insbesondere letzteres Beispiel macht deutlich, in welch hohem Maße die Konstruktion des filmischen Raums im Film noir einer Reflexion unterzogen wird. Denn mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Noir-Stadt wird diese selbst bewegt; sie wird zu einer transportierbaren und verschiebbaren Topologie des Verbrechens, in der die Paradoxierung, die Ausdehnung und die Deformation des Raums zum zentralen Indiz einer umfassenden topologischen Umformung der filmischen Stadt werden, während sie das Unsichtbare und Unergründliche der Metropolen an die Oberfläche holen. Den Abschluss dieses Blicks auf die Raumdynamiken der filmischen Metropole im 20. Jahrhundert bildet das sechste Kapitel Fragmentierte Sichtbarkeiten: Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre, das sich erneut in einem veränderten Bezugsrahmen positioniert. Und dieser neue Bezugsrahmen begründet sich vor allem darin, dass sich hier die sichtbare Fabrikation bzw. die Transformation des Urbanen nicht allein in die Bilder einschreibt, um dann in einem zweiten Schritt die Bilder 32
EINLEITUNG
selbst zu verändern, wie in den beiden vorherigen Kapiteln zu beobachten ist. Im Gegenteil wird die umfassende Fragmentierung des Städtischen und die damit einhergehende Umkehrung räumlicher Verhältnisse im Episodenfilm unmittelbar in die mediale Konstruktion des Raums integriert – als Episodisches, als Fragmentiertes, als Ausschnitthaftes, kurz: als fragmentierte Sichtbarkeit der Metropole selbst. Als Folge dieser Verschiebung des räumlichen und filmischen Referenzrahmens lassen sich zwei unterschiedliche Tendenzen im Episodenfilm beobachten. Auf der einen Seite erfolgt eine radikale Fragmentierung der Stadt bei gleichzeitiger Fokussierung einzelner Teilräume, wie am Beispiel von NEW YORK STORIES (Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Woody Allen, 1989) und SMOKE (Wayne Wang, 1995) unter dem Aspekt der Herausbildung einzelner, verdichteter Mikrotopologien diskutiert wird. Dabei mündet die Fragmentierung jedoch keineswegs in eine Bezugslosigkeit der Teilräume und Figuren untereinander, sondern vielmehr in ein hoch komplexes Relationsgefüge, das SHORT CUTS (Robert Altman, 1993) sicherlich am deutlichsten in Bilder gefasst hat. Auf der anderen Seite, und im Gegensatz zu dieser Verdichtung des Räumlichen und der Steigerung seiner Relationsgefüge, sind die Transittopologien, die in einem zweiten Schritt diskutiert werden, von einer gegenläufigen Tendenz gekennzeichnet. Denn sie deuten die übergreifende Fragmentierung der Stadt in Richtung einer räumlichen Auflösung aus, in welcher die Stadt von einzelnen, ausgreifenden Bewegungsmodi und Bewegungslinien durchdrungen ist, wie sich etwa in NACHTGESTALTEN (Andreas Dresen, 1999) beobachten lässt. Im selben Zuge, und diese Raumdynamik liegt vor allem ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND (Michael Klier, 1989) zugrunde, wird der Radius der Bewegung jedoch auch deutlich erweitert, indem er nun nicht mehr einzelne Städte, sondern vielmehr die gesamte Welt umfasst. Die Räume werden hier zu genuinen Transiträumen, in denen sich die innere Transformation der Figuren und die äußere Transformation der Metropolen überkreuzen. Die Erweiterung des äußeren Bezugsrahmens bei gleichzeitiger Steigerung der inneren Relationalität ist auch den Topologien des Zufalls eingeschrieben, die in einem abschließenden Schritt betrachtet werden. Wie bereits in den abstrakten Topologien des frühen Stadtfilms und den Netztopologien des Film noir beobachtet, erfolgt hier die Raumkonfiguration über eine abstrakte, dritte Position, die insofern einen signifikanten Abstand in das Geschehen einzieht, als sie stets auf eine relationale Zwischenräumlichkeit bezogen bleibt. In NIGHT ON EARTH (Jim Jarmusch, 1991), in MAGNOLIA (Paul Thomas Anderson, 1999) und in TIME CODE (Mike Figgis, 2000) wird der relationale Charakter der Raumkonstruktion in Richtung des Zufälligen, des Ungewollten und häufig auch des 33
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Fatalen verschoben, was sich zugleich als Aussage über die Ungreifbarkeit eines zu komplex gewordenen, unwägbaren Städtischen lesen lässt, das sich in den Filmen mit einer ‚Nichtgenerierbarkeit von Sinn‘ verbindet. Die Welt des Episodenfilms scheint oftmals aufgelöst in einzelne Relationen, die das ‚Ganze‘ der Stadt nur noch auf künstliche Weise von außen schließen. In diesem Sinne treten auch die Relationen nicht allein als Figuren der Verknüpfung inkraft, sondern zugleich als Figuren der Differenz und des Auseinandertretens, welche die exzessive Relationalität des Raums als Abstand und als Leere konfigurieren. In ihrer inneren, konzeptuellen Ausrichtung verweisen die filmischen Topologien, die hier punktuell und in einzelnen Entwicklungsstufen in einer Perspektive auf das gesamte 20. Jahrhundert betrachtet werden, stets auf das Werden und auf das Prozessuale des filmischen Raums. Im Epilog dieses Buchs Zwischen Topographie und Topologie, der sich mit dem Experimentalfilm LOS ANGELES PLAYS ITSELF (Thom Andersen, 2003) auseinandersetzt, wird dieses Werden des filmischen Raums nun als Variation über die Entwicklung der filmischen Metropole lesbar. Dabei nähert sich Andersens Meta-Film, bestehend aus über zweihundert Filmausschnitten, seinem Gegenstand – der unzählige Male verfilmten und wieder verfilmten Metropole Los Angeles – auf unterschiedliche Weise und in drei differenzierten Zugriffen, während er im selben Zuge kontinuierlich die Grenzzonen und Übergänge zwischen einer filmischen Topographie und einer filmischen Topologie modelliert. So führt der Weg über die umfassende topographische Vermessung der Filmstadt Los Angeles, deren filmische Orte minutiös in ihrer Geschichte nachgezeichnet werden (‚City as Background‘), über die verlorenen und verlassenen Viertel, denen nur noch der Film mit seinem spezifischen ‚sense of place‘ ein Leben zu verleihen vermag (‚City as Character‘), bis hin zu hochgradig reflexiven Räumen, in denen die Bewusstwerdung als Film an die Hervorbringung der Medialität des Raums gekoppelt wird (‚City as Subject‘). Andersen vollzieht mit seinem Film eine Historiographie der filmischen Metropole, in der einzelne visuelle Topoi herausgebildet, verdichtet und quer durch die gesamte Filmgeschichte hindurch verfolgt werden, um im nächsten Moment wieder an einem gänzlich anderen Punkt anzusetzen. In dieser ‚Stadtsinfonie im Rückwärtsgang‘ werden die Filme durchmischt und die Räume belebt, während in ihrer spiralförmigen, zyklischen Bewegung die Transformativität des Films und seiner Geschichte aufscheint. Und es ist eben jene zyklische Bewegung einer Neuordnung des Raums, die der Epilog in verdichteter Form betreibt, die in einer übergreifenden Perspektive auch dem vorliegenden Buch hinsichtlich des Entwurfs, der Entfaltung und der Variation einer filmischen Topologie unterliegt. 34
I. R A U M T H E O R E T I S C H E G R U N D L A G E N UND TOPOLOGIEN Wenn Michel Foucault im Jahr 1967 im Rahmen seines Vortrags im Cercle d’Etudes Architecturales in Paris feststellt, wir lebten gegenwärtig in einer „Epoche des Raumes“1, so ist er mit dieser Aussage einerseits sehr früh, andererseits sehr spät.2 Sehr früh insofern, als seine Vorstellung von Raum als „Ensemble von Relationen“3 in vielerlei Hinsicht richtungweisend ist und viel von den heute zu beobachtenden Debatten um neue, dynamische Raumkonzepte vorwegnimmt. Gleichzeitig ist seine Aussage jedoch auch sehr spät, und zwar in dem Sinne, dass sich die eigentliche Revolution der Raumvorstellungen4 bereits spätestens seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts innerhalb der Philosophie und der Naturwissenschaften durch die prinzipielle Infragestellung des absoluten Raums5, in 1
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Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1990 [1967], S. 34-46, hier S. 34. Joachim Huber weist zudem darauf hin, dass der Vortrag Foucaults erst mit großer Verspätung, das heißt erst im Jahr 1987, im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Berlin, zur Veröffentlichung gelangte; vgl. Huber, Joachim: Urbane Topologie. Architektur der randlosen Stadt. Weimar: Universitätsverlag 2002, S. 269. Foucault 1990 [1967], S. 34. Der Begriff der ‚Revolution‘ verweist hierbei auf das Konzept der Paradigmenwechsel bei Kuhn, bei dem bestehende Paradigmen der Wissenschaft in eine Krise geraten und durch neue Paradigmen abgelöst werden; vgl. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 21990 [1969]. Auf die äußerst enge Verknüpfung von Philosophie und Naturwissenschaften in der Entwicklung von Raumtheorien verweist Günzel, war doch die Bestimmung des Raums zumeist „eingelagert in die Bestimmung dessen, was die Natur (griech. physis) ist. Philosophie war solcherart bis in die Neuzeit hinein immer auch Naturwissenschaft“; Günzel, Stephan: „Physik und Metaphysik des Raums“, in: Jörg Dünne; ders. (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006a, S. 19-43, hier S. 19. 35
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noch stärkerem Maße dann durch die Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien durch Gauß und Riemann und der Topologie innerhalb der Mathematik des frühen 19. Jahrhunderts vollzogen hat.6 Beide Linien – die ‚Vorzeitigkeit‘ und die ‚Nachzeitigkeit‘ von Foucaults Aussage – werden die raumtheoretischen Ausführungen dieses ersten Kapitels begleiten und immer wieder in die Diskussion einbezogen werden. Das Kapitel selbst gliedert sich in drei zentrale Schritte: In einem ersten Schritt werden die raumtheoretischen Grundlagen dieser Studie gesetzt, wobei es vor allem um eine Systematisierung gegenwärtiger Raumdiskussionen bzw. um das Herausarbeiten zentraler Diskussionslinien des Raums geht. Dabei dient die grundlegende Differenzierung von Raumbegriffen und Raumkonzepten als Rahmen des Kapitels und hat das Ziel, die einzelnen Begrifflichkeiten des gegenwärtigen Raumdiskurses auf ihre theoretische Fundierung hin zu befragen. Entscheidend für die Vorbereitung der Konzeption des filmischen Raums ist hingegen die Diskussion dreier spezifischer raumtheoretischer Linien, in denen sich die drei zentralen Prämissen des filmischen Raums – die Medialität, die Konstruktivität und die Bewegtheit – auf besondere Weise verdichten. Auf der einen Seite dienen die Diskussion der Ort-Raum-Differenzen, die raumtheoretische Herleitung eines dynamischen, bewegten Raumkonzepts sowie die Aufschlüsselung in einzelne Raumdimensionen folglich als drei zentrale Argumentationslinien, anhand derer sich die Entwicklung raumtheoretischer Fragestellungen nachvollziehen lässt. Darüber hinaus bilden diese drei Linien jedoch auch andererseits das Fundament für die anschließenden Ausführungen zum filmischen Raum. Die drei Zugriffe auf den Raum sind entscheidend für die konzeptuellen Grundlegungen des filmischen Raums, wenngleich sie gesamte Spektrum an Transformationen noch nicht vollständig erfassen, das in der Konstruktion filmischer Räume begründet liegt. Für die letztendliche Erarbeitung eines filmischen Raumkonzepts ist es daher notwendig, zwei weitere, entscheidende Positionen in die Diskussion einzubringen, die in zunehmendem Maße auch in die gegenwärtigen Raumdiskussionen Einzug halten: das Konzept des relationalen Raums, wie es insbesondere zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch Gottfried Wilhelm Leibniz seine entscheidende Ausrichtung erhält, und der mathematische Zweig der 6
Zu einer fundierten, mathematisch orientierten Erläuterung der nichteuklidischen Geometrien bei Gauß und Riemann vgl. Böhm, Johannes; Reichardt, Hans (Hg.): Gaußsche Flächentheorie, Riemannsche Räume und Minkowski-Welt. Leipzig: Teubner 1984, S. 131ff. Zur Wechselwirkung zwischen nicht-euklidischer Geometrie und philosophischen Raumkonzepten vgl. Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum. Frankfurt/M.: Klostermann 1965, S. 305-359. 36
EINFÜHRUNG
Topologie, wie er um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Mathematiker Johann Benedict Listing, Bernhard Riemann und Felix Klein entwickelt wird. Die relationalen und topologischen Raumvorstellungen sollen darüber hinaus hinsichtlich ihrer Wirkung im sozial- und kulturwissenschaftlichen Kontext untersucht werden, wie etwa die Inanspruchnahme des relationalen Raumkonzepts für die Entwicklung eines soziologischen Raumbegriffs oder auch die Übertragungen und Zuspitzungen des topologischen Raumbegriffs im Bereich der Phänomenologie und im Poststrukturalismus. Den Endpunkt dieses Kapitels markiert schließlich das Wiederaufgreifen der Differenz zwischen der Topologie und der Topographie, die ebenso wegbereitend für die filmtheoretischen Betrachtungen dieser Arbeit ist wie sie das Potenzial beinhaltet, zu einer Neubewertung und Modifizierung gegenwärtiger Raumdiskussion beizutragen. Geht man in einem ersten Schritt erneut auf die von Foucault postulierte ‚Epoche des Raumes‘ ein, so scheint diese mit Blick auf die gegenwärtige Forschungslage bereits in mehrfacher Hinsicht eingetreten zu sein. Denn was sich in den letzten Jahren in den unterschiedlichsten Gebieten beobachten lässt, ist als schrittweise und konsequente Aufwertung der Kategorie des Raums zu bezeichnen, die derart weitreichende Folgen hat, dass vermehrt bereits von einer ‚Renaissance des Raums‘ gesprochen wurde.7 Das Postulat einer „Rückkehr des Raums“8 geht dabei mittlerweile jedoch deutlich über die allgemeine Feststellung Alexander Gosztonyis hinaus, dass Raum und Zeit zu den grundlegenden Kategorien gehören, „die den denkenden Menschen von jeher beunruhigen und beschäftigen“.9 Denn wenn der Raum auch als „Umwelt, Horizont oder Rauschgenerator für Sinn- und Bedeutungsverschiebungen“10 stets präsent war, worauf Rudolf Maresch und Niels Werber in ihrer Einführung zu Raum – Wissen – Macht (2002) verweisen, so wird doch das
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Vgl. hierzu den umfassenden Überblick der Forschungssituation zum Raum in: Wirths, Johannes: „Über einen Ort des Raumes. Vorbereitende Bemerkungen im Blick auf aktuelle raumbegriffliche Konjunkturen“, in: Christiane Funken und Martina Löw (Hg.): Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien. Opladen: Leske+Budrich 2003, S. 139-173. Maresch, Rudolf: „Die Rückkehr des Raums. Über die Notwendigkeit, modische Theorien und Diskurse zu vererden“, unter: http://www.rudolfmaresch.de/texte/42.pdf; Zugriff am 15.08.2009. Gosztonyi, Alexander: Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften. 2 Bde., Freiburg: Karl Alber 1976a, S. 29. Maresch, Rudolf; Werber, Niels: „Permanenzen des Raums“, in: dies. (Hg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 7-30, hier S. 7. 37
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Verständnis des Raums gegenwärtig einer derart umfassenden Umwertung unterzogen, dass diese Bedeutungsverschiebungen wiederum Rückschlüsse auf übergreifende gesellschaftliche Veränderungen zulassen. Die erneute Sensibilisierung gegenüber räumlichen Konzepten lässt sich zunächst als unmittelbare Reaktion auf die zentralen Aussagen eines Verschwindens, einer Bagatellisierung oder auch einer Virtualisierung des Raums begreifen, die weithin die (Raum-)Diskussionen der neunziger Jahre bestimmten.11 Mehr noch: Es hat den Anschein, als rufe gerade die vermeintliche Überwindung räumlicher Kategorien wiederum grundlegende Fragen des Raums auf den Plan, als sei die erneute intensive Auseinandersetzung mit dem Raum gerade eine Reaktion darauf, dass das „scheinbar sichere Wissen um einen an sich existierenden, immerwährend gleichen und starren Raum [...] – nicht zuletzt durch Erfahrungen mit neuen Technologien wie dem Internet – in die Krise“12 geraten ist. Die Unsicherheit darüber, wie der Raum überhaupt noch zu fassen sei, manifestiert sich dabei in einem „gravierende[n] Wahrnehmungswandel und Bedeutungsumschwung“13 und wird zumeist auf die grundlegenden technischen und medialen Umwälzungen zurückgeführt, welche der Raum im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfahren hat: Denn spätestens seitdem technische Entwicklungen (Eisenbahn, Auto, Flugzeug) und weltumspannende Massen- und Kommunikationsmedien (Telegraf, Telefon, Radio, Fernsehen, Computer, Netzwerke) räumliche Distanzen schwinden und sie zu neuen Formen haben schrumpfen lassen, herrscht vielfach Unklarheit, wie man sich den Raum vorzustellen hat.14
Dennoch greift die Aussage, erst die schrittweise Technisierung, Medialisierung und Globalisierung15 habe eine grundlegende Verunsicherung der Raumvorstellungen bewirkt, zu kurz. Denn auf diese Weise wird ausgeblendet, dass die Umwälzung der Raumvorstellungen nicht allein 11
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Vgl. zu diesen drei Raumlinien insbesondere die Positionen von Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens. Berlin: Merve 1986; Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997; sowie Rötzer, Florian: „Raum und Virtualität. Einige Anmerkungen zur Architektur“, in: Bernd Meurer (Hg.): Die Zukunft des Raumes. Frankfurt/M./New York: Campus 1994, S. 205-219. Funken, Christiane; Löw, Martina (Hg.): Raum – Zeit – Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien. Opladen: Leske+Budrich 2003, S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Diese drei zentralen Faktoren der Raumveränderung stellt etwa Wirths in seiner Raumdiskussion heraus; vgl. Wirths 2003, S. 156f. 38
EINFÜHRUNG
durch die oben genannten äußeren Faktoren im Spannungsfeld zwischen Beschleunigung und Schrumpfung des Raums, sondern insbesondere durch innere Faktoren, das heißt durch konzeptuelle, den innersten Kern der Raumtheorien selbst betreffende Umwälzungen vollzogen wurde.16 Genau an diesem Punkt zeigt sich, dass Foucaults Aussagen zur wieder erstarkenden Relevanz des Raums zugleich als posthume Feststellung einer bereits über lange Zeit in Philosophie und Naturwissenschaften in Gang gesetzten Entwicklung betrachtet werden können.17 Insbesondere die Raumdiskussion um 1900 und ihre fundamentale Infragestellung der vermeintlich stabilen Grundfesten des Raums können das Bewusstsein dafür schärfen, inwiefern die Kernpunkte aktueller Raumdiskurse zutiefst in der Geschichte des Raumproblems verankert sind und dort ihren Platz haben. Und so erläutert auch Alexander Gosztonyi in den ersten Passagen seines umfassenden Werks Der Raum (1976): Einmal führten die an der allgemeinen Relativitätstheorie orientierte Physik und zahlreiche Entdeckungen in der Astronomie zu Fragen, die die Struktur des Weltraumes in den Mittelpunkt der Diskussion stellten. Zum anderen begann man in der Philosophie die Probleme zu erörtern, die bereits ein halbes Jahrhundert zuvor durch die Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien aktuell geworden waren. Letztere stellten nämlich die vorher als selbstverständlich hingenommene euklidische – dreidimensionale – Beschaffenheit des Raumes in Frage.18
Ausgelöst durch das Zusammenspiel beider Prozesse, das heißt sowohl durch die inneren als auch die äußeren Umwälzungen, wird das bisherige Verständnis des Raums als einem absoluten, dreidimensionalen Containerraum, der prinzipiell unabhängig von dem gedacht wird, was sich in
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So weisen Johannes Böhm und Hans Reichardt in ihrer Abhandlung zu den drei Mathematikern Gauß, Riemann und Minkowski darauf hin, dass die eigentliche Wende in der Geometrie bereits bei Carl Friedrich Gauß in seiner Allgemeinen Flächentheorie erfolgte, dass also bereits hier der Grundstein für das Denken von nicht-euklidischen, inneren Geometrien, n-Dimensionen, Mannigfaltigkeiten und Krümmungen des Raums gelegt und in der Folgezeit durch Bernhard Riemann, insbesondere in Bezug auf n-dimensionale, differenzierbare Mannigfaltigkeiten, weiter ausgearbeitet wurde; vgl. Böhm/Reichardt 1984, S. 132ff. Laut Hartmut Böhme lässt sich das Denken in Raumkonstruktionen bis in die antike Naturphilosophie zurückverfolgen und bildet damit „geradezu de[n] Beginn der Philosophie“; vgl. Böhme, Hartmut: „Raum – Bewegung – Topographie“, in: ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Stuttgart: Metzler 2005, S. IX-XXIII, hier S. XII. Gosztonyi 1976a, S. 30. 39
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ihm befindet oder geschieht19, einer grundlegenden Umwertung unterzogen. Diese Umwertung vollzieht sich jedoch nur allmählich und schrittweise, bleibt doch die Vorstellung des Containerraums, die letztendlich in stark verkürzter Form auf das Konzept des absoluten Raums bei Isaac Newton zurückgeht, als grundlegendes und unhinterfragtes Raumkonzept über lange Zeit nicht allein in der Alltagsvorstellung, sondern ebenso in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen vorherrschend. Auf die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Raumauffassung über Jahrhunderte hinweg gehalten hat, verweist auch Albert Einstein in seinem Vorwort zu Max Jammers Abhandlung Das Problem des Raumes (1954), in welchem er den Raum bei Newton als ‚Schachtel‘ bezeichnet, zu dessen Überwindung es in der Folgezeit „nicht geringer Anstrengung“20 bedurfte: In einer bestimmten Schachtel können so und so viele Reiskörner oder auch so und so viele Kirschen etc. untergebracht werden. Es handelt sich hier also um eine Eigenschaft des körperlichen Objektes ‚Schachtel‘, die im gleichen Sinne ‚real‘ gedacht werden muß wie die Schachtel selbst. Man kann dies ihren ‚Raum‘ nennen. [...] Dieser Begriff ‚Raum‘ gewinnt so eine vom besonderen körperlichen Objekt losgelöste Bedeutung.21
Während im Bereich von Philosophie und Naturwissenschaften also die Entgrenzung des dreidimensionalen Raums bereits über lange Zeit in Gang gesetzt wurde, so hat sich diese Umwälzung in den Sozial- und Kulturwissenschaften erst in den letzten Jahrzehnten durch zwei zentrale Raumwenden vollzogen: den Spatial Turn der achtziger Jahre und den Topographical Turn des letzten Jahrzehnts. Während sich der Spatial Turn besonders innerhalb der Geographie und der Soziologie verorten lässt und von dort aus auf andere Forschungsbereiche ausstrahlt, bezieht sich der Topographical Turn dezidiert auf die divergierenden Raumkonzepte der Cultural Studies angelsächsischer Prägung und der Kulturwissenschaften zentraleuropäischer Ausrichtung. Gemeinsam ist beiden Turns, bei allen ihren grundlegenden Differenzen, dass sie begrifflich eine unmittelbare Linie zum Linguistic Turn ziehen, wie er von Richard Rorty entwickelt wurde, womit zugleich der Anspruch verbunden ist, eine 19
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Vgl. hierzu die Ausführungen von Martina Löw in Bezug auf absolutistische Raumvorstellungen: Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 24-35 und S. 63-68. Einstein, Albert: „Vorwort“, in: Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21980 [1954], S. XIII-XVII, hier S. XVIf. Zur Persistenz des absoluten Raums in der Theoriebildung seit dem frühen 18. Jahrhundert vgl. die Ausführungen von Max Jammer; ebd., S. 138-153. Einstein 21980 [1954], S. XV. 40
EINFÜHRUNG
grundlegende und disziplinübergreifende ‚Wende‘ bestehender Erklärungsmodelle und Grundparameter der Wissenschaft herbeizuführen22; nun jedoch in Bezug auf den Raum bzw. auf räumliche Modelle. Inwiefern können diese beiden Turns einem derartigen Anspruch gerecht werden? Im Falle des Spatial Turn lassen sich die Auswirkungen kaum hoch genug einschätzen. Denn vorbereitet durch einige einflussreiche Arbeiten – allen voran Henri Lefèbvres The Production of Space (1974) – setzt sich mit Edward Sojas Postmodern Geographies (1989) und Thirdspace (1996) sowie David Harveys The Condition of Postmodernity (1990) schrittweise eine grundlegend neue Vorstellung von Raum durch.23 Denn der Raum wird hier nicht mehr als etwas von vornherein Gegebenes, Materielles und Unveränderliches konzipiert, sondern ganz grundlegend als sozial produzierter Raum gedacht. Es handelt sich folglich um ein prozessuales Raumverständnis, bei welchem die Akteure nun selbst in den Mittelpunkt der Betrachtungen rücken: Sie werden zu Agenten räumlichen Handelns und bilden räumliche Strukturen heraus. Der Raum wird so als ein mehrdimensionales Koordinatensystem verstanden, in dem sich die soziale Position von Akteuren verorten lässt.24 Mehr noch: Er wird aus der „Struktur der relativen Lagen der Körper“25 abgeleitet und entsteht damit erst im Moment und durch den Prozess des Handelns. Diese Umwertung hat weitreichende Konsequenzen, setzt sich doch auch in den aktuellen Diskursen zunehmend eine Raumvorstellung durch, welche den Raum nicht mehr als etwas Gegebenes, als etwas bereits Existierendes betrachtet, sondern den Blick vielmehr auf unterschiedliche soziale und kulturelle Praktiken der Produktion des Raums lenkt. Im Zuge des Spatial Turn verschiebt sich folglich die Vorstellung eines dreidimensionalen, euklidischen Containerraums hin zu einer Vorstellung, in welcher der Raum erst produziert und ausgehandelt wird. Der kulturwissenschaftlich ausgerichtete Topographical Turn findet seinen Ausgangspunkt in einem programmatischen Artikel von Sigrid Weigel aus dem Jahr 2002, in welchem sie eine deutliche Wende hin zu raumtheoretischen Konzeptionen kultureller Phänomene feststellt.26 22 23 24 25 26
Vgl. Rorty, Richard: The Linguistic Turn. Recent Essays in Philosophical Method. Chicago: University Press 1967. Vgl. Döring, Jörg; Thielmann, Tristan: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript 2008. Pateau, Michael: „Raum und soziale Ordnung“, in: Funken/Löw 2003, S. 191-217, hier S. 199. Löw 2001, S. 17. Weigel, Sigrid: „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographieund Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik, Bd. 2, Heft 2, 2002, S. 151-165. 41
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Diese ‚Wende‘ hat nun eine ganz andere Zielrichtung als der Spatial Turn, dient sie doch in erster Linie dazu, sich von den politisch fundierten Raumkonzepten und topographischen Methoden der angloamerikanischen Cultural Studies abzugrenzen und darüber hinaus das Paradigma der Karte als Repräsentationsform von Räumlichkeit innerhalb der Kulturwissenschaften zur Debatte zu stellen. Der Geschichtswissenschaftler Karl Schlögel greift hingegen in seiner Studie Im Raume lesen wir die Zeit (2003) den Begriff des Spatial Turn auf, um die Räumlichkeit als Erkenntnismöglichkeit historischer Forschung zu konzipieren.27 Sowohl dem Topographical Turn bei Weigel als auch dem Spatial Turn bei Schlögel ist gemeinsam, dass sie den Raum bzw. die Raumkonstruktion zumindest implizit mit der Vorstellung einer Karte, einer Topographie koppeln und dadurch von der Möglichkeit einer (zweidimensionalen) Aufzeichnung räumlicher Phänomene und Raumpraktiken ausgehen. Auch Vittoria Borsò und Reinhold Görling verfolgen einen ähnlichen Ansatz, wenn sie in ihrem Band Kulturelle Topografien (2004) ein Programm vorschlagen, das „sowohl Beschreibungen von Kultur oder kulturellen Produkten unter einem geografischen, räumlichen oder lokalen Aspekt als auch Analysen der kulturellen Formen, in denen die Herstellung von Orten und Räumen entsteht“, umfasst.28 Obwohl sie in ihrem Ansatz also die Mehrdimensionalität kultureller Praktiken reflektieren, bleiben sie dennoch rein begrifflich bei einer topographischen Aufzeichnung, das heißt bei einer Kartographie kultureller Praktiken stehen. Gerade aufgrund der zentralen Rolle, welche die Topologie in diesem Buch spielt, soll dem Raumkonzept der Topographie genauer auf den Grund gegangen werden. So legt Robert Stockhammer in seinem Buch TopoGraphien der Moderne (2005) eine fundierte Definition des Begriffs Topographie vor, indem er ihn aus dem griechischen topos (‚Ort‘) und gráphein (‚kratzen‘, ‚ritzen‘, ‚eingraben‘) herleitet, wobei er letzteres mit dem Prozess des Kerbens von Räumen und folglich mit dem ‚GemachtSein‘ von Räumen in Analogie setzt, „indem es markiert, daß diese vor allem auch Produkte graphischer Operationen im weitesten Sinne sind.“29 Mit einer ähnlichen begrifflichen Herleitung, wenngleich mit leicht abgewandelter Ausdeutung erläutern auch Borsò und Görling:
27 28 29
Vgl. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Hanser 2003. Borsò, Vittoria; Görling, Reinhold (Hg.): Kulturelle Topografien. Stuttgart: Metzler 2004a, S. 8. Stockhammer, Robert: „Hier. Einleitung“, in: ders. (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen. München: Fink 2005, S. 7-21, hier S. 15. 42
EINFÜHRUNG
Das Wort Topografie verbindet die griechischen Worte topos, Ort, und graphein, schreiben. In seiner Geschichte ist darunter zunächst das Beschreiben von Orten verstanden worden, das Beschreiben ihrer Lage, ihrer Beschaffenheit, ihrer Gestalt, ihrer Wirkung. [...] In der Renaissance werden neue Techniken erfunden, Räume zu konstruieren, zu rastern und zu vermessen. Topografie wird damit immer mehr zu einer Bezeichnung für die Übersetzung dieser Praktiken der Vermessung in die zweidimensionale Form von Karten.30
Hier wird folglich die geschichtliche Entwicklung des Topographiebegriffs von einer (reinen) Ortsbeschreibung bis hin zu (komplexen) kartographischen Vermessungspraktiken nachgezeichnet, mit der gleichzeitig ein fortschreitender Abstraktionsprozess hin zur Zweidimensionalität der Karte als Repräsentationsmedium einhergeht. Dennoch greift die Aussage, die Topographie sei eine Übersetzung von Raumpraktiken in die zweidimensionale Form der Karte, zu kurz. Denn das Potenzial des Topographical Turn liegt gerade darin, so die These, den Blick auf das Spannungsfeld zwischen der Zweidimensionalität des Mediums (der Leinwand, der Buchseite etc.) und der Mehrdimensionalität bzw. Multiperspektivität räumlicher Praktiken und Konstruktionen zu lenken.31 Begreift man die Topographie als eine Form der Raumbetrachtung, die gerade das Spannungsverhältnis zwischen Karte und Raum, zwischen Zwei- und Mehrdimensionalität auslotet, so wird sie zu einem entscheidenden Schritt und zu einer zentralen Vorbedingung der Topologie bzw. zieht sie gemeinsam mit der Topologie ein Spannungsfeld auf, die als eine neue, modifizierte Art der Raumbetrachtung gelten kann. Denn die Topologie bildet Räume heraus, die sich nicht mehr bzw. allein im Durchgang durch eine komplexe räumliche Transformation auf einen metrisch-euklidischen Raum zurückbeziehen lassen. In ihrer Abkehrung vom euklidischen Raumdenken wird die Topologie gerade für diejenigen medialen Formen von Räumlichkeit relevant, die mit dem zweidimensionalen Paradigma der Karte bzw. mit graphischen Operationen nicht vollständig zu fassen sind, sondern die vielmehr einen dynamischen Transformationsraum zum Ausgangspunkt der Raumproduktion nehmen. Der Spatial Turn und der Topographical Turn lassen sich folglich als zwei zentrale Punkte innerhalb einer Entwicklungslinie der schrittweisen
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Borsò/Görling 2004, S. 8. Zu einer vielschichtigen, historisch fundierten Auffächerung des Bedeutungsspektrums der Topographie und insbesondere der Kartographie als der „am höchsten ausdifferenzierte[n] topographische[n] Schreibweise“, vgl. Siegert, Bernhard: „Repräsentationen diskursiver Räume. Einleitung“, in: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Stuttgart: Metzler 2005, S. 3-11, hier S. 3; zu den Bedeutungsebenen vgl. S. 7-9. 43
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Entgrenzung eines rein materiellen, euklidischen, dreidimensionalen Raumverständnisses begreifen, die ihren gegenwärtigen Endpunkt bzw. grundsätzlichen Richtungswechsel mit dem Topological Turn findet.32 Denn der Spatial Turn ist gerade insofern entscheidend, als er den ersten, zentralen Schritt in Richtung einer Umwertung und Auffächerung des Raumbegriffs besonders in den Sozialwissenschaften herbeiführt. Durch die Konzeption eines flexiblen, sozial produzierten Raums, der sich jeweils hinsichtlich der unterschiedlichen Aneignungs- und Aushandlungsprozesse verändert, während er sich in einzelne, sich überlagernde Dimensionen des Raums auffächert, wird jegliche starre, statische Ausrichtung des Raums verabschiedet. Den zweiten, entscheidenden Schritt bildet dann der Topographical Turn, dem eine ganz eigene Logik innewohnt und der vor dem Hintergrund ganz anderer Parameter operiert. Denn hiermit wird nicht die Produktion des Raums bzw. seine Zuspitzung als prozessualer Handlungsraum verknüpft, sondern vielmehr das Spannungsverhältnis zwischen der Zweidimensionalität der Karte und der Mehrdimensionalität kultureller Praktiken ausgelotet. Gerade weil hier aber Fragen der Repräsentation des Raums auf den Plan treten, wird die Infragestellung des dreidimensionalen Raumkonzepts in Richtung der medialen Konstruktion von Räumen perspektiviert. Wurde in diesem ersten Themenaufwurf insbesondere von der gegenwärtigen Situation, das heißt von der gegenwärtigen Konjunktur, die der Raum erfährt und damit von der ‚Vorzeitigkeit‘ von Foucaults Aussage ausgegangen, so wird es im Folgenden stärker um eine Fundierung und zugleich eine Rückdatierung eben dieser Raumdiskurse gehen, deren Referenzpunkt die ‚Nachzeitigkeit‘ von Foucaults Epoche des Raums bildet. Ziel ist es, dabei einerseits die raumtheoretische Basis dieser Studie zu legen. Andererseits wird in diesem Kapitel jedoch auch aufgezeigt, inwiefern und in welch hohem Maße bestimmte Fragen, die heute im Zentrum der Raumdiskussion stehen, bereits tief in den raumtheoretischen Diskursen der letzten Jahrhunderte und damit grundsätzlich in der Geschichte des Raumproblems verankert sind. Denn erst auf dieser Grundlage wird es möglich, nicht allein die raumtheoretische Konzeption des filmischen Raums vorzubereiten, sondern im selben Zuge zu einer Umgewichtung gegenwärtiger Raumdiskurse beizutragen.
32
Einen derartigen Dreischritt unternimmt auch Günzel in seiner Einleitung zum Sammelband Topologie (2007), wobei hervorzuheben ist, dass er die aktuellen Raumdebatten in die zentralen (philosophischen) Begründungslinien (a) des Determinationsgedankens und (b) des Substanzdenkens des Raums einordnet, vgl. Günzel 2007b, insbes. S. 15-18. 44
Raumbegriffe und Raumkonzepte: Drei Zugriffe auf den Raum Die Konjunktur, die der Raum in der gegenwärtigen Forschungslage erfährt, zieht eine Fülle unterschiedlicher Begrifflichkeiten nach sich, die nicht immer eindeutig definiert und voneinander abgegrenzt werden. Häufig scheint eine grundsätzliche Unklarheit darüber zu herrschen, wie der Raum überhaupt zu fassen sei. Dies ist vor allem in Zusammenhang mit zwei Prämissen zu sehen, die jeder Raumbetrachtung zugrunde liegen: Denn einerseits ist der Raum eine grundlegende, jegliche Erkenntnis strukturierende Kategorie, die sich in alle denkbaren Gebiete des Alltagslebens und der Wissenschaften einschreibt. Andererseits, und genau hierin begründet sich sein Paradox, wird er als eine derart grundlegende, unhinterfragte Kategorie weitgehend unsichtbar und entzieht sich einer direkten Reflexion, wird nicht ganz bewusst der Blick auf ihn gelenkt. Die zentrale Bedeutung des Raums, die er gerade aufgrund dieser paradoxen Doppelstruktur erlangt, hat nicht zuletzt Ernst Cassirer auf den Punkt gebracht, wenn er sowohl dem Raum als auch der Zeit eine entscheidende, wenn nicht sogar die entscheidende Stellung „im Ganzen der ‚theoretischen Erkenntnis‘“33 zuspricht. Denn Raum und Zeit – so führt Cassirer weiter aus – nehmen bereits „wenn man sie lediglich als ‚Objekte‘ der Erkenntnis faßt, eine besondere und ausgezeichnete Stellung ein: sie bilden innerhalb des architektonischen Baues der Erkenntnis die beiden Grundpfeiler, die das Ganze tragen und das Ganze zusammenhalten.“34 Raum und Zeit treten jedoch nicht allein als ‚Objekte‘ der Erkenntnis inkraft, sondern die Erkenntnis selbst gewinnt „mit und an dieser Frage [...] allmählich eine neue ‚Richtung‘“.35 Dieser Punkt ist entscheidend, verweist er doch darauf, dass der Problemkomplex von Raum und Zeit den innersten Kern der Erkenntnis selbst betrifft, was wiederum zur Folge hat, dass mittels einer eingehenden Auseinandersetzung mit Raum und Zeit zugleich die Erkenntnis selbst verändert wird: Je klarer, je schärfer und bewußter innerhalb der Geschichte des Erkenntnisproblems die Frage nach dem Wesen von Raum und Zeit gestellt wird – um so deutlicher wird es auch, daß dieses Wesen nicht als ein rätselhaftes, letzten Endes unbekanntes Etwas ‚vor‘ der Erkenntnis schwebt, sondern daß es in
33
34 35
Cassirer, Ernst: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, in: Jörg Dünne; Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006 [1931], S. 485-500, hier S. 485. Ebd. Ebd. 45
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
ihrem eigenen Sein in irgendeiner, wie immer zu bestimmenden Weise beschlossen und gegründet ist. So kehrt die Erkenntnis, je tiefer sie in die Struktur des Raumes und der Zeit eindringt, umso gewisser in sich selbst zurück [...].36
Gerade weil der Raum aber eine derart grundlegende, den innersten Kern der (theoretischen) Erkenntnis betreffende Kategorie ist, bezieht er sich nicht allein potenziell auf jeden denkbaren Bereich der Natur-, Sozialund Kulturwissenschaften, sondern tritt hierin selbst zugleich als theoretische Position und als analytische Kategorie, als Sichtbares und Projektives, als Empirisches und Abstraktes auf, worauf auch Sigrid Lange in der Einleitung zu ihrem Sammelband Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film (2001) verweist: Die Naturwissenschaft unterlegt die Vorstellung von der Welt und manifestiert sie in der sichtbaren Ordnung der Dinge. In dieser Übertragung zeigt sich aber zugleich ihr projektiver Charakter: Wie keine andere Kategorie belegt Raum verschiedene Ebenen des Empirischen und des Abstrakten. Raum bezeichnet eine Eigenschaft in der sensuellen Welt und erhält ein Äquivalent darin in geometrischen und physikalischen Modellen.37
Dieses Spannungsverhältnis ist grundlegend für den Raum und hat zur Folge, dass er sich immer wieder einer eindeutigen Definition entzieht. Mehr noch: Der Raum ist selbst durch eine äußerst wechselhafte Begriffsgeschichte gekennzeichnet, wurde er doch zu unterschiedlichen Zeiten und von einzelnen Theoretikern immer wieder in gänzlich andere Richtungen ausgedeutet bzw. vollkommen umgedeutet.38 Ein Symptom dieser Ungreifbarkeit der Kategorie des Raums ist zudem die Tatsache, dass Raumbegriffe häufig als zusammengesetzte Begriffe, als Komposita, auftreten, wodurch sie jedoch wenig bzw. erst in zweiter Konsequenz etwas über die jeweilige Beschaffenheit des Raums selbst aussagen: Wann immer vom Raum in zahlreichen Komposita vom ‚sozialen Raum‘, ‚virtuellen Raum‘, ‚ästhetischen Raum‘ oder ‚politischen Raum‘, vom ‚Erlebnisraum‘, ‚Erfahrungsraum‘, ‚Verdichtungsraum‘ oder ‚Gestaltungsraum‘ die Rede war, blieben Rückschlüsse auf den Gegenstand selbst selten, so dass der Raum als theoretisch reflektierter Terminus jahrzehntelang ein kümmerliches Dasein fristete.39
36 37 38 39
Cassirer 2006 [1931], S. 485. Lange, Sigrid (Hg.): Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film. Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 8. Zur Problematik der häufigen konzeptuellen Überkreuzung unterschiedlicher Raumbegriffe vgl. Gosztonyi 1976a, S. 36ff. Maresch/Werber 2002, S. 12. 46
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
Dieser Mangel an theoretischer Reflexion ist jedoch nicht allein der definitorischen Dehnbarkeit des Raums durch Komposita zuzuschreiben, sondern ebenso einer weitgehenden Vermischung von Raumbegriffen und Raumkonzepten, die gerade in den gegenwärtigen Raumdiskussionen allzu häufig zu beobachten ist. Dabei kann eine systematische Aufschlüsselung dieser beiden Arten, den Raum gedanklich zu fassen, dazu dienen, ihre unterschiedlichen Argumentationsebenen näher zu bestimmen und damit zugleich zu einer Präzisierung der Diskussion beizutragen. Unter dem Terminus ‚Raumbegriffe‘ werden in dieser Arbeit sprachliche Zuschreibungen des Raums bezeichnet, die vor allem dazu dienen, die Kommunikation über den Raum zu präzisieren, indem sie eine bestimmte Eigenschaft des Raums betonen und innerhalb der Argumentation hervorheben. Raumbegriffe dienen somit zuallererst der Kommunikation über den Raum, weniger jedoch seiner inneren, konzeptuellen Weiterentwicklung. ‚Raumkonzepte‘ hingegen bezeichnen diejenigen theoretisch fundierten Positionen, die nicht allein auf eine präzisere Kommunikation über den Raum abzielen, sondern darüber hinaus Aussagen über die jeweils zugrunde liegende Raumvorstellung selbst treffen. Damit weisen Raumkonzepte eine höhere Komplexität und zugleich eine größere Reichweite ihrer Aussagen auf, indem sie unmittelbar mit raumtheoretischen Positionen verbunden sind.40 Während Raumbegriffe folglich als Variablen der Raumbeschreibung gefasst werden können, haben Raumkonzepte ein grundlegenderes theoretisches Fundament und lassen sich damit als Variablen der Raumtheorie bezeichnen. Diese Unterscheidung lässt sich anhand eines Beispiels verdeutlichen: Nimmt man etwa die Begriffe des ‚gelebten Raums‘, des ‚gestimmten Raums‘ oder auch des ‚orientierten Raums‘, so zeigt sich zunächst, dass jeder dieser drei Begriffe eine bestimmte Eigenschaft des Raums hervorhebt, wie in diesem Fall die Überformung des (physischen) Raums durch sein subjektives Erleben, das nicht messbar ist, sondern sich vielmehr an qualitativen, körpergebundenen Facetten ausrichtet. Gemeinsam referieren diese drei Begriffe auf das übergeordnete Konzept eines phänomenologischen Raums, der im Gegensatz zum materiell-physischen Raum, wie Elisabeth Ströker ausführt, in einer „ursprünglichen, nicht hintergehbaren Verbundenheit von Leibsubjekt und Raum“ gründet.41 40
41
Elisabeth Ströker definiert in ihrem Buch Philosophische Untersuchungen zum Raum die ‚Theorie‘ des Raums ganz grundsätzlich als „sublime[n] Niederschlag der jeweiligen ideengeschichtlichen Situation, aus deren geistigem Gesamtgehalt der Raum seine entscheidenden Züge gewinnt“; Ströker 1965, S. 1. Ströker 1965, S. 23. Zur Diskussion phänomenologischer Raumkonzepte in Zusammenhang mit der Topologie vgl. hier S. 88-93. 47
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Raumkonzepte bündeln unterschiedliche Raumbegriffe in sich und bilden dadurch eine übergreifende, abstrakte Vergleichsebene heraus, die auch im Zusammenhang dieser Arbeit von entscheidender Bedeutung ist. Denn erst auf dieser Ebene wird es möglich, die unterschiedlichen Diskussionslinien innerhalb der Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften zusammenzuführen, um aus ihrem Zusammenspiel heraus ein Konzept des filmischen Raums zu entwickeln. Mehr noch: Argumentiert man auf der Ebene von Raumkonzepten, so lässt sich daraus unmittelbar ableiten, dass es in dieser Arbeit nicht bzw. nicht ausschließlich um einzelne Ausgestaltungen des filmischen Raums gehen kann, sondern vielmehr um eine filmtheoretische bzw. filmphilosophische Fragestellung, anhand derer sich wiederum weiterführende Aussagen zum filmischen Raum ableiten lassen, oder präziser: zu den Grenzen und Möglichkeiten seiner Konstruktion wie auch zum Potenzial einer filmischen Raumtheorie, zu einer Schärfung der Konzeption medialer Räume beizutragen. Ausgehend von diesen grundlegenden Betrachtungen der konzeptuellen Ebene der Arbeit werden im Folgenden drei unterschiedliche analytische Zugriffe auf den Raum vorgeschlagen, die zugleich das raumtheoretische Fundament für die drei Prämissen des filmischen Raums bilden. Darüber hinaus lässt sich anhand dieser drei analytischen Zugriffe die Entwicklung des Raumproblems nachvollziehen, insofern diese vorrangig in Bezug auf drei Phasen diskutiert werden, die den Kern raumtheoretischer Begründungen und Umwälzungen betreffen: die Antike, die Frühe Neuzeit und schließlich das frühe 20. Jahrhundert. Den ersten Zugriff bildet die Frage nach der Ort-Raum-Differenz, die als eine der grundlegendsten raumtheoretischen Fragestellungen überhaupt gewertet werden kann, wobei hier eine Linie von der antiken Diskussion des Raums zwischen topos und chôra bis hin zur Frühen Neuzeit mit den Positionen von Descartes und Newton gezogen werden soll, stets mit Blick auf die wechselnden Zuschreibungen beider Konzepte. Zweitens wird das Verhältnis von Raum und Bewegung verhandelt, das unmittelbar an die Diskussion von Ort und Raum anknüpft, insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Neugewichtung erhält. Denn hier verdichten sich die Diskurse und ästhetischen Experimente mit dem Raum derart, sodass sie in einer grundlegenden Dynamisierung und Überkreuzung von Raum- und Zeitkategorien kulminieren. In der Folgezeit – und dies wird in einem dritten Zugriff ausgeführt – lässt sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts eine deutliche Auffächerung und Vervielfältigung von Raumkonzepten beobachten, wobei der materielle, der soziale und der symbolische Raum als drei Sinnordnungen des Raums entfaltet werden, die sich als drei Logiken der Raumproduktion grundlegend in jede Konstruktion von Räumlichkeit einschreiben.
48
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
Zur Differenz von Ort und Raum Einen ersten zentralen Zugriff auf den Themenkomplex Raum bildet die Differenz von Ort und Raum. Diese Unterscheidung ist im Zusammenhang mit dieser Arbeit sehr zentral, denn einerseits lässt sich vor dem Hintergrund der Konzeption des Ortes die jeweilige Raumvorstellung näher konturieren, da es sich um eine Unterscheidung handelt, mit der sich Raumtheoretiker immer wieder auseinandergesetzt haben. Andererseits ist die Differenz von Ort und Raum jedoch auch entscheidend, um die komplexen räumlichen Überlagerungen im Film als Zusammenspiel zwischen den filmischen Orten und dem filmischen Raum zu begreifen. Eine über lange Zeit prägende Definition des Ortes findet sich bei Aristoteles, bei welchem der Ort (griech. topos) als „Körperraum“ definiert wird und damit als „der ‚Platz‘, den ein Körper einnimmt und von dem er selbst doch unterschieden bleibt“.42 Der Ort wird bei ihm als eine Grenzfläche begriffen, genauer: als „unmittelbare, unbewegliche Grenze des Umfassenden“43, die sowohl von der Form als auch vom Stoff des Körpers verschieden ist. Als unbewegbares und unbewegtes Gefäß verstanden, ändert der Ort seine Beschaffenheit selbst dann nicht, wenn die von ihm umschlossenen Dinge ihre Position verändern, denn [a]uf Grund dessen, daß das Umfaßte, deutlich Abgesetzte den Ort wechselt, wobei oft das Umfassende (erhalten) bleibt, [...] scheint es die inmitten bestehende Ausdehnung zu sein, da sie doch unabhängig von dem austretenden Körper Bestand hat. Dem ist jedoch nicht so, sondern ein beliebiger Körper tritt (gleich wieder) ein (aus der Zahl) derer, die den Platz wechseln und ihrer natürlichen Beschaffenheit nach ein Berührungsverhältnis bilden können.44
Denkt man diesen Gedanken weiter, so befindet sich der Ort wiederum selbst an einem Ort des Ortes und ist damit Teil eines Ganzen. Denn wenn „alles Seiende ‚an einem Ort‘ ist, so wird es klarerweise auch den ‚Ort des Ortes‘ geben müsen, und dies so fort ins Unendliche.“45 Wie lässt sich dann aber das Unbegrenzte, das Ganze denken? Hier wird der Faktor der Bewegung entscheidend, denn als „Ganzheit genommen, verändert es mit einem Mal den Ort nicht, im Kreis aber bewegt es sich [...], und [...] einige (Teile von ihm); andere (Teile) auch auf und ab, alle die, welche Verdichtung und Lockerung an sich haben.“46
42 43 44 45 46
Günzel 2006a, S. 20. Aristoteles: Physik. Vorlesung über die Natur. In: Philosophische Schriften. Hg. v. Hans Günter Zekl. Hamburg: Meiner 1995, S. 85 [212a]. Ebd., S. 83 [211b]. Ebd., S. 76 [209a]. Ebd., S. 85f. [212b]. 49
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Als feste, den Körper unmittelbar einfassende Größe prägt der Begriff des topos bei Aristoteles lange Zeit die Vorstellung des Ortes. Demgegenüber korrespondiert Platons Begriff der chôra, wie er im Timaios entwickelt wird, mit der Vorstellung eines offenen, ausgedehnten und rezeptiven Raums. Denn der Raum besetzt eine dritte Position, ist ein „drittes Geschlecht“ (triton genos) zwischen dem Sein und dem Werden, wobei das Sein als eine „Form, die sich stets gleich verhalte, nicht geboren und unvergänglich, [...] unsichtbar und auch sonst unwahrnehmbar“47, das Werden hingegen als das „ihm Gleichnamige und Ähnliche, wahrnehmbar und geboren, stets hin- und hergerissen, an einer bestimmten Stelle entstehend und von da wieder verschwindend“48, entfaltet wird. Der Raum schiebt sich nun als „schwierige und dunkle Form“ zwischen diese beiden Arten bzw. bezeichnet genau denjenigen Bereich, „in welchem das Seiende in den Werdenden in Erscheinung tritt“49: [E]ine dritte Art sei ferner die des Raumes, immer seiend, Vergehen nicht annehmend, allem, was ein Entstehen besitzt, einen Platz gewährend, selbst aber ohne Sinneswahrnehmung durch ein gewisses Bastard-Denken erfaßbar, kaum zuverlässig.50
Seiendes, Raum und Werden sind für Platon „drei verschiedene Dinge, sogar noch bevor der Himmel entstand.“51 Insbesondere dem Raum als „Amme des Werdens“ kommt in dieser Trias eine besondere Stellung zu, denn da sie „weder von ähnlichen noch von im Gleichgewicht stehenden Kräften erfüllt werde, befinde sie sich in keinem ihrer Teile im Gleichgewicht, sondern [...] werde sie selbst durch jene Kräfte erschüttert und erschüttere, durch jene in Bewegung gesetzt, umgekehrt jene.“52 Dies bedeutet, folgt man Jacques Derridas Ausführungen zur chôra, dass sie zwar alle Bestimmungen in sich aufnimmt, jedoch keine davon selbst besitzt, denn sie ist „nichts anderes als die Summe oder der Prozeß dessen, was sich nach und ‚über‘ sie [...] einschreiben wird“.53 Gegenüber diesem 47 48 49 50 51 52
53
Platon: Timaios. Hg. v. Hans Günter Zekl. Hamburg: Meiner 1992, S. 95 [52a]. Ebd. Kratzert, Thomas: Die Entdeckung des Raums. Vom hesiodschen ‘chaos’ zur platonischen ‘chora’. Amsterdam: Grüner Publishing 1998, S. 102. Platon 1992, S. 95 [52b]. Ebd., S. 97 [52d]. Ebd., S. 97 [52e]. Genau an diesem Punkt zeigt sich auch der Unterschied zum Raumbegriff bei Hesiod, denn dieser ist „am Prozeß des Werdens nicht beteiligt, sondern bietet lediglich durch seine Räumlichkeit die Möglichkeit des Werdens“; Kratzert 1998, S. 100. Derrida, Jacques: Chôra. Wien: Passagen 1990, S. 27. 50
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
richtungweisenden Raumkonzept Platons konnte sich jedoch die Aristotelische Toposlehre über Jahrhunderte hinweg als die prägende Raumvorstellung durchsetzen, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass in ihr das einflussreiche Substanzdenken des Raums begründet liegt.54 Während Ort und Raum, topos und chôra, in der Antike also noch weitgehend getrennt voneinander diskutiert werden, versteht man sie in der Frühen Neuzeit zunehmend als zusammenhängende Größen, dient der Ort häufig als Kontrastfolie, um hieran die Vorstellung des Raums näher zu konturieren. Den entscheidenden Schritt zur (geometrischen) Abstraktion des Raums vollzieht René Descartes, indem er den Raum als ein messbares Volumen mit drei Dimensionen definiert, denn es ist die „Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe, die den Raum ausmacht“.55 In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Raum auch nicht prinzipiell von der in ihm enthaltenen körperlichen Substanz, wird diese doch ebenso über Länge, Breite und Tiefe definiert. Und so führt er weiter aus: Hingegen besteht darin eine Verschiedenheit, daß wir die Ausdehnung am Körper als einzelne betrachten und meinen, daß sie sich immer dann verändert, sobald sich der Körper verändert. Dem Raum selbst aber sprechen wird eine gattungsmäßige Einheit zu, so daß durch Veränderung oder gar einen Wechsel des Körpers, der den Raum einnimmt, die Ausdehnung des Raumes gleichwohl nicht als verändert gilt, sondern ein und dieselbe bleibt, solange sie ebendieselbe Größe und Gestalt durch dieselbe Lage zwischen gewissen äußeren Körpern beibehält, durch die wir jenen Raum bestimmen.56
Der Unterschied zwischen Körper und Raum besteht also allein in der Auffassungsweise, die in einem Fall eine spezielle und begrenzte (in Bezug auf den Körper), im anderen hingegen eine allgemeine und übergreifende Ausdehnung (in Bezug auf den Raum) annimmt. Vor diesem Hintergrund schlüsselt Descartes nun den Begriff des Ortes in zweifacher Weise auf: Einerseits wird der Ort als „innerer Ort“ gedacht und ist als solcher „schlichtweg dasselbe wie der Raum“.57 Andererseits existiert in seiner Konzeption jedoch auch ein „äußerer Ort“, der „als diejenige Oberfläche angesehen werden [kann], die das an den Ort Gesetzte am engsten umgibt“.58 Während der äußere Ort also der Lagebestimmung 54
55 56 57 58
So wurde das Substanzdenken beispielsweise durch die Scholastiker aufgegriffen, wobei hier die Zentralität Gottes als ‚allumfassende Substanz‘ noch weiter zugespitzt wurde; vgl. Günzel 2006a, S. 21. Descartes, René: Über die Prinzipien der materiellen Dinge. In: Dünne/Günzel 2006 [1644], S. 44-57, hier S. 48. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd. 51
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
zwischen Körpern dient, bezeichnet der Raum die allgemeine, ausgedehnte Größe und Gestalt, die auch bei einem Ortswechsel der Körper gleich bleibt. Dennoch sieht auch Descartes den Raum der Ausdehnung noch als substanzielles Kontinuum an, denn: „Wo es Ausdehnung oder Raum gibt, dort gibt es notwendigerweise eine Substanz.“59 Damit sind zugleich die zentralen Grundlinien angesprochen, die sich auch durch alle späteren Diskussionen von Ort und Raum ziehen werden: Während der Ort stets mit etwas Statischem, Unbewegtem und nach außen hin Begrenztem kurzgeschlossen wird, bezeichnet der Raum gerade als Gegenstück dazu das Flexible, das Bewegte und das Ausgedehnte. Ein weiteres entscheidendes Begriffspaar neben Lage/Gestalt, Begrenzung/Ausdehnung und Statik/Bewegung wird durch Isaac Newton in die Diskussion eingeführt, indem er Ort und Raum über die Faktoren von Teilbarkeit und Unteilbarkeit unterscheidet.60 Ort und Raum sind für ihn, ebenso wie die Bewegung und die Zeit, zunächst einmal ‚wohlbekannte Größen‘, die sich zu ihrer Präzisierung jeweils in „absolute und relative, wahre und scheinbare, mathematische und allgemein übliche auftrennen lassen“.61 So ist bei ihm der Ort lediglich ein Teil des physikalischen (absoluten oder relativen) Raums, den der Körper einnimmt.62 Diese Konzeption ist insofern neu, als Newton ausdrücklich betont, dass der Ort, sobald er als Teil des Raums begriffen werde, „nicht die Lage des Körpers oder seine umgebende Oberfläche“63 sein könne. Denn der Ort eines ganzen Körpers ist „identisch mit der Gesamtheit der Orte seiner Teile, und deswegen [ist er] ein innerer [Ort] und in dem ganzen Körper.“64 Diese erste Differenzierung lässt sich über die Unterscheidung von absolutem und relativem Raum näher fassen. Denn mit dem absoluten Raum prägt Newton die über lange Zeit herrschende Vorstellung eines abstrakten, leeren Raums, der „seiner Natur nach ohne Beziehung zu irgendetwas Äußerem, [...] immer gleichartig und unbeweglich“65 bleibt. Demgegenüber bildet der relative Raum für den absoluten Raum „ein 59
60
61 62 63 64 65
Spinoza, Baruch de: Descartes’ Prinzipien der Philosophie in geometrischer Weise dargestellt. In: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. v. Carl Gebhardt. Hamburg: Meiner 2005 [1663], S. 79. Das Konzept der Unteilbarkeit entlehnt Newton hierbei dem Neuplatoniker Henry More, der den Begriff der Unteilbarkeit aus dem kabbalistischen Begriff makôm herleitet, der zugleich als ‚Ort‘, ‚Stelle‘ und ‚Raum‘ übersetzt werden kann, vgl. Günzel 2006a, S. 25. Newton, 1999 [1687], S. 27. Vgl. ebd., S. 28. Ebd. Ebd. Ebd. 52
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
Maß bzw. eine beliebige bewegliche Dimension, die von unseren Sinnen durch ihre Lage zu den Körpern bestimmt wird“66, was bedeutet, dass über den relativen Raum der absolute Raum überhaupt erst als leer und abstrakt gedacht werden kann. Darüber hinaus hängt die Differenzierung von absolutem und relativem Raum wiederum auf das Engste mit der Frage nach der Teilbarkeit und Unteilbarkeit, nach Teil und Ganzem zusammen, wie Newton hinsichtlich der Differenz zwischen dem (vielfachen) relativen Raum und dem (einen) absoluten Raum verdeutlicht: Nämlich wenn sich die Erde bewegt [...], so wird der Raum unserer Atmosphäre, der relativ und bezüglich der Erde gesehen immer derselbe bleibt, von dem absoluten Raum bald der eine Teil sein, in welchen die Atmosphäre übergeht, bald von ihm ein anderer Teil, [in welchen die Atmosphäre übergeht,] und so wird er sich, absolut gesehen, beständig verändern.67
Absolutes und Relatives sind demnach zwei Grundprinzipien, nach denen sich die Größen Zeit, Raum, Ort und Bewegung näher bestimmen lassen und denen zugleich der „platonische Dualismus zwischen urbildlicher, ewig seiender, absoluter Wirklichkeit und veränderlicher, abbildlicher, relativer Scheinwelt“68 zugrunde liegt, denn unmittelbar sichtbar werden immer nur ihre relativen Erscheinungen. Um die absoluten Erscheinungen denken zu können, muss hingegen von der Wahrnehmung abstrahiert werden. Und es ist eben diese Ebene der Abstraktion, in der Albert Einstein die größten Errungenschaften Newtons sieht. Denn durch das Konzept des absoluten Raums sei, so Einstein, der Raumbegriff bereichert und kompliziert worden, indem der ‚Raum‘ als selbständige Ursache des Trägheitsverhaltens der Körper geführt werden muß, wenn man dem klassischen Trägheitsprinzip (und damit dem klassischen Bewegungsgesetz) einen exakten Sinn geben will. Dies in vollkommener Klarheit erkannt zu haben ist nach meiner Meinung eine von Newtons größten Leistungen.69
Dabei ist entscheidend, dass Newton im Zusammenschluss aller absoluten Erscheinungsformen die absolute Zeit und den absoluten Raum als „Orte ihrer selbst und aller Dinge“70 bezeichnet, denn das „Wesentliche an ihnen ist, daß sie Orte sind, und daß sich primäre Orte bewegen, ist
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Newton 1999 [1687], S. 28. Ebd. Kaulbach, Friedrich: Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant. Köln: Universitätsverlag 1960, S. 11. Einstein 21980 [1954], S. XVI. Newton 1999 [1687], S. 29. 53
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
absurd. Diese sind also absolute Orte, und nur die Verlagerungen aus solchen Orten heraus sind absolute Bewegungen.“71 Der absolute Raum und die absolute Zeit können folglich mit dem absoluten Ort zusammenfallen. Dennoch ist der absolute Ort immer nur ein an die Körper gebundener Teil des absoluten Raums, sodass sich die Unterscheidungen zwischen Relativem/Absolutem und Teilbarkeit/Unteilbarkeit letztendlich überkreuzen. Dabei wird das Relative jeweils als ein punktueller, in sich begrenzter Teil gefasst, während das Absolute jeweils als das Übergreifende und unteilbare Ganze gilt. Führt man diesen Gedanken weiter, so wird der relative Raum stets von einem bestimmten Standpunkt (Ort) aus gedacht, während der absolute Raum als „ein (gedachter) Raum aller möglichen Standpunkte oder Perspektiven“72 die einzelnen Orte umfasst. Denn so, wie der relative Raum allein mit Blick auf den absoluten Raum definiert werden kann bzw. ohne das Bezugssystem des absoluten Raums, von dem er abgeleitet wird, überhaupt nicht denkbar wäre, so lassen sich auch Ort und Raum als „zwei ineinander greifende Ordnungen“73 des (relativen) Lokalen und des (absoluten) Globalen begreifen. Und zwar in dem Sinne, dass der Ort den notwendigen Bestandteil des Raums bildet, während der Raum im Gegenzug nur vor dem Hintergrund der Existenz von Orten seine spezifische Qualität des Ausgedehnten, Bewegten und Übergreifenden entwickeln kann. Trotz dieser schrittweisen Ausdifferenzierung von Ort und Raum bleibt der Raumbegriff selbst jedoch noch bis zur Aufklärung grundsätzlich im Spannungsverhältnis zwischen Physik und Metaphysik verhaftet.74 Denn obgleich die entscheidende Leistung Newtons darin besteht, ausgehend von der Formulierung des Trägheitsgesetzes und des Begriffs der Beschleunigung, den leeren Raum des Vakuums überhaupt erst denkbar zu machen, haftet dem Raum gerade im Zuge seiner Absolutsetzung immer noch etwas Göttliches an, geht auch Newton von einer umfassenden Substanz aus, die selbst noch den analytischen, leeren Raum erfüllt. Die daraus resultierende Gleichsetzung des Ortes mit dem unmittelbar sichtbaren und wahrnehmbaren Weltlichen, des Raums hingegen mit dem unsichtbaren, abstrakten Göttlichen löst sich erst im Zuge der
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Newton 1999 [1687], S. 29. Günzel 2006a, S. 24. Ebd., S. 25. Auf die lange Verhaftung des Raumbegriffs in etwas Göttlichem, in einer Substanz, verweist auch Stephan Günzel in seiner Einleitung „Physik und Metaphysik des Raums“; vgl. Günzel 2006a, S. 21ff.; zur Begründung von Newtons Vorstellung des absoluten Raums im religiös-symbolischen Denken vgl. von Weizsäcker 71958, S. 138. 54
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Aufklärung und der Positionen Immanuel Kants auf.75 Und es ist gerade diese Abkehr von der Substantialisierung und Sakralisierung des Raums, welche die entscheidende Vorbedingung dafür bildet, dass Ort und Raum in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden können.76 In diesem Zusammenhang ist zugleich die Tatsache zu sehen – und damit soll diese erste raumtheoretische Erläuterung der Ort-Raum-Differenz vorerst abgeschlossen werden –, dass eine explizite Begriffsbildung des Raums erst im 17. Jahrhundert und etwa zeitgleich mit Descartes einsetzt. Laut Michaela Ott erklärt sich die späte Herausbildung des Raumbegriffs gerade daraus, „daß sie seitens des erkennenden Subjekts mit einer Distanzierung von selbstverständlichen Wahrnehmungshorizonten verbunden ist“.77 Im Zuge dieser Begriffsbildung vollzieht sich nun eine Aufspaltung in zwei Wortstämme und Bedeutungsebenen, die insofern entscheidend ist, als sich in den Begriffen von ‚Raum‘ und ‚espace‘ (lat. spatium) zwei Vorstellungen verdichten, die bis in die heutigen Raumdiskussionen hinein prägend sind. Denn während das lateinische ‚spatium‘ eine offene Lauf- oder Kampfbahn, aber auch einen bestimmten Zeitraum bezeichnet, die in der Folge in Richtung eines relationalen Zwischenraums und Intervalls ausgedeutet wurden, ist der germanische Begriff des ‚Raums‘ vielmehr von Beginn an territorial geprägt und wird, wie etwa im Grimm’schen Wörterbuch, als eine „gegebene stätte für eine ausbreitung oder ausdehnung“78 verstanden: Raum und espace verweisen somit auch auf zwei sehr unterschiedliche raumtheoretische Positionen: auf die Annahme einer absoluten, territorialen Bindung einerseits und auf den Ausgangspunkt einer relationalen Verortung andererseits, die auch für gegenwärtige raumtheoretische Diskussionen eine bedeutende Rolle spielen.79
Diese sprachgeschichtliche Auffächerung des Raumbegriffs bildet gerade durch ihre Kopplung an zwei stark divergierende Raumvorstellungen den entscheidenden Hintergrund zur Einordnung raumtheoretischer Positionen. Insbesondere am Beispiel des phänomenologischen Raum- bzw. Topologiebegriffs lässt sich nachvollziehen, in welch hohem Maße die 75
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Zu einer Einführung in die Positionen Kants im Wechselspiel zwischen absolutem und relationalem Raumbegriff, der Apriorizität des Raums sowie seiner lebensweltlichen Fundierung vgl. Günzel 2006a, S. 28-32. Vgl. hierzu etwa die Ort-Raum-Differenz im relationalen Raumkonzept bei Leibniz; hier S. 68-72. Ott, Michaela: „Raum“, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart: Metzler 2003, S. 113-149, hier S. 114. Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch, zit. in: Dünne/Günzel 2006, S. 10. Ebd. 55
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Vorstellung eines weiten, ausgedehnten Zwischenraums implizit den Positionen der französischen Schule zugrunde liegt, wohingegen die Verhaftung des deutschen Raumbegriffs in der Vorstellung eines Territoriums deutlich die Zugangsweisen zu diesem Problemkomplex prägt.80 Dynamisierung des Raums: Wechselverhältnisse von Raum und Bewegung Ausgehend von der zentralen Diskussion der Ort-Raum-Differenz soll im Folgenden der Blick auf die Zusammenhänge von Raum und Bewegung gelenkt werden. Denn gerade in den aktuelleren Positionen werden Raum und Bewegung nicht allein als eng miteinander verbundene, sondern regelrecht als konstitutive Faktoren verstanden: Ohne die Bewegung ist die Entstehung von Raum gar nicht erst denkbar, wie etwa Michel de Certeau in seinem Werk Kunst des Handelns in Abgrenzung zur statischen Kategorie des Ortes ausführt.81 Diese Untrennbarkeit von Raum und Bewegung hat für die theoretische Fassung des Raums weitreichende Folgen, insofern hier ein grundlegend dynamisches und prozessuales Raumverständnis vorangetrieben wird, das zugleich den Zielpunkt zahlreicher gegenwärtiger Raumdebatten bildet.82 Der Raum – so stellt Max Jammer bereits mit Blick auf Newtons Thesen zur Bewegung fest – ist über die Bewegung überhaupt erst zu definieren, denn „Bewegung und insbesondere beschleunigte Bewegung sind Mittel und Wege, durch die der Raum sich erforschen läßt.“83 Gerade in Bezug auf die komplexe Differenzierung zwischen relativem und absolutem Raum tritt die intrinsische Beziehung zwischen Raum und Bewegung auf das Deutlichste zutage, denn die „Körper ruhen meist – wenn überhaupt – nur bezüglich des relativen Raums; im absoluten Raum ist alles in Bewegung.“84 Insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdichten sich die raumtheoretischen Diskurse ebenso wie die ästhetisch-künstlerischen Experimente mit dem Raum auf eine Weise, dass aus dieser Komplexitätssteigerung heraus neue Raumkonzepte entstehen, die den materiellen, physischen und letztendlich unbewegten Raum zunehmend infrage stellen. 80 81
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Zur weiteren Ausfaltung dieser Differenz in Bezug auf die einzelnen Ausprägungen der Topologie vgl. ‚Topologie des Innen‘, hier S. 88-93. Zur näheren Diskussion des Zusammenhangs von Raum und Bewegung (als ‚Wegstrecke‘) im Gegensatz zu Ort und Statik (als ‚Karte‘) in den raumtheoretischen Abhandlungen Michel de Certeaus vgl. hier S. 141. Vgl. hierzu die einschlägige Publikation von Hofmann, Franck; Sennewald, Jens E.; Lazaris, Stavros (Hg.): Raum-Dynamik. Dynamique de l’espace. Bielefeld: transcript 2004. Jammer 21980 [1954], S. 112f. Günzel 2006a, S. 25. 56
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
Sigrid Lange spricht hier sogar von einem umfassenden kulturellen Paradigmenwechsel, der sich „in der Moderne um die Wende zum 20. Jahrhundert sowohl in einer neuen Korrespondenz als auch im Divergieren verschiedener Raumkategorien äußert.“85 Mit dem 20. Jahrhundert werden folglich zwei eng verzahnte Prozesse in Gang gesetzt, die im Folgenden näher ausgeführt werden: Erstens konvergieren die Raumexperimente in der Physik, der Mathematik und den Künsten in einem durch und durch dynamischen Raumkonzept, das zu einer grundlegenden Umwälzung bisheriger Raumvorstellungen führt. Und zweitens zeigt sich eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Raumkonzepte, die den Raum in seine einzelnen Dimensionen auflöst und somit die Konstruiertheit und Zuschreibbarkeit der einzelnen Raumordnungen ausstellt. Die Kulmination der Raumvorstellungen in einem genuin dynamischen Raumkonzept vollzieht sich auf drei eng miteinander zusammenhängenden Linien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, genauer: rund um das Jahr 1910. Gemeinsam ist ihnen, dass der Raum auf radikale Weise über die Bewegung gedacht und als eine veränderbare und sich verändernde Größe angesehen wird. Einen ersten, entscheidenden Punkt markiert hierbei die Entwicklung der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie (1905/1916) durch Albert Einstein. Denn obgleich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen wurde – nicht zuletzt durch die Entdeckung der Riemannschen Räume und der nicht-euklidischen Geometrien86 –, den Raum nicht länger als feste, stabile Größe, sondern in Bezug auf seine Veränderung bzw. Veränderbarkeit hin zu betrachten, bildet erst die Konzeption des Raums über den neuen ‚Fundamentalbegriff‘ des Feldes den entscheidenden Schritt zu seiner Dynamisierung. Der Raum der Relativitätstheorie geht insofern über bisherige Raumkonzepte hinaus, als er die Einheit von Raum, Zeit und Materie postuliert und nun als gekrümmter, gestauchter und letztendlich nicht mehr logisch fassbarer Raum in Erscheinung tritt. So stellt auch Stephen Hawking mit Blick auf die Einsteinsche Raumrevolution schlicht fest: „Raum und Zeit sind nun dynamische Größen“.87 Entscheidend dabei ist, dass sich Raum und Zeit als dynamische Größen nicht mehr in ein festes Koordinatensystem integrieren lassen, ja dass dieses Koordinatensystem selbst grundlegend infrage gestellt wird, denn, so folgert Einstein an anderer Stelle: „Wir 85 86
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Lange 2001b, S. 8. Zu einer ausführlichen Diskussion der Freisetzung neuer Raumkonzepte in der Moderne, vgl. ebd., S. 7-16. Zur Fundierung des dynamischen Raumkonzepts in der Entdeckung der Riemannschen Räume, der nicht-euklidischen Geometrien und insbesondere der Topologie, vgl. hier S. 81-88. Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit. Reinbek: Rowohlt 1990, S. 52. 57
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haben Gesetze, wissen jedoch nicht, auf welches Koordinatengerüst wir sie beziehen sollen; und so scheint unser ganzes physikalisches Gedankengebäude auf Sand gebaut zu sein.“88 Gerade weil das Bezugssystem des Raums selbst aber nicht mehr festlegbar und messbar ist, wird der Raum zunehmend in Bezug auf seinen jeweiligen Kontext (das Feld) erfasst, wird der Raum also selbst kontextuell. Dies bedeutet zugleich, dass auch die Bewegung nicht mehr in ihrem Verhältnis zu einem unbewegten, absoluten Raum gedacht werden kann, sondern nur noch in Relation zu anderen Körpern. Der Raum wird zu einer „Lagerungs-Qualität der Körperwelt“89, die allein in bewegten Körpern in Erscheinung tritt. Mehr noch: Der Raum wird hier, wie Martina Löw in ihrer Raumsoziologie (2001) feststellt, zu einer „Beziehungsstruktur zwischen Körpern, welche ständig in Bewegung sind“90, wodurch zugleich der Zeit eine entscheidende Rolle zugesprochen wird. Denn geht man „von einem starren Raumbegriff aus, so kann man unterstellen, daß diese Starrheit über die Zeit andauert; nimmt man jedoch einen bewegten Raum an, so wird Zeit zur immanenten Kategorie.“91 Sobald also Raum und Bewegung aufeinander bezogen werden, gewinnt auch die Zeit einen neuen Stellenwert, wird sie integraler Bestandteil der Konzeption genuin bewegter Räume, was unmittelbar zum zweiten Kernpunkt des dynamischen Raumkonzepts überleitet: zum Konzept der ‚Raumzeit‘ bei Hermann Minkowski, mit welcher er die mathematische Quintessenz der speziellen Relativitätstheorie Einsteins herausarbeitet. So trifft er gleich zu Beginn seines Vortrags auf der Naturforscher-Versammlung in Köln am 21. September 1908 die berühmten Aussagen: Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.92
Den Ausgangspunkt seiner Ausführungen zur Raumzeit bildet eine Kritik der Newtonschen Mechanik, welche laut Minkowski eine zweifache 88 89 90 91 92
Einstein, Albert; Infeld, Leopold: Die Evolution der Physik von Newton bis zur Quantentheorie. Reinbek: Rowohlt 1956, S. 142. Einstein 21980 [1954], S. XV. Löw 2001, S. 34. Ebd. Minkowski, Hermann: „Raum und Zeit“, in: Böhm/Reichardt 1984 [1908], S. 100-113, hier S. 100. Originaldruck in: Gesammelte Abhandlungen von Hermann Minkowski. Bd. 2. Hg. v. David Hilbert. Leipzig; Berlin: Teubner 1911. 58
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Invarianz aufweist: Erstens bleibt die Form erhalten, „wenn man das zugrunde gelegte räumliche Koordinatensystem einer beliebigen Lagenveränderung unterwirft“93, und andererseits „wenn man es in seinem Bewegungszustande verändert, nämlich ihm irgendeine gleichförmige Translation aufprägt“.94 Problematisch an dieser zweifachen Invarianz ist nun, dass in beiden Fällen die Zeit unterschlagen wird, was laut Minkowski eine fehlleitende und auch folgenschwere Verkürzung ist, denn: „Es hat niemand einen Ort anders bemerkt als zu einer Zeit, eine Zeit anders als an einem Orte.“95 Aus diesem Grund ergänzt auch Minkowski das rechtwinklige Koordinatensystem des Raums x, y, z, durch die Größe t, die Zeit, wobei er die Punkte, die durch diese vier Variablen bezeichnet werden, als „Weltpunkte“ fasst, die wiederum „Weltlinien“ herausbilden, wodurch die „ganze Welt [...] aufgelöst in solche Weltlinien“96 erscheint. Durch das „Weltpostulat“ wird die sogenannte Minkowski-Welt vierdimensional, was bedeutet, dass nun alle Erscheinungen als raum- und zeitartige Mannigfaltigkeiten denkbar werden: Hiernach würden wir dann in der Welt nicht mehr den Raum, sondern unendlich viele Räume haben, analog wie es im dreidimensionalen Raume unendlich viele Ebenen gibt. Die dreidimensionale Geometrie wird ein Kapitel der vierdimensionalen Physik.97
Die Raumzeit als vierte Dimension dient damit nicht allein der zeitlichen Festlegung eines Ereignisses, sondern entscheidend ist, dass Raum und Zeit bei Minkowski in ein neues Verhältnis zueinander treten, indem sie nun als Kontinuum mit einer indefiniten Metrik konzipiert werden. Dabei überwindet er die Disharmonien und Unvereinbarkeiten zwischen der Newtonschen Mechanik einerseits und der modernen Elektrodynamik andererseits, indem er raum-zeitliche Paradoxien und Mannigfaltigkeiten unmittelbar in seine Vorstellung der Raumzeit integriert. Eine dritte Linie lässt sich am Beispiel der bildenden Künste festmachen, wobei insbesondere der Futurismus bzw. die im Manifesto del Futurismo (1909) formulierten Ideen von entscheidender Bedeutung sind. Denn hierin ruft Filippo Tommaso Marinetti die Notwendigkeit einer grundlegend neuen Vorstellung von Raum aus, wird der proklamierte ‚universelle Dynamismus‘, der im Kern der futuristischen Ideologie steht, zum Inbegriff nicht allein eines grundsätzlich bewegten Raums
93 94 95 96 97
Minkowski 1984 [1908], S. 100. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd. Ebd., S. 103. 59
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der Geschwindigkeit und der Simultaneität, sondern im selben Zuge zum Fortschrittsgedanken der Moderne schlechthin: Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.98
Insbesondere die futuristischen Maler setzen sich mit einem ‚bildnerischen Dynamismus‘ auseinander, der insofern in unmittelbarem Bezug zur komprimierten ‚Raumzeit‘ steht, als er einerseits auf die Darstellung von Simultaneität und Geschwindigkeit abzielt, andererseits jedoch auch im direkten Ausstrahlen der Figuren in ihren Umraum seinen intensivsten bildlichen Ausdruck findet. Durch diese Doppelung wird der ‚universelle Dynamismus‘ deutlich gesteigert, denn es ist nicht mehr allein ein „fixierter Augenblick universellen Dynamismus, sondern [...] die als solche festgehaltene dynamische Empfindung“99 selbst, die nun ins Bild gesetzt werden soll. Im Dynamismus überkreuzen sich folglich die absolute Bewegung (der Körper) und die relative Bewegung (als Verlagerung im Raum), wird die Bewegung selbst zum Inbegriff der Raumwahrnehmung in der Moderne, die wiederum allein in einer radikal formulierten, durch und durch dynamischen ‚Raumzeit‘ aufzugehen vermag.100 Die Konvergenz der raumtheoretischen Positionen im Raumdynamismus des frühen 20. Jahrhunderts, der hier nur punktuell beleuchtet wurde, ist insofern maßgeblich für die folgenden Zugänge zum Raum, als von diesem Punkt aus ein Prozess in Gang gesetzt wird, welcher der Gewissheit um den einen einheitlichen, homogenen Raum grundlegend die Basis entzieht und diesen noch einmal gänzlich neu überdenken lässt. Und es ist genau dieses Neudenken des Raums, das Michel Foucault später dazu führen wird, von einer Epoche des Raumes zu sprechen und das die entscheidende Vorbedingung für die gegenwärtigen Umwälzungen des Raums im Spatial Turn und im Topographical Turn bildet. Marinetti, Filippo Tommaso: Gründung und Manifest des Futurismus. In: Wolfgang Asholt; Walther Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart: Metzler 1995 [1909], S. 3-7, hier S. 5. 99 Boccioni, Umberto; Carrà, Carlo; Russolo, Luigi u. a.: Die Futuristische Malerei. Technisches Manifest. In: Asholt/Fähnders 1995 [1910], S. 13-16, hier S. 14. 100 Nicht zuletzt soll an dieser Stelle auf die Entstehung des Films und dessen starke Rezeption durch die Futuristen als ‚cinematischem Dynamismus‘ verwiesen werden, was in Kap. II näher ausgeführt wird. 98
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Raumdimensionen: Zur Ausdifferenzierung von Raumkonzepten Das beginnende 20. Jahrhundert markiert einen entscheidenden Punkt, an dem sich unterschiedliche Raumdiskurse überkreuzen und miteinander konvergieren. Dennoch fallen nicht alle Raumvorstellungen in einer einzigen Kategorie des Raumdynamismus zusammen. Vielmehr setzt im selben Zuge eine Ausdifferenzierung von Raumkonzepten ein, die sich als eine unmittelbare Reaktion auf die mit der Dynamisierung des Raums einhergehende Multiplizierung räumlicher Vorstellungen lesen lässt: Erst im 20. Jh. gerät in den Blick, daß die Raumvorstellung – wie sonst nur die Zeitvorstellung – nicht allein das transzendentale Apriori unserer sinnlichen Erfahrung abgibt, sondern eine wechselnde und vielfältige Anschauungsform ist, abhängig von Zeitkoordinaten, Gestaltungs- und Erkenntnisparametern und kulturgeschichtlichen Symbolbildungen.101
Im Zuge dieser Multiplizierung des Räumlichen zeigt sich ein verstärktes Auseinandertreten von Raumvorstellungen, die sich auf je unterschiedliche Weise mit einer Erweiterung und Entgrenzung des materiell-physischen Raums auseinandersetzen, der über Jahrhunderte hinweg maßgeblich den Zugang zum Raumkomplex prägte. War zuvor die Ausdifferenzierung einzelner Raumbegriffe stets auf den Bereich philosophischer, geometrischer und mathematisch-physikalischer Raumvorstellungen bezogen102, so treten nun Raumkonzepte auf den Plan, die dieser Perspektive auf den Raum eine völlig andere Gewichtung verleihen bzw. die Vorherrschaft des materiell-physischen Raums nachhaltig infrage stellen. Implizit wird diesen weitreichenden Umdeutungen und Auffächerungen der Raumkategorie stets das Konzept eines unbewegten Containerraums zugrunde gelegt, den es zu entgrenzen gilt, wobei an dieser Stelle vor allem zwei einflussreiche Raumvorstellungen bzw. Raumdimensionen in die Überlegungen einbezogen werden sollen: erstens das Konzept des sozialen Raums und zweitens das Konzept des symbolischen Raums. Als zentraler Motor dieser raumtheoretischen Auffächerung ist nicht zuletzt die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachtende, zunehmende „Ausdifferenzierung der Humanwissenschaften“103 anzuführen, durch die zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Raum und sozialer 101 Ott 2003, S. 113f. 102 Diese drei Komplexe hebt Gosztonyi heraus, wobei anzumerken ist, dass die Philosophie in seiner Einteilung sowohl die Sinnespsychologie als auch die Phänomenologie umfasst; vgl. Gosztonyi 1976a, S. 35. 103 Dünne, Jörg: „Soziale Räume“, in: Dünne/Günzel 2006, S. 289-303, hier S. 289. 61
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Ordnung eine neue Gewichtung erhält. Ausgangspunkt jeglicher Betrachtungen zum sozialen Raum ist dabei die Annahme, dass sich die Gesellschaft nicht nur im Raum manifestiert, sondern dass diese darüber hinaus eine wahrnehmbare Raumorganisation überhaupt erst konstituiert.104 Durch diese grundlegende Verlagerung von den materiellen Eigenschaften hin zur sozialen Konstruktion des Raums bzw. zur Betrachtung der Gesellschaft als entscheidender Instanz im Aushandlungsprozess räumlicher Strukturen wird der physisch-materielle Raum zunehmend als unzureichend begriffen. Vielmehr dient die materielle Dimension des Raums oftmals als Kontrastfolie, um daran die sozial produzierten Formen von Räumlichkeit näher zu konturieren. Dabei zeigt sich, dass der implizierte Dualismus von materiellem und sozialem Raum, von „strukturalem Ordnungs- und prozessualem Handlungsaspekt“105, gerade in aktuellen Positionen zunehmend in Richtung einer Dualität bzw. einer Raum konstituierenden Praxis ausgedeutet wird. Von zentraler Bedeutung im Zuge der theoretischen Begründung einer sozialen Dimension des Raums sind die Arbeiten von Georg Simmel, der in seiner Abhandlung Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (1908) die Reichweite sozialer Formen von Räumlichkeit grundsätzlich gegenüber denjenigen von Kunst und Ästhetik abgrenzt: Wenn eine ästhetische Theorie es für die wesentliche Aufgabe der bildenden Kunst erklärt, uns den Raum fühlbar zu machen, so verkennt sie, daß unser Interesse nur den besonderen Gestaltungen der Dinge gilt, nicht aber dem allgemeinen Raum oder Räumlichkeit, die nur die conditio sine qua non jener, aber weder ihr spezielles Wesen noch ihren erzeugenden Faktor ausmachen.106
Das Interesse an einer Soziologie des Raumes liegt für Simmel vielmehr darin begründet, die „Einwirkung, die die räumlichen Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre sozialen Gestaltungen und Energien erfahren“107, herauszuarbeiten. Ausgehend von der Annahme, dass sich „gesellschaftliche Vereinheitlichungen in bestimmte räumliche Gebilde umsetzen“108, untersucht er nun das gesamte Spektrum sozialer Räume, das sich von individuellen Raumbildungen bis hin zu staatlichen Raumformen erstreckt. 104 Vgl. Simmel, Georg: „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 [1908], S. 687-790. 105 Löw 2001, S. 16. 106 Simmel 1992 [1908], S. 687. 107 Simmel, Georg: „Über räumliche Projektionen sozialer Formen“, in: Dünne/Günzel 2006 [1903], S. 304-316, hier S. 304. 108 Ebd., S. 307. 62
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
Insbesondere am Beispiel der räumlichen Formen der Herrschaft lässt sich nachvollziehen, dass jede Lokalisierung derselben immer nur relativ sein kann, umgibt diese doch den Herrscher „wie ein Gewand“109 und lässt sich folglich als eine „Erweiterung der Persönlichkeit selbst“110 begreifen. Die Lokalisierung von Herrschaft ist also in höchstem Maße von den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen abhängig und manifestiert sich unmittelbar in einer bestimmten Raumform. Denn in „der Art, wie der Raum zusammengefaßt oder verteilt wird, wie die Raumpunkte sich fixieren oder sich verschieben, gerinnen gleichsam die soziologischen Beziehungsformen der Herrschaft zu anschaulichen Gestaltungen.“111 Die Aussagen zur sozialen Prägung des Raums entwickelt Simmel jedoch nicht allein mit Blick auf bestimmte, sozial überdeterminierte Räume, wie eben jenen Raum der Herrschaft, sondern für ihn ist selbst noch der ‚leere‘ Raum der Grenze, der gleichsam am anderen Ende des Spektrums steht, durch negative oder positive soziologische Beziehungen bestimmt. Dabei entfaltet er den Grenzraum als einen ‚wüsten Landstrich‘, der zwischen zwei Völkern bzw. zwei Stämmen aufgezogen wird und auf diese Weise zunächst „als reine Distanz, als qualitätslose Ausdehnung“112 in Erscheinung tritt. Der zentrale Unterschied manifestiert sich hingegen in einer Modifizierung des jeweiligen Umgangs mit der Grenze, denn es „zeigt offenbar einen fundamentalen Unterschied in den Beziehungsformen zweier Gruppen, ob der leere Raum zwischen ihnen keinem gehören soll oder potentiell beiden“.113 Gerade weil dieser Grenzraum aber in zwei gänzlich verschiedene Richtungen ausgedeutet werden kann, folgert Simmel daraus eine grundsätzliche ‚Neutralität des Raumes‘, denn dieser ist „bloß Raum und weiter nichts“.114 Die Gesellschaft wird bei Simmel folglich nicht allein in hohem Maße durch den Raum bestimmt, sondern darüber hinaus bringt sie ihren eigenen gesellschaftlichen Raum mit seinen spezifischen (institutionalisierten) Formen überhaupt erst hervor. Dennoch liegt den soziologischen Ausführungen Simmels noch ein weitgehend euklidisch geprägtes Raumverständnis zugrunde, das erst im Zuge der weiteren Begriffsbildung des sozialen Raums, wie etwa bei Bourdieu, später dann bei Löw, endgültig verabschiedet wird.115 Hingegen sind Simmels Aussagen entscheidend, 109 110 111 112 113 114 115
Simmel 2006 [1903], S. 307. Ebd. Ebd. Ebd., S. 310. Ebd., S. 311. Ebd., S. 313. Bourdieu spricht etwa von der Soziologie als einer Sozialtopologie, in der sich die Akteure „anhand ihrer relativen Stellung innerhalb [des] Raums“ 63
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
um den Raum ganz grundsätzlich als einen sozialen Raum zu begreifen, der nicht allein in seiner physischen Materialität besteht, sondern in den sich soziale Formationen deutlich einschreiben. Mehr noch: Seine Soziologie des Raums hebt „ausdrücklich auf die Symbolik von Raumordnungen als Kodierungen sozialer Ordnungen ab, die mithin auch historisch modifizierbar sind.“116 Auf diese Weise gewinnt Simmel einen Zugang zu einer anderen Form von Räumlichkeit, die sich grundlegend vom materiellen Raum abgrenzt, indem sie sozial determiniert ist. Eine ähnliche Erweiterung der materiellen Dimension des Raums, wenngleich auf ganz anderem Wege, verfolgt auch Ernst Cassirer in seinem Vortrag Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931), indem er dem geometrisch-abstrakten Raum zwei Raumformen gegenüberstellt, die diesem einerseits vorgängig sind, ihn andererseits aber auch überschreiten: den mythischen und den ästhetischen Raum. Eingeleitet werden sie durch eine theoretische Reflexion der Kategorie des Raums, wobei er einen grundlegenden Übergang vom ‚Seinsbegriff‘ zum ‚Ordnungsbegriff‘ feststellt, der weitreichende Konsequenzen birgt: Im Gegensatz zu [der] Einheit und zu [der] Starrheit des Seinsbegriffs ist der Begriff der Ordnung von Anfang an durch das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit bezeichnet und ausgezeichnet. Wie für das Sein die Identität, so bildet für die Ordnung die Mannigfaltigkeit gewissermaßen das Lebenselement, in dem allein sie bestehen und sich gestalten kann.117
Dieser grundlegende Wechsel von Einheit und Identität (des Seinsbegriffs) zu Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit (des Ordnungsbegriffs) ist für Cassirer eine notwendige Bedingung für das Denken andersartiger Raumformen. Denn erst im Vollzug dieses Wechsels wird es möglich, „uns einen tieferen Einblick in die Entfaltung der ‚Raum‘-Ordnung und in die Mannigfaltigkeit der möglichen Raumgestaltungen zu verschaffen“.118 Entscheidend dabei ist, dass die Vielgestaltigkeit und die Mannigfaltigkeit des Ordnungsbegriffs keineswegs in eine Form von Beliebigkeit münden, hat der Ordnungsbegriff doch gerade die Funktionen, „das Unbegrenzte zu begrenzen, das relativ Bestimmungslose zu bestimmen.“119 Als zwei Formen dieser mannigfaltigen Raumordnung
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definieren lassen; Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 9. Zur Fundierung von Simmels Raumkonzept im euklidischen Raum als eine ‚selbstverständliche Gegebenheit‘, vgl. Löw 2001, S. 58-63; sowie in weiterer Entfaltung, S. 130-151. Lange 2001b, S. 14. Cassirer 2006 [1931], S. 491. Ebd., S. 494. Ebd., S. 492. 64
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
entfaltet Cassirer nun den mythischen Raum der Antike und den ästhetischen Raum der bildenden Künste, die mit dem geometrisch-physikalischen Raum jeweils grundsätzlich unvereinbar sind. Denn der mythische Raum, so führt Cassirer aus, bezieht sich weder auf geometrische Bestimmungen noch auf physikalische Eigenschaften des Raums, sondern auf „bestimmte magische Züge“120, die den Raum bzw. die gesamte ‚mythische Welt‘ hinsichtlich der magischen ‚Kraftlinien‘ von Heiligkeit und Unheiligkeit, Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit, Vertrautheit und Fremdheit unterscheiden. Der mythische Raum ist demnach ein atmosphärisch gestimmter, symbolisch aufgeladener Raum, denn jeder „Ort steht hier in einer eigentümlichen Atmosphäre und bildet gewissermaßen einen eigenen magisch-mythischen Dunstkreis um sich her“.121 Der ästhetische Raum der bildenden Künste ist hingegen dadurch gekennzeichnet, dass er sich in der Sphäre der ‚reinen Darstellung‘ bewegt: „Und alle echte Darstellung ist keineswegs ein bloßes passives ‚Nachbilden‘ der Welt; sondern sie ist ein neues ‚Verhältnis‘, in das sich der Mensch zur Welt setzt.“122 Der ästhetische Raum ist ein Raum, der nicht aus magischen Kraftlinien, sondern aus den „Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist.“123 Den Kreuzungspunkt des mythischen und des ästhetischen Raums markiert nun eine symbolischen Ebene, die hier eine eigene Wertigkeit erlangt, insofern beide „im Gegensatz zu jenem abstrakten Schema, das die Geometrie entwirft, durchaus ‚konkrete‘ Weisen der Räumlichkeit“124 bezeichnen. Dennoch gewinnt der Raum erst mit dem ästhetischen Raum einen ‚neuen Freiheitsgrad‘ und zugleich eine reflektierende ‚Ferne vom Ich‘, wie Cassirer beschreibt, denn er bezeichnet nicht mehr, wie noch der mythische Raum, ein „Ineinandergreifen und ein Wechselspiel von Kräften [...] – er ist vielmehr ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt.“125 Gerade weil sich aber durch jede Raumform ein vollkommen neuer Horizont, eine neue ‚Dimension‘, erschließt, zieht Cassirer daraus den weitreichenden Schluss, daß es nicht eine allgemeine, schlechthin feststehende Raum-Anschauung gibt, sondern daß der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der ‚Sinnordnung‘ erhält, innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische
120 121 122 123 124 125
Cassirer 2006 [1931], S. 495. Ebd. Ebd., S. 497. Ebd., S. 498. Ebd. Ebd., S. 499. 65
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die ‚Form‘ des Raumes – und diese Wandlung betrifft nicht nur einzelne, untergeordnete Züge, sondern sie bezieht sich auf ihn als Gesamtheit, auf seine prinzipielle Struktur.126
Diese Ausführungen Cassirers sind für den Fortgang der Argumentation und die Grundlegung der zentralen Raumfragen dieses Buchs entscheidend, und dies gleich in zweierlei Hinsicht: Denn einerseits gewinnen hierin die bisher dargelegten Raumkonzepte ein neues theoretisches Fundament als Dimensionen des Raums, die sich nicht allein hinsichtlich einzelner Eigenschaften, sondern in ihrer Gesamtheit, das heißt in ihrer grundlegenden Struktur, voneinander unterscheiden. Andererseits sind wir mit Cassirer bei einer dritten Dimension des Raums, bei einer dritten ‚Sinnordnung‘ angelangt, welche die materielle und die soziale Ordnung durch die symbolischen Ordnungen des archaisch-mythischen Raums und des künstlerisch-ästhetischen Raums ergänzt.127 Mehr noch: Mit der Vorstellung eines symbolischen Raums erfolgt ein grundlegender Wechsel, wendet dieser doch sowohl den materiellen als auch den sozialen Raum, indem er beide in einem Fall „bis ins feinste Detail hinein durch die mythische Unterscheidung der räumlichen Orte und der räumlichen Richtungen bedingt“128 und im anderen Fall durch eine besondere Form der Reflexion überschreitet, die von der „Notwendigkeit der Natur“ entbunden ist und sich in einem „selbständigen Sein“ manifestiert. 129 So ist mit dem symbolischen Raum eine dritte Stufe erreicht, mit der sich zugleich der Übergang vom Messbaren zum Unmessbaren, vom Realen zum Mythisch-Ästhetischen, vom Materiellen zum Symbolischen vollzieht. Denn während der materielle und der soziale Raum zumeist in ihrem Zusammenspiel, als zwei innerhalb der Raumproduktion aufeinander aufbauende Prozesse, betrachtet werden, besetzt der symbolische Raum eine dritte Position und zieht somit eine Relation außerhalb dieses Dualismus auf. Gerade dadurch lässt sich die künstlerisch-symbolische Konstruktion des Raums als ein Schlüssel begreifen, über den materielle und soziale Räume sichtbar gemacht und reflektiert werden, wodurch Cassirers Ausführungen zugleich auf die grundlegende Relationalität der Raumkonstruktion verweisen, von der im folgenden Kapitel am Beispiel der raumtheoretischen Positionen von Leibniz die Rede sein wird.
126 Cassirer 2006 [1931], S. 494. 127 Vgl. hier auch das Konzept der ‚troisième spatialité‘ bei Merleau-Ponty, das Elisabeth Ströker der physikalischen und mathematischen Räumlichkeit gegenüberstellt, vgl. Ströker 1965, S. 2. Zu einer erweiterten Diskussion der ‚dritten Räumlichkeit‘ bei Merleau-Ponty, vgl. hier S. 91f. 128 Cassirer 2006 [1931], S. 496. 129 Ebd., S. 497. 66
RAUMBEGRIFFE UND RAUMKONZEPTE
Führt man diese einzelnen raumtheoretischen Linien zusammen, so lassen sich der materielle, der soziale und der symbolische Raum als synchrone Raumkonzepte begreifen, die in einem wechselseitigen Bezugsverhältnis zueinander stehen, indem sie drei unterschiedliche Kernfragen des Räumlichen markieren. Der Film wird diese drei Sinnordnungen des Raums immer wieder untrennbar ineinander verschränken, wodurch sich das Materielle, das Soziale und das Symbolische im Film oftmals im Zuge einer komplexen Überlagerungsstruktur artikulieren. Demgegenüber lassen sich die Raumkonzepte des absoluten, des relativen und des relationalen Raums, von denen bisher nur punktuell die Rede war, als diachrone Raumkonzepte begreifen, insofern sie drei Konzepte markieren, die der Film im Zuge seiner Entwicklungsdynamiken als drei gegensätzliche Modalitäten der Raumkonzeption immer wieder durchlaufen wird, ohne sich jemals ganz von einer der Raumvorstellungen zu verabschieden. Auf diese Weise ergibt sich eine Matrix aus synchronen und diachronen Raumkonzepten, in der sich die einzelnen raumtheoretischen Positionen verorten lassen, während der Film selbst diese Konzeptionen einer kontinuierlichen Umdeutung und Verschiebung unterzieht. Mit der zentralen Differenz von Ort und Raum, der Herleitung eines grundsätzlich bewegten, dynamischen Raumkonzepts sowie der Auffächerung in einzelne Sinnordnungen sind die raumtheoretischen Grundlagen dieses Buchs gelegt und zugleich drei zentrale analytische Zugriffe auf die filmische Raumkonstruktion definiert. Dennoch müssen für die Erarbeitung eines Konzepts des filmischen Raums zwei weitere raumtheoretische Positionen in die Diskussion eingebracht werden, mit denen zugleich ein grundlegender Richtungswechsel verbunden ist: der relationale und der topologische Raum. Denn das filmische Raumkonzept lässt sich zwar bis zu einem gewissen Grad über die drei Zugriffe fassen, jedoch geht es nicht vollständig darin auf. In anderen Worten: Die an dieser Stelle hergeleiteten Raumkonzepte bilden zwar die raumtheoretische Basis dieser Studie und sind damit eine notwendige, nicht jedoch die hinreichende Bedingung für die Erarbeitung eines filmischen Raumkonzepts. Denn hierfür muss an einem grundsätzlich anderen Punkt angesetzt werden, bei dem der Faktor der Bewegung nicht allein den Zielpunkt, sondern vielmehr den Ausgangspunkt der Konzeption des Raums bildet. Gerade dadurch, dass der relationale und der topologische Raum nicht mehr als Ableitungen des dreidimensionalen, euklidischen Raums begriffen werden können, werden sie zu zentralen Motoren genau derjenigen Raumumwälzungen, die den innersten Kern der Raumtheorie betreffen. Und ihre grundlegende Umwälzung begründet sich vor allem darin, dass sie die Relation bzw. die Transformation als Nullpunkt setzen, um von dort aus alle weiteren Aussagen zum Raum abzuleiten.
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Entwicklungslinien des relationalen Raums Die relationale Raumvorstellung markiert in Bezug auf die soeben dargelegten Zugriffe auf den Raum einen signifikanten Wechsel. Und dieser Wechsel begründet sich insbesondere darin, dass die Vorstellung des relationalen Raums genau an der Stelle ansetzt, an welcher die drei Raumdiskussionen bereits ihren Endpunkt finden: am Anfangspunkt eines transformativen Raumdenkens, das nicht mehr als (noch so bewegte) Ableitung aus einem absoluten, materiellen Substanzraum gelten kann, sondern das gerade in der Verabschiedung desselben und in der Erschließung eines Grenzbereichs des Räumlichen seinen Kernpunkt findet. Die Ergründung des relationalen Raumkonzepts bildet damit einen ersten, entscheidenden Schritt, um jenen Bereich des Räumlichen zu erschließen, in dem sich die Konstruktion filmischer Räume verorten lässt. Die Neuartigkeit der relationalen Raumvorstellung lässt sich am besten im Zuge einer Abgrenzung von Newtons Vorstellung des absoluten Raums greifen. Erstmals grundlegend definiert wird der relationale Raum in den Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz – einerseits in seiner Abhandlung De Analysi Situs (1693) und andererseits in Form des berühmt gewordenen Briefwechsels aus den Jahren 1715/16 mit dem englischen Theologen Samuel Clarke, einem Schüler Isaac Newtons, auf den hier zunächst eingegangen werden soll. Denn hierin verteidigt Clarke die raumtheoretischen Positionen Newtons in jeglicher Hinsicht gegenüber den Angriffen von Leibniz, wodurch die divergierenden Raumvorstellungen von Newton und Leibniz sehr deutlich und in ihrer Grundsubstanz zutage treten. Den zentralen Ausgangspunkt von Leibniz’ Kritik an Newton bildet dabei dessen Fundierung des absoluten Raums als „absolutes wirkliches Seiendes“130 oder präziser: als eine „Eigenschaft bzw. eine Folge aus der Existenz eines unendlichen und ewigen Wesens“131, wohingegen Leibniz den Raum vielmehr als eine Ordnung der Dinge, als eine ‚Ordnung des Nebeneinanderbestehens‘ (spatium est ordo coexistendi) begreift, die in dieser Ausrichtung immer schon als etwas Relatives und zugleich als Relation gedacht werden muss: Was meine eigene Meinung anbetrifft, so habe ich mehr als einmal gesagt, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte, nämlich für eine Ordnung des Nebeneinanderbestehens, so wie die Zeit eine Ordnung der Aufeinanderfolge ist. Nämlich als Raum bezeichnet man eine mögliche Ordnung der Dinge, die gleichzeitig existieren, wobei man sie als gemeinsam exis130 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Briefwechsel mit Samuel Clarke. In: Dünne/Günzel 2006 [1715/16], S. 58-73, hier S. 60. 131 Ebd. 68
ENTWICKLUNGSLINIEN DES RELATIONALEN RAUMS
tierend betrachtet, ohne dabei nach ihrer besonderen Art und Weise des Existierens zu fragen.132
Genau an diesen Punkt zeigt sich die Hauptkritik von Leibniz an Newton in Form eines grundsätzlichen Infragestellens der Annahme einer ‚Wirklichkeit eines Raumes an sich‘. Denn wenn sich, so Leibniz, der Raum allein aus seinen unterschiedlichen Lagebeziehungen herausbildet und der „Raum nichts anderes als diese Ordnung bzw. Beziehung ist und ohne Körper überhaupt nichts weiter als die Möglichkeit ist, sie anzuordnen“133, so lässt sich daraus folgern, dass prinzipiell keine Lage der anderen vorzuziehen ist, ja sogar, dass sie letztendlich ununterscheidbar sind. Damit stellt sich Leibniz explizit gegen Newtons Vorstellung eines Raums, der ebenso wie die Dauer „unermesslich, unveränderlich und ewig“134 ist. Mehr noch: Der Raum und die Dauer existieren bei Newton nicht „hors de Dieu, sondern werden durch Gottes Existenz verursacht und sind unmittelbare und notwendige Folgen aus seiner Existenz.“135 Diese letztendliche Fundierung des Raums in etwas Göttlichem, in der göttlichen Existenz, versucht Leibniz zu widerlegen, indem er den Raum allein aus sich selbst heraus bzw. aus seinen Beziehungsstrukturen und Lagerelationen definiert. Und so bemerkt er auch gegenüber Clarke: Hier nun, wie die Menschen dazu kommen, sich den Raumbegriff zu bilden. Sie stellen fest, daß mehrere Dinge auf einmal existieren, und beobachten unter ihnen eine gewisse Ordnung des Nebeneinanderbestehens, entsprechend welcher die gegenseitige Beziehung der Dinge mehr oder weniger einfach ist. Diese gegenseitige Beziehung macht ihre Lage bzw. ihren Abstand aus.136
Der Vorstellung des Raums als etwas ewig Seiendem, Homogenem und Absolutem, das in einer anderen, einer absoluten Realität gründet, setzt Leibniz nun die Differenz von Ort und Raum entgegen. Der Ort bezeichnet hierbei diejenigen Dinge, die feststehen und gleichbleiben, die sich also innerhalb einer betrachteten Zeitspanne als räumliche Beziehungsstruktur nicht verändern. Damit ist der Ort das, „was zu den verschiedenen Zeitpunkten für verschiedene existierende Dinge dann dasselbe ist, wenn deren Beziehungen des Nebeneinanderstehens mit gewissen existierenden Dingen [...] völlig übereinstimmen.“137 Demgegenüber definiert Leibniz den Raum als das, „was sich aus den Orten ergibt, wenn man sie 132 133 134 135 136 137
Leibniz 2006 [1715/16], S. 61. Ebd., S. 62. Ebd., S. 65. Ebd. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. 69
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
zusammennimmt“138 und leitet den Raum damit über die Relation der einzelnen Orte untereinander her, wodurch die Relation selbst zum entscheidenden Punkt der Betrachtungen wird. In dieser Konzeption, die Ort und Raum allein aus sich selbst heraus denkt, gibt es keine äußere Instanz, die zu ihrer Bestimmung nötig wäre bzw. besetzen Ort und Raum selbst diese Instanz, die sich der Geist „außerhalb der Subjekte“139 vorstellt. Bei Leibniz gibt es folglich kein Außerhalb, das nicht selbst Ort und Raum wäre, wohingegen Newton diese Instanz des Außen als ewiges, unveränderliches, absolut Seiendes und damit als absolute Realität konzipiert. Und so führt Leibniz weiter aus: Das, was alle diese Orte umfaßt, nennt man Raum. Dies zeigt: um vom Ort und folglich auch vom Raum einen Begriff zu haben, genügt es, jene Beziehungen und die Regeln für ihre Veränderungen zu betrachten, und zwar ohne daß man sich hierfür noch irgendeine absolute Realität zusätzlich zu den Dingen vorstellen muß, deren Lage man betrachtet.140
Damit erfolgt bei Leibniz eine Fundierung des Raums in sich selbst, oder genauer: in der Beziehungsstruktur zwischen Ort und Raum. Der Raum wird aus sich selbst heraus definiert, ohne dazu ein Äußeres, von dem er abzugrenzen wäre, zu benötigen. Dieser Schritt ist entscheidend, löst er doch den Raum aus der Sphäre des Absoluten, des Seienden und damit auch letztendlich des Göttlichen heraus. Der relationale Raum wird nicht mehr in Bezug auf etwas Absolutes, sondern allein in Bezug auf seine relationalen Beziehungsstrukturen definiert, wenngleich diese Beziehung selbst als „reines Gedankending“141 außerhalb der Subjekte liegen kann. Die mathematischen Grundlagen für dieses Denken des Raums über die beiden Faktoren von Lage und Relation werden bereits in Leibniz’ früher mathematischer Abhandlung De Analysi Situs (1693) gelegt. Hierin grenzt er sich einerseits von der allgemeinen Algebra ab, denn diese habe es „nur mit Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen, Divisionen und Radizierungen: lauter rein arithmetischen Operationen zu tun.“142 Andererseits geht aber auch die Analysis der Antike nicht vollständig in der Lagerelation auf, obgleich sie „von den Daten und den Stellen oder Örtern bestimmter gesuchter Elemente“143 handelt, woraus 138 139 140 141 142
Leibniz 2006 [1715/16], S. 69. Ebd., S. 70. Ebd., S. 69. Ebd., S. 71. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „De Analysi Situs“, in: Philosophische Werke in vier Bänden. Bd. 1. Hg. v. Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner 1996 [1693], S. 49-55, hier S. 49. 143 Ebd. S. 50. 70
ENTWICKLUNGSLINIEN DES RELATIONALEN RAUMS
Leibniz folgert: „Die wahre Analysis der Lage ist also noch zu liefern.“144 Gemeinsam ist beiden genannten Methoden der Analysis, dass sie allein von der Größe, nicht jedoch von der Figur selbst ausgehen, die insofern, so Leibniz, über die Betrachtung der Größe hinausgeht, als sie „allgemein außer der Quantität noch eine bestimmte Qualität oder Form“145 enthält, wodurch den Faktoren der Ähnlichkeit und der Kongruenz eine entscheidende Bedeutung zukommt. Diese beiden Abgrenzungen bilden nun die entscheidende Vorbedingung, um die Realität und die Quantität des absoluten Raums grundsätzlich infrage zu stellen. Denn in der Analysis Situs werden alle metrischen Bestimmungen in Relationen aufgelöst, was bedeutet, dass der Abstand zweier Körper als Relation zweier Punkte aufgefasst wird, die Größe hingegen als Relation von Strecken bzw. Flächen.146 Darüber hinaus beschreibt Ernst Cassirer das ‚Prinzip der Lage‘ bei Leibniz als ein „reines Prinzip des Denkens [...], sofern es Bestimmungen, die die Ausdehnung nur als sinnliche Gegebenheiten darzustellen vermag, schöpferisch aus sich hervorgehen läßt.“147 Insbesondere der Funktion kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu, lässt sich doch Leibniz’ Vorgehen insgesamt als funktionelle Bestimmung räumlicher Gebilde fassen: Die Analysis der Lage ist nun der Versuch, den allgemeinen Gedanken der Funktion ohne algebraische Vermittlung für das Raumproblem fruchtbar zu machen. Sie sucht Lagebeziehungen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit darzustellen, ohne sie vorher auf Größenbeziehungen zu reduzieren. In diesem Gedanken der unmittelbaren funktionellen Bestimmtheit räumlicher Gebilde durcheinander sieht sie das Mittel, aus den einfachsten Grundgebilden und schließlich aus dem Punkt die ganze Mannigfaltigkeit räumlicher Gestalten aufzubauen.148
Entscheidend an Leibniz’ Vorstellung des relationalen Raums ist, dass der Raum immer mehr – wenngleich auf gänzlich anderem Wege als der absolute Raum Newtons – zu einer reinen Abstraktion des Denkens wird, denn er ist reine Relation und reine Qualität. Diese Abstraktion des Denkens ist vollkommen frei vom empirisch Gegebenen und wird folglich nicht mehr an den materiellen, physischen Raum zurückgekoppelt, woran 144 Leibniz 1996 [1693], S. 50. 145 Ebd. 146 Vgl. Hattler, Johannes: Monadischer Raum. Kontinuum, Individuum und Unendlichkeit in Leibniz’ Theorie des Raumes. Frankfurt/M.: Ontos 2004, S. 111. 147 Cassirer, Ernst: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen. Hamburg: Meiner 1998 [1902], S. 135. 148 Ebd., S. 135f. 71
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
sich insbesondere die Kritik Einsteins entzündet, denn dieser will den Raum weder als etwas allein Materielles noch als etwas allein Immaterielles anerkennen.149 Leibniz hingegen geht von einer Idealität des Raums aus, denn diese bedeutet „reine Relationalität und einheitliche Absolutheit unbestimmter möglicher Stellensetzungen“.150 Mit seiner Schrift De Analysi Situs wird Leibniz zugleich zu einem wichtigen Wegbereiter der Topologie151, welche die Vorstellung des Raums als „abstrakte Relationalität“152 bzw. das abstrahierende Denken des Raums über seine Funktionen und Relationen noch deutlich weiter führen wird. Das Absolute, das Relative, das Relationale Inwiefern lässt sich dieses relationale Raumkonzept nun in dem bisher aufgezogenen Spektrum von Raumtheorien verorten? In Anschluss an die vorherigen Diskussionen des absoluten und des relativen Raums soll der relationale Raum zunächst im Spannungsfeld zwischen dem absoluten Raumbegriff bei Newton und dem Raum- bzw. Feldbegriff der Relativitätstheorie situiert werden, wodurch zugleich die spezifischen Entwicklungsdynamiken dieser so divergenten Raumvorstellungen hervortreten. Eine sehr fundierte Betrachtung der Entstehung und Entfaltung von Raumkonzepten übergreifender Reichweite findet sich in Carl Friedrich von Weizsäckers Standardwerk Aufbau der Physik (1985). Insbesondere im Zuge seiner Erläuterung des ‚Gefüges der Theorien‘ behandelt er eingehend die Kategorie des Raums, insofern diese neben den Körpern, den Kräften und der Zeit eine entscheidende Stellung innerhalb der physikalisch-philosophischen Theoriebildung einnimmt.153 Den zentralen Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Wechselspiel der Raumkonzepte bildet das Verhältnis von Raum und Materie. So bezeichnet von Weizsäcker den absoluten Raum der klassischen Mechanik zunächst als „Ergebnis einer Abstraktionsleistung, die in dieser Präzision wohl erst Newton vollbracht hat.“154 Zentral an dieser Abstraktionsleistung ist nun, dass der absolute Raum unabhängig von den in ihm enthaltenen Körpern existiert, denn er wird „als eine von Körpern
149 Zur Kritik Einsteins an Leibniz’ Vorstellung des relationalen Raums vgl. von Weizsäcker 31994, S. 261ff. 150 Hattler 2004, S. 141. 151 Johannes Hattler verweist jedoch darauf, dass die raumtheoretischen Positionen von Leibniz zu komplex und zu vielschichtig sind, um in einer Raumdefinition der Topologie vollends aufzugehen, vgl. ebd., S. 112f. 152 Ebd., S. 135. 153 Vgl. von Weizsäcker 31994, S. 32. 154 Ebd., S. 237. 72
ENTWICKLUNGSLINIEN DES RELATIONALEN RAUMS
(und Kräften) im Wesen verschiedene, selbständige Realität angesehen“155 und folglich ein Dualismus von Raum und Materie angenommen. Damit ist zugleich der Kernpunkt des ontologischen Streits zwischen absoluter und relationaler Raumauffassung angesprochen, bezeichnet von Weizsäcker erstere doch aufgrund der Existenz von Raum und Körper als dualistisch, während die zweite – die mit Leibniz’ Vorstellung des relationalen Raums kurzgeschlossen wird – in einem Monismus von Raum und Materie aufgeht, bei welchem die Räumlichkeit vollkommen „in den Bereich der Eigenschaften von Körpern“156 verwiesen ist. Der Raum der allgemeinen Relativitätstheorie geht nun – und dies ist als dritte Position anzuführen – von einem modifizierten Dualismus aus: dem Dualismus von Feld und Materie, dem insofern zugleich eine ‚monistische Intention‘ zugrunde liegt, als Einstein stets bestrebt ist, das metrische Feld auf die Materie zurückzuführen und umgekehrt.157 Wie im Prinzip der allgemeinen Relativität formuliert, existiert der Raum hier nicht mehr ‚absolut‘, sondern vielmehr ‚relativ‘ zum Bezugssystem des jeweiligen Betrachters, das heißt Raum- und Zeitmessungen sind grundsätzlich „vom Bewegungszustand der Objekte abhängig.“158 Diesen Gedankengang aufgreifend, setzt sich Martina Löw in ihrer einflussreichen Raumsoziologie (2001) mit der Abfolge unterschiedlicher Raumkonzepte auseinander, vereinheitlicht jedoch die divergierenden Positionen des relativen und des relationalen Raums in einer übergreifenden ‚relativistischen‘ Position, die sie der ‚absolutistischen‘ Tradition entgegenstellt – nicht zuletzt, um den Begriff des relationalen Raums selbst für die soziologische Begriffsbildung des Raums in Anspruch zu nehmen. So definiert sie den Raum als eine „relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“159, wobei der Begriff der ‚relationalen (An)Ordnung‘ zugleich auf die strukturierende Dimension der ‚Ordnung‘ wie auch auf die Handlungsdimension des ‚Anordnens‘ verweist.160 Dieser Zusammenschluss relativer und relationaler Raumvorstellungen unterschlägt nun weitgehend das Potenzial, das in ihren Differenzen begründet liegt, ist jedoch vor allem in Zusammenhang damit zu sehen, dass Löw ein Raumkonzept verfolgt, in dem die raumtheoretischen Positionen stets auf eine zweistufige Logik zwischen Materiellem und Symbolischem, zwischen Struktur und Handeln, zurückgeführt werden, um diesen Dualismus anschließend zu entgrenzen. 155 156 157 158 159 160
Von Weizsäcker 31994, S. 237. Ebd., S. 239. Vgl. ebd., S. 258 und S. 268. Ebd., S. 33. Vgl. Löw 2001, S. 271. Vgl. ebd., S. 166. 73
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Aufschlussreicher für die hier verfolgte Fragestellung ist hingegen, dass Löw zur Herleitung eines soziologischen Raumkonzepts die absolutistische und die relativistische Denktradition noch einmal grundlegend auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Bewegung hin befragt. So beschreibt sie den absolutistischen Raum als eine Folie, „auf und vor der sich bewegtes Handeln abspielt“161, wodurch Raum und Körper als zwei von einander getrennte Entitäten begriffen werden. In der absolutistischen Tradition sind folglich zwar Bewegungen im Raum denkbar, nicht jedoch genuin bewegte Räume. Im Gegensatz dazu sind in der relativistischen Raumvorstellung „Raum und Körperwelt [...] verwoben“162, ist der Raum in jeglicher Hinsicht „abhängig vom Bezugssystem der Beobachter“.163 Diese Unterscheidung zwischen ‚Bewegungen im Raum‘ und ‚bewegten Räumen‘ lässt sich nun in Bezug auf den relationalen Raum noch einen Schritt weiter denken. Denn der Begriff der Relation bezeichnet bei Löw nicht allein den Moment der Vermittlung bzw. der Verknüpfungen zwischen zwei Positionen, sondern zugleich den dadurch aufgezogenen Zwischenraum164, wodurch die relationale Raumkonstruktion als Zeichen der Verknüpfung und als Zeichen des Abstands lesbar wird, was insbesondere im Bereich der Konstruktion filmischer Räume relevant wird. Der relationale Raum als dritte Position Die Relationalität des Raums wird jedoch nicht allein als Zeichen einer räumlichen Verknüpfung bzw. einer räumlichen Verschiebung lesbar, sondern sie schreibt sich auch und auf besondere Weise in mehrstellige Raumkonzepte ein, die von einzelnen, differenzierbaren Raumdimensionen ausgehen und eben diese Raumdimensionen über die Relation zusammenführen. Als eines der wichtigsten Beispiele für ein derartiges Raumdenken lässt sich das triadische Raumkonzept von Henri Lefèbvre anführen, wie er es in seinem einflussreichen Werk The Production of Space (1974) erstmals entwickelt und das in Zusammenhang mit dem Spatial Turn der achtziger Jahre von großer Bedeutung ist, indem es, wie Christian Schmid in seiner fundierten Abhandlung zu Lefèbvres Raumkonzept beschreibt, „entscheidende Ansatzpunkte für die Analyse raumzeitlicher gesellschaftlicher Prozesse bereitstellt.“165 161 162 163 164
Löw 2001, S. 130. Ebd., S. 34. Ebd. Vgl. hierzu die Differenzierung der beiden Raumbildungsprozesse von ‚Spacing‘ und ‚Syntheseleistung‘ bei Löw; vgl. ebd., S. 158ff. 165 Schmid, Christian: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefèbvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart: Steiner 2005, S. 17. 74
ENTWICKLUNGSLINIEN DES RELATIONALEN RAUMS
Der Raum ist in Lefèbvres Vorstellung zuallererst ein produzierter Raum, der in seiner grundlegendsten Ausrichtung als sozialer Raum zu begreifen ist: „(Social) space is a (social) product“.166 Dennoch betrifft das Konzept des sozialen Raums bei Lefèbvre nicht allein eine bestimmte Form von sozial produzierter Räumlichkeit, sondern es umfasst vielmehr ein ganzes Ensemble von differenzierten Produktionsweisen: Though a product to be used, to be consumed, it is also a means of production; networks of exchange and flows of raw materials and energy fashion space are determined by it. Thus this means of production, produced as such, cannot be separated either from the productive forces, including technology and knowledge, or from the social division of labour which shapes it, or from the state and the superstructures of society.167
Der Begriff der Raumproduktion ist bei Lefèbvre derart grundlegend, dass über diesen Begriff Raum und Erkenntnis unmittelbar aneinander gekoppelt werden, denn: „If space is a product, our knowledge of it must be expected to reproduce and expound the process of production.“168 Dies bedeutet, dass es Lefèbvre nicht um einen variabel bestimmbaren Raum geht, sondern viel grundlegender um einen Raum „engendered by and within theoretical understanding“169, um einen Raum also, der durch die theoretische Erkenntnis überhaupt erst hervorgebracht werden kann. Ausgehend von seiner weitreichenden Verschiebung von den „things in space“ hin zur „production of space“ baut Lefèbvre sein Raumkonzept aus drei Dimensionen auf, die sich dialektisch aufeinander beziehen.170 Schmid spricht hier sogar von einer ‚doppelten Triade‘, bei der sich zwei dreistellige Positionen überkreuzen. Denn die drei Dimensionen des Wahrgenommenen (le perçu), des Konzipierten (le conçu) und des Erlebten (le vécu) artikulieren sich jeweils in den drei Raumbegriffen der räumlichen Praxis (practique spatiale), der Repräsentation des Raums (représentation de l’espace) und der Räume der Repräsentation (l’espace de représentation).171 Damit verweist diese ‚doppelte Triade‘ – situiert man sie in einem breiteren theoretischen Kontext – „auf eine doppelte
166 Lefèbvre, Henri: The Production of Space. Oxford: Blackwell 1991 [1974], S. 26. 167 Ebd., S. 85. 168 Ebd., S. 36. 169 Ebd., S. 37. 170 Zur Diskussion des Spannungsverhältnisses zwischen der Dialektik und einer sogenannten ‚Trialektik‘ im Sinne einer dreistufigen, modifizierten Dialektik in Lefèbvres Denken vgl. Schmid 2005, S. 308ff. 171 Vgl. Lefèbvre 1991 [1974], S. 33 und S. 38-39. 75
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Perspektive, auf einen zweifachen Zugang hin: einerseits einen phänomenologischen, andererseits einen semiotischen.“172 Entscheidend für die Betrachtung dieser drei Produktionslogiken des Raums ist, dass sie untrennbar miteinander verbunden sind und dass sie nur aus ihrem Zusammenspiel heraus begriffen werden können. Denn es ist „kaum vorstellbar, dass die Wahrnehmung, das Denken oder das Erleben allein, getrennt voneinander, eine soziale Praxis konstituieren könnten, die ausserhalb der Abstraktion existierte.“173 Dabei stellt sich Lefèbvre mit seiner triadischen Raumvorstellung dezidiert gegen die zwei zentralen philosophischen Traditionen einer ‚reinen‘ Raum-Form des Denkens und des Kosmos (espace lumineux) und einer ‚dunklen‘ Raum-Substanz der materiellen Welt (espace ténébreux), denen letztendlich noch die Trennung Descartes’ in res cogitans (als denkende Substanz) und res extensa (als körperliche Substanz) zugrunde liegt. Denn gerade durch ihre Aufspaltung verfehlen sie, so Lefèbvre, die eigentliche Produktion des Raums auf zweifache Weise: Das reflektierende, also philosophische Denken hat lange die Betonung auf Dyaden gelegt. Jene des Trockenen und Feuchten, des Großen und Kleinen, der Ordnung und Unordnung, des Begrenzten und Unbegrenzten, wie in der griechischen Antike. Sodann diejenigen, welche das philosophierende Paradigma des Abendlands bestimmten: Subjekt-Objekt, beständig-unbeständig, offen-geschlossen usw. Schließlich, in der Moderne, die binären Oppositionen zwischen Signifikant und Signifikat, des Wissens und Nicht-Wissens, des Zentrums und der Peripherie usw. [...] Existiert jemals eine Beziehung zwischen zwei Termen allein [...]? Man ist immer zu Dritt. Es gibt immer das Andere.174
Um diesen Dualismus aufzulösen und das Andere, das Dritte denkbar zu machen, entwirft Lefèbvre ein dreigliedriges Raummodell der Gesellschaft, in welchem die räumliche Praxis und der wahrgenommene Raum die erste Stelle besetzen: „The spatial practice of a society secretes that society’s space; it propounds and presupposes it, in a dialectical interaction; it produces it slowly and surely as it masters and appropriates it.“175 Dabei kann die räumliche Praxis insofern als materieller Aspekt des sozialen Raums begriffen werden, als sie alle Aspekte, Elemente und Momente der sozialen Praxis ‚auf das Terrain‘ projiziert.176 Hier greifen, 172 Schmid 2005, S. 317. 173 Ebd., S. 310. 174 Lefèbvre, Henri: La présence et l’absence. Paris: Casterman 1980, S. 143; zit. und übers. in: Soja, Edward W.: „Trialektik der Räumlichkeit“, in: Stockhammer 2005, S. 93-123, hier S. 93. 175 Lefèbvre 1991 [1974], S. 38. 176 Vgl. Schmid 2005, S. 211. 76
ENTWICKLUNGSLINIEN DES RELATIONALEN RAUMS
gemäß Lefèbvres Projekt einer Auflösung des Dualismus des „space-asform“ und des „space-as-substance“177, mentale und praktische Prozesse der Raumproduktion unmittelbar ineinander. Denn die räumliche Praxis lässt sich nicht ohne einen vorangegangenen mentalen Akt denken, ebenso wenig wie die mentale Erfassung des Raums ohne die Produktion und Reproduktion des sozialen Raums bzw. der vielfachen, sich überlagernden sozialen Räume vonstatten gehen kann. Damit ist unmittelbar die zweite Dimension angesprochen: die Repräsentation des Raums und der konzipierte Raum „of scientists, planners, urbanists, technocratic subdividers and social engineers, as of a certain type of artist with a scientific bent – all of whom identify what is lived and what is perceived with what is conceived.“178 Im Gegensatz zur materiellen Produktion der räumlichen Praxis geht es hier um die Wissensproduktion des Raums, die sich auf einer Diskursebene vollzieht, aber ebenso Karten und Pläne, Bilder und Zeichen umfasst. Der Begriff der Repräsentation bewirkt dabei eine ‚Verdoppelung des Wirklichen‘ und bezeichnet somit den Grenzstein des Logos als auch die Grenze der Philosophie.179 Die dritte Stelle besetzen nun die Räume der Repräsentation, die als gelebter Raum, als Raum der Bewohner und zugleich als „space as directly lived through its associated images and symbols“180 in Erscheinung treten. Als ‚Raum des Imaginären‘ inkorporieren die Räume der Repräsentation komplexe Symbolismen, „linked to the clandestine or underground side of social life“.181 Genau aus diesem Grund treten sie auch vielmehr als gelebte denn als konzipierte Räume auf: Sie sind auf das Engste an die Geschichte eines Volkes, einer Gruppe oder auch eines Individuums gekoppelt und repräsentieren somit kollektive Erfahrungen. Neben der materiellen Produktion (der räumlichen Praxis) und der Wissensproduktion (der Repräsentation des Raums) stehen die Räume der Repräsentation nun für die Bedeutungsproduktion, die sich wiederum auf dialektische Weise auf die beiden anderen Räume bezieht: Diese Dimension überlagert den physischen Aspekt des Raumes, indem die materiellen Elemente bzw. ihre Anordnung zu Trägern von Bedeutungen werden. Sie ist aber auch dialektisch mit dem konzipierten Raum verschränkt, der einerseits selbst Symbolismen enthält, andererseits dazu tendiert, den erlebten Raum zu bestimmen und zu dominieren.182
177 178 179 180 181 182
Vgl. Lefèbvre 1991 [1974], S. 405ff. Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 59-67. Ebd., S. 39. Ebd., S. 33. Schmid 2005, S. 227. 77
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Die Produktion des Raums hat damit drei Seiten, die untrennbar miteinander verbunden sind. Und es ist insbesondere die dritte Dimension der Raumproduktion, der eine entscheidende Bedeutung im Zusammenhang mit der Diskussion des relationalen Raums zukommt, indem sie eine ‚dritte Instanz‘ bezeichnet, die nicht auf den Raum selbst verweist, sondern auf etwas Anderes, auf etwas Drittes. Mehr noch: Der Raum der Repräsentation grenzt sich bei Lefèbvre insofern von den anderen Dimensionen der Raumproduktion ab, als er eine grundlegend lebendige, qualitative und dynamische Raumform zu generieren vermag: Representational space is alive: it speaks. It has an affective kernel or centre [...]. It embraces the loci of passion, of action and of lived situations, and thus immediately implies time. Consequently it may be qualified in various ways: it may be directional, situational or relational, because it is essentially qualitative, fluid and dynamic.183
Dennoch wäre es fehlleitend, die Räume der Repräsentation in irgendeiner Weise vor den anderen beiden Raumdimensionen hervorzuheben184, wie es auch fehlleitend wäre, sie als eigenständige Realitäten zu begreifen. Denn die Leistung von Lefèbvres gesellschaftlichem Raummodell besteht gerade darin, eine dreistufige Dialektik zu entwickeln, bei welcher die drei Dimensionen allein in ihrer Gesamtheit wirken. Spielt man diesen Gedanken weiter, so lässt sich der Faktor der Relation in Lefèbvres Raumkonzept auf zwei unterschiedlichen Stufen festmachen: Erstens ist die Relation unmittelbar mit der Dimension des gelebten Raums verknüpft, indem dieser stets auf eine dritte Größe verweist, zweitens manifestiert sich das relationale Denken Lefèbvres jedoch auch und gerade in den Verbindungslinien der drei Dimensionen untereinander. Diese Vorstellung einer dreistelligen Dialektik des Raums aufgreifend hat sich insbesondere Edward W. Soja um eine Weiterentwicklung des Lefèbvre’schen Raumkonzepts bemüht und seine Thesen in Thirdspace (1996), einem zentralen Markierungspunkt des Spatial Turn, verdichtet. Hierin wird der Thirdspace – so Sojas begriffliche Neuprägung von Lefèbvres Drittraum – als ein ‚real-and-imagined place‘ unmittelbar mit den Räumen der Repräsentation in Lefèbvres Modell verbunden.185 183 Vgl. Lefèbvre 1991 [1974], S. 42. 184 Zu der grundlegenden Problematik, den ‚Räumen der Repräsentation‘ als dritter Figur eine Sonderstellung innerhalb von Lefèbvres triadischem Raumkonzept zuzusprechen, wie es insbesondere in Sojas Konzept des Thirdspace erfolgt vgl. Schmid 2005, S. 308ff. 185 Christian Schmid bemerkt hier jedoch zurecht, dass die Analyse Sojas letztendlich die Spezifik der Dialektik Lefèbvres verkennt, indem er durch das Herausheben der Dimension des ‚sozialen Raums‘ die drei78
ENTWICKLUNGSLINIEN DES RELATIONALEN RAUMS
Denn die Spezifik der Räume der Repräsentation, so Soja, bestehe gerade darin, dass sie nicht etwa die einfache Synthese der beiden anderen Raumdimensionen bilden, sondern eine dritte Möglichkeit oder auch ein drittes Moment produzieren, das „aus einer Stiftung von Unordnung, einer Dekonstruktion und versuchsweisen Wiederherstellung einer vorgeblichen Totalisierung [hervorgeht], die eine offene Alternative produziert, welche sowohl ähnlich als auch entschieden anders ist“.186 Unter Rückgriff auf die vielschichtigen Beschreibungen des Aleph im literarischen Werk von Jorge Luis Borges entwirft Soja mit dem Thirdspace ein universelles Raumkonzept, das zugleich abstrakt und konkret, detailliert und umfassend ist, wodurch es einerseits eine grundlegende, ‚reine‘ Relationalität bezeichnet, während es andererseits in unmittelbarer Nähe zur topologischen Raumvorstellung situiert ist: This all-inclusive simultaneity opens up endless worlds to explore and, at the same time, presents daunting challenges. Any attempt to capture this all-encompassing space in words and texts [...] invokes an immediate sense of impossibility, a despair that the sequentiality of language and writing, of the narrative form and history-telling, can never do more than scratch the surface of Thirdspace’s extraordinary simultaneities.187
Soja zeichnet den Thirdspace als eine spezifische, singuläre Raumform, in der alle anderen, verbleibenden Orte der Welt auf besondere Weise transzendiert und gewendet werden. Der Thirdspace bildet eine mannigfaltige Raumstruktur heraus, deren Komplexität gerade darin liegt, die unterschiedlichen Raumschichten als simultane Überlagerungen und Überlappungen zu denken. Damit wohnt dem Thirdspace eine spezifische Form von Räumlichkeit inne, die Soja dadurch zu fassen versucht, indem er die kritische Strategie des Thirding-as-Othering entwirft. Denn der Prozess des „Thirding“, so Soja, „introduces a critical ‚other-than‘ choice that speaks and critiques through its otherness.“188 Darüber hinaus ist diese Strategie „the first and most important step in transforming the categorical and closed logic of either/or to the dialectically open logic of both/and also...“.189 Binäre Strukturen werden hier signifikanterweise durch ein Drittes aufgebrochen, das wiederum allein über seine Relationen wirksam wird. Denn der Thirdspace „ist ebenso ein Raum, der von
186 187 188 189
dimensionale Dialektik wiederum auf drei eigenständige Realitäten des Raums verkürzt; vgl. Schmid 2005, S. 310. Soja 2005, S. 101. Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other Realand-Imagined Places. Malden MA: Blackwell 1996, S. 57. Ebd., S. 61. Ebd., S. 60. 79
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
anderen Räumen (physischem und mentalem, oder Erst- und ZweitRaum) unterscheidbar ist, wie eine Verbindung aller Räume, in der alle einzelnen transzendiert werden (Dritt-Raum als Aleph)“.190 Nimmt man diese einzelnen Positionen zum relationalen Raum zusammen, so lassen sich die bisherigen raumtheoretischen Ausführungen noch einmal präzisieren. Denn wurden die ausgeführten Raumkonzepte des materiellen, des sozialen und des symbolischen Raums bisher mit Cassirer als drei ‚Sinnordnungen‘ bzw. als drei Dimensionen des Raums verstanden, so lassen sie sich anhand der Positionen Lefèbvres und Sojas nun als räumliche Triade und damit als drei untrennbar aufeinander aufbauende Logiken der Raumproduktion begreifen, die auf einer abstrakten Ebene über die Relation miteinander verbunden werden. Denn sowohl Lefèbvre als auch Soja stellen die Relation als Abstraktum der Raumkonstruktion und zugleich als dritte Instanz ihrer dreigliedrigen Raumkonzepte in den Mittelpunkt. Die Relationalität bezeichnet dabei stets etwas Anderes, etwas Drittes, eine ‚reine Denkfunktion‘, die sich zwischen den Dualismus von Raum-Form und Raum-Substanz schiebt. Eine zweite Präzisierung lässt sich in Bezug auf die Raumkonzepte des absoluten, des relativen und des relationalen Raums vornehmen. Denn der relationale Raum, wie er bei Leibniz ausgeführt wird, ist nicht mehr aus dem allgemeinen, absoluten Raum des Göttlichen als dem Ganzen ableitbar, wie noch der relative Raum, der immer nur als fragmentierter Teil des Ganzen denkbar wird. Im Gegenteil: Der relationale Raum stellt eine eigenständige Form von Räumlichkeit dar, indem er allein aus sich selbst heraus bzw. über seine Relationen als ‚geistige Qualität‘ entwickelt wird. Damit besetzt Leibniz’ Konzept einen Punkt jenseits des bisher aufgezogenen Spektrums von Raumtheorien, das mit seiner Konzeption des Raums als ‚reine Relationalität‘ eine zentrale Denkfigur der Topologie vorzeichnet. In der Folgezeit – und gerade mit Blick auf die aktuellen Positionen der Raumsoziologie – zeigt sich hingegen, dass der relationale Raum immer weniger als reine gedankliche Qualität und Abstraktion konzipiert wird, sondern zunehmend als Rückkopplung des Relativistischen an das Absolutistische (wie in Löws soziologischem Raumkonzept) oder aber des Konzipierten an das Materielle (wie in Lefèbvres und Sojas dreigliedrigen Konzepten) inkraft tritt.
190 Soja 2005, S. 102f. 80
Die drei Wendungen der Topologie Die Topologie bezeichnet einen Grenzbereich des Räumlichen, insofern sie die Vorstellung eines metrisch-euklidischen Raums, der mittels Koordinaten zu vermessen ist, zugunsten eines modalen, transformativen Raums der Strukturen und Relationen verabschiedet. Dabei vollzieht sich die Abkehr der Topologie vom metrisch-euklidischen Raum mittels dreier Wendungen und zugleich auf drei historischen Entwicklungslinien, die im Folgenden umrissen werden sollen. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich, in jenen Bereich vorzudringen, in dem das räumliche Referenzsystem bereits gewechselt hat – und damit in jenen Bereich, in welchem die Transformation den Ausgangpunkt jeglichen Raumdenkens markiert. Aufgrund der mathematischen Komplexität der Topologie vollzieht dieses Kapitel notwendigerweise eine Gratwanderung zwischen einer genuin topologisch-mathematischen Betrachtung und einer Auseinandersetzung mit denjenigen Positionen, die sich um eine Überführung und Übertragung topologischer Grundannahmen in den Bereich der Geisteswissenschaften bemüht haben. Der Preis für eine derartige Übertragung wird stets ein Verlust an (mathematischer) Komplexität sein. Diese Problematik einstweilen in Kauf nehmend, wird in diesem Kapitel ein doppelter Zugriff auf die Topologie vollzogen: Erstens wird es um die Diskussion dreier Raumwenden gehen, in denen die Differenz zwischen einer euklidischen und einer topologischen Raumlogik auf das Deutlichste hervortreten. An diesen Raumwenden werden zugleich drei unterschiedliche historische Entwicklungsstufen der Topologie ablesbar, die sich von den Grundlegungen der Topologie bei Johann Benedict Listing über die Einführung n-dimensionaler Räume in das mathematische Denken durch Bernhard Riemann bis hin zur Transformativität der Topologie im Erlanger Programm von Felix Klein erstrecken. Zweitens, und darauf aufbauend, werden zwei eigene, weiterführende Perspektiven auf die Topologie entwickelt, die ebenso wegbereitend wie entscheidend für das Konzept des filmischen Raums sind: eine ‚Topologie des Innen‘, die einer intrinsischen Relationslogik folgt, und eine ‚Topologie des Außen‘, in die auf extrinsischen räumlichen Relationen basiert. Die Entstehung der Topologie als Zweig der Mathematik geht zurück auf die Mitte des 19. Jahrhunderts191 und steht in engem Zusammenhang 191 Marie-Luise Heuser-Keßler verweist jedoch darauf, das sich der Begriff der Topologie als Disziplinbezeichnung erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt; einen zentralen Punkt markiert hierbei Paul Alexandroffs und Heinz Hopfs Standardwerk Topologie aus dem Jahr 1935 (Berlin: Springer). Vgl. Heuser-Keßler, Marie-Luise: „Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff der Topologie“, in: Günther Bien u. a. 81
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
mit den zu Beginn angesprochenen ‚Raumrevolutionen‘. Denn mit der Topologie begründet sich eine gänzlich neue Sichtweise auf den Raum: Sie begreift ihn nicht länger als eine in sich geschlossene Entität oder gar als Substanz, sondern als eine abstrakte Raumstruktur, die sich allein aus unterschiedlichen räumlichen Relationen herausbildet. In diesem Sinne kann die Topologie zugleich als eine Weiterentwicklung und Zuspitzung des relationalen Raumkonzepts begriffen werden. Denn sie führt den Faktor der Relation, der bereits bei Leibniz zur ‚reinen Relationalität‘ und zur ‚reinen Qualität‘ avanciert, noch einen Schritt weiter, indem sie transformative, mannigfaltige Raumstrukturen denkbar macht. Für diese Verbindungslinie zwischen dem relationalen und dem topologischen Raumkonzept lässt sich jedoch noch zweites, weiterführendes Argument nennen. Denn die Grundlegungen der Topologie, deren Anfangspunkt die im Jahr 1847 publizierten Vorstudien zur Topologie des Mathematikers Johann Benedict Listing markieren, werden oftmals in genauer Gegenüberstellung und Abgrenzung zu Leibniz’ Analysis Situs verhandelt.192 Während Leibniz die Kombinatorik als Grundwissenschaft der Mathematik ansieht, da diese es weniger mit „der Zahl oder mit Größen, sondern mit der Form der Verknüpfung selbst zu tun“193 habe, geht es Listing vielmehr um die ‚modale Seite der Geometrie‘, die er gegenüber der vorherrschenden quantitativen Seite stärken möchte: Unter der Topologie soll also die Lehre von den modalen Verhältnissen räumlicher Gebilde verstanden werden, oder von den Gesetzen des Zusammenhangs, der gegenseitigen Lage und der Aufeinanderfolge von Punkten, Linien, Flächen, Körpern und ihren Teilen oder ihren Aggregaten im Raume, abgesehen von den Maß- und Größenverhältnissen.194
(Hg.): Topologie. Ein Ansatz zur Entwicklung alternativer Strukturen. Stuttgart: Sprint 1994, S. 1-13, hier S. 1. 192 Während Leibniz mit seiner Abhandlung De Analysi Situs immer wieder als einer der Begründer bzw. Wegbereiter der Topologie genannt wird, hat der Mathematiker Leonhard Euler durch sein Rätsel der Überquerung der Königsberger Brücken das wohl berühmteste Beispiel geliefert; vgl. Günzel 2006a, S. 26f.; Marie-Luise Heuser verweist hingegen darauf, dass sich die Ansätze von Gauß, Riemann und Listing von den bei Leibniz formulierten Ideen zwar deutlich unterscheiden, dass sie sich dennoch ausdrücklich auf letzteren als ‚intellektuelles Vorbild‘ bezogen; vgl. Heuser, Marie-Luise: „Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie“, in: Günzel 2007, S. 183-200, hier S. 184. 193 Heuser-Keßler 1994, S. 6. 194 Listing, Johann Benedict: „Vorstudien zur Topologie“, in: Göttinger Studien 2 (1847), S. 811-875, hier S. 814. 82
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
Eine grundsätzliche Differenz zwischen den Ansätzen von Leibniz und Listing besteht hingegen darin, dass Leibniz’ Analysis Situs besonders in der Frage nach der Kongruenz begründet liegt, und diese ist laut Listing wiederum „nicht eigentlich modalen Inhalts“.195 Demgegenüber verfolgt Listing eine rein qualitative Betrachtung der Ortsverhältnisse, bei der die volle Komplexität nicht-metrischer Beziehungen von Orten, und damit „der Ordnungs- und Zusammenhangsgrad des Raumes aller ‚Complexionen‘“196, greifbar wird. Damit vollzieht sich eine erste zentrale Wendung der Topologie in Bezug auf den metrisch-euklidischen Raum: der Übergang von Quantität hin zu Qualität bzw. Modalität. Bei Listing ist die Topologie als sogenannte ‚Wissenschaft der qualitativen Raumbeziehungen‘ noch genuin morphologisch bzw. morphogenetisch motiviert und steht in engem Zusammenhang mit der Naturphilosophie im 19. Jahrhundert.197 Eine erste Modifizierung erhält das topologische Raumdenken hingegen im Kontext der mathematischen Erkenntnisse Bernhard Riemanns, der erstmals die Vorstellung einer n-dimensionalen differenzierbaren Mannigfaltigkeit in die Mathematik einführt. Diese Erkenntnis ist entscheidend, insofern der Raum hier lediglich als ‚topologisches Substratum‘ gedacht wird, während die Metrik keine genuine, unabdingbare Eigenschaft des Raums mehr bezeichnet, wodurch der euklidische Raum, so Riemann, „nur einen besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Größe bildet.“198 Die einzige Möglichkeit, eine räumliche Metrik zu denken, besteht nunmehr darin, in die Sphäre der Vielfalt, des Mannigfachen überzugehen. Riemann lenkt in seinen Untersuchungen den Blick auf die Fähigkeit von Räumen, unterschiedliche Metriken zu generieren, während im Umkehrschluss der (topologische) Raum selbst zu einer amorphen, beweglichen Größe wird.199
195 Listing 1847, S. 812. 196 Heuser-Keßler 1994, S. 8. In noch deutlicherem Maße formuliert Listing die Differenzen zu Leibniz’ Analysis Situs hingegen in seiner fünfzehn Jahre später erschienenen Schrift: „Der Census räumlicher Complexe oder Verallgemeinerung des Euler’schen Satzes von den Polyedern“, in: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 10 (1861), S. 97-182. 197 Zur dezidierten Orientierung Listings an den Untersuchungsbereichen der Kristallographie, die zugleich seinen Zugriff auf die Topologie bestimmt, indem diese letztlich „durch den Organisations- und Komplexitätsgrad und ihrer ‚organisirten Wesen‘ motiviert“ wird, vgl. Heuser 2007, S. 196. 198 Riemann, Bernhard: „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“, in: Böhm/Reichardt 1984 [1876], S. 68-83, hier S. 68. 199 Zur Zuspitzung des Verhältnisses von Topologie und n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten bei Riemann vgl. Heuser 2007, S. 197 und S. 199. 83
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
In Ablösung der Gaußschen Flächentheorie treten bei Riemann n-dimensionale Mannigfaltigkeiten an die Stelle zweidimensionaler Flächen. Darüber hinaus bettet er die nichteuklidische Geometrie in die Differenzialgeometrie ein, was insofern entscheidend ist, als unter diesem Blickwinkel der allgemeine Riemannsche Raum, der ganz grundlegend auf der Darstellung des Linienelements basiert, nun „verschiedener Maßverhältnisse fähig ist und der euklidische Raum nur als ein Spezialfall zu gelten hat.“200 Führt man diesen Gedanken weiter, so lässt sich ein zweiter Übergang der Topologie formulieren, der sich von der euklidischen Metrik zur höher dimensionierten, nichteuklidischen Metrik vollzieht. Während bereits Riemann in seinen Ausführungen die freie Beweglichkeit des n-dimensionalen Raums in sich voraussetzt, so avanciert der Faktor der stetigen Transformation im frühen 20. Jahrhundert zu einer maßgeblichen Eigenschaft der Topologie. Der Transformationsgedanke geht dabei vor allem auf das sogenannte Erlanger Programm des Mathematikers Felix Klein aus dem Jahr 1872 zurück. Denn hierin unternimmt Klein den Versuch, die Topologie über die Fundamentalgruppe zu definieren, mithin die Transformation als Ausgangspunkt jeglicher (topologischen) Raumbildung zu setzen. Mit dieser weitreichenden Erweiterung der Raumvorstellung geht zugleich einher, wie Heuser mit Blick auf die historische Entwicklung der Topologie anmerkt, dass sich nun die „Geometrie nicht mehr nur mit einzelnen Figuren wie Dreiecken, Kreisen etc. beschäftigte, sondern mit der Gesamtheit von Gegenständen, die erst durch eine Transformationsart erzeugt werden.“201 Diese intrinsische Transformativität der Topologie lässt sich besonders dann greifen, wenn man sie als Endpunkt innerhalb einer Reihe räumlicher Transformationen bzw. Abbildungen zweier Räume aufeinander denkt. Derart gefasst, lassen sich diese Abbildungen als unterschiedliche Transformationsarten durchdeklinieren, die von der Kongruenz über die Ähnlichkeit bis hin zur affinen und zur projektiven Abbildung reichen. Denn während sich bei der affinen Abbildung die Winkel bei gleichzeitiger Erhaltung der Parallelen ändern können, so sind bei der projektiven Abbildung die geraden Linien und Schnittpunkte invariant. Den Endpunkt dieser Reihung markiert dann die topologische Transformation, die insofern eine Steigerung gegenüber der projektiven Abbildung markiert, als hier „auch dieser letzte quantitative Rest noch fallen gelassen“202 wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein dritter Übergang der Topologie anführen: der Übergang vom Substanzdenken des Raums hin zum Transformationsdenken in Strukturen und Relationen. 200 Böhm/Reichardt 1984, S. 140. 201 Heuser 2007, S. 197f. 202 Ebd., S. 199. 84
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
Vor dem Hintergrund dieser drei Wendungen ergibt sich ein topologisches Raumkonzept, das auf transformativen, dynamischen Strukturen und Relationen basiert, die sich an einer nichteuklidischen Metrik ausrichten und die rein qualitativ bzw. modal zu denken sind. Dabei ist entscheidend, dass sich hinter den Begriffen von ‚Struktur‘ und ‚Relation‘ kein statisches, sondern vielmehr ein hochgradig flexibles, prozessuales Raumverständnis verbirgt. So kommt auch den Begriffen der Deformation, Transformation und Abbildung, die in topologischer Hinsicht synonym sind, ein entscheidendes Gewicht zu, insofern durch diese Transformationsmechanismen topologische Räume kontinuierlich in andere topologische Räume überführt bzw. überhaupt erst erzeugt werden: Topologie untersucht Räume durch Vergleich; es wird dabei versucht, einen topologischen nicht-euklidischen Raum in einen anderen zu überführen, ohne dass er durch die Deformation/Transformation/Abbildung [...] verletzt würde. [...] Diese Aussage hat weit reichende Konsequenzen. Demnach lösen Transformationsprinzipien [Hervorhebung d. Verf.] die gewohnten Ordnungsprinzipien als Kontextrelationen ab.203
Die Bedeutung des grundsätzlichen Übergangs von Ordnungsprinzipien hin zu (topologischen) Transformationsprinzipien kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Denn hieran wird deutlich, dass das topologische Raumkonzept an einem ganz anderen Punkt als die bisher diskutierten Raumkonzepte ansetzt, indem es die Transformation zur ersten und zentralen räumlichen Operation erhebt, von der aus alle weiteren Aussagen zur Beschaffenheit des jeweiligen Raums abgeleitet werden.204 In einem Spannungsfeld zu dieser dezidiert dynamischen, transformativen Ausdeutung der Topologie, die in dieser Arbeit konsequent und insbesondere mit Blick auf die filmische Raumgenerierung verfolgt wird, steht die Diskussionslinie der Invarianz und der Vergleichbarkeit topologischer Strukturen. Folgt man Stephan Günzel, so liegt im Kern jeder topologischen Raumbetrachtung gerade das Bestreben, „die Entsprechungen im Verschiedenen zu beschreiben“205, was bedeutet, dass unter topologischen Gesichtspunkten stets danach gefragt wird, „was gleich bleibt, wenn ein Betrachter meint, etwas habe sich verändert.“206 Denn in der Topologie, so lässt sich dieser Gedanke weiterführen, geht es nicht allein darum, topologische Räume in andere topologische Räume zu überführen. Vielmehr ist es ihr Ziel, mittels einer vergleichenden Abbildung 203 Huber 2002, S. 70. 204 Vgl. in diesem Kontext auch den Übergang von ‚Seinsprinzipien‘ hin zu ‚Ordnungsprinzipien‘ bei Ernst Cassirer; vgl. hier S. 64-66. 205 Günzel 2007b, S. 21. 206 Ebd. 85
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
bestimmte Invarianten herauszufiltern: „Die Topologie versucht, durch Abbildungen sogenannte Invarianten zu entdecken, also eine Form von ‚Konstanten‘, die bei elastischen Verformungen und Abbildungen topologisch äquivalent, also ‚gleich‘ bleiben.“207 Dennoch erschöpft sich die Topologie keineswegs darin, allein das immer Gleichbleibende zu finden, sondern die Suche nach Invarianten beinhaltet zugleich die Suche nach Differenzkriterien, mithin nach dynamischen Veränderungen: Invarianten bezeichnen Eigenschaften, die unter Deformation, Transformation oder Abbildung erhalten bleiben. Invarianten bedeuten nicht, dass alles immer invariant bleiben soll, wie in Anwendungen manchmal der Topologie vorgeworfen wird. [...] Durch den Nachweis von Invarianz ist Unterscheidung möglich. Die Invarianten sind dann auch Differenzkriterien, die sich vom Vorwurf einer Indifferenz in der Topologie abgrenzen. Das Moment der Invarianz deutet entweder auf eine einfache Andersartigkeit, eine Pathologie oder auf topologischen Wandel – sprich dynamische Veränderung hin.208
Ein zweites Merkmal, das in den einzelnen Anwendungen der Topologie stets herausgehoben wird und das als eines ihrer populärsten Merkmale gelten kann, ist die Ununterscheidbarkeit räumlicher Relationen. Denn die Topologie nimmt ihren Ausgangspunkt in einem relationalen Raumdenken, das die Lage-, Anordnungs- und Beziehungsgefüge zum zentralen, den topologischen Raum überhaupt erst definierenden Merkmal erhebt. Dabei handelt es sich um Beziehungsgefüge, in denen kein einheitliches, absolutes Maß existiert, vor dessen Hintergrund der Raum noch vermessen werden könnte. Dies hat zur Folge, dass sich die jeweiligen Orientierungsmarken von rechts und links, von oben und unten, von global und lokal etc. je nach Blickwinkel auf den Raum grundsätzlich verändern bzw. in ihr Gegenteil umschlagen können.209 Dadurch ist es nicht mehr, zumindest nicht mehr in absolutem, globalem Sinne, entscheidbar, was sich oben oder unten, rechts oder links, befindet, sondern diese Aussagen lassen sich nur für einen jeweils bestimmten Zustand des Raums und damit allein in relativer, lokaler Hinsicht treffen. Den topologischen Formen des gekrümmten, gestauchten und nichtorientierbaren Raums, die mit dieser Gedankenfigur beschreibbar werden, ist gemeinsam, dass sie perspektivisch ausgerichtet sind, dass ihre 207 Huber 2002, S. 79. 208 Ebd., S. 80. 209 Als populärstes Beispiel der Topologie ist sicherlich das Möbiusband zu nennen, in welchem die Ununterscheidbarkeit räumlicher Relationen auf den Punkt gebracht wird, während sich der Faktor der Nicht-Orientierbarkeit räumlicher Formen durch das Phänomen der sogenannten JordanKurve beschreiben lässt; vgl. ebd., S. 91f. 86
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
jeweilige Gestalt also nur in Bezug auf einen bestimmten Punkt zu definieren ist und dass sich, unter einer anderen Perspektive betrachtet, ihre räumliche Form jedoch wiederum gänzlich ändern kann.210 Gerade aufgrund dieser Eigenschaften wird die Topologie für andere Forschungsfelder interessant, wobei die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Topologie zumeist, wie Huber ausführt, allgemein mit der „Faszination für die Art und Weise [beginnt], wie diese sich mit Eigenschaften von Räumen auseinandersetzt, ohne sich um deren klassische, reelle Größe zu kümmern.“211 Als abstrakter Relationsraum konzipiert, bietet die Topologie die Möglichkeit, nicht mehr von einem dreidimensionalen, metrisch-euklidischen Raum auszugehen, sondern den Raum gerade vor dem Hintergrund komplexer Parameter der Überlagerung und der Transformation zu definieren, wurde sie doch, wie Huber anmerkt, selbst „in ihrer rudimentärsten Form immer gebraucht und entwickelt, um komplexe, nicht-repräsentierbare ‚Dinge‘ räumlich zu beschreiben“.212 Diese Fähigkeit der (räumlichen) Beschreibung ursprünglich nichtbeschreibbarer Phänomene verweist auf ein grundsätzliches Paradox der Topologie, das an dieser Stelle und zugleich in Hinführung auf zwei weiterführende Perspektiven auf die Topologie eingeführt werden soll: Ihre Strukturen und Relationen werden nur dann sichtbar, wenn man sich – in übertragenem Sinne – in der unmittelbaren Nähe oder aber in größte Ferne dazu positioniert. Denn begreift man die Topologie als eine Art der Raumbetrachtung, die den Raum in seine Strukturen und Relationen auflöst, so lässt sich diese Perspektive prinzipiell in zwei gegensätzliche Richtungen ausdeuten: Entweder man betrachtet die Strukturen und Relationen vollkommen aus sich selbst, das heißt von innen heraus, nimmt also eine intrinsische Position ein. Oder aber man positioniert sich im größtmöglichen Abstand dazu und betrachtet die relationalen Raumstrukturen von außen, das heißt extrinsisch. Im ersten Fall steht die Vorgängigkeit, im zweiten Fall die Abstraktion vom Substanzraum im Vordergrund; in beiden Fällen lässt sich kein absolutes Maß mehr an den Raum anlegen, sondern allein das relative Maß von Nähe und Ferne. Die beiden Konzepte der ‚Topologie des Innen‘ und der ‚Topologie des Außen‘, die mit diesen ersten Sätzen lediglich kurz umrissen sind, sollen im Folgenden als zwei topologische Sinnordnungen ausdifferenziert werden, deren Stärke und Potenzial vor allem darin liegt, jeweils einen Eckpunkt des topologischen Denkens zu markieren. Denn sowohl 210 Zum komplexen Verhältnis zwischen Topologie, Nicht-Euklidik und Nicht-Metrik und deren Umkehrungen, die stets neue Anschlüsse und räumliche Formen entstehen lassen, vgl. Huber 2002, S. 37-39. 211 Ebd., S. 77. 212 Ebd., S. 35. 87
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
die ‚Topologie des Innen‘ als auch die ‚Topologie des Außen‘ nehmen die Grundidee des Transformationsraums zum Ausgangspunkt, um die Relationalität des topologischen Raumgefüges in zwei Richtungen weiterzudenken, oder präziser gefasst: sich kontinuierlich auf zwei Transformationspunkte hinzuzubewegen – auf den innersten Punkt und auf den äußersten Punkt der Transformation. Gemeinsam stehen die innere Topologie und die äußere Topologie für den Versuch, aus dem inneren, konzeptuellen Kern der drei angeführten Wendungen der Topologie – ihrer Modalität, ihrer n-dimensionalen Metrik und ihrer Transformativität – eine Raumlogik zu entwickeln, die diese Facetten bis zu einem Endpunkt des Transformativen weiterdenkt. Dabei gewinnen diese beiden topologischen Perspektiven ihre konzeptuelle Grundlage in zwei unterschiedlichen Definitionen bzw. Untergruppen der mathematischen Topologie, ebenso wie sie zwei unterschiedliche Bezugslinien zum geisteswissenschaftlichen Kontext der Topologie legen: erstens zu den topologischen Vorstellungen der Phänomenologie im frühen 20. Jahrhundert und zweitens zu den topologischen Konzepten des französischen Poststrukturalismus, deren nähere Entfaltung dazu dienen soll, die Facetten der inneren und der äußeren Topologie zu konturieren. Topologie des Innen: Innere Punkte und unhintergehbare Räumlichkeit Der Begriff der Topologie lässt sich, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, auf sehr unterschiedliche Weise definieren und in unterschiedliche Richtungen ausdeuten. Grundlegend für die mengentheoretische Topologie ist die Definition über die sogenannte ‚offene Menge‘, welche besagt: „Einer Menge wird eine topologische Struktur aufgeprägt, wenn in ihr ein System von Teilmengen [...] mit bestimmten Eigenschaften – einer Struktur – ausgezeichnet wird.“213 Unter dem Begriff der offenen Menge wird dabei eine Menge verstanden, „die nur innere Punkte enthält“.214 Zwischen den Elementen einer Menge oder denen verschiedener Mengen werden die Beziehungen über Relationen hergestellt. So spricht man auch davon, dass einer „Menge eine Struktur aufgeprägt wird, wenn in ihr – also nicht außerhalb – eine oder mehrere Relationen, Verknüpfungen oder Zuordnungen erklärt sind.“215 Ein topologischer Raum ist damit zunächst ein „Raum mit Eigenschaft“216, der vollkommen aus sich selbst heraus entwickelt wird bzw. als „intrinsisch[e] Darstel213 214 215 216
Reinhardt/Soeder 1974/77, S. 51. Huber 2002, S. 75. Ebd., S. 76. Ebd. 88
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
lung geometrischer Ordnungsrelationen, die sich koordinatenfrei wiedergeben läßt“217, gefasst werden kann. Diese mengentheoretische Definition der Topologie lässt sich in übertragenem Sinne als eine ‚Topologie des Innen‘ begreifen, die allein aus inneren Punkten besteht und auf eine intrinsische Betrachtung von Raumrelationen abzielt. Um diese besondere Form der Topologie näher zu ergründen, lassen sich die Raumvorstellungen der Phänomenologie heranziehen, die in einer ähnlichen Gedankenfigur der inneren, unhintergehbaren Räumlichkeit gründen. Folgt man den raumtheoretischen Ausführungen Stephan Günzels, so lassen sich innerhalb der Phänomenologie grundsätzlich drei Ausdeutungen der Topologie ausmachen, die zugleich an drei unterschiedliche phänomenologische Schulen gekoppelt sind.218 Allen dreien ist gemeinsam, dass sie die Topologie dazu nutzen, um eine neue Art von Räumlichkeit zu beschreiben, die im Gegensatz zum euklidischen Raum keine vom Körper unabhängige Größe darstellt, sondern auf das Engste an diesen als eine unmittelbar erlebte und gelebte ‚Leibräumlichkeit‘ gekoppelt ist. Damit ist die Topologie anderen Raumkonzepten, die stets eine metrische Abstraktion des Raums bedeuten, immer schon vorgängig. Denn sie entspricht einer ersten, ursprünglichen und vor allem unmittelbaren Raumerfahrung, die nicht über den Geist erschlossen wird, sondern an den Körper bzw. den ‚Leib‘ gebunden bleibt. Wenn auch alle drei phänomenologischen Schulen diese Prämissen in Bezug auf die Topologie teilen, so divergieren sie doch deutlich hinsichtlich ihrer jeweiligen Ausdeutungen dieser ersten Annahmen. Der Topologiebegriff der deutschen Schule, die insbesondere durch Martin Heidegger vertreten wird, nimmt seinen Ausgangpunkt bei Edmund Husserl und seinem konsequenten Rückbezug auf „einen Boden, auf den alle Körpererfahrung, und damit alle Erfahrung von VerharrendSein in Ruhe und Bewegung bezogen ist“.219 Jede Raumerfahrung ist damit grundsätzlich in einer ‚Raumkörperlichkeit‘ fundiert, die wiederum allein aus dem „Verhältnis des erfahrenden Leibs zur Bodenhaftigkeit“220 heraus denkbar wird. Vor diesem Hintergrund kann auch der euklidische Raum immer nur als eine Ableitung von der unmittelbar erlebten Räumlichkeit gelten, da letztere jeder (euklidischen) Abstraktionsleistung, wie etwa der Trennung von Innen und Außen, vorgängig ist. Auch bei Heidegger findet sich eine derartige Fundierung jeglicher Raumerfahrung 217 Heuser-Keßler 1994, S. 6. 218 Vgl. zu diesem zentralen Dreischritt die Einleitung Stephan Günzels zur „Phänomenologie der Räumlichkeit“; Günzel 2006b, S. 105-128. 219 Husserl, Edmund: „Notizen zur Raumkonstitution“, in: Philosophy and Phenomenological Research I, 1941 [1934], S. 21-37. 220 Günzel 2006b, S. 111. 89
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
in der Erfahrung einer unhintergehbaren Leiblichkeit, wenn er etwa in seiner grundlegenden Diskussion zur Räumlichkeit des Daseins vom ‚Dasein‘ als einem ‚In-der-Welt-sein‘ spricht, das über die Leiblichkeit in ein „(topologisches) Geflecht von Bezügen eingewoben“221 ist: Wenn wir dem Dasein Räumlichkeit zusprechen, dann muß dieses ‚Sein im Raume‘ offenbar aus der Seinsart dieses Seienden begriffen werden. Räumlichkeit des Daseins, das wesenhaft kein Vorhandensein ist, kann weder so etwas wie Vorkommen an einer Stelle im ‚Weltraume‘ bedeuten, noch Zuhandensein an einem Platz. Beides sind Seinsarten des innerweltlich begegnenden Seienden. Das Dasein aber ist ‚in‘ der Welt im Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden Seienden.222
Sein Projekt bezeichnet Heidegger selbst als eine ‚Topologie des Seyns‘, und damit als eine Ortsbestimmung, die nicht zuletzt in der Sprache als „Haus des Seins“223 und als Raum gebende Handlung begründet liegt. Die starke Betonung des Ortes, begrifflich aufgefächert als Wohnen, Heimat oder auch Territorium224, auf den letztendlich alles Sein bezogen ist, lässt sich als zentrales Merkmal der Phänomenologie deutscher Prägung herausstellen. Zugleich deutet sich in diesem Begriffsspektrum eine Engführung des Raumbegriffs an, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rhetorik von ‚Raum und Boden‘ zum Gegenstand häufiger Kritik wurde und lange Zeit für eine Abwehrhaltung gegenüber dem Raumbegriff verantwortlich war.225 Eine andere Gewichtung der Topologie zeigt sich in der Phänomenologie angelsächsischer Prägung, ausformuliert und pointiert insbesondere in Kurt Lewins konsequent topologischer Beschreibung der Kriegslandschaft (1917). Hierin spricht Lewin etwa von einer „eigentümliche[n] Umformung des Landschaftsbildes“226, welche die gesamte Landschaft, aus der Sicht eines Feldartilleristen gesehen, in ein sich permanent verschiebendes, topologisch verformbares Gebilde überführt. Denn während die Landschaft zu Beginn noch als ‚reine Friedenslandschaft‘ wahrge221 Günzel 2006b, S. 117. 222 Heidegger, Martin: „Die Räumlichkeit des Daseins“, in: Dünne/Günzel 2006 [1927], S. 141-152, hier S. 141. 223 Heidegger, Martin: „Brief über den ‚Humanismus‘“, in: ders.: Wegmarken. Frankfurt/M.: Klostermann 1967 [1946], S. 313-364, hier S. 313. 224 Vgl. hierzu auch die einflussreichste raumtheoretische Abhandlung Heideggers: „Bauen Wohnen Denken“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze. Gesamtausgabe. Bd. 7. Frankfurt/M.: Klostermann 2000 [1951], S. 145-164. 225 Vgl. Maresch/Werber 2002b, S. 10 und S. 12ff. 226 Lewin, Kurt: „Kriegslandschaft“, in: Dünne/Günzel 2006 [1917], S. 129139, hier S. 130. 90
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
nommen wird, die als ausgedehnte, ins Unendliche reichende, runde Landschaft „ohne vorne und hinten“227 erscheint, so erfolgt mit dem Eintritt in die Frontzone eine Richtung bzw. ein ‚Gerichtetsein‘ der Landschaft, bei welcher nun vorn und hinten klar festgelegt sind. Die dritte Umformung der Landschaft vollzieht sich mit dem Übergang der Frontzone in die Grenzzone, die ihre Ausrichtung insofern umkehrt, als sie sich nun längs der Grenze erstreckt und sich „in ihrem Charakter als solche gegen den Feind hin rasch verdichtet.“228 Durchsetzt wird diese Grenzzone wiederum durch einzelne ‚Gefahrpunkte‘, die sich je nach Gefechtslage kontinuierlich verschieben und potenziell an jeder Stelle auftreten können. Damit ergibt sich das Bild einer Kriegslandschaft als einer stark verformten Landschaft, die kontinuierlich zwischen diesen vier Stadien hin- und herschwankt. Mehr noch: Entscheidend an Lewins Beschreibung der Kriegslandschaft ist gerade, dass diese Transformationen, denen die Landschaft unterworfen ist, gleichsam als Funktionen zutage treten, die sich in jede gegebene Landschaft einschreiben können. Zugleich ist die topologisch geformte Kriegslandschaft, die allein an die unmittelbare Körpererfahrung des Soldaten gekoppelt ist, wiederum umkehrbar, denn auch die „gerichtete und begrenzte Landschaft [kann] wieder in die runde Friedenslandschaft verwandelt“229 werden. Die französische Phänomenologie, deren topologische Vorstellungen besonders in den Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty und Gaston Bachelard geprägt werden, ist in ihrer Auslegung der Topologie im Zusammenhang dieser Arbeit entscheidend. Denn ihr formuliertes Ziel ist es, die Topologie nicht allein als eine vorgängige Form einer (körpergebundenen) Raumerfahrung zu beschreiben, sondern ganz grundlegend die Unvereinbarkeit zwischen Euklidik und Topologie (als Nicht-Euklidik) unter Beweis zu stellen. Merleau-Ponty bezieht sich dabei in vielerlei Hinsicht auf Husserl und dessen Betrachtungen der Dreidimensionalität, nimmt jedoch gleichzeitig eine Gegenposition dazu ein, indem er die Topologie nicht in der „Relation zum Unten bestimmt sieht“, sondern vielmehr in der „Beziehung des Leibes zum Dort“.230 Auch in seiner Auseinandersetzung mit der Konstruktion der Dreidimensionalität bei Descartes in Das Auge und der Geist (1961) ist es genau die Betrachtung des ‚Dort‘ bzw. der Tiefe als eine „abgeleitete dritte Dimension“231, als troisième spatialité, die Merleau-Ponty dazu führt, die abstrahierende 227 228 229 230 231
Lewin 2006 [1917], S. 130. Ebd., S. 131. Ebd., S. 133. Günzel 2006b, S. 113. Merleau-Ponty, Maurice: „Das Auge und der Geist“, in: Dünne/Günzel 2006 [1961], S. 180-192, hier S. 184. 91
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Idealisierung des Raums bei Descartes zunächst als einen notwendigen, entscheidenden Schritt herauszustellen. Denn erst durch die Konzeption eines homogenen, immer gleichen Raums, dessen Dimensionen per definitionem ersetzbar sind, wurde es möglich, so die Argumentation Merleau-Pontys, die Grenzen dieser Abstraktion zu erkennen und dadurch andere, ‚dichtere‘ Formen von Räumlichkeit denkbar zu machen: Nur so konnte man eines Tages die Grenzen dieser Konstruktion finden, konnte man verstehen, daß der Raum nicht dreidimensional ist, nicht mehr und nicht weniger, wie ein Lebewesen zwei oder vier Beine hat; und nur so konnte man begreifen, daß die Dimensionen durch die verschiedenen Maßsysteme einer Dimensionalität, einem polymorphen Sein, entnommen sind, das sie alle rechtfertigt, ohne durch eine von ihnen vollständig ausgedrückt zu werden. Descartes hatte recht, als er den Raum befreite. Sein Fehler war, ihn zu einem ganz und gar positiv Seienden zu erklären, jenseits jedes Gesichtspunktes, jeder Verborgenheit und aller Tiefe, ohne jede wirkliche Dichte.232
Die Tiefe als Teilhabe „am Sein des Raumes jenseits jeden Gesichtspunktes“233 ermöglicht eine andere Art des Raumdenkens, die von Merleau-Ponty als „Nullpunkt der Räumlichkeit“234 erfasst wird: „Ich sehe ihn nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, ich bin in ihn einbezogen.“235 Diese neue Art der Raumbetrachtung gründet nicht in einem ‚Denken des Sehens‘, sondern vielmehr in einem Sehen ‚in actu‘, einer Art ‚unvordenklichen Denkens‘, das unmittelbar auf den Körper verwiesen ist, denn der „Körper ist für die Seele ihr Ursprungsraum und die Matrix jedes anderen wirklichen Raumes“.236 Die daraus resultierende Verschränkung von Innen und Außen, von Ich und Welt, ist zentral für diesen Ansatz und hat weitreichende Konsequenzen, insofern sie den Raum – wie in Bezug auf die Definition der Topologie über die offene Menge deutlich wurde – allein aus sich selbst heraus, das heißt ohne die Konstruktion eines abstrakten, absoluten, denkenden Außen begreift. Mehr noch: Durch diese ‚Topologie des Innen‘ werden die binären räumlichen Oppositionen, die für die französischen Phänomenologen ohnehin nicht mehr als eine Abstraktionsleistung des euklidischen Raums bedeuten, unterwandert und somit die prinzipielle Unvereinbarkeit bzw. die Vorgängigkeit der Topologie gegenüber der Euklidik ausgestellt. Auch Gaston Bachelard setzt in seiner Poetik des Raumes (1957) an diesem Punkt an, wenn er versucht, die räumliche Dialektik des Drinnen 232 233 234 235 236
Merleau-Ponty 2006 [1961], S. 185. Ebd., S. 184. Ebd., S. 190. Ebd. Ebd., S. 188. 92
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
und Draußen durch ein spiralförmiges Denken des ‚Seins des Menschen‘ aufzulösen, dessen Grundeigenschaft es gerade ist, beständig um den Mittelpunkt zu kreisen, diesen jedoch niemals zu erreichen. Denn das „Dasein des Menschen läßt sich nicht fixieren. Jeder Ausdruck hebt seine Fixierung auf.“237 Die Entgrenzung der Dialektik in einer unendlichen Verweigerung der Fixierung bildet nun die Vorbedingung für sein Projekt der ‚Topo-Analyse‘, die er als das „systematische psychologische Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens“238 beschreibt. Bachelard setzt sich hierin vor allem mit den ‚Bildern des glücklichen Raumes‘ auseinander, das heißt mit Räumen wie etwa dem Keller, dem Speicher, den Winkeln und den Fluren eines Hauses, in denen die „schönen Fossilien der Dauer“239, das Unbewusste und die Erinnerungen gespeichert sind, denn die „Erinnerungen sind unbeweglich, und um so feststehender, je besser sie verräumlicht sind.“240 In der Erfahrung eines „tröstlichen Raumes, eines Raumes, der sich nicht auszudehnen wünscht, sondern der vor allem immer noch in Besitz genommen werden möchte“241, tritt nun eine „vormenschliche Ruhe“ ein und damit ein Stadium der Raumbetrachtung, die einen noch entfernteren, da vollkommen verinnerlichten Ort gegenüber dem Cartesischen Raum bezeichnet, an dem sich das „Vormenschliche“ und das „Unvordenkliche“ berühren.242 Über die Betrachtung der phänomenologischen Vorstellungen der Topologie wird es folglich möglich, ein tieferes Verständnis der Topologie bzw. der Neuartigkeit ihrer Konzeption von Räumlichkeit zu gewinnen. Denn die ‚Topologie des Innen‘ kommt ohne jede Konstruktion eines Außen aus, indem sie als unvordenkliche Raumerfahrung jeder euklidischen Abstraktion vorgängig ist und zutiefst an eine unhintergehbare Erfahrung von Leibräumlichkeit gekoppelt bleibt. Denn wenn die Topologie auch in einem Fall auf das ‚Unten‘ des Bodens ausgerichtet (Husserl), im zweiten Fall je nach Blickwinkel auf die Kriegslandschaft einer Transformation unterworfen (Lewin) und im dritten Fall auf das ‚Dort‘ als Dichte und Tiefe bezogen ist (Merleau-Ponty), so ist sie doch in allen drei Fällen als eine ganz grundlegende, allein auf den Leib und das Innen bezogene, intrinsische Form der Raumbetrachtung zu begreifen. Sie bildet topologische Geflechte heraus, das aus inneren Relationen bestehen, die sich fortdauernd ineinander verschränken. 237 Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Frankfurt/M.: Fischer 2003 [1957], S. 213. 238 Ebd., S. 35. 239 Ebd. 240 Ebd., S. 36. 241 Ebd. 242 Vgl. ebd. 93
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Topologie des Außen: Zwischenräume und Grenzziehungen Der ‚Topologie des Innen‘ soll in einem zweiten Schritt eine ‚Topologie des Außen‘ gegenübergestellt werden, die von denselben Prämissen einer transformativen, qualitativen Betrachtung von Raumstrukturen und -relationen ausgeht, die sich jedoch auf eine andere Grunddefinition der Topologie bzw. auf die beiden Untergruppen von Homotopie und Homologie bezieht. Die Einführung dieser beiden topologischen Untergruppen geht insbesondere auf den Mathematiker Henri Poincaré zurück, der auf diese Weise algebraische Ideen in die Topologie einbrachte, wie in seinem Artikel Analysis Situs aus dem Jahr 1895 entwickelt.243 Mit der Homotopie ist ein grundlegender Perspektivwechsel in Bezug auf die Analyse topologischer Räume verbunden. Denn während die Topologie allgemein die Invarianz bzw. die Differenz zwischen einem topologischen Raum und dessen Abbild betrachtet, wird durch die Homotopie der Raum der Transformation zwischen dem ersten und zweiten topologischen Raum, und damit der Zwischenraum selbst, fokussiert: Die vergleichende Transformationsabbildung von einer Topologie auf die andere formuliert einen eigenen topologischen Raum ‚zwischen‘ den Topologien. Da es verschiedenste Wege gibt, eine Topologie mit einer anderen zu vergleichen, sie aufeinander abzubilden, muss man diese verschiedenen Wege als eigene topologische ‚Abbildungsräume‘ wiederum untereinander vergleichen können. Dies nennt man in der mathematischen/algebraischen Topologie eine ‚Homotopie‘.244
Der Differenzraum zwischen Vorbild/Urbild und Abbild wird damit zum zentralen Betrachtungsgegenstand, denn unter der Homotopie wird eine topologische Untersuchung von Abbildungsräumen oder generell von Übermittlungsräumen, Vermittlungsräumen oder Kommunikationsräumen verstanden.245 Dies bedeutet, dass nicht allein die Invarianten des Vorbildes und des Abbildes, sondern ebenso die „homotopen funktoriellen Invarianten des Dazwischens“246 herausgefiltert werden. Ihre Untersuchung wird zu einem indirekten Vorgang, insofern diese Invarianten nicht unmittelbar aus der Abbildung selbst zu ermitteln sind, sondern vielmehr im Bereich des Dazwischen liegen und somit eine Dehnung und Streckung des topologischen Zwischenraums bewirken.
243 Poincaré, Henri: „Analysis Situs“, in: Journal de l’École polytechnique ser 2, 1 (1895), S. 1-121. 244 Huber 2002, S. 183. 245 Vgl. ebd., S. 192. 246 Ebd., S. 239. 94
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
An diesen ersten, allgemeinen Aussagen wird bereits deutlich, dass der topologische Teilbereich der Homotopie eine Reihe innerer, konzeptueller Korrespondenzen zu den Positionen des französischen Poststrukturalismus aufweist.247 Insbesondere das Konzept der différance, wie es im Werk von Jacques Derrida entwickelt wird, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die Homotopie beziehen bzw. folgt einer ähnlichen gedanklichen Grunddisposition. Der Begriff der différance ist ein Kompositum, eine künstliche Wortschöpfung, die zunächst auf die beiden Bedeutungsebenen des französischen Verbs différer ‚verschieden sein‘ und ‚aufschieben‘ anspielt, gleichzeitig aber auch aufgrund ihrer modifizierten Endung auf -ance „unentschieden zwischen dem Aktiv und dem Passiv verharrt.“248 Damit steht Derridas Begriff der différance zwischen dem ‚Unterschiedenen‘ und der ‚Verschiebung‘ selbst, was wiederum eine spezifische Form des ‚Dazwischen‘ generiert.249 Die différance als der „nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen“250 oszilliert folglich kontinuierlich zwischen zwei Polen, oder präziser, zwischen „Umweg, Aufschub, Reserve, Temporisation“ einerseits und „Ununterscheidbarkeit, Unterscheidung, Abweichung, Diastema, Verräumlichung“251 andererseits, wobei erstere immer auch Temporalisation, als Zeit-Werden des Raums und Raum-Werden der Zeit, erscheinen kann. Topologisch gesehen birgt dieses Konzept weitreichende Konsequenzen. Denn was Derrida mit der Methode der différance verfolgt, ist nichts weniger als eine neue, dekonstruktivistische Lesart von Texten, im Sinne einer konsequenten Verlagerung der Perspektive, bei der „die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte ‚gegenwärtige‘ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht“.252 Genau an diesem Punkt wird deutlich,
247 Auch Joachim Huber zieht vielfältige Parallelen zwischen den zunächst rein mathematischen Positionen der Homotopie, der Homologie und den Aussagen der Poststrukturalisten, vgl. Huber 2002, S. 95ff. 248 Derrida, Jacques: „Die différance“, in: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte. Leipzig: Reclam 2004 [1972], S. 110-149, hier S. 119. 249 Zu den Konzepten von ‚Abstand‘ und ‚Zwischenraum‘ in Derridas Denken vgl. auch Quadflieg, Dirk: Differenz und Raum. Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida. Bielefeld: transcript 2007. 250 Derrida 2004 [1972], S. 123. 251 Ebd., S. 134; Vgl. hierzu auch: Nassehi, Armin: „Différend, Différence und Distinction. Zur Differenz der Differenzen bei Lyotard, Derrida und in der Formenlogik“, in: Henk de Berg; Matthias Prangel (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen/Basel: Francke 1995, S. 37-59, insbes. S. 45-48. 252 Derrida 2004 [1972], S. 125. 95
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
dass die Parallele zwischen dem Konzept der différance und der Topologie nicht allein darin besteht, einen Zwischenraum aufzuziehen, sondern zugleich darin, zugrunde liegende Strukturen zu entschlüsseln, die eben nicht auf den ersten Blick sichtbar werden und die nicht an der Oberfläche des Textes selbst liegen. Dadurch zieht Derrida gänzlich neue Dimensionen in die Lektüre ein, bewirkt also in topologischem Sinne eine Dehnung, eine Streckung, kurz: eine Verräumlichung des Textes: Die topologische Dopplung von Struktur verräumlicht Derrida durch Verschiebung in der Différance. Eine Nähe zur Topologie besteht darin, dass die Différance auch eine Verbildräumlichung ermöglicht; also topologische Transformationen als Abbildung. Die Lesart von Kontext als topologischem (AbbildUrbild-Vorbild-)Raum über Topologie und Derrida zeigt, dass das Bild von Kontext immer schon ein deformiertes, ein paradoxes Bild ist, das eine Differenz realisiert.253
Durch die différance wird folglich nicht allein das Dazwischen betrachtet, sondern zugleich ein Abstand, ein Außen, in die Betrachtung eingeführt. Auf diese Weise lässt sich Derridas Methode der différance als eine Form der Raumkonstruktion verstehen, die über das Verschieben und das Einschieben von Zwischenräumen ganz andere, zusätzliche Bedeutungsebenen kreiert. Dadurch steht sie zugleich in engem Zusammenhang mit der Homologie als zweiter Untergruppe der Topologie. Denn unter der Homologie werden bestimmte Arten von Grenzziehungen und die dadurch entstehenden Grenzräume gefasst, die unter den Begriff des Bordismus fallen, wodurch die Homologie einen zweiten, entscheidenden Aspekt der ‚Topologie des Außen‘ markiert: Homologie bedeutet die topologische Einführung des ‚Außen‘; der Schritt von rein intrinsischen Betrachtungen von Topologien zu extrinsischen Untersuchungen über Invarianz. Homologie tritt auch dem gegenüber der Topologie geäußerten Vorwurf entgegen, sie sei nur auf Homogenität, auf den einen glatten Raum bezogen. Die Homologie ermöglicht Grenzziehungen auch innerhalb der Topologie.254
Der Wechsel von ‚intrinsischen Betrachtungen‘ hin zu ‚extrinsischen Untersuchungen‘ ist entscheidend, denn durch das Setzen von Rändern und Begrenzungen wird ein Außen innerhalb der Topologie konstruiert und dadurch die zuvor beschriebene ‚Topologie des Innen‘ von einer ‚Topologie des Außen‘ überlagert, die dennoch untrennbar miteinander verbunden bleiben. Darüber hinaus beschreibt die Homologie, wie Huber
253 Huber 2002, S. 71. 254 Ebd., S. 258. 96
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
ausführt, „das qualitative Zusammenspiel der Dimensionalitäten von Topologien, ihrer Unterräume, Einbettungen und Berandungen“255, wobei die Hierarchisierung der Dimensionalitäten einen zentralen Faktor bildet, denn die „Dimensionalität ist dabei kein quantitativer Faktor, sondern eine topologische und mengentheoretische Funktion.“256 Eine Schlüsselfunktion in der Diskussion einer ‚Topologie des Außen‘ im Spannungsfeld zwischen Homotopie und Homologie kommt Michel Foucaults zu Beginn erwähntem Essay Andere Räume (1967) zu. Denn hierin situiert Foucault seine Ausführungen – im Gegensatz zu jenem ‚Raum des Innen‘ bzw. den inneren Qualitäten des Raums, wie die Phänomenologen sie beschreiben – dezidiert in einem Bereich des Räumlichen, den er als „Raum des Außen“257 bezeichnet. Dieser ‚Raum des Außen‘ ist durch eine hohe (topologische) Komplexität charakterisiert, insofern er in der von Foucault diagnostizierten „Gemengelage von Beziehungen“258 eine Reihe von Orten bzw. Platzierungen entstehen lässt, deren Kernpunkt darin besteht, „sich auf alle anderen Plazierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnissen suspendieren, neutralisieren oder umkehren.“259 Die erste Funktion von Foucaults ‚Raums des Außen‘ besteht folglich darin, die Komplexität räumlicher Überlagerungen als Heterogenität eines Netz- bzw. Lagerungsraums (emplacement) zu denken, der sich wiederum in die sechs Unterformen der Heterotopie auffächert. Die Heterotopie wird dabei zunächst als wesentlich ‚anderer Raum‘ eingeführt, der über die homotopen Faktoren des Verschiedenseins und der Differenz wirksam wird.260 In einem zweiten Schritt – und genau dies verbindet Foucaults raumtheoretische Aussagen wiederum mit der Homologie – werden die Heterotopien jedoch auch als Räume lesbar, die allein über ihre Grenzziehungen, genauer: über ihre gesellschafts- und machtpolitisch motivierten Eingrenzungen und Ausgrenzungen definiert werden, woraus ein grundlegend dialektisches Verhältnis zwischen den Heterotopien und dem verbleibenden gesellschaftlichen Raum resultiert: Es gibt gleichfalls [...] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen und
255 256 257 258 259 260
Huber 2002, S. 310. Ebd., S. 310. Foucault 1990 [1967], S. 38. Ebd. Ebd. Zu einer Diskussion des grundlegenden Faktors des ‚Anderen‘ in Foucaults Werk unter topologischer Perspektive wie auch in Zusammenhang mit Hegels Konzept des ‚Anderen‘, vgl. Huber 2002, S. 268ff. 97
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.261
Bei Heterotopien handelt es sich um Räume, die in einen bestehenden gesellschaftlichen Raum eingezeichnet werden, indem sie ein Außen markieren: „Gleichsam kontrapunktisch zu den Bachtinischen Chronotopoi befinden sie sich außerhalb der Zeitordnung in einem ewigen Jetzt oder einem zeitlichen Zwischen-Raum zwischen zwei Koordinatensystemen, im Flüssigen des Übergangs.“262 Dennoch sind diese ‚Topologien des Außen‘ nicht allein als andere Räume zu begreifen, sondern sie bestehen zugleich innerhalb des verbleibenden Raums bzw. der Gesellschaft und sind mit diesen untrennbar verbunden. Dieser Punkt wird im Fall der Krisen- und Abweichungsheterotopien besonders deutlich, insofern hier Individuen eingeschlossen werden, „deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm“.263 Das Maß, in dem diese Individuen außerhalb der Gesellschaft stehen, findet dabei seinen Niederschlag in einer Raumform, die ihr Ausschließendes umso deutlicher markiert. So definieren Heterotopien stets eine Ausgrenzung und eine Eingrenzung, wobei entscheidend ist, dass das jeweilige Maß der Ausgrenzung das Maß der Eingrenzung determiniert und umgekehrt. Dabei sind diese Grenzziehungen keineswegs fest oder statisch, sondern im Gegenteil dadurch charakterisiert, dass sie immer wieder in ihr Gegenteil umschlagen können. Dieses Moment des (potenziellen) Umschlagens wie auch das grundlegend dialektische Verhältnis der Heterotopie zum verbleibenden Raum der Gesellschaft bringt Foucault schließlich in seinem sechsten und letzten Grundsatz auf den Punkt, wenn er schreibt: Entweder haben sie einen Illusionsraum zu schaffen, der den gesamten Realraum, alle Plazierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert. [...] Oder man schafft einen anderen Raum, einen anderen wirklichen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, mißraten und wirr ist.264
Am Beispiel der Illusions- und Kompensationsheterotopie wird deutlich, in welch hohem Maße Eingrenzung und Ausgrenzung, in diesem Fall Ordnung und Unordnung, miteinander verknüpft sind, sodass lediglich ein gradueller Perspektivwechsel die Eingrenzung in eine Ausgrenzung umschlagen lässt und umgekehrt, wodurch es sich letztlich um eine 261 262 263 264
Foucault 1990 [1967], S. 39. Lange 2001b, S. 15. Foucault 1990 [1967], S. 40. Ebd., S. 45. 98
DIE DREI WENDUNGEN DER TOPOLOGIE
Grenzziehung auf einem äußerst schmalen Grat handelt. Die daraus resultierende Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen, von Eingrenzung und Ausgrenzung steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Topologie bzw. mit der Homologie. Denn es ist genau jene Bewegung einer schrittweisen Auffächerung und Wiedereinführung des Außen, die Foucault im Zirkelschluss zwischen seinen sechs Grundsätzen der Heterotopie und den ersten Passagen seines Essays betreibt, wenn er in Abgrenzung zum Ortungsraum des Mittelalters und zum Ausdehnungsraum der Frühen Neuzeit für die Gegenwart einen komplexen Lagerungsraum der Überlagerung räumlicher Strukturen diagnostiziert: Die Entdeckung einer neuen Form des Raums führt Foucault also auf das Simultane zurück, das die Topografie neu verhandelt, und zwar als Nebeneinander, als Verhältnis von Nähe und Ferne oder als Zerstreuung. [...] Anstelle des Weges durch die Zeit haben wir, so Foucault, das Netz, in dem sich Punkte verbinden und überkreuzen. Mag diese Einsicht aus der Moderne herrühren, so birgt sie doch auch ein Denkmodell für die Untersuchung topologischer Konfigurationen der Vergangenheit.265
So lassen sich Foucaults Heterotopien als topologische Räume lesen, die grundsätzlich auf Nachbarschafts- und Relationsbeziehungen beruhen; jedoch in einer Weise, dass diese Relationsgefüge stets eine Eingrenzung und eine Ausgrenzung definieren. Dabei entfalten sie sich in einem Bereich des Räumlichen, der als ‚Raum des Außen‘ nicht allein eine Exterritorialität des Raums bezeichnet, sondern vielmehr auf zwei Ebenen wirksam wird: erstens als räumliche Komplexität der mannigfaltigen Überlagerung einzelner Topologien, und zweitens als spezifische Raumfigur, welche das Andere und das Außen des Raums in die innere Topologie wieder einführt, mithin das Äußere an das Innere zurückkoppelt. Die hier beschriebene ‚Topologie des Außen‘ gewinnt mit Referenz auf die Homotopie und die Homologie folglich zwei unterschiedliche Aspekte und bringt damit zwei zentrale Komponenten in die (topologische) Raumdiskussion ein: den Zwischenraum und die Grenzziehung, die jeweils auf unterschiedliche Weise ein ‚Außen‘ in die Raumbetrachtung einführen. Denn im ersten Fall wird das Außen durch eine Dehnung, Streckung und Ausweitung zwischen zwei bzw. mehreren unterschiedlichen Topologien eingeführt, wodurch eine spezifische Form von Abstand und Zwischenräumlichkeit generiert wird. Demgegenüber steht im zweiten Fall die Grenzziehung im Vordergrund, die jedoch keineswegs allein eine Grenze im Sinne einer äußeren Berandung der Topologie bedeutet,
265 Borsò, Vittoria: „Grenzen, Schwellen und andere Orte“, in: Borsò/Görling 2004b, S. 13-41, hier S. 18. 99
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
sondern vielmehr Berandungen innerhalb der Topologie selbst denkbar macht. Damit einhergeht eine signifikante Verschiebung innerhalb des topologischen Grundkonzepts, denn bei diesem zweiten Aspekt der ‚Topologie des Außen‘ handelt es sich um eine Form der Rückkopplung, der Wiedereinführung des Außen in eine bereits bestehende Topologie, die im Zuge dieser Rückkopplung das Verhältnis von Innen und Außen, von Schließung und Öffnung umkehrt bzw. ununterscheidbar macht. Nimmt man diese Aussagen zusammen, so zeigt sich zunächst eine klare Differenz zwischen der Gedankenfigur einer ‚Topologie des Innen‘ einerseits, die von einer unvordenklichen, aller räumlichen Erfahrung vorgängigen ‚Leibräumlichkeit‘ ausgeht, und andererseits einer ‚Topologie des Außen‘, die einen signifikanten Abstand und ein Außen in das relationale Raumdenken einführt, das nicht mehr aus der intrinsischen Position des Leibes, sondern vielmehr aus der extrinsischen Position des Außen heraus agiert. Auf den zweiten Blick und bei näherer Betrachtung treten hingegen zwei verbindende Eigenschaften der Topologie hervor, die auch in den folgenden Kapiteln relevant werden: ihre Fähigkeit, eine Reihe von Verzweigungen zu entfalten und somit unterschiedliche, sich überlappende Topologien zu generieren, ebenso wie ihre Fähigkeit, diese Topologien in ständiger Bewegung zu halten und sie einer modifizierenden Transformation zu unterwerfen. In Bezug auf die drei Filmphasen werden sie jeweils drei topologische Grundformen annehmen: als innere Topologie einer selbstbezüglichen, in sich geschlossenen Räumlichkeit, dann als bewegte Topologie eines sich dehnenden, ausgreifenden Zwischenraums und schließlich als äußere Topologie einer Rückkopplung und Wiedereinführung des Äußeren in das Innere. Gemeinsam gründen diese Ausdifferenzierungen der Topologie in einem topologischen Denken, das sich auf zwei Stufen lesen lässt: Erstens sind es Raumkonzepte, die in hohem Maße auf Relationen aufbauen, bei denen die Relationalität also einerseits intrinsisch auf den Leib, den Boden bzw. die Tiefe bezogen und andererseits extrinsisch in Richtung abstrakter Relationen und Lageverhältnisse ausgedeutet wird. Zweitens handelt es sich jedoch auch um Räume, die sich nicht mehr über binäre räumliche Oppositionen definieren lassen, sondern deren zentrale Eigenschaft es gerade ist, in einer höher dimensionierten Metrik und in einer höheren räumlichen Komplexität der mannigfaltigen, bewegten Raumstrukturen zu operieren. Die Topologie löst die Raumvorstellung eines metrischen, messbaren Substanzraums im Zuge eines modifizierenden Raumdenkens auf, das die topologische Umkehrbarkeit räumlicher Relationen und mehr noch: ihre intrinsische Transformativität zum Kernmerkmal jeglicher Raumbetrachtung erhebt.
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Das Glatte und das Gekerbte Ausgehend von dieser Entfaltung der Topologie in zwei unterschiedliche Richtungen soll abschließend noch einmal der Bogen zum Anfang dieses Kapitels zurückgespannt und die Topologie in ihrem Verhältnis zur Topographie diskutiert werden. Wurden diese beiden zentralen Raumkonzepte bisher lediglich auf ihre begriffliche Differenz hin befragt, so soll anhand der beiden Konzepte des glatten und des gekerbten Raums in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris einflussreichem Werk Mille Plateaux (1980) nun eine erweitere, konzeptuelle Diskussion erfolgen. Denn über die beiden Raumformen des glatten und des gekerbten Raums lassen sich nicht allein die Differenzen, sondern mehr noch, die komplexen Bedingungsverhältnisse zwischen der Topologie und der Topographie noch einmal deutlich zuspitzen und präzisieren. Der glatte Raum (espace lisse) und der gekerbte Raum (espace strié) sind zwei Raumformen, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Ihre Gegensätzlichkeit wird in Mille Plateaux anhand einer Reihe von Modellen entfaltet – etwa dem ‚Modell der Technik‘, dem ‚Modell der Mathematik‘, dem ‚Modell des Meeres‘ –, die jeweils unterschiedliche Facetten des Glatten und des Gekerbten abstecken. Ihre grundlegendste Differenz entfalten sie dabei in Zusammenhang mit dem ‚Modell der Musik‘ bei Pierre Boulez, wobei zunächst ein glatter Zeit-Raum, in dem man „besetzt, ohne zu zählen“266 und ein gekerbter Zeit-Raum, in dem man „zählt, um zu besetzen“267, einander gegenübergestellt werden: [D]as Gekerbte oder Geriffelte ist das, was das Festgelegte und Variable miteinander verflicht, was unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen läßt und was horizontale Melodielinien und vertikale Harmonieebenen organisiert. Das Glatte ist kontinuierliche Variation, die kontinuierliche Entwicklung der Form und die Verschmelzung von Harmonie und Melodie zugunsten einer Freisetzung von im eigentlichen Sinne rhythmischen Werten, die reine Linie einer Diagonale quer zur Vertikalen und Horizontalen.268
An diesen ersten Ausführungen wird bereits deutlich, wie sehr sich die Bezugslinien zwischen der Topologie und dem Glatten, zwischen der Topographie und dem Gekerbten aufspannen lassen. Dabei können ihre jeweiligen Korrespondenzen anhand des ‚Modells des Meeres‘ noch weiter zugespitzt werden, denn der glatte Raum wird hier als gerichteter
266 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: „Das Glatte und das Gekerbte“, in: dies.: Tausend Plateaus. Berlin: Merve 1992 [1980], S. 657-693, hier S. 662. 267 Ebd. 268 Ebd., S. 663. 101
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Raum definiert, der keine Dimension oder metrische Bestimmung aufweist, wohingegen dem gekerbten Raum gerade im Gegenzug dazu die Eigenschaften des Dimensionalen und des Metrischen zugeordnet werden. Mehr noch: Der glatte Raum wird über Intensitäten bestimmt, denn er ist „eher ein intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und nicht der Maßeinheiten. Intensives Spatium anstatt Extensio. Organloser Körper statt Organismus und Organisation.“269 Der glatte Raum operiert als taktiler Raum von „nah zu nah“270, während der gekerbte Raum gerade durch einen (optischen) Abstand charakterisiert ist: Das Glatte scheint uns Gegenstand einer nahsichtigen Anschauung par excellence und zugleich Element eines haptischen Raumes zu sein (der gleichermaßen visuell, auditiv und taktil sein kann). Das Gekerbte verweist dagegen auf eine eher fernsichtige Anschauung und auf einen eher optischen Raum – auch wenn das Auge nicht das einzige Organ ist, das diese Fähigkeit hat.271
Dennoch ist auch das Meer als ‚glatter Raum par excellence‘ schon von Beginn an unterschiedlichen Einkerbungen unterworfen, die Deleuze und Guattari auf zwei zentrale Faktoren zurück beziehen: den Punkt der Position als astronomische Form der Kerbung und die Karte der Längen- und Breitengrade als geographische Form der Kerbung, wodurch das Meer zum „Archetyp für alle Einkerbungen des glatten Raumes“272 wird. Geht man von diesem Punkt aus zurück zur Ausgangsdefinition der Topographie bei Robert Stockhammer, so wird die Nähe zum gekerbten Raum besonders deutlich, definiert er die Topographie doch über den Prozess des Kerbens bzw. über das ‚Gemacht-Sein‘ von Räumen, „indem es markiert, dass diese vor allem auch Produkte graphischer Operationen im weitesten Sinne sind“.273 Darüber hinaus sind sowohl die Topographie als auch das Gekerbte untrennbar mit der Vorstellung einer Karte verbunden, die als graphische Form eine dimensionale Metrik in die Raumkonstruktion einführt. Demgegenüber wird der glatte Raum als nichtmessbare, gerichtete Größe zum Pendant der Topologie, denn er wird „nicht von einem Punkt her gedacht, der einem anderen Punkt gegenübersteht. Auch gehen Bewegungen von ihm nicht von einem Punkt zu einem anderen. Eher schon ist er selber Bewegung, Linie und Kurve“274,
269 270 271 272 273 274
Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 664. Ebd., S. 683. Ebd., S. 682. Ebd., S. 665. Stockhammer 2005, S. 15. Görling, Reinhold: „Emplacements“, in: Borsò/Görling 2004, S. 43-65, hier S. 57. 102
DAS GLATTE UND DAS GEKERBTE
wodurch die Topologie und das Glatte den Raum als eine nicht-metrische Mannigfaltigkeit und Intensität konfigurieren. Dennoch bilden das Glatte und das Gekerbte, die Topologie und die Topographie keine einfachen binären Oppositionen heraus, sondern werden vor allem in ihrem Zusammenspiel, in ihren Überlagerungen und Interdependenzen wirksam. Denn „der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt.“275 Hierbei geht es, wie auch Reinhold Görling in seinen Betrachtungen zum Glatten und Gekerbten herausstellt, um ‚disymmetrische Bewegungen‘, deren Unterscheidungsmarken nicht eindeutig gesetzt werden können: Es ist ein stetes Geben und Nehmen, der gekerbte Raum gibt ständig Glattes zurück und der glatte Raum ist ausgefüllt mit Wirbeln und Turbulenzen, die zu Kerbungen hindrängen. Es liegt keine binäre Opposition vor, es führt hier nicht der gekerbte Raum Krieg gegen den glatten.276
Dieses permanente Umschlagen und die kontinuierliche Durchdringung von glattem und gekerbtem Raum erfolgt durch die „komplexen Operationen einer Übersetzung oder Transformation zwischen dem glatten und dem gekerbten Raum“277, die sich ebenso auf das Verhältnis von Topologie und Topographie umlegen lassen. Denn die Topologie und die Topographie bezeichnen zwei Übersetzungs- und Transformationsmechanismen, die innerhalb der Raumkonstruktion immer wieder auf untrennbare Weise ineinandergreifen. Mehr noch: Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten lässt sich die Transformation nicht allein als Grundprozess der Topologie begreifen, sondern zugleich als entscheidender Faktor der Raumproduktion allgemein, durch welchen die Topologie kontinuierlich an die Topographie zurückgekoppelt wird und umgekehrt. Die Komplexität, die in der Überkreuzung zwischen topographischer und topologischer Raumordnung begründet liegt, soll an dieser Stelle nur angedeutet werden, um sie am Ende des zweiten Kapitels erneut aufzugreifen und hinsichtlich des Films zu modifizieren. Dabei findet die Topographie ihren Kernpunkt in einer Zweidimensionalität des Räumlichen (der Karte, der Kartographie), während die Topologie ihr volles Potenzial gerade dann entfaltet, wenn sie unterschiedliche, sich überlappende Topologien und damit stets neue Verzweigungen der topologischen Grundfiguren generiert, die gerade in Bezug auf die Betrachtung filmischer Räume ein bisher noch völlig unausgeschöpftes Potenzial bilden.
275 Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 658. 276 Görling 2004b, S. 55. 277 Ebd., S. 55f. 103
RAUMTHEORIEN UND TOPOLOGIEN
Unter diesem Blickwinkel gefasst, lassen sich die raumtheoretischen Ausführungen des ersten Kapitels zugleich als eine konsequente Hinführung auf ein filmisches Raumkonzept lesen, das sich wesentlich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Topographie und Topologie speist. Denn ausgehend von den allgemeinen raumtheoretischen Grundlagen und dem Herausarbeiten dreier analytischer Zugriffe auf den Raum, lässt sich der relationale Raum als eine notwendige Vorbedingung für den topologischen Raum begreifen, insofern im relationalen Raumkonzept zwei zentrale Aspekte zur Geltung kommen: erstens das Denken des Raums über seine Relationen und Lageverhältnisse, zweitens, und damit eng verbunden, das Denken des Außen als Relation, das ohne die Konstruktion eines absoluten Raums auskommt, von dem der Raum lediglich eine (relative) Ableitung wäre. Der topologische Raum geht dann insofern über den relationalen Raum hinaus, als er paradoxe Raumkonstruktionen, die über ein euklidisch-metrisches Raumdenken nicht mehr zu fassen sind, beschreibbar macht. Entscheidender jedoch für den hier verfolgten Argumentationsgang ist es, dass die Topologie den Faktor der Relation in Richtung der Transformation ausweitet, der unmittelbar darauf verweist, dass topologische Räume zuallererst auf die Prozesse der Abbildung, der Deformation und der Transformation hin ausgerichtet sind. Mit der Topologie ist ein Raumkonzept definiert, das sich mit den qualitativen Beziehungen einzelner Raumensembles untereinander auseinandersetzt, indem es den Raum nicht-metrisch, das heißt ohne den Abstand, denkt. Gerade dadurch bietet die Topologie die Möglichkeit, die Konstruktion filmischer Räume nicht mehr bzw. nicht mehr ausschließlich unter Rückgriff auf dreidimensionale, messbare, kurz: euklidische Raumtheorien zu fassen. Denn der Film macht ebenso Räume denkbar, die als topologische Räume, das heißt als sich ständig wendende, transformierende und (filmisch) verfremdete Räume, als räumliche Paradoxien und abstrakte Raumkonstrukte, in Erscheinung treten und dadurch den größtmöglichen Abstand zum euklidischen Raum markieren, ja diesen grundsätzlich infrage stellen. So steht die topologische Betrachtungsweise für einen neuartigen Zugriff auf das Phänomen des filmischen Raums und birgt zugleich die Möglichkeit, den Prozess der filmischen Raumbildung über andere, sogar nicht-räumliche Parameter miteinander zu vergleichen, womit eine neue Zugangsweise zu Fragen der (medialen) Raumkonstruktion gewonnen ist, deren Implikationen in den folgenden Kapiteln schrittweise entfaltet werden.
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II. D E R EIN
FILMISCHE
TOPOLOGISCHER
RAUM: ENTWURF
Welche Arten von Räumen werden durch den Film konstruiert? Und wie lassen sich diese raumtheoretisch beschreiben? Diese beiden zentralen Fragen stehen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels und sollen unter Bezugnahme auf zentrale filmtheoretische Positionen, aber auch auf einzelne Filmbeispiele näher entfaltet und diskutiert werden, um darauf aufbauend in den folgenden Kapiteln die spezifischen Raumkonstruktionen des Urbanen zu analysieren. Wie der Titel bereits besagt, wird in diesem Kapitel ein Raumkonzept für den Film entworfen, das im Wesentlichen auf der Zusammenführung und Modifizierung zweier raumtheoretischer Linien beruht, die Gegenstand des ersten Kapitels dieses Buchs waren: erstens auf Theorien des relationalen Raums und zweitens auf Theorien des topologischen Raums. Gemeinsam stehen diese beiden raumtheoretischen Zugriffe für einen weitreichenden Blickwechsel auf den Raum: Sie begreifen ihn nicht länger als eine in sich geschlossene Entität oder gar als Substanz, sondern im Gegenteil als ein bewegliches, modifizierbares Gebilde aus Raumstrukturen und Raumrelationen. Den filmischen Raum konsequent topologisch zu denken bezeichnet zunächst ein raumtheoretisches Experiment, insofern mit dem relationaltopologischen Raumkonzept eine Raumvorstellung unterlegt wird, die auf radikale Weise mit den bisherigen Bestimmungen des filmischen Raums bricht. Denn sie setzt ihre Aussagen genau an jenem Punkt an, an dem zahlreiche filmische Raumtheorien bereits ihren Endpunkt finden: am Beginn einer räumlichen Transformation. In anderen Worten: Während die meisten Positionen zum filmischen Raum darin aufgehen, die Dynamisierung des Raums, seine grundlegende Bewegtheit und Konstruiertheit zu begründen und schrittweise darzulegen, so werden diese Thesen zur Dimensionalität, Ausdehnung und Dynamisierung des filmischen Raums hier als Anfangspunkt der theoretischen Ergründung und zugleich als Ausgangspunkt jeglichen Raumdenkens gesetzt. Denn erst so wird es möglich, nicht allein an die Grenzpunkte des Räumlichen zu gelangen, sondern darüber hinaus in jenen Bereich eines Jenseits des Raums vorzudringen, in dem sich filmische Räumlichkeit entfaltet. 105
DER FILMISCHE RAUM
Dem Film wird damit unmittelbar ein prozessuales und relationales Raumverständnis zugrunde gelegt, das in Bezug auf die beiden Faktoren von Relation und Transformation konsequent weiter ausgearbeitet wird. Kernpunkt dieses Kapitels bildet eine theoretische Auseinandersetzung mit dem filmischen Raum und dessen Konstruktionsmechanismen unter einer allgemeinen Perspektive, welche die Grundlage dafür bildet, die einzelnen historisch bedingten Konfigurationen des filmischen Raums, die in den folgenden Kapiteln entfaltet werden, vorzubereiten und einzuordnen. Diese dezidiert raumtheoretische Fragestellung ist besonders vor dem Hintergrund entscheidend, als dem Raum innerhalb der Film- und Medienwissenschaft bisher keine große Rolle eingeräumt wurde.1 So stellt auch André Gardies gleich zu Beginn seines Buchs L’espace au cinéma (1993) fest: „L’espace en tant qu’objet de réflexion, d’analyse ou de saisie théorique a longtemps subi une très forte minoration.“2 Gegenüber dieser Aussage wird häufig die These vorgebracht, der Raum schreibe sich dennoch in alle grundlegenden Fragen des Kinos ein bzw. liege ohnehin implizit allen Betrachtungen zugrunde, wie etwa Anne Goliot-Lété in ihrem Forschungsüberblick zum filmischen Raum anführt: Mais dans le même temps, il faut constater qu’en dehors des études de récits proprement dites, l’espace est partout. Ça et là, en effet, il est question d’écran, de plastique de l’image, de plan, de cadrage, d’espace profilmique, d’espace sonore, de perspective, de profondeur de champ, de hors-champ, de mouvements d’appareil, de montage, de décors, de lieux ...3
Problematisch an dieser These ist nun, dass sie in ihrer Zielrichtung eine ähnliche Verkürzung aufweist, wie es Maresch und Werber in Bezug auf den inflationären Gebrauch von Raum-Komposita geäußert haben, bei denen die Rückschlüsse auf den Gegenstand, das heißt auf den Raum selbst, zumeist ausbleiben. Denn diese Auflistung der räumlichen Aspek1
2 3
Eine Ausnahme bilden hier sicherlich die Arbeit von Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. Apparatus – Semantik – ‚Ideology‘. Heidelberg: Winter 1992, die einflussreiche Abhandlung von André Gardies: L’espace au cinéma. Paris: Meridiens Klincksieck 1993, sowie die Sammelbände: Hans Beller u. a. (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Ostfildern: Hatje Cantz 2000; Sigrid Lange (Hg.): Raumkonstruktionen in der Moderne. Bielefeld: Aisthesis 2001; sowie Susanne Dürr; Almut Steinlein (Hg.): Der Raum im Film/L’espace dans le film. Frankfurt/M.: Peter Lang 2002. Gardies, André: „L’espace à travers champ“, in: Dürr/Steinlein 2002, S. 25-32, hier S. 26. Goliot-Lété, Anne: „A travers le film et ses espaces“, in: Dürr/Steinlein 2002, S. 13-23, hier S. 14. 106
EINFÜHRUNG
te, so treffend sie auch im Einzelnen sein mag, ist in gewisser Weise symptomatisch für die (fehlende) Auseinandersetzung mit der Kategorie des Raums im Bereich des Films: Gerade weil sich der Raum in alle denkbaren Bereiche – von Fragen der Ausstattung bis hin zur Szenenaufgliederung, von der Beleuchtung bis hin zur Einstellungsperspektive – einschreibt, bleibt er selbst häufig unsichtbar bzw. wird als implizite Fragestellung den Beobachtungen unterlegt, wodurch eine dezidierte Theoriebildung in Bezug auf den filmischen Raum selbst zumeist ausbleibt. Ziel dieses Kapitels ist es, die besondere Form des filmischen Raums zu beschreiben und in seiner medialen Spezifik zu definieren. Um Aussagen auf dieser konzeptuellen Ebene treffen zu können, ist es notwendig, den filmischen Raum zunächst als ein Abstraktum zu fassen, das auf der übergreifenden Ebene von Raumkonzepten angesiedelt ist. Den Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen zum filmischen Raum markieren daher drei zentrale Prämissen des filmischen Raums, die als Schaltstelle und als Übergangsfigur zwischen den beiden ersten Kapiteln fungieren. Denn auf einer ersten, raumtheoretischen Ebene weisen sie unmittelbar auf die drei Raumfragen des ersten Kapitels zurück, indem sie die Ort-Raum-Differenz, die Dimensionalität und die Bewegtheit des Räumlichen in ihr Zentrum stellen. Auf einer zweiten, filmtheoretischen Ebene sind sie hingegen durchdrungen von drei zentralen Diskussionslinien, welche die bisherigen Thesen zum filmischen Raum auf maßgebliche Weise beeinflusst und konturiert haben und die sich in Form dreier Grundthesen zum filmischen Raum zusammenfassen lassen: 1. Der filmische Raum ist ein medialer Raum. 2. Der filmische Raum ist ein konstruierter Raum. 3. Der filmische Raum ist ein bewegter Raum. Den filmischen Raum zugleich als medialen, konstruierten und bewegten Raum zu begreifen, stellt den Versuch dar, sich diesem komplexen Phänomen auf drei unterschiedlichen Wegen zu nähern bzw. es von drei einander entgegengesetzten Polen aus zu greifen. Damit werden zugleich drei analytische Zugriffe ebenso wie drei unterschiedliche Diskursfelder eingeführt, denen jeweils ein anderes Verständnis des filmischen Raums bzw. ein anderer Blickwinkel auf diesen unterliegt. Ziel der folgenden Ausführungen wird es sein, diese drei Diskurse und analytischen Perspektiven in ihrem Zusammenspiel zu diskutieren, ihre Verbindungslinien herauszuarbeiten, um sie auf dieser Basis gemeinsam in die Definition des filmischen Raums einfließen zu lassen. Die erste Prämisse, die den filmischen Raum als medialen Raum konzipiert, ist entscheidend im Kontext dieses Buchs, steht sie doch für einen zentralen Perspektivwechsel, für einen grundsätzlich anderen Blick 107
DER FILMISCHE RAUM
auf den filmischen Raum, der in den einschlägigen Arbeiten allzu häufig vernachlässigt wird. Denn während die Mehrzahl der Arbeiten den filmischen Raum als rein inhaltliche Kategorie, das heißt unter dem Aspekt der Gestaltung und Inszenierung einzelner Räume im Film, beschreibt und analysiert, tritt unter dieser Perspektive das spezifisch Mediale der Raumkonstruktion, das spezifisch Filmische in den Vordergrund. Dies bedeutet zugleich, dass Fragen nach den genuinen Möglichkeiten und Grenzen der filmischen Raumkonstruktion auf den Plan gerufen werden, die nach einem grundsätzlich anderen Blick auf den filmischen Raum verlangen. Dass diese Perspektive lange Zeit weitgehend unbeachtet bzw. durch die umfangreichen Analysen der materiellen, architektonischen Gestaltung des Raums im Film überlagert wurde, nimmt auch Gardies zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum filmischen Raum, wenn er gleich zu Beginn von L’espace au cinéma feststellt: Le moment est peut-être venu, tout en les reconnaissant, de s’affranchir de ces dettes et d’ancrer la réflexion sur un terrain que prenne en compte la spécifité du médium.4
Was heißt es jedoch, das ‚Spezifische des Mediums‘ in den Blick zu nehmen? Diese Frage lässt zwei unterschiedliche, aber dennoch eng miteinander verbundene Argumentationslinien zu: Die erste Linie weist in Richtung eines Vergleichs der Grenzen und Möglichkeiten der Raumkonstruktion in unterschiedlichen Medien bzw. künstlerischen Ausdrucksformen, was bedeutet, dass der filmische Raum etwa in Abgrenzung zum literarischen, malerischen und fotografischen Raum diskutiert wird. Die zweite Linie weist hingegen direkt auf den Kern der Betrachtungen und damit auf die Definition des filmischen Raums selbst, die sich, wie zu zeigen sein wird, an der Schnittstelle zwischen dem dispositiven, medialen und modalen Raum, zwischen den filmischen Orten und dem filmischen Raum, zwischen innerer und äußerer Bewegung, zwischen Relation und Transformation bewegt. Insbesondere die zweite Linie wird in den folgenden Teilkapiteln schrittweise entfaltet, während die erste Linie den allgemeinen Rahmen der einzelnen Positionen bildet und punktuell immer wieder in die Diskussion einbezogen wird. 4
Gardies 1993, S. 10. Die dezidierte Auseinandersetzung mit der Spezifik des filmischen Mediums sieht Franz-Josef Albersmeier am deutlichsten in der frühen Theoriebildung zum Kino und insbesondere im russischen Formalismus verwirklicht, wohingegen aktuelle filmtheoretische Positionen zumeist einen Mangel an ebensolchen Fragestellungen aufweisen; vgl. Albersmeier, Franz-Josef: „Filmtheorien im historischen Wandel“, in: ders.: (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Leipzig: Reclam 31998, S. 3-29, hier S. 7f. und 14f. 108
EINFÜHRUNG
Die zweite Prämisse besagt, dass der filmische Raum in allererster Instanz ein konstruierter Raum ist. Diese Aussage lässt sich erst dann in ihrer vollen Tragweite begreifen, wenn man sie vor dem Hintergrund der einflussreichen Unterscheidung von filmischen Orten (lieux) und filmischem Raum (espace) bei Gardies betrachtet, in welcher die filmischen Orte die notwendige Bedingung und zugleich die zentrale Kontrastfolie bilden, vor deren Hintergrund der filmische Raum überhaupt erst konturiert werden kann. Gleichzeitig weist diese Frage aber auch zurück auf die erste Perspektive und damit auf die Spezifik des filmischen Mediums und seiner unterschiedlichen Konstruktionsmechanismen: Quelle que soit la nature du film (documentaire, narratif, expérimental, etc.), les caractéristiques du médium sont là, qui règlent les modalités de la réception et définissent les conditions du travail filmique. En un sens, elles sont le préalable nécessaire à l’accès du spectateur au monde diégétique. Toutefois, celui-ci, contrairement à l’idée convenue, n’est pas cet univers sans faille, prétendument situé au-déla de l’écran, que me donne l’institution cinématographique en échange du prix de mon billet. Ce monde est construit. [Hervorhebung d. Verf.] Doublement. Par le film lui-même bien sûr, mais par le spectateur aussi.5
Folgt man dieser Prämisse und begreift man den filmischen Raum in erster Linie als konstruierten Raum, so lässt sich daraus unmittelbar folgern, dass jede Form der filmischen Raumkonstruktion, jede Art der Inszenierung bestimmter Orte im Film immer schon eine Selektion, eine ganz bestimmte Auswahl und zugleich einen ganz bestimmten, medial bedingten Blickwinkel auf den Raum beinhaltet, worauf auch Gardies verweist, wenn er weiter ausführt: [L]a mise en cadre est une mise en situation. En ce sens la monstration, le donné à voir, sous ses apparences de ‚naturel‘ [...], résulte toujours d’un choix, d’une décision de l’instance ‚monstratrice‘. Au cinéma, montrer, donner à voir, c’est toujours faire voir à partir d’un point de vue particulier. Plus précisement, le montré et le point de vue sont indissolublement liés.6
Aus der Überkreuzung dieser unterschiedlichen Standpunkte und Perspektiven (des Regisseurs, des Zuschauers etc.) resultiert ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Raumordnungen, die auf untrennbare Weise 5 6
Gardies 1993, S. 59. Ebd., S. 84; vgl. hierzu auch die Aussagen von Wolfgang Natter in seiner Analyse des filmischen Raums am Beispiel der BERLIN-SINFONIE Ruttmanns; Natter, Wolfgang: „The City as Cinematic Space. Modernism and Place in Berlin, Symphony of a City“, in: Stuart C. Aitken; Leo E. Zonn (Hg.): Place, Power, Situation, and Spectacle. A Geography of Film. London: Rowman & Litterfield 1994, S. 203-228, hier S. 204f. 109
DER FILMISCHE RAUM
ineinandergreifen. Nicht zuletzt diese Auffächerung der Blickwinkel und Überkreuzung der Blicklinien verweist unmittelbar darauf, dass der filmische Raum auf einem hochgradig flexiblen, dynamischen Raumverständnis basiert, das sich hinsichtlich seiner komplexen (An)Ordnungen stets weiter ausdifferenzieren und modifizieren lässt. Die dritte Prämisse zum filmischen Raum, die den filmischen Raum als genuin bewegten Raum definiert, greift dieses grundlegend dynamische Raumverständnis auf, indem sie mit Blick auf die frühe Filmtheorie die konstitutive Bedingtheit von filmischem Raum und Bewegung diskutiert. Zentral hierbei ist die Aufschlüsselung unterschiedlicher Ebenen der Bewegung, die einerseits als reale Bewegung im Film angesiedelt sein kann, die sich andererseits aber auch als abstrakte, mediale Bewegung des Films auf der Ebene des medialen Raums denken lässt. Insbesondere die Betrachtung früher Diskurse zum Wechselverhältnis von Film und Bewegung vermag zu zeigen, wie sehr diese Fragestellung mit der raumtheoretischen Fragestellung einer ‚Dynamisierung des Raums‘ zusammenhängt, inwiefern also der Film selbst immer wieder als ein zentraler Indikator, wenn nicht gar als Motor dieses raumtheoretischen Umbruchs in den Diskussionen zur Dynamisierung mitgeführt wird. Mit diesen drei grundlegenden Prämissen, die den filmischen Raum zugleich als medialen, konstruierten und bewegten Raum konzipieren, hat die vorliegende Arbeit einen anderen Zielpunkt und zugleich einen anderen Blickwinkel als ein Großteil der Arbeiten in diesem Themenfeld. Denn selbst wenn sich die Arbeiten mit Fragen des filmischen Raums auseinandersetzen, so variiert der Grad der Auseinandersetzung doch in hohem Maße, reicht das Spektrum von einem sehr impliziten, eingebetteten Verständnis der Raumfrage, wie es bei Goliot-Lété deutlich wurde, bis hin zu einer sehr dezidierten und direkten Auseinandersetzung mit der Gestaltung und Inszenierung filmischer Architekturen. Die erste Stufe der Auseinandersetzung, die den Raum als eine implizite Kategorie begreift, geht weitgehend im Begriff des ‚Erzählraums‘ auf. Dies bedeutet, dass der Raum in erster Instanz der Narration untergeordnet wird und damit zwar einen Grundbegriff des Kinos bezeichnet, selbst jedoch kein eigenes Gewicht erhält. Stellvertretend sei hier auf die (verkürzende) Zuschreibung des Raums im klassischen narrativen Kino verwiesen, in welchem der Raum, wie etwa Susan Hayward in ihren Key Concepts in Cinema Studies (1985) beschreibt, zuallererst unter den Aspekten der Kohärenz und der Kontinuität verhandelt wird: Within classic narrative cinema space and time are coherently represented in order to achieve the reality effect. Shots reveal spatial relationships between characters and objects and as such implicate the viewer as spectating subject. That is, shots are organized in a specific way so that the spectator can make sense of 110
EINFÜHRUNG
what she or he sees. The way in which space is carved up with a shot (size and volume of objects or characters) also provides meaning. Equally, given that mainstream classic cinema assumes an unfolding of the traditional narrative of ‚order/disorder/order-restored‘ (or enigma and resolution), time is implicitly chronological and so must be seen to run contiguously with space.7
Die Problematik der häufigen Blindheit gegenüber der Kategorie des Raums begründet sich laut David Bordwell nun vor allem darin, dass die Filme stets in Bezug auf ihre Geschichten und ihre Charaktere wahrgenommen werden, wohingegen über „deren Aussagen wie über deren Gestaltung – die Art, wie sie den Raum erschließen und sich in der Zeit entfalten –“8 kaum gesprochen werde. Der Raum wird folglich zumeist als narrativer Raum (narrative space) verstanden, in dem sich zwei unterschiedliche Systeme überkreuzen: die ‚grammatikalischen Grundfiguren‘ des Films, wie etwa der Regelkanon der 180-Grad-Regel und des Achsensprungs, die den Raum der allgemeinen Kontinuität der Erzählung unterordnen, und das Dispositiv des Kinos mit seiner zentralperspektivischen Lenkung des Blicks, wie auch Hermann Kappelhoff ausführt: Die filmische Erzählweise mit ihren grammatikalischen Grundfiguren des ‚unsichtbaren Schnitts‘, der ‚subjektiven Perspektive‘ und der ‚Schuß-Gegenschuß-Auflösung‘, verschränkt [...] diesen Blick mit den geometrischen Perspektivierungen des Bildes. So fügen sich im narrativen Prozeß die Raum/ Zeitfragmente des Films zur Illusion eines homogenen Raums, der sich dem Zuschauer als ein naturgegebenes Wahrnehmungsverhältnis präsentiert.9
Begreift man nun aber den filmischen Raum als homogenen Raum der ‚natürlichen‘ Wahrnehmung – ein Verständnis, das implizit einem Großteil der Arbeiten zugrunde liegt –, so hat dies unmittelbar zur Folge, dass jeder Bruch mit eben diesen Konventionen als Abweichung, als Sonderfall charakterisiert und im selben Zuge dem Autoren- bzw. dem Avantgardekino zugeordnet wird.10 Sobald man aber das Aufbrechen der 7 8
9
10
Hayward, Susan: Key Concepts in Cinema Studies. London: Routledge 1999 [1985], S. 330. Bordwell, David: „Modelle der Rauminszenierung im zeitgenössischen europäischen Kino“, in: Andreas Rost (Hg.): Zeit, Schnitt, Raum. Frankfurt/M.: Verlag der Autoren 1997, S. 17-42, hier S. 17. Kappelhoff, Hermann: „Der Bildraum des Kinos. Modulationen einer ästhetischen Erfahrungsform“, in: Gertrud Koch (Hg.): Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume. Berlin: Vorwerk 2005, S. 138-149, hier S. 138. So spricht auch David Bordwell in Zusammenhang mit seiner Analyse einer ‚planimetrischen‘ Bildgestaltung im europäischen Autorenkino von einem ‚Kunstkino‘ bzw. einem ‚Kino der Moderne‘, das „den Akzent auf 111
DER FILMISCHE RAUM
Raumordnung lediglich als Sonderfall begreift, wird es aus der Diskussion ausgeblendet, oder präziser gefasst: wird der Einfluss, den diese Beobachtung für die Konzeption und Weiterentwicklung des filmischen Raums selbst haben kann, schlichtweg unterschlagen. Eine derartige Verkürzung erweist sich jedoch – wie Kappelhoff zu Recht anführt – gerade insofern als problematisch, als auf diese Weise das „semantische Potential [...], das in den differierenden Raumkonstruktionen selber liegt, [...] weitgehend außer acht“11 gelassen wird. Eine zweite Stufe der Auseinandersetzung findet sich in Arbeiten, die sich dezidiert mit Raumfragen beschäftigen, wobei sich diese zwei unterschiedlichen Gruppen zuordnen lassen: einerseits dem Themenbereich ‚Raum im Film‘, und andererseits dem Themenbereich ‚Filmarchitektur‘. Unter der ersten Perspektive ‚Raum im Film‘ wird der Raum als inhaltliche Kategorie, das heißt als Teil der mise en scène verstanden, wodurch Fragen der Ausstattung, der Lichtsetzung und der Kameraführung ebenso entscheidend werden wie die Dramaturgie, die Wahl und die Darstellungsweise des jeweiligen Raumausschnitts. Dies hat zur Folge, dass sich die Arbeiten im Wesentlichen auf die Analyse des jeweiligen Settings und der damit verbundenen Charakterisierung der einzelnen Figuren konzentrieren, wodurch Aussagen über die besondere Beschaffenheit und mediale Spezifik des filmischen Raums weitgehend ausbleiben.12 Wird ein explizit raumtheoretischer Fokus eingenommen, so gründet dieser zumeist auf dem Herausgreifen bestimmter Raumbegriffe bzw. gesamter Raumkonzepte – man denke etwa an die Konzepte von Henri Lefèbvre und David Harvey –, die unmittelbar auf den Film übertragen werden,
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die Künstlichkeit, das Konstruierte des Bildes“ richtet, um auf diese Weise das „Bild als Bild wahrzunehmen.“ Bordwell 1997, S. 28. Kappelhoff 2005, S. 139. Eben diese von Kappelhoff kritisierte Position findet sich bei Susan Hayward, welche die Abweichungen und Brüche mit der filmischen Kontinuität explizit als Sonderform des Kunstkinos herausstellt: „Art cinema has disrupted this notion of temporal and spatial continuity through, for example, jump cuts, unmatched shots, flashforwards, looping images and so on“. Hayward 1999 [1985], S. 331. Wenngleich der Sammelband von Dürr/Steinlein (2002) rein begrifflich auf eine derartige Perspektive verweist, so geht ein Großteil der Artikel doch darüber hinaus, indem die Wechselwirkungen zwischen Realem und Fiktivem, zwischen Raumkulturen und Kulturen des Raums, in den Blick genommen werden. Demgegenüber stehen Arbeiten, wie etwa Holger Majchrzaks Analyse urbaner Räume im Film, die eine reine Auflistung und empirische Auswertung bestimmter Raumbilder der Großstadt nehmen; vgl. Holger Majchrzak: Von Metropolis bis Manhattan. Inhaltsanalysen zur Großstadtdarstellung im Film. Bochum: Brockmeyer 1989. 112
EINFÜHRUNG
ohne jedoch das Potenzial, das sie für die grundlegende Konzeption des filmischen Raums haben können, hinreichend zu reflektieren.13 Unter der zweiten Perspektive der ‚Filmarchitektur‘ werden hingegen diejenigen Arbeiten gefasst, die sich der architektonischen Gestaltung filmischer Räume im Speziellen widmen, wobei insbesondere visionäre Architekturen im Zentrum des Interesses stehen. In diesem Bereich geht es weniger bzw. nur in zweiter Konsequenz um die dramaturgische Funktion von Räumen im Film, sondern zuallererst um deren konkrete, realräumliche Konstruktion, um Fragen des Production Designs und der Art Direction, des Modellbaus und der Ausstattung.14 Durch den Fokus auf architektonische Visionen im Film ergibt sich zugleich die Auswahl der einzelnen Filme, indem hier vorrangig singuläre, herausragende Beispiele angeführt werden, die in Bezug auf die filmische Raumkonstruktion als neuartig, einzigartig und innovativ gelten können.15 Eine Besonderheit der Publikationen zur Filmarchitektur ist es dabei, die einzelnen Filme in eine Art Architekturgeschichte des Films einzugliedern, welche im Verlauf des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Phasen durchläuft und entweder als bildliches Zeugnis der gebauten Umwelt und ihrer Transformationen dient oder aber als deren Kehrseite, als deren potenzielles Umschlagen antizipiert und visualisiert wird. Dabei sind es immer wieder ähnliche Filme, die im Zentrum der Betrachtungen stehen und die auf diese Weise einen regelrechten Kanon der großen Architektur-Filme des 20. Jahrhunderts herausbilden.16 13
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Für eine derartige Perspektive kann Ellen Risholms Artikel zu Raumpraktiken in Murnaus NOSFERATU herangezogen werden, wobei anzumerken ist, dass Risholm die raumtheoretischen Ansätze Lefèbvres und Harveys gerade dazu in Anspruch nimmt, um die sozialen Dimensionen des filmischen Raums gegenüber einem vorwiegend „formalistischen Analyseraster“ herauszuarbeiten; vgl. Ellen Risholm: „Film, Raum, Figur. Raumpraktiken in F. W. Murnaus Film Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“, in: Lange 2001, S. 265-288, hier S. 268f. Vgl. die bildreiche Zusammenstellung des Schaffens einflussreicher Production Designer wie etwa Ken Adam, Dante Ferretti und Ben van Os in: Ettedgui, Peter: Filmkünste. Produktionsdesign. Reinbek: Rowohlt 2000. Vgl. hierzu etwa die umfassende Auflistung der „Filme von außergewöhnlicher Ausstattung“ in Helmut Weihsmanns Monographie Gebaute Illusionen. Architektur im Film. Wien: Promedia 1988, S. 23ff. Den Auftakt bilden zumeist die Filme des Weimarer Kinos, wobei hier zwei Linien unterschieden werden: erstens die Linie des expressionistischen Films wie etwa die richtungweisenden Beispiele DAS CABINET DES DR. CALIGARI (Wiene, 1920) und DR. MABUSE, DER SPIELER (Lang, 1922), und zweitens die Linie des Weimarer Straßenfilms bzw. der Neuen Sachlichkeit wie DIE STRASSE (Grune, 1923) und DIE FREUDLOSE 113
DER FILMISCHE RAUM
Die durchgängige Linie, die sich in den Arbeiten zur Filmarchitektur festmachen lässt, ist die Frage nach Utopie oder Dystopie, das heißt nach positiver oder negativer Projektion architektonischer Tendenzen im Film. Damit beinhalten diese Arbeiten stets zugleich Aussagen über das Potenzial des Films, eben diese Utopien und Dystopien zu kreieren, was sich nicht zuletzt an den zentralen Publikationen zur filmischen und architektonischen Avantgarde der zwanziger Jahre festmachen lässt, die wiederholt die Untrennbarkeit und das Ineinandergreifen beider Bereiche postulieren.17 Letztendlich werden jedoch auch diese Aussagen vor dem Horizont architektonischer Fragestellungen der gebauten Umwelt, und erst in zweiter Konsequenz nach ihren filmischen Wirkungen, getroffen. Hinsichtlich der Auswahl der Filme und der damit verknüpften Fragestellungen differieren die Perspektiven zum ‚Raum im Film‘ und zur ‚Filmarchitektur‘ folglich auf deutliche Weise. Was sie jedoch verbindet, ist das Raumkonzept, das beiden Betrachtungen zugrunde liegt. Denn einerseits basiert ihr Raumbegriff vielmehr auf der Vorstellung filmischer Orte als auf einem übergreifenden filmischen Raum. Andererseits, und eng damit verbunden, fungieren diese filmischen Orte im Film selbst oftmals als Solitäre, wodurch sie weniger auf einen relationalen Raum als vielmehr auf einen absoluten Raum verweisen, der in seiner Singularität absolut gesetzt wird. Die euklidische Raumlogik, die damit unmittelbar unterlegt wird, wirkt jedoch hinsichtlich der Betrachtungen des filmischen Raums als verkürzend und hat zur Folge, dass die filmische Raumkonstruktion immer nur innerhalb dieses Rahmens erfasst werden kann. Anders formuliert: Der filmische Raum wird unter dieser Perspektive immer nur bis an die Grenzen des euklidischen Raums reichen, nicht jedoch darüber hinaus, denn Grenzüberschreitungen und Brüche werden lediglich als ‚Abweichungen‘ und ‚Normbrüche‘ klassifiziert.
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GASSE (Pabst, 1925). Als Solitär steht zumeist der Film METROPOLIS (Lang, 1927) da, der aufgrund seiner visionären Architektur das vielleicht einflussreichste Beispiel in diesem Bereich darstellt. In der Nachkriegszeit sind es insbesondere Filme der architektonischen Modernisierungswelle der fünfziger und sechziger Jahre, wie etwa die Jacques-Tati-Filme MON ONCLE (1958) und PLAYTIME (1967), die immer wieder angeführt werden, während die großen filmischen Visionen 2001. ODYSSEE IM WELTRAUM (Kubrick, 1968) und BLADE RUNNER (Scott, 1982) bis heute einen großen Einfluss auf die Filmästhetik ausüben; zu einer guten Zusammenstellung der Filme vgl. Dietrich Neumann (Hg.): Filmarchitektur. Von Metropolis bis Blade Runner. München/New York: Prestel 1996. Auf die Verschränkung zwischen den Visionen des Neuen Bauens und dem Medium Film verweist insbesondere: Weihsmann, Helmut: Cinecture. Film – Architektur – Moderne. Wien: PVS Verleger 1995. 114
EINFÜHRUNG
Eine derartige Sichtweise auf den filmischen Raum verfehlt jedoch, so die zentrale These dieser Arbeit, das spezifische Potenzial des Films, das gerade darin besteht, eine grundsätzlich andere, topologische Form von Räumlichkeit zu produzieren. Dieser Perspektivwechsel ist entscheidend; und so wird es auch in den folgenden Ausführungen zum filmischen Raum stets darum gehen, die topologischen Aspekte der Raumkonstruktion herauszuarbeiten, um auf dieser Grundlage zu einem erweiterten und komplexeren Verständnis des filmischen Raums zu gelangen. Dabei flankieren die drei raumtheoretischen Zugriffe, die im ersten Kapitel eingeführt wurden, die drei Prämissen zum filmischen Raum und dienen dazu, die einzelnen (filmtheoretischen) Fragestellungen weiter zuzuspitzen bzw. auf eine breitere raumtheoretische Basis zu stellen. Die Prämisse des filmischen Raums als medialem Raum nimmt den Gedanken unterschiedlicher Raumdimensionen und damit die Vorstellung unterschiedlicher ‚Ordnungen‘ des Raums zum Ausgangspunkt, um die Dimensionen des dispositiven Raums, des medialen Raums und des modalen Raums zu differenzieren. Vor allem dem Ineinandergreifen von medialer und modaler Raumordnung soll dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, insofern sich über deren Zusammenhang zentrale Grundfragen der filmischen Raumkonstruktion wie etwa die Verhältnisse von Onscreen und Offscreen, von cadre und cache noch einmal neu bewerten und neu einordnen lassen. Eine Leitfrage bildet dabei stets das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des medialen Raums. Denn dieser wird immer dann sichtbar, wenn topologische Formen der Raumkonstruktion in den Vordergrund treten, wenn also Raum-ZeitKontinua durchbrochen, das Paradoxe und das Widersprüchliche, kurz: das den euklidischen Raum Entgrenzende im Film selbst hervortritt. Im zweiten Teilkapitel wird die Frage nach den Schnittstellen zwischen modalem und medialem Raum weiter entfaltet und auf die Prämisse des filmischen Raums als konstruiertem Raum bezogen. Ausgangspunkt bildet die raumtheoretische Frage nach der Ort-Raum-Differenz, die im Bereich des Films insbesondere durch Gardies entwickelt wird. Diese Perspektive erweist sich insofern als fruchtbar, als sie die Möglichkeit bietet, einerseits die wechselseitigen Einschreibungen des Modalen und des Medialen sowohl auf der Ebene der filmischen Orte als auch auf der Ebene des filmischen Raums herauszuarbeiten. Andererseits wird es über diese Fragestellung möglich, ein umfassenderes Konzept des filmischen Raums zu entwickeln, das deutlich über die Betrachtung einzelner filmischer Orte hinausgeht. Indem der filmische Raum bei Gardies als Synthese einzelner, miteinander in Kontakt tretender filmischer Orte aufgefasst wird, rücken zugleich die spezifischen Relationen in den Vordergrund – die inneren Relationen (zwischen den einzelnen filmischen
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DER FILMISCHE RAUM
Orten) und die äußeren Relationen (zwischen den filmischen Orten und dem filmischen Raum). Dennoch sollen die in diesem Teilkapitel entwickelten Thesen nicht bei Gardies’ Konzept des filmischen Raums stehen bleiben, sondern anhand der raumtheoretischen Positionen bzw. der zentralen Begriffspaare von Lage/Gestalt, Begrenzung/Ausdehnung, Statik/Bewegung und Relativem/Absolutem weiter ausgearbeitet werden, um sie in einem letzten Schritt in Bezug auf das Verhältnis von Ensemble, Ganzem und relationaler Translationsbewegung bei Gilles Deleuze zu diskutieren. Im zweiten Teilkapitel werden demnach nicht allein die Positionen der Ort-Raum-Differenz aufgegriffen, sondern zugleich hinsichtlich des Faktors der Relation weiterentwickelt. Eine derartige doppelte Bezugnahme auf die raumtheoretischen Ausführungen des ersten Kapitels steht auch im dritten Teilkapitel im Mittelpunkt: In einem ersten Schritt wird die Prämisse des filmischen Raums als bewegtem Raum auf das komplexe Verhältnis von Raum und Bewegung in ihrer grundlegenden Dynamisierung bezogen, wobei insbesondere anhand der russischen und der französischen Filmtheorie der zwanziger und dreißiger Jahre aufgezeigt werden soll, in welch hohem Maße der Aspekt der Bewegung zum zentralen, entscheidenden Merkmal der Definition des Films überhaupt erhoben und dadurch die grundsätzliche Untrennbarkeit von Medium und Bewegung postuliert wird. In einem zweiten Schritt, und darauf aufbauend, wird es um die Verdichtung und Wendung des Faktors der Bewegung in Richtung der Transformation in den Kinobüchern von Gilles Deleuze L’image-mouvement (1983) und L’image-temps (1985) gehen, wobei der Aspekt der Bewegung innerhalb der Entwicklung des (modernen) Films immer stärker als Transformationspotenzial inkraft tritt, wie anhand der Diskussion von Deleuzes Raumbegriff im Spannungsfeld zwischen hodologischem Raum (des Aktionsbildes) und beliebigem Raum (des Zeit-Bildes) entfaltet wird. Diese Linien aufgreifend, wird im vierten Teilkapitel nun eine Definition des filmischen Raums unter relationaler und topologischer Perspektive vorgeschlagen, welche die Grunddifferenz zwischen der Topographie und der Topologie wieder aufgreift, um sie in Richtung der Produktion filmischer Räumlichkeit zu spezifizieren. Auf der Ebene der filmischen Topographie richtet sich der Blick dabei vornehmlich auf den Ist-Zustand des filmischen Raums bzw. der filmischen Orte und referiert damit auf genau diejenigen Facetten der filmischen Raumkonstruktion, die den filmischen Raum als das unmittelbar Sichtbare begreifen, das sich in den Film einschreibt. Auf der Ebene der filmischen Topologie liegt der Fokus hingegen auf dem Transformations-Prozess des Films selbst, der sich aus den komplexen räumlichen Überlagerungen, Paradoxien und Spannungsverhältnissen speist, wodurch die Topologie für
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EINFÜHRUNG
genau diejenigen Facetten der Raumkonstruktion steht, die jenseits des unmittelbar Sichtbaren liegen. Damit verweist die Ebene der filmischen Topologie zugleich auf das Potenzial des Films, nicht allein genuin bewegte, relationale Räume zu konfigurieren, die unmittelbar auf die mediale Ebene des Films verweisen, sondern darüber hinaus eine Form des filmischen Denkens in die Raumkonstruktion einzuführen, die sich mittels abstrakter, reflexiver Figuren in den filmischen Raum einschreibt. Die Dimensionalität, die Konstruktivität und die Bewegtheit des filmischen Raums, die hier als drei Facetten der filmischen Raumkonstruktion eingeführt werden, bilden in ihrem Zusammenschluss mit den dargelegten Diskussionslinien der Raumdimensionen, der Ort-Raum-Differenz und des Verhältnisses von Raum und Bewegung drei notwendige Etappen auf dem Weg zu einer Definition des filmischen Raums. Denn in ihnen hat insofern das räumliche Referenzsystem gewechselt, als sie ihre Aussagen an einem Punkt ansetzen, der im ersten Kapitel noch den Zielpunkt der raumtheoretischen Herleitungen bildete. Auf diese Weise sind sie von Beginn an von denjenigen Faktoren durchdrungen, die als Motor des Blickwechsels eingeführt wurden: die Relation und die Transformation, die nun gemeinsam als Figuren eines Übergangs wirksam werden; eines Übergangs von einem statischen, euklidischen Raumverständnis hin zu einem bewegten, transformativen Raumdenken, das im innersten Kern der Konstruktion filmischer Räumlichkeit begründet liegt. Es ist folglich ein doppelter Übersetzungsprozess, der in Bezug auf dieses zweite Kapitel in Anschlag gebracht wird: Auf den ersten Blick handelt es sich um eine klare Parallelführung der drei Raumfragen, die von einem schrittweisen Einflechten relationaler und topologischer Perspektiven flankiert werden, um zuletzt zielgerichtet auf die Definition des filmischen Raums im Spannungsfeld zwischen filmischer Topographie und filmischer Topologie zuzulaufen. Dennoch, und dies zeigt sich auf den zweiten Blick, wird in diesem Kapitel zugleich ein rückläufiger Prozess in Gang gesetzt, welcher die Endpunkte der Raumdiskussion des ersten Kapitels – mithin jenen signifikanten Raumwechsel – unmittelbar in die Prämissen zum filmischen Raum einfließen lässt. Insofern greifen die einzelnen Kapitel zunächst die Argumentationsstruktur der raumtheoretischen Abhandlungen auf – sie tun dies jedoch bereits im Durchgang durch die dort erarbeiteten Thesen. Erst vor diesem Hintergrund wird es möglich, jenen Grenzbereich des Räumlichen zu ergründen bzw. danach zu fragen, welche (topologischen) Raumformen denkbar werden, sobald man sich von einem Substanzdenken des Raums verabschiedet hat, um im Gegenzug die komplexen Überlagerungsstrukturen der filmischen Topologien und ihrer Verzweigungen in den Blick zu nehmen.
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Dispositiver, medialer und modaler Raum Der Film bildet seine eigenen, medial spezifischen Konstruktionsmöglichkeiten des Raums heraus. Dies bedeutet, dass der filmische Raum – im Vergleich etwa zum literarischen, zum malerischen oder auch zum poetischen Raum – immer schon und notwendigerweise eine andere Art von Räumlichkeit generiert. Dies ist die Ebene, die mediale Ebene, die an dieser Stelle herausgearbeitet werden soll. Ein derartiges Unterfangen erweist sich jedoch insofern als schwierig, als der mediale Raum ein unsichtbarer, abstrakter Raum ist, der zumeist durch zwei andere dominante Räume des Films überdeckt wird, die im Rezeptionsprozess auf unmittelbare, konkrete Weise erfahrbar werden: erstens durch den Kinoraum in seiner dispositiven Anordnung und zweitens durch die unterschiedlichen Räume, die auf der Leinwand zur Darstellung gebracht werden. Eine Differenzierung dieser drei unterschiedlichen Arten von Räumen ist keineswegs leicht zu treffen, da alle drei Ebenen innerhalb der filmischen Raumproduktion untrennbar ineinandergreifen. Dennoch soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, diese drei unterschiedlichen Ebenen als Dimensionen und damit als drei ‚Sinnordnungen‘ des filmischen Raums zu erfassen und ihre Übergänge auszuloten. Ersten Aufschluss über das Ineinandergreifen der Ebenen der filmischen Raumproduktion kann Eric Rohmers berühmte Filmanalyse mit dem Titel Murnaus Faustfilm (1977) geben, die insofern einen Bogen zu den in der Einleitung aufgeworfenen Fragen spannt, als sie den filmischen Raum dezidiert im Rahmen einer Mediendifferenz verhandelt.18 So differenziert Rohmer zunächst den Raumbegriff des Films in drei unterschiedliche Richtungen: An erster Stelle steht der Bildraum als das „auf das Rechteck der Leinwand projizierte Filmbild, wie flüchtig oder beweglich es auch ist“19, wohingegen dem Architekturraum, der sich sowohl aus natürlichen als auch aus künstlichen ‚Teilen von Welt‘ speist, eine „objektive Existenz, die selbst Gegenstand eines ästhetischen Urteils sein kann“20, aneignet. Im Filmraum als dritter Raumform steht dem 18
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Genau hierin trifft sich die Raumdifferenzierung Rohmers mit den frühen Positionen zum filmischen Raum, welche zumeist die Fotografie als Referenzpunkt auszeichnen; vgl. etwa die Parallelisierung von Fotografie und Film in Siegfried Kracauers Theorie des Films, in welcher er die ‚besondere Natur des fotografischen Films‘ ergründen möchte; vgl. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 [1960], S. 55-69 und S. 95-112. Rohmer, Eric: Murnaus Faustfilm. Analyse und szenisches Protokoll. München: Carl Hanser 1980 [1977], S. 10. Ebd. 118
DISPOSITIVER, MEDIALER UND MODALER RAUM
Zuschauer nun in Differenz zum Bildraum und zum Architekturraum „nicht die Illusion des wirklich gefilmten, sondern die eines virtuellen Raums“21 gegenüber, den er „mit Hilfe der fragmentarischen Einzelteile, die der Film ihm liefert, in seiner Vorstellung zusammensetzt.“22 Mit diesen drei Ebenen des Bildraums, des Architekturraums und des Filmraums greifen jedoch nicht allein drei spezifische Raumordnungen des Films ineinander, sondern zugleich drei mediale Ordnungen, wobei im ersten Fall die Fotografie, im zweiten Fall die Architektur und im dritten Fall der Film selbst in Form der ‚eigentlichen Inszenierung und Montage‘ das zentrale Modell bilden. Dennoch geht es Rohmer in diesem Zusammenhang keineswegs um einen einfachen Medienvergleich, sondern, wie er am Beispiel des Bildraums präzise nachzeichnet, um komplexere Beziehungen, die aus dem vielschichtigen Wechselspiel des Films mit anderen Künsten resultieren. So ist Murnaus FAUST (1926) zutiefst von den Bildkompositionen der Maler des 17. Jahrhunderts durchdrungen, was sich in der Lichtsetzung, im Umgang mit der Zeichnung und in der Ausführung der Form zeigt. Dennoch soll „der Vergleich zwischen seinem Werk und dem bestimmter Maler [...] kein Ziel sein, sondern ein Mittel, um jene Kraft nachzuweisen, die man bei kaum einem anderen Filmer findet, [...] und die wir die Kraft der ‚Zeichnung‘ nennen.“23 Der Bildraum in Murnaus FAUST entsteht somit aus dem Zusammenspiel von (bewegter) Fotografie, Malerei und Grafik, was einerseits verdeutlicht, in welch hohem Maße der Abgleich mit anderen Künsten Rohmer dazu dient, die spezifische ‚Kraft‘ Murnaus zu beschreiben, die er grundsätzlich jenseits des Films angesiedelt sieht bzw. die sich einer Beschreibung mit genuin filmischen Mitteln zunächst zu entziehen scheint. Andererseits, und eng an diese Aussage anschließend, wird hier jedoch auch deutlich, inwieweit der Film selbst als eine Raumform begriffen wird, die das Potenzial hat, unterschiedliche mediale Raumordnungen miteinander zu kombinieren und zu einer Synthese zu bringen.24 Die Ebenen der filmischen Raumproduktion lassen sich jedoch nicht allein in Abgleich mit anderen medialen Raumformen entwickeln, sondern ebenso aus den spezifischen Raumlogiken des Films selbst heraus. Im Folgenden wird es vor allem darum gehen, diese zweite Perspektive weiter zu verfolgen und sie in ihren unterschiedlichen Facetten durchzuspielen. Denn ein zentrales Ziel dieses Buchs ist es, die spezifische Form 21 22 23 24
Rohmer 1980 [1977], S. 10. Ebd. Ebd., S. 20. Vgl. hierzu auch die viel zitierten Aussagen in Ricciotto Canudos Manifest zum Film als ‚siebente Kunst‘; Canudo, Ricciotto: L’usine aux images. Hg. v. Jean-Paul Morel. Paris: Séguier 1995 [1927]. 119
DER FILMISCHE RAUM
von Räumlichkeit, die der Film produziert und die dem Film innewohnt, als eigenständige und spezifische Raumform zu denken; als eine Raumform, die nicht allein in Abgleich zu anderen medialen Raumformen existiert, sondern die ihre je eigenen Konstruktionslogiken und damit zugleich ein eigenes, spezifisch filmisches Raumdenken generiert. Um diese Perspektive näher zu konturieren, lassen sich die Aussagen von Joachim Paech zum filmischen Raum heranziehen, der in seinem Beitrag zum Sammelband Onscreen/Offscreen (2000) eine sehr fruchtbare Differenzierung vorgelegt hat, indem er die drei Ebenen des dispositiven Raums, des medialen Raums und des modalen Raums unterscheidet. Dabei konzentrieren sich seine Raumbetrachtungen vornehmlich auf die Schnittstellen zwischen dem modalen und dem medialen Raum, während der dispositive Raum lediglich als implizite Folie der Abgrenzung und zugleich als räumliche Rahmung der beiden anderen Ebenen dient. In diesem Teilkapitel wird es primär darum gehen, das komplexe Zusammenspiel aller drei Ebenen auszuloten und mehr noch, sie als drei Kategorien zu fassen, in denen sich das relationale und topologische Moment des filmischen Raums auf einer grundlegenden Ebene realisiert. Den Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels bildet gemäß der zuvor angeführten Prämisse des filmischen Raums als medialem Raum die Hervorbringung der medialen Raumebene des Films. Denn diese wird, wie auch der filmischen Raum allgemein, in den einschlägigen Arbeiten zumeist als implizite Kategorie verstanden und nicht explizit thematisiert, was vor allem vor dem Hintergrund zu betrachten ist, dass der mediale Raum in gewisser Weise die einfachste, unhinterfragteste Kategorie bildet, wird doch zumeist das Verständnis bzw. die Übereinkunft über die grundlegenden medialen Eigenschaften des Films vorausgesetzt. Der mediale Raum bezeichnet zugleich aber auch die komplexeste Kategorie innerhalb des Zusammenspiels von dispositivem, medialem und modalem Raum. Denn der mediale Raum liegt zwischen ihnen und geht doch darüber hinaus; der mediale Raum lässt sich als ein Schlüssel begreifen, über den sich die Verhältnisse zum dispositiven Raum einerseits und zum modalen Raum andererseits differenzieren lassen. Er wird zu einem Motor, diese drei Ebenen nicht allein als drei übereinander liegende Schichten bzw. als getrennte Entitäten zu werten, sondern sie vielmehr in ihrer Komplexität und in ihrem dynamischen Zusammenspiel in der filmischen Raumproduktion zu begreifen. So wird es in diesem Teilkapitel nicht allein um Fragen der äußeren Differenzierung und Abgrenzung der einzelnen Raumebenen untereinander, sondern insbesondere um die innere Differenzierung und Auffächerung der drei Raumlogiken des filmischen Raums, mithin um das Transformationspotenzial selbst gehen, das in diesen drei Raumdimensionen begründet liegt.
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DISPOSITIVER, MEDIALER UND MODALER RAUM
Vom dispositiven Raum zur ‚boule spéculaire‘ Der dispositive Raum lässt sich als Grundlage der filmischen Raumproduktion begreifen, insofern das Dispositiv die räumliche (An)Ordnung im Kino, oder präziser: das Wechselverhältnis zwischen dem Kinoraum, dem Raum der Leinwand und der Positionierung des Zuschauers bezeichnet. Insbesondere in der Filmtheorie der siebziger Jahre finden sich zahlreiche Positionen, die sich mit eben dieser dispositiven Anordnung und ihren ideologischen Implikationen auseinandersetzen, was gemeinhin unter dem Begriff der Apparatus-Debatte gefasst wird.25 Dabei steht zumeist die Frage der Position des Zuschauers im Vordergrund26, welche im Rückgang auf die zentralperspektivische Bildkomposition der Malerei des Quattrocento als „Bezugspunkt eines konstruierten, homogenen und zentrierten Bildraumes, der die Tatsache, daß er ein Konstrukt ist, unter dem Mantel wissenschaftlicher ‚Richtigkeit‘ und subjektiver Evidenz verbirgt“27, ausgestellt wird. Indem der Apparatus darauf ausgerichtet ist, dass der „Zuschauer die Technik und die Vielzahl von Operationen, die die Abbildung überhaupt nur möglich machen, – vergißt“28, wird diesem, in Anlehnung an den Ideologiebegriff Louis Althussers29, eine zutiefst ideologische Funktion zugeschrieben, wie auch Hartmut Winkler in seiner einflussreichen Arbeit Der filmische Raum und der Zuschauer. Apparatus – Semantik – ‚Ideology‘ (1992) herausstellt: [W]enn das fertige Produkt den Blick auf den Produktionsprozeß verstellt, aus dem es hervorgeht, und wenn diese Verkennung einen ideologischen ‚surplus‘ zugunsten der bestehenden Verhältnisse bewirkt, dann muß auch dem Kino ein
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Den Anfangspunkt dieser Debatte markieren ein Interview von Marcelin Pleynet in der Zeitschrift Cinéthique sowie der ebenfalls in dieser Zeitschrift erschienene Aufsatz von Jean-Louis Baudry, der zugleich der Apparatus-Debatte ihren Namen geben wird; vgl. Pleynet, Marcel: „Économique, idéologique, formel ...“ in: Cinéthique, Nr. 3, 1969, S. 7-14; sowie Baudry, Jean-Louis: „Effets idéologiques produits par l’appareil de base“, in: Cinéthique, Nr. 7/8, 1970, S. 1-8. Zur Auseinandersetzung mit der Frage der Position im Spannungsfeld zu perspektivischen (James J. Gibson) und gestalttheoretischen Raumtheorien (Rudolf Arnheim) vgl. Bordwell, David: „Narration and Space“, in: ders: Narration in the Fiction Film. Madison: University of Wisconsin Press 1985, S. 99-146, hier insbes. S. 100-104. Winkler 1992, S. 23. Ebd. Winkler hebt in diesem Zusammenhang insbesondere Althussers Text Ideologie und ideologische Staatsapparate (1970) als „verbindliche[n] Hintergrund der Apparatusdebatte“ (ebd., S. 62) hervor. 121
DER FILMISCHE RAUM
ideologischer Effekt, und der Verleugnung der filmischen Technik ein strategischer Ort innerhalb der Gesamtanordnung zugewiesen werden.30
Problematisch an den Positionen der Apparatus-Debatte ist laut Winkler nun, dass der filmische Raum „als starr und unflexibel, vor allem aber als partikular“31 gekennzeichnet und dadurch einer Reihe von Verkürzungen unterworfen wird. Demgegenüber richtet er seinen Blick auf das symbolische System des Films, welches er als einen Code bezeichnet, der „zwischen der filmischen Technik und der Ebene der Inhalte“32 situiert ist und dessen Spezifikum darin besteht, „daß er sich unsichtbar macht.“33 Winkler geht es folglich um eine Weiterentwicklung des Dispositivbegriffs, indem er ihn in ein enges Zusammenspiel von Medium, filmischer Technik und symbolischem System überführt34, wodurch er der Komplexität der filmischen Raumproduktion Rechnung trägt. In seinen Betrachtungen zum Dispositiv als ‚Theorie medialer Topik‘ setzt auch Joachim Paech bei den Positionen der Apparatus-Debatte an, deren Zielrichtung insbesondere darin liegt, von der „Ebene der Produkte (Film als ‚Inhalt, das Feld des Signifikanten‘) zur Struktur ihrer apparativen Produktion“35 überzugehen. Zweck dieser apparativen Struktur des Kinos ist es nun, wie Paech in Rekurs auf die berühmte Position JeanLouis Baudrys ausführt, einen ‚Realitätseindruck‘ herzustellen, der allein durch eine bestimmte topische Anordnung zu erzielen ist: Damit der entscheidende Realitätseindruck beim Zuschauer entstehen kann, ordnet das Dispositiv (hier die Höhle des Kinos) seine Elemente – das sind die Apparate, ein definierter Raum und ein Spiegel der Leinwand – auf eine bestimmte Weise an, so daß deren Disposition rekonstruiert werden kann.36
Beim Dispositiv handelt es sich folglich um eine „metaphorische Beziehung zwischen Orten, oder um eine Beziehung zwischen metaphorischen Orten, um eine Topik“37, die jedoch nur unter zwei Voraussetzungen ent-
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36 37
Winkler 1992, S. 23. Ebd., S. 225. Ebd., S. 226. Ebd. Vgl. ebd., S. 13f. Paech, Joachim: „Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik“, in: ders.: Der Bewegung einer Linie folgen. Schriften zum Film. Berlin: Vorwerk 2002, S. 85-111, hier S. 86. Ebd., S. 91. Baudry, Jean-Louis: „Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“, in: Psyche, Vol. 48, Nr. II, 1994 [1975], S. 10471074, hier S. 1048. 122
DISPOSITIVER, MEDIALER UND MODALER RAUM
stehen kann: erstens durch die Unbeweglichkeit des Zuschauers und, darauf aufbauend, zweitens durch die Nähe des Films zum Traum bzw. zu einer traumähnlichen rezeptiven Haltung des Zuschauers, durch die der ‚Realitätseindruck‘ überhaupt erst erzeugt werden kann.38 Die Theorie medialer Topik, die Paech in Hinblick auf den Begriff des Dispositivs entwickelt, geht jedoch nicht vollständig in den Apparatus-Theorien auf, sondern basiert grundlegend auf der terminologischen Trias von dispositiv, disposition und dispositio. Insbesondere der Begriff der dispositio, welchen er der klassischen Rhetorik entlehnt, dient Paech dazu, zwei grundlegende Bedeutungsebenen des Dispositivs zu entfalten: Einerseits bezeichnet die dispositio die „zweckmäßige Anordnung des Stoffs und der Teile einer Rede im parteiischen Interesse“39, die in dieser Hinsicht nicht allein auf eine ‚Ordnung der Dinge‘ verweist, sondern darüber hinaus als ‚Figur ihrer Ordnung‘ inkraft tritt. Andererseits wird in ihr jedoch auch der weitreichende Abstand zwischen Ausdruck und Verstehen erkennbar bzw. wird sie zu einem „Inbegriff der Schwierigkeiten, die im Umgang mit der intentionalen Rede auftreten und auf einer anderen als der diskursiven Ebene gelöst werden wollen.“40 Auf der Grundlage dieser doppelten Bezugnahme gelangt Paech zu einem mehrschichtigen Dispositivbegriff, denn das Dispositiv ist auf seiner ersten Bedeutungsebene „die (topische) Ordnung, in der (z. B. audiovisuelle) Diskurse ihre Effekte (z. B. den Realitätseindruck) erzielen.“41 Auf einer zweiten Bedeutungsebene, und hier überkreuzen sich der dispositive und der mediale Raum, kommt nun der angesprochene Abstand zwischen Ausdruck und Verstehen zum Tragen. Denn die Reflexion der „Ebene intentionaler Diskursivität und ihrer Anordnungen“ setzt laut Paech erst zu dem Zeitpunkt ein, „in dem das Dispositiv problematisch wird, nicht mehr bruchlos funktioniert oder mißlingt.“42 So kann auch die Ergründung des Dispositivs als medialer Topik in der Auseinandersetzung mit dem Apparatus nicht vollständig gelöst werden. Im Gegenteil: „Sie muss vielmehr an der Wahrnehmung des Bruchs medialen Gelingens ansetzen, dort, wo nicht nur affirmative Kritik, sondern der Diskurs des medialen Paradigmenwechsels laut wird.“43 38
39 40 41 42 43
Zum Verhältnis zwischen Traum und Kino vgl. Metz, Chrisitian: „Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung“, in: Psyche, Vol. 48, Nr II, 1994 [1975], S. 1004-1046. Ueding, Gert: Einführung in die Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart: Metzler 1976, S. 206f. Paech 2002, S. 99. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 102. 123
DER FILMISCHE RAUM
Dieser Punkt ist entscheidend, verweist er doch auf zwei Faktoren, die auch für die folgenden Ausführungen unerlässlich sind: Erstens wird sowohl in Winklers als auch in Paechs Positionen zum Dispositiv die untrennbare Verschränkung dispositiver, medialer und modaler Prozesse postuliert, wenngleich sie jeweils andere Begrifflichkeiten für diese drei Raumordnungen entwickeln. Zweitens geht es beiden um die Brüche des Dispositivs, um das Durchscheinen des Medialen, das nicht allein in seiner ideologischen Inanspruchnahme bzw. Instrumentalisierung, sondern vielmehr in seinen spezifischen Potenzialen entwickelt wird. Während also Winkler und Paech eine deutliche Erweiterung der Dispositiv- und Apparatus-Theorien anregen, setzt André Gardies an einem anderen Punkt an, indem er zunächst der räumlich-materiellen Dimension des Dispositivs seine Aufmerksamkeit widmet, weniger jedoch bzw. erst in zweiter Konsequenz seiner ideologischen Funktion. Denn Gardies begreift das Dispositiv Kino als eine Sukzession unterschiedlicher Raumformen, denen eine bestimmte, logische Abfolge eingeschrieben ist.44 Ziel dieser choreographierten Raumabfolge ist es nun, den Zuschauer schrittweise für die neuartige Raumerfahrung im Kino disponibel und empfänglich zu machen.45 Dieser schrittweise Prozess kommt jedoch, wie Gardies betont, einer Disziplinierung des Zuschauers gleich, denn es ist immer auch ein Akt der Gewalt bzw. der ‚transformation radicale‘ vom sozialen Wesen in das Zuschauer-Subjekt, das der imaginären Welt der Leinwand vollkommen untergeordnet wird: Par là se révèle la logique du dispositif spectaculaire. Elle consiste à travailler physiquement le sujet social afin de diminuer sa capacité de résistance, de le rendre plus malléable. Dans un premier temps, le hall et la salle structurent l’espace de façon à discipliner le corps puis, par l’isolement imposé, à le ramener au sentiment de son individualité. Dans un second temps, avec la vectorisation que met en place la projection, l’espace introduit une relation duelle et hiérarchisée que subordonne le spectateur au dispositif.46
Den Zielpunkt dieser Transformation und Unterordnung bildet folglich der Raum der Leinwand selbst, der insofern für das Zuschauer-Subjekt schwer zu greifen ist, als er beständig zwischen Materiellem (matérialité 44
45
46
Paech kritisiert an diesem Zugang jedoch insbesondere, dass Gardies den filmischen Raum als reines Abstraktum, als eine „ahistorische, ideale dispositive Struktur“ (Paech 2002, S. 110) behandelt, wodurch ihm bestimmte historische Zuschreibungen entgehen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Joachim Paech zur disposition als „Anlage in einer psychologisierenden Ästhetik“ (ebd., S. 85); sowie in seiner weiteren Entfaltung; vgl. ebd., S. 101-105. Gardies 1993, S. 21. 124
DISPOSITIVER, MEDIALER UND MODALER RAUM
physique) und Imaginärem (réalité imaginaire) changiert. Im selben Zuge intensiviert sich die ‚transformation radicale‘ des Zuschauer-Subjekts auf Seiten der modalen Darstellung nun durch eine ‚mutation radicale‘47, wodurch der dispositive Raum eine doppelte Ausweitung erfährt: Denn auf der einen Seite umfasst er alle unterschiedlichen Teilräume der dispositiven Anordnung des Kinos, auf der anderen Seite beinhaltet er aber auch unterschiedliche Phasen der Transformation des Zuschauer-Subjekts sowie der modalen Darstellung selbst, die als notwendige Konsequenz eben dieser dispositiven Anordnung gefasst werden. Diese räumlichen Überlagerungen in ihren einzelnen Transformationsstufen ebenso wie die Überkreuzungen der Blickrichtungen bringen Gardies nun dazu, die Vorstellung des Dispositivs in die Vorstellung einer mehrdimensionalen Kugelform, einer ‚boule spéculaire‘, zu überführen. Die Neuartigkeit der Vorstellung einer ‚boule spéculaire‘ wird insbesondere dann greifbar, wenn man sie in Abgrenzung zu den Positionen der Apparatus-Debatte der siebziger Jahre betrachtet, die stets eine Lenkung bzw. die Eindimensionalität des Zuschauerblicks in den Vordergrund stellt, die wiederum grundsätzlich in den ideologischen Implikationen des Apparats begründet liegt.48 Demgegenüber ist die ‚boule spéculaire‘ gerade durch die Vorstellung der Mehrdimensionalität der Zuschauerblicke ebenso wie durch die Mehrdimensionalität der diegetischen Welt charakterisiert. Wie bereits in der räumlichen Form der Kugel angedeutet wird, besteht diese ‚boule speculaire‘ aus zwei Halbkugeln, die durch die Leinwand klar voneinander getrennt werden, folgend einem bestimmten, im Laufe der Kinogeschichte konventionalisierten ‚code originel‘. Dennoch zeigt Gardies anhand zahlreicher Beispiele auf – und in diesem Punkt verbinden sich wiederum die Positionen von Gardies, Paech und Winkler –, wie eben diese selbstverständliche Trennung der beiden Sphären durch neue Technologien einerseits und die Entwicklung spezifischer filmsprachlicher Mittel andererseits immer wieder herausgefordert, infrage gestellt oder gar durchbrochen wird: Transformations technologiques, montage ‚subjectif‘, mouvements d’appareil, tout se passe comme si l’institution cinématographique, contrainte d’instaurer le code, éprouvait dans le même temps le besoin de le contourner, de jouer avec lui, de l’assouplir.49
Mit dieser Perspektive auf den dispositiven Raum als ‚boule spéculaire‘ gelingt es Gardies, die vorherrschende Konzeption des Dispositivs als
47 48 49
Vgl. Gardies 1993, S. 24f. Vgl. Winkler 1992, insbes. S. 19-38. Gardies 1993, S. 33. 125
DER FILMISCHE RAUM
starrem, in ein strenges ideologisches Konzept eingefassten Raum aufzubrechen, wohingegen Paech sie in eine ‚mediale Topik‘ überführt, in der die Anordnung der einzelnen Räume einerseits auf eine bestimmte Ordnung verweist, andererseits jedoch erst durch den Abstand zwischen Ausdruck und Verstehen sichtbar wird. So verweisen beide Positionen auf zwei zentrale Punkte: erstens auf die grundlegende Dynamisierung der bisherigen Konzeption des dispositiven Raums, die sowohl als eine flexible Anordnung innerhalb einer medialen Topik als auch als eine ‚transformation radicale‘ des Zuschauer-Subjekts inkraft tritt, und zweitens auf das enge Bedingungsverhältnis zwischen dem dispositiven und dem medialen Raum, das letztendlich auf die Unhintergehbarkeit des Medialen innerhalb des Dispositivs abzielt. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des medialen Raums Begreift man das Dispositiv als eine ‚Theorie medialer Topik‘ und damit als eine medial spezifische Anordnung unterschiedlicher, ineinandergreifender Sinnordnungen des filmischen Raums, so lassen sich nun in einem zweiten Schritt die Ebenen des medialen und des modalen Raums differenzieren. Joachim Paech beschreibt den medialen Raum (den Bildraum der Leinwand) und den modalen Raum (den dargestellten filmischen Raum) als zwei sich ineinander spiegelnde Kontrastfolien, die allein aus ihrer Gegenüberstellung heraus entwickelt werden können. Der modale Raum wird bei Paech zunächst ganz allgemein „durch die Art und Weise des (thematischen, perspektivischen etc.) Erzählens bestimmt“50 und bezeichnet damit diejenigen Räume, die auf der Leinwand unmittelbar zur Darstellung gebracht werden. Dabei bewegt sich der modale Raum auf der Ebene des erzählten Raums, das heißt auf der Ebene des ‚imaginären Raums‘ der Narration, der „mit der und für die Aktion, die in ihm stattfindet, hergestellt wird.“51 Der mediale Raum bildet demgegenüber das „Medium oder die materiale Bedingung des Erzählens in verschiedenen Modalitäten.“52 Als übergreifender Raum steht er für die Bedingungen und Grundvoraussetzungen der modalen Raumkonstruktion und umfasst damit die Ebene des Erzählraums. Mehr noch: Dem medialen Raum kommt in diesem Verhältnis eine Schlüsselposition zu. Denn dadurch, dass er selbst das Medium für den modalen Raum bildet, ist er, wie Paech betont, der „tatsächliche Raum filmischer Einbildung und räumlicher Konstruktion filmischen Erzählens.“53 50 51 52 53
Paech 2000, S. 93. Ebd. Ebd. Ebd., S. 98. 126
DISPOSITIVER, MEDIALER UND MODALER RAUM
Diese ersten, einfachen Unterscheidungen sind für die Konzeption des filmischen Raums von entscheidender Bedeutung. Insbesondere der mediale Raum hat das Potenzial, zu einer grundsätzlichen Neuorientierung bzw. einer Perspektivverlagerung des filmischen Raums beizutragen. Denn von diesem ausgehend lassen sich eine Reihe von Leitdifferenzen entwickeln, die es ermöglichen, nicht allein die mediale und die modale Ebene der filmischen Raumproduktion zu präzisieren, sondern im selben Zuge die Schnittstellen zwischen beiden Räumen auszuloten. Die Diskussionslinien von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit des filmischen Raums bezeichnen zwei Aspekte, oder vielmehr: zwei Kristallisationspunkte der medialen und der modalen Raumordnung. Im selben Zuge lassen sich an ihnen Übergangsfiguren festmachen, die den filmischen Raum als ein bewegliches, modifizierbares Gebilde aus Raumstrukturen und Raumrelationen ausstellen. Die erste Leitdifferenz bildet das Begriffspaar von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des filmischen Raums. Hierbei handelt es sich um eine sehr grundlegende Fragestellung, die sich anhand der zu Beginn aufgeworfenen Frage nach der Mediendifferenz näher ausführen lässt. Denn während in den unterschiedlichen Medien, wie etwa in Literatur, Fotografie und Film, der modale Raum derselbe sein kann, so ist ihr medialer Raum grundsätzlich und per definitionem verschieden. Dies bedeutet, dass etwa ein und dieselbe Straße in einzelnen Medien auf jeweils unterschiedliche Weise zur Darstellung gebracht wird bzw. dass die medialen Bedingungen, die dieser Darstellung zugrunde liegen, jeweils vollkommen verschieden sind. Vergleichbar sind allein die Relationen zwischen dem Medialen und dem Modalen, die sich jedoch in jedem Medium wiederum auf andere Weise ausgestalten. Und so formuliert auch Paech: [W]eder die Seite Papier, noch die Malereileinwand, die Bühne oder die Kinoleinwand sind mit den Räumen identisch, die mit ihnen und durch sie dargestellt werden [...]; andererseits geben sie wesentliche Bedingungen vor, unter denen das Erzählen von und Aktionen in Räumen stattfinden kann, die immer auch die Modalitäten des Erzählens bestimmen.54
Der modale und der mediale Raum stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, denn ohne diese beiden Ebenen ist keine (mediale) Erzählung denkbar. Dennoch liegt diesem Wechselverhältnis immer schon eine hierarchische Struktur zugrunde, insofern der modale Raum die Eigenschaft besitzt, den medialen Raum unentwegt zu überlagern, ihn zu ‚modalisieren‘ und damit tendenziell unsichtbar zu machen.55 An
54 55
Paech 2000, S. 94f. Vgl. ebd., S. 94. 127
DER FILMISCHE RAUM
diesem Punkt kommt die Unterscheidung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erstmals zum Tragen, denn der modale Raum kann als der sichtbare Raum der filmischen Raumproduktion gelten, der mediale Raum hingegen als der unsichtbare, oder präziser gefasst: als der nur potenziell und punktuell sichtbare Raum, der jeglicher modalen Ausgestaltung zugrunde liegt. Damit ergibt sich eine erste Unterscheidung beider Räume in dem Auseinandertreten von Sichtbarkeit (des modalen Raums) und Unsichtbarkeit als potenzielle Sichtbarkeit (des medialen Raums). Modale und mediale Formen filmischer Räumlichkeit sind demnach in ein komplexes Wechselspiel aus Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eingespannt. Folgt man Paech, so lassen sich die Schnittpunkte zwischen beiden Ebenen insbesondere in den Figuren des Übergangs und damit in den „modalen Figuren, die im Zwischenraum zwischen den Szenen ‚figurieren‘“56, festmachen. Unterschiedliche Mechanismen der Transition, wie etwa Travellings, Ellipsen, Auslassungen und Überblendungen, haben folglich das Potenzial, zu Zonen des Übergangs zwischen dem Medialen und dem Modalen zu werden und auf diese Weise einen Zwischenraum zu modellieren, in dem zugleich unterschiedliche Mediendifferenzen verhandelt werden, wobei die Differenz von Fotografie und Film sicherlich die häufigste und eindrücklichste Figur darstellt: Im Übergang vom stehenden zum bewegten Bild auf derselben Leinwand wird die spezifische Interaktion medialer und modaler Konstruktion von Räumen filmischen Erzählens besonders deutlich: Während das stehende Bild noch als ‚Bild‘ im Rahmen seiner Begrenzung (als Medium ikonischer Darstellung) wahrgenommen wird, tritt im Bewegungsbild das ‚Bild‘ weitgehend hinter der Wahrnehmung von Bewegung zugunsten eines dominanten Handlungsraumes ‚Straße‘ zurück, der sich auch jenseits des ‚Bildes‘ unsichtbar (virtuell) fortsetzt.57
Dieser Gedanke lässt sich noch weiter zuspitzen, denn der Zwischenraum zwischen dem Modalen und dem Medialen bezeichnet laut Paech einen ‚paradoxen Ort‘, „der nie gleichzeitig als das eine und das andere wahrgenommen werden kann, sondern zwischen beiden Ebenen oszilliert, es sei denn, er wird selbst zur ‚Szene‘ modaler Darstellung ihrer medialen Bedingung.“58 Anders gefasst: An dem ‚paradoxen Ort‘ zwischen Medialem und Modalem überschneiden sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des filmischen Raums. Sobald aber die Grenze zwischen beiden ins Wanken gerät, öffnet sich im Modalen der Blick auf das Mediale.
56 57 58
Paech 2000, S. 110. Ebd., S. 99f. Ebd., S. 95. 128
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Was heißt es also, wenn der mediale Raum nicht mehr unsichtbar dem modalen Raum zugrunde liegt, sondern selbst sichtbar wird? An diesem Punkt wird einerseits die in Bezug auf den dispositiven Raum aufgeworfene Frage nach der Wahrnehmung des ‚Bruchs medialen Gelingens‘ virulent, insofern das Mediale allein durch diesen bewussten Bruch hervortritt. Andererseits lässt sich dieser Gedanke jedoch auch dezidiert anhand einer Reihe von Filmbeispielen entfalten, deren Gemeinsamkeit darin besteht, die medialen Bedingungen ihres Entstehens unmittelbar szenisch darzustellen. Dabei kann der Produktionsprozess selbst in die Erzählhandlung integriert werden, wie etwa im Typus des sogenannten ‚Film-im-Film‘. Oder aber es geht den Filmen um ein grundsätzliches Durchbrechen der Erzählkonventionen, um die Freilegung der spezifischen Medialität filmischen Erzählens, wie besonders im europäischen Nachkriegskino der fünfziger und sechziger Jahre zu beobachten ist. Die Hervorbringung des medialen Raums bzw. die Sichtbarmachung der Medialität des Films ist stets an einen selbstreferenziellen Gestus gekoppelt.59 Denn der Typus des ‚Film-im-Film‘ ist insofern selbstreferenziell, als er sich selbst in seinem eigenen Produktionsprozess beobachtet und inszeniert, indem er also von der Entstehung des Films und von den Dreharbeiten berichtet und dadurch seinen eigenen Entstehungsprozess verdoppelt bzw. ineinander verschachtelt – als frühe Beispiele sind etwa THE CAMERAMAN (Edward Sedgwick, Buster Keaton, 1928) und DER MANN MIT DER KAMERA (Dziga Vertov, 1929) zu nennen60, man denke aber ebenso an die intensive Auseinandersetzung mit der Cinecittà in LE MÉPRIS (Jean-Luc Godard, 1963) oder auch an die komplexe Selbstthematisierung des Filmemachens aus der Perspektive des Regisseurs in OTTO E MEZZO (Federico Fellini, 1963), wobei letztere Beispiele in ihrem hohen Reflexionsgrad zugleich auf die zweite Gruppe von Filmen verweisen. Denn die Filme des europäischen Nachkriegskinos, die Gilles Deleuze später als ‚moderne Filme‘ bezeichnen wird, kennzeichnet insofern eine andere Art von Selbstreferenzialität, wie etwa in PIERROT LE FOU (Jean-Luc Godard, 1965) auf den Punkt gebracht wird, als sich diese 59
60
Vgl. hierzu auch David Bordwells Aussagen zum europäischen Kino der sechziger und siebziger Jahre, in welchem sich, so Ellen Risholm, der „Film zugleich als ein selbstbezogenes, ästhetisches System [konstituiert], das sich vor allem durch Innovation und Verfremdung ständig selbst reproduziert“ (Risholm 2001, S. 268). Mirjam Schaub spricht in ihrer Abhandlung Bilder aus dem Off davon, dass besonders in der Frühphase des Kinos „der Film im Film als erste und einfachste Form der Selbstthematisierung [...] nichts anderes als die Durchsetzung des neuen Mediums und einer neuen Kunst zum Ziel“ habe; Schaub, Mirjam: Bilder aus dem Off. Weimar: VDG 2005, S. 36. 129
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nicht, zumindest nicht notwendigerweise, auf den eigenen Produktionsprozess richtet, sondern vielmehr auf die diesem Prozess zugrunde liegenden Produktionsbedingungen und damit auf die Grenzen und Möglichkeiten der filmischen Raumkonstruktion selbst. Und es ist gerade diese grundlegende Reflexivität des modernen Films, die Lorenz Engell in Bilder des Wandels (2003) so hervorbringt, wenn er schreibt: Ganz im Gegenteil geht es modernen Filmen besonders da, wo sie von etwas anderem erzählen, wo sie Außenwirklichkeit reflektieren, darum, ihr Verhältnis zu dieser Außenwirklichkeit, zu dieser Erzählung, zu dieser Reflexion mitzubestimmen und zu klären. Gerade deshalb erzählen auch moderne Filme in aller Regel Geschichten und präsentieren fiktive Wirklichkeiten, aber sie tun dies so, dass in der Art, wie sie es tun, ein Rückbezug, eine Reflexion des Films auf seine eigenen Grundlagen, seine Bedingungen und Möglichkeiten sichtbar wird. Moderne Filme überdenken, was sie sind und was sie tun, während sie es tun.61
Nimmt man diese Aussagen zusammen, so weisen moderne Filme weniger in Richtung einer Verdoppelung der Filmproduktion, die auf der narrativen Ebene wiederum szenisch in die Filmhandlung integriert wird, sondern vielmehr in Richtung der Sichtbarmachung des Potenzials des Films, eine ganz bestimmte, singuläre Art von Räumlichkeit zu erschaffen und dadurch einen Abstand zwischen dem Erzählen und seinen medialen Bedingungen einzuziehen. Fallen im ersten Punkt also der modale und der mediale Raum zusammen, so sind sie im zweiten durch den größtmöglichen Abstand gekennzeichnet, wird ein Bruch zwischen ihnen erzeugt, der das Modale als reine Konstruktion des Medialen freilegt. Der mediale Raum ist folglich nicht allein als hochgradig relationaler Raum zu fassen, der die komplexen räumlichen Beziehungen zwischen dem dispositiven Raum einerseits und dem modalen Raum andererseits modelliert, sondern er ist zugleich ein zutiefst topologischer Raum, der in seiner unsichtbaren Form eine abstrakte, jeglicher Raumproduktion zugrunde liegende Raumstruktur bezeichnet, während er in seiner sichtbaren Form durch Paradoxien, durch Experimente mit der filmischen Form, durch Brüche mit den Konventionen, ja letztendlich gerade durch das Misslingen des Medialen in Erscheinung tritt. Endlichkeit und Unendlichkeit des modalen Raums Eine zweite Leitdifferenz, über die sich das Verhältnis von medialem und modalem Raum weiter zuspitzen lässt, ist die Differenz von Endlichkeit und Unendlichkeit. Bereits in Paechs Beispiel des Übergangs zwischen stehendem und bewegtem Bild wird deutlich, in welch hohem Maße die 61
Engell, Lorenz: Bilder des Wandels. Weimar: VDG 2003, S. 9. 130
DISPOSITIVER, MEDIALER UND MODALER RAUM
(virtuelle) Fortsetzung des filmischen Raums jenseits des Bildes als ein zentrales Spezifikum des Films angesehen werden kann, indem sie unmittelbar auf den Kreuzungspunkt zwischen medialer und modaler Raumordnung verweist: auf die potenzielle Unendlichkeit des filmischen Raums im Kontrast zur Endlichkeit des konkret auf der Leinwand sichtbaren und durch einen Rahmen begrenzten Bildraums. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit des Raums lässt sich anhand des Verhältnisses von Onscreen und Offscreen differenzierter betrachten. Denn die Frage nach dem On und Off bildet einen zentralen Ausgangpunkt jeglicher Überlegungen zur filmischen Raumkonstruktion und dient zugleich als zentrales Differenzkriterium gegenüber anderen Formen medialer Räumlichkeit. Insbesondere innerhalb der französischen Filmtheorie wurde dieses komplexe Verhältnis eingehend und systematisch diskutiert. Dabei herrscht in den einzelnen Arbeiten weitgehend Konsens darüber, dass dem Off, das heißt dem Außerhalb des Bildfeldes, eine zentrale Bedeutung zugesprochen werden muss, wodurch es nicht allein als Negation des On, sondern vielmehr in seinem spezifischen Potenzial für die filmische Raumkonstruktion in den Blick gerät. Denn das Off bildet, so Igor Ramet, einen „strukturell vielschichtigen Raum [...], der sich über unterschiedliche Verfahren wie Figurenbewegung, Blickkonstruktion, Ton u. a. m. definiert.“62 Den Ausgangspunkt jeglicher Betrachtungen zum Verhältnis von On und Off bildet die zentrale Unterscheidung von André Bazin zwischen cadre und cache, wobei cadre einen in sich abgeschlossenen und das Innere umschließenden Rahmen definiert, etwa dem Rahmen eines Gemäldes vergleichbar, während cache den flexiblen und sich stets verschiebenden Rahmen des filmischen Bildes bezeichnet.63 Wenn diese Unterscheidung auch in der Folgezeit teilweise modifiziert wurde, so etwa von Jean Mitry in seiner Estétique et psychologie du cinéma (1963) mit dem Verweis darauf, dass sowohl cadre als auch cache zentrale, das filmische Bild und dessen Konstruktion gleichermaßen strukturierende Verfahren seien64, so bildet das Konzept des cache doch die Möglichkeit, den filmischen Raum in seiner spezifischen Medialität zu beschreiben. Die Ergründung der einzelnen Ebenen des Off und seiner vielschichtigen Grenzbereiche geht insbesondere auf Noël Burchs einflussreiche Abhandlung Nana, or the Two Kinds of Space (1969) zurück, in welcher 62 63 64
Ramet, Igor: „Zur Dialektiv von On und Off im narrativen Film“, in: Dürr/Steinlein 2002, S. 33-45, hier S. 33. Vgl. Bazin, André: Qu’est-ce que le cinema? Paris: Editions du Cerf 1994, S. 129-149 und S. 187-202. Vgl. Mitry, Jean: Estétique et psychologie du cinéma. Paris: Editions du Cerf 2001, hier insbes. „Le cadre et ses déterminations“, S. 110-121. 131
DER FILMISCHE RAUM
er anhand einer eingehenden Analyse von Jean Renoirs NANA (1926) nicht allein sechs unterschiedliche Bereiche des Off differenziert, sondern darüber hinaus das strukturelle Moment ihres Einsatzes betont.65 Dabei bezeichnet das Off (hors-champ) bei Burch eine komplexe Raumkategorie, die auf jeweils unterschiedliche Weise mit dem On (champ) in Kontakt tritt, wodurch das hors-champ selbst einer permanenten Neudefinition unterzogen wird, die wiederum zutiefst in seiner Eigenschaft einer „intermittent or, rather, fluctuating existence“66 begründet liegt. Diese signifikante Erweiterung des Off bei Burch nimmt Igor Ramet nun zum Ausgangspunkt, um drei unterschiedliche Relationen zwischen On und Off zu entwickeln. Die erste Relation bildet die Modellierung des Off in Richtung des On und bezeichnet unterschiedliche Verfahren, das Off im On sichtbar zu machen, wie etwa durch Schatten und Spiegel „als Spur der Gleichzeitigkeit von physischer Abwesenheit (im On) und imminenter Anwesenheit (im Off)“.67 Die zweite Form folgt einer umgekehrten Richtung, indem sie das On auf das Off bezieht. Dies bedeutet, dass einerseits das On durch Blickrichtungen auf das Off verweisen kann, andererseits aber auch, dass wiederholt Zwischenbilder genau desjenigen Raums eingeblendet werden, der eigentlich den Raum des Off bezeichnet und auf diese Weise latent im Bild mitschwingt. Die dritte Form der On-Off-Relation ist nun entscheidend, indem sie die Grenzlinie selbst zum Kernpunkt der Betrachtungen erhebt.68 Hier geht es um Formen des Übergangs und damit um das Phänomen eines Zwischenraums, das gerade für eine topologische Betrachtung des filmischen Raums von zentraler Bedeutung ist, weil hier Objekte und Figuren angeschnitten werden, die kontinuierlich zwischen On und Off, zwischen Innen und Außen des filmischen Bildes changieren, wodurch eine äußerst enge Verknüpfung bzw. die Ununterscheidbarkeit beider Sphären resultiert. Gemeinsam ist allen drei Relationen, dass On und Off jeweils auf derart enge Weise miteinander verzahnt werden, dass im Umkehrschluss der gesamte filmische Raum, der durch diese Relation aufgezogen wird, als ein sich stets modifizierendes und transformierendes Gebilde erscheint. Mehr noch: Das On-Off-Verhältnis bildet Transformationspunkte heraus, Bilder der Umkehrung und des Übergangs, in denen stets das topologische Moment der filmischen Raumkonstruktion aufscheint. Denn 65
66 67 68
Burch, Noël: „Nana, or the Two Kinds of Space“, in: ders.: Theory of Film Practice. London: Praeger Publishers 1973 [1969], S. 17-31. Zu einer ersten Definition der sechs Ebenen des hors-champ vgl. S. 17; zum strukturellen Moment des hors-champ in NANA vgl. S. 24. Ebd., S. 21. Ramet 2002, S. 39. Vgl. ebd., S. 40. 132
DISPOSITIVER, MEDIALER UND MODALER RAUM
während das On weitgehend mit dem modalen Raum zusammenfällt, so markiert das Off genau jenen Grenzbereich, in dem der mediale Raum beständig in einen modalen Raum umgewandelt wird und umgekehrt. Auf diese Weise ergibt sich eine zweite raumtheoretische Unterscheidung zwischen der Endlichkeit (des modalen Raums) und der Unendlichkeit als potenzieller Endlichkeit (des medialen Raums). Diese potenzielle Unendlichkeit des medialen Raums denkt Gilles Deleuze nun am Beispiel des relativen und des absoluten Off noch einen Schritt weiter. Denn durch das Off, so Deleuze, wird ein grundsätzlich anderer Raum aufgezogen, der in zwei Richtungen fortgedacht werden kann: einerseits in Richtung eines noch zu erschließenden Nebenraums, andererseits in Richtung einer Öffnung des Raums auf das Ganze69: Zum einen bezeichnet das Off das, was woanders, nebenan oder im Umfeld, existiert; zum anderen zeugt es von einer ziemlich beunruhigenden Präsenz, von der nicht einmal mehr gesagt werden kann, daß sie existiert, sondern eher, daß sie ‚insistiert‘ oder ‚verharrt‘, ein radikaleres Anderswo, außerhalb des homogenen Raums und der homogenen Zeit.70
Während sich das relative Off also noch dezidiert auf das On bezieht, indem es neben ihm existiert und einen potenziell anschließbaren Raum darstellt, so ist diese Art der Verbindung in Hinblick auf das absolute Off nicht mehr gegeben. Mehr noch: Es findet ein Bruch mit den räumlichen Koordinaten des filmischen Raums statt, indem sich der Raum auf das Ganze hin öffnet und auf diese Weise transzendiert wird. In diesem ‚radikalen Anderswo‘, das außerhalb raum-zeitlicher Koordinaten existiert, entfaltet der Film nun sein topologisches Potenzial, da hier ein Grenzbereich, mithin ein Jenseits des Raums in Erscheinung tritt, das nicht mehr mit überlieferten räumlichen Parametern zu erfassen ist.71 On und Off, cadre und cache, champ und hors-champ bezeichnen folglich mediale Spezifika des filmischen Raums, die potenziell in jedem Film angelegt sind. Dennoch differieren die einzelnen Filme sehr deutlich darin, inwieweit sie den Bildraum (das On, den modalen Raum) als geschlossen oder als offen konzipieren, inwieweit das On also auf das Off als potenzielles On bezogen wird. Dadurch verbinden sich die Konzepte von Onscreen und Offscreen unmittelbar mit zwei zentralen Raumkonzepten des ersten Kapitels: Auf der einen Seite steht eine absolute 69 70 71
Zur Differenzierung zwischen Teil und Ganzem in der (Film-)Philosophie Gilles Deleuzes vgl. Deleuze 1997a, S. 22-26. Ebd., S. 34. Zur Entgrenzung des audiovisuellen Offs in seiner dritten Stufe durch das absolute Off als das „genuin Unsichtbare, Unsinnliche und Nichtfilmbare, also das Off-Off“ des Films, vgl. Schaub 2005, S. 19. 133
DER FILMISCHE RAUM
Raumkonzeption der Geschlossenheit und des Ausschlusses des Außen und auf der anderen Seite eine relative Raumkonzeption der Offenheit, des potenziellen Anschlusses und der unmittelbaren Anknüpfung an das Außen, die als zwei Grundbewegungen bzw. als zwei Facetten der filmischen Raumkonstruktion in die Analysen einfließen werden. Im Verlauf dieser Ausführungen sind folglich immer wieder drei verschiedene Ebenen der filmischen Raumproduktion aufgetreten, seien dies nun der Architekturraum, der Filmraum und der Bildraum (Rohmer), die filmische Technik, das Medium und das symbolische System (Winkler) oder auch der dispositive, der mediale und der modale Raum (Paech). Von diesem Punkt ausgehend ließe sich nun danach fragen, in welchem Verhältnis diese drei Raumebenen zu den Differenzierungen des Materiellen, Sozialen und Symbolischen einerseits und zu den triadischen Raumkonzepten bei Lefèbvre und Soja andererseits stehen, die sich in der räumlichen Praxis, der Repräsentation des Raums und in den Räumen der Repräsentation verdichten. Hinsichtlich der Raumdimensionen des Materiellen, Sozialen und Symbolischen lässt sich von einer doppelten Bezugnahme sprechen: Denn einerseits lassen sich das Dispositive, das Mediale und das Modale als kontinuierliche Überlagerungen des Materiellen, des Sozialen und des Symbolischen begreifen; andererseits hat der Film jedoch auch das Potenzial, diesen drei Ordnungen des Raums selbst ein (modales) Bild zu verleihen. Die Raumtriade bei Lefèbvre und Soja kann dann – in einem zweiten Schritt – dazu dienen, diese drei Ebenen auf einer konzeptuellen Ebene zusammenzudenken: als drei ineinandergreifende, sich wechselseitig konturierende Ebenen. Galt dem symbolischen Raum als ‚Drittheit‘ innerhalb der drei zentralen Raumdimensionen und in noch größerem Maße dem gelebten Raum bzw. den Räumen der Repräsentation als ‚Thirdspace‘ in den Theorien Lefèbvres und Sojas das besondere Augenmerk, über den sich die beiden anderen Ebenen der Raumproduktion überhaupt erst in ihrer vollen Komplexität fassen lassen, so gewinnt im Bereich der filmischen Raumproduktion der mediale Raum als eine ebensolche Schlüsselfigur an besonderem Gewicht. Denn er ist nicht allein in ein komplexes Wechselspiel mit dem dispositiven Raum eingespannt; er ist nicht allein die mediale Bedingung für die modale Ausgestaltung des filmischen Raums, sondern darüber hinaus auf unmittelbare Weise mit dem topologischen Moment der filmischen Raumkonstruktion verbunden. Dies bedeutet, dass er in Bezug auf den dispositiven Raum als Paradoxie, als Bruch und als Misslingen des Medialen in Erscheinung tritt, in Bezug auf den modalen Raum hingegen als Potenzial, die Transformation in einen modalen Raum in Gang zu setzen und damit von der Unendlichkeit zur Endlichkeit, von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit überzugehen.
134
Von den filmischen Orten zum filmischen Raum Die Differenzierung von medialem und modalem Raum lässt sich noch weiter zuspitzen und präziser ausarbeiten, wenn man sie vor dem Hintergrund einer zentralen Unterscheidung von André Gardies betrachtet: der Unterscheidung zwischen filmischen Orten und filmischem Raum. Diese zunächst einmal einfache begriffliche Trennung hat weitreichende Konsequenzen, sowohl für die theoretische Konzeption als auch für die analytische Ausarbeitung des filmischen Raums. Denn sie birgt die Möglichkeit, ganz grundlegend zwischen der Betrachtung der einzelnen Handlungsorte einerseits, wie sie innerhalb des Films auftauchen und inszeniert werden, und der Betrachtung des gesamten filmischen Raumkonstrukts andererseits zu unterscheiden und, was mehr ist, beide Phänomene in ihrem Wechselspiel hinsichtlich der Konstruktion und Transformation filmischer Räumlichkeit zusammenzudenken. Grundlage dieses Teilkapitels bildet die Prämisse, dass der filmische Raum in erster Linie ein konstruierter Raum ist. Um diese Prämisse näher auszuführen, ist es notwendig zu erläutern, inwiefern sich Ort und Raum innerhalb der filmischen Inszenierung überhaupt unterscheiden lassen. Gardies bietet für diese Fragestellung eine ebenso einfache wie schlüssige Lösung an: Der Ort (lieu) bezeichnet bei ihm ein „fragment d’espace“, wohingegen der Raum (espace) im Umkehrschluss ein „ensemble de lieux“ darstellt.72 Ort und Raum sind in diesem Sinne zwei notwendige, ja konstitutive Bedingungen füreinander, insofern die Orte immer nur als Teil des Raums zu begreifen sind und im Gegenzug dazu der Raum allein im Zusammenschluss der einzelnen Orte denkbar wird. In anderen Worten: Der filmische Raum bildet bei Gardies eine übergeordnete Gesamtstruktur, eine Struktur höherer Ordnung heraus, die sich aus den einzelnen filmischen Orten, oder präziser: aus ihrem besonderen Zusammenspiel speist. Aus dieser ersten Unterscheidung ließe sich nun folgern, der filmische Raum sei die Summe der einzelnen filmischen Orte und könne dementsprechend aus diesen Einzelteilen wie ein Puzzle zusammengesetzt werden, wie auch Gardies ausführt: Si le lieu est un fragment d’espace, il suffirait alors de recoller minutieusement, comme les pièces innombrables d’un puzzle, les divers morceaux pour reconstituer cette sorte de totalité idéale que l’on appellerait espace. De cette manière, on obtiendrait une double définition, en miroir, tautologique: le lieu est un fragment d’espace et l’espace un ensemble de lieux.73
72 73
Gardies 1993, S. 69. Ebd. 135
DER FILMISCHE RAUM
Dennoch ist das Verhältnis zwischen filmischen Orten und filmischem Raum nicht allein als ein rein quantitatives, summarisches zu werten, bei dem der Raum die einfache Summe der einzelnen filmischen Orte bildete, sondern es ist weitaus komplexer angelegt, wie ein Blick auf die weiteren Bedeutungsebenen von Ort und Raum zeigt. Denn obgleich Gardies in seinen Ausführungen zunächst den häufig synonymen Gebrauch beider Begriffe anmerkt, so präzisiert er sie im nächsten Schritt auf sehr deutliche Weise, indem er ihnen eine Reihe unterschiedlicher Eigenschaften zuweist: So bezeichnet er den Ort als „particulier, manifeste, repérable, contingent“, während der Raum als „général, latent, virtuel, immatériel, immanent, en un mot systématique“74 charakterisiert wird. Diese Gegenüberstellung von Ort und Raum und insbesondere die Wahl ihrer jeweiligen Adjektive machen deutlich, in welch hohem Maße Gardies sie als unmittelbare Gegensätze begreift, die einander diametral gegenüber stehen. Dennoch, und dies hat bereits die Diskussion der OrtRaum-Differenz im ersten Kapitel gezeigt, sind Ort und Raum eben nicht allein als Kontrastfolien zu denken bzw. nicht allein als zwei entfernt von einander liegende Pole innerhalb der raumtheoretischen Fragestellung zu konzipieren. Vielmehr sind sie von Beginn der philosophischen Erörterung des Raumproblems an immer wieder in bestimmte Spannungsverhältnisse eingespannt worden, mit wechselnden und teilweise widersprüchlichen Polen. Vor diesem Hintergrund wird es im Folgenden vor allem darum gehen, den Blick auf die Schnittstellen zwischen den filmischen Orten und dem filmischen Raum zu lenken, die sich im Grenzbereich von Aktuellem und Virtuellem, von Konkretem und Symbolischem, von Materiellem und Immateriellem bewegen. Schnittstellen zwischen filmischen Orten und filmischem Raum Der filmische Raum hat im Verständnis Gardies’ insbesondere zwei zentrale Eigenschaften: Er ist abstrakt, und er ist strukturell.75 Dies bedeutet in allererster Linie, dass der Raum nicht allein unter dem „seul aspect physique d’un milieu à trois dimensions où s’ordonnent les objets“76 analysiert wird, sondern der entscheidende Punkt an Gardies’ Konzept des 74 75
76
Gardies 1993, S. 72. Aufgrund dieser klaren Zuordnung wird der filmische Raum bei Gardies zugleich auf die (abstrakte) Ebene von Raumkonzepten gehoben, d. h. er setzt grundsätzlich auf einer anderen Argumentationsebene an, die auch in dieser Arbeit verfolgt wird; zu einer Kritik von Gardies’ abstrakter Sichtweise des filmischen Raums vgl. Paech 2002, S. 110. Gardies 1993, S. 70. 136
VON DEN FILMISCHEN ORTEN ZUM FILMISCHEN RAUM
filmischen Raums ist gerade, dass er ihn konsequent relational entwickelt, denn „l’espace pouvait être composé d’un ensemble de traits particuliers, eux-mêmes saisis au sein d’un réseau relationnel“.77 Vor diesem Hintergrund unterlegt er auch seinen Perspektivwechsel vom materiellen zum relational-filmischen Raum mit Juri Lotmans konsequent relationaler Auffassung des Raums als „ensemble d’objets homogènes [...] entre lesquels il y a des relations semblables aux relations spatiales habituelles“78, um daraus zu folgern, „que l’espace [...] est déjà forme signifiante et qu’il est susceptible de s’organiser en système.“79 Dennoch bleibt Gardies nicht an diesem Punkt stehen, sondern entwickelt die Ort-Raum-Differenz anhand der einflussreichen Unterscheidung von Aktuellem und Virtuellem weiter; denn der filmische Raum, so führt Gardies aus, „s’opposait en outre au lieu comme le virtuel à l’actuel“.80 Diese Unterscheidung geht insofern über die bisherigen Betrachtungen hinaus, als hier die wechselseitige Einschreibung von Ort und Raum, die unabdingbar für das Verständnis der filmischen Raumkonstruktion ist, auf den Punkt gebracht wird. Die einzelnen filmischen Orte bezeichnen folglich das Aktuelle, während der übergreifende filmische Raum mit dem Virtuellen kurzgeschlossen wird, insofern er die Eigenschaft hat, durch die einzelnen aktuellen Orte immer wieder ‚aktualisiert‘ zu werden und dadurch zugleich seine Gesamtstruktur zu verändern. Die filmischen Orte wirken folglich kontinuierlich auf den filmischen Raum ein, wohingegen jener als übergreifender Raum beständig auf die einzelnen filmischen Orte zurückwirkt und sich in sie einschreibt. Der filmische Raum bildet damit ein (virtuelles) Potenzial des Films, das sich schrittweise mittels der einzelnen filmischen Orte aktualisiert. Dieser Punkt ist entscheidend, zeigt er doch, dass die Differenz zwischen den filmischen Orten und dem filmischen Raum weniger auf der quantitativen Ebene einer Vielfalt (der Orte) gegenüber dem Einzelnen (dem Raum), sondern vielmehr auf der qualitativen Ebene eines sich immer wieder neu artikulierenden Aktuellen gegenüber einem sich beständig rekonfigurierenden Virtuellen zu suchen ist – und nicht zuletzt hierin begründet sich die Anschließbarkeit von Gardies’ Thesen an den hier verfolgten topologischen Perspektivwechsel auf den filmischen Raum.81 77 78 79 80 81
Gardies 1993, S. 70. Lotman, Jurij: La structure du texte artistique. Paris: Gallimard 1975, S. 130; zit. in: Gardies 1993, S. 70. Gardies 1993, S. 71. Ebd., S. 70. Zugleich ließe sich hier mit Heuser auf den Zusammenhang mit Listings topologischer Unterscheidung zwischen effektiven und virtuellen Punkten, Linien, Flächen und Räumen eingehen; vgl. Heuser 2007, S. 192f. 137
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Zugleich wird an diesem Punkt die grundsätzliche Konstruiertheit des filmischen Raums ausgestellt. Denn indem der (virtuelle) Raum einer beständigen Aktualisierung durch die (aktuellen) Orte unterliegt, ist auch seine Konstruktion – bis zum Ende des Films – niemals ganz abgeschlossen bzw. wird der stetige Prozess seiner Konstruktion und Transformation zum Kernpunkt der Betrachtungen von Räumlichkeit im Film. Dem virtuellen, abstrakten und strukturellen filmischen Raum, der dennoch stets eine bestimmte Form annimmt bzw. beständig neu geformt wird, stehen folglich die einzelnen Orte innerhalb des Films als konkrete und bildlich artikulierte Träger räumlicher Eigenschaften gegenüber, die sich im Gegensatz zum übergreifenden Raum unmittelbar innerhalb der jeweiligen diegetischen ‚Welt‘ des Films verorten lassen: Certes, en tant qu’objet concret du monde physique (lorsqu’il en est ainsi) il est nécessairement situé, ‚localisé‘, et donc porteur de ses propres propriétés spatiales, mais surtout il est structurellement déterminé par un ordre spatial dont il actualise les composantes.82
Ausgehend von der Vorstellung, der Ort sei in gewissem Sinne eine „manifestation textuelle d’un ordre latent que est celui de l’espace“83, zieht Gardies nun die Parallele – und dies ist als zweite Spezifizierung anzuführen – zu der einflussreichen Unterscheidung von langue (‚Sprache‘) und parole (‚Wort, Äußerung, Rede‘), wie sie Ferdinand de Saussure im Rahmen seines Cours de linguistique générale (1916) zur Unterscheidung eines abstrakten Regelsystems der Sprache einerseits und ihres konkreten, gesprochenen Ausdrucks andererseits vorgenommen hat.84 Und so führt Gardies in Anschluss an de Saussure aus: Le lieu ne serait-il pas alors la parole de l’espace-langue? L’un, particulier, manifeste, repérable, contingent, ne permetterait-il pas d’accéder à l’autre, général, latent, virtuel, immatériel, en un mot systématique? Car l’espace, s’il est, comme la langue, de l’ordre du système, doit être construit.85
Der filmische Raum bildet demnach ein übergreifendes (Regel-)System heraus, das wiederum den entscheidenden Rahmen markiert, innerhalb dessen sich die einzelnen Äußerungen (als filmische Orte) artikulieren. Der filmische Raum bezeichnet damit – und genau dies verbindet ihn mit der Ebene des medialen Raums – die grundsätzlichen Bedingungen,
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Gardies 1993, S. 71. Ebd. Vgl. Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Hg. v. Charles Bally. Paris: Payot 1982 [1916]. Gardies 1993, S. 71f. 138
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unter denen filmische Orte überhaupt entstehen können. Mit der Analogisierung von espace–langue und lieu–parole einerseits und von espace– virtuel und lieu–actuel andererseits konkretisiert Gardies seine Vorstellungen von Ort und Raum, indem er ihre Beziehungen zueinander in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Damit verschiebt er zugleich die Frage nach der Ort-Raum-Differenz schrittweise in Richtung der Frage nach der Ort-Raum-Relation, was verdeutlicht, in welch hohem Maße der filmische Raum als logische Konsequenz, ja als abstrakte Ableitung aus den unterschiedlichen, einzelnen, über den gesamten Film verteilten filmischen Orten gelten kann, die wiederum die Aktualisierung des ständig präsenten, virtuellen Potenzials des filmischen Raums bewirken. Der filmische Ort im Verständnis Gardies’ wird jedoch keinesfalls auf eine bloße sekundierende Funktion in Hinblick auf den filmischen Raum reduziert. Vielmehr gewinnt er seinen eigenen Stellenwert innerhalb der filmischen Raumkonstruktion. Denn auf der einen Seite aktualisieren die filmischen Orte den filmischen Raum als Gesamtkonstruktion; auf der anderen Seite unterhalten eben diese Orte aber auch eine direkte, unmittelbare Beziehung zur Ebene des medialen Raums.86 Diese Aussage bringt eine wichtige Wendung mit sich, indem sie verdeutlicht, dass die Unterscheidung von medialem und modalem Raum in gewissem Sinne quer zur Unterscheidung von Ort und Raum steht. Denn wenn sich auch mit einigem Recht behaupten ließe, die modale Raumebene weise zentrale Analogien zu den konkreten, aktuellen filmischen Orten auf, während die mediale Raumebene unmittelbar auf den abstrakten, virtuellen filmischen Raum ziele, so zeigt sich doch bei näherer Betrachtung, dass sich das Mediale sowohl in die filmischen Orte als auch in den filmischen Raum einschreibt: Im ersten Fall ist die Medialität der filmischen Raumkonstruktion auf unhintergehbare Weise in der Konstruktion der filmischen Orte selbst verankert. Im zweiten Fall zeigt sie sich hingegen als das Potenzial, die einzelnen Orte auf besondere, spezifisch filmische Weise miteinander zu kombinieren und zu einem filmischen Raum zusammenzufügen, was diesen wiederum deutlich von den Raumkonstruktionen anderer Medien und Künste unterscheidet. Der eigene Stellenwert, den die filmischen Orte in der Konzeption von Gardies einnehmen, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die filmischen Orte durch ihre Pluralität und ihre spezifische Kombinatorik selbst zum Produzenten von Sinn werden: „Au sein d’un récit filmique donné, les lieux, du fait notamment de leur pluralité, sont susceptibles de s’organiser en un véritable système producteur de sens.“87 Denn einerseits besitzen
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Vgl. Gardies 1993, S. 73. Ebd., S. 78. 139
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die einzelnen filmischen Orte ihre individuellen Charakteristika und damit ihren Wert für sich, andererseits entstehen signifikante Relationen gerade aber auch zwischen ihnen, aus ihrem Zusammenspiel und aus ihrem Spannungsverhältnis heraus.88 Dieses komplexe Zusammenspiel hat wiederum weitreichende Konsequenzen für den filmischen Raum: Es macht ihn zunächst einmal – wie es bereits für den medialen Raum im Verhältnis zum modalen Raum festgestellt wurde – unsichtbar, insofern der gesamte Film durch die unterschiedlichen Schauplätze bzw. Orte der Handlung regelrecht bevölkert wird, die auf diese Weise den filmischen Raum als Gesamtkonstruktion weitgehend verdecken: Ainsi, d’une certaine manière, dans le récit filmique, bien que toujours présent, l’espace est invisible; le monde diégétique est habité par cette population singulière que sont les lieux [...]. En ce sens, l’analyse de l’espace d’un récit ne saurait se réduire, comme il advient trop souvent, à l’analyse additionnelle des lieux. Tout au plus ces derniers représentent (ou renvoient à), sur la base de quelques traits pertinents, leur espace d’appartenance [...].89
So sind die filmischen Orte und der filmische Raum, vergleichbar etwa dem Modalen und dem Medialen, in ein vielschichtiges, bewegliches Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eingespannt, das es innerhalb der Analyse stets freizulegen gilt. Denn erst auf dieser Basis, das heißt erst auf der Grundlage der Betrachtung eines filmischen Raums, welcher alle einzelnen Orte des Films umfasst und deren übergreifendes Zusammenspiel er umschließt, werden Aussagen auf der Ebene von Raumkonzepten möglich. Zugleich ergeben sich damit zwei zentrale, auf das Engste miteinander verbundene Analyseebenen: erstens die Analyse der filmischen Orte, wobei insbesondere ihre Selektion, ihre Komposition und ihre Inszenierung in den Blick zu nehmen sind, und zweitens die Analyse des filmischen Raums, das heißt des übergreifenden filmischen Raumkonstrukts als Synthese der einzelnen filmischen Orte, das sowohl auf die strukturelle Ebene filmischen Erzählens als auch auf das zugrunde liegende Raumkonzept des Relationalen verweist. Denn wenn sich der filmische Raum aus dem Zusammenspiel einzelner filmischer Orte speist und sich immer wieder – gemäß ihres Wechselspiels – aufs Neue verschiebt, so lässt sich daraus einerseits ableiten, dass der filmische Raum ein hochflexibles, dynamisches System bezeichnet, das wiederum allein mit einer adäquaten Raumtheorie des Bewegten, des Flexiblen und des Dynamischen erfasst werden kann. Andererseits wird an diesen Ausführungen jedoch auch deutlich, dass die unterschied-
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Vgl. Gardies 1993, S. 80f. Ebd., S. 86. 140
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lichen Raumordnungen und Bedeutungsebenen des Films, von denen im vorherigen Kapitel die Rede war, immer nur auf der Ebene des filmischen Raums und damit in einer Gesamtperspektive auf die Räumlichkeit des Films zu finden sein werden. Ort und Raum, Ensemble und Ganzes Geht man an dieser Stelle noch einmal zurück zu den philosophischen Begründungen der Ort-Raum-Differenz, so wurde der Ort stets mit etwas Statischem, Unbewegtem und nach außen hin Begrenztem kurzgeschlossen, wohingegen der Raum gerade im Gegenstück dazu das Flexible, das Bewegte und das Ausgedehnte bezeichnet. Michel de Certeau bringt diese zwei gegensätzlichen Denkfiguren in seinem Werk Kunst des Handelns (1988) auf den Punkt, wenn er den Ort als „die Ordnung, [...] nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden“90, definiert und damit als „eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.“91 Ein Raum hingegen entsteht, „wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“92 Entscheidend dabei ist, dass de Certeau den Raum als eine unmittelbar mit dem Ort verschränkte Größe denkt, denn der Raum ist, wie er ebenso schlicht wie treffend formuliert: „ein Ort, mit dem man etwas macht“.93 Indem der Raum aber auf den Ort bezogen wird, gewinnt zugleich die Zeit den Stellenwert einer immanenten Kategorie. Denn während beim Ort das Punktuelle, das Momentane betont und somit die Zeit fast vollständig ausgeblendet wird, entsteht der Raum überhaupt erst durch die Einbeziehung der Zeit, indem seine Bildung aus beweglichen Elementen sowie seine prozessuale Entfaltung betont werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Verhältnis von filmischen Orten und filmischem Raum noch einmal insofern zuspitzen, als sich die filmischen Orte stets auf das Punktuelle, der filmische Raum hingegen auf das Prozessuale, das sich in der Zeit Entfaltende, beziehen lassen. An der Frage der Ort-Raum-Differenz, die im ersten Kapitel in ihrer historischen Verlaufsform punktuell nachgezeichnet wurde, gewinnen also auch der filmische Ort und der filmische Raum zunehmend an Kontur. Im Bereich des Films werden diese zwei gegensätzlichen Raumordnungen 90 91 92 93
De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988, S. 217f. Ebd., S. 218. Ebd. Ebd. 141
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jedoch immer nur im Modus einer spezifisch filmischen Bewegtheit denkbar – eine Facette, die insbesondere in Gilles Deleuzes filmphilosophischen Abhandlungen entfaltet wird. Vor allem in Das BewegungsBild, dem ersten Teil seiner umfassenden Theorie bzw. Taxonomie des Kinos, entwickelt Deleuze zentrale Aussagen zum Verhältnis von Ensembles und Ganzem, die wiederum in engem Austausch mit den Thesen Henri Bergsons zur Bewegung – der philosophischen Grundlage seiner Kinotheorie schlechthin – stehen. Das Zusammendenken von Teil und Ganzem über den Faktor der Bewegung begründet sich dabei vor allem in Bergsons dritter These zur Bewegung, welche besagt, dass die Bewegung im Raum stets eine Verlagerung bedeute, die wiederum zu einer „qualitative[n] Veränderung eines Ganzen“94 führe. Die Bewegung tritt damit in einem ersten Schritt als ‚Verlagerung der Teile‘ inkraft; in einem zweiten Schritt bedeutet sie jedoch auch eine ‚Affektion des Ganzen‘. Dies verdeutlicht, in welch konstitutivem Verhältnis Ensembles und Ganzes zueinander stehen, und mehr noch, welch hohe Bedeutung hier dem Faktor der Bewegung zukommt, wobei die Korrespondenzen zum Verhältnis von Ort und Raum auf beiden Linien zu denken sind. Deleuze führt den Begriff des Ensembles zunächst in Zusammenhang mit den einzelnen Bestandteilen des Bildes ein, wobei er die Kadrierung mit einem geschlossenen Ensemble gleichsetzt: „Das Bildfeld (cadre) konstituiert [...] ein Ensemble, das aus einer Vielzahl von Teilen, das heißt Elementen besteht, die ihrerseits zu Sub-Ensembles gehören.“95 Das Ensemble ist damit ein „relativ und künstlich geschlossenes System“96, das aus unterschiedlichen Teilen besteht, die sich bis ins Unendliche hinein in kleinere Teile und Subeinheiten ausdifferenzieren lassen. Dennoch muss ein geschlossenes Ensemble, wie Deleuze anhand der Gestaltungsmöglichkeiten des Bildfeldes ausführt, keineswegs eine statische, unbewegliche Einheit bilden, sondern kann ganz im Gegenteil durch unterschiedliche filmische Verfahren dynamisiert werden – man denke etwa an die komplexen Übergänge und Einschreibungen von Onscreen und Offscreen, zwischen cadre und cache, wie sie zuvor diskutiert wurden. Dabei führt die „physikalische oder dynamische Gestaltung von Bildfeldern zu verschwimmenden Ensembles, die nur noch in Zonen oder Schichten zerfallen“97, wie sie Deleuze in den Filmen von Paul Wegener und Friedrich Wilhelm Murnau festmacht. Oder aber die Ensembles werden zu ‚Intensitätsbereichen‘, wie etwa in den Filmen des
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Deleuze 1997a, S. 22. Ebd., S. 27. Ebd., S. 35. Ebd., S. 30. 142
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Expressionismus, und damit zu einer „alle Teile, alle Stufen von Licht und Schatten, die ganze Hell-Dunkel-Skala durchdringende Melange“.98 Während das Ensemble also ein künstlich geschlossenes System darstellt, so beweglich und dynamisch es auch innerhalb seiner Begrenzungen sein mag, so ist das Ganze laut Deleuze „kein geschlossenes Ensemble, sondern im Gegenteil das, wodurch das Ensemble niemals völlig geschlossen, nie vollkommen geschützt ist, wodurch es irgendwo offengehalten wird“.99 Das Ensemble besteht aus einzelnen Teilen, wohingegen das Ganze stets in seiner Gesamtheit als veränderliches Ganzes konzipiert wird, denn es unterliegt einer beständigen Transformation und existiert in der Dauer: „Die Ensembles sind [...] im Raum, und das Ganze, die Ganzen sind in der Dauer, sind die Dauer selbst in ihrer unablässigen Veränderung.“100 Das Ganze wird damit als das „reine unablässige Werden“101 beschrieben und ist in diesem Sinne geistig oder mental.102 Dies bedeutet zugleich, dass sich das Ganze immer genau in dem Maße verändert, in dem sich die einzelnen Teile des Ensembles verschieben. Denn selbst wenn das Ganze geteilt werden kann, so teilt es sich niemals, „ohne bei jedem Teilungsschritt seine Beschaffenheit zu ändern.“103 Daraus lässt sich folgern, dass sich das Ganze als veränderliches Ganzes in der Dauer allein hinsichtlich der Relationen verschiebt, die es zu den Ensembles unterhält bzw. dass es sich über diese Relationen erst definieren lässt. Denn selbst wenn sich „eine Relation zwischen zwei Elementen weder auf eine Eigenschaft eines der beiden Elemente noch auf eine Eigenschaft des Ensembles (der Menge) reduzieren“ lässt, so bleibt doch „die Möglichkeit, die Relationen auf ein Ganzes zu beziehen, wenn man dieses Ganze als ‚Kontinuum‘ und nicht als gegebenes Ensemble (gegebene Menge) auffaßt“.104 Und so führt Deleuze weiter aus: Wäre das Ganze zu definieren, dann durch die Relation. Denn die Relation ist keine Eigenschaft der Objekte, sondern deren Bestimmungen gegenüber stets äußerlich. So ist sie auch, in ihrer geistigen oder mentalen Existenz, vom Offenen nicht zu trennen. Die Relationen gehören nicht zu den Objekten, sondern zum 98 99 100 101 102
Deleuze 1997a, S. 30. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu auch das Konzept des Werdens und die zentrale Bedeutung des Immanenzbegriffs in Deleuzes philosophischem Werk; vgl. Günzel, Stephan: Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze. Essen: Die Blaue Eule 1998; sowie Balke, Friedrich: Gilles Deleuze. Frankfurt/M.: Campus 1998, S. 11-15 und S. 82-84. 103 Deleuze 1997a, S. 25. 104 Ebd., S. 289 (Anmerkungen zum ersten Kapitel, Nr. 15). 143
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Ganzen, sofern man es nicht mit einer geschlossenen Gesamtheit von Objekten verwechselt.105
An diesen Aussagen sind zwei Aspekte für die Ausrichtung dieses Buchs entscheidend: Erstens wird die Relation als eine abstrakte, den Dingen gegenüber stets äußerliche Größe gefasst, wie etwa Cassirer in Bezug auf das relationale Raumkonzept bei Leibniz ausgeführt hat, und die in ihrer abstrahierenden, äußerlichen Funktion unmittelbar auf die übergreifende Perspektive des filmischen Raums verweist. Zweitens verbindet sich die Relation durch ihre geistige und mentale Existenz jedoch auch unmittelbar mit dem Konzept des topologischen Raums und zugleich mit einem Kino des Denkens, das in den Relationen selbst, oder präziser: in jenem relationalen Zwischenraum zwischen Modalem und Medialem, zwischen filmischen Orten und filmischem Raum in Erscheinung tritt. Das Begriffspaar von Ensembles und Ganzem birgt damit die Möglichkeit, das Verhältnis von Ort und Raum auf einer abstrakten, komplexen Ebene weiterzudenken. Zentral dabei ist, dass der Akt der Transformation, das heißt der Prozess der Überführung der Ensembles in das Ganze und umgekehrt, im Faktor der Bewegung begründet liegt, die sich bis in die kleinsten Einheiten der filmischen Raumproduktion, bis in die einzelne Einstellung hinein einschreibt. Und so unterhält auch die Einstellung, wie Deleuze ausführt, eine doppelte Relation zu Ensembles und Ganzem, oder präziser: jede beliebige Einstellung hat zwei Pole, nämlich „den Bezug auf die Ensembles im Raum, in denen sie Modifikationen im Verhältnis der Elemente und Teilensembles zueinander herbeiführt; und den Bezug auf ein Ganzes, dessen absolute Veränderung in der Dauer sie ausdrückt.“106 Für die Ensembles bedeutet die Bewegung demnach eine „Verlagerung von Teilen eines räumlich gedehnten Ensembles“107, während sie sich in Bezug auf das Ganze als „Wandel eines sich in der Dauer transformierenden Ganzen“108 materialisiert. Auf diese Weise gelangt Deleuze zu der entscheidenden Differenzierung dreier Ebenen: 1. die Ensembles oder geschlossenen Systeme, die sich aus unterscheidbaren oder unterschiedenen Teilen definieren; 2. die Translationsbewegung, die sich zwischen den Objekten herstellt und ihre Stellung zueinander modifiziert; 3. die Dauer oder das Ganze, eine sich fortwährend gemäß ihren eigenen Relationen verändernde geistige Realität.109
105 106 107 108 109
Deleuze 1997a, S. 24. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Ebd., S. 26. 144
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Die Translationsbewegung reguliert das Verhältnis zwischen Ensembles und Ganzem, und mehr noch: Sie bildet einen Schlüssel dafür, dieses komplexe Verhältnis überhaupt zu fassen. Aus diesem Grund ist sie auch untrennbar mit der Bewegung verbunden, die für Deleuze wiederum die Ausgangsbedingung seiner Konzeption filmischer Bilder im Sinne seiner Gleichsetzung von Bild und Bewegung markiert. Die Translationsbewegung, so abstrakt sie in diesem Fall als ‚Verhältnis von Teilen‘ (relative Bewegung) und als ‚Affektion des Ganzen‘ (absolute Bewegung) auch gefasst sein mag, nimmt jedoch nicht allein im Verhältnis von Ensembles und Ganzem eine Schlüsselfunktion ein. Vielmehr ist sie die Kraft, über welche die Dreiheit von Ensembles, Ganzem und Translationsbewegung in eine „zirkuläre Beziehung“ überführt wird, und zwar „dergestalt, daß jede die andere enthalten oder vorwegnehmen kann“.110 Überträgt man diesen Dreischritt auf das Verhältnis von filmischen Orten und filmischem Raum, so lässt sich in einem letzten Schritt eine entscheidende Erweiterung der bisherigen Thesen vornehmen, indem nun der Bereich zwischen den beiden Formen der filmischen Raumkonstruktion in den Vordergrund tritt: einerseits, in unmittelbarem Sinne, als eine Bewegung, die beständig zwischen den Ensembles und dem Ganzen, zwischen den filmischen Orten und dem filmischen Raum vermittelt und unablässig neue Verknüpfungen herstellt; andererseits, und in abstraktem Sinne, als eine zirkuläre Beziehung, welche den Zusammenhalt und die Verschiebungen innerhalb des Ganzen (des filmischen Raums) reguliert und dadurch ihre Relationen überhaupt erst freisetzt und sichtbar macht. Der filmische Raum ist auf untrennbare Weise mit der Dauer und dem Ganzen verbunden. Denn ebenso, wie sich das Ganze allein über die Relation denken lässt und zugleich als ‚Dividuelles‘ in Erscheinung tritt, das mit jedem Teilungsschritt seine Beschaffenheit ändert111, so ist auch der filmische Raum eine ebensolche, sich beständig ‚gemäß ihren eigenen Relationen verändernde Realität‘. Die Relation ist dann die Verbindungslinie zwischen dem filmischen Raum und den einzelnen filmischen Orten. Darüber hinaus ist sie jedoch auch derjenige Faktor, durch welchen die Ensembles niemals ganz geschlossen sind und sich fortwährend auf das Ganze (den filmischen Raum) hin öffnen. Dem filmischen Raum ist folglich im Gegensatz zu den filmischen Orten – und genau darin liegt seine Besonderheit – stets eine Ausrichtung bzw. eine Tendenz auf etwas Übergreifendes eigen, die unmittelbar in ihm angelegt ist und ihn fortwährend mit dem Ganzen und der Dauer verbindet.
110 Deleuze 1997a, S. 49. 111 Vgl. ebd., S. 25. 145
Der filmische Raum und die Bewegung Die Bewegtheit des filmischen Raums ist in gewisser Hinsicht der grundlegendste und selbstverständlichste Aspekt filmischer Raumkonstruktion, wurde doch bereits in den frühen Kinotheorien die Bewegung als das zentrale, den Film in allererster Instanz definierende Merkmal herausgestellt. In filmtheoretischer Hinsicht ist das Verhältnis von Film und Bewegung ausführlich reflektiert und analysiert worden; in raumtheoretischer Hinsicht birgt es hingegen große Potenziale, die bisher noch nicht hinreichend ausgeschöpft wurden. Was bedeutet es also, von einem Raum auszugehen, der zuallererst und allein durch die Bewegung entsteht, bei dem die Bewegung also nicht erst der zweite logische Schritt und damit die (relative) Ableitung aus einem an sich unbewegten Raum ist, sondern die unabdingbare Grundlage der Raumkonstruktion selbst? In diesem Teilkapitel wird es darum gehen, das Verhältnis von filmischem Raum und Bewegung unter Berücksichtigung der im ersten Kapitel entwickelten Thesen einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Die Grundlage dafür bildet die Frage, inwiefern sich die Konzepte von Raum und Bewegung wechselseitig beeinflussen, welche Bedeutungsebenen der Bewegung also unmittelbar auf die Beschaffenheit des filmischen Raums einwirken und umgekehrt. Eine Reflexion dieser Fragestellung bleibt in der Mehrzahl der Arbeiten zur Konstruktion filmischer Räume jedoch aus, was sich gerade vor dem Hintergrund der These, die Bewegung sei das entscheidende Moment der filmischen Raumkonstruktion, die sie ganz grundlegend von anderen medialen Formen abgrenzt, als problematisch erweist. Denn auf diese Weise wird die fundamentale Differenz, das heißt die Spezifik des filmischen Raums und damit sein Potenzial, eine grundsätzlich andere Art von Räumen zu produzieren, unterschlagen, obwohl die Gleichsetzung von Film und Bewegung – folgt man René Clair – doch einmal eine ‚Binsenweisheit‘ war: Wenn es eine Filmästhetik gibt, so wurde sie gleichzeitig mit dem Aufnahmegerät, in Frankreich durch die Brüder Lumière, entdeckt. Sie umfaßt nur ein Wort: Bewegung. Äußere Bewegung der Erscheinungen und innere der Handlung.112
112 Clair, René: Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920-1950. München: Beck 1952, S. 61. Diese Aussagen trifft Clair in einem Pamphlet aus dem Jahr 1924, das anlässlich seines ersten Films entstand und in dem er argumentiert, die Filmemacher sollten wieder zu den Anfängen des Films, also zu den Brüdern Lumière und „zur Tradition von 1900“ (ebd., S. 60) zurückkehren. 146
DER FILMISCHE RAUM UND DIE BEWEGUNG
Die filmische Darstellung von Bewegungen – als innere oder äußere Bewegung gedacht – wird in den frühen Filmtheorien stets zum zentralen Ausgangspunkt genommen, um das ‚Wesen‘ des Films bzw. die wesentlichen Möglichkeiten des filmischen Ausdrucks zu ergründen. So spricht Rudolf Arnheim in seinen Abhandlungen zum Film als Kunst (1932) sowohl von einer ‚Relativierung der Bewegung‘, welche die mögliche Umkehrung der Bewegung bezeichnet, als auch von einer ‚Relativierung der Raumkoordinaten‘, die mit einer Ununterscheidbarkeit der räumlichen Parameter von oben und unten, von rechts und links, einhergeht.113 Bela Balázs hingegen stellt in seiner Schrift Zur Kunstphilosophie des Films (1938) die Suggestion eines ‚Bewegungsgefühls‘ fest, das mittels wechselnder Blickrichtungen im Kino entsteht, denn ein „Filmkader zeigt uns nicht nur, was dieser Betrachter sieht, sondern auch, wie er es sieht. Dieses Wie ist schon Charakteristik, also künstlerische Gestaltung.“114 Von größerem Interesse und zielführender in diesem Zusammenhang sind hingegen die Positionen der russischen Formalisten, die sich bereits sehr früh und auf dezidierte Weise mit den Fragen des Mediums auseinandersetzen, um im selben Zuge die Implikationen einer durch und durch dynamisierten, als ‚vierdimensional‘ apostrophierten Raumzeit zu diskutieren. So lässt Dziga Vertov seine Schrift Wir. Variante eines Manifestes (1922) mit dem zentralen Aufruf beginnen: „Weg / ins reine Feld, in den Raum der vier Dimensionen (drei + Zeit)! Auf zur Suche nach ihrem Material, ihrem Jambus, ihrem Rhythmus!“, um daraus den weitreichenden Schluss zu ziehen: Die Filmsache ist die Kunst der Organisation der notwendigen Bewegungen der Dinge im Raum und – angewandt – das rhythmische künstlerische Ganze, entsprechend den Eigenschaften des Stoffes und dem inneren Rhythmus jeder Sache. / Der Stoff – die Elemente der Bewegungskunst – sind die Intervalle (die Übergänge von einer Bewegung zur anderen) und keinesfalls die Bewegungen selbst. Sie (die Intervalle) geben auch der Handlung die kinetische Lösung. / Die Organisation der Bewegung ist die Organisation ihrer Elemente, d. h. der Intervalle in Sätzen.115
113 Vgl. Arnheim, Rudolf: Film als Kunst. In: Albersmeier 31998 [1932], S. 176-200, hier S. 197ff. 114 Balázs, Béla: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Albersmeier 31998 [1938], S. 201-223, hier S. 219. Hier sei ebenfalls auf die zentrale Rolle des Verhältnisses von Film und Bewegung in der Filmtheorie Kracauers verwiesen, vgl. Kracauer 1985 [1960], S. 71-75; zur Unterscheidung zwischen ‚objektiver‘ und ‚subjektiver‘ Bewegung, vgl. S. 61ff. 115 Vertov, Dziga: Wir. Variante eines Manifestes. In: ders: Schriften zum Film. Hg. v. Wolfgang Beilenhoff. München: Carl Hanser 1973a [1922], S. 9. 147
DER FILMISCHE RAUM
Ausgehend von der Aussage, das Kino sei nicht nur „die Kunst der Erfindung der Bewegung der Dinge im Raum“116, sondern darüber hinaus die „Relativitätstheorie auf der Leinwand“117, lassen sich die russischen Formalisten als eine Schule begreifen, die das radikale Potenzial der Bewegung auf konsequenteste Weise – sowohl in ihren Manifesten als auch in ihren Filmen – durchgespielt hat. Denn die Bewegung wird hier nicht allein zum Ausdruck eines neuen Mediums, sondern darüber hinaus kann die Bewegung selbst, wird sie bis an ihren Endpunkt weitergedacht, zum Motor einer Befreiung, ja zur ‚Selbstbehauptung‘ des Kinos werden, wie Vertov in seinem Manifest Kinoki – Umsturz (1923) postuliert: Wir treten ein für Kinoglaz, das im Chaos der Bewegungen die Resultante für die eigene Bewegung aufspürt, wir treten ein für Kinoglaz mit seiner Dimension von Raum und Zeit, wachsend in seiner Kraft und in seinen Möglichkeiten bis zur Selbstbehauptung.118
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, in welchem Maße sich die russischen Formalisten mit Fragen der Montage „als vorrangigem Gestaltungsmittel [...], auf dem eine weltweite Filmkultur errichtet wurde“119, auseinandersetzen; mit einer Montage jedoch, wie auch Wsewold I. Pudowkin betont, die „nicht den Zusammenbau eines Ganzen aus Teilen, nicht das Zusammenkleben des Films aus Teilstücken“120 bedeutet, sondern vielmehr das Aufdecken eines „inneren, verborgenen Zusammenhang[s] der realen Erscheinungen“121 bezeichnet. Genau dadurch kann die Montage auch nur im Modus eines dialektischen Denkens vollzogen werden, denn dieses allein macht es möglich, „ein vollständiges unmittelbar beeindruckendes Bild des Lebens [...] als einen dialektischen Prozeß von größter Vielschichtigkeit“122 wiederzugeben. Eine andere Denkweise des Verhältnisses von Film und Bewegung liegt der französischen Schule der zwanziger und dreißiger Jahre zugrunde, welche sich im zentralen Begriff des ‚Photogénie‘ verdichtet. Unter dem Begriff des Photogénie lässt sich eine breite Diskussionslinie 116 Vertov 1973a [1922], S. 10. 117 Ebd. 118 Vertov, Dziga: Kinoki – Umsturz. In: ders.: Schriften zum Film. Hg. von Wolfgang Beilenhoff. München: Carl Hanser 1973b [1923], S. 16. 119 Eisenstein, Sergej M.; Pudowkin, Wsewolod I.; Alexandrow, Grigorij W.: Manifest zum Tonfilm. In: Albersmeier 31998 [1928], S. 54-57, hier S. 54. 120 Pudowkin, Wsewolod I.: Über die Montage. In: Albersmeier 31998, S. 74-96, hier S. 77. 121 Ebd., S. 78. 122 Ebd., S. 91. 148
DER FILMISCHE RAUM UND DIE BEWEGUNG
subsumieren, deren Ziel es ist, das zentrale Spezifikum des Films zu ergründen und begrifflich zu fassen.123 Mehr noch: In dieser eingehenden Diskussion artikuliert sich das „Denken des Filmischen dieser Zeit“.124 Dabei ist die Besonderheit des Begriffs des Photogénie, wie Oliver Fahle in seinen Betrachtungen zur französischen Schule der zwanziger Jahre ausführt, dass er sich in letzter Konsequenz einer sprachlichen Beschreibung entzieht. Denn auf der einen Seite bezeichnet das Photogénie die mediale Spezifik des Films, welche sich in einem „besonders gelungenen filmkünstlerischen Ausdruck“125 niederschlägt, womit zugleich die Zuschreibung des Films als Filmkunst (cinéma-art) postuliert wird. Auf der anderen Seite, und beinahe als logische Konsequenz daraus, bleibt jedoch „seine eigentliche Qualität zunächst im Dunkeln.“126 Dieses letztendlich unauflösbare Paradox des spezifisch Filmischen, das wiederum allein durch den Film, nicht jedoch durch die Sprache sichtbar werden kann, verdichtet auch der französische Filmregisseur Jean Epstein in seiner Definition des Photogénie in Anschluss an Louis Delluc: Delluc, en 1919, prononce et écrit: photogénie, ce mot qui parut, un temps magique et reste, même aujourd’hui mystérieux. Avec la notion de la photogénie naît l’idée du cinéma-art. Car comment mieux définir l’indéfinissable photogénie qu’en disant: la photogénie est au cinéma ce que la couleur est à la peinture, le volume à la sculpture; l’élément spécifique de cet art.127
Der Begriff Photogénie bezeichnet damit ein Phänomen, das derart tief im filmischen Ausdruck selbst verankert ist, dass es allein durch eine bewusste (filmische) Reflexion sichtbar gemacht werden kann, obwohl es an sich unsichtbar dem Film zugrunde liegt. Im Photogénie überkreuzen sich folglich das Mediale und das Bewegte auf besondere Weise. 123 An dieser Stelle sei zugleich an die parallel geführte Diskussion in Italien zum futuristischen Film erinnert, die untrennbar mit dem Cinéma pur Frankreichs und dem sowjetischen Film dieser Zeit verbunden ist. Doch obwohl die Futuristen ein Manifest verfassten („Schon auf den ersten Blick erscheint der Film, der erst vor wenigen Jahren geboren wurde, futuristisch zu sein, da er keine Vergangenheit und keine Tradition hat“, F. T. Marinetti u. a.: Der Futuristische Film (1916), in: Asholt/Fähnders 1995, S. 123), so gelang es ihnen doch letztlich nicht, eine eigene ‚futuristische Kinematographie‘ zu entwickeln; vgl. Weihsmann 1988, S. 46ff. 124 Fahle, Oliver: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre. Mainz: Bender 2000, S. 31. 125 Ebd., S. 34. 126 Ebd. 127 Epstein, Jean: „Le cinematographe vu de l’Etna“, in: ders.: Ecrits sur le cinéma I. Paris: Seghers 1974 [1926], S. 131-168, hier S. 145. 149
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Denn das Photogénie gründet selbst auf Bewegung, und die Bewegung ist wiederum die „unentbehrliche Grundlage filmischer Artikulation“.128 Fahle geht an diesem Punkt jedoch noch einen Schritt weiter und fragt danach, inwiefern die Bewegung nicht allein als Substrat des Sichtbaren, sondern als Produkt, das heißt als eigenständiger Aspekt des Bewegungsbildes und damit als „mediale Erfahrbarkeit“129, konzipiert werden kann. Dabei spielt die von René Clair getroffene Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Bewegung eine entscheidende Rolle. Denn die äußere Bewegung dient zur Aufzeichnung der äußeren Erscheinungen, während die innere Bewegung gerade die Eigenschaft hat, unsichtbar zu sein und dem Bewegungsbild ‚invisibel‘ zugrunde zu liegen. Die Besonderheit der filmischen Äußerung liegt nun darin, diese beiden Arten von äußerer und innerer Bewegung zusammenzuführen, um aus ihrer Synthese heraus eine neue, spezifisch filmische Bewegung zu generieren.130 Damit rückt die Differenz zwischen äußerer und innerer Bewegung in die Nähe der Unterscheidung von Modalem und Medialem, weist gleichzeitig aber auch darüber hinaus, indem sie sich auf die relationalen Zusammenhänge von Ensembles und Ganzem, von Teilbarkeit und Unteilbarkeit, von Zeit (temps) und Dauer (durée), beziehen lässt.131 Die spezifische Qualität des Photogénie artikuliert sich in einer filmischen Bewegtheit, die immer schon über die rein sichtbare, abgefilmte Bewegung hinausgeht. Denn die filmische Bewegtheit bezieht sich nicht allein auf den Moment, in welchem sie im Film selbst sichtbar wird, sondern sie ist – auf der medialen Raumebene – bereits vor dem Film enthalten, während sie am Ende des Films noch über diesen hinausweist. Die filmische Bewegtheit bezeichnet somit eine unbegrenzte, potenziell endlose Bewegung, aus welcher der Film stets nur einen Ausschnitt präsentiert. Im Umkehrschluss ist die filmische Bewegung eine Bewegung, die stets nur in einem Moment einen bestimmten Zustand annimmt, sich im nächsten Moment jedoch schon wieder verändert haben kann: Die sichtbare Bewegung verweist auf Wahrnehmungsstrukturen, die allen anderen Medien entgehen. Sie ist [...] nur als heterotopische Bewegtheit denkbar. Jeder (filmische) Zustand ist nur ephemer und weist schon über sich hinaus. Es ist
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Fahle 2000, S. 169. Ebd. Vgl. ebd., S. 169f. Aus dieser Analogisierung zieht Fahle den zentralen Schluss: „Die Erfassung von Bewegung als ganze und unteilbare zu begreifen, heißt auch, sich von einer linearen Bewegungs- und Zeiterfahrung zu lösen und Zeitpunkte und -schichten sich überlappend vorzustellen, als simultanes Ereignis“ (ebd., S. 186). 150
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also, so könnte man folgern, in jeder filmischen Äußerung schon Bewegung enthalten, unabhängig davon, welche filmsprachlichen Mittel in Anschlag gebracht werden. Jeder filmisch realisierte Zustand überlagert nur andere Zustände, ist nur Variante des momentan Verdeckten.132
Gerade aufgrund ihrer beständigen Transformation bzw. aufgrund des Potenzials einer Transformation ist die filmische Bewegung auch in letzter Konsequenz eine ‚anarchische Bewegung‘, denn sie schreibt „der Welt einen ganz eigenen Rhythmus ein, eine besondere Form der Bewegtheit. Diese allerdings ist alles andere als linear und kontinuierlich, sondern ohne vorherbestimmbare Richtung, anarchisch.“133 Der Vorstellung einer unteilbaren, nicht-linearen, anarchischen Bewegung, die der Welt ihre besondere Form von ‚Bewegtheit‘ aufprägt, liegt ein radikales Konzept der Bewegung zugrunde, dessen Implikationen für die filmische Raumkonzeption im Folgenden, und in Zusammenhang mit Deleuzes Thesen zum Bewegungs- und zum Zeit-Bild, näher ausgeführt werden. Zunächst lässt sich aus dem bisher Gesagten jedoch ein kurzes Resümee ziehen. Denn nimmt man die frühen filmtheoretischen Positionen zusammen, so wird deutlich, dass der Film zu keinem Zeitpunkt darin aufgeht, lediglich Bewegungen im Raum zu reproduzieren. Vielmehr generiert der Film genuin bewegte Räume, die nicht allein Bewegungen abbilden, sondern die Fähigkeit besitzen, die Bewegung als reine Bewegung sichtbar zu machen, zu reflektieren und damit eine abstraktere Relation zwischen Film und Bewegung aufzuziehen. Auf diese Weise liegt die Bewegung nicht mehr unmittelbar auf der Ebene des rein Sichtbaren, sondern manifestiert sich auf der Ebene einer grundlegenden Affinität des filmischen Mediums mit unterschiedlichen Formen der Bewegungserzeugung, die sich stets in zwei Richtungen entfalten lassen: Mit anderen Worten, es ist das Eigentümliche des kinematographischen Bewegungs-Bilds, aus Transportmitteln oder Bewegungsträgern die Bewegung, ihre gemeinsame Substanz, oder aus Bewegungen das Bewegtsein, ihre Essenz, herauszulösen.134
Die beiden hier getroffenen Aussagen, erstens, dass der Film auf einer sehr konkreten, greifbaren Ebene Bewegung im Raum sichtbar macht, und zweitens, dass der Film auf einer abstrakten Ebene zwischen der Bewegung als Substanz und dem Bewegtsein als Essenz changiert, sind einander diametral entgegengesetzt und markieren dadurch die Eckpunkte der möglichen Betrachtungen zum Verhältnis von filmischem Raum 132 Fahle 2000, S. 55. 133 Ebd., S. 38. 134 Deleuze 1997a, S. 41. 151
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und Bewegung. Auf der einen Seite wird die Bewegung als das unmittelbar Darstellbare und damit als das Sichtbare des Films konzipiert; auf der anderen Seite wird von der Bewegung im Film selbst abstrahiert und die Bewegung in Hinblick auf ihre Essenz und ihre Substanz überdacht, die der Film aus ihr herauszulösen vermag und dadurch immer schon über die Bewegung selbst hinausgeht. Dadurch wird die Bewegung nicht allein auf der Ebene des modalen Raums darstellbar und wahrnehmbar, sondern manifestiert sich viel grundlegender auf der Ebene des medialen Raums, was zur Folge hat, dass jedes Nachdenken über den filmischen Raum an eben diesem Punkt anzusetzen hat. Das Bewegungs-Bild und die Grenzen des Raums In seinen beiden Kinobüchern Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild vollzieht Gilles Deleuze ein Neudenken des Kinos auf systematische, taxonomische Weise. Und dieses Neudenken des Kinos geschieht mit Blick auf zwei Referenzpunkte, die zugleich die Grundlage seiner beiden Bände bilden: die Bewegung und die Zeit. Im ersten Fall wird das Kino allein in Bezug auf das gelesen, was im Film und durch den Film als Bewegung in Erscheinung tritt. Im zweiten Fall wird das Kino hingegen allein in Bezug auf das gelesen, was sich – jenseits der Bewegung – als Zeit entfaltet. In einem ersten Schritt wird es folglich darum gehen, die umfassende Konzeption der Bewegung in Deleuzes erstem Kinobuch zu ergründen und bis an ihre Grenzen nachzuverfolgen. In einem zweiten Schritt werden hingegen diejenigen Facetten des filmischen Raums näher betrachtet, die nicht mehr mit der Vorstellung von Bewegung allein – so radikal diese auch formuliert sein mag – erfasst werden können. Was bedeutet es also, den Film zunächst allein unter dem Aspekt der Bewegung bzw. der intrinsischen Bewegtheit zu denken? Deleuze greift hier auf die philosophischen Positionen Henri Bergsons und besonders auf dessen Aussagen zur Gleichsetzung von Bild und Bewegung zurück, um diese weitreichende Konzeption von Bewegungsbildern nicht allein auf das Kino zu übertragen, sondern im Kino selbst die Perfektionierung dieses Denkens bzw. dieses Zustands zu sehen, obgleich Bergson dieses Potenzial keineswegs erkannt, ja das Kino sogar als ‚falschen Verbündeten‘ bewusst verkannt habe.135 Und so führt Deleuze bezüglich des Verhältnisses von Bild und Bewegung in Anschluss an Bergson aus: 135 Deleuze stellt bereits zu Beginn seiner Ausführungen zum BewegungsBild fest, dass Bergson im Film scheinbar „lediglich die Projektion, die Reproduktion einer konstanten, universellen Illusion“ (Deleuze 1997a, S. 14) sehe, die Entdeckung der Existenz von beweglichen Schnitten und Bewegungs-Bildern in Matière et mémoire (1896) jedoch in keiner Weise 152
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Tatsächlich befinden wir uns vor der Exposition einer Welt, in der BILD = BEWEGUNG ist. Nennen wir Bild die Menge dessen, was erscheint. Man kann nicht einmal sagen, daß ein Bild auf ein anderes einwirkt oder auf ein anderes reagiert. Es gibt nichts Bewegliches, das sich von der ausgeführten Bewegung unterschiede, es gibt nichts Bewegtes, das getrennt von der übertragenen Bewegung bestünde. Alle Dinge, das heißt alle Bilder fallen mit ihren Aktionen und Reaktionen zusammen: das ist die universelle Veränderlichkeit.136
Die weitreichende Gleichsetzung von Bild und Bewegung im Modus einer universellen Veränderlichkeit setzt die Auflösung der Dualität von Bild und Bewegung, von Bewusstsein und Materie voraus, welche Deleuze gerade in den Positionen von Henri Bergson und Edmund Husserl verwirklicht sieht, wenngleich auf ganz unterschiedlichem Wege. Denn „alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas (Husserl) oder mehr noch: alles Bewußtsein ist etwas (Bergson).“137 Während die Phänomenologie jedoch letztendlich, wie Deleuze anmerkt, in ihrem Insistieren auf der ‚natürlichen Wahrnehmung‘ und deren Implikationen gewissermaßen bei vor-filmischen Bedingungen stehen bleibt138, so ist an Bergsons Position entscheidend, dass er das Modell eines Materiestroms entwickelt, der die unbegrenzte Menge aller denkbaren Bilder umfasst, die ebenso aufeinander einwirken wie sie einer universellen Wellenbewegung folgen: Dieser Materiezustand ist zu heiß, als daß man noch feste Körper unterscheiden könnte. Es ist eine Welt universeller Veränderlichkeit, universeller Wellenbewegung, des universellen Plätscherns: in ihr gibt es weder Achsen noch Zentrum, weder rechts noch links, weder oben noch unten ...139
Dieser umfassende Materiestrom, „in dem kein Verankerungspunkt oder Bezugszentrum angebbar wäre“140, bezeichnet nun für Deleuze einen Grundzustand des filmischen Bewegungsbildes. Für die Konzeption des
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mit der Entstehung des Films in Verbindung bringe. An anderer Stelle nimmt Deleuze Bergsons These, der Film verkenne die Bewegung ebenso wie die natürliche Wahrnehmung durch eine Aneinanderreihung von Momentbildern zum Ausgangspunkt, um sie grundlegend zu wenden, denn er sieht gerade Bergsons Thesen zum Materiestrom in den bewegten Bildern des Films verwirklicht, woraus er folgert: „Sogar in seiner Kritik am Film befände sich Bergson durchgängig mit ihm auf einer Linie, weit mehr noch, als er es selbst annimmt“ (Deleuze 1997a, S. 86); zur Diskussion des Verhältnisses von Bergson und Film vgl. ebd., S. 13ff. und S. 84ff. Deleuze 1997a, S. 86. Ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 86. 153
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Bildes selbst hat dies weitreichende Konsequenzen, denn „[j]edes Bild wirkt auf andere und reagiert auf andere, in ‚allen seinen Ansichten‘ und ‚durch alle seine Grundbestandteile‘“.141 Indem der Film nun aber eine ebensolche Welt bezeichnet, in der die Bilder wie in einem Materiestrom aufeinander einwirken und sich wechselseitig verändern, wird der Film selbst zum Modell einer nicht-zentrierten, universell bewegten Wahrnehmung, oder präziser gefasst: Der Film kann „in Richtung auf den nichtzentrierten Zustand der Dinge zurückgehen, sich im annähern.“142 Diese Vorstellung eines Materiestroms bzw. einer universellen Bewegung, die im Film sichtbar wird, während sie selbst weit über den Film hinausweist, nimmt Deleuze nun zum Ausgangspunkt, um darauf aufbauend seine Thesen zum filmischen Bewegungs-Bild zu entwickeln. Dabei ist das Bewegungs-Bild für ihn zunächst einmal ein unmittelbarer Ausdruck des Films, denn „der Film gibt uns kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein BewegungsBild.“143 Dies bedeutet, dass das Bewegungs-Bild als Teil bzw. als beweglicher Schnitt einer universellen Bewegung aufgefasst wird, nicht jedoch – wie dies Bergson ausführte – als Kombination aus unbeweglichen Schnitten und abstrakter Bewegung.144 Der Film wird damit ganz grundsätzlich als ein System definiert, „das die Bewegung reproduziert, indem es sie auf den beliebigen Moment bezieht.“145 Der Film bezeichnet folglich ein nichtzentriertes Universum, in dem „alle Bilder, auf allen Seiten und in allen Teilen, wechselseitig aufeinander einwirken und reagieren.“146 Darüber hinaus existiert jedoch noch ein zweites Bezugssystem und damit ein „weiteres System, in dem alle Bilder prinzipiell in bezug auf ein einziges Bild variieren“147, das Deleuze als ‚Zentrum der Indeterminiertheit‘ bezeichnet. Erst auf der Grundlage dieses doppelten Bezugssystems wird nun die Herausbildung einzelner, differenzierter Bildtypen möglich, die Deleuze im Zuge dreier Metamorphosen des grundlegenden Bewegungs-Bilds beschreibt: erstens in das Wahrnehmungsbild, zweitens in das Affektbild und drittens in das Aktionsbild. Dabei liegt jeder einzelnen Metamorphose eine unterschiedliche Vorstellung bzw. eine andere Funktion der Bewegung zugrunde: 141 142 143 144
Deleuze 1997a, S. 87. Ebs., S. 86. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 15. Zur Diskussion der zweiten These Bergsons in Bezug auf seine Kritik der Rekonstruktion der Bewegung aus (a) erstarrten Posen oder (b) unbewegten Schnitten vgl. ebd., S. 16ff. 145 Ebd., S. 19. 146 Ebd., S. 92. 147 Ebd. 154
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Während das Wahrnehmungsbild „die Bewegung mit ‚Körpern‘ (Substantiven) in Beziehung bringt, das heißt mit festen Objekten, die als Bewegungsträger oder als Bewegtes dienen, setzt die Aktion die Bewegung zu ‚Handlungen‘ (Verben) in Beziehung, die einem vorgezeichneten Ziel oder einem vermuteten Resultat entsprechen.“148 Zwischen diesen beiden Polen und zugleich als ‚dritte, absolut notwendige Gegebenheit‘ entfaltet sich nun das Affektbild, das „die Bewegung zu einer ‚Eigenschaft‘ (Adjektiv) in Beziehung [setzt], die als Zustand erlebt wird.“149 Das Wahrnehmungsbild, das Aktionsbild und das Affektbild werden damit als drei unterschiedliche Bildtypen definiert, die ausgehend von einer gemeinsamen Grundlage – dem Bewegungs-Bild – auf je andersartige Weise in Beziehung zu einem Indeterminationszentrum gesetzt werden. Mehr noch: Zu einem späteren Zeitpunkt wird Deleuze selbst im Zuge einer Ableitungslogik das Wahrnehmungsbild als Grundfunktion des filmischen Bewegungs-Bilds bezeichnen, von dem alle weiteren Bilder abgeleitet werden, wodurch das Affektbild, das Aktionsbild und das zuletzt eingeführte Relationsbild nichts anderes sind als die erste, die zweite und die dritte Ableitung desselben.150 Wenn nun aber das Bewegungsbild noch vor dem Wahrnehmungsbild als Nullstelle und als Ausgangsmaterie für alle folgenden Ableitungen steht151, so ist diese Wendung in raumtheoretischer Hinsicht nicht hoch genug einzuschätzen. Denn vor diesem Hintergrund lässt sich der filmische Raum nicht mehr als Ableitung aus einem an sich statischen Raumkonzept begreifen, sondern er ist allein und ausschließlich über die Bewegung zu denken. Die Nullstelle des filmischen Raums bildet damit nicht mehr ein statischer, unbewegter Raum, der im Folgenden dann ‚in Bewegung‘ zu bringen, das heißt auf spezifisch filmische Weise zu transformieren wäre, sondern die Nullstelle des filmischen Raums bildet der bewegte Raum selbst. Der Kernpunkt des Films liegt dann keineswegs darin, so lässt sich dieser Gedanke weiterführen, lediglich Bewegung im Raum zu reproduzieren, was ihn in der Nähe eines absolutistischen Raumkonzepts ansiedeln ließe. Vielmehr entfaltet der Film sein volles Potenzial, wenn er genuin bewegte Räume produziert, die insofern auf ein relationales Raumkonzept referieren, als sie sich stets auf eine übergreifende Bewe148 149 150 151
Deleuze 1997a, S. 95f. Ebd. Vgl. Deleuze 1997b, S. 48-53. Zur Diskussion der Kategorie der ‚Nullheit‘ als Größe vor der ‚Erstheit‘, die Peirce als ‚Percept‘ und als ‚Encodierer‘ denkt, vgl. Vandenbunder, André: „Die Begegnung Deleuze und Peirce“, in: Oliver Fahle und Lorenz Engell (Hg.): Der Film bei Deleuze. Le cinéma selon Deleuze. Weimar: Universitätsverlag 1999, S. 99-112, hier S. 106f. 155
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gung, auf das Werden und auf die universelle Veränderlichkeit beziehen, die ebenso vor ihnen existiert, wie sie über sie hinausweist. Das radikale Bewegungskonzept Bergsons nimmt Deleuze demnach zum Ausgangspunkt, um das filmische Bild in Bezug auf den Materiestrom und die universelle Veränderlichkeit zu definieren. Dennoch findet diese weitreichende Wendung zunächst keinerlei Niederschlag in seinem Raumbegriff. Dieser Aspekt lässt sich besonders an seinen Ausführungen zu Bergsons erster These zur Bewegung ablesen, insofern diese besagt, die Bewegung gehe „mit dem Raum, den sie durchläuft, keine Verbindung ein“152, denn „die durchlaufenen Räume gehören alle zu dem einen homogenen Raum, während die Bewegungen heterogen sind und nicht aufeinander zurückgeführt werden können.“153 Diese Differenzierung von Homogenität (die stets dem Raum zugesprochen wird) und Heterogenität (die stets die Zeit betrifft) durchzieht den gesamten Band und verdeutlicht, dass Raum und Bewegung zunächst als zwei getrennte Entitäten begriffen werden, die keine (innere) Verbindung eingehen.154 Das Denken eines homogenen Raums, der erst in Bezug auf die heterogene Zeit eine variable, modifizierende Qualität annehmen kann, liegt in hohem Maße der Vorstellung des hodologischen Raums des Aktionsbildes zugrunde, „in dem sich die Ziele, die Hindernisse, die Mittel, die Unterordnungen, das Wesentliche und das Unwesentliche, die Vorzüge und die Abneigungen verteilen“.155 Denn der hodologische Raum des Aktionsbildes ist, so Deleuze, durch ein Kraftfeld definiert, oder präziser: „durch Gegensätze und Spannungen zwischen diesen Kräften sowie durch das Lösen dieser Spannungen je nach der Verteilung der Ziele, Hindernisse, Mittel, Umwege usw.“156, wodurch zugleich die Nähe zwischen dem hodologischen und dem euklidischen Raum ausgestellt wird: Die abstrakte Form, die dem entspricht, ist der euklidische Raum, weil er dasjenige Medium ist, in dem sich die Spannungen nach einem Ökonomieprinzip lösen, das den Gesetzen des Grenzwerts, des Minimums und des Maximums 152 Deleuze 1997a, S. 13. 153 Ebd. 154 Dieses Raumkonzept geht in weiten Teilen auf das Gedankengut Bergsons zurück, welcher den (homogenen) Raum als eine Größe begreift, die allein über den Verstand erfasst werden kann, wohingegen die (heterogene) Zeit untrennbar mit der Intuition verbunden ist und ihren Ausdruck in der Dauer (durée) findet; vgl. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Hamburg: Meiner 1991 [1896], S. 178ff. und S. 208ff.; vgl. ergänzend hierzu auch Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Meisenheim: Westkulturverlag Anton Hain 1949 [1888], S. 184-197. 155 Deleuze 1997b, S. 262. 156 Ebd., S. 170. 156
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gehorcht: beispielsweise die einfachste Wegstrecke, der geeignetste Umweg, die wirkungsvollste Rede, ein Minimum an Aufwand für ein Maximum an Wirkung. Diese Ökonomie der Erzählhandlung erscheint folglich in der konkreten Figur des Aktionsbildes und des hodologischen Raums, aber ebensogut in der abstrakten Figur des Bewegungs-Bildes und des euklidischen Raums.157
Der euklidische Raum bildet das allgemeine, übergreifende Raumkonzept, das dem Bewegungs-Bild als Grundform des (klassischen) Kinos zugrunde liegt, wenngleich es in den einzelnen Spielarten des Bewegungs-Bilds stets eine veränderte Gestalt annehmen kann. Ein derartiges Raumkonzept, das den beständigen Aufbau und Abbau von Spannungen allein nach einem Ökonomieprinzip löst, wird sich jedoch immer nur der Zeit unterordnen bzw. ein indirektes Bild der Zeit liefern können. Bezogen auf das Verhältnis von Raum und Bewegung bedeutet dies, dass die Bewegung in diesem ‚Wegeraum‘ zwar mitgedacht, jedoch allein als eine den Handlungen gegenüber ‚äußere‘ Bewegung wirksam wird. Nun wäre es jedoch zu kurz gefasst, das Bewegungs-Bild allein mit der Vorstellung eines hodologisch-euklidischen Raums kurzzuschließen, ebenso wie es zu kurz gefasst wäre, im Aktionsbild bereits die Verwirklichung des Potenzials des Bewegungs-Bilds zu suchen. Denn Deleuze identifiziert bereits im Kino der zwanziger und dreißiger Jahre – und damit parallel zur Herausbildung und Perfektionierung des Aktionsbilds – eine Reihe von Filmbeispielen, in denen unterschiedliche Formen einer ‚inneren‘ Bewegung hervorgebracht werden, wodurch eine gänzlich andere, dichte Art von Räumlichkeit in den Film eingeführt wird. Die Entgrenzung des euklidischen Raums vollzieht sich dabei stets an dem Punkt, an dem die relative Bewegung (im Film) zu einer absoluten Bewegung (des Films) übergeht. So ist es etwa ein Charakteristikum der französischen Schule, „eine Art ‚Algebra‘ zu machen, und jeweils die größtmögliche Bewegungsquantität als Funktion aller Variablen oder das Organische übersteigende Form zu erzielen“158, während der deutsche Expressionismus das Licht als „machtvolle Bewegungsintensität“159 und zugleich als „intensive Bewegung par excellence“160 freisetzt. Auf beiden Linien geht es um eine Entgrenzung des Maßstabs, wird der filmische Raum konsequent seiner ‚absoluten Bewegtheit‘ zugeführt, die einerseits im Modus einer Bewegungsmaximierung (in der französischen Schule) vollzogen wird, und andererseits im Modus einer Lichtintensität als Entgrenzung der Bewegung (im Expressionismus) inkraft tritt.
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Deleuze 1997b, S. 170. Deleuze 1997a, S. 68. Ebd., S. 74f. Ebd. 157
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Jenseits der Bewegung: Das Zeit-Bild und das Denken des Kinos Das Bewegungs-Bild bezeichnet einen Materiestrom der Bilder, in dem die Bilder beständig aufeinander einwirken und der kein Außen kennt, das nicht selbst als Bild in Erscheinung träte. Dennoch reicht diese Vorstellung nicht aus, um über die Grenzen des Raums hinauszugehen, denn dazu muss – in den Worten Deleuzes – erst das Zeit-Bild kommen, und mit ihm eine grundsätzlich neue Lesart des filmischen Raums. Der Übergang vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild markiert folglich einen ähnlichen Perspektivwechsel, wie er im ersten Kapitel in Bezug auf die drei Zugriffe auf den Raum diskutiert wurde. Denn selbst eine radikal dynamisierte Raumkategorie wird immer nur an die Grenzen dessen reichen, was als ‚Raum‘ begreifbar ist. Um die Implikationen eines relationalen und topologischen Raumkonzepts für den Film in seiner vollen Tragweite zu entwickeln, ist es jedoch notwendig – und dies ist im BewegungsBild bereits angelegt –, die Bewegung nicht als zweiten Schritt innerhalb der Dynamisierung, sondern als ersten Schritt und damit als Grundvoraussetzung des Nachdenkens über den filmischen Raum zu setzen. Mit dem Übergang vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild, dessen Entstehung Deleuze im europäischen Nachkriegskino situiert161, wird auch die Entgrenzung des metrisch-euklidischen Raums auf eine neue Stufe gestellt. Denn während die soeben dargelegten Beispiele der ‚reinen Bewegung‘ und des ‚reinen Lichts‘ bereits eine Ahnung davon vermitteln, an welche Grenzen die Konstruktion filmischer Räume geführt werden kann, so bringt doch erst das Zeit-Bild diejenigen Faktoren hervor, die sich jenseits der Bewegung entfalten: die Transformation des Raums und das Denken des Kinos. Um die raumtheoretischen Implikationen dieses Wechsels zu erfassen, wird zunächst zu zeigen sein, wie sich der graduelle Übergang vom Bewegungs- zum Zeit-Bild vollzieht, wobei sich die ‚Krise des Aktionsbilds‘, aus welcher das Zeit-Bild hervorgeht, mithilfe zweier Figuren lesen lässt: erstens durch Figuren der Abgrenzung und der Abkehr, zweitens durch Figuren des Neuen und des Neudenkens. Das Zeit-Bild kann in einem ersten Schritt als Negation des Bewegungs-Bilds gefasst werden, wodurch das Zeit-Bild genau zu dem wird, was das Bewegungs-Bild nicht ist und, was mehr ist, auch nicht sein
161 Wenngleich dem Übergang vom Bewegungs- zum Zeitbild eine filmhistorische Dimension innewohnt, so lässt sich doch, wie Roberto de Gaetano ausführt, die „Vielfalt und Heterogenität transhistorischer Effekte“, die in diesem Zusammenhang auftreten, „nicht auf die Homogenität historischer Ursachen reduzieren“; Gaetano, Roberto de: „Kinematographische Welten“, in: Fahle/Engell 1999, S. 182-197, hier S. 182. 158
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kann, da dies in seiner grundlegenden Fundierung im Faktor der Bewegung nicht angelegt ist. Und so stellt auch Deleuze fest, daß die Krise des Aktionsbildes keinen Wert hat, nicht als solche bestehen kann, sondern nur die negative Bedingung dafür ist, daß das neue, denkende Bild entsteht, selbst wenn man es jenseits der Bewegung suchen müßte.162
Als Negation des Bewegungs-Bilds, das ein indirektes Bild der Zeit liefert, macht das Zeit-Bild – und dies ist als grundlegendste Differenz anzusehen – ein direktes Bild der Zeit möglich. Mit dieser Grunddifferenz ist eine Reihe weiterer Faktoren verbunden, die sich unter dem Begriff der ‚Lockerung der sensomotorischen Zusammenhänge‘ subsumieren lässt und in der begrifflich bereits Figuren der Abkehr und der Negation enthalten sind: das Zerfallen der Bilder in partikularisierende Situationen, das Reißen der Weltenlinie und die Hervorbringung des Elliptischen und Unorganisierten als neuem Typus der Erzählung; das reine Herumsteifen und die gleichgültige Ballade in Abkehr von gerichteten Bewegungen sowie die provisorische, künstliche Stiftung von Gesamtheit durch einzelne Klischees, die jedoch letztendlich nichts weiter als Leere produzieren.163 Dabei ist festzuhalten, dass diese Merkmale, die erstmals im italienischen Neorealismus auftreten, zwar die notwendige Bedingung für die Entstehung von Zeit-Bildern bilden, keineswegs jedoch als hinreichende Erklärung dafür dienen können: „Sie machten das neue Bild möglich, obgleich sie es noch nicht konstituierten, denn dazu bedurfte es der rein optischen und akustischen Situationen, die an die Stelle der schwindenden sensomotorischen traten.“164 Mit dieser Aussage wird der zweite Aspekt des Zeit-Bilds, die Figur des Neuen und des Neuanfangs, angesprochen. Denn im Zuge des Übergangs vom Bewegungs- zum Zeit-Bild entstehen neue Bilder, die zuvor im Kino weder sichtbar noch (in vollem Umfang) denkbar waren: rein optische und akustische Bilder, die als Bilder des Alltäglichen oder Bilder von Grenzsituationen, als subjektive Bilder oder objektive Bilder inkraft treten und deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie allesamt dem ‚Ununterscheidbarkeitsprinzip‘ gehorchen, denn „man weiß nicht mehr, was imaginär oder real, körperlich oder mental in der Situation ist, nicht weil man diese Merkmale vermengte, sondern weil man es nicht mehr zu wissen braucht und es auch keinen Anlaß mehr gibt, danach zu fragen.“165 Zugleich zeigt sich in den rein optischen und akustischen
162 163 164 165
Deleuze 1997a, S. 288. Vgl. ebd., S. 277ff. Deleuze 1997b, S. 14. Ebd., S. 19. 159
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Bildern ein zeitliches Paradox. Denn während das Werden, die Veränderung und der Übergang unmittelbar sichtbar werden, bleibt doch die Form dessen, was sich verändert, letztendlich unverändert. Sie zeigen somit „ein direktes Zeit-Bild, das dem, das sich verändert, die unwandelbare Form gibt, in der sich die Veränderung ereignet.“166 Damit stehen die rein optischen und akustischen Bilder in gewissem Sinne bereits jenseits der Bewegung, denn „[j]edes von ihnen ist die Zeit unter den jeweiligen Bedingungen dessen, was sich in der Zeit verändert. Die Zeit ist Fülle, das heißt die unveränderliche, durch die Veränderung ausgefüllte Form.“167 Mit dem Zeit-Bild vollzieht sich ein grundlegender Wechsel der Bilder, insofern sich das Zentrum der Filme vom Modus der Aktion hin zum Modus des reinen Sehens verschiebt. Mehr noch: Die rein optischen und akustischen Situationen stehen im größtmöglichen Gegensatz zur Aktion, denn eine „optische und akustische Situation setzt sich nicht in Aktion um, sowenig sie von ihr veranlaßt wird. Ihre Funktion besteht darin, etwas begreifbar zu machen, und im allgemeinen nimmt man an, daß sie etwas Untragbares und Unerträgliches faßbar macht.“168 Indem nun aber die rein optischen und akustischen Bilder das Untragbare und das Unerträgliche unmittelbar erfahrbar machen, da etwas im Bild „zu gewaltig, zu ungerecht, aber manchmal auch einfach zu schön ist und von nun an unsere sensomotorischen Vermögen übersteigt“169, öffnen sich die Bilder zugleich auf das Ganze hin, werden sie selbst zu einer Abstraktion und zu einer Funktion des Denkens. Denn obgleich das Denken des Kinos bereits im Bewegungs-Bild oder präziser: in den mentalen Figuren des Relationsbilds, wie sie das Kino Hitchcocks perfektioniert170, angelegt ist, so kann es dort noch nicht zu seiner vollen Entfaltung gelangen – und genau dies meint Deleuze, wenn er in Bezug auf die Krise des Aktionsbilds äußert, dass die ‚Seele des Films‘ nicht mehr dort liege.171 Das Denken des Kinos bezeichnet damit ein Potenzial des Films, das schon immer – aufgrund seiner spezifischen medialen Möglichkeiten – in ihm angelegt war, das jedoch im Zuge der filmhistorischen und produktionstechnischen Entwicklung Hollywoods bzw. der Herausbildung des Studio-Systems konsequent vernachlässigt oder zumindest weitgehend unterbunden wurde. Erst in der Abkehr von den konventionellen Codes der Filmproduktion in den unterschiedlichen filmischen Strömungen der 166 167 168 169 170
Deleuze 1997b, S. 31. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd. Zur Relation als ‚Drittheit‘ sowie zur Relationslogik der Bilder im Kino Hitchcocks vgl. Deleuze 1997a, S. 264-275. 171 Vgl. ebd., S. 276. 160
DER FILMISCHE RAUM UND DIE BEWEGUNG
Nachkriegszeit, kommt der Film ‚zu sich selbst‘ bzw. wird das moderne Kino selbst „zum Medium des Erkennens“172: Es mußte erst das moderne Kino kommen, um das gesamte Kino noch einmal als das zu lesen, was es bereits war: abweichende Bewegungen und falsche Anschlüsse. Als Phantom geisterte das direkte Zeit-Bild schon immer im Kino herum, doch einen Körper konnte ihm erst das moderne Kino geben.173
Mit dieser Wendung, welche die abweichende Bewegung und den falschen Anschluss zum ‚Normalfall‘ des modernen Kinos erklärt174, geht notwendigerweise ein verändertes Raumkonzept einher, das sich bei Deleuze in der Vorstellung des beliebigen Raums (l’espace quelconque) verdichtet. Denn obgleich der beliebige Raum bereits in Bezug auf die Herausbildung des Affektbilds – und damit im ersten Kinobuch – erstmals und eingehende Erwähnung findet, so entfaltet er doch erst in Zusammenhang mit dem modernen Film sein volles Potenzial. Der beliebige Raum ist dem kontinuierlichen, homogenen Raum des klassischen Kinos grundlegend entgegengesetzt. Mehr noch: Er lässt sich als ein Raum begreifen, der den größtmöglichen Abstand zum homogenen Raum markiert. Dies bedeutet, dass beliebige Räume genau da entstehen – wie auch Michaela Ott ausführt –, „wo diese Wiedergabe äußerer Raumkontinua und auswendiger Bewegungsabläufe durch filmische Konstruktion neuer Raumzeitformationen durchbrochen wird“.175 Gerade durch den Bruch mit bestimmten, lang etablierten Sehgewohnheiten entwickelt der Film im Zuge des beliebigen Raums eine ganz neue, eigene Art von Räumlichkeit, welche die spezifischen Potenziale ihrer medialen Konstruktion in den Mittelpunkt rückt und sichtbar macht. Dabei bildet der beliebige Raum zwei unterschiedliche Formen heraus: Seine erste Form gewinnt er innerhalb des Affektbilds, seine zweite Form hingegen innerhalb des Zeit-Bilds, was insofern entscheidend ist, als sich in der Differenz dieser beiden Räume zugleich die Unterschiede zwischen der inneren Topologie und der äußeren Topologie weiter entfalten lassen. Im Affektbild entsteht der beliebige Raum in Zusammenhang mit der Groß- bzw. Detailaufnahme, welche genau diejenigen Affekte und Regungen sichtbar macht, die ohne den Film nicht sichtbar wären, während 172 Deleuze 1997b, S. 33; zu den Implikationen und Figuren einer Selbstthematisierung des Kinos als dem „Bemühen, dem Inhalt nach zu werden, was man der Form nach schon ist“, vgl. Schaub 2005, S. 27ff. 173 Deleuze 1997b, S. 61. 174 Vgl. hierzu die Ausführungen Deleuzes in Analogie zur Geschichte des Denkens, vgl. ebd., S. 59ff. 175 Ott, Michaela: „L’espace quelconque. Der beliebige Raum in der Filmtheorie von Gilles Deleuze“, in: Koch 2005, S. 150-161, hier S. 154. 161
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im selben Zuge das Umfeld zunehmend verschwimmt. So kann die Großaufnahme des Affektbilds „in der Tiefen- und Flächenwirkung ein Zeit-Raum-Fragment enthalten, wie wenn sie es den Koordinaten, von denen sie abstrahiert ist, entrissen hätte“.176 Der beliebige Raum bezeichnet den unsichtbaren Umraum des Affekts und ist damit genau das, was verbleibt, wenn aus einer Großaufnahme das Gesicht bzw. der Affekt herausgeschnitten wird. Der beliebige Raum ist damit auf seiner grundlegendsten Ebene die Subtraktion des Affekts aus dem Affektbild. Diese Überlegung hat weitreichende Konsequenzen und lässt sich besser nachvollziehen, wenn man einen Blick auf die zwei unterschiedlichen Aspekte des Affekts bei Deleuze wirft. Denn Affekte können einerseits in ihren realen Zusammenhängen betrachtet werden, das heißt in Bezug auf eine bestimmte Situation, deren Reaktion sie als Affekt zum Ausdruck bringen, wobei diese Form von Affekt selbst tief im Konzept des Aktionsbilds verwurzelt ist. Andererseits haben Affekte jedoch auch einen Wert an sich, sind ‚reine‘ Affekte, die nichts als sich selbst „außerhalb raum-zeitlicher Koordinaten, als Singularitäten in ihrer Einzigartigkeit und in ihren virtuellen Verbindungen“177, zum Ausdruck bringen. Überträgt man diese zweite Vorstellung des Affekts nun auf den beliebigen Raum, so erscheint dieser als ein losgelöster, von allen raum-zeitlichen Koordinaten befreiter und allein in seinen potenziellen, virtuellen Verbindungen existierender Raum. Dennoch wäre es zu weit gegriffen, den beliebigen Raum als völlig allein existierend zu betrachten, denn: Ein beliebiger Raum ist keine abstrakte Universalie jenseits von Zeit und Raum. Es ist ein einzelner, einzigartiger Raum, der nur die Homogenität eingebüßt hat, das heißt das Prinzip seiner metrischen Verhältnisse oder des Zusammenhalts seiner Teile, so daß eine unendliche Vielfalt von Anschlüssen möglich wird.178
Diese zweifache Abkehr von der Homogenität einerseits und der Metrik andererseits rückt den beliebigen Raum deutlich in die Nähe der Vorstellung einer inneren Topologie. Als ‚bloßer Ort des Möglichen‘ wird er durch die Faktoren von Instabilität, Heterogenität und Bindungslosigkeit charakterisiert und ist damit, wie auch der Affekt selbst, „Ausdruck reiner Potentialität“.179 Der beliebige Raum ist in seiner ersten Form also reines Potenzial und reine Qualität. Denn er gründet auf virtuellen Verbindungen, die ihn in Richtung seines Potenzials hin öffnen. Gleichzeitig nimmt er als solcher jedoch auch die Form von Qualitäten und Intensitä-
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Deleuze 1997a, S. 145. Ebd., S. 144. Ebd., S. 153. Ebd. 162
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ten an, die den Raum schrittweise entgrenzen. Genau diese doppelte Funktion verbindet ihn wiederum mit dem Affekt, denn dieser ist „die Potenz, die sich all dessen bemächtigt, was in seine Reichweite kommt, oder eine völlig verschiedenen Objekten gemeinsame Qualität.“180 Inwiefern wird der beliebige Raum dann – als zweite Form des beliebigen Raums – zum zentralen Raumkonzept des modernen Films? Im modernen Film entstehen beliebige Räume zunächst in Zusammenhang mit den rein optischen und akustischen Situationen, wobei sich insbesondere in den Filmen Michelangelo Antonionis zwei zentrale Formen des beliebigen Raums verdichten: abgetrennte Räume und leere Räume. Während beim abgetrennten Raum keinerlei Verbindung zwischen seinen einzelnen Teilen besteht, „da er nur aus dem subjektiven Blickwinkel einer Figur entsteht: einer Figur, die dennoch abwesend, ja sogar verschwunden ist – nicht nur aus dem Bildfeld, sondern in die Leere“181, so zeigt sich im Fall des leeren oder verlassenen Raums noch eine Steigerung. Denn hier leiden die Figuren „weniger unter der Abwesenheit eines anderen als vielmehr unter einem mangelnden Bezug zu sich selbst [...]. Von nun an verweist dieser Raum auf den verlorenen Blick des Menschen, der gegenüber der Welt und sich selbst abwesend ist.“182 Diese bei Antonioni idealtypisch geformten beliebigen Räume, deren Zielpunkt nicht mehr die Ablösung bzw. Entgrenzung des Raums – wie noch in der ersten Form des beliebigen Raums –, sondern die sich in der Dauer entfaltende Leere des Raums selbst bildet, sind ihrerseits wiederum Indizien für eine neue Art der Raumkonstruktion im modernen Film, die nicht mehr allein auf beliebigen Anschlüssen gründet, sondern die vielmehr auf einer Art von „gestaltloser Ganzheit“ beruht: Mehr noch, es ist, als ob der beliebige Raum hier einen neuen Charakter bekäme. Im Unterschied zu früher ist es nicht mehr ein Raum, der sich durch Teile definiert, deren Anschlüsse nicht von vornherein festgelegt sind und sich in allen Richtungen zusammenfügen können. Es ist jetzt eine gestaltlose Gesamtheit, die alles, was sich in ihr ereignete und auswirkte, eliminiert hat.183
Mit der Verlagerung des Referenzpunkts von einem grundsätzlich durch Teile definierten Raum, der durch filmische Mittel zu einer Gesamtheit geformt wird, hin zu einem Raum, der überhaupt erst über diese Gesamt180 181 182 183
Deleuze 1997a, S. 164. Deleuze 1997b, S. 20. Ebd., S. 21. Deleuze 1997a, S. 166; ihre filmische Ausdifferenzierung gewinnen diese beliebigen Räume in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Bereichen des Stadtfilms (als verlassene, verödete Räume) und des Experimentalfilm (als potenzielle Räume); vgl. ebd., S. 167-170. 163
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heit gedacht werden kann, selbst aber als entleerter, fragmentierter Raum in Erscheinung tritt, hat sich ein grundlegender Richtungswechsel vollzogen. Denn das sensomotorische Schema ist im modernen Film, so Deleuze, nicht einfach aufgelöst oder überwunden, sondern vielmehr unwiederbringlich „von innen zerbrochen“.184 Die abweichende Bewegung wird nun zu einem Wert an sich, ebenso wie die falschen Anschlüsse und die nicht-lokalisierbaren Relationen, denn „die Figuren überspringen sie nicht mehr, sondern stürzen in sie hinein.“185 Die zweite Form des beliebigen Raums tritt demnach als eine äußere Topologie inkraft, die den größtmöglichen Abstand – in Form einer unüberbrückbaren, nicht-lokalisierbaren Leere – zwischen den Figuren und dem Raum aufzieht. Im Gegensatz zur Verdichtung der inneren Relationalität in der ersten Form des beliebigen Raums (im Affektbild) steht hier eine Dehnung und Krümmung des Raums im Vordergrund186, die in ihrer äußeren, extrinsischen Relationalität gerade vom Auseinandertreten räumlicher Prozesse zeugt. Um das Potenzial, das in dieser Raumbildung begründet liegt, näher zu greifen, lässt sich ein weiterer, entscheidender Faktor des Zeit-Bilds in die Überlegungen einbeziehen: das Denken des Kinos, oder präziser formuliert: ein spezifisch filmisches Raumdenken, das bereits über seine (mediale) Reflexivität hinausgeht, wie auch Raymond Bellour bezüglich der Figur des Denkens bei Deleuze ausführt: Auf der einen Seite steht die Philosophie, die Deleuze immer wieder als eine Tätigkeit definiert hat, Begriffe zu erfinden. Auf der anderen Seite haben wir das Kino, das es zu denken gilt, insofern das Kino bereits selbst denkt, und zwar nicht nur dank der Reflexivität, die es sich selbst gegenüber so oft schon bewiesen hat, sondern auch weil das Kino, wie jede andere Kunstform auch, durch die Filme der großen Regisseure auf seine eigene Art denkt.187
Bereits bei Bergson setzt sich das Zeit-Bild (Chrono-Zeichen) unmittelbar in einem Sprachbild (Lekto-Zeichen) und einem Denkbild (Noo-Zeichen) fort.188 Insbesondere das Denkbild ist entscheidend für das veränderte Verständnis des (beliebigen) Raums im modernen Film, öffnet es doch den Blick auf das topologische Moment der Raumkonstruktion. 184 Deleuze 1997b, S. 60. 185 Ebd., S. 61. 186 Friedrich Balke spricht hier von einem Raum, der durch „die Krümmung des Außen entsteht“ (S. 69f.), während das Bewegungs-Bild sein Maximum darin findet, „der Welt eine Krümmung zu verleihen“ (S. 69); Balke, Friedrich: Gilles Deleuze. Frankfurt/M./New York: Campus 1998. 187 Bellour, Raymond: „Denken, erzählen. Das Kino von Gilles Deleuze“, in: Fahle/Engell 1999, S. 41-60, hier S. 42. 188 Vgl. Deleuze 1997b, S. 134. 164
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Das konstitutive Verhältnis, in welches das topologische Moment der Raumkonstruktion und das Denken des Kinos eintreten können, manifestiert sich vor allem im Filmwerk von Alain Resnais, denn er „erschafft auf höchst konkrete Weise ein Kino, bei dem es nur noch eine einzige Person gibt: das Denken.“189 Seinen Inbegriff findet dieses Denken in dem „Paradox eines zwiefachen und mehrfachen Gedächtnisses“190, das ohne Zentrum und ohne jeden Fixpunkt existiert, während es sich kontinuierlich in unterschiedliche Ebenen aufteilt, die sich widersprechen und überlagern können.191 Für die Konstruktion des filmischen Raums bedeutet dies, dass er sich aus unterschiedlichen Vergangenheitsschichten zusammensetzt, die komplexe Beziehungen untereinander herausbilden und sich insofern auf topologische Weise übereinander legen, als jede für sich ein Kontinuum bildet, das gedehnt, gestreckt und transformiert werden kann. Dennoch laufen, wie Deleuze beschreibt, die „Transformationen oder Umverteilungen eines Kontinuums stets und notwendigerweise auf eine Fragmentierung hinaus“192, wobei jede Vergangenheitsschicht „gleichzeitig sämtliche mentalen Funktionen“193 aktiviert. In diesen topologischen Räumen bei Resnais artikuliert sich ein hochkomplexes Kino, in dem die Topologie – als Topos (‚Ort‘) und Logos (‚Wort, Gedanke, Sinn, Vernunft‘) – in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung und mehr noch, als Möglichkeit einer Transformation entfaltet wird.194 Der Raum des modernen Films, der sich jenseits der Bewegung aufspannt, findet folglich seine höchste Abstraktionsstufe in einem topologischen Raum, in dem zwei zentrale Aspekte miteinander in Kontakt treten: die Transformation des Raums und das Denken des Kinos. Auf beiden Linien eröffnet sich im Film die Möglichkeit, eine neue Art von Räumlichkeit zu denken, die keinen festen Maßstab mehr besitzt, deren Orientierungen nicht mehr gerichtet sind und die sich folglich auch auf kein eindeutiges Koordinationssystem mehr beziehen lässt, ja die gerade im Zuge der Einführung eines abstrakten filmischen Denkens den Raum als logisch erfahrbares bzw. rekonstruierbares Gebilde durch falsche Anschlüsse nachhaltig infrage stellt. Hier entstehen komplexe Räume, die nicht mehr primär über einfache räumliche Beziehungen, sondern vielmehr über die
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Deleuze 1997b, S. 162. Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Ebd., S. 160. Ebd., S. 165. Auf die Unterscheidung zwischen Logos und Nomos in Deleuzes und Guattaris Werk Mille Plateaux wird im Folgenden näher eingegangen; vgl. hier S. 173-175, insbes. Fußnote 202. 165
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Schichtung und Überlagerung einzelner Topologien wirken. Und so vollzieht sich auch im Zeit-Bild, wie Engell und Fahle ausführen, [...] die filmische Bewegung in Montage und beweglicher Kamera nicht mehr zuerst im Netz der räumlichen Relationen, die dargestellt werden, sondern in demjenigen gedanklicher Relationen [Hervorhebung d. Verf.], in logischen Beziehungen etwa oder in anderen Relationen geistiger Art, die hergestellt werden und als deren Realisierung dann die sichtbaren Bewegungen des Filmbildes auftreten.195
Im Zuge seiner grundlegenden und unwiederbringlichen Transformation öffnet sich der filmische Raum folglich auf das Denken hin, wodurch sich ein zweifacher Übergang vollzieht: von der Bewegung zur Zeit, vom Raum zur Topologie. Denn der Film vermag sein volles Potenzial erst dann zu entfalten, wenn er Raum und Denken in ein direktes Verhältnis zueinander setzt, und mehr noch, wenn er dieses Denken des Raums in einer topologischen Transformation aufgehen lässt. Und so zieht auch Deleuze aus den Transformationslogiken des Zeit-Bilds den folgenden Schluss: „Als primäre Eigenschaften besitzt das Bild nicht mehr länger den Raum und die Bewegung, sondern die Topologie und die Zeit.“196 Fasst man die einzelnen Linien dieses Teilkapitels zusammen, so zeigt sich ein zentrales Paradox: Der filmische Raum entfaltet sein (relational-topologisches) Potenzial weitaus deutlicher in Zusammenhang mit dem Zeit-Bild als mit dem Bewegungs-Bild, wenngleich die untrennbare Verknüpfung von Raum und Bewegung den Ausgangspunkt bildete, um über eine Neukonzeption des filmischen Raums überhaupt nachzudenken. Wurde dieses Kapitel also mit der Prämisse begonnen, Raum und Bewegung seien die entscheidenden Bedingungen für eine grundlegend prozessuale und dynamische Konzeption des filmischen Raums, so steht am Ende dieses Kapitels die Aussage, dass der filmische Raum gerade dann sein volles Potenzial entfaltet, wenn er den Raum ebenso wie die Bewegung hinter sich gelassen hat und als reine Transformation und als reines Denken inkraft tritt. Damit kann der Film zugleich als Motor begriffen werden, um an die Grenzen des Raums selbst zu stoßen (wie im Fall des Bewegungs-Bilds) oder – was mehr ist – noch darüber hinaus zu gehen (wie im Fall des Zeit-Bilds), wodurch der Film selbst an die Grenzen einer grundlegend medialen Räumlichkeit reicht, die in letzter Konsequenz nur als (topologische) Transformation zu fassen ist.
195 Engell, Lorenz; Fahle, Oliver: „Film-Philosophie“, in: Jürgen Felix (Hg.): Moderne Film Theorie. Mainz: Bender 22003, S. 222-245, hier S. 234. 196 Deleuze 1997b, S. 167. 166
Topographien und Topologien des filmischen Raums Der filmische Raum, der Gegenstand dieses zweiten Kapitels war, konstituiert sich stets im Prozess einer filmischen Transformation, die als Grundlage und zugleich als Ausgangspunkt filmischen Raumdenkens eingeführt wurde. Den filmischen Raum konsequent über die Transformation zu denken, bezeichnet dabei den Versuch, die Aussagen in einem Bereich des Räumlichen anzusetzen, das die Messbarkeit des euklidischen Raums bereits überschritten hat. In diesem Jenseits des Raums geht es nicht mehr – zumindest nicht mehr primär – um die Herleitung eines bewegten, dynamischen Raumkonzepts, das in einfachem Sinne auf den Film übertragbar und anwendbar wäre. Vielmehr setzt dieses Kapitel an der Frage an, welche Raumformen denkbar werden, sobald man die Bewegtheit, die Dimensionalität und die Konstruktivität des filmischen Raums als Nullpunkt setzt, um von dort aus alle Aussagen zur Produktion filmischer Räumlichkeit abzuleiten. Im Zuge dieses Blickwechsels sind prozessuale und transformative Formen der Raumkonstruktion aufgetreten, die im Folgenden anhand der Konzepte der filmischen Topologie und der filmischen Topographie auf den Punkt gebracht werden sollen, während sie zugleich einen Bogen zum ersten Kapitel spannen. Zunächst lässt sich jedoch aus den bisherigen Ausführungen ein zentraler Schluss ziehen: Denn im Verlauf dieses Kapitels haben sich stets zwei unterschiedliche Sinnordnungen des filmischen Raums herausgebildet, die ebenso auf das Engste aneinander gekoppelt sind wie sie ein Spannungsverhältnis aufziehen: modaler Raum vs. medialer Raum, filmische Orte vs. filmischer Raum, äußere vs. innere Bewegung. Je nachdem, welche raumtheoretische Fragestellung unterlegt wurde – die Frage nach den unterschiedlichen Sinnordnungen des Raums, die Frage nach der Ort-Raum-Differenz sowie die Frage nach Raum und Bewegung –, sind folglich andere Raumordnungen hervorgetreten, die in gewisser Weise quer zu den im ersten Kapitel erarbeiteten Aussagen stehen, indem sie diesen eine besondere, spezifisch filmische Wendung verleihen. Dabei lassen sich die Ebenen der filmischen Raumproduktion in zwei Richtungen weiter entwickeln: Die erste Linie weist auf eine Reihe weiterer (Sub-)Differenzierungen, die diesen Ebenen gleichsam zugrunde liegen und sie näher konturieren. So lässt sich die Differenz von modalem und medialem Raum über die Verhältnisse von Onscreen/Offscreen, von cadre/cache, von champ/hors-champ näher fassen, während die Relationen von filmischen Orten und filmischem Raum vor allem in den Beziehungen zwischen parole/langue und Ensembles/Ganzem ihr Pendant finden. Die relative, äußere Bewegung und die absolute, innere Bewegung verweisen dann als drittes Begriffspaar auf die Differenz 167
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zwischen dem Bewegungs-Bild und dem Zeit-Bild, zwischen dem hodologischen Raum und den zwei Formen des beliebigen Raums, zwischen Handeln (als Aktion) und Denken (als Sehen, als Reflexion). Die zweite Linie zielt hingegen weniger auf eine weitere Ausdifferenzierung dieser drei Begriffspaare als vielmehr auf eine Reihe abstrakter Kategorien, welche diese drei Ebenen miteinander verbinden und somit unmittelbar auf den filmischen Raum verweisen: Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Endlichkeit/Unendlichkeit, Aktuelles/Virtuelles. So lassen sich auf der einen Seite der modale Raum, die filmischen Orte und die äußere Bewegung als das unmittelbar im Bild Sichtbare, als das Endliche der filmischen Raumkonstruktion bzw. als das, was sich innerhalb des Bildrahmens (cadre) vollzieht und zur Anschauung gelangt, kurz: als das Aktuelle des Films begreifen. Demgegenüber verweisen sowohl der mediale Raum, der filmische Raum bei Gardies als auch die innere Bewegung auf das Unsichtbare des filmischen Raums, auf die Unendlichkeit dessen, was sich (potenziell) jenseits des Bildrahmens fortsetzt und damit zugleich auf das Virtuelle, das jedoch die Eigenschaft hat, zu jedem Zeitpunkt der filmischen Äußerung aktualisiert werden zu können, die Seiten zu wechseln und folglich als das Modale, als filmischer Ort oder auch als äußere Bewegung in Erscheinung zu treten. Auf diese Weise beschreiben die zwei Ebenen der filmischen Raumproduktion jeweils zwei Seiten ein und derselben Medaille (des filmischen Raums), die ebenso unterschiedlich sind wie sie untrennbar miteinander verbunden bleiben. Dennoch wäre es zu kurz gefasst, die Komplexität der filmischen Raumkonstruktion in einer doppelten Bewegung und in den einfachen Gegensätzen dieser beiden Raumordnungen aufgehen zu lassen. Denn bereits in den einzelnen Teilkapiteln wurde deutlich, wie sehr sich diese zunächst einfach gestalteten Differenzen bei näherer Betrachtung wiederum widersprechen, gegeneinander stellen und überlagern. So sind die Ebenen des Modalen und des Medialen sowohl in den filmischen Orten als auch im filmischen Raum enthalten, oder präziser gefasst: In den filmischen Orten verdichtet sich sowohl das Modale (als konkrete filmische Äußerung) als auch das Mediale (als die Grundbedingung eben dieser filmischen Äußerung), während der filmische Raum in den modalen Raumkonstruktionen (der filmischen Orte) seine Basis findet, gleichzeitig aber auch auf untrennbare Weise mit dem Medialen in Verbindung steht, indem er das übergreifende und, was mehr ist, spezifisch filmische ‚Ganze‘ bezeichnet. In Bezug auf die Unterscheidungen zwischen dem Bewegungs-Bild (als Endpunkt der Bewegung) und dem Zeit-Bild (als Jenseits der Bewegung) gewinnt diese Fragestellung nun noch einmal an Komplexität und steht in gewissem Sinne quer zu den bisher getroffenen Unterscheidungen, insofern dem Übergang zwischen dem Bewegungs-
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Bild und dem Zeit-Bild zugleich eine spezifische, wenngleich sich überkreuzende filmhistorische Dimension innewohnt, welche die einzelnen Aussagen in einen modifizierten Argumentationsrahmen einbettet. Zwei Räume und ihre Beziehungen Im Verlauf der Diskussion sind also immer wieder Kreuzungspunkte und Schnittstellen aufgetreten – und dies nicht allein in Bezug auf die beiden jeweiligen Ebenen der filmischen Raumkonstruktion selbst, sondern auch zwischen ihnen und in ihrem Austausch miteinander. Vor diesem Hintergrund sind wir vor ein ähnliches Problem gestellt, wie es auch Deleuze und Guattari in Zusammenhang mit der Differenzierung zwischen einem glatten und einem gekerbten Raum beschreiben, in denen sich eine ganze Reihe von Entsprechungen und Widersprüchen überlagern: Es ergibt sich also eine ganze Reihe von Fragen gleichzeitig: die einfachen Gegensätze zwischen beiden Räumen; die komplexen Unterschiede; die faktischen Vermischungen und die Übergänge vom einen zum anderen; die Gründe für die Vermischungen, die keineswegs symmetrisch sind und bewirken, daß man aufgrund von völlig unterschiedlichen Bewegungen mal vom glatten zum gekerbten und mal vom gekerbten zum glatten Raum übergeht. Man muß daher einige Modelle betrachten, die so etwas wie variable Aspekte von zwei Räumen und ihren Beziehungen [Hervorhebung d. Verf.] sind.197
Greift man diesen Gedanken auf, so treten zahlreiche Parallelen zu dem hier aufgeworfenen Problem zweier unterschiedlicher Ebenen der filmischen Raumproduktion auf, die es möglich machen, zu einer ersten Klärung bzw. Positionsbestimmung dieser beiden Raumordnungen zu gelangen. Denn ebenso, wie der glatte und der gekerbte Raum eine Reihe von einfachen und komplexen Differenzen unterhalten, die sich wiederum anhand bestimmter Modelle aus unterschiedlichsten Bereichen nachvollziehen lassen (das Modell der Technik, das Modell der Musik, das Modell des Meeres etc.), so lassen sich auch die drei dargelegten Diskussionslinien als ebensolche ‚variablen Aspekte von zwei Räumen und ihren Beziehungen‘ begreifen, durch die es letztlich möglich wird – öffnet man den Blick auf ihre Zusammenhänge und Korrespondenzen – von einfachen Gegensätzen, wie Deleuze und Guattari es beschreiben, zu ‚komplexen Unterschieden‘ und ‚faktischen Vermischungen‘ überzugehen. Es wird im Folgenden also darum gehen, diese beiden Ebenen noch weiter zuzuspitzen und zu ergründen, welche Facetten jeweils in die filmische Raumkonstruktion einfließen und wie sich ihre Gewichtung untereinander konstituiert. Die Grundlage dafür bildet die Revision genau 197 Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 658. 169
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derjenigen beiden Faktoren, die immer wieder als zentrale Motoren eines raumtheoretisch fundierten Perspektivwechsels auf den filmischen Raum eingeführt wurden: die Relation und die Transformation. Denn im Rückblick wird deutlich, in welchem Maße sich die Relation und die Transformation bereits in die drei Prämissen zum filmischen Raum einschreiben, inwieweit sie also die konzeptuelle Ausrichtung dieser drei Zugänge bereits vorzeichnen. Während die erste Prämisse für einen grundlegenden Perspektivwechsel auf den filmischen Raum steht, der sich von der Betrachtung der Darstellungsweise einzelner, modaler Orte im Film löst, um die mediale Ebene der Raumproduktion in den Blick zu nehmen, werden die Relationalität des filmischen Raums einerseits, die im Wechselspiel zwischen Modalem und Medialem zutage tritt, und das Potenzial des Films andererseits, eine permanente Transformation der Raumdimensionen zu bewirken, auf einer grundlegenden Ebene durchgespielt. Im Bereich der Diskussion des filmischen Raums als konstruiertem Raum, die in besonderem Maße auf dem Spannungsverhältnis von filmischen Orten und filmischem Raum basiert, kommt dem Faktor der Relation nun eine noch zentralere Rolle zu. Denn die Ebene des filmischen Raums, und damit die Ebene des übergreifenden Gesamtkonstrukts, lässt sich nicht allein über die unterschiedlichen Relationen der filmischen Orte untereinander (als innere Relation) sowie der filmischen Orte in Bezug auf den gesamten filmischen Raum (als äußere Relation) begreifen. Vielmehr wird der Faktor der Relation in der weiteren Ausführung der Ort-Raum-Differenz durch das Begriffspaar von Ensembles und Ganzem zu dem entscheidenden Kriterium, um ihren Zusammenhang in einer zirkulären Translationsbewegung überhaupt erst zu ergründen. Die dritte Prämisse des filmischen Raums als bewegtem Raum konzentriert sich nun grundsätzlich auf die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Arten der filmischen Transformation. Denn die Transformation ist der Motor, der die grundlegende, ‚innere‘ Bewegung des Films im Gegensatz zur ‚äußeren‘, unmittelbar im filmischen Bild sichtbaren Bewegung in Gang setzt. Und im Umkehrschluss ist die Bewegung der Faktor, der die spezifische filmische Raumtransformation überhaupt erst bewirkt. Darüber hinaus, und dies wurde besonders in Bezug auf die filmphilosophischen Aussagen Deleuzes zum Zeit-Bild erläutert, weist die Transformation jedoch auch auf das grundlegende Potenzial des Films, eine neue Art von Denken freizusetzen, das sich jenseits der Bewegung, sogar noch jenseits des Raums, entfaltet und dadurch zugleich das topologische Moment der filmischen Raumkonstruktion hervorbringt. Die drei Prämissen zum filmischen Raum haben folglich drei Diskussionslinien nach sich gezogen, in denen sich wiederum jeweils zwei zentrale Ebenen der filmischen Raumproduktion (mit ihren weiteren
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Ausdifferenzierungen) herauskristallisieren. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, diese beiden Ebenen erneut auf das Spannungsverhältnis von Topographie und Topologie zu beziehen, das bereits den Bogen um das erste Kapitel legte. Denn in den beiden Konzepten von Topographie und Topologie verdichten sich die bisherigen Aussagen zum filmischen Raum und bieten zugleich die Möglichkeit, über eine Synthese der Einzelpositionen hinausgehend, zu neuen, weiterführenden Fragestellungen zu gelangen. Dabei ist entscheidend, dass sich die Differenzierung zwischen einer filmischen Topographie einerseits und einer filmischen Topologie andererseits erst im Durchgang durch die Erörterung zentraler Raumprobleme in ihrer aktuellen Fassung und ihrer historischen Fundierung im ersten Kapitel, ebenso wie durch den Spiegel bzw. durch die Brechung eben dieser Fragestellungen im Kontext ihrer filmtheoretischen Diskussion im zweiten Kapitel als solche begreifen und in ihrer vollen Tragweite erfassen lässt. Wechselverhältnisse von filmischer Topographie und filmischer Topologie Greift man diesen Gedanken auf, so ergibt sich zunächst eine erste, sehr einfach gefasste Definition des filmischen Raums: Der filmische Raum konstituiert sich im Spannungsverhältnis zwischen filmischer Topographie und filmischer Topologie. In einem ersten Schritt wird also danach zu fragen sein, welche Vorstellungen jeweils mit einer filmischen Topographie und einer filmischen Topologie verbunden sind. In einem zweiten Schritt wird es dann um die Art und Weise ihres Zusammenwirkens innerhalb der filmischen Raumkonstruktion gehen. Denn beide Ebenen bauen ebenso aufeinander auf wie sie zentrale Differenzen markieren. Sie verweisen ebenso auf abstrakte Kategorien wie sie sich auf konkrete Fragen des Raumproblems zurückführen lassen, wodurch ihr Verhältnis stets ein komplexes Verhältnis sein wird, das es innerhalb einer Analyse der filmischen Raumkonstruktion zu ergründen und freizulegen gilt. Die filmische Topographie ist auf der Ebene der modalen Konstruktion filmischer Orte angesiedelt, wodurch Fragen der mise-en-scène, des Settings, der Ausstattung und der Filmarchitektur in den Blick gelangen. Die filmische Topographie setzt sich also mit dem Sichtbaren der filmischen Raumkonstruktion auseinander und fragt danach, welche Repräsentationstechniken und Gestaltungsmechanismen im Film am Werke sind: Welche Facetten und Bedeutungsebenen lassen sich also anhand der Inszenierung filmischer Orte ablesen und wie verhalten sich diese wiederum zu den einzelnen Figurenkonstellationen? Im Zuge dieser Untersuchungen treten zugleich Fragen der Dramaturgie auf den Plan, Fragen der Selektion und der Einbettung der einzelnen Orte in den 171
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narrativen Zusammenhang des Films. Einen Kernpunkt bildet dabei, in Rückgang auf das erste Kapitel, die Betrachtung unterschiedlicher Dimensionen des Raums, wie etwa seine materielle, soziale und symbolische Dimension, die im Film auf komplexe Weise ineinandergreifen. Die Ebene der filmischen Topographie bezieht sich damit zunächst auf den Ist-Zustand, also auf das Gegebene und Sichtbare, das sich in den filmischen Raum einkerbt – und genau hierin begründen sich die inneren, konzeptuellen Analogien zur Topographie in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung. Darüber hinaus besitzt die Ebene der filmischen Topographie jedoch auch eine ganz eigene Komplexität, eine eigene Vielschichtigkeit, die erst über eine eingehende Analyse und Aufschlüsselung ihrer Bedeutungsebenen herausgearbeitet werden kann und damit zu einer entscheidenden Grundlage der Analyse des filmischen Raums wird. Die filmische Topologie ist hingegen auf der Ebene der medialen Konstruktion filmischer Räume angesiedelt. Dies bedeutet, dass Fragen des Mediums bzw. der medialen Spezifik des Films in Bezug auf seine Raumkonstruktion in den Vordergrund treten. Dabei bezeichnet die filmische Topologie eine abstrakte, übergreifende Ebene des filmischen Raums, welche die Synthese der einzelnen filmischen Orte bildet, wodurch nicht allein die filmischen Orte selbst, sondern vielmehr ihre Verbindungslinien und Verknüpfungen, kurz: ihre Relationen in den Blick gelangen, die sich zu einem filmischen ‚Ganzen‘ formen. Ebenso wie es bereits für die Ebene des medialen Raums formuliert wurde, ist die Ebene der filmischen Topologie gewissermaßen eine sehr einfache, unhinterfragte und scheinbar selbstverständliche Kategorie. Zugleich ist sie jedoch auch eine äußerst komplexe, abstrakte Kategorie, die nicht in jeder Einstellung und nicht in jedem Film unmittelbar zu entdecken ist, sondern sich oftmals auf sehr versteckte Weise in die einzelnen Einstellungen einschreibt – als das Topologische, das Paradoxe und das Unerklärliche und damit als das, was das Ganze stets zum Denken hin öffnet. Damit bewegt sich die filmische Topologie nicht im Bereich des unmittelbar Sichtbaren, das heißt des unmittelbar im Bild Gegebenen, sondern bezeichnet ein bestimmtes Potenzial und eine bestimmte Qualität des filmischen Raums, die wiederum allein durch Subtraktion des Sichtbaren und Freilegung des Unsichtbaren im Zuge einer filmischen Reflexion hervortreten kann. Damit bezeichnet die filmische Topologie mehr als die Summe ihrer Teile; sie ist mehr als die Zusammensetzung der einzelnen filmischen Orte zu einem filmischen Raum. Denn sie beinhaltet Fragen nach der spezifischen Medialität, welche die Grenzen und Möglichkeiten der Produktion filmischer Räumlichkeit reflektiert und diese an jedem Punkt ihrer Konstruktion als Potenzial einer Transformation mitdenkt. Dadurch und auf diese Weise ist die filmische Topologie
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immer schon auf das Werden, auf einen Prozess hin ausgerichtet. Denn sie lenkt ihren Blick weder auf den Ist-Zustand noch auf die Aufzeichnung und Darstellung räumlicher Vorgänge (wie im Fall der filmischen Topographie), sondern zuallererst und im Kern auf den TransformationsProzess selbst, durch welchen das Gegebene, das Vorfindliche und das Sichtbare mittels einer komplexen Transformationsbewegung in eine spezifische Form von filmischer Sichtbarkeit überführt werden. Dennoch lassen sich die filmische Topographie und die filmische Topologie keineswegs allein als zwei gegensätzliche Logiken der filmischen Raumkonstruktion begreifen, die zwei eindeutige Alternativen herausbilden und immer nur als das eine oder das andere in Erscheinung treten können. Denn die filmische Topologie bewirkt in gewissem Sinne eine Weiterentwicklung der filmischen Topographie, insofern hier übergreifende Fragen auf den Plan treten, aus denen sich wiederum Aussagen über die mediale Verfasstheit des filmischen Raums ableiten lassen. In anderen Worten: So wie der mediale Raum allein in Bezug auf den modalen Raum gefasst werden kann, sich der filmische Raum allein aus den einzelnen filmischen Orten herleiten lässt und die innere Bewegung allein im Zuge einer unendlichen Steigerung der äußeren Bewegung freigesetzt werden kann, so findet auch die filmische Topologie in der filmischen Topographie ihre notwendige Bedingung und ihre zentrale Grundlage. Gemeinsam haben sie das Potenzial, die Dynamik und die Komplexität der filmischen Raumkonstruktion einzufangen. Mehr noch: Aus der Kombination dieser beiden Raumlogiken ergeben sich völlig neue Dynamiken, die im Kern der spezifischen Spannungsverhältnisse, in welche der filmische Raum eingespannt ist, begründet liegen. Das Verhältnis zwischen filmischer Topographie und filmischer Topologie, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Aktuellem und Virtuellem, lässt sich näher fassen, wenn man sich erneut Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Ausführungen zum glatten und gekerbten Raum zuwendet – nun jedoch mit veränderter Zielrichtung bzw. vor dem Hintergrund einer modifizierten Fragestellung. So postulieren Deleuze und Guattari in Zusammenhang mit dem Modell der Musik eine grundsätzliche Differenz zwischen der Metrik (welche stets dem gekerbten Raum zugesprochen wird) und der Nicht-Metrik (welche unmittelbar auf den glatten Raum verweist), die mit zwei unterschiedlichen Arten von Schnitten kurzgeschlossen werden und damit unmittelbar auf die Kerndifferenzen topographischer und topologischer Räume verweisen: [...] Auf einer zweiten Ebene kann man sagen, daß der Raum zwei Arten von Einschnitten bekommen kann: der eine Schnitt wird durch einen Maßstab
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bestimmt, der andere ist nicht festgelegt und unregelmäßig, er kann an beliebiger Stelle gemacht werden.198
Auch der Film ist folglich von glatten und gekerbten Räumen durchzogen. Denn bezieht man diese Aussagen auf das Bild des Materiestroms, das Deleuze in Anschluss an Bergson entwickelt, so zeigt sich sehr deutlich, dass der Film zunächst mit einem nicht-zentrierten und damit letztlich nicht-metrischen, glatten Universum der Bilder gleichgesetzt wird, das in der veränderlichen Dauer existiert – und nicht zuletzt hierin begründet sich Deleuzes radikal immanente Sichtweise des Kinos.199 Dennoch beruht das Kino ebenso, wie Deleuze immer wieder herausstellt, auf bestimmten metrischen Formen, genauer gesagt: auf dem Setzen bestimmter Intervalle, durch welche die einzelnen Artikulationen des Bewegungs-Bilds im Wahrnehmungs-, Affekt- und Aktionsbild überhaupt erst entstehen können. So steht das Gekerbte unmittelbar mit der filmischen Topographie in Verbindung, indem hier eine bestimmte Metrik, ein genaues Maß unterlegt wird. Demgegenüber zeigen sich deutliche Korrespondenzen zwischen dem Glatten und der filmischen Topologie, indem sie – in Abkehr von der euklidischen Metrik – allein in ihren nicht-metrischen, beliebigen Räumen zur Entfaltung kommt. Dennoch speist sich die Dynamik der filmischen Raumkonstruktion erst aus ihrem Zusammenspiel heraus, entsteht der filmische Raum erst im kontinuierlichen Übergang von nicht-metrischen zu metrischen Räumen, oder präziser: zu Räumen mit eingekerbter Metrik und deren Entgrenzung. Neben dem Modell der Musik kann auch das Modell der Mathematik weiteren Aufschluss über das Verhältnis von filmischer Topographie und filmischer Topologie geben. Denn hierin werden die beiden Formen des Glatten und des Gekerbten anhand zweier unterschiedlicher Arten von Mannigfaltigkeiten beschrieben, die im Rückgang auf die mathematischen Erkenntnisse Bernhard Riemanns und deren Ausdeutung durch Henri Bergson einerseits als „eine qualitative und verschmelzende, stetige“, andererseits als „eine numerische und homogene, unstetige Mannigfaltigkeit“200 definiert werden. Dennoch wäre es zu kurz gefasst, im glatten Raum, und damit in der nicht-metrischen Mannigfaltigkeit, lediglich eine „untergeordnete, rein operative und qualitative Geometrie“201 zu sehen.
198 Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 662. 199 Lorenz Engell und Oliver Fahle beschreiben die Kinotheorie Deleuzes in ihrer Einführung zu den Perspektiven einer Filmphilosophie in Hinblick auf zwei Aspekte: erstens als ‚radikal immanent‘ und zweitens als ‚konsequent zeitlich‘; vgl. Engell/ Fahle 22003, S. 222. 200 Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 670. 201 Ebd., S. 671. 174
TOPOGRAPHIEN UND TOPOLOGIEN DES FILMISCHEN RAUMS
Denn gerade durch ihre Unabhängigkeit von der Zahl entfaltet die nichtmetrische Mannigfaltigkeit das Potenzial, Singularitäten und Variationen in Form einer ‚intuitiven Geometrie‘ gegenüber einer ‚metrischen Geometrie‘ freizusetzen. Auf diese Weise sprechen Deleuze und Guattari auch von einem „doppelten positiven Charakter“ des glatten Raums, in dem seine topologischen Facetten deutlich zutage treten: [...] einerseits, wenn die Bestimmungen, die den einen zum Teil des anderen machen, unabhängig von der Größe [Hervorhebung d. Verf.] auf umhüllte Abstände oder auf geordnete Differenzen verweisen; andererseits, wenn Bestimmungen auftauchen, die nicht beiden angehören können und sich unabhängig von der Metrik [Hervorhebung d. Verf.] durch Prozesse der Frequenz oder der Häufung verbinden. Das sind die beiden Aspekte des Nomos des glatten Raumes.202
Die Betrachtung des glatten Raums in Mille Plateaux dient folglich in erster Linie dazu, ein klareres und zugleich facettenreicheres Bild der filmischen Topologie zu gewinnen. Dennoch treten die Potenziale des glatten Raums immer besonders dann hervor, wenn sich das Glatte in einem durch und durch gekerbten Raum (wie etwa in einem städtischen Raum) ausbreiten kann, ebenso wie das Gekerbte gerade dann seine hohe Prägekraft entfaltet, wenn es sich über einen glatten Raum par excellence (wie im Fall des Meeres) einschreibt, was zur Folge hat, so Deleuze und Guattari, „daß jeder Fortschritt durch den und im gekerbten Raum vonstatten geht und daß jedes Werden im glatten Raum geschieht.“203 Der filmische Raum speist sich folglich aus der Dynamik, die sich zwischen der filmischen Topographie (als ‚metrischer Geometrie‘) und der filmischen Topologie (als ‚intuitiver Geometrie‘) entfaltet. Wurde im ersten Kapitel die Topographie mit der Vorstellung einer Repräsentationstechnik des Raums verknüpft, die ganz grundlegend auf dem Konzept 202 Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 673. Wenn Deleuze und Guattari an dieser Stelle den gekerbten Raum mit dem Logos, den glatten Raum hingegen mit dem Nomos in Verbindung bringen, so hängt dies mit der spezifischen Auffassung des Denkens bei Deleuze zusammen, das – folgt man der Einführung Friedrich Balkes – gerade im Gegensatz zum griechischen Logos steht, von dem sich Deleuze beständig abzugrenzen versucht, da es für ihn das ‚nicht-philosophische Denken‘ in der Philosophie verhindert; vgl. Balke 1998, S. 15-20. An anderer Stelle formuliert Deleuze hierzu: „Im Logos gibt es einen Aspekt, so verborgen er auch sein mag, durch den der Verstand immer vorher kommt, durch den das Ganze immer schon anwesend ist, das Gesetz schon vor dem Einzelfall bekannt, auf den es angewendet wird“; Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen. Berlin: Merve 1993, S. 85; zit. in: Balke 1998, S. 18. 203 Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 674. 175
DER FILMISCHE RAUM
der Karte, der Kartographie und damit auf unterschiedlichen ablesbaren Aufzeichnungsmechanismen des Raums bzw. räumlicher Praktiken basiert, so setzt die Topologie an einem grundsätzlich anderen Punkt an. Denn sie überschreitet die Messbarkeit des Raums und denkt diesen als einen n-dimensionalen Raum, der relational bestimmt wird und zu jedem Zeitpunkt auf eine Transformation hin ausgerichtet ist, wodurch die Topologie das Potenzial hat, nicht allein über die Grenzen der Bewegung, sondern noch über die Grenzen des Raums selbst hinauszugehen. Die Ausführungen des ersten Kapitels lassen sich jedoch auch noch zu einem zweiten Argument mit Blick auf die topographischen und topologischen Facetten der filmischen Raumkonstruktion verdichten. Denn während die filmische Topographie weitgehend darin aufgeht, das Wechselspiel zwischen der Zweidimensionalität (der Karte, der Leinwand) und der Dreidimensionalität (der räumlichen Praktiken) auszuloten, so geht die filmische Topologie immer schon über dieses Spannungsverhältnis hinaus, insofern sie dieses Spannungsverhältnis durch ihre spezifische, das Dimensionale bereits überschreitende Form von Räumlichkeit entgrenzt. Führt man diesen Gedanken weiter, so bezeichnet die filmische Topographie eine Größe, die sich stets verrechnen und vermessen lässt, der also immer eine genaue Position innerhalb ihrer zweistufigen bzw. dreistufigen Logik zugewiesen werden kann. Die filmische Topologie bildet demgegenüber eine Größe, die niemals vollständig mit den aufgezogenen Koordinaten und räumlichen Leitlinien verrechnet werden kann, die sich einer klaren Einteilung permanent entzieht, indem sie stets neue Verzweigungen und andersartige Raumfiguren hervorbringt, die sich auf die Grundfiguren der inneren und der äußeren Topologie beziehen. Entscheidend dabei ist festzuhalten, dass sowohl die filmische Topographie als auch die filmische Topologie eine Abstraktion von Raum bedeuten: Im Fall der filmischen Topographie erfolgt diese Abstraktion jedoch auf das, was sich unmittelbar in das Bild einzeichnet bzw. einkerbt (als Spur, als visueller Ausdruck, als das Sichtbare). Im Fall der filmischen Topologie vollzieht sich diese Abstraktion hingegen in Bezug auf das, was der Film als gedankliche Disposition, als Potenzial des Filmischen freisetzt (als Denken des Kinos, als ‚reiner‘ Ausdruck, als das Unsichtbare). Auf der einen Seite lassen sich aus den Ausführungen zum Gekerbten und zum Glatten folglich die Differenzen von Metrik und Nicht-Metrik, von metrischer und intuitiver Geometrie herausgreifen, um das Verhältnis von filmischer Topographie und filmischer Topologie näher zu konturieren. Auf der anderen Seite lässt sich jedoch auch der Faktor ihrer ‚zirkulären Beziehung‘ in Anspruch nehmen, um in Bezug auf die Verbindungslinien der filmischen Topographie und der filmischen Topologie einen weitreichenden Schluss zu ziehen. Denn die filmische
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TOPOGRAPHIEN UND TOPOLOGIEN DES FILMISCHEN RAUMS
Topologie ist einerseits durch eine gewisse Vorgängigkeit gegenüber der filmischen Topographie charakterisiert, steht sie doch zuallererst für einen grundlegend medialen Raum, der unhintergehbar und ununterscheidbar mit dem Medium selbst verbunden ist. Andererseits kennzeichnet sie jedoch auch eine Nachgängigkeit gegenüber der Topographie. Denn sie ist das, was den filmischen Raum in eine direkte Beziehung zum Denken setzt, das als topologisches Denken der Selbstbezüglichkeit bzw. der Ununterscheidbarkeit räumlicher Parameter in Erscheinung tritt und somit stets über die topographische Raumordnung hinausweist. Die filmische Topologie folgt also einer doppelten Logik, indem sie sich auf zwei Ebenen – als Vorgängigkeit und als Nachgängigkeit – in die filmische Raumkonstruktion einschreibt. Gleichzeitig wird mit diesen beiden Aspekten jedoch auch eine Kreisfigur beschrieben: Denn die filmische Topologie ist das, was der filmischen Topographie als Grundbedingung zugrunde liegt, ebenso wie sie das ist, was nach der topographischen Konstruktion filmischer Orte wirksam wird, was sie miteinander verbindet und zu einer Synthese bringt. Der erste Aspekt der Topologie setzt folglich immer genau an dem Punkt wieder an, an welchem der zweite Aspekt der Topologie sein Ende findet: bei der Medialität des Raums und bei der Topologie des filmischen Denkens. Im Laufe der Ausführungen dieses Kapitels hat der filmische Raum ein weitgehend verändertes Gesicht erhalten: Der filmische Raum ist grundlegend bewegt und dynamisch; er basiert ebenso auf einfachen Gegensätzen wie auf den komplexen Korrespondenzen zweier Raumordnungen. Er ist in seiner Zusammensetzung aus einzelnen, modalen filmischen Orten immer schon eine Konstruktion, die im Modus der Bewegung stattfindet, ebenso wie er – über seine einzelnen Relationen – stets auf eine übergreifende Transformation hin ausgerichtet ist, wodurch er wiederholt den Blick auf seine spezifische Medialität freigibt. Seine einfachste Formel findet dieser andersartige Blick auf den Raum im Wechsel zwischen der Betrachtung des Raums im Film und der Analyse genuin filmischer Räume, welcher einen übergreifenden Bogen um dieses Kapitel spannt. Seine komplexe Ausgestaltung entwickelt der filmische Raum hingegen in der Differenz zwischen einer filmischen Topographie und einer filmischen Topologie, welche die zuvor aufgezogenen Verhältnisse zwischen dem Modalen und dem Medialen, zwischen den filmischen Orten und dem filmischen Raum, zwischen der äußeren und der inneren Bewegung zu einer Synthese bringt, um sie im selben Zuge zu überschreiten und sie unmittelbar mit den Positionen der Raumtheorie zu verbinden. Von diesem Punkt ausgehend lassen sich nun unterschiedliche Konstruktionsmechanismen des filmischen Raums entwickeln und damit 177
DER FILMISCHE RAUM
zugleich unterschiedliche Logiken der Verknüpfung, die den Übergang zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie modellieren. Mit Blick auf die Entwicklungslinien des Stadtfilms werden dabei ganz neue Dynamiken freigesetzt, die sich insbesondere in der Vielschichtigkeit urbaner Räume selbst begründen. So lassen sich auf der einen Seite die graduellen Verschiebungen und Modifikationen innerhalb der topographisch-topologischen Relationen durchspielen, welche die filmische Konstruktion urbaner Räume im 20. Jahrhundert durchläuft. Auf der anderen Seite, und auf das Engste daran anknüpfend, wird es um die Ausdifferenzierungen der filmischen Topologie gehen, mithin um jene Formen der inneren, der bewegten und der äußeren Topologie, deren Herausbildung sich gleichermaßen über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg verfolgen lässt, wie sie auch eine Reihe subtiler, sich graduell verschiebender Variationen hervorbringt und verdichtet. Wurde der filmische Raum in diesem Kapitel zunächst als Abstraktum und insbesondere mit Blick auf einzelne filmische Strömungen (den poetischen Realismus, den filmischen Expressionismus, das europäische Nachkriegskino bzw. die filmische Moderne) entwickelt, so wird es im Folgenden darum gehen, diese Ausführungen anhand der filmischen Metropole abzugleichen, die den topologischen Facetten der filmischen Raumkonstruktion als eine starke, überdeterminierte räumliche Form bzw. in Form einer hoch differenzierten urbanen Topographie entgegentritt. Die Relation und die Transformation, die sich im Spannungsfeld dieser beiden Raumformen entwickeln, werden dabei als zwei Grundprozesse der filmischen Raumkonstruktion die Analysen begleiten, wenngleich sich jeder Film und jede filmische Strömung, wie zu zeigen sein wird, anders zu diesen beiden Prozessen verhält. Nicht jeder Film, wie im Konzept des modernen Films angesprochen, versteht sich als ein Zeichen, oder genauer: als ein sich veränderndes, relationales Zeichen, das bewusst gesetzt und im Film selbst sichtbar gemacht wird. Nicht jeder Film stellt die Transformation, die der Film in Bezug auf die äußere Wirklichkeit vornimmt, aus, indem er sie sichtbar macht und im Film selbst reflektiert. Dennoch sind beide Prozesse auf das Tiefste in der filmischen Raumkonstruktion selbst verankert, und es ist ein Ziel jeder Analyse des Räumlichen, diese beiden Prozesse freizulegen. Denn erst auf dieser Grundlage werden Aussagen über das jeweilige Verhältnis von filmischer Topographie und filmischer Topologie, über ihre zugrunde liegenden Konstruktionsmechanismen und damit zugleich über die unterschiedlichen, miteinander interagierenden Raumkonzepte und Sinnordnungen des Films zu treffen sein.
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III. M E T R O P O L E N I N T R A N S F O R M A T I O N : EINE ZWISCHENBETRACHTUNG Die Konstruktion des filmischen Raums vollzieht sich stets im Übergang. Sie vollzieht sich in einem zweiseitigen Prozess, dessen Referenzpunkte bzw. zwei gegensätzliche Pole die filmische Topographie und die filmischen Topologie bilden. Der filmische Raum ist selbst Prozess, und mehr noch, er ist Transformation. Dabei entwickelt er seinen transformativen Charakter auf zweierlei Weise: erstens in Bezug auf die Außenwelt, die er transformiert und in eine spezifische Form filmischer Sichtbarkeit überführt, und zweitens in Bezug auf die filmische Konstruktion des Raums selbst, in der die Transformation als Übergang und als Prozessuales unmittelbar wirksam wird. War bisher die zweite Seite, und damit die Seite der filmischen Raumkonstruktion, der zentrale Gegenstand der Betrachtungen, so wird es im Folgenden um die Modifizierung dieser ersten Thesen angesichts der räumlichen Form(en) des Urbanen gehen. Das Verhältnis zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie scheint mit Blick auf die Metropole zunächst vermeintlich einfacher zu werden, insofern sich die Filme nun mit einem stark konturierten, räumlich definierten Gebilde auseinandersetzen: der Metropole.1 Im selben Zuge wird ihr Verhältnis jedoch auch weitaus komplexer, indem hier eine wesentliche Ausdifferenzierung der topographischen und topologischen Facetten in Gang gesetzt wird: Es entstehen Schichtungen, welche die topographischen Aspekte der Metropole – ihre Gebäude, ihre Straßen, ihre Plätze – zu einem komplexen topologischen Geflecht verweben, das sich gleichsam über die Stadt legt, sich ihr einschreibt. Und es entstehen differenzierte topologische Figuren, die das Räumliche entgrenzen und es beständig auf seinen innersten Punkt der Ununterscheidbarkeit (als innere Topologie) und auf seinen äußersten Punkt des Auseinandertretens (als äußere Topologie) zuführen. Kernpunkt dieses Zwischenkapitels ist es, die bisherigen Thesen zur Topographie und Topologie filmischer Räume an der Metropole neu 1
Auf die Komplexität des Metropolenbegriffs zwischen Relationalität und Transformativität, die an dieser Stelle zunächst unterschlagen wird, wird im Folgenden genauer eingegangen; vgl. hier S. 186-188. 179
METROPOLEN IN TRANSFORMATION
auszurichten und neu zu justieren. Diese zentrale und notwendige Modifikation begründet sich einerseits in der Metropole selbst, die als ein hoch komplexes räumliches Gebilde den Film wie kaum eine andere räumliche Struktur immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt hat (wie besonders in der Frühzeit des Films) bzw. diesen gerade aufgrund ihrer Überdeterminiertheit immer wieder mit der Frage konfrontiert hat, wie er sich zu ihrer (Film-)Geschichte verhalten möchte (wie besonders in den letzten Jahrzehnten). Andererseits, und untrennbar damit verbunden, reagiert jedoch auch der Film angesichts der räumlichen Komplexität des Urbanen mit einem beständigen Experimentieren, das zum Ziel hat, eben diese komplexen Strukturen widerzuspiegeln, sie sichtbar und hörbar zu machen. Dieses Experimentieren wird im Zuge der zunehmenden Ausdifferenzierung von Filmtechnik und -ästhetik wiederholt darin münden, das Städtische selbst einer umfassenden Reflexion zu unterziehen, die an die Grenzen dessen reicht, was als filmische Stadt begreifbar ist. Geht man zunächst auf die Seite der filmischen Topologie ein, so spielen die gegenläufigen Prozesse von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Aktuellem und Virtuellem des filmischen Raums eine entscheidende Rolle. Denn das Topologische artikuliert sich als das Unsichtbare, als Potenzial und als Qualität des filmischen Raums immer genau dann, wenn es von der Unsichtbarkeit zur (filmischen) Sichtbarkeit, von der Unendlichkeit zur filmischen Endlichkeit, vom Virtuellen zum filmischen Aktuellen übergeht. Dabei geht es keineswegs darum, die filmische Topologie mit einer ‚innerlichen Dimension‘ oder auch einem ‚psychischen Bezug‘ des Städtischen kurzzuschließen. Die Wechselbeziehung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit soll hier nicht – zumindest nicht vollständig – mit der zweiseitigen Konfiguration eines äußeren und inneren Städtischen, die sich wechselseitig ineinander spiegeln, gleichgesetzt werden ebenso wenig wie die Topologie sich darin erschöpft, eine ‚städtische Unsichtbarkeit‘ zu produzieren, die wiederum als modale Seite in die Filmhandlung integriert und damit unmittelbar auf das Topographische zurückgeführt werden kann. Denn die filmische Topologie entwickelt besonders dann ihr Potenzial, wenn sie ein filmisches, transformatives Denken des Raums freisetzt, das sich als Reflexion der Grenzpunkte und Entgrenzungen sowohl städtischer als auch filmischer Räumlichkeit in das Geschehen einschreibt. Ebenso wenig ist die Seite der filmischen Topographie ausreichend erfasst, wenn man den Blick auf die Metropole und ihre (modalen) Gestaltungsmechanismen lenkt. Denn die Topographie entfaltet gerade dann ihr Potenzial, wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen der Zweidimensionalität (der Karte, der Leinwand) und der Mehrdimensionalität (der räumlichen Prozesse) auslotet. Sie umfasst stets zwei Seiten, die sich
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EINE ZWISCHENBETRACHTUNG
in Bezug auf das Urbane in zwei unterschiedliche Richtungen konkretisieren lassen: Einerseits werden wir auf dem Weg durch die filmische Metropole im 20. Jahrhundert immer wieder auf diejenigen Formen der Topographie stoßen, die sich in einer kartographischen Aufzeichnung und damit zunächst in einem zweidimensionalen Repräsentationsmedium manifestieren. Dabei wird zu fragen sein, welche Dynamiken aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Zweidimensionalität und der Mehrdimensionalität freigesetzt werden; eine Fragestellung, die besonders dann virulent wird, wenn Malerei und Grafik als Repräsentationsformen des Städtischen in die einzelnen Filme integriert werden. Andererseits beinhaltet die filmische Topographie jedoch noch eine zweite Dynamik, die sie stärker in Richtung der Topologie öffnet und die sich genau dann artikuliert, wenn sie ein Wechselspiel der unterschiedlichen Sinnordnungen des Materiellen, des Sozialen und des Symbolischen in Gang setzt. Ihre erste Bedeutungsebene entfaltet die filmische Topographie dann, wenn sie das, was unmittelbar sichtbar wird, auf die Zweidimensionalität der Karte als Repräsentationsmedium von Räumlichkeit bezieht. Ihre zweite Bedeutungsebene entwickelt sie hingegen dann, wenn sie ihre Sichtbarkeit in ein Spannungsverhältnis zur Mehrdimensionalität des Materiellen, des Sozialen und des Symbolischen setzt, wodurch sie auf dieser zweiten Stufe zugleich an die Grenzen zur Topologie reicht. Auf der anderen Seite findet sich auch im Bereich der filmischen Topologie eine Rückführung auf die Topographie, und zwar genau dann, wenn sie das, was ihr als Unsichtbares und Prozessuales innewohnt, in konkrete, unmittelbare oder paradoxe Bilder des (bewegten) Städtischen überführt. Ihre zweite, tiefere Bedeutungsebene entfaltet sie hingegen dann, wenn sie einen Abstand zwischen die Sichtbarkeit der Topographie und ihre eigene Unsichtbarkeit einzieht, um auf diese Weise komplexe Raumgebilde und heterogene Raumschichtungen hervorzubringen. Angesichts des Urbanen wird das Spannungsverhältnis zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie demzufolge nicht allein verstärkt und zugespitzt, sondern im selben Zuge wird eine Ausdifferenzierung beider Ebenen in Gang gesetzt. Insbesondere die Entfaltung der filmischen Topologie bildet den Rahmen der folgenden Betrachtungen zum frühen Stadtfilm, zum Film noir und zum Episodenfilm, insofern sie in jeder Phase der filmischen Entwürfe des Urbanen unterschiedliche, modifizierte Facetten annimmt, aus denen sich wiederum Aussagen über die jeweilige Verfasstheit des Städtischen ableiten lassen. Auf diese Weise öffnet sich in den Analysen der Blick auf die Komplexität der filmischen Stadt und damit auf die unterschiedlichen, sich überlappenden filmischen Topologien, die dem Relationalen und dem Transformativen der filmischen Raumkonstruktion ein Bild verleihen.
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Aus diesen ersten Aussagen ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Betrachtung der filmischen Konstruktion urbaner Räume. Und diese Konsequenzen begründen sich nicht allein in dem bereits mehrfach postulierten Wechsel der Blickrichtung auf den filmischen Raum als einem zugleich medialen, konstruierten und bewegten Raum in Abgrenzung zu seiner oftmals implizierten Materialität und Statik. Vielmehr begründen sie sich im Spannungsverhältnis zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie, das auch dem Verhältnis von Film und Metropole eine wesentliche Umwertung zu verleihen mag. Denn vor dem Hintergrund des bisher Gesagten wird deutlich, dass eine Arbeit zur filmischen Metropole nicht mehr darin aufgehen muss, die Untrennbarkeit und wechselseitige Einschreibung von Metropole und Film zu postulieren und zu begründen. Vielmehr lassen sich diese Aussagen nun als Prämisse den einzelnen Ausführungen zugrunde legen und mehr noch, die Betrachtungen an genau jener Schnittstelle zwischen der Metropole und dem Film ansetzen, die den Prozess der filmischen Transformation selbst betrifft. Denn dieser hat mit der filmischen Topographie und der filmischen Topologie nun zwei differenzierbare Seiten erhalten, die in ihrem Zusammenspiel einen filmischen Raum konstituieren. Damit setzt diese Arbeit an einem grundlegend anderen Punkt an als diejenigen einschlägigen Arbeiten, die sich auf vielfältige Weise mit der privilegierten und zugleich äußerst komplexen Beziehung zwischen der Metropole und dem Film auseinandergesetzt haben – mit ihrem wechselvollen Verlauf im 20. Jahrhundert, mit ihren utopischen und dystopischen Entwürfen, mit ihrer Produktion und Rezeption.2 Dabei wird stets die ‚Wahlverwandtschaft‘ zwischen Metropole und Film hervorgehoben, die sich vor allem in ihrer gemeinsamen ‚Sonderstellung‘ in Zusammen2
Die fruchtbarste und bisher wohl umfassendste Zusammenstellung von Stadtfilmen in Deutschland findet sich in: Vogt, Guntram: Die Stadt im Film. Deutsche Spielfilme 1900-2000. Marburg: Schüren 2001, während die Vorgängerpublikation von Hanno Möbius und Guntram Vogt: Drehort Stadt. Das Thema ‚Großstadt‘ im deutschen Film. Marburg: Hitzeroth 1990, gerade in ihrer Differenzierung des Stadt-Land-Verhältnisses und den unterschiedlichen Orientierungen innerhalb der Stadt entscheidende Grundlagen für die Betrachtung der filmischen Stadt setzt; der Sammelband von Irmbert Schenk (Hg.): Dschungel Großstadt: Kino und Modernisierung. Marburg: Schüren 1999, versammelt vor dem Hintergrund des oftmals beschriebenen Topos des ‚Großstadt-Dschungels‘ sehr interessante Einzelbetrachtungen zu Stadtfilmen im 20. Jahrhundert, während die Arbeit von Holger Majchrzak: Von Metropolis bis Manhattan. Inhaltsanalysen zur Großstadtdarstellung im Film. Bochum: Brockmeyer 1989, gerade als Beispiel für eine rein inhaltliche Betrachtung und quantitative Auswertung des ‚Themas‘ Großstadt gewertet werden kann. 182
EINE ZWISCHENBETRACHTUNG
hang mit den zentralen Entwicklungs- bzw. Modernisierungsprozessen im 20. Jahrhundert begründe. Und so bemerkt auch Mark Shiel in seiner Einleitung zu Cinema and the City (2001): This book is concerned with the relationship between the most important cultural form – cinema – and the most important form of social organization – the city – in the twentieth century (and, for the time being at least, the twenty-first century), as this relationship operates and is experienced in society as a lived social reality.3
Dabei spitzt Shiel das Verhältnis zwischen Metropole und Film im Folgenden insbesondere auf zwei Kreuzungspunkte zu, die auch in Zusammenhang mit dieser Arbeit von entscheidendem Interesse sind: einerseits auf die Bewegung bzw. auf die Mobilität und andererseits auf den Raum bzw. auf räumliche Repräsentationstechniken. Denn in einem ersten Schritt manifestieren sich die Korrespondenzen zwischen der Stadt und dem Film, so führt Shiel aus, in einer „correlation between the mobility and visual and aural sensations of the city and the mobility and visual and aural sensations of the cinema.“4 In einem zweiten Schritt, und darauf aufbauend, wird der Film selbst jedoch als ein Medium begriffen, das weitaus stärker räumlich als textuell bestimmt ist, woraus Shiel den weitreichenden Schluss zieht, „that spatiality [Hervorhebung d. Verf.] is what makes it different and in this context, gives it a special potential to illuminate the lived spaces of the city and urban societies“.5 Was bedeutet es jedoch – vor dem Hintergrund dieser Untrennbarkeit von Stadt und Film –, von einem genuinen Stadtfilm zu sprechen, und welche Bedeutungsebenen sind mit diesem Begriff unmittelbar verbunden? Folgt man den Aussagen Knut Hickethiers, so existiert „[t]rotz vieler Bemühungen [...] kein Genre des Stadtfilms. [...] Zu vielgesichtig sind die Geschichten, zu unterschiedlich ihre Erzählweisen, als daß sie 3
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Shiel, Mark: „Cinema and the City in History and Theory“, in: ders. und Tony Fitzmaurice (Hg.): Cinema and the City. Film and Urban Societies in a Global Context. Malden MA: Blackwell 2001b, S. 1-19, hier S. 1. Ebd. Ebd., S. 6. Vgl. zum angloamerikanischen Forschungsstand der ‚Cinematic City‘ neben dem bereits erwähnten Sammelband von Shiel/Fitzmaurice 2001 zugleich ihre gemeinsame Nachfolgepublikation Screening the City. London/New York: Verso 2003, sowie den richtungsweisenden Sammelband von David B. Clarke (Hg.): The Cinematic City. London/ New York: Routledge 1997. Zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Wechselspiel von literarischen, filmischen und urbanistischen Diskursen vgl. Brooker, Peter: Modernity and Metropolis. Writing, Film, and Urban Formations. New York: Palgrave 2002. 183
METROPOLEN IN TRANSFORMATION
sich in einem Genre konventionalisieren lassen.“6 Gegenüber dieser Absage an die Möglichkeit eines spezifischen Genres des Stadtfilms setzt sich Guntram Vogt in Die Stadt im Film (2001) dezidiert mit diesem Phänomen auseinander, indem er zunächst allgemein die Frage aufwirft: Was ist eine filmische Stadt? Ist nicht jeder Film, dessen Handlung in einer Stadt sich ereignet, eine einfache Antwort auf diese Frage? In der Forschung besteht die Übereinstimmung, daß von einer genuin filmischen Stadt erst dann gesprochen wird, wenn sie bewußt mitinszeniert wird, wenn sie nicht nur als Schauplatz oder als Kulisse fungiert, sondern als dramatische und dramaturgisch wichtige Figur in Erscheinung tritt, wenn sie über ihre zahllosen Funktionen als Mitakteur das Geschehen bestimmt.7
Im Folgenden differenziert Vogt diese ersten Aussagen weiter aus, indem er drei zentrale Begriffe einander gegenüberstellt: die Stadt im Film, den Stadtfilm und die filmische Stadt. Während unter dem ersten Begriff der ‚Stadt im Film‘ die Stadt vornehmlich als zentraler Schauplatz der Handlung konfiguriert wird, der dramaturgisch in das Geschehen eingeflochten ist, tritt das Verhältnis von Stadt und Film im Begriff des ‚Stadtfilms‘ in ein deutlich engeres Bedingungsverhältnis. Denn hiermit werden in erster Linie dokumentarische Filme bezeichnet, „deren beobachtende, beschreibende und analytische Formenvielfalt meist besser als der Spielfilm die Stadt als architektonisches Ensemble in ihren Erscheinungsformen und Veränderungen zu erfassen vermag.“8 Im Begriff der ‚Stadt im Film‘ verdichtet sich folglich ihre dramaturgische Funktion, während der Begriff des ‚Stadtfilms‘ in erster Linie ihre architektonische Funktion in den Blick nimmt. Demgegenüber referiert nun der Begriff der ‚filmischen Stadt‘, der auch in Zusammenhang dieser Arbeit von entscheidendem Interesse ist, insbesondere auf ihre übergreifende mediale Funktion, indem sie „die ästhetische Konstruktion und ihre Wirkungsabsicht auf das Publikum“9 umfasst und, was mehr ist, „permanent filmtechnische, filmsprachliche, filmästhetische Innovationen“10 hervorruft. Und es ist genau diese Vielschichtigkeit der filmischen Stadt, die Vogt damit meint, wenn er seine ersten, einleitenden Ausführungen zur Konstruktion filmischer Städte mit den Worten beendet:
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7 8 9 10
Hickethier, Knut: „Kino Kino“, in: ders. (Hg.): Mythos Berlin. Zur Wahrnehmungsgeschichte einer industriellen Metropole. Berlin: Ästhetik und Kommunikation 1987, S. 143-151, hier S. 148. Vogt 2001, S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 29. 184
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Das aber ist nichts anderes als das Kino, in dem auf sichtbare Weise immer wieder unsichtbare Städte gebaut werden. Meist sind sie den realen ähnlich, aber nie mit ihnen identisch.11
Die filmische Stadt wird damit ganz grundlegend als konstruierte Stadt ausgestellt, die in ihrer (filmischen) Konstruiertheit immer schon eine Differenz zur realen Stadt markiert. Jean Baudrillard geht mit Blick auf die amerikanische Stadt sogar noch einen Schritt weiter, wenn er in Amerika (1987) ausführt: „Die amerikanische Stadt scheint dem Kino lebend entsprungen“12, um daraus den weitreichenden Schluss zu ziehen: „Man darf also nicht von der Stadt zum Bildschirm, sondern muß vom Bildschirm zur Stadt gehen, um ihr Geheimnis kennenzulernen.“13 Die Frage der genuin filmischen Facetten der (post-)modernen Metropolen, die in dieser Aussage mitschwingt, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.14 Worauf es jedoch ankommt, ist der Wechsel der Blickrichtung auf die filmische Stadt als einer Stadt, die durch den Film hindurch mit seinen spezifisch medialen Mitteln gesehen wird und auf diese Weise immer schon als eine transformierte Stadt zu begreifen ist. Diese Erkenntnis lässt sich noch weiter zuspitzen, wenn man die filmische Konstruktion der Stadt, wie Vogt vorschlägt, als ein umfassendes Wahrnehmungsdispositiv Stadt versteht, das den „multiperspektivischen Zusammenhang aus Stadt-Sujet, Figurenperspektive, narrativer Perspektive und Perspektive des Zuschauers“15 modelliert. Insbesondere dem Verhältnis von Stadt und Figuren kommt in dieser Matrix eine besondere Stellung zu. Denn es ist gerade das Ziel zahlreicher Stadtfilme, diese beiden Perspektiven als zwei „sich wechselseitig ineinander spiegelnde und brechende Folien zu inszenieren, um auf diese Weise auch die Innenwelt der Figuren in Bildern erzählen zu können“.16 Dabei geht es hauptsächlich um die Umkehrungen zwischen der Innenwelt (der Figuren) und der Außenwelt (des Städtischen), indem die städtische Außenwelt unmittelbar in die Figuren eindringt und durch sie hindurch geht, während sich 11 12 13 14
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Vogt 2001, S. 60. Baudrillard, Jean: Amerika. München: Matthes & Seitz 1987, S. 81. Ebd. Auf diesen Aspekt geht – in Anschluss an Baudrillard – insbesondere David B. Clarke in seiner Einleitung zu The Cinematic City (1997) ein, wenn er die Verhältnisse zwischen der „urbanization that accompanied the expansion of industrial capitalism“ und den „cultural forms such as the cinema and its various precursors [...] implicated in such changes“ auslotet; vgl. Clarke, David B.: „Introduction. Previewing the Cinematic City“, in: ders. 1997, S. 1-18, hier S. 3. Vogt 2001, S. 12. Ebd., S. 17. 185
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im Umkehrschluss die Innenwelt der Figuren auf sichtbare Weise in den filmischen Raum der Stadt einzeichnet und ihr ein anderes Gesicht verleiht.17 Auf diese Weise wird beständig an dem weiter geschrieben, was Vogt in Rückgriff auf Richard Sennett als „Erzählung der Identität“18 bezeichnet. Andererseits liegen die Herausforderungen der filmischen Stadt jedoch auch darin, dem Ungesagten und Unsagbaren des Städtischen ein Bild zu verleihen, sind es doch die „immer wieder genannten Rätsel und Heimlichkeiten der Großstadt, ihre Geheimnisse, deren Reize Filmemacher und Publikum stets aufs Neue in Bewegung setzen.“19 Diese ersten Ausführungen und Perspektiven zur filmischen Metropole verweisen auf zwei grundlegende Punkte: Erstens zeugen sie von einer umfassenden Transformation der filmischen Metropole, die in den folgenden Kapiteln noch weiter ausgeführt und in ihren einzelnen Facetten durchgespielt wird. Zweitens stellen sie jedoch auch den Aspekt ihrer grundlegenden Relationalität aus, die in den Filmen als Wechselverhältnis von Stadt und Land, von Innenräumen und Außenräumen, von materiellen Strukturen, sozialen Implikationen und symbolischen Überformungen konfiguriert wird. Dabei lässt sich der Aspekt der Relationalität auf zweierlei Weise verdichten, wobei das erste Argument die filmischen Zuschreibungen der Metropole, das zweite hingegen die Bedeutungsebenen des Metropolenbegriffs selbst betrifft. So stellt Colin McArthur seinen Betrachtungen zur wechselvollen und oftmals widersprüchlichen Inszenierung des Stadt-Land-Verhältnisses eine Definition der filmischen Stadt als diskursive Größe voran, die er – am Beispiel Glasgows – mit einer sich ständig verschiebenden Schachfigur in Analogie setzt: What the example of Glasgow indicates is that cities [...] are always already social and ideological, immersed in narrative, constantly moving chess pieces in the game of defining and redefining utopias and dystopias. It should come as no surprise, therefore, that cities in discourse have no absolute and fixed meaning, only a temporary, positional one.20
Als eine solche diskursive Größe wird der Metropole folglich immer nur eine punktuelle, zeitweise Bedeutung verliehen, die mit jeder weiteren 17
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Die tiefe Durchdringung zwischen städtischer Außenwelt und psychischer Innenwelt wird von Vogt insbesondere in seinen frühen Ausführungen zu den ‚Orientierungen in der filmischen Stadt‘ am Beispiel von Döblins Berlin Alexanderplatz und seinen filmischen Versionen diskutiert; vgl. Möbius/Vogt 1990, S. 91-110 und S. 121-135. Vogt 2001, S. 14. Ebd., S. 11. McArthur, Colin: „Chinese Boxes and Russian Dolls. Tracking the Elusive Cinematic City“, in: Clarke 1997, S. 19-45, hier S. 20. 186
EINE ZWISCHENBETRACHTUNG
Zuschreibung wieder grundsätzlich umgedeutet werden kann. Auf diese Weise grenzt die Relationalität der filmischen Metropole immer wieder an ihre (Selbst-)Reflexivität: Filmische Städte verweisen kontinuierlich auf andere filmische Städte, während sie im selben Zuge ihre künftigen Konfigurationen vorprägen, denn „the act of filming any space is clearly an act of discourse production [...], prey to complex elision, condensation and repression and as dependent on previous acts of discourse production as on relationships with the ‚real‘ world.“21 Dennoch kann das Verhältnis zur Realität immer nur ein gebrochenes, zweifach gewendetes sein, wie Paula J. Massood in Hinblick auf die filmischen Konfigurationen eines Black City Cinema (2003) herausarbeitet, wenn sie von einer „‘refraction of a refraction’ of reality“22 spricht, die wiederum die filmischen Städte selbst zu „self-conscious, highly-mediated acts“23 werden lässt. Der Aspekt der punktuellen, momentanen und kontinuierlich veränderlichen Zuschreibung der Metropole verweist zugleich auf den zweiten Aspekt der Relationalität, der sich in der Begriffsgeschichte bzw. in den Bedeutungebenen des Metropolenbegriffs selbst begründet. Denn einerseits unterliegt dem Begriff der metropolis (griech. ‚Mutterstadt‘) bereits ein relationales Moment, indem der Wortstamm metro (bzw. metera) auf eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen zwei Größen verweist, die sich in ihrem historischen Verlauf zunehmend in Richtung einer asymmetrischen Beziehung von Zentrum und Peripherie verschiebt.24 Andererseits lässt sich jedoch auch an eine oftmals vertretene These anknüpfen, die besagt, dass sich die spezifisch ‚metropolitanen Aspekte‘, welche die Großstadt überhaupt erst zu einer Metropole werden lassen, allein zu bestimmten Zeiten auf besondere Weise verdichten, während sie zu anderen Zeiten wiederum in den Hintergrund treten. Unter dieser Perspektive bildet jede Metropole für sich „ihre zeitlich begrenzten, jeweils eigenen Innovationskonjunkturen“25 heraus, was den Schluss zulässt, wie Heinz Reif ausführt, dass möglicherweise „jede Metropole überhaupt nur eine, ihr jeweils eigene Innovationsperiode“26 hat. Die Relationalität des 21 22 23 24
25 26
McArthur 1997, S. 40. Massood, Paula J.: Black City Cinema. African American Urban Experiences in Film. Philadelphia: Temple University Press 2003, S. 6. Ebd., S. 7. Vgl. hierzu die konzeptuellen Ausführungen von Farías, Ignacio; Stemmler, Susanne: „Deconstructing ‘Metropolis’. Critical Reflections on a European Concept“, in: CMS Working Paper Series, No. 004-2006, S. 4ff. Reif, Heinz: „Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden“, in: CMS Working Paper Series, No. 001-2006, S. 5. Ebd.; vgl. zu dieser Perspektive auch Eisenberg, Christiane: „Die kulturelle Moderne. Eine Schöpfung der Großstadt? Paris und London in sozi187
METROPOLEN IN TRANSFORMATION
Metropolenbegriffs verweist damit zugleich auf die spezifische Form einer historisch bedingten Relationalität, die den Blick auf die Entwicklungsdynamiken der Metropolen im 20. Jahrhundert freigibt.27 Die Metropole wird damit als eine relationale Größe verstanden, deren Elemente ebenso veränderlich sind wie ihre Relationen selbst. Diese Vorstellung einer sich kontinuierlich verschiebenden Bedeutung der Metropolen wird in dieser Arbeit insofern entscheidend, als auch die hier betrachteten filmischen Metropolen im Verlauf des 20. Jahrhunderts signifikanten Bedeutungsverschiebungen unterworfen sind, deren Untersuchung und differenzierende Unterscheidung zum zentralen Moment der Betrachtungen der folgenden Kapitel wird. Dadurch rückt zugleich die Frage in den Vordergrund, inwiefern die einzelnen Metropolen – und der Schwerpunkt dieser Studie liegt auf Berlin, New York und Los Angeles – auch im Film eine ebensolche ‚Glanzzeit‘ durchlaufen; und zwar in dem Sinne, dass sie zu bestimmten Zeiten die Kernpunkte der filmischen Stadtkonstruktion derart verdichten bzw. die Maßstäbe des Stadtentwurfs derart neu legen, sodass sich auch die folgenden Filme implizit oder explizit mit diesen Neuzuschreibungen auseinanderzusetzen haben. Nun ist es bei allen drei genannten Metropolen so, dass sie selbst bereits genuin filmische Metropolen bezeichnen, die derart tief durchdrungen sind von ihren unzähligen filmischen Zuschreibungen, dass sie zu jeder Zeit und kontinuierlich an denjenigen Maßstäben mitgeschrieben haben, die entscheidend für die Entwicklung des Stadtfilms waren. Und es ist genau diese Vorstellung einer letztlich unabschließbaren Zuund Umschreibung der filmischen Stadt, die der Epilog in Bezug auf den Experimentalfilm LOS ANGELES PLAYS ITSELF (Thom Andersen, 2003) in verdichteter Form durchspielt, wenn dieser sich selbst nur noch als eine Reflexion der umfassenden Filmgeschichte dieser Metropole begreift und im selben Zuge die Metropole zum Ausgangspunkt nimmt, um die Geschichte des Films noch einmal neu zu schreiben.
27
alwissenschaftlicher Perspektive“ in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Attraktion Großstadt. Berlin: Spitz 2001, S. 11-36. Demgegenüber verweisen Farías und Stemmler darauf, dass gerade in den Diskursen der ‚Glanzzeit‘ der Metropolen in den Goldenen Zwanzigern eine umfassende Abwesenheit des Metropolenbegriffs zu verzeichnen ist, während dieser in den letzten Jahren, vor allem im Zuge der zunehmenden Städtekonkurrenz, verstärkt in Anspruch genommen wird, um sich mittels der Bezeichnung als ‚Metropole‘ einen Platz innerhalb des Netzwerks der zentralen Metropolen dieser Welt zu sichern; vgl. Farías/Stemmler 2006, S. 8f.; zur Metapherngeschichte der Metropole vgl. Zohlen, Gerwin: „Metropole als Metapher“, in: Gotthard Fuchs u. a. (Hg.): Mythos Metropole. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 23-34. 188
EINE ZWISCHENBETRACHTUNG
Grenzpunkte der filmischen Metropole Von diesen allgemeinen, einführenden Betrachtungen zur filmischen Metropole ausgehend, soll an dieser Stelle erneut auf das in der Einleitung beschriebene Beispiel DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE als ‚Gründungsurkunde‘ der filmischen Raumkonstruktion eingegangen werden – nun jedoch unter einem modifizierten Blickwinkel. Denn während die drei aufgefächerten Raumszenen eingangs noch allgemein als drei Stufen einer filmisch-bewegten Transformation bezeichnet wurden, so hat sich im Verlauf der Ausführungen der ersten beiden Kapitel ein differenzierteres Bild ergeben, das zwischen einer filmischen Topographie und einer filmischen Topologie unterscheidet, und mehr noch, diese beiden Sinnordnungen des filmischen Raums in ein dichtes, mehrstufiges Wechselspiel überführt. Im Zuge der Herleitung dieser beiden Perspektiven auf den filmischen Raum ist dabei vor allem das Prozessuale der filmischen Raumkonstruktion in den Vordergrund getreten, das den filmischen Raum als eine transitorische Größe lesbar werden lässt, die in zahlreichen Stadtfilmen hervorgebracht, modelliert und variiert wird.
Abb. 1: Die filmische Transformation und ihre Umkehrung in DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE (1901)
Unter dieser Perspektive gefasst, erfährt auch die sichtbare, beschleunigte und paradoxierte Bewegung in DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE eine schrittweise Umwertung: Sie wird zum Zeichen einer räumlichen Prozessualität, welche die Konstruktion des filmischen Raums als einen sichtbaren und wahrnehmbaren Prozess konfiguriert, in dem sich das Topographische und das Topologische fortwährend überlagern. Dabei tritt die topographische Raumordnung des Films insbesondere in der ersten Stufe der Transformation hervor, insofern sie den Aufbau und Abbau des Star Theatres als das Sichtbare begreift, das sich unmittelbar in den Film einschreibt. Die topologische Raumordnung findet ihr Pendant hingegen in der zweiten Stufe der Transformation, und dies in einem sehr konkreten Sinne, indem sie die spezifisch filmische Sichtbarkeit mit der Bewegtheit des Mediums (in Form des Zeitraffers) koppelt. Bei der dritten Stufe der Transformation handelt es sich schließlich um eine Überlagerung und Schichtung der topographischen und topologischen Aspekte des Films, in der beide Prozesse zunächst eng aufeinander bezogen, im selben Moment jedoch auch gewendet, umgekehrt und damit auf das Paradoxe und das Unmögliche hin geöffnet werden. 189
METROPOLEN IN TRANSFORMATION
Und es ist genau in diesem Wechselspiel von filmischer Topographie und filmischer Topologie, in dem sich ein Potenzial des Filmischen artikuliert, das dieses frühe Filmdokument so hervorkehrt: Der Film transformiert die sichtbare Welt und überführt sie in eine spezifische Form filmischer Sichtbarkeit. Er entwirft genuine Transformationsräume, die sich jenseits bekannter Raumkoordinaten entfalten oder präziser: in denen die Maßgaben eines kartesischen Koordinatensystems nicht mehr greifen. Denn der Film erschließt einen Bereich des Räumlichen, in dem das Transformative, das Bewegte und das Dynamische den Ausgangspunkt jeglichen Raumdenkens bilden. In diesem Jenseits des Raums, das DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE auf so schlichte, sinnfällige Weise hervorbringt, scheinen andere Maßstäbe zu herrschen; der Raum wird zu einer instabilen, veränderlichen Größe und unterliegt somit dem Prozess seiner eigenen und sichtbaren Transformation. Im Folgenden wird es darum gehen, einzelne Grenzpunkte der filmischen Metropole im 20. Jahrhundert zu beleuchten, welche diesem sichtbaren, prozessualen Werden des Raums ein nachhaltiges Bild verleihen. Denn die filmische Auseinandersetzung mit dem Städtischen hat immer wieder Konfigurationen hervorgerufen, die sich intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen des filmischen Stadtentwurfs auseinandergesetzt haben, während sie in ihren Entwürfen das Prozessuale des filmischen Raums auf je andere Weise hervorbringen. Da ist erstens der Prozess der stetigen Veränderung der urbanen Struktur, die als Steigerung der filmischen Topographie inkraft tritt. Da ist zweitens der Prozess einer Modifikation der filmischen Struktur, die als Steigerung der filmischen Topologie wirksam wird. Und da ist drittens das bewusste Unterbrechen bzw. Aussetzen des Prozesses der filmischen Raumkonstruktion. Denn gerade dadurch, dass auf dieser dritten Stufe die filmische Topographie und die filmische Topologie nicht mehr aufeinander rückführbar sind, ziehen sie einen signifikanten Abstand in das Geschehen ein, während sie im selben Zuge eine Reflexion der filmischen Metropole in Gang setzen. In einem ersten Schritt soll der Aspekt der Steigerung der filmischen Topographie beleuchtet werden, der als Aufzeichnung der sichtbaren Transformation der Städte seine wohl stärkste bildliche Verdichtung in dem filmischen Experiment KOYAANISQATSI (Godfrey Reggio, 1982) gefunden hat. Denn dieses filmische Opus zeigt eine sich beständig umformende, transformierende Weltstadt, die keine Grenzen mehr kennt und die – in wechselseitiger Steigerung mit der Minimalmusik von Phillip Glass – ihre eindrücklichsten Bilder in den schier unendlich beschleunigten und gesteigerten Massenaufläufen der Menschen an den Knotenpunkten des Verkehrs, in den Überblendungen der Lichtspuren auf unendlich wirkenden Autobahnen ebenso wie in der kontinuierlichen Aneinanderreihung
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EINE ZWISCHENBETRACHTUNG
weiterer Hochhäuser bzw. ganzer Hochhauslandschaften findet. Auf diese Weise lässt sich KOYAANISQATSI als eine starke Auseinandersetzung mit eben denjenigen urbanistischen Diskursen begreifen, die unter dem Stichpunkt der Auflösung der Großstadt bzw. der umgreifenden, gestaltlosen ‚Generic City‘ die neunziger Jahre weithin bestimmen werden.28 Darüber hinaus entfaltet KOYAANISQATSI die Konstruktion der filmischen Stadtlandschaften als einen kontinuierlichen Prozess, der in einem unendlichen Kreislauf, in einem zyklischen Auf- und Abbau gefangen ist. Dabei bewirkt die Faszination des Topographischen, das filmisch von allen Seiten beleuchtet und ergründet wird, zugleich eine Steigerung der topologischen Aspekte, die den filmischen Raum im kontinuierlichen Wechselspiel von Komprimierung und Dehnung entgrenzt.
Abb. 2: Endpunkte der räumlichen Transformation in KOYAANISQATSI (1982)
Während KOYAANISQATSI also als Beispiel dafür gelten kann, die filmische Topographie derart an ihren Endpunkt zu führen, sodass im Umkehrschluss auch die filmische Topologie ihre Maßstäbe an dieser neuen Dimension des Städtischen stets neu auszurichten und zu justieren hat, so zeugt das zweite Filmbeispiel von einer gegenläufigen Bewegung. Denn die Besonderheit des Avantgardefilms JONAS (Ottomar Domnick, 1957), der wiederholt als zentraler Vorläufer des Neuen deutschen Films angeführt wird29, begründet sich vor allem darin, dass er im Zuge der filmischen Konstruktion eines entleerten, anonymen und gestaltlosen Stuttgart der Nachkriegszeit, in das sich die Angstvisionen des verfolgten, flüchtenden Jonas in steigendem Maße einschreiben, die Raumdynamiken der filmischen Topologie überzeichnet und an ihre Grenzpunkte führt. Denn JONAS entwirft eine urbane Welt, die sich nur noch in einzelnen, abstrahierenden Zeichen zu artikulieren vermag, die das Topologische unentwegt an die Oberfläche der Bilder holen. Die Stadt wird hier zu einer abstrakten Geometrie städtischer Versatzstücke und Fragmente, die nur noch notdürftig auf die städtische Topographie zurückgeführt werden können. JONAS modelliert kontinuierlich den Übergang zwischen 28
29
Die Implikationen dieser urbanistischen Diskurse für die filmische Konstruktion des Urbanen werden in Zusammenhang mit den Episodenfilmen der achtziger und neunziger Jahre näher erläutert; vgl. Kap. VI. Zu einer umfassenden, materialreichen Einführung in die Entstehungsgeschichte von JONAS vgl. Vogt, Guntram (Hg.): Ottomar Domnicks ‚Jonas‘. Entstehung eines Avantgardefilms. Stuttgart: ibidem 2007. 191
METROPOLEN IN TRANSFORMATION
einer sichtbaren urbanen Außenwelt, die seltsam abgekoppelt vom Geschehen zu sein scheint, und dem permanenten Eindringen der Bilder und Zeichen der (traumatischen) Vergangenheit. So zeigt sich in JONAS auf der einen Seite ein klares Auseinandertreten von Visuellem und Akustischem, indem alle natürlichen Geräusche aus der Tonspur getilgt werden, wodurch die Stadt auf eigentümliche Weise verstummt. Auf der anderen Seite steht dieser Stummheit der Stadt jedoch auch eine Polyphonie der Vergangenheit gegenüber, die sich im Eindringen einer Vielzahl innerer Stimmen artikuliert, die Jonas unablässig verfolgen und die eine fortwährende Verzerrung der städtischen Raumwahrnehmung bewirken. Auch die Dialoge der Figuren sind hier von einer umfassenden Entfremdung charakterisiert, indem die Stimmen oftmals verzögert oder auch als ‚falsche‘ Stimmen über die Bilder gelegt werden, wodurch das Sichtbare und das Sagbare schrittweise ad absurdum geführt werden.
Abb. 3: Das Auseinandertreten von Topographie und Topologie in verzerrten Bildern des Urbanen in JONAS (1957)
Tonspur und Bildspur sind in diesem Film folglich asymmetrisch angelegt. Sie sind nicht mehr eindeutig aufeinander rückführbar und generieren auf diese Weise beständig neue, paradoxe Raum- und Zeitgebilde. Denn die innere Zerrissenheit der Figuren in dieser anonymen Großstadt manifestiert sich zugleich in den verzerrten Perspektiven auf die urbane Umwelt. Oftmals sind die Figuren an den äußersten Bildrand versetzt und werden so zum Bestandteil eines urbanen Gebildes, das nunmehr als eine abstrakte Reihung von Hochhausfragmenten, leeren Fassaden und falschen Straßenschildern in Erscheinung tritt. Es handelt sich in JONAS folglich um eine topologische Umformung des Urbanen, denn alles das, was sich auf sichtbare Weise in den Film einschreibt, wird bereits als fehlerhaft, asynchron und asymmetrisch ausgestellt. In diesem gebrochenen Verhältnis zwischen der topographischen und der topologischen Raumordnung dieses Films bzw. in dem Unvermögen, aus den urbanen Versatzstücken überhaupt noch eine sinnstiftende Einheit zu generieren, artikuliert sich zugleich das Moment einer Entgrenzung des Räumlichen; es artikuliert sich als die Möglichkeit einer Transformation, welche die unterschiedlichen Raum- und Zeitschichten des Films stets beweglich hält und die ihren Kernpunkt in dem potenziellen Umschlagen der Raumordnung findet. So durchzieht den Film eine kontinuierliche Doppelung und mehr noch, die letztendliche Ununterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen, zwischen Sichtbarem und Sagbaren. 192
EINE ZWISCHENBETRACHTUNG
JONAS entwirft paradoxe, topologische Räume, die vollkommen aus der Zeitordnung herausgefallen zu sein scheinen und die sich letztlich in der permanenten Differenzerfahrung zwischen der Wiederkehr des Vergangenen (der traumatischen Fluchterfahrung) und der Fremdheit des Gegenwärtigen (der anonymisierten Großstadt) artikulieren. In einem dritten Schritt, und gleichsam als Umkehrung dieser Steigerungsfiguren, finden sich auch Beispiele, die sich mit dem Aussetzen dieser beiden Raumordnungen des Films, mithin mit dem Unvermögen, eine filmische Stadt überhaupt noch zu generieren, auseinandersetzen. Dies kann einerseits auf sehr spielerisch-ironische Weise geschehen, wie etwa in der viel zitierten Eingangssequenz von MANHATTAN (Woody Allen, 1979), die dieses Scheitern unmittelbar in einen vierfach ansetzenden und vierfach wieder abbrechenden Monolog überführt: ‚Chapter one. He adored New York City. He idolized it all out of proportion.‘ Uh, no. Make that ‚He romanticized it all out of proportion.‘ ‚To him, no matter what the season was, this was still a town that existed in black and white and pulsated to the great tunes of George Gershwin.‘ [...] Uh, no. Let me start this over. ‚Chapter one. He was too romantic about Manhattan, as he was about everything else. He thrived on the hustle-bustle of the crowds and the traffic. To him, New York meant beautiful women and street-smart guys who seemed to know all the angles.‘ Ah, corny. Too corny for a man of my taste. Let me ... try and make it more profound ... 30
Parallel hierzu wird eine Reihe von Schwarz-Weiß-Bildern Manhattans aufgerufen, die einen Kommentar zu den vier unterschiedlichen, gescheiterten Annäherungen des Off-Erzählers bilden, indem sie eben diejenigen visuellen Chiffren aufrufen, die bereits unzählige Male beschworen wurden, was wiederum dem scheiternden Monolog eine neue Wendung verleiht. Denn folgt man Knut Hickethier, so wird an diesem Punkt „das Phänomen ‚Dschungel Großstadt‘ zu einem Problem filmischer Narrativität“31, eben weil sich der Off-Erzähler im Zuge seiner gescheiterten Reflexion New Yorks zugleich „ihrer Unangemessenheit bewußt wird“.32
Abb. 4: Visuelle Chiffren Manhattans und die Unmöglichkeit ihres Erfassens in MANHATTAN (1979)
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MANHATTAN (Woody Allen, 1979), TC: 0:00:34. Hickethier, Knut: „Filmische Großstadtdarstellung im neueren deutschen Film“, in: Schenk 1999, S. 186-200, hier S. 188. Ebd. 193
METROPOLEN IN TRANSFORMATION
In noch deutlicherem Maße wird die Unmöglichkeit, eine Stadt in einem Film vollständig bzw. auf nur annähernd adäquate Weise einzufangen, schließlich in Jean-Luc Godards Kurzfilm LETTRE A FREDDY BOUACHE A PROPOS D’UN COURT-METRAGE SUR LA VILLE DE LAUSANNE (1982) vorgeführt. Denn der gesamte Film besteht aus einem Brief Godards an seinen Auftraggeber, in dem er zuletzt nur noch in halben, unvollständigen Sätzen vom Scheitern seiner Auftragsarbeit berichtet: „...Immer sprechen über – immer versuchen zu – Nicht mal sprechen von der – Ich will dir nur den Gang zeigen, siehst du ...“33, während parallel dazu visuelle Fragmente Lausannes erscheinen. In dieser zweifach gescheiterten, da nicht einmal mehr versuchten Annäherung äußert sich für Guntram Vogt gerade jener reflexive Gestus des Filmischen, der „im Kino der etablierten Massenunterhaltung jedoch immer randständig blieb: der radikale, ebenso methodisch-systematische wie ästhetisch-spielerische Ausdrucksund Darstellungszweifel, der das Medium selbst betrifft.“34 Wenn das Medium also selbst fragwürdig und unzuverlässig wird und wenn im selben Zuge die Metropole durch ihre vielfältigen medialen Zuschreibungen einen erneuten Anlauf schier unmöglich macht, dann wird auch die filmische Raumbildung zu einem unmöglichen Unterfangen, konstituiert sich ein Abstand zwischen der topographischen und der topologischen Raumordnung des Films, welcher die prozessuale Entfaltung des Räumlichen – und damit zugleich die Konstruktion der filmischen Stadt – noch einmal neu zur Disposition stellt. Diese Facetten der Transformation und Entgrenzung des Räumlichen sind auch denjenigen Filmen eingeschrieben, die im Mittelpunkt der drei folgenden Kapiteln stehen werden, wenngleich sich jede filmische Phase, ja jeder einzelne Film auf andere Weise zu diesen Raumfragen verhalten wird. Dabei laufen die einzelnen Filmbeispiele des frühen Stadtfilms, des Film noir und des Episodenfilms in diesem Buch keinesfalls allesamt unweigerlich auf eine Problematisierung und Infragestellung der Möglichkeiten der filmischen Stadtkonstruktion zu. Den Zielpunkt der Betrachtungen markiert hier nicht die letztendliche Verwerfung der Konstruktionsmöglichkeiten der filmischen Stadt. Im Gegenteil wird es im Folgenden darum gehen, den Blickwechsel auf den filmischen Raum produktiv zu machen, mithin das Potenzial des Films zu beleuchten, topographische und topologische Raumordnungen einander anzunähern und ineinander zu verschränken, um aus dieser Verschränkungsbewegung heraus neue Raumfiguren zu entwerfen, die ebenso singulär sind wie sie in ihrer Abfolge eine Reihe von Korrespondenzen aufweisen.
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Transkript des Briefes von Godard, zit. in: Vogt 2001, S. 36. Ebd. 194
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Filmische Topologien der Metropole und die Konstruktion des Raums In Abgrenzung zu der oftmals breit gefassten Perspektive auf die Entwicklung des Stadtfilms im 20. Jahrhundert wird in dieser Studie ein fokussierter, detaillierter Blick auf die Konstruktionsmöglichkeiten der filmischen Metropole zu drei Zeitpunkten gelenkt, die sich insofern als entscheidend erweisen, als sich in ihnen die zentralen Bedeutungsverschiebungen der filmischen Metropole verdichten. Mehr noch: Indem in jeder Filmphase drei spezifische filmische Topologien herausgearbeitet werden, öffnet sich der Blick zugleich auf die Grenzen und Möglichkeiten der filmischen Raumkonstruktion. Damit liegt diesem Buch ein modifizierter Blick zugrunde, der als topographisch-topologischer Zugriff gleichermaßen die feinen Verschiebungen und die übergreifenden Unterschiede zwischen den filmischen Metropolen zu erfassen vermag. Die Revision der filmischen Metropole erfolgt demnach einerseits auf einer topographischen Linie, indem diejenigen städtischen Strukturen betrachtet werden, in denen die räumlichen Transformationsprozesse bzw. die zentralen Urbanisierungsprozesse im 20. Jahrhundert ihren deutlichsten Niederschlag finden und die immer wieder neue Maßstäbe für die Entwicklung der filmischen Metropole gesetzt haben. Andererseits erfolgt die Revision der filmischen Metropole jedoch auch und insbesondere mit Blick auf die filmische Topologie. Denn gerade dadurch, dass die filmische Topologie unmittelbar mit der medialen Ebene des Films verbunden ist, lassen sich ihre einzelnen Ausdifferenzierungen – unter den Bedingungen und zugleich im Austausch mit den wechselnden topographischen Einschreibungen des Städtischen – an genau jenem Bereich ansetzen, der den Transformationsprozess des filmischen Raums selbst betrifft. Unter diesem Blickwinkel werden andersartige Raumformen und topologische Raumgebilde denkbar, die einen modifizierten und erweiterten Blick auf die filmische Metropole ermöglichen. Die drei folgenden Kapitel zum frühen Stadtfilm (Kapitel IV), zum Film noir (Kapitel V) und zum Episodenfilm (Kapitel VI) folgen einer ähnlichen Ausrichtung, indem sie im Kern jeweils drei filmische Topologien herausarbeiten, in denen sich die zentralen Konstruktionsmechanismen der jeweiligen Phase der filmischen Metropole verdichten. Darüber hinaus stehen sie jedoch auch in einer übergreifenden Verbindung miteinander, bilden sie eine Reihe von Bezugslinien heraus, die an dieser Stelle zunächst abstrakt thematisiert, im Folgenden hingegen anhand der einzelnen Filmbeispiele unmittelbar erläutert werden. Dabei geht es bei allen filmischen Topologien um die grundlegende Frage, auf welche Weise sie den Raum entgrenzen, inwiefern sie selbst als medial vermittelte Räume über den euklidischen, dreidimensionalen Raum hinausgehen – 195
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und nicht zuletzt im Aufzeigen dieser spezifischen Art filmischer Räumlichkeit begründet sich ein zentrales Anliegen dieses Buchs. Wenn sich nun aber die Konstruktion des filmischen Raums stets im Übergang und als Prozess vollzieht und wenn diese stets in hohem Maße auf die Transformation bezogen ist, dann lassen sich innerhalb der Filmbetrachtungen eine Reihe von weiterführenden Fragen aufwerfen, die sich auf jenen Transformationsbereich beziehen, in dem sich die Konstruktion filmischer Räume ereignet: Auf welche Weise und mit welchen filmischen Mitteln werden die einzelnen filmischen Orte also zu einem übergreifenden Raum verknüpft? Welche Aussagen lassen sich aus der Selektion der einzelnen filmischen Orte der Metropole ableiten, und wie gestaltet sich das prozessuale Zusammenspiel zwischen den materiellen, den sozialen und den symbolischen Raumordnungen? An welchen Punkten tritt das Mediale gegenüber dem Modalen hervor, und wie vollzieht sich der Übergang von der äußeren zur inneren Bewegung des Films? In einem ersten Schritt steht jeweils eine Raumkonstruktion im Vordergrund, die zunächst die zentralen Spannungsverhältnisse der filmischen Metropole aufruft, wie etwa die Verhältnisse von Stadt und Land, von Innen und Außen, von privaten und öffentlichen Räumen, die sich in den späteren Beispielen verstärkt in Richtung der Verhältnisse von Inklusion und Exklusion, von Zentrum und Peripherie, von Fragment und Ganzem, verschieben wird. Dennoch, und hierin artikuliert sich ihr topologisches Moment, werden diese Gegensätze keineswegs als solche nebeneinander bestehen belassen, sondern derart eng aufeinander bezogen, dass ein Prozess der Entgrenzung der Gegensätze in Gang gesetzt wird, der letztendlich und in seiner extremsten Form in einer umfassenden Ununterscheidbarkeit der räumlichen Verhältnisse selbst mündet. Es handelt sich folglich um eine Form der filmischen Raumkonstruktion, die unmittelbar auf die Figur einer inneren Topologie verweist und die einer intrinsischen Raumlogik im Sinne einer Logik der Verschränkung folgt. Denn sie arbeitet die Spannungsverhältnisse und räumlichen Differenzen der Metropole auf das Deutlichste heraus und überzeichnet sie filmisch, um sie im nächsten Moment wieder zu brechen und so ihre Ambivalenzen, ihre Paradoxien und ihre Ununterscheidbarkeiten auszustellen. Für das zugrunde liegende Raumkonzept der filmischen Metropole bedeutet dies, dass sie als ein hochgradig selbstbezügliches räumliches Gebilde in Erscheinung tritt, das erst in der Auflösung räumlicher Parameter und Spannungsverhältnisse zu seiner vollen Entfaltung gelangt. Denn indem die filmische Metropole in dieser ersten Form der Raumkonstruktion die gegensätzlichen Elemente derart verdichtet, aufeinander bezieht und letztendlich ununterscheidbar macht, zeugt sie zugleich von einer umfassenden Geschlossenheit der Metropole, die kein
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Außen mehr kennt, das nicht selbst wiederum als Inneres wirksam werden könnte. Die Ununterscheidbarkeit und die Intrinsik des Räumlichen werden hier zu zentralen Referenzpunkten des filmischen Raums. Die zweite Form der filmischen Raumkonstruktion betrifft den Faktor der Bewegung und folgt insofern einer gänzlich anderen räumlichen Logik, als sie keineswegs die Ununterscheidbarkeit der räumlichen Relationen postuliert, sondern diese Relationen im Gegenteil entdifferenziert und schrittweise auseinanderdividiert, indem sie die Bewegung als zentralen Modus der Raumerschließung in die filmische Raumkonstruktion einführt. Dabei kann sich die Bewegung einerseits in einer umfassenden Beschleunigung der Bilder manifestieren, die sich an der neuen Dimension des städtischen Verkehrs und der Überkreuzung unterschiedlicher Bewegungsrichtungen entzündet. Andererseits lässt sich unter dieser Perspektive jedoch auch die Konfiguration von Übergängen und Zwischenräumen verstehen, die weniger auf die umfassende Beschleunigung des Raums abzielen als vielmehr eine deutliche Dehnung und Streckung des Raums bewirken, die oftmals mit einer Verlagerung des Geschehens an die Randzonen und Peripherien der Metropolen einhergeht. Auf beiden Linien wohnt dieser zweiten Form der Raumkonstruktion eine Logik der Verschiebung inne, die sich als eine Form der bewegten, sich dehnenden Topologie beschreiben lässt, insofern sie beständig auf ein Anderes, ein Nächstes, ein noch nicht erreichtes Außerhalb verweist. Und es ist gerade diese beständige Umformung des Raums durch die Bewegung, aus welcher die Filme ihre spezifische Dynamik gewinnen und in der sich ihr topologisches Potenzial im Sinne einer umgreifenden, beweglichen Transformation des Raums manifestiert. Vor diesem Hintergrund steht auch das zugrunde liegende Raumkonzept der filmischen Metropole für die Öffnung ihrer geschlossenen Form, für das Ausgreifen in den weiten Umraum sowie für den kontinuierlichen Übergang von einer Metropole zur nächsten. Im Gegensatz zur Dichte und Abgeschlossenheit der filmischen Metropole, die mit der Verschränkung des Gegensätzlichen einhergeht, steht hier eine übergreifende Bewegung bzw. eine umfassende Transformation des Raums, die potenziell niemals abgeschlossen ist, sondern unaufhörlich auf ein Nächstes verweist. Gegenüber dieser gegensätzlichen Bewegung von Schließung und Öffnung des Raums der filmischen Metropole, welche den ersten beiden Formen der filmischen Topologie eingeschrieben ist, steht in einem dritten Schritt nun eine Form der filmischen Raumkonstruktion im Zentrum, die insofern als Rückkopplung der ersten beiden filmischen Topologien gelten kann, als sie eine Reihe abstrakter Relationen aufzieht, die gleichermaßen über die Schließung und Öffnung des Raums hinausgehen, indem sie die Raumkonstruktion unablässig mit einer dritten Position, die
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außerhalb ihrer selbst liegt, in Verbindung setzen. Mehr noch: Die Konstruktion über eine dritte Position wird hier nicht etwa als äußere Größe bestehen belassen, sondern entwickelt ihre Dynamik vielmehr darin, das räumliche Außen kontinuierlich an das Innere zurückzukoppeln. In dieser Raumform, die als äußere Topologie beschrieben werden kann, geht es folglich um eine Logik der Verknüpfung über eine dritte Position, die ebenso konkrete Formen annimmt wie sie abstrakte Bezugslinien herausbildet. Das topologische Moment äußert sich dabei in erster Linie in der Entstehung einer Reihe mentaler Relationen, die unmittelbar auf eine Reflexion des Filmischen abzielen, indem sie den filmischen Raum durch abstrakte Figuren – die Musik, die Lyrik, den Zufall – entgrenzen. Auf diese Weise werden ganz neue Bezugspunkte der filmischen Metropole aufgespannt, die entweder auf eine konkrete Verknüpfung räumlicher Strukturen abzielen oder aber ganz in ihren abstrakten Beziehungen aufgehen. Das Raumkonzept, das mit dieser dritten, sehr komplexen Form der Raumkonstruktion einhergeht, begründet sich folglich in einer doppelten Bewegung von Öffnung und Schließung, indem es beide Seiten aneinander koppelt und zugleich auf eine dritte Position bezieht, die weder vollständig in die Raumkonstruktion integriert werden kann (wie im ersten Fall), noch über das Außen zu erschließen ist (wie im zweiten Fall), sondern die als Entgrenzung des filmischen Raums selbst bereits auf ein potenzielles Jenseits des Raums verweist. In welchem Verhältnis stehen diese drei unterschiedlichen Konstruktionsmechanismen nun zueinander und wie grenzen sie sich voneinander ab? Die erste Form geht vor allem in der Konfiguration einer Einheit der filmischen Metropole auf, die ihre Dynamik aus dem permanenten Aufziehen und Entgrenzen der Gegensätze gewinnt. Bei der zweiten Form lässt sich hingegen die Differenz als Grundprinzip benennen, insofern die räumlichen Relationen stets auf ein Außen verweisen, das im Zuge des bewegten Ausgreifens potenziell sichtbar werden kann. Das Grundprinzip der dritten Form ist hingegen das der Vielheit, die sich in dem beständigen Aufziehen einer abstrakten, dritten Position begründet. Diese lässt sich nun bis zu einer unendlichen Potenz hin fortsetzen, wodurch komplexe räumliche Überlagerungen entstehen, die letztendlich den filmischen Raum selbst infrage stellen. Im Zuge des Herausarbeitens dieser unterschiedlichen filmischen Topologien in den Bereichen des frühen Stadtfilms, des Film noir und des Episodenfilms wird also immer wieder nach den Variationen der filmischen Topologie zu fragen sein ebenso wie nach den ‚einfachen Unterschieden‘ und den ‚komplexen Differenzen‘ der beiden Raumlogiken der filmischen Topographie und der filmischen Topologie, um auf diese Weise ein facettenreiches Bild der filmischen Metropole im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu zeichnen.
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IV. D I E P R O D U K T I O N ZUM FRÜHEN STADTFILM
VON DER
SICHTBARKEIT: ZWANZIGER JAHRE
Der frühe Stadtfilm der zwanziger Jahre ist in vielerlei Hinsicht stilbildend für den gesamten Bereich des Stadtfilms. Denn hier werden die zentralen Rahmenbedingungen gesetzt – wie etwa die Spannungsverhältnisse der filmischen Stadt, die untrennbare Verknüpfung von Stadt und Bewegung sowie die vielschichtigen Konfigurationen der materiellen Dimensionen, der sozialen Implikationen und der symbolischen Überformungen des Städtischen –, an denen sich auch die folgenden Phasen des Stadtfilms stets von Neuem orientieren und ausrichten werden. Im frühen Stadtfilm wird die filmische Metropole in ihren Grundbestandteilen erstmals konstituiert, wird die Metropole selbst zu einem zentralen Motor, um die spezifischen filmtechnischen und -ästhetischen Mittel, welche die filmische Metropole überhaupt erst als solche auszeichnen, in einem unablässigen Experimentieren weiterzuentwickeln. Dennoch wäre es zu kurz gefasst, die Anfänge und Grundlegungen der filmischen Stadt erst in den zwanziger Jahren zu suchen. Denn die frühen Versuche der filmischen Stadtdarstellung sind so alt wie das Kino selbst, wenngleich diese zumeist in der rein statischen Aufzeichnung des sichtbaren Städtischen bereits ihren Endpunkt finden. Demgegenüber werden die ersten technischen und ästhetischen Grundlagen einer genuin filmischen Stadt insbesondere in den Jahren zwischen 1910 und 1912 gesetzt, wie auch Guntram Vogt ausführt: „Ab jetzt schien alles möglich – empirische Vielfalt des städtischen Schauplatzes in Innen- und Außenszenen, zunehmend bewegte Kamera, intensive Figurendramatik.“1 Dabei lässt sich in den frühen Experimenten zur filmischen Stadtdarstellung immer wieder beobachten, dass die Kamera genau dort aufgestellt wird, wo sich eine Vielzahl von Bewegungen überkreuzt: großstädtische Plätze mit ihrem Menschengewimmel, Verkehrskreuzungen mit ihrem Chaos aus Straßenbahnen, Automobilen, Taxis und Kutschen, Straßenzüge, durch die sich große Menschenmassen drängen, gesäumt von allen Indizien der Großstadt: Schaufenstern, Leuchtreklamen, funkelnden Lichtern. Von Beginn der Filmarbeit an, so scheint es, sucht die 1
Vogt 2001, S. 19. 199
DIE PRODUKTION VON SICHTBARKEIT
Kamera „die mobile Szene, zunächst wie um ihrer selbst willen: Menschen, die irgendetwas auf möglichst auffällige Weise tun, und Dinge, die sich möglichst rasch bewegen – Artisten, Clowns, Bankräuber, Reiter im ‚Wilden Westen‘ und Autofahrer in den Städten, Passanten und Lokomotiven.“2 Erst im Zuge des Stadtfilms der zwanziger Jahre werden diese unterschiedlichen Facetten der Bewegung hingegen in ein filmisches Programm integriert, das seine Maßgabe und seinen Horizont in den zunehmend komplexen räumlichen Strukturen der Großstadt findet. Die Bewegung als Chiffre des Urbanen schlechthin wird die Ausführungen dieses Kapitels durchweg begleiten. Dennoch bezeichnet die Suche der Kamera nach immer neuen Formen der Überkreuzung von städtischer und filmischer Bewegtheit nur eine Seite der Medaille in der Frühzeit des Stadtfilms. Denn betrachtet man die Vielschichtigkeit der Filme der Weimarer Zeit, so durchzieht gerade die bekanntesten Beispiele zugleich eine zutiefst ‚antimoderne‘ Haltung, die sich nicht zuletzt in der Entschleunigung der Bewegung und in der Umkehrung des Städtischen manifestiert, und dies gleich in zweierlei Hinsicht: Denn einerseits zeigt sich hier das Phänomen, dass das urbane, bewegte Städtische oftmals auf sein Gegenteil in Form von räumlich hochgradig verdichteten, in sich geschlossenen und symbolisch stark aufgeladenen Kleinstädten und Dörfern bezogen wird. Andererseits vollzieht sich jedoch auch eine zeitliche Umkehrung im Sinne einer Verlagerung des Geschehens in eine bereits vergangene, vermeintlich bessere, ‚vor-moderne‘ Zeit.3 Angesichts dieser doppelten Rückkopplung des Urbanen an vormoderne Zeiten und Räume spricht Thomas Koebner von einer „merkwürdige[n] Verspätung des Schocks der Moderne im frühen Film der zwanziger Jahre“4, womit er insbesondere auf die an einer ‚BiedermeierÄsthetik‘ orientierten (Klein-)Stadtentwürfe des deutschen Expressionismus anspielt. Diese ‚Wiederkehr des Biedermeier‘ begründet sich dabei in dem „Bedürfnis nach Gemütlichkeit in einer äußerst gegensätzlichen Umwelt, die von zerschlagenen Illusionen und verlorenen Revolutionen
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Möbius/Vogt 1990, S. 87. So spricht auch Peter Gay mit Blick auf die inneren Strömungen in der Weimarer Republik von einer Aufspaltung Deutschlands in „two Germanys: the Germany of military swagger, abject submission to authority, aggressive foreign adventure, and obsessive preoccupation with form, and the Germany of lyrical poetry, Humanist philosophy, and pacific cosmopolitanism“; vgl. Gay, Peter: Weimar Culture. The Outsider as Insider. Harmondsworth: Penguin 1974, S. 1. Koebner, Thomas: „Der Schock der Moderne. Die Stadt als Anti-Idylle im Kino der Weimarer Zeit“, in: Schenk 1999, S. 67-82, hier S. 68. 200
EINFÜRHUNG
gebrandmarkt ist“5, womit zugleich die Vorstellungen eines ‚Heilsortes‘ bzw. einer ‚Heimat‘ untrennbar verbunden sind. Dennoch ist auch diese „Idyllisierung durch die Biedermeier-Maske“6 wiederum widersprüchlich und zweischneidig, insofern gerade die Schreckensthematik in Gestalt von Phantasmen, Doppelgängern und Vampiren immerfort Einzug in die Kleinstädte des filmischen Expressionismus hält. Ihre stärkste bildliche Verdichtung findet diese zutiefst verinnerlichte, symbolisch aufgeladene Stadt in dem wohl einflussreichsten Beispiel des filmischen Expressionismus: DAS CABINET DES DR. CALIGARI (Robert Wiene, 1920).7 Dabei werden in CALIGARI die Grenzen des Raums keinesfalls – wie sich in späteren Beispielen der zwanziger Jahre beobachten lässt – durch eine exzessive Beschleunigung des Sichtbaren ins Wanken gebracht. Vielmehr wird der Raum selbst von innen heraus durch das ‚nichtorganische Leben der Dinge‘ entgrenzt, wie Deleuze es beschreibt, wodurch zugleich Fragen nach einer eigenen ‚Physiognomie der Stadt‘ aufgeworfen werden. So spricht auch Lotte Eisner in ihrer einflussreichen Abhandlung zum filmischen Expressionsismus Die dämonische Leinwand (1952) davon, dass in DAS CABINET DES DR. CALIGARI „die ‚latente Physiognomie‘ einer kleinen alten Stadt mit ihren gewundenen dunklen Gassen, wo die vorgeneigten, vom Alter zerfressenen Hausfassaden das Tageslicht nicht eindringen lassen, äußerst glücklich zum Ausdruck gebracht“8 werde. Auf diese Weise, so ließe sich weiterführen, manifestiert sich in CALIGARI „das Grundgefühl der Zeit in den Dekorationen und Gesten“9, während der Raum selbst ‚belebt‘ wird und folglich „als handelnder Organismus“10 inkraft tritt.
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Koebner 1999, S. 68. Ebd., S. 70. Als weiteres zentrales Beispiel dieses ‚filmischen Caligarismus‘ ist der expressionistische Film DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM (Paul Wegener, Carl Boese, 1920) zu nennen, in dem Prag als durch und durch mittelalterliche Stadt mit schrägen Häuserwänden und gekrümmten Giebeln inszeniert wird; als weniger bekanntes, wenngleich ebenso wegweisendes Beispiel in Zusammenhang mit der Sichtbarmachtung der ‚unsichtbaren Stadt‘ im filmischen Expressionismus wird immer wieder Karl Heinz Martins VON MORGENS BIS MITTERNACHT (1920) angeführt; zu einer umfassenden Diskussion des Films vgl. Vogt 2001, S. 95-102. Eisner, Lotte: Die dämonische Leinwand. Frankfurt/M.: Fischer 1980 [1952], S. 25. Vogt 2001, S. 92. Fries, Heinrich de: „Raumgestaltung im Film“, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau. Berlin. Jg. 1920/21, S. 69; zit. in: Vogt 2001, S. 92. 201
DIE PRODUKTION VON SICHTBARKEIT
Demgegenüber und gleichsam am anderen Ende des Spektrums der filmischen Stadt in den zwanziger Jahren steht Fritz Langs METROPOLIS (1927) als Inbegriff eines futuristischen Stadtentwurfs, der in der Radikalität seiner Raumvision auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts singulär bleibt. Bereits innerhalb der zeitgenössischen Rezeption wurde es als ein Werk wahrgenommen, „das sowohl in der Kühnheit des Manuskripts als auch in der technischen Durchführung kaum mit irgendeinem anderen deutschen Erzeugnis verglichen werden kann.“11 In METROPOLIS verdichten und überkreuzen sich jedoch nicht allein die filmischen Möglichkeiten der Stadtinszenierung der Zeit auf besondere Weise, sondern vielmehr die prägenden urbanistischen Diskurse zur funktionalen Trennung der modernen Stadt.12 Im Film manifestiert sich diese Funktionalität in der Aufspaltung zwischen Hirn, Herz und Hand und damit zwischen der hochtechnologischen Oberstadt der Mächtigen, der monotonen, geometrisierten Schlafstadt der Arbeiter und der unterirdischen, katakombenartigen Produktionsstadt.13 Dabei setzt METROPOLIS insbesondere im Bereich der Filmarchitektur die entscheidenden Bedingungen dessen, was die filmischen Stadtutopien und Zukunftsvisionen in den folgenden Jahrzehnten und noch darüber hinaus prägen wird.14 In diesem Kapitel soll nun weder der Linie der Rückprojizierung des Städtischen (wie im filmischen Expressionismus) noch der Linie der futuristischen, hoch komplexen Stadtutopie (wie im architektonischen Entwurf von METROPOLIS) weiter nachgegangen werden. Gleichwohl bilden
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NN: „Metropolis“, in: Kinematograph, Nr. 1039/1927, S. 21; zit. in: Vogt 2001, S. 141. Vgl. hierzu insbesondere Dietrich Neumann: „Vorboten und Folgen von Metropolis. Film und Architektur auf der Suche nach der modernen Stadt“, in: ders. 1996, S. 33-37. Zu den prägenden urbanistischen Diskursen der zwanziger Jahre vgl. etwa Ludwig Hilbersheimer: GroszstadtArchitektur. Stuttgart: Hoffmann 1927, sowie in besonderem Maße die städtebaulichen Ideen von Le Corbusier erstmals formuliert in: Urbanisme. Paris: Crès 1925, später dann weiter ausformuliert im Zuge der Charta von Athen (1933) und in La Ville Radieuse. Bologne-sur-Seine: Editions de l’Architectur d’Aujourd’hui 1935. Auf diese umfassende Dreiteilung der Stadt in METROPOLIS verweist u. a. Weihsmann 1988, S. 175-178. Vgl. hierzu die Zusammenstellung der einschlägigen Arbeiten im Bereich der Filmarchitektur, die sich stets am Beispiel von METROPOLIS abarbeiten und hierin die Maßgabe sehen, an der sich alle folgenden Stadtutopien zu orientieren haben (Kap. II, Fußnoten 15, 16); sowie in Ergänzung: Arnold, Frank: „Von METROPOLIS nach Hollywood. Die Stadt im Science-Fiction-Film. Ein Streifzug“, in: Schenk 1999, S. 146-161. 202
EINFÜRHUNG
diese beiden Linien einen zentralen Hintergrund, um die Entwicklungsdynamiken der filmischen Stadt in den zwanziger Jahren zu begreifen und einordnen zu können. Darüber hinaus wird in beiden Linien ein zentraler Faktor der filmischen Stadt angesprochen: der Faktor ihrer Überdeterminiertheit, der sie stets zwischen zwei Extremen hin- und herpendeln lässt: zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Feiern des Städtischen und dessen Verdammung, zwischen städtischer Freiheit bzw. Wunscherfüllung und undurchsichtigem Dschungel, Labyrinth oder gar Moloch. Insbesondere in der Weimarer Zeit, so Thomas Koebner, bleibt die Stadt zutiefst in ein Geflecht von Ängsten und Hoffnungen eingespannt, die sich filmisch wiederholt in ihren Extremformen artikulieren: Anscheinend fällt es schwer, die Großstadt als eine Landschaft besonderer Art unvoreingenommen und neugierig zu vermessen, sie als offenes, noch nicht interpretiertes Gelände hinzunehmen. Immer wieder drängen sich, auch im Film dieser Epoche, die vom kulturellen Erbe angebotenen Vergleiche und Kategorien auf, die nahelegen oder erzwingen wollen, die steinerne Welt im Sinn alter Gedankenbrücken mit Himmel und Hölle allegorisch gleichzusetzen.15
Diese schwankende Bewertung des Städtischen zwischen Aufstieg und Abstieg, zwischen Himmel und Hölle, ist auch den Filmbeispielen, die im Zentrum dieses Kapitels stehen werden, auf deutliche Weise eingeschrieben, wenngleich mit jeweils anderer Gewichtung. So wird in den Weimarer (Straßen-)Filmen der frühen zwanziger Jahre in erster Linie das soziale Elend in den Städten angeprangert, indem sie die soziale Abwärtsspirale – die ihre stärkste bildliche Verdichtung sicherlich in DER LETZTE MANN (Friedrich Wilhelm Murnau, 1924) findet – eindrücklich nachzeichnen, während der moralische Verfall, der sich besonders in Karl Grunes DIE STRASSE (1923) und Georg Wilhelm Pabsts DIE FREUDLOSE GASSE (1925) einschreibt, als genuines Merkmal des Städtischen herausgestellt wird. Demgegenüber sind die Filme der Neuen Sachlichkeit, die verstärkt in den Jahren nach 1924/25 entstehen, von einem weitaus affirmativeren Zugang zum Städtischen geprägt. Denn sie lenken ihr Augenmerk vor allem auf die spezifische Bewegtheit des Städtischen, auf ihre Rhythmen und Dynamiken und fangen diese in einem objektivdokumentarischen und zugleich filmisch-bewegten Blick ein. Dennoch sind diese beiden Gesichter des Städtischen – die der Film noir der vierziger Jahre als Licht- und Schattenseite noch weitaus stärker zeichnen wird – in den frühen Stadtfilmen der zwanziger Jahre nicht immer eindeutig zuzuordnen. Denn auch die Weimarer Straßenfilme sind wiederholt von einem dynamisch-bewegten Gestus durchdrungen, der
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DIE PRODUKTION VON SICHTBARKEIT
sich in die Konstruktion des Städtischen einschreibt, ebenso wie die Filme der Neuen Sachlichkeit, wie besonders an Joe Mays ASPHALT (1929) abzulesen ist, die städtische Dynamik oftmals auf ihre Kehr- und Schattenseiten, auf die Unvereinbarkeit ihrer stark differierenden Welten beziehen. Diese doppelte Bewegung charakterisiert dann, in einem dritten Schritt, in hohem Maße auch die amerikanischen Avantgardefilme der zwanziger Jahre, in denen es einerseits darum geht, die neue Dimension des Städtischen in seinen gebauten Strukturen auf filmisch-bewegte Weise zu ergründen. Im selben Zuge wird diese ‚objektive‘ Aufzeichnung städtischer Sichtbarkeit jedoch wiederum gebrochen, indem sich das Lyrische, das Musikalische und mehr noch, ein komplexes Wechselspiel der Künste in den filmischen Raum einschreibt, wofür die Stadtsinfonie MANHATTA (Charles Sheeler, Paul Strand, 1920/21) als Beispiel dient. In allen drei Fällen geht die Konstruktion der filmischen Stadt bereits deutlich darüber hinaus, die Großstadt lediglich als „selbstverständliche[n] Ort filmischen Geschehens“16 bzw. implizit als Handlungsrahmen zu begreifen, wie es einen Großteil der Filmproduktion der zwanziger Jahre prägt.17 Im Gegenteil: In den folgenden Filmbeispielen werden die zentralen Aussagen über die grundlegend veränderte, ‚moderne Welt‘ der zwanziger Jahre überhaupt erst mit und an der Stadt gewonnen. Denn sie begreifen die Großstadt als ein umfassendes ‚Wahrnehmungsdispositiv‘, das in seinen vielfältig aufgefächerten Perspektiven und in seinen Überkreuzungen unterschiedlicher Blick- und Bewegungsrichtungen allein filmisch einzufangen ist. In diesem Sinne zeugen sie zugleich von jenem Zustand des ‚modernen Großstadtmenschen‘, den Simmel in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) auf so treffend als „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“18, bezeichnet hat. Der Film wird mit seinen bewegten, dynamischen Räumen den zeitgenössischen Diskursen wiederholt als ein Medium begriffen, das nicht allein die Aufzeichnung von Bewegung ermöglicht, sondern im selben Zuge Aussagen über eine grundlegende Neuordnung des Raums zu treffen vermag, deren Zielpunkt die Dynamisierung des Raums bildet. Auf diese Weise führt der Film, wie Anthony Vidler beschreibt, zu einer regelrechten ‚Explosion des Raums‘, war doch „der Film – das moderne Medium schlechthin – immer wieder Gegenstand des Neides und sogar der 16 17 18
Hickethier 1999, S. 186. Zu einer frühen, ironischen Wendung dieses Topos der Stadt als Hintergrund vgl. etwa DREAM OF A RAREBIT FIEND (Edwin S. Porter, 1906). Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 [1903], S. 116-131, hier S. 116. 204
EINFÜRHUNG
Nachahmung für statischere Künste, wenn es darum ging, Effekte oder Formen der Bewegung und der wechselseitigen Durchdringung von Raum und Zeit hervorzubringen.“19 Auch Walter Benjamin findet für diese ‚Explosion des Raums‘ durch den Film eine eindrückliche Formel, wenn er in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) die berühmten Aussagen trifft: Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung.20
Es sind folglich immer wieder Figuren der Entgrenzung und der Überschreitung räumlicher Kategorien, die in Zusammenhang mit dem Film in dieser frühen Phase in Anschlag gebracht werden, wodurch ein doppelter Prozess in Gang gesetzt wird: Einerseits wird die räumliche Komplexität der Großstadt überhaupt erst im Film und durch den Film greifbar – in ihren Gesamtperspektiven und ihren Detailperspektiven, in ihrer unendlichen Beschleunigung und in ihrer umfassenden Entschleunigung bzw. Dehnung. Andererseits, und im selben Zuge, entzündet sich an dieser spezifisch filmischen Transformation des Urbanen jedoch auch eine Reflexion der genuinen Möglichkeiten und Grenzen der filmischen Raumkonstruktion, indem sich der Film der Großstadt als eine neue, andere Art der Raumwahrnehmung einschreibt, die sich in der Steigerung filmischer Medialität, Konstruiertheit und Bewegtheit artikuliert. Diese Aussagen zur Überzeichnung und Entgrenzung räumlicher Kategorien durch den Film lassen sich jedoch auch in Anspruch nehmen, um an ihnen drei unterschiedliche filmische Topologien zu entwickeln, die zugleich die Grundlinien der folgenden Ausführungen zum frühen Stadtfilm vorzeichnen. So wird die Entgrenzungsbewegung des Raums in einem ersten Schritt in Bezug auf die Topologien der Ambivalenz im frühen Stadtfilm entfaltet. Dabei ist entscheidend, dass diese Entgrenzung gerade durch die Überzeichnung und gleichzeitige Auflösung eben derjenigen Gegensätze vorangetrieben wird, die der filmischen Stadt als zentrale Spannungsverhältnisse zutiefst eingeschrieben sind. Insbesondere drei räumlichen Relationen der filmischen Stadt soll in diesem Teilkapitel nähere Beachtung geschenkt werden: An erster Stelle steht die 19 20
Vidler, Anthony: „Die Explosion des Raums. Architektur und das filmische Imaginäre“, in: Neumann 1996a, S. 13-25, hier S. 13. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VII, I. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989 [1936], S. 350-384, hier S. 376. 205
DIE PRODUKTION VON SICHTBARKEIT
Verschränkung der (städtischen) Außenwelt mit der (psychischen) Innenwelt der Figuren, in der sich zugleich die wechselseitige Durchdringung von Innen- und Außenräumen der Stadt spiegelt. Das zweite Spannungsverhältnis betrifft die Gegensätze zwischen Stadt und Land, die auf der einen Seite bis zu ihrer Schematisierung überzeichnet werden, sich gleichzeitig aber auch vermischen und ununterscheidbar zusammenhängen. Weitergeführt und überformt werden diese beiden Relationen dann durch die Wechselverhältnisse zwischen der Tages- und Nachtseite der Stadt, die regelrecht als zwei getrennt voneinander existierende Raumlogiken der Großstadt in Erscheinung treten und dadurch unmittelbar auf die fundamentalen Ambivalenzen des Städtischen verweisen. In einem zweiten Schritt wird die Entgrenzung des Raums in Zusammenhang mit den Bewegungstopologien im frühen Stadtfilm weiter ausgeführt. Denn besonders in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wird die Inszenierung städtischer Dynamik in allen ihren Facetten derart auf die Spitze getrieben, dass aus dieser umfassenden Dynamisierung heraus wiederholt genuin bewegte Räume entstehen, die an die Grenzen des Raums reichen. Dabei lassen sich diese bewegten Räume in zwei Richtungen weiterdenken: Einerseits werden sie oftmals kontrapunktisch auf ihr Gegenteil – den Stillstand, die Ruhe, die Entschleunigung – bezogen und im Rahmen einer Mediendifferenz verhandelt. Andererseits werden sie jedoch auch durch die abstrakten Rhythmen, die neusachlichen Reihungen und die sinfonischen Strukturen der Filme selbst überformt, von denen die berühmten Querschnittsfilme dieser Zeit zeugen, während sich die Überschreitungsfiguren des Räumlichen gleichermaßen in der Bewegtheit und der Medialität der Filme begründen. Abgerundet wird dieses Kapitel durch eine Betrachtung der Raumkonstruktionen in den filmischen Experimenten der frühen amerikanischen Avantgarde, die unter dem Aspekt der abstrakten Topologien im frühen Stadtfilm eingehend beleuchtet und entwickelt werden sollen. In diesen Beispielen erfolgt nun die Entgrenzung und Überschreitung des Raums in Bezug auf eine dritte Position, die als Außen an den städtischen Raum herangeführt wird, sich gleichzeitig aber auch untrennbar in ihn einschreibt. Ein Schwerpunkt wird hierbei auf die frühen amerikanischen Stadtsinfonien gelegt, deren Besonderheit es ist, das Städtische in ein umfassendes Wechselspiel der Künste einzuspannen, um auf diese Weise die Grenzen des filmischen Raums auszuloten. Indem der filmische Raum hier im abstrakten Wechselspiel unterschiedlicher medialer Raumordnungen (der Musik, der Lyrik, der Fotografie) konfiguriert wird, treten zugleich seine Spezifika in den Vordergrund und werden so selbst zum Gegenstand einer filmischen Reflexion.
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EINFÜRHUNG
Der gemeinsame Kerngedanke dieser drei unterschiedlichen Raumkonstruktionen des frühen Stadtfilms begründet sich darin, dass die Metropole stets als ein hochgradig selbstbezügliches, in sich geschlossenes Gebilde inszeniert wird. Als ein Gebilde jedoch, das keineswegs statischer, sondern im Gegenteil hochgradig dynamischer, komplexer und innerlich diversifizierter Art ist. Der zweite übergreifende Bogen, der sich um dieses Kapitel spannen lässt, betrifft die Tatsache, dass es allen Beispielen darum geht, eine Aussage über die neuen materiellen, sozialen und symbolischen Dimensionen der Metropolen zu generieren, die sich vor ihren Augen entfalten, und dass sie diese Aussagen in ein Wechselspiel zwischen den sichtbaren Strukturen der Metropolen und den Unsichtbarkeiten des Städtischen einspannen. Auf diese Weise verhandeln sie das Städtische einerseits im Rückgang auf eine filmische Topographie (als das, was sich als Sichtbares in das Bild einschreibt), andererseits und insbesondere aber auch im Verhältnis zu einer filmischen Topologie (als das, was der Film als Potenzial des Räumlichen freisetzt), die letztendlich als Entgrenzung des städtischen Raums – seiner Gegensätze, seiner Bewegungen und seiner medialen Ordnungen – inkraft tritt. Während die Differenz von Topographie und Topologie den Rahmen für die folgenden Aussagen zum frühen Stadtfilm bildet, so steht im Kern der drei Teilkapitel die Ausdifferenzierung dreier filmischer Topologien, die mit den Filmen und an den Filmen jeweils neu an Kontur gewinnen. Zugrunde liegen den Topologien der Ambivalenz, den Bewegungstopologien und den abstrakten Topologien des frühen Stadtfilms dabei jene abstrakten Raumformen der inneren, der bewegten und der äußeren Topologie, die bereits in den ersten raumtheoretischen Ausführungen als Möglichkeit einer Erweiterung topologischen Denkens eingeführt wurden, während sie ihre erste Spezifizierung im Zwischenkapitel mit der Zuschreibung dreier topologischer Grundbewegungen erhalten haben: der Logik der Verschränkung (als Einheit), der Logik der Verschiebung (als Differenz) und der Logik der Verknüpfung (als Vielheit). Diese drei abstrakten Grundfiguren der filmischen Topologie zeichnen die Grundbewegungen der drei Filmkapitel vor; im selben Zuge werden sie jedoch auch mit jeder Phase, ja mit jedem Film einer schrittweisen Modifizierung unterzogen, wodurch eine kontinuierliche Umdeutung und Neuzuschreibung der filmischen Metropole in Gang gesetzt wird. In diesem beweglichen, umformenden Raumdenken, das dem Film untrennbar innewohnt, öffnet sich zugleich der Blick auf die feinen Verschiebungen und die subtilen Varianten einer filmischen Topologie, die im Bereich des frühen Stadtfilms immer wieder ihren Zielpunkt darin findet, der Fabrikation des Städtischen und mehr noch, der Produktion von Sichtbarkeit ein eindrückliches, intensives Bild zu verleihen.
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Topologien der Ambivalenz: Die Entgrenzung der Gegensätze Die Ambivalenz des Städtischen ist die erste Facette des frühen Stadtfilms, die an dieser Stelle herausgearbeitet werden soll. In gewisser Weise ist sie zugleich die prägendste Vorstellung innerhalb der filmischen Raumkonstruktion des Urbanen, insofern die Stadt immer wieder als ein grundlegend komplexes, in dieser Komplexität aber auch als hochgradig widersprüchliches Gebilde inszeniert wird. Bereits in den frühen Versuchen zur filmischen Stadt und damit ab dem Zeitpunkt, an dem sich die filmische Darstellung der Stadt von der reinen ‚optischen Berichterstattung‘ löst, wird der Topos der Widersprüchlichkeit des Städtischen zwischen Verheißungen und Gefahren, zwischen faszinierender Anziehungskraft und sozialer bzw. moralischer Abwärtsspirale angesprochen. Hier wird die Stadt – und genau dies verbindet die filmischen Konstruktionen mit den urbanistischen Diskursen der Zeit – kontinuierlich gegen das Ländliche ausgespielt, wodurch eine asymmetrische Beziehung zwischen beiden Polen aufgezogen wird, bei welcher das Ländliche als eine Idylle, als Befreiung von der ungesunden und zugleich verzehrenden Stadtluft gezeichnet wird, wie etwa die frühen Gartenstadtentwürfe von Ebenezer Howard oder auch Raymond Unwin belegen.21 Demgegenüber stehen jedoch auch Filme, die gerade das genuin Städtische feiern – und auf diese Filmbeispiele soll insbesondere im zweiten Teilkapitel unter dem Aspekt der Bewegungstopologien eingegangen werden –, wobei sie in diesem Feiern einen zutiefst affirmativen Blick auf die Stadt als Inbegriff von Modernität, Mobilität und Visualität zur Schau stellen. Auf diese Weise lässt sich eine doppelte Ambivalenz im frühen Stadtfilm verzeichnen: Einerseits äußert sich diese in den widersprüchlichen Raumkonstruktionen der Filme selbst, das heißt in der Überzeichnung ihrer inneren Gegensätzlichkeiten ebenso wie in den Differenzen von Stadt und Land. Andererseits artikuliert sich die Ambivalenz der filmischen Stadt in den zwanziger Jahren jedoch auch zwischen den einzelnen Filmen und damit im Filmvergleich, wobei die Zielrichtungen der filmischen Stadtinszenierungen weit auseinander treten und grundlegend polarisierende Formen annehmen: vom Feiern des Städtischen bis zu seiner Kritik, von einem affirmativen hin zu einem pessimistischen, die
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Howard, Ebenezer: Garden Cities of To-Morrow. London: Swan Sonnenschein & Co. 1902; Unwin, Raymond: Town Planning in Practice. London: T. Fisher Unwin 1911; zu einem breiten Überblick vgl. Fishman, Robert: Urban Utopias in the Twentieth Century. Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright and Le Corbusier. New York: Basic Books 1977. 208
DIE ENTGRENZUNG DER GEGENSÄTZE
Moderne gänzlich verweigernden Blick.22 Dennoch, so lässt sich mit Sigrid Lange einwenden, wäre es zu kurz gefasst, die Korrespondenzen zwischen der Großstadt und der Moderne, als deren Teil sich der Film begreift, allein darin zu suchen, einen Gegensatz bzw. das Auseinandertreten von Stadt und Land, von Innen und Außen, von materiellen und symbolischen Räumen, zu postulieren und filmisch auszugestalten: Vielmehr liegt das Symptomatische der modernen Umbruchszeit in der Häufigkeit heterotopischer Zuschreibungen in der genannten Doppelung von Realem und Symbolischen. Man muß das Entweder/Oder der oppositionellen Begriffspaare nur als das Zugleich der Gegensätze zusammendenken, um in den [...] Kunsttheorien den Spiegel zeitgenössischer Erfahrung zu erkennen: Einfühlung und Abstraktion, Empirie und Projektion, Wirklichkeit und Mythos semantisieren die Räume, die dem modernen Subjekt sowohl vertraut als auch entfremdet sind.23
Dieser schrittweisen Auflösung bzw. der Entgrenzung der Gegensätze im frühen Stadtfilm nachzuspüren, ist ein zentrales Ziel dieses Teilkapitels. Um dies näher zu ergründen, werden drei zentrale Oppositionen – Innenraum/Außenraum, Stadt/Land, Tag/Nacht – herausgegriffen und anhand ausgewählter Beispiele näher erläutert, wobei jedem Begriffspaar ein ganzes Spektrum weiterer Bedeutungsebenen und Subdifferenzierungen zugrunde liegt.24 Den Kernpunkt der Betrachtungen bilden die Weimarer Straßenfilme, die besonders in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre entstehen und die sich in ihrer Bildsprache stark vom filmischen Expressionismus beeinflusst zeigen. Zugleich wird in diesem Kapitel eine zweifache Ausweitung des Analysekorpus vorgenommen: einerseits, indem mit SUNRISE (1927) ein Beispiel in die Überlegungen einbezogen wird, das unter der Regie von Friedrich Wilhelm Murnau in Amerika produziert wurde; und andererseits, indem mit Blick auf Joe Mays ASPHALT (1929) die Entwicklungsdynamik dieser zentralen Topoi des Städtischen im Stadtfilm der späten zwanziger Jahre weiter verfolgt wird.
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Irmbert Schenk hat diesen Aspekt in Hinblick auf einige unbekannte Stadtfilme Walter Ruttmanns als die grundlegende ‚Janusköpfigkeit‘ des frühen Stadtfilms bezeichnet; vgl. Schenk, Irmbert: „Futurismus, Großstadt- und Industriefilm. Zur Ambivalenz dokumentarischer Großstadtdarstellungen“, unveröffentl. Vortragsmanuskript zur Konferenz ‚Symbolic Constructions of the City‘ am CMS Berlin, 01.-02.12.2005. Lange 2001, S. 16. Auf die vielschichtigen Bedeutungsebenen des Stadt-Land-Verhältnisses hat insbesondere McArthur in Bezug auf SUNRISE (Murnau, 1927) hingewiesen, vgl. McArthur 1997, S. 21ff. 209
TOPOLOGIEN DER AMBIVALENZ IM FRÜHEN STADTFILM
Es ist als ein Charakteristikum der Weimarer Straßenfilme zu werten, dass sie die drei Spannungsverhältnisse der filmischen Stadt innerhalb einer umfassenden räumlichen Differenzierung des Städtischen verhandeln. Dies bedeutet, dass sie sich in erster Linie mit der Vielfalt des Städtischen auseinandersetzen: mit ihren vielschichtigen räumlichen Strukturen, mit ihren neuartigen sozialen Dimensionen und mit ihren komplexen Symbolbildungen. Die drei Spannungsverhältnisse der filmischen Stadt – Innen/Außen, Stadt/Land, Tag/Nacht – dienen dann als eine Verdichtung dieser räumlichen Diversität, wodurch ein komplexer filmischer Stadtentwurf entsteht, der einerseits als ein selbstbezügliches, zutiefst in sich geschlossenes, räumliches Gebilde begriffen werden muss, der andererseits jedoch auch bewirkt, die inneren Konflikte des Städtischen und die sozialen Implikationen dieser neuen Lebensform als eine Vielfalt räumlicher Beziehungen zu konfigurieren, wodurch der filmischen Stadt eine doppelte Bewegung von Einheit und Vielfalt zugrunde liegt. Diese innere Diversifizierung des Städtischen findet ihren ersten, unmittelbaren bildlichen Ausdruck in der Verschränkung von Stadt und Psyche. So sehen auch Hanno Möbius und Guntram Vogt einen Kernpunkt der Stadtfilme der zwanziger Jahre gerade darin begründet, dass sich hier „Psyche (der einzelne in seinen Beziehungen) und Stadt (die Hinterhöfe und Hintertreppen, der Verkehr in den Straßen usw.) von nun an untrennbar ineinander verflechten.“25 Am deutlichsten tritt diese Facette in den expressionistisch beeinflussten Dekors hervor, die laut Weihsmann vor allem dazu dienen, „die geistigen und psychologischen Voraussetzungen für die dramaturgischen Vorgänge herzustellen.“26 Insbesondere in Bezug auf die Bildsprache des filmischen Expressionismus spricht Weihsmann von einem „tiefenpsychologische[n] Einsatz von verzerrten und ver-rückten Requisiten und Bauten“27, wodurch sich „an der instabilen Filmarchitektur, die ja die Welt der Vorspiegelungen, Täuschungen und Tücken der Zeit mitreflektiert, das gesellschaftliche und individuelle Chaos Nachkriegs-Deutschlands ablesen“28 lässt. Dabei ist die expressive Architektur der frühen Weimarer Filme nicht zuletzt als Reaktion auf das „Nicht-Vorhandensein von gesprochener Sprache im Stummfilm“29 zu lesen, woraus Anton Kaes den weitreichenden Schluss zieht: „Gerade weil niemand redet, spricht alles.“30 25 26 27 28 29 30
Möbius/Vogt 1990, S. 13. Weihsmann 1988, S. 11. Ebd. Ebd. Kaes, Anton: „Schauplätze des Verlangens. Zum Straßenfilm der Weimarer Republik“, in: Neumann 1996a, S. 26-32, hier S. 29. Ebd. 210
DIE ENTGRENZUNG DER GEGENSÄTZE
Diese Verflechtung von Stadt und Psyche verweist nun unmittelbar auf das erste Spannungsverhältnis, auf das an dieser Stelle näher eingegangen werden soll: das Spannungsverhältnis von Innenwelt (der Figuren) und Außenwelt (der Stadt), die sich wechselseitig reflektieren. Denn die städtische Außenwelt scheint oftmals unmittelbar in die Figuren einzudringen, während die Innenwelt der Figuren gleichsam auf sichtbare Weise in den filmischen Stadtraum ausstrahlt. Die Stadt – und damit zunächst einmal die reine Welt des Außen – wird somit zu einem (sichtbaren) Raum der Innenwelt, der die Spuren der einzelnen Figuren trägt. Die wechselseitige Durchdringung von Innenwelt und Außenwelt verdichtet sich insbesondere im Motiv der großstädtischen Straße. Hier wird das Innen-Außen-Verhältnis lesbar als Differenz zwischen dem heimischen Innenraum (als privatem Raum) und dem städtischen Außenraum der Straße (als öffentlichem Raum), wobei sich zwei gegensätzliche Szenarien dieser Umkehrung durchspielen lassen: Denn entweder verlagern die Figuren – wie Walter Benjamin am Beispiel des flanierenden Franz Hessel ausgeführt hat – ihre Wahrnehmung von der häuslichen, heimischen Innenwelt in Richtung der Eindrücke der städtischen Außenwelt, wodurch die Außenwelt allein eine Verlängerung des Heims bedeutet: „Denn sie [die Straßen] sind ja die Wohnung des ewig unruhigen, ewig bewegten Wesens, das zwischen Hausmauern soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt, wie das Individuum im Schutze seiner vier Wände.“31 Oder aber die Straße dringt in allen ihren Facetten der städtischen Außenwelt in das vermeintlich geschützte Innere der Wohnungen ungefiltert ein und setzt von dort aus eine umfassende Umkehrung von Innen und Außen in Gang, wie sich besonders in Bezug auf Karl Grunes DIE STRASSE und Joe Mays ASPHALT zeigen lässt. In den Straßenfilmen der Weimarer Zeit geht es folglich um eine innere Differenzierung des Städtischen, die ihren unmittelbaren bildlichen Ausdruck zunächst in den drei räumlichen Dimensionen des Materiellen, des Sozialen und des Symbolischen findet. Im selben Zuge wird jedoch auch die schrittweise Auflösung der Grenzen dieser drei Sinnordnungen des Raums in Gang gesetzt. Mehr noch: Durch die Auflösung der Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Psyche und Stadt, zwischen Ländlichem und Städtischem, zwischen Tages- und Nachtseite werden die Weimarer Straßenfilme zugleich, wie Barbara K. Kosta ausführt, zum Indikator einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation, die sich unmittelbar in die Konfiguration der großstädtischen Straße einschreibt:
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Benjamin, Walter: „Die Wiederkehr des Flaneurs“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989 [1929], S. 194-199, hier S. 196. 211
TOPOLOGIEN DER AMBIVALENZ IM FRÜHEN STADTFILM
Hier wird die Straße zum Versuchsfeld für eine Gesellschaft im Grenzzustand, d. h. in einer Zeit, in der sich die Kultur sowohl verunsichert als auch unsicher, im Übergang und im Prozess des Neu-Definiert-Werdens befindet. Die Straße steht stellvertretend für einen Übergangsraum, der im Kontext der Weimarer Republik auch als Ort unordentlicher Beziehungen galt. Die Grenzen von Klasse und Gender werden hier verwischt, und das Verlangen wird hinter dem Schleier der Anonymität ausgelebt.32
Die Straße als Versuchsfeld und zugleich als Grenzzustand räumlicher Beziehungen schreibt sich auf das Deutlichste in dem Film DIE STRASSE (Karl Grune, 1923) ein, der wiederholt als erster Straßenfilm und damit zugleich als Begründer dieses Subgenres des Stadtfilms charakterisiert wird.33 Dabei dringt die Straße zunächst auf implizite Weise in das Geschehen ein, wenn der namenlose Protagonist des Films das städtischbewegte Außen allein als Schattenspiel an den Wänden seines Wohnzimmers wahrnimmt. Hier verdichten sich die Schatten und Lichter der Stadt zunehmend zu verzerrten Diagonalen, wodurch diese Sequenz zugleich als ein filmisches Pendant zum futuristischen Gemälde Umberto Boccionis Die Straße dringt ins Haus (1911) gelesen wurde.34
Abb. 5: Überlagerung von Innen- und Außenraum als Schattenspiel in DIE STRASSE (1923)
Angelockt durch dieses Schattenspiel blickt der Mann durch das Fenster, das als Doppelung des Dispositivs gelten kann, insofern sich hier das städtische Schauspiel des treibenden Verkehrs in seiner vollen Komplexität entfaltet. Unfähig, den Verlockungen des Außen standzuhalten, lässt sich der Protagonist durch die nächtliche Straße treiben, um am Ende des 32 33
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Kosta, Barbara K.: „Die Straße als Ort unordentlicher Beziehungen. Joe Mays Asphalt“, in: Lange 2001, S. 227-239, hier S. 232. In dieser Linie sind zugleich die Milieufilme HINTERTREPPE (Leopold Jessner, Paul Leni, 1921) und Lupu Picks SCHERBEN (1921) und SYLVESTER (1924) zu sehen, ebenso wie VON MORGENS BIS MITTERNACHT (Karl Heinz Martin, 1920), dessen Vorlage das gleichnamige Schauspiel von Georg Kaiser (1912/17) bildete. Vgl. Vogt 2001, S. 109; Anton Kaes verweist zugleich auf die Nähe dieser Darstellung der großstädtischen Straße zu den Gemälden zahlreicher deutscher Maler, wie etwa Ernst Ludwig Kirchner, George Grosz und insbesondere Ludwig Meidner, der zugleich den Entwurf für DIE STRASSE lieferte; vgl. Kaes 1996, S. 28f. 212
DIE ENTGRENZUNG DER GEGENSÄTZE
Films wiederum reumütig in der geschützten Innenwelt seiner Wohnung anzugelangen. Der tranceartige Zustand, den er in den Wirren und Verlockungen dieser nächtlichen, großstädtischen Straße durchlebt, nimmt sich dann im Umkehrschluss wiederum als eine einzige Traumsequenz, als ein zutiefst irrealer Zustand aus, denn: „Das Abenteuer ist vorüber, das Erlebnis der Straße mit ihrer Leidenschaft und Gefahr scheint nun nicht viel mehr als das Produkt einer überreizten Phantasie. Die Straße: War sie ein Traum, eine Vision, ein Film?“35 Die Auffächerung des Innen-Außen-Verhältnisses als Wechselspiel von Stadt und Psyche einerseits und als Durchdringung von öffentlichem und privatem Raum andererseits erhält in DIE STRASSE nun eine besondere Wendung. Denn bereits in der Eingangssequenz wird das Verhältnis zwischen dem Außenraum der Straße und dem geschützten Innenraum der Wohnung im Zuge einer Abstraktion des Städtischen in den Lichtspielen auf der Wohnzimmerwand auf eine symbolische und zugleich irreale Ebene gestellt. Denn eben dieses Eindringen der großstädtischbewegten Straße in ihrer nervösen Übersteigerung und Reizung aller Sinnesebenen wird allein für den Protagonisten sichtbar, denn seine Frau wird, aus dem Fenster blickend, nicht mehr als den in der Ferne fließenden Verkehr sehen. An diesem Punkt wird die wechselseitige Durchdringung von Außen- und Innenwelt folglich verdoppelt und zugleich gebrochen, indem die kaleidoskopartige Durchdringung wiederum als ein zutiefst subjektives Empfinden des Protagonisten ausgestellt wird. So steht der „ruhigen, bedächtigen Atmosphäre in der Wohnung [...] das optische Chaos in der Vorstellungswelt des Mannes gegenüber“36, die wiederum selbst als expressionistisch überformte, symbolisch verdichtete Stadt in Erscheinung tritt. Auch die Lichtbild-Bühne stellt angesichts dieses Films eine permanente Stimulanz der Sinne fest, die der Raumwahrnehmung der großstädtischen Straße untrennbar innewohnt, insofern sie dem Betrachter „vielmehr nervenmäßig zum Bewußtsein kommt.“37 Im Zuge dieser Konfiguration der (doppelten) Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen thematisiert Grunes Film jedoch auch, und darauf hat insbesondere Anton Kaes hingewiesen, die zentrale Bedeutung des Blicks im frühen Stadtfilm, der sein eindrücklichstes Motiv in dem gemalten Augenpaar findet, das sich, als Werbereklame an der Tür eines Optikers angebracht, auf einmal mit einem Zwinkern dem Protagonisten zuwendet und damit vom ‚nicht-organischen Leben der Dinge‘ zeugt. Die Zentralität des (modernen) Blicks tritt jedoch auch im unablässig begehrenden 35 36 37
Kaes 1996, S. 26. Möbius/Vogt 1990, S. 35. NN: „Die Strasse. Resümee einer Filmaufnahme“, in: Lichtbild-Bühne, Nr. 34, 25.8.1923; zit. in: Vogt 2001, S. 105. 213
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und begierigen Blick des Protagonisten hervor, der die großstädtische Straße als einen völlig neu wahrzunehmenden und neu zu begreifenden Raum erforscht, wobei sich in den unterschiedlichen Facetten dieses Blicks, so Kaes, zugleich eine Reflexion des Films als einem Produzenten ständig neuer Blickrichtungen und Sichtbarkeiten artikuliert: Dieses surreale, halluzinatorische Bild eines mit Augen versehenen Gegenstandes reflektiert die Kraft des Blicks: den Blick des wie neu geborenen und alles neu erlebenden Protagonisten, den Blick der alles sehenden Kamera und auch die Blicke der Zuschauer, die dem verunsicherten Flaneur gespannt folgen. Das Erlebnis, die Straße offenen Blickes entlangzugehen, korrespondiert mit dem Erlebnis, einen Film zu sehen.38
In dieser Überkreuzung unterschiedlicher Ebenen des (filmischen) Blicks wird die Straße zugleich zu einem „existentielle[n] Schauplatz der Moderne, in dem das Individuum sowohl Objekt als auch unwillentlicher Teilnehmer einer Reihe unverständlicher und unkontrollierbarer Prozesse wird.“39 Im selben Moment, so führt Kracauer aus, verändert sich jedoch auch das Verhältnis des Subjekts zu seiner Außenwelt auf fundamentale Weise bzw. wird das Außen selbst zu einer eigenen Existenzweise: „Diese Menschen der Großstadtstraße haben keinen Bezug auf das Obere, sie sind nur noch ein solches Außen, wie die Straße selber es ist, auf der sich vieles begibt, ohne daß etwas geschieht. Das Getriebe der Figuren gleicht dem Wirbel der Atome, sie begegnen sich nicht, sondern prallen zusammen, sie treiben auseinander und trennen sich nicht.“40 In dem Straßenfilm DIE FREUDLOSE GASSE (Georg Wilhelm Pabst, 1925) wird die Straße hingegen weniger als Ermöglichungsraum zufälliger Begegnungen inszeniert, sondern vielmehr als eine schicksalhafte Zusammenbindung einzelner Individuen in einem engen bzw. beengten Raum. Die Gemeinsamkeit der Bewohner der Melchiorgasse in Wien begründet sich dabei in ihrem geteilten Elend und der geteilten Sorge um ihr Überleben, das dem permanenten Exzess und der Vergnügungssucht der Welt der Reichen auf das Deutlichste entgegengesetzt ist. Ihren bildlichen Niederschlag findet diese Überzeichnung sozialer Gegensätze in der Stadt gleich zu Beginn in einer Parallelmontage zwischen den wartenden Bedürftigen auf der Straße und dem Treiben des Trinkgelages, das die Unvereinbarkeit beider Welten deutlich herausstellt.
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Kaes 1996, S. 27. Ebd., S. 30. Kracauer, Siegfried: „Die Straße“, in: Frankfurter Zeitung, 3.2.1924; zit. in: Kaes 1996, S. 30. 214
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Dennoch treten im Verlauf des Films Schnittstellen und Übergangszonen zwischen beiden Welten auf, die sich besonders im Hotel Merkel verdichten, das ein ‚großstädtisches Moment‘ in die expressionistische Gasse einziehen lässt. Das Hotel Merkel wird zu einem Umschlagpunkt der divergenten räumlichen Ordnungen dieses Films, indem sich hier die jungen Mädchen der freudlosen Gasse wiederholt dem reichen Klientel anbieten müssen, während im Umkehrschluss die Abgründe der (großstädtischen) Welt der Reichen, wie Korruption, Aktienschwindel, Mord und moralischer Verfall, nur umso drastischer hervortreten.41 In seinem verdichteten Blick auf die sozialen Missstände der Großstadt schreibt DIE FREUDLOSE GASSE zugleich die Differenz des Verhältnisses von Innen und Außen weiter, jedoch in einer Weise, dass diese räumlichen Grenzen als soziale Differenz lesbar werden.
Abb. 6: Armut, Verfall und Trostlosigkeit als Schattenseiten der Großstadt in DIE FREUDLOSE GASSE (1925)
In DIE FREUDLOSE GASSE wird das Innen-Außen-Verhältnis in Richtung einer sozialen Inklusion und Exklusion verschoben, die sich unmittelbar in die räumlichen Strukturen der Stadt einschreibt und der Stadt ein negativ konnotiertes, asymmetrisches Verhältnis zugrunde legt. Denn diese so ‚freudlose Gasse‘ wird als eine enge, dunkle und heruntergekommene Straße in einem durch und durch expressionistischen Dekor inszeniert, die Wohnungen befinden sich zumeist in den Kellergeschossen mit spärlicher Beleuchtung, während sich die Armut bereits deutlich in die Innenräume eingezeichnet hat. Laut Guntram Vogt manifestieren sich hier gerade die Differenzen zwischen der Gasse und der Straße als zwei unterschiedliche räumliche Konfigurationen des frühen Stadtfilms: „Die Gasse als enger, dunkler Ort vorwiegend der sozialen Deklassierung, die Straße als Ort der großstädtischen Vielfalt, damit auch der Verführung, des Lebens ‚im Licht‘ wie im Halbdunkel.“42 Die Gemeinsamkeiten von 41
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Patrice Petro verweist darauf, dass zahlreiche Passagen zu dieser Thematik durch die deutsche Zensurbehörde wieder gestrichen wurden, während man in Frankreich beinahe alle Szenen der ‚freudlosen Gasse‘ herausschnitt; vgl. Petro, Patrice: „Film Censorship and the Female Spectator: The Joyless Street (1925)“, in: Eric Rentschler (Hg.): The Films of G. W. Pabst. An Extraterritorial Cinema. New Brunswick/London: Rutgers University Press 1990, S. 30-40, hier S. 31 und S. 38-40. Vogt 2001, S. 127, Anm. 2; in verdichteter Formulierung auch S. 126. 215
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DIE STRASSE und DIE FREUDLOSE GASSE begründen sich hingegen vor allem darin, dass beide Filme die Großstadt in Bezug auf einen zentralen Teilraum begreifen (die Straße, die Gasse), in dem sich die gesamte Diversität des Städtischen verdichtet. Auf diese Weise konfigurieren sie die Großstadt vollkommen aus sich selbst heraus, das heißt als ein hochgradig verdichtetes und in sich geschlossenes räumliches Gebilde, das alles Glück und alles Unglück dieser Welt in sich zu bündeln vermag. Demgegenüber existiert jedoch auch eine Reihe von Filmen, welche die Stadt nicht in Bezug auf ihre inneren Gegensätze begreift, sondern sie im Gegenteil in Abgrenzung zu ihrem ländlichen Umraum sieht, wodurch die Großstadt als all das definiert wird, was das Ländliche nicht ist und aufgrund seiner räumlichen Beschaffenheit auch nicht sein kann.43 Im Zuge der Ausarbeitung der Facetten der filmischen Stadt in den Filmen der Weimarer Zeit gewinnt dieser Aspekt zunehmend an Bedeutung. Denn hier wird das Land immer wieder als Kontrastfolie in Anspruch genommen, um darüber die Stadt überhaupt erst zu konstituieren, während im Umkehrschluss das Ländliche in seinen grundlegenden Facetten wiederholt in Abgrenzung zur Stadt überzeichnet wird. Denn, so führen auch Möbius und Vogt aus, „das Städtische kann nicht ohne sein Gegenteil gedacht werden: logisch ist es in seiner abgrenzenden Definition auf das Ländliche angewiesen.“44 Innerhalb der Stadtinszenierung der frühen zwanziger Jahre ist es immer wieder die Metropole Berlin, die als Inbegriff einer Metropole alles auf sich konzentriert, in der sich alle Gefahren und Verlockungen des Städtischen verdichten und die eine starke, aber immer auch zwiespältige ‚Sogwirkung‘ auf ihren Umraum ausübt, wie etwa Heinrich Mann in seinem Essay Berlin (1921) beschreibt: Die Wirkung der großen Stadt auf ihr Land ist immer zwiespältig, die große Stadt ist verdächtig und sie lockt. Berlin wird entfernten Reichsteilen noch lange verdächtig sein, aber Reiz und Werbekraft werden fortwährend zunehmen: der Reiz des neuen Berlin auf das neue Deutschland.45
Im Zuge dieser Sogwirkung erzählt der Film, wie auch Knut Hickethier ausführt, „Natur immer als einen Kontrapunkt zum Urbanen und figuriert
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Zu einer eingehenden Betrachtung des dynamischen Wechselspiels von Stadt und Land in einer breiten Perspektive von LITTLE CAESAR (Mervyn LeRoy, 1931) über THE FOUNTAINHEAD (King Vidor, 1949) bis hin zu SLEEPING WITH THE ENEMY (Joseph Ruben, 1991) vgl. McArthur 1997. Möbius/Vogt 1990, S. 28. Mann, Heinrich: „Berlin“, in: Christian Jäger; Erhard Schütz (Hg.): Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik. Berlin: Fannei & Walz 1994 [1921], S. 13-19, hier S. 17. 216
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sie damit innerhalb einer Gesamtstruktur von Urbanität ein.“46 Indem der Film aber Stadt und Land als eine zusammenhängende räumliche Größe begreift, werden zugleich die Grenzen zwischen beiden fließend und lassen sich in zwei Richtungen weiterdenken: Einerseits kann das Ländliche in Form begrünter Zwischenzonen und Parks Einzug in die Stadt halten und somit einen inneren Kontrast herstellen, wie es verstärkt in den späten zwanziger Jahren zu beobachten ist. Andererseits schreibt sich jedoch auch das genuin ‚städtische Moment‘ wiederholt in ländliche Gegenden ein, wodurch eine Vermischung beider Ebenen in Gang gesetzt wird. Diese fließenden Grenzen und Vermischungen von Urbanem und Ländlichem lassen sich nun – als zweite Grundkonfiguration der Topologien der Ambivalenz – besonders am Beispiel von SUNRISE (Friedrich Wilhelm Murnau, 1927) entfalten.47 Dabei wohnt der filmischen Stadt-LandDifferenz in SUNRISE stets etwas Exemplarisches und Allgemeingültiges inne, das sich einerseits in den Figurenbezeichnungen niederschlägt, die als ‚The Man‘, ‚The Wife‘ und ‚The Woman from the City‘ bewusst allgemein und in ihren Grundverhältnissen zueinander eingeführt werden. Andererseits verweist jedoch auch der einleitende Zwischentitel unmittelbar auf das Exemplarische dieser Geschichte: This song of the Man and his Wife is of no place and every place; you might hear it anywhere at any time. For wherever the sun rises and sets ... in the city’s turmoil or under the open sky on the farm ... life is much the same; sometimes bitter, sometimes sweet.48
An diesen ersten Aussagen wird bereits deutlich, dass der Film nicht allein die Oppositionen von Stadt und Land verhandelt, sondern dass er dieses Verhältnis vielmehr dazu benutzt, um diejenigen übergreifenden kulturellen Grundoppositionen zu diskutieren, die Koebner in einem allgemeinen Blick auf die Filme der Weimarer Zeit als ‚Himmel‘ und ‚Hölle‘ bezeichnet hat. Einem ähnlichen Gedankengang folgend spitzt auch Colin McArthur die Grundopposition von Stadt und Land bzw. ihre filmische Konfiguration deutlich zu, wenn er in Bezug auf SUNRISE äußert: „The country/city opposition, with the former as Arcadia and the latter as Sodom, furnishes the key structural opposition in Sunrise“.49 46 47
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Hickethier 1999, S. 187. Der Film ist die erste amerikanische Produktion Friedrich Wilhelm Murnaus und wurde in der Nähe von Los Angeles am Lake Arrowhead gedreht, ist gleichzeitig aber noch sehr stark von der Formensprache des Expressionismus geprägt und daher auch mit den Weimarer Straßenfilmen in eine unmittelbare Linie zu setzen. SUNRISE (Friedrich Wilhelm Murnau, 1927), TC: 00:01:01. McArthur 1997, S. 21. 217
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Mit dem Ländlichen und dem Städtischen stehen sich in SUNRISE zunächst zwei vollkommen getrennte, unvereinbare Welten gegenüber, die sich in den beiden Frauenfiguren ‚The Wife‘ (als Arkadien) und ‚The Woman from the City‘ (als Sodom) verdichten. Dabei wird die Ehefrau als Pendant des idyllischen Ländlichen in ihrer Unschuld und Reinheit stark überzeichnet und zugleich mit einer fast kindlichen Naivität versehen („They used to be like children, carefree ... always happy and laughing ...“). Die Stadtfrau hingegen wirkt in ihrer künstlichen Attraktivität wie ein Fremdkörper in diesem behüteten Dorf („And now he ruins himself for that woman from the city ...“). Die untrennbare Kopplung des Weiblichen als Femme fatale – die als Frauentypus in hohem Maße auch den Film noir prägen wird – mit der Stadt ist dabei ein Topos, der sich durch zahlreiche Diskurse dieser Zeit zieht. Oftmals wird die Stadt sogar mit der Hure Babylon gleichgesetzt, in der sich das Übel der Welt und der Verfall aller moralischen Werte auf fatale Weise überkreuzen.50 Dennoch finden sich trotz dieser starken Überzeichnung der Unvereinbarkeiten beider Welten in SUNRISE – hier die Idylle des Ländlichen, das in einer durchgängigen Bildkomposition der Symmetrie und der Ordnung aufgeht; dort das hektische, nervenaufreibende städtische Treiben mit seinen Bilddiagonalen, Überkreuzungen von Bewegungsrichtungen und quer durch das Bild rasenden Zügen – ebenso Figuren der wechselseitigen Einschreibung dieser beiden Raumlogiken und Bildsysteme.
Abb. 7: Die Einschreibung des Großstadtchaos in das ländliche Idyll in SUNRISE (1927)
Den ersten Punkt, und damit die Einschreibung der Stadt in das ländliche Idyll, markiert das heimliche Treffen zwischen dem Mann und der Stadtfrau, als diese ihn beschwört, mit ihr in die Stadt zu kommen („Come to the City!“). Dabei eröffnen sich unmittelbar vor ihren Augen über der Schilflandschaft Bilder der Großstadt, welche die ungreifbare und überfordernde Bewegtheit des Städtischen insofern steigern, als sie sich zu einem chaotischen Tanz der Bilder verdichten, der, nachdem die Bilder 50
Vgl. Sykora, Katharina: „‚Die Hure Babylon‘ und die ‚Mädchen mit dem eiligen Gang‘. Zum Verhältnis ‚Weiblichkeit und Metropole‘ im Straßenfilm der Zwanziger Jahre“, in: dies. u. a. (Hg.): Die Neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre. Marburg: Jonas Verlag 1993, S. 119-140. Zum Verhältnis von Frau und Stadt vgl. insbesondere die Monographie von Elisabeth Wilson: Begegnungen mit der Sphinx. Stadtleben, Chaos und Frauen. Basel u. a.: Birkhäuser Verlag 1993. 218
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der Großstadt wieder verschwunden sind, durch den entfesselten, wahnwitzigen Tanz der Stadtfrau auf die Spitze getrieben wird. Der See im Nebel markiert in SUNRISE dabei einen eigentümlichen Zwischenraum, der als ungreifbarer Ort des ‚Nirgendwo‘ die beiden archetypischen Orte des ‚Überall‘ – als welche Stadt und Land bereits in der Einleitung heraufbeschworen werden – überhaupt erst miteinander in Kontakt treten lässt. Der See im Nebel ist jedoch nicht allein ein Ort des Nirgendwo, der den Übergang zwischen Stadt und Land modelliert, sondern darüber hinaus wird er zu einem Ort des (versuchten) Verbrechens, das allein dadurch möglich wird, dass der Mann durch die starken visuellen Überreizungen der Stadt(frau) in gewissem Sinne außer sich gerät.51 Denn dieser Ort des Nirgendwo versinnbildlicht den Verlust aller Grundfesten; in dieser Übergangszone zwischen Stadt und Land verliert der Protagonist jegliche Gewissheiten und moralischen Werte, wird er in eine Sucht gestürzt, welche die bewegten Bilder des Städtischen und das ewig Lockende der Femme fatale in ihm heraufbeschwören.52 Der umgekehrte Prozess – die Einschreibung des ländlichen Idylls in den chaotischen Raum der Großstadt – vollzieht sich genau zu dem Zeitpunkt, als sich der Mann und seine Frau, nachdem sie nur knapp seinem Mordversuch entkommen ist, in der Stadt wieder versöhnt haben. Ausgelöst wird diese Versöhnung durch den Anblick einer Trauung, unter deren Eindruck sie langsam und bedächtig über die Straße schreiten.
Abb. 8: Die idyllische Überformung der bewegten Großstadtstraße in SUNRISE (1927)
Und es ist genau dieser traumartige Zustand, durch den sich die großstädtische Straße mit ihrem Verkehr auf wundersame Weise in eine idyllische, blühende Landschaft verwandelt, um sich im nächsten Moment 51
In diesem Zusammenhang ließen sich auch die Filme DER TEUFELS(Ernst Laemmle, 1929), BERLIN ALEXANDERPLATZ (Phil Jutzi, 1931) sowie M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (Fritz Lang, 1931) thematisieren, in denen Verbrechen und Mord ebenfalls jeweils in einer ländlichen Umgebung bzw. in einer ländlichen Zone innerhalb der Stadt vollzogen werden; vgl. hierzu auch Möbius/Vogt 1990, S. 40f.; zum ‚offscreen space‘ dieser Sequenz, vgl. Bordwell 1985, S. 119-125. In Murnaus zweitem amerikanischen Film, CITY GIRL (1930), wird auf diese Sequenz des (versuchten) Mords im Ruderboot erneut angespielt, indem eine beleuchtete Reklametafel gegenüber dem zentralen Schnellrestaurant mit Ausflügen im Ruderboot wirbt; vgl. Neumann 1996b, S. 36. REPORTER
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wieder in die lärmende Straße mit ihren hupenden Automobilen und schreienden, gestikulierenden Menschen zurückzuverwandeln. Das Ländliche und das Städtische werden damit als zwei sich wechselseitig durchdringende räumliche Systeme konfiguriert, deren scheinbar fixierte, schematisierte Zuschreibungen im Laufe des Films zunehmend aufgelöst werden. Denn während in der ersten Hälfte des Films die Stadt noch aufgrund ihrer Kopplung an die Stadtfrau als verderblicher Ort des Lasters gezeichnet wird, so vollzieht sich mit dem Eintritt des Ehepaars in die Stadt eine deutliche Umkehrung: Nun wird die Stadt als jener weite, lichtdurchlässige Raum im Gegensatz zur verdichteten, dunklen Enge des Dorfes gezeichnet, erscheint das Dorf, wie auch Koebner bemerkt, „in eigenartiger Weise wie von einer dichten Kugel umschlossen: atelierhaft, eine artifizielle Szenerie, über der sich kein freier, offener Himmel ausbreitet.“53 Demgegenüber steht die Stadt nun für jenen offenen, weiten Raum, in dem „die wirkliche Sonne scheint“54, während selbst die Innenräume des Restaurants in ihren großen, durchgängigen Glaswänden den Raum kontinuierlich zur Straße hin öffnen. Das Gegensatzpaar von Weite und Enge wird hier folglich zu einem Motor, nicht allein das Stadt-Land-Verhältnis neu auszuloten, sondern zugleich die unterschiedlichen Raummodelle eines Dorfes (als engem Raum) und der Großstadt (als weitem Raum) einander gegenüberzustellen: Nie zuvor hat Murnau gewagt, [...] so weite lichtdurchlässige Räume außen und innen zu konstruieren und damit auch symbolisch mit einem [...] neu erworbenen amerikanischen Raumgefühl die eingeschleppte deutsche Enge aufzuheben: Beengtheit und Befreiung in einem neuen Antagonismus auf das Dorf/Landund das Stadterlebnis zu verteilen.55
Ausgehend von dieser deutlichen Auffächerung des Stadt-Land-Verhältnisses soll in einem letzten Schritt am Beispiel von Joe Mays ASPHALT (1929) nun der Bogen wiederum zum Anfang dieses Teilkapitels zu den Topologien der Ambivalenz im frühen Stadtfilm zurückgespannt werden, indem hier erneut die großstädtische Straße als Ermöglichungsraum zufälliger Begegnungen und zugleich als Inbegriff ‚unordentlicher Beziehungen‘ konfiguriert wird. In seinem Entstehungsdatum verweist ASPHALT bereits deutlich auf die zweite Gruppe von Filmbeispielen, die unter dem Stichpunkt der Bewegungstopologien im folgenden Teilkapitel eingehend behandelt werden. Entscheidend an diesem Beispiel als Abschlusspunkt der bisherigen Thesen zur Entgrenzung der räumlichen
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Koebner 1999, S. 73. Ebd. Ebd. 220
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Relationen im frühen Stadtfilm ist jedoch, dass Joe May unter Rückgriff auf die Bildsprache des frühen Straßenfilms noch einmal eben diese Grundverhältnisse der filmischen Stadt aufruft, ihnen gleichzeitig aber auch eine erneute, eine reflektierende Wendung verleiht. Der Film ASPHALT konfiguriert die Grundverhältnisse der filmischen Stadt, verlagert sie jedoch im selben Zuge auf das Wechselverhältnis von Tages- und Nachtseite der Stadt, das als dritte Form der Topologien der Ambivalenz diskutiert werden soll. Diese Aufteilung der Großstadt in ihre Tages- und ihre Nachtseite ist ähnlich grundlegend wie das bereits diskutierte Stadt-Land-Verhältnis, dennoch schreibt sich hier die fundmentale Ambivalenz des Städtischen auf noch deutlichere Weise ein.56 Der Tag und die Nacht werden dabei als zwei vollkommen unterschiedliche räumliche Systeme begriffen, die sowohl ein ganz bestimmtes Arsenal an Orten aktivieren (die Orte des Arbeitens und des Wohnens vs. die Orte des Vergnügens und des Verbrechens) als auch ganz unterschiedliche Figurengruppen herausbilden (die braven, bescheidenen und rechtschaffenen Menschen vs. die Gauner, die Spieler und die leichten Mädchen), was häufig mit einer klaren Trennung zwischen Innen- und Außenräumen, zwischen privaten und öffentlichen Räumen einhergeht. Auf der Tagesseite steht in ASPHALT das bedächtige, geruhsame Leben der Eltern des Polizisten Holk, der wiederum als zentrale Figur des Films zwischen der Tages- und der Nachtseite changiert. Zunächst wird er jedoch eindeutig der Tagesseite zugeordnet, indem er sich liebevoll um seine Eltern kümmert und in seiner Funktion als Verkehrspolizist das klare, ordnende Moment innerhalb des bewegten städtischen Verkehrs bildet und dafür sorgt, das städtische Chaos in seine geordneten Bahnen zu lenken. Und bezeichnenderweise ist es auch genau an diesem Ort, an dem sich seine zukünftige Verstrickung in die nächtlich-gefährliche Welt gelegt, indem Else, die Femme fatale dieses Films, einen Auffahrunfall verursacht, und er sie hier – wie auch im weiteren Verlauf des Films – gänzlich ungesühnt davonkommen lässt. Der Übergang von der Tages- zur Nachtseite der Stadt vollzieht sich in einem Umschalten des filmischen Modus, indem die Kamera langsam die Straße entlang und an einer Laterne emporgleitet, während plötzlich das gesamte Ambiente in ein nächtliches Licht getaucht wird: Die Lichter der Straßenlaternen gehen an, und die Kamera, an der Laterne wieder 56
Vgl. Ford, Larry: „Sunshine and Shadow. Lighting and Color in the Depiction of Cities on Film“, in: Aitken/Zonn 1994, S. 119-136. Auch Mike Davis widmet in seinem einflussreichen Buch zur Stadtentwicklung von Los Angeles City of Quartz (1990) der wechselnden Zuschreibung der Stadt zu „Sunshine or Noir?“ ein eigenes Kapitel; vgl. Davis, Mike: City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles. London: Verso 1990. 221
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herabgleitend, gibt den Blick auf die nun nächtlich erleuchtete Straße frei, durch die sich die Menschenmassen drängen, ständig auf der Suche nach neuen Attraktionen in den Schaufenstern der Stadt. Erst in der nächtlichen Stadt und damit nach dem Umschalten des filmischen Modus vermag das Verbrechen – in Form eines Taschendiebstahls vor einem Schaufenster – Einzug in das großstädtische Gedränge zu halten.
Abb. 9: Die Konfiguration des Übergangs zwischen Tag und Nacht als zwei Seiten städtischen Lebens in ASPHALT (1929)
An diesem Punkt nimmt zugleich die Verstickung des Wachtmeisters Holk in den Kriminalfall seinen Lauf, indem er vom Besitzer des Juwelierladens zu Hilfe gerufen wird, den Diamanten auf der Spitze von Elses Regenschirm entdeckt und sich mit ihr auf den Weg zum Polizeirevier begibt. Im Taxi umgarnt ihn Else jedoch derart mit allen Attributen und Mitteln einer Femme fatale, dass er sie nicht nur laufen lässt, sondern ihr darüber hinaus gänzlich verfällt. Er beginnt mit ihr ein amouröses Verhältnis, welches am Ende des Films dazu führen wird, dass er im Affekt ihren reichen Gönner ermordet, als dieser unerwartet von einer Geschäftsreise zurückkehrt. Dennoch bleibt die Beziehung zwischen dem ‚Polizist und der Diamanten-Else‘, so der Untertitel des Films, über den gesamten Film als eine unmögliche Beziehung zwischen der Tages- und der Nachtseite der Stadt als zwei divergenten Raumsystemen präsent. So stark beide Seiten also im Verlauf des Films als zwei einander ausschließende Gegensätze gezeichnet werden, indem die Diebin als Inbegriff des Bösen, des Eigennützigen und des moralischen Verfalls dem braven, ehrlichen und rechtschaffenen Polizisten auf das Deutlichste entgegengesetzt ist, so wird auch hier zuletzt ein Moment der Relativierung und der Umkehrung eingeführt. Denn obwohl der Polizist zunächst verhaftet und des Mordes angeklagt wird, schreitet Else im letzten Moment ein, nimmt die Schuld auf sich und geht für ihn ins Gefängnis. Von dieser Tat gänzlich ergriffen, schwört er ihr ewige Treue und verspricht, auf sie zu warten, wodurch die anfänglich so klar getrennten Seiten von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, letztendlich brüchig werden. Der Dualität von Tag und Nacht ist in ASPHALT zugleich die Dualität von privatem und öffentlichem Raum eingeschrieben, die durch eine Geschlechterdifferenz verdoppelt wird, welche die unterschiedlichen Vorstellungen des Weiblichen eindeutig der einen oder der anderen Seite zuordnet. Dabei ist, so Barbara K. Kosta, die „Unterscheidung öffent-
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lich/privat [...] essentiell für die Regulierung und Erhaltung einer in ihrem Aufbau patriarchalischen Machtstruktur.“57 Denn, so führt Kosta weiter aus: „Die Opposition von Öffentlichem und Privatem beinhaltet ideologische Interessen und definiert Subjektivitäten.“58 Während die Frau im öffentlichen Raum als Gefahr, als potenzielle Destabilisierung der patriarchalischen Ordnung und damit als „besonders explosives Subjekt“59 erscheint, wie sich am Beispiel Elses in ASPHALT sehr präzise nachzeichnen lässt, wird die Frau im privaten Raum der häuslichen Idylle, und in diesem Fall die Mutter des Polizisten, „symbolisch erhöht, um gesellschaftliche Stabilität und Harmonie darzustellen sowie Grenzen zu sichern. Das Heim assoziierte man als Ort der Nostalgie mit feststehender, unproblematischer und zeitloser geschlechtlicher Identität.“60 Die doppelte Bedeutungsebene bzw. die Auffächerung des Frauenbildes in den öffentlichen und privaten Räumen der Großstadt wird folglich jeweils mit dem Bild einer Grenzüberschreitung (im ersten Fall) oder aber einer Grenzsicherung (im zweiten Fall) eines zunehmend ins Wanken geratenden Raumkonzepts assoziiert. Besonders die Frage nach dem Potenzial des neuen Frauenbilds, eine „grenzüberschreitende Energie“61 in Bezug auf die Infragestellung überlieferter, geschlechtlich codierter Raumordnungen freizusetzen, verweist unmittelbar auf die Ambivalenz der modernen Stadt und ihre ‚Gesellschaft im Grenzzustand‘: Fast von Anbeginn wurde die Anwesenheit der Frauen in der Stadt, vor allem in den Straßen der Stadt, als fragwürdig empfunden. Bestimmte Eigenschaften des Stadtlebens, Kontrolle und Überwachung, wurden immer wieder mit Frauen in Verbindung gebracht. Denn Stadtleben kann patriarchalische Systeme untergraben, und ‚Zivilisation‘ in der Bedeutung von Luxus und Konsum [...] wird zur Gefahr für die Vorherrschaft der Familie und die Tugend der Frau. Diese Befürchtungen liefern mächtige und immer wiederkehrende Argumente für die Fragwürdigkeit von Stadtleben.62
Führt man diese einzelnen Linien zusammen, so sind im Verlauf dieses Teilkapitels drei zentrale Differenzpaare der filmischen Stadt verhandelt worden: Innen/Außen, Stadt/Land, Tagesseite/Nachtseite, die in den einzelnen Filmen jeweils auf besondere Weise zunächst auseinander dividiert und dann wiederum auf das Engste aufeinander bezogen wurden. Sie bilden die räumlichen Relationen der filmischen Stadt, die letztendlich 57 58 59 60 61 62
Kosta 2001, S. 228. Ebd. Ebd., S. 229. Ebd. Ebd., S. 228. Wilson 1993, S. 24. 223
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ununterscheidbar sind bzw. unablässig auf ihren Ununterscheidbarkeitspunkt zugeführt werden. Dadurch und im selben Zuge setzen sie auch, wie es insbesondere am Beispiel von SUNRISE und ASPHALT deutlich wurde, das Potenzial frei, zu einer grundlegenden Umwertung bzw. Überschreitung räumlicher Kategorien zu gelangen, in der sich wiederum die fundamentale Amivalenz der modernen Großstadt artikuliert. Dabei zeigt sich in Bezug auf das Stadtkonzept, welches den einzelnen Filmen zugrunde liegt, dass die Auflösung und Entgrenzung der räumlichen Relationen in hohem Maße innerhalb einer übergreifenden Geschlossenheit der Metropole erfolgt, denn selbst die äußeren Gegensätze, wie etwa das Land, werden auf das Tiefste in die Stadt mit einbezogen und mit ihr verstrickt. Auf diese Weise lässt sich die Metropole, wie sie in diesen frühen Beispielen der zwanziger Jahre inszeniert wird, als ein hochgradig relational ausgerichtetes Gebilde begreifen. Denn sie ist auf untrennbare Weise mit dem Ländlichen als ihrem Gegenteil verbunden, oder präziser gefasst: Das Ländliche wird zu einem unabdingbaren Bestandteil der Selbstversicherung und Selbstkonstitution des Städtischen überhaupt. Dabei zeigt sich die Stadt zugleich in ihrem Inneren als ein dichtes Geflecht unterschiedlicher Orte, die auf das Engste miteinander verknüpft sind und deren Verbindungslinien und Überkreuzungen immer wieder in ein und demselben Bild durch filmische Überblendungstechniken und diagonale Bildkompositionen eingefangen werden. Die Übergänge zwischen Innen und Außen, zwischen Stadt und Land, zwischen Tages- und Nachtseite der Metropole werden hier fließend. Die Metropole wird in diesen frühen Stadtfilmen stets in Abgrenzung zu etwas definiert – seien dies nun die Verhältnisse von Stadt und Land oder auch die unterschiedlichen Parallelwelten und Teilräume innerhalb der Stadt, die sich gleichsam kontrapunktisch auf einander beziehen. Der Eindruck des Städtischen als einem dichten, eng auf einander bezogenen und nach außen hin klar abgegrenzten räumlichen Ensemble begründet sich nicht zuletzt darin, dass die Stadt in der Frühzeit zumeist noch als eine Ansammlung von Innenräumen auftritt, während selbst die vielfältig bewegten Außenräume größtenteils im Studio nachgebaut wurden. In ihrer künstlichen Herstellung ermöglichen diese Studiostädte gerade jenen hohen Grad an Symbolismus bzw. lassen sie jene komplexen Licht-Schatten-Spiele in ihrer vollen Bandbreite entstehen, welche das Kino der Weimarer Zeit so deutlich prägen. Die Fokussierung auf das ‚Innere‘ und damit auf das symbolisch Aufgeladene und das Verdichtete der Städte wird damit zu einer zentralen Grundbedingung der Entgrenzung der Gegensätze im frühen Stadtfilm.
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Bewegungstopologien und die Rhythmen der Metropole Bewegung und Rhythmus sind zwei Aspekte der filmischen Raumkonstruktion, die unabdingbar für das Verständnis des frühen Stadtfilms der zwanziger Jahre sind. Denn in diesen beiden Faktoren verschränken sich nicht allein die filmtechnischen und -ästhetischen Experimente der Zeit, sondern mit ihnen und über sie hinaus werden zugleich die grundlegenden Diskurse von Modernität, Visualität und Abstraktion verhandelt.63 Insbesondere mit der Hinwendung des Films zur Neuen Sachlichkeit nach 1924 wird auch die städtische Bewegtheit auf eine neue Stufe gestellt. Denn die Filme treffen im Modus der Bewegung einerseits Aussagen über die grundlegend bewegte, moderne Welt, die sich vor ihrem ‚Kamera-Auge‘ ausbreitet. Andererseits zeugen sie jedoch auch vom Bewegtsein des Films selbst und rufen dadurch grundlegende Diskurse der besonderen Medialität des filmischen Raums auf den Plan. Im Folgenden soll beiden Linien – der Steigerung der städtischen Bewegtheit und der Steigerung der Bewegtheit des Films selbst – nachgegangen werden. Dabei artikuliert sich der neu-sachliche Blick auf die Metropole zunächst in der Forderung einer „Rückbindung der imaginierten Phantasiewelt an die Gegenständlichkeit der Alltagswahrnehmung“64 und dadurch zugleich in einem weitaus affirmativeren Zugang zu dieser neuartigen räumlichen Form, als dies bei den vorherigen Beispielen der Fall war. So begreifen die neu-sachlichen Filme den großstädtischen Raum zuallererst in seiner gegenständlichen Sichtbarkeit, ohne diesen unmittelbar einer Sozialkritik zu unterwerfen. Im Gegenteil: Für zahlreiche
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Eine entscheidende Rahmenbedingung hierfür bildet, wie Sigrid Lange ausführt, das Auseinandertreten zwischen taktiler und visueller Wahrnehmung sowohl in Ernst Machs Die Analyse der Empfindungen (1886) als auch in Wilhelm Worringers kunstwissenschaftlicher Abhandlung Abstraktion und Einfühlung (1908), die sich grundsätzlich darin treffen, dass sie dem Tastsinn das ‚ursprünglichere‘, ‚primitivere‘ Raumempfinden zusprechen, wohingegen der Sehsinn auf untrennbare Weise mit der Vorstellung von Modernität verknüpft ist, ja dem Sehsinn selbst das Potenzial zugesprochen wird, auf der Grundlage seiner ‚räumlichen und geistigen Distanz‘, die simultan mannigfaltigen Erscheinungen der modernen Welt zu ordnen; vgl. Lange 2001, S. 10ff. Kappelhoff, Hermann: „Jenseits der Wahrnehmung. Das Denken der Bilder. Ein Topos der Weimarer Avantgarde und ein ‚psychoanalytischer Film‘ von G. W. Pabst“, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Perfektionierung des Scheins. Das Kino der Weimarer Republik im Kontext der Künste. München: Fink 2000, S. 299-318, hier S. 308. 225
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
Filmschaffende der Neuen Sachlichkeit sind, wie Helmut Weihsmann in Bezug auf den Drehbuchautor Carl Mayer herausstellt65, „die turbulenten zwanziger Jahre in Berlin, die allgemeine Vergroßstädterung, Vermassung, Verelendung, kurz: die Erscheinungen der Metropole, weder positiv noch negativ, sondern ein historischer Prozeß.“66 Darüber hinaus manifestiert sich dieser neu-sachliche Blick auf die Metropole zugleich in einem gewissen Abstand, den die Filme zwischen sich selbst und den gebauten urbanen Strukturen einziehen: „Tief aber in das innere Gefüge des Bildaufbaues führt die Einsicht, daß den Werken der neuen Sachlichkeit eine Konstruktion aus verschiedenen Sehdistanzen zugrunde liegt“.67 Der Abstand zwischen dem Sehen und dem Gesehenen bezeichnet damit eine zentrale Denkfigur der Filme der Neuen Sachlichkeit, wodurch es in letzter Konsequenz, wie Max Raphael in Bezug auf die Raumgestaltungen der modernen Malerei beschreibt, um die „Abstraktion von der gewohnten Art und Weise, Räume perspektivisch zu sehen, das Vordringen zur Struktur des Raums“68 geht. Die wechselnden Blickrichtungen der Kamera auf die grundlegend bewegte Metropole sind auf deutliche Weise Murnaus Film DER LETZTE MANN (1924) eingeschrieben, der drei Jahre vor SUNRISE in den UfaAteliers Babelsberg entsteht und gerade aufgrund seines neuartigen Einsatzes der Kamera oftmals als Anfangspunkt der Neuen Sachlichkeit angesehen wird. Die Kameraführung in DER LETZTE MANN ist dabei insofern entscheidend, als sie wiederholt als hochgradig flexible, regelrecht ‚entfesselte Kamera‘ eingesetzt wird, wodurch sich für den Film eine ganz neue Art der dynamischen Raumerschließung eröffnet: Nie zuvor sah man im deutschen Film großstädtisches Verkehrsgetriebe und Innenarchitektur von einer derart beweglichen Kamera erfaßt und nie zuvor wurde mit Hilfe raffinierter tricktechnischer Verfahren ein so gegensätzliches
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Carl Mayer ist bedeutend für die gesamte Entwicklung des Stadtfilms in den zwanziger Jahren, indem er in Anschluss an sein erstes Manuskript für DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) besonders mit Friedrich Wilhelm Murnau zusammenarbeitete, so etwa in DER LETZTE MANN (1924) und in SUNRISE (1927), und darüber hinaus die Idee zu BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927) lieferte; vgl. auch hier S. 235f. Weihsmann, Helmut: „Baukunst und Filmarchitektur im Umfeld der filmischen Moderne“, in: Segeberg 2000, S. 177-215, hier S. 210. Neumeyer, Alfred: „Zur Raumpsychologie der Neuen Sachlichkeit“, in: Zeitschrift für bildende Kunst. Leipzig, 61. Jg. 1927/28, S. 70. Raphael, Max: Raumgestaltungen. Der Beginn der modernen Kunst im Kubismus und im Werk von Georges Braque. Hg. v. Hans-Jürgen Heinrichs. New York/Frankfurt/M.: Edition Qumran/Campus 1986, S. 13. 226
DIE RHYTHMEN DER METROPOLE
Großstadtambiente in seinen Eigenarten und ineinander gefilmten Kontrasten derart wirkungsvoll aufgebaut und gedreht.69
Gleich zu Beginn des Films gleitet die Kamera in einer fließenden Fahrt den Hotellift hinab und quer durch die Eingangshalle des Grandhotels Atlantic bis hin zur zentralen Drehtür, in deren rhythmischen Bewegungen und Spiegelungen immer wieder die großstädtische Straße mit ihrem Verkehr aufblitzt. In ihrem Gleiten und ihren Wendungen dynamisiert die Kamera den Raum; sie macht ihn flexibel und bewirkt dadurch eine permanente Entgrenzung des Raums, was auch Helmut Weihsmann dazu veranlasst, in DER LETZTE MANN „die erste wirkliche Raumsprengung im (deutschen) Film“70 zu sehen, denn „das Fehlen jeglicher Raumgrenzen ist das eigentlich Bewundernswerte an diesem Film“.71 Gleichzeitig wird hier der Nexus von Raum und Rhythmus angesprochen, denn in „den verschiedenen Tempo-Formen und Plötzlichkeiten der Abläufe, in den Überlagerungen von Vertikalen und Horizontalen, sich drehender und sich überlagernder Rhythmen [...] teilt sich [...] die Großstadt am Beginn ihrer Modernität rein filmisch als RaumZeit-Wahrnehmung mit.“72 In den variablen Tempi und Rhythmen der Raumerschließung verschränken sich folglich Raum und Zeit zu einer einzigen Raumzeit, die wiederum genuin ‚modern‘ codiert ist. Dabei verweisen diese variablen Tempi und Rhythmen stets in hohem Maße, wie Joseph Roth in Bezug auf DER LETZTE MANN herausgearbeitet hat, auf die Musikalität oder auch auf die ‚dichterische‘ Komposition dieses Films: Der große, künstlerische deutsche Film dieses Jahres heißt: DER LETZTE MANN. Sein Verfasser ist Carl Mayer, der einzige deutsche Film-Dichter. Ich betone ‚Dichter‘, weil es viele Manuskriptverfasser und -verfertiger gibt. Carl Mayer aber dichtet Filme, wie man Gedichte, Erzählungen und Dramen dichtet; [...]. Man müßte für solche Filmdichter ein Instrument finden, etwa ein Bildklavier, mit zahllosen Situations- und Bildskalen, mit Tasten, deren Berührung die Projektion des vom Autor gewollten Bildes verursacht.73
Durch die Musikalität und die Rhythmisierung des Raums vollzieht sich zugleich der Übergang von der Bewegung im Raum hin zu einem genuin bewegten Raum, der dynamisch durchdrungen, flexibel und stets verän69 70 71 72 73
Vogt 2001, S. 114. Weihsmann 2000, S. 206. Ebd., S. 207. Vogt 2001, S. 120. Roth, Joseph: „Der letzte Mann“, in: ders.: Werke. Bd. 2. Das journalistische Werk 1924-1928. Hg. v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 324-327, hier S. 324. 227
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
derlich ist, der sich in alle Richtungen auszudehnen vermag und der seinen Endpunkt in verformten, transformierenden und paradoxen Raumgebilden findet. In DER LETZTE MANN werden alle Facetten dieses genuin bewegten Raums durchgespielt. Ihr eindrücklichstes Bild gewinnt diese Verformung des Raums hingegen in der Bewegtheit der Architektur und damit in dem Moment, in dem die Fassade des Grandhotels ‚Atlantic‘ auf bedrohliche Weise auf den alten Portier herabzusinken scheint, der soeben seiner Funktion enthoben und zum Toilettenwärter degradiert wurde, wobei sich in diesem Herabsinken der Fassade zugleich seine grundlegende Angst vor dem drohenden Statusverlust und vor der Aushebelung aller Grundfesten seiner bisherigen Existenz verdichtet.
Abb. 10: Die bedrohliche Bewegung der Hausfassade des Grandhotels Atlantic in DER LETZTE MANN (1924)
Die bewegte Architektur wird damit zum unmittelbaren Ausdruck des Innenlebens des bedrohten, verzweifelten Hotelportiers. Mehr noch: Sie wird selbst lebendig, sie scheint ihn plötzlich zu verfolgen und verweist damit zugleich auf die „aktive Rolle, die gewisse Bauteile und -elemente spielen.“74 Denn in DER LETZTE MANN sind es immer wieder die zahlreichen Spiegel- und Glaswände, die Schiebe- und Drehtüren des Hotels, die in ihrer reflektierenden Bildentgrenzung einen eigenen Kommentar zum Geschehen liefern und sich damit aktiv in die Handlung einschreiben, was wiederum unmittelbar auf ein zentrales Charakteristikum der Neuen Sachlichkeit verweist: auf die „Dominanz der Dinge“75. Im Zuge der besonderen Raumkonstruktion von DER LETZTE MANN wird folglich eine weitreichende Dynamisierung des Raums in Gang gesetzt – vielleicht deutlicher noch als in jenen Filmen des frühen Expressionismus, wie etwa DAS CABINET DES DR. CALIGARI oder VON MORGENS BIS MITTERNACHT, die der amerikanische Kunstkritiker Herman G. Scheffauer im Blick hatte, als er bereits im Jahr 1920 die ‚Geburt eines neuen Raums‘ und damit zugleich die Sprengung der Raumkoordinaten im frühen deutschen Stadtfilm diagnostizierte: Space – hitherto considered as something dead and static, a mere inert screen or frame, often of no more significance than the painted balustrade-background at the village photographer’s – has been smitten into life, into movement and
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Weihsmann 2000, S. 207. Möbius/Vogt 1990, S. 38. 228
DIE RHYTHMEN DER METROPOLE
conscious expression. A fourth dimension has begun to evolve out of this photographic cosmos.76
Ein derartiges ‚Herausschälen‘ einer vierten Dimension des Raums aus dem ‚fotografischen Kosmos‘ wird auch in SUNRISE auf besondere Weise zum Bildgegenstand gemacht. Denn Murnaus Film beginnt mit einer Werbegrafik, die einen in breiten Linien und Flächen gezeichneten Bahnhof mit der Überschrift „Summer time ... Vacation time“ zeigt, welche im Folgenden schrittweise in das filmisch-bewegte Bild eben dieses Bahnhofs überblendet wird, während sich der Zug langsam in Bewegung setzt. In der Folge und mit dem Anfahren des Zugs nimmt nun auch der Film selbst Bewegung auf: Plötzlich werden Bilder unterschiedlicher, quer über das Land rasender Züge gezeigt, die diagonal ineinander geschnitten werden und sich mit den Aufnahmen von ankommenden Schiffen und dem Menschengetriebe an den Meeresstränden überkreuzen.
Abb. 11: Übergänge von fotografischer Statik und filmischer Bewegung in SUNRISE (1927)
Die Thematisierung filmischer Bewegung erfolgt damit, wie bereits Vidler in Bezug auf den ‚Neid‘ der statischen Künste bemerkt hat, immer auch in Form einer Mediendifferenz, in der Statik (Fotografie, Malerei, Grafik) und Bewegung (Film) gegeneinander ausgespielt werden. Zum visuellen Topos des plötzlichen Anhaltens der filmischen Bewegung verdichtet, die im nächsten Moment wieder aufgelöst werden kann, durchzieht diese Differenz zahlreiche Filme der zwanziger Jahre und dient damit zugleich einer (Neu-)Definition des Films in Abgrenzung zu anderen medialen Raumgestaltungen, was insbesondere in Zusammenhang mit der frühen amerikanischen Avantgarde zu diskutieren sein wird.77 Mit der Differenz zwischen Statik (Fotografie) und Bewegung (Film) ist zugleich eine zweite Facette der Bewegungstopologie im frühen Stadtfilm angesprochen: das Verhältnis von Stillstand und Bewegung. Die konsequenteste filmische Artikulation dieses Gegensatzpaares hat PARIS QUI DORT (René Clair, 1925) auf die Leinwand gebracht, indem 76
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Scheffauer, Herman G.: „The Vivifying of Space“, in: Lewis Jacobs (Hg.): Introduction to the Art of Movies. New York: Noonday 1960 [1920], S. 76-85, hier S. 77. Dabei ist anzumerken, dass das Spiel mit der angehaltenen und ausgeführten Bewegung bereits ein zentraler Bestandteil der Filmvorführungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war; vgl. Gunning 1995, S. 118-121. 229
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
Stillstand und Bewegung hier als zwei einander ausschließende Raumsysteme begriffen und zugleich auf sehr spielerische Weise in die Filmhandlung integriert werden. Denn das ‚schlafende Paris‘ bezeichnet in PARIS QUI DORT nicht etwa eine bloße, schlafende Stadt bei Nacht, sondern im Gegenteil: Paris ist selbst, mit allen seinen Bewohnern und allen seinen Bewegungen in einen absoluten Stillstand, in eine Schockstarre gefallen, die durch die Experimente des verrückten, größenwahnsinnigen Professors Ixe mit seiner Zeitmaschine ausgelöst wurde. Die verlaufende Zeit als Mittel der Raumerschließung und die angehaltene Zeit als Verweigerung jeglicher Raumbildung bilden in diesem Film ein zentrales Moment der Raumkonstruktion. Denn zunächst irrt der Eiffelturmwächter Albert, welcher als einziger von der Starre verschont blieb, durch ein leeres, ausgestorbenes, scheinbar totes Paris, lediglich begleitet von einer Gruppe Reisender, die sich zur Zeit der Starre noch im Flugzeug befanden. Gemeinsam durchqueren sie nun auf spielerische Weise diesen zeit- und rechtlosen Raum, sie erforschen und erkunden ihn aufs Neue, bis sie schließlich den Professor dazu bewegen, Paris wieder aus seiner Starre zu befreien. Das Moment des plötzlichen Innehaltens wird hier auf die gesamte Handlungsstruktur des Films ausgedehnt, wodurch wiederholt der Eindruck entsteht, als liefen die Figuren durch eine einzige, große Fotografie, die der Film selbst bezeichnet. Indem PARIS QUI DORT eine leere, entleerte Stadt zeigt, führt es zugleich vor Augen, was verbleibt, wenn aus der Großstadt ihre spezifische Bewegtheit subtrahiert wird: „Für kurze Zeit wird in der schlafend-erstarrten Stadt ausgerechnet das zum Stillstand gebracht, was neben dem Raum eine Großstadt am intensivsten definiert – die dynamisch-bewegte Zeit.“78 Wurde bereits in Zusammenhang mit den Topologien der Ambivalenz das Stadt-Land-Verhältnis als ein zentrales, die filmische Stadt immer wieder neu definierendes Verhältnis ausgeführt, so lässt sich dies nun mittels der Figuren der Beschleunigung (des Städtischen) und der Entschleunigung (des Ländlichen) noch weiter zuspitzen, die dem halbdokumentarischen Film MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, 1930) zutiefst eingeschrieben sind.79 Dabei zeigt sich zunächst eine deutliche Trennung zwischen der städtischen Beschleunigung 78 79
Vogt 2001, S. 790. Die Autorschaft dieses Films ist hochgradig umstritten, erheben doch Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer und Billy Wilder gleichermaßen Anspruch auf eine (Co-)Autorschaft; vgl. hierzu die ausführliche Diskussion in Vogt 2001, S. 226ff. Zur Entstehungsgeschichte des Films vgl. auch Dumont, Hervé: „Robert Siodmaks avantgardistische Filme“, in: Uli Jung; Walter Schatzberg (Hg.): Filmkultur zur Zeit der Weimarer Republik. München u. a.: Saur 1992, S. 142-151. 230
DIE RHYTHMEN DER METROPOLE
des Lebens in Berlin und der Entschleunigung des ländlichen Umraums, der Sonntag für Sonntag den geplagten Städtern als Erholungsfläche dient, wodurch Stadt und Land sowohl räumlich als auch zeitlich klar auseinander dividiert werden. Dennoch vollzieht der Film diese Bewegung von der Stadt aufs Land und wieder zurück in einer Vielzahl von Perspektiven und bewegt sich dabei selbst „im ständigen Hin und Her zwischen Figur und inszeniert-dokumentierter Umwelt“.80 Im Gegensatz zu den verdichteten Konfigurationen von Stadt und Land in den frühen zwanziger Jahren, die in ihren wechselseitigen Einschreibungen die Stadt als einen in sich geschlossenen Kosmos konfigurieren, wird hier der städtische Raum geöffnet, tritt die Bewegung zwischen beide Welten, während im Umkehrschluss auch die Stadt durchdrungen ist von „‚offenen‘ Bilder[n] eines urbanen Bewußtseins, das sich gegen die (Re)Mythologisierung und Ideologisierung der Metropole sperrt“.81 Diese Öffnung des Raums artikuliert sich besonders in den Bildern des Verkehrs, die als Motiv des Übergangs unablässig zwischen beiden räumlichen Systemen vermitteln. Denn erst durch den Verkehr, der in ausgiebigen Einstellungen und in seinen unterschiedlichsten Formen (als Doppeldeckerbus, als Straßenbahn, als Automobil, als Taxi) gezeigt wird, kann der Wechsel von der städtischen Hektik hin zur ländlichen Ruhe erfolgen. Mehr noch, „der Verkehr [setzt] den Maßstab: die Ruhe kennzeichnet den Sonntag, lange Kameraeinstellungen überwiegen. Die neusachliche Reihung zeigt die Menschen mit verschiedenen Verkehrsmitteln, auf verschiedenen Wegen während der Fahrt ins ‚Grüne‘.“82 Im selben Zuge erfolgt jedoch auch eine deutliche Umkehrung, denn sobald die Städter an den Sonntagen das Land bevölkern, wird dieses zu einem hochgradig bewegten Raum, während im Umkehrschluss die Stadt selbst ruhig, verlassen und beinahe ausgestorben daliegt.
Abb. 12: Die Flucht aufs Land und die entleerte Stadt in MENSCHEN AM SONNTAG (1930)
In seinem neu-sachlichen Blick auf die Großstadt und ihren ländlichen Gegenpol zeichnet der Film zugleich das Schicksal von fünf Figuren nach, die, so die Aussage des Films, authentische Schicksale in der Stadt Berlin im Jahr 1929 widerspiegeln. Als Laiendarsteller werden diese fünf Figuren gleich zu Beginn in ihren jeweiligen Tätigkeiten eingeleitet, die 80 81 82
Vogt 2001, S. 234. Ebd., S. 237. Möbius/Vogt 1990, S. 42. 231
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
in ihrer Funktion als Taxifahrer, Verkäuferin oder auch Modell allesamt städtisch-modernen Berufen nachgehen. Dabei begleitet die Kamera die einzelnen Figuren stets „neugierig, suchend, aufmerksam beobachtend, oft distanziert-ironisch und nie lieblos.“83 Sie werden als homogene Bestandteile des städtischen Lebens gezeichnet, die gänzlich in ihrer Arbeit und im Alltäglichen der Stadt aufgehen, während ihre Individualisierung erst mit Einbruch des Wochenendes erfolgen kann. Auf beiden Ebenen ist die „Grundhaltung des Films [...] die einer Studie. Er blickt auf die Welt der Stadt, die unabhängig von der Mise en scène existiert.“84 Während die städtisch-filmische Bewegtheit in DER LETZTE MANN als Steigerung der inneren Bewegungslogik des Films und damit als genuin bewegter Raum ausgedeutet wurde, so lässt sich in MENSCHEN AM SONNTAG hingegen eine starke Rückführung auf die sichtbare, äußere Bewegtheit (und Unbewegtheit) der Stadt beobachten. In seiner Aufzeichnung der Sichtbarkeiten und der Rhythmen des Städtischen verweist der Film bereits auf jene Querschnittsfilme, die im Folgenden besprochen werden, während er zugleich die Bildwerdung der Stadt thematisiert: Der Film enthüllt zum einen, wie die Stadt zum Bild wird, wobei Siodmak und Schüfftan [der Kameramann dieses Films, Anm. d. Verf.] den eingeführten gängigen Bilddefinitionen Berlins widersprechen. Beide bevorzugen Bilder der sonntäglichen Leere, der Ruhe, der Erstarrung. Gezeigt wird zum zweiten, welche Selbstbilder die Stadtbewohner entwerfen, an welchen Bildern sie sich orientieren.85
Von diesem neu-sachlichen Blick auf die Stadt ausgehend soll nun in einem letzten Schritt der Fokus auf zwei zentrale Querschnittsfilme der zwanziger Jahre gelegt werden, die in ihrer Abstraktion und Rhythmisierung des Städtischen noch deutlich weiter gehen. Denn BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (Walter Ruttmann, 1927) und DER MANN MIT DER KAMERA (Dziga Vertov, 1929) konfigurieren beide den Übergang und die Schnittstellen zwischen der innern und der äußeren, zwischen der relativen und der absoluten Bewegung. Während aber die BERLINSINFONIE diesen Übergang auf dem Wege einer umfassenden Rhythmisierung des Städtischen vollzieht, verhandelt DER MANN MIT DER KAMERA die sich vielfach überkreuzenden, städtischen Bewegungen im Zuge einer Reflexion des Filmischen selbst, das sich als mediale Bedingung
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Vogt 2001, S. 233. Prümm, Karl: „Universeller Erzähler. Realist des Unmittelbaren“, in: Wolfgang Jacobsen; Hans Helmut Prinzler (Hg.): Siodmak Bros. Berlin – Paris – London – Hollywood. Berlin: Argon 1998, S. 61-182, hier S. 81. Ebd., S. 82. 232
DIE RHYTHMEN DER METROPOLE
räumlicher Konstruktion wiederholt in die Filmhandlung einschreibt und damit zum Kommentator seines eigenen Produktionsprozesses wird. Die zentrale Grundlage für die Betrachtung der (abstrakten) Rhythmisierung des Städtischen markiert László Moholy-Nagys graphische Skizze für sein letztlich unrealisiert gebliebenes Filmprojekt DYNAMIK DER GROSS-STADT (1921/22), das wie kaum ein anderer Entwurf der zwanziger Jahre die radikale Dynamisierung des großstädtischen Raums bis zu einem Endpunkt des Möglichen denkt. Moholy-Nagy unternimmt in seiner städtischen Collage, die aus unterschiedlichen Textfragmenten, Bildausschnitten und Bewegungslinien besteht, den Versuch, die Stadt in ein umfassendes Wechselspiel aus Licht und Rhythmus aufzulösen und dadurch zugleich das Potenzial dieser Größen, einen filmischen Raum zu modellieren, auf die Spitze zu treiben. In seinem Gestus des permanenten Experimentierens begreift Moholy-Nagy die Großstadt als ein komplexes Gebilde aus sich überkreuzenden Lichtbewegungen und intermittierenden Tempi, welche die Stadt in eine ‚reine Visualität‘ überführen: Der Film [...] möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander; trotzdem schließen sie sich durch ihre fotografisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein.86
Entscheidend an diesem Projekt einer DYNAMIK DER GROSS-STADT ist, wie Helmut Weihsmann betont, dass Moholy-Nagy nicht versucht, wie so viele Filme dieser Zeit, „das Großstadt-Leben und die Bilder, die diesem Thema entsprechen“87, einzufangen, sondern darüber hinaus das Ziel hat, „den Film/die Filmsprache selbst zu dynamisieren“.88 Moholys Entwurf bildet damit eine zentrale Grundlage für die Betrachtungen der Bewegungstopologien im frühen Stadtfilm, wenngleich die Radikalität, die in diesem Projekt hinsichtlich der Dynamisierung des (Film-)Raums angestrebt wurde, in keinem späteren Film verwirklicht wird, wie ein Blick auf die Skizzierung seines Handlungsverlaufs deutlich macht: Häuserreihe auf der einen Seite der Straße, durchscheinend, rast rechts durch das erste Haus. Häuserreihe läuft rechts weg und kommt von rechts nach links wieder. Einander gegenüber liegende Häuserreihen, durchscheinend, in
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Moholy-Nagy, László: „Dynamik der Gross-Stadt. Skizze zu einem Film“, in: ders.: Malerei, Fotografie, Film. Mainz/Berlin: Florian Kupferberg Verlag 21978 [1921/22], S. 120-135, hier S. 120. Weihsmann 1988, S. 57. Ebd. 233
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
entgegengesetzter Richtung rasend, und die Autos immer rascher, so daß bald ein FLIMMERN entsteht.89
Den Inbegriff der Überkreuzung der Diskurse zu Bewegung, Dynamik und Modernität bezeichnet jedoch der Film BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (Walter Ruttmann, 1927), der als einer der einflussreichsten Stadtfilme überhaupt zu werten ist. Seine Besonderheit gründet dabei auf zwei eng miteinander zusammenhängenden Linien: Erstens ist er in der Nähe des sogenannten abstrakten Films angesiedelt, wie ihn Walter Ruttmann im künstlerischen Umfeld des Bauhauses und der Novembergruppe bereits Anfang der zwanziger Jahre entwickelt, so etwa in seinen abstrakten Studien in der Reihe OPUS I-IV (1921-25).90 Zweitens führt er jedoch auch den Typus des Querschnittsfilms bzw. der Stadtsinfonie zu einem Höhepunkt, indem er das großstädtische Leben in Berlin, seine spezifischen Rhythmen und wechselnden Bewegungsabläufe von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, verfolgt und die einzelnen Facetten dieses großstädtischen Tages zu einer ebenso abstrakt-geometrischen wie auch harmonisch-sinfonischen Reihung der Bilder formt. Innerhalb dieser komplexen Bewegungsabläufe und Rhythmen entwickelt die BERLIN-SINFONIE – und gerade hierin zeigt sich ihre Vielschichtigkeit – nun wiederum zwei Facetten bzw. zwei Grenzpunkte der Konstruktion filmischer Räumlichkeit, die gleichermaßen zentral für das Verständnis der filmischen Stadt in den zwanziger Jahren und noch weit darüber hinaus sind: Auf der einen Seite steht die unendliche Steigerung der Bewegung, des Rhythmischen und des Fließenden, die sich als eine Zusammenführung der bisherigen Variationen filmisch-städtischer Bewegtheit lesen lässt. Und auf der anderen Seite finden sich der abstrahierende Vergleich und die strukturelle Typologie des Städtischen, die den Filmen der Neuen Sachlichkeit auf besondere Weise eingeschrieben sind und die in ihrer Abstraktion des Räumlichen eine Verbindungslinie zu den abstrakten Topologien der amerikanischen Avantgarde legen.91
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Moholy-Nagy 21978 [1921/22], S. 123. Zur Grundlegung des ‚absoluten Films‘ durch Walter Ruttmann und Viking Eggeling in Zusammenhang mit den beiden ‚Gründungstexten‘ der abstrakten Kunst Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst (1911) und Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung (1908) vgl. Brinckmann, Christine N.: „‚Abstraktion‘ und ‚Einfühlung‘ im frühen deutschen Avantgardefilm“, in: Segeberg 2000, S. 111-140, hier S. 115ff. Insbesondere William Uricchio hat in seiner Dissertationsschrift Ruttmanns BERLIN-SINFONIE aus einer inneren Bezugslinie zur frühen amerikanischen Avantgarde hergeleitet. Vgl. Uricchio, William: Ruttmann’s ‚Berlin‘ and the City Film to 1930. Ph.D. New York University 1982. 234
DIE RHYTHMEN DER METROPOLE
Der Aspekt der sinfonischen Abstraktion des Räumlichen wird gleich zu Beginn des Films deutlich, wenn Walter Ruttmann seine Stadtsinfonie nicht etwa mit Bildern der Stadt einleitet, sondern im Gegenteil mit Bildern des Wassers, die von einer Reihe abstrakter Linien überformt werden, die sich zu Kreisen und Diagonalen formen.92 Im Zuge der Beschleunigung der Bilder verwandeln sich diese Linien in Bahngleise, auf denen ein Zug seine Fahrt in Richtung Berlin aufnimmt, während das Umfeld eine Transformation von ländlichen, weitgehend undefinierten räumlichen Formen zu klar codierten Vorboten der Großstadt (in Form von Fabrikgeländen) und schließlich zu Bestandteilen der Großstadt selbst (in Form von Mietskasernen) durchläuft. Was sich in dieser Anfangssequenz also abzeichnet, ist nichts weniger als die Grundstruktur des Films selbst, der auf diese Weise unmittelbar seinen Anspruch verdeutlicht, nicht allein einzelne Bilder der Großstadt aneinander zu reihen bzw. ihre Bauten und Bewohner beobachtend aufzuzeichnen, sondern vielmehr aus ihrer abstrakten Reihung und sinfonischen (An-)Ordnung heraus zu einer Modifizierung der filmischen Raumstruktur zu gelangen.
Abb. 13: Die filmische Abstraktion und die Struktur der Großstadt in BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927)
Ihre Weiterführung findet diese Abstraktion des Städtischen einerseits in der Reihung unterschiedlicher Motive und Gegenstände, die diesen Film, wie auch William Uricchio herausstellt, zu einem „filmic paradigm for New Objectivity“93 werden lässt. Dabei ist entscheidend, dass diese abstrakt aneinander gereihten Objekte durch die Musikalität und den Rhythmus des Films selbst dynamisiert werden, denn: „Objects, rather than simply being depicted, are temporally activated through cutting. The rhythms [...] are reinforced by rhythmic, highly mimetic cutting patterns which cinematically activate the depicted events.“94 Damit ist zugleich eine zweite Facette der Abstraktion des Städtischen angesprochen: die musikalische Überformung der Stadt, die sich grundlegend in die räumliche Anlage des Films einschreibt. Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, wie Carl Mayer berichtet, dass die musikalische Idee den Aus92
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Wolfgang Natter sieht hierin eine abstrahierende Angleichung von Stadt und Natur, „for nature itself is shown to be composed of the same formal characteristics likewise in operation in the city“; Natter 1994, S. 216. Uricchio 1982, S. 193. Ebd., S. 200. 235
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
gangspunkt der Überlegungen zur BERLIN-SINFONIE markierte, die nicht allein die Stadt zum Hauptdarsteller machen, sondern darüber hinaus in ihrer sinfonischen Struktur ein vierfaches ‚Hohelied‘ singen sollte: Da überkam es mich jäh. Berlin! Wunderbare Stadt! Wie – wenn man einmal an Stelle eines ‚Schauspielers‘ dich selbst zum Hauptdarsteller – zum Helden des Films erwählte? – Und da stieg auch schon der Titel in mir auf: Berlin, Berlin eine Sinfonie, Berlin die Sinfonie, Berlin die Sinfonie der Großstadt! [...] Ein Hohelied der Stadt, der Zeit, des Jahrhunderts – des Films!95
Die BERLIN-SINFONIE lässt sich damit zuallererst als ein Versuch lesen, den „synästhetischen Puls der Stadt visuell-rhythmisch-musikalisch zu veranschaulichen“.96 Geht man in einem zweiten Schritt nun auf den Aspekt der Steigerung der städtischen Bewegung ein, die sich mit der spezifisch filmischen Bewegtheit überkreuzt, so zeigen sich in der BERLIN-SINFONIE besonders zwei übergreifende Bewegungen, die jeweils auf unterschiedliche Weise auf die sinfonische Struktur des Films referieren. Denn einerseits folgen die fünf Akte dieses Films ihren je eigenen Bewegungsrhythmen und ihrer je eigenen Dynamik: Sie beginnen stets mit einem ruhigen Blick auf die städtische Umwelt und steigern sich gegen Ende des jeweiligen Akts derartig – wie besonders am Ende des zweiten Akts in einer Parallelmontage von Maschinen, Zahlenrädern und kämpfenden Hunden zu beobachten ist –, sodass sie zu ihrem Maximum, zu ihrem Endpunkt geführt werden, um von diesem Punkt aus wiederum in einer neuen, einer nächsten Bewegungslinie anzusetzen. Andererseits lässt sich jedoch auch ein zweiter, übergreifender Bogen um diese Stadtsinfonie legen, der unmittelbar auf das sinfonische Ganze verweist. Denn in der ersten Hälfte des Films werden immer wieder Figuren des Öffnens gezeigt – das Öffnen der Fenster, der Türen, der Jalousien und sogar der Arbeitstische –, die sich in der zweiten Hälfte wiederum zu Figuren des Schließens verdichten. Insbesondere dadurch, dass die Schließung genau an den Gegenständen vollzogen wird, die zu Beginn geöffnet wurden, wohnt dem übergreifenden, sinfonischen Spannungsbogen der BERLIN-SINFONIE zugleich eine zyklische Dynamik zugrunde: die zyklische Dynamik eines Tages in der Großstadt, die sich an jedem Tag wieder aufs Neue wiederholen kann.97
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Mayer, Carl: „Wie ich zur Idee des BERLIN-Films kam“, in: Goergen, Jean-Paul: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation. Berlin: Freunde der Deutschen Kinemathek 1989 [1927], S. 115. Vogt 2001, S. 181. So spricht auch Wolfgang Natter von Ruttmanns BERLIN-SINFONIE als einem „circulatory system, defined by accumulation and exchange, and 236
DIE RHYTHMEN DER METROPOLE
In der Zuspitzung und Steigerung der Bewegung, die sich in BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT verzeichnen lässt, verändert sich zugleich das grundlegende Stadtkonzept. Denn während im ersten Teilkapitel die Ununterscheidbarkeiten und fließenden Übergänge zwischen Innen und Außen, zwischen Stadt und Land, in eine Geschlossenheit der Stadt mündeten, so entsteht in Zusammenhang mit der Bewegungserzeugung ein Stadtkonzept, das – wenngleich nicht in jeder Hinsicht als offene Stadt konfiguriert – doch durch die Bewegungen eine Öffnung erhält, die auf ein potenzielles Außen verweist. Und so führt auch Guntram Vogt aus: Mit diesem Doku-Spielfilm setzte gegenüber den narrativen Stadtfilmen eine völlige Veränderung des Blicks auf die Großstadt ein. Nicht nur daß sich die Perspektive änderte – sie ging weg vom subjektiven point of view einer Filmfigur –, sie löste sich mittels Kamera und Montage auf in eine multi- und polyperspektivische Darstellung. [...] Zum erstenmal wurde das Kinopublikum nicht mehr in ein bestimmtes Stadtviertel oder in ein ausgewähltes Milieu geführt, sondern in die ‚offene Stadt‘ ...98
In ihrer polyperspektivischen Auffächerung des urbanen Raums wird Ruttmanns BERLIN-SINFONIE, wie Martin Gaughan beschreibt, zugleich zum Kristallisationspunkt der Modernitätsdiskurse in der Weimarer Republik, formen sich die Aussagen des Films und seine Deutungen innerhalb der zeitgenössischen Rezeption zu einem ‚paradigmatischen Moment‘: „Together, the film and its reception constitute a paradigmatic moment in the visualization and theorization of the experience of modernity in Weimar Germany.“99 Und so findet auch die polyperspektivische Auffächerung der Großstadt und ihrer multiplen Bewegungen ihren Kulminationspunkt in einem Feuerwerk, in dem Wolfgang Natter ein regelrechtes Symbol für die ‚Sprengung des Raums‘ verwirklicht sieht: The film’s conclusion, an extremely long shot of a modernist structure, shown by the camera to turn on its head while fireworks explode on the bottom quarter of the frame, underscores movement again as the dynamite transforming a static perception of place.100
Die dynamische Transformation des Raums wird in BERLIN. DIE SINFOGROSSTADT folglich auf dem Wege einer umfassenden Auffächerung und Maximierung der städtischen Bewegung erreicht. Einen
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as such, a materialization of the compression of space-time perception associated with modernism“; Natter 1994, S. 204. 98 Vogt 2001, S. 31. 99 Gaughan, Martin: „Ruttmann’s Berlin. Filming in a ‚Hollow Space‘?“, in: Shiel/Fitzmaurice 2003, S. 41-57, hier S. 42. 100 Natter 1994, S. 219. 237
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
anderen Weg schlägt hingegen Dziga Vertovs einflussreicher Querschnittsfilm DER MANN MIT DER KAMERA (1929) ein. Denn er entwickelt die Dynamisierung und Transformation des Raums weniger in Auseinandersetzung mit der städtisch-bewegten Topographie und ihren Rhythmen, sondern er stellt vielmehr die Medialität der Bewegung durch die permanente Sichtbarmachung des Prozesses des Filmens selbst (der Kamera, des Stativs, des Kameramanns) in den Mittelpunkt des Films, wie bereits im Vorspann unmittelbar und programmatisch verkündet wird: Ausschnitt aus dem Tagebuch eines Kameramanns. / Dem Zuschauer zur Beachtung: / Dieser Film ist ein Experiment der filmischen Vermittlung sichtbarer Ereignisse. / Ohne Hilfe von Zwischentiteln. / Ohne Hilfe eines Drehbuchs. / Ohne Hilfe des Theaters. / Diese experimentelle Arbeit versucht, eine internationale, absolute Kinosprache zu schaffen, / basierend auf der völligen Unabhängigkeit von der Sprache des Theaters und der Literatur.101
Der Film folgt dabei einem doppelten Rhythmus, indem er einerseits einen großstädtischen Tag in seinen einzelnen Abläufen – vom morgendlichen Erwachen bis zu den abendlichen Vergnügungen – nachzeichnet. Andererseits und darüber hinaus wird diesem Spannungsbogen der Stadt jedoch noch ein zweiter hinzugefügt: der Spannungsbogen des filmischen Dispositivs selbst, der durch die Einstellungen auf den leeren Kinosaal zu Beginn des Films und die Vielfalt der Blicke und Reaktionen der Zuschauer am Ende den urbanen Querschnitt gleichsam überformt. Innerhalb dieses zweifach gespannten Bogens greifen nun wiederum das räumliche System der Stadt und das räumliche System des Films auf komplexe, sichtbare Weise ineinander, wodurch DER MANN MIT DER KAMERA wie kaum ein Film zuvor sein eigenes Filmsein reflektiert und sich in seinem eigenen Filmsein beobachtet. Mehr noch, er behandelt, wie Lorenz Engell ausführt, „seine eigene Entstehung, sein Möglich-Werden, sein Film-Werden, sein Form-Werden.“102 Auf diese Weise macht der Film selbst sichtbar, folgt man Guntram Vogt, wie er „in die Bilder des städtischen Alltags eingreift und sich in ihnen seinerseits als Instrument der Stadterfahrung definiert. Er zeigt, wie das Objekt vor der Kamera erst durch deren Arbeit ‚entsteht‘, wie es im Akt des Filmens ‚konstruiert‘ wird.“103 Diese Reflexionsebene wird durch eine Vielfalt von Kameras, Stativen und anderen Apparaturen eingezogen, die wiederholt im
101 DER MANN MIT DER KAMERA (Dziga Vertov, 1929), TC: 00:00:12. 102 Engell 2003, S. 24. 103 Vogt, Guntram: „‚Durch die Augen sehen wir die Städte‘. Stadtlandschaften in Filmen von Wim Wenders“, in: Schenk 1999, S. 162-185, hier S. 180. 238
DIE RHYTHMEN DER METROPOLE
Bild auftauchen, so etwa, wenn die Kamera ein fahrendes Auto verfolgt und gleichzeitig das Fahren durch eine Kamera im Nebenwagen beobachtet wird. Oder aber, in der vielleicht berühmtesten Sequenz dieses Films, wenn die Kamera in einer vergrößernden Doppelbelichtung auf dem Dach eines Hochhauses aufgestellt wird, vor deren ‚KameraAuge‘ sich nun das verkleinerte städtische Treiben ausbreitet.
Abb. 14: Die Einschreibung der Kamera in den städtischen Raum in DER MANN MIT DER KAMERA (1929)
Die Bewegung in ihren unterschiedlichsten Facetten und Formen wird hier einmal mehr zum zentralen Mittel der Raumerschließung. Sie wird es jedoch in einer Weise, und darauf hat insbesondere Lorenz Engell hingewiesen, dass sie sich schrittweise auffächert und in zwei unterschiedliche Achsen aufschlüsseln lässt: in eine Achse der Bewegung und in eine Achse des Films. Auf beiden Achsen lassen sich jeweils drei unterschiedliche Arten der Bewegung festmachen, die sich in ihrem Aufbau und in ihrer Abfolge hinsichtlich des Abstraktionsgrades ihres jeweils zugrunde gelegten Bewegungsbegriffs differenzieren lassen.104 Dadurch reflektiert der Film unmittelbar auf seine eigene Entstehung als filmisches Bewegungsbild. Im selben Zuge wird er aber auch zu einem Mittel – und hierin treten Vertovs Ansätze zum ‚Kinoglaz‘, dem ‚Kamera-Auge‘, deutlich hervor – die menschliche Wahrnehmung mittels der Kamera zu perfektionieren, denn: „Unsere Augen können wir nicht besser machen als sie sind; die Kamera jedoch können wir unendlich vervollkommnen.“105 Führt man die einzelnen Argumentationslinen, die am Beispiel der Bewegungstopologien im frühen Stadtfilm entwickelt wurden, zusammen, so lässt sich zunächst festhalten, dass es den frühen Stadtfilmen der zwanziger Jahre im Allgemeinen und den Filmen der Neuen Sachlichkeit im Besonderen stets darum geht, die städtische Bewegtheit im Zuge einer umfassenden und sich beständig weiter ausdifferenzierenden filmischen Bewegtheit einzufangen. Auf diese Weise spielen die Filme mit den Wechselverhältnissen zwischen der Bewegung im Raum und genuin bewegten Räumen. Sie modellieren die Übergänge zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Beschleunigung und Entschleunigung, während sie ihren Endpunkt in jenen Momenten finden, in denen sie entweder die 104 Zu einer eingehenden Analyse der einzelnen Achsen und Ebenen der filmischen Bewegung vgl. Engell 2003, S. 29-32. 105 Vertov 1973b [1923], S. 15. 239
BEWEGUNGSTOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
Bewegung in einer abstrakten Reihung großstädtischer Elemente aufgehen lassen (wie in BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT) oder aber in denen sie sich selbst als Medium der Sichtbarmachung von städtischer Bewegung in Szene setzen (wie in DER MANN MIT DER KAMERA). Bezieht man diese Aussagen nun auf das übergreifende Konzept der Metropole in diesen Filmen zurück, so zeigt sich, dass diese stets in Bezug auf etwas Anderes, auf ein Nächstes, auf ein Folgendes definiert wird, das ihr als Bewegung bereits innewohnt oder aber das sie über die Bewegung erschließen kann. Dieser Punkt ist entscheidend, insofern dieser Ausdifferenzierung städtischer und filmischer Bewegtheit ein grundlegend anderes Raumkonzept zugrunde liegt, als dies in den Straßenfilmen der frühen zwanziger Jahre zu beobachten war. Denn während sich die Straßenfilme vor allem mit den Polaritäten und Ambivalenzen des Städtischen auseinandersetzen, um darin die Verschränkung des Gegensätzlichen als zentralen Modus der Raumkonstruktion herausstellen, bei welcher die Stadt immer schon und notwendigerweise auf ihr Gegenteil bezogen wird, so steht hier ein Konzept von filmischer Bewegung im Vordergrund, das die Bewegung in ihrer doppelten Perspektive, als innere und äußere, als relative und absolute Bewegung, begreift. Im selben Zuge wird die filmische Metropole selbst bewegt: Sie dehnt sich, sie greift aus in ihren Umraum und in die vorgelagerten ländlichen Gebiete, um in ihnen dennoch wiederum ein städtisches Moment zu enthüllen. Die Bewegung (als Substanz) und das Bewegtsein (als Essenz) werden auf diese Weise zum zentralen Moment eines bewegt-dynamischen Städtischen, das kontinuierlich auf zwei unterschiedliche Referenzpunkte verweist: auf die rhythmische Abstraktion des Städtischen und auf seine sinfonische Bewegungsstruktur. In dieser Doppelung von Bewegung und Abstraktion gewinnt auch die Vorstellung von filmischen Topologien eine neue Facette. Denn die Bewegungstopologien des frühen Stadtfilms verbinden sich insofern mit der Form einer bewegten, umformenden Topologie, als sie eine spezifische Form von Zwischenräumlichkeit produzieren, die sich wiederum in einer Ausweitung und Öffnung des Raums artikuliert. Auf diese Weise schiebt sich eine dritte Form der Topologie zwischen die innere und die äußere Topologie; eine Form, die eine kontinuierliche Transformation betreibt und in der sich der Raum allein über seine intrinsische Bewegtheit denken lässt – sei dies nun in der Auffächerung der Bewegung (DER LETZTE MANN), im bewegten Übergang von städtischen zu ländlichen Orten (MENSCHEN AM SONNTAG), in einer sinfonischen Steigerung der Bewegtheit des Städtischen (BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT) oder auch in einer Bewegtheit des Filmischen selbst (DER MANN MIT DER KAMERA).
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Abstrakte Topologien: Im Wechselspiel der Künste Die dritte filmische Topologie, die an dieser Stelle herausgearbeitet werden soll, lässt sich in gewissem Sinne als eine Zusammenführung und Wendung der ersten beiden Formen der filmischen Raumkonstruktion begreifen. Denn einerseits sind die amerikanischen Avantgardefilme der zwanziger Jahre, die im Zentrum dieses Teilkapitels stehen, von einer expressionistischen Bildhaftigkeit bzw. von einem lyrischen Romantizismus geprägt. Andererseits verfolgen sie jedoch auch das dezidiert ‚modernistische‘ Projekt, die städtischen Strukturen, die Rhythmen und Pulse moderner Urbanität in einem grundlegend bewegten und gleichzeitig objektiven, abstrahierenden Blick einzufangen, worin sich nicht zuletzt, wie auch Jan-Christopher Horak ausführt, ihr zutiefst widersprüchliches Verhältnis zur Moderne manifestiert: The first American avant-garde – like the second, and unlike the European avant-garde – seems to have had an extremely contradictory relationship to the modernist project. Its utilization of modernist form in connection with expressions of highly romantic, even antimodernist, sentiments is symptomatic of this ambivalence toward modernism.106
Diese Ambivalenz zwischen einer Bejahung der modernen Welt einerseits und dem antimodernen Rückbezug auf die Natur bzw. auf das Ländliche andererseits durchdringt auch die Stadtsinfonien der frühen amerikanischen Avantgarde auf besondere Weise, auf die im Folgenden – und in enger Anknüpfung an die Betrachtungen zu BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und DER MANN MIT DER KAMERA – näher eingegangen werden soll. Ihren unmittelbaren visuellen Ausdruck findet diese Ambivalenz zumeist in der visuellen Rückführung bzw. der Angleichung des Urbanen an die Natur, oder aber sie vollzieht sich im Zuge der Einschreibung einzelner ‚urbaner Momente‘ in ländliche Gebiete. Dennoch gehen die amerikanischen Stadtsinfonien nicht vollständig in einem sich wechselseitig entgrenzenden Stadt-Land-Verhältnis auf. Vielmehr changieren sie zugleich, wie William Uricchio gezeigt hat, zwischen der dokumentarischen und der avantgardistischen Tradition, wobei sie auf beiden Seiten wiederholt innovative Impulse geben: „More than any other production category of the period, the city symphony and its variants
106 Horak, Jan-Christopher: „The First American Film Avant-garde, 19191945“, in: Wheeler Winston Dixon; Gwendolyn Audrey Foster (Hg.): Experimental Cinema. The Film Reader. London/New York: Routledge 2002, S. 19-51, hier S. 27. 241
ABSTRAKTE TOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
managed simultaneously to broaden existing notions of the nonfiction film and to re-work the aesthetic agenda of avant-garde practice.“107 Die Besonderheit der abstrakten (Stadt-)Filme der amerikanischen Avantgarde begründet sich vor allem darin, dass sie das spezifisch Filmische innerhalb einer umfassenden Mediendifferenz verhandeln. Und diese Mediendifferenz wird nicht etwa deswegen aufgerufen, weil der Film selbst den Rückgriff auf andere Medien und Künste erforderte, sondern weil über die Bezugnahme auf Musik, Lyrik, Malerei, Grafik und Fotografie wiederum eine Reflexion des Filmischen in Gang gesetzt wird, die gerade den Abstand zwischen den Möglichkeiten der einzelnen Künste und den genuinen Möglichkeiten des Films markiert.108 Gleichzeitig lässt sich dieser medienübergreifende Zugriff jedoch auch als Versuch lesen, die Komplexität urbaner Strukturen einzufangen bzw. der reinen Produktion von städtischer Sichtbarkeit eine andere Facette hinzuzufügen: The avant-garde could be eclectic in its choice of media, whether painting, sculpture, photography, graphic design, or film, searching for new ways of seeing the ever-changing world, exploring discourses of a highly technological, highly urbanized environment.109
Was bedeutet es also, wenn die filmische Stadt mit einem Rhythmus, einer Melodie oder gar einer Sinfonie in Analogie gesetzt wird? Zunächst einmal, und davon werden auch die Beispiele zeugen, charakterisiert die Stadtsinfonien eine hochgradig rhythmische Montage, sind es immer wieder bestimmte Rhythmen und Melodielinien, die das visuelle Material strukturieren und die Montage leiten. Gleichzeitig begründet sich der musikalische Bezug der Filme jedoch auch in der Aufteilung bzw. der Strukturierung des visuellen Materials in einzelne (sinfonische) Sätze, wie es am Beispiel der BERLIN-SINFONIE besonders deutlich wurde. Dabei wohnt der Analogie zwischen der filmischen Metropole und einer 107 Uricchio, William: „The City Viewed. The Films of Leyda, Browning, and Weinberg“, in: Jan-Christopher Horak (Hg.): Lovers of Cinema. The First American Film Avant-Garde, 1919-1945. Madison: University of Wisconsin Press 1995, S. 287-315, hier S. 288. 108 So verweist Jan-Christopher Horak darauf, dass ein Großteil der frühen amerikanischen Avantgardefilmer in den Schnittbereichen unterschiedlicher Medien aktiv war und sie sich im Gegensatz zur zweiten Avantgarde (wie etwa Maya Deren, Marie Menken und Stan Brakhage) noch weitgehend als eine Gruppe von Amateuren, als ‚lovers of cinema‘ verstanden; vgl. Horak 2002, S. 19f. 109 Horak, Jan-Christopher: Making Images Move. Photographers and Avant-Garde Cinema. Washington/London: Smithsonian Institution Press 1997, S. 79. 242
IM WECHSELSPIEL DER KÜNSTE
Sinfonie zugleich ein grundlegendes Paradox inne, „denn was könnte einerseits dem Großstadt-Wirrwarr widersprechender sein als die übersichtlich gegliederte Form der Sinfonie? Und was könnte andererseits angemessener die urbanen Elemente und Strukturen wiedergeben als die Übertragung von Tempo und Dynamik einer musikalischen Partitur auf den Rhythmus des Films!“110 Die musikalische Ausgestaltung und die urbane Architektur treffen sich folglich, wie auch Sergej Eisenstein in Zusammenhang mit seiner Vorstellung einer rhythmischen Montage bemerkt, in dem ‚gleichen Tanz‘, den Musik, Malerei, filmische Montage und eine als ‚steingewordene‘ Musik bezeichnete Architektur vollziehen: Ausgangspunkt des Aufbaus ihres Ganzen, der Ausgewogenheit ihrer sich zusammenballenden Massen, der Begründung der Melodie ihres künftigen Formenüberschusses und der Ausführung ihrer rhythmischen Teile, die dem Relief ihres Ensembles Harmonie verleihen, ist der gleiche ‚Tanz‘, der auch der Erschaffung von Musik, Malerei und der filmischen Montage zugrundeliegt.111
Gleichzeitig steht die Rhythmisierung des Städtischen jedoch auch für das Vermögen des Films, unendlich fließende Formen des Übergangs zu schaffen, die sich zu einem harmonischen, in sich geschlossenen Ganzen formen. Die Melodielinien und Rhythmen legen sich folglich in einem weiten und abschließenden Bogen über die Konstruktion des Urbanen, wobei dieser Bogen seinen visuellen Ausdruck einerseits in zeitlicher Hinsicht in den Motiven des Sonnenaufgangs und Sonnenuntergangs finden kann, wie er etwa die Querschnittsfilme der Zeit charakterisiert, die den Verlauf eines Tages städtischen Lebens mit seinen unterschiedlichen Rhythmen einfangen. Andererseits werden die Filme jedoch auch oftmals in räumlicher Hinsicht von den beiden Motiven der Ankunft und der Abfahrt eingerahmt, durch welche die Erfahrung des Städtischen als eine begrenzte, in sich abgeschlossene Phase konfiguriert wird. Der lyrisch-abstrakte Film MANHATTA (Charles Sheeler, Paul Strand, 1920/21) bildet in vielerlei Hinsicht einen Anfangspunkt. Denn er wird nicht allein wiederholt als erster amerikanischer Avantgardefilm überhaupt angeführt, sondern er begründet zugleich die Linie der einflussreichen Stadtsinfonien, welche die zwanziger und dreißiger Jahre nachhaltig prägen wird.112 Als besondere Form eines filmischen Poems basiert
110 Möbius/Vogt 1990, S. 17. 111 Eisenstein, Sergej: „Pathos“, in: Nonindifferent Nature. Cambridge, MA: Cambridge University Press 1987, S. 140; zit. in: Vidler 1996, S. 22. 112 Neben den bereits angeführten und im Folgenden noch zu analysierenden Beispielen lassen sich zudem Alberto Cavalcantis RIEN QUE LES HEURES (1926), Jean Vigos À PROPOS DE NICE (1930), Herman G. Weinbergs 243
ABSTRAKTE TOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
MANHATTA auf Gedichten des amerikanischen Dichters Walt Whitman – im Einzelnen auf From Noon to Starry Night: Mannahatta (1860), A Broadway Pageant (1860) und Crossing Brooklyn Ferry (1857) –, in denen Whitman Manhattan auf intensive, hochgradig verdichtete Weise heraufbeschwört. Eben dieses Bestreben charakterisiert auch den Film MANHATTA, wenn er parallel zu einzelnen Passagen aus Whitmans Gedichten, die in Form von Zwischentiteln eingeblendet werden, einen Tag Manhattans in seinen wechselvollen Rhythmen nachzeichnet.
Abb. 15: Das Wechselspiel der Künste zwischen Lyrik, Malerei und Fotografie in MANHATTA (1920/21)
Innerhalb dieses Tages, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, wird Manhattan nun nach und nach und im steten Wechsel zwischen den lyrischen Passagen und den filmisch eingefangenen baulichen Strukturen, beschrieben. Dabei nähert sich der Film der Stadt stets von einer anderen Seite, so als würde er versuchen, Manhattan stets aufs Neue zu greifen. Die sinfonische Struktur des Films zeigt sich einerseits in dem rhythmischen Wechsel von langen und kurzen Einstellungsperspektiven. Andererseits durchläuft der Film jedoch auch – in Analogie zu den vier Sätzen einer klassischen Sinfonie – vier unterschiedliche Phasen, in denen jeweils bestimmte Bildmotive in den Vordergrund treten und somit zum zentralen Gegenstand der lyrisch-filmischen Ergründung werden. Zunächst ist dies das Motiv der Ankunft in Manhattan, das in ausgedehnten Bewegungen mit der Staten Island Ferry entfaltet wird, während parallel dazu die Worte: „City of the world (for all races are here) / City of tall facades of marble and iron / Proud and passionate city. / When million-footed Manhattan unpent, descends to its pavement“ das Geschehen in einen übergreifenden Rahmen einbetten und zugleich verdeutlichen, inwiefern es sich hier um eine in jeder Hinsicht exzeptionelle Metropole („City of the world“ / „Proud and passionate city“) handelt. Die zweite Phase ist nun dadurch charakterisiert, dass eine Reihe von Wolkenkratzern – als visuell eindrückliches und zugleich herausforderndes Motiv der Großstadt – in den Mittelpunkt rückt, bezeichnet als „[h]igh growths of iron, slender, strong, splendidly uprising toward clear skies.“ Sein Gegenstück findet dieses Abtasten der unbewegten, majestätischen Wolkenkratzer in der rastlosen, emsigen Bewegtheit urbaner VerkehrsA CITY SYMPHONY (1930) und AUTUMN FIRE (1931) sowie Irving Brownings CITY OF CONTRASTS (1931) nennen. 244
IM WECHSELSPIEL DER KÜNSTE
mittel, welche die dritte Phase dieses Films kennzeichnen: „This world all spanned with iron rails / Where the city’s ceaseless crowd moves on, the live long day.“ Im vierten Teil werden schließlich Bilder des Wassers mit seinen schimmernden Spiegelungen und unzähligen Dampfschiffen gezeigt, das Manhattan umgibt und die Stadt einrahmt („City of hurried and sparkling waters / City nested in bays”), während dieses Filmpoem in Bildern des Sonnenuntergangs über Manhattan und mit dem emphatischen Ausruf: „Gorgeous clouds of sunset! Drench with your splendor me or the men and women generations after me!“ sein Ende findet. In seiner sinfonischen Struktur durchläuft MANHATTA folglich vier unterschiedliche Phasen, denen zugleich vier unterschiedliche Annäherungen an die Stadt zugrunde liegen. Gleichzeitig beschreibt es jedoch auch eine Kreisfigur, insofern es am Ende des Films wieder an seinen Anfangspunkt gelangt, nun jedoch mit einer umgekehrten Blickrichtung. So vollzieht der Film eine „metaphoric journey: in time from morning to evening, in space from Staten Island to Manhattan, in the gaze from an urban cityscape to an image of a natural landscape.“113 Allen vier Phasen unterliegt dabei jenes Spannungsverhältnis, aus dem MANHATTA seinen besonderen Zugang zum Urbanen gewinnt und dessen Kernpunkt darin besteht, im kontinuierlichen Wechsel zwischen (urbaner) Moderne und (lyrischer) Romantik, zwischen Stadt und Natur, zwischen Gebautem und Anthropomorphem, differenzierte Stadtbilder zu generieren: In its conscious attempt to create an avant-garde, non-narrative, and formally abstract cinematic experience in opposition to classical modes of address, Manhatta, nevertheless, never quite relinquishes those structures that manifest themselves most visibly in the tension between the image and verbal text, between its modernist perspectives and a romantic longing for a universe in which man remains in harmony with nature.114
Auf der einen Seite ist MANHATTA folglich durch eine besondere Art der Kameraführung gekennzeichnet, in welcher die spezifische Modernität dieses Filmessays auf das Deutlichste hervortritt. Denn diese ist „anteilsloser, objektiver, ‚moderner‘ und vermittelt eine selbstverständliche, dem photographischen Gegenstand angepaßte Bildsprache. Ihre ungemein detailreichen, außergewöhnlich scharfen und genauen Bilder handeln vom alltäglichen Großstadtleben – sie sind nicht auf das Spektakuläre oder Visionäre aus.“115 In einem ersten Schritt geht es Sheeler und Strand folglich darum, die gebauten Strukturen Manhattans in einem objektiv-filmischen Gestus einzufangen. Gleichzeitig, und hierin offenbart 113 Horak 1997, S. 95. 114 Ebd., S. 80. 115 Weihsmann 1988, S. 169. 245
ABSTRAKTE TOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
sich das grundlegende Spannungsverhältnis, wählen sie jedoch auch wiederholt entgrenzende und ‚dramatisch expressive‘ Kameraeinstellungen, „wenn die Kamera von erhöhten und verzerrten Blickwinkeln die Stadt von oben mittels Zoom und wilden Schwenks ins Bild bringt“. 116 Diesen extremen Kameraperspektiven wohnt nun selbst wiederum eine Ambivalenz inne. Denn einerseits lassen sie sich, wie Weihsmann vorschlägt, in Richtung einer Annäherung an die parallel entstehende expressionistische Filmsprache ausdeuten. Andererseits lässt sich an ihnen jedoch auch, wie Horak ausführt, ein dezidiert modernistischer Gestus festmachen, insofern sie in ihrer Auflösung der räumlichen Relationen und in ihrer Spaltung des Blicks letztendlich auf eine Fragmentierung des Subjekts hinauslaufen: „[T]hese extreme perspectives tend to visibly obscure spatial relationships and thus contribute to the fragmentation of the subject’s perception [...]: a goal central to all modernist art.“117 Während die Kameraperspektiven also zutiefst von der gegenläufigen Bewegung zwischen Expressionismus und Dokumentarismus gekennzeichnet sind, so lässt sich dieses Spannungsverhältnis auch auf einer übergreifenden Ebene des Films festmachen. Denn zentral an MANHATTA ist gerade, dass die städtischen Strukturen immer wieder durch den Rhythmus des lyrischen Ausdrucks gewendet und überformt werden. Es ist vor allem der „romantic subtext, which is visible both in the intertitles, taken from the poetry of Walt Whitman, and in the film’s overall narrative construction“118, der MANHATTA charakterisiert und gegenüber anderen Beispielen der Zeit so heraushebt. Den abstrakten Bildern des Städtischen wird hier kontinuierlich eine lyrische Seite hinzugefügt, wodurch sie zugleich eine genuin anthropomorphe Qualität entfalten: A transcendental view of the city as a natural phenomenon is very much in evidence in the intertitles taken from Whitman. Manhatta’s modernist vision of the city is thus ‚colored‘ through the Whitmanesque intertitles, reinforcing the anthropomorphic quality of many of the film’s images.119
Die Entgrenzung und Überformung der sichtbaren Topographie durch eine abstrakte, dritte Position lässt sich in MANHATTA zunächst unmittelbar mit der Lyrik Whitmans kurzschließen, die sich in die gebauten Strukturen einschreibt und ihnen eine neue Qualität verleiht. Darüber hinaus lässt sich diese ‚dritte Position‘ jedoch auch in einem allgemeinen Sinne auf die in MANHATTA aufgerufene Mediendifferenz beziehen. Dies
116 117 118 119
Weihsmann 1988, S. 170. Horak 1997, S. 88. Horak 2002, S. 28. Horak 1997, S. 93. 246
IM WECHSELSPIEL DER KÜNSTE
zeigt sich bereits zu Beginn des Films, wenn der Titel, wie im Folgenden auch die einzelnen Zwischentitel, vor dem Hintergrund einer scheinbar gemalten Skyline erscheint120, die in ihrer malerischen Bildhaftigkeit einen grundsätzlichen Abstand sowohl zum filmischen als auch zum fotografischen Bild markiert. Auf diese Weise positioniert sich der Film unmittelbar in einem Wechselspiel der Künste zwischen Malerei, Fotografie und Poesie, was sicherlich nicht zuletzt auf Sheelers und Strands Arbeiten in den Bereichen der Fotografie und der Malerei zurückzuführen ist.121 Insbesondere ihre fotografischen Werke üben einen starken Einfluss auf die Gestaltung des Films aus bzw. bewegt sich der Film oftmals sehr deutlich an der Schnittstelle zur Fotografie, indem die Kamera (scheinbar) unbewegliche Positionen einnimmt und hochgradig durchkomponierte Stadtansichten zeigt, die teilweise unmittelbar auf die fotografischen und malerischen Werke beider Künstler verweisen: These various cross-connections are interesting clues, establishing Sheeler and Strand’s artistic preoccupations and their willingness to translate imagery into different media, thereby commenting on the specific limitations and successes of each medium’s formal practice [...].122
Auf diese Weise durchzieht MANHATTA zugleich eine sehr feine, subtile Reflexion des Filmischen, die sich einerseits in dem grundsätzlichen Potenzial artikuliert, die Rhythmen eines fiktiven Tages in Manhattan auf filmisch-bewegte Weise einzufangen und ihre baulichen Besonderheiten aus den unterschiedlichsten, sogar ‚unmöglichen‘ Perspektiven einzufangen, was besonders am Motiv des Hochhauses deutlich wird. Andererseits, und dies liegt vor allem in der fotografischen Ästhetik des Films begründet, zeigt sich auch eine sehr feine Beobachtung dessen, was sich bewegt, wobei vor allem zwei Elemente immer wieder hervorscheinen: 120 Horak verweist hingegen darauf, dass es sich hierbei lediglich um eine äußerst lang belichtete Einstellung auf die Skyline Manhattans handelt, die auf diese Weise abstrakt und grafisch wirkt; vgl. Horak 1997, S. 84. 121 So verweist auch Christine N. Brinckmann auf die Auflösung der Gattungsgrenzen als notwendigen Schritt, um letztendlich zur „innerste[n] Funktion der Kunst“ vorzudringen; vgl. Brinckmann 2000, S. 114. 122 Horak 1997, S. 88. Vgl. hierzu etwa die Nähe der Einstellungen der Wall Street zu Paul Strands gleichnamiger Fotografie aus dem Jahr 1910. Ebenso finden die beiden Fotografien von Alfred Stieglitz, dem Mentor Paul Strands, mit den Titeln City of Ambition (1910) und The Ferry Boat (1910) ihren unmittelbaren bildlichen Niederschlag; Horak weist hingegen darauf, dass Sheeler stärker den Film MANHATTA zum Ausgangspunkt nahm, um in den Folgejahren eine Reihe von ähnlichen Fotografien anzufertigen, wie etwa Church Street El (1920) und Offices (1922). 247
ABSTRAKTE TOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
die Bewegungen des Wassers und die Bewegungen des Dampfes und des Nebels, die sich als einendes Moment (der Häuser und Schornsteine, der Dampfschiffe und Eisenbahnen) über die Bilder legen und sich zwischen ihnen ausbreiten. Auf diese Weise durchzieht MANHATTA eine doppelte Reflexion des Filmischen: einerseits als Beobachtung der Bewegung und des Bewegten, andererseits als Entgrenzung des Raums durch Wasser, Dampf und Nebel, als Zeichen seiner beständigen Umformung und Metamorphose, die immer wieder eine Gegenbewegung zu der abstrakten Reihung einzelner Wolkenkratzer bildet: At times the geometry of these patterns is broken up by rising columns of smoke that billow irregularly in the direction of the wind. Smoke from chimneys, smoke from railroad engines, and smoke from steamships and tugboats form a major visual motif: Strand and Sheeler are apparently fascinated by the motion picture camera’s ability to capture its constant metamorphosis and dissipation into the atmosphere.123
Der lyrisch-abstrakte Zugang zum Urbanen manifestiert sich jedoch nicht allein in MANHATTAS „yearning for a reunification with nature, inscribing technology, urbanization, and industrialization in mass society with naturalistic metaphors“.124 Vielmehr prägt dieser doppelseitige Prozess in besonderer Weise die gesamte frühe amerikanische Avantgarde – man denke etwa an den von der Gruppe Artkino produzierten Kurzfilm OIL – A SYMPHONY IN MOTION (1933), der das Wechselspiel zwischen Stadt und Natur von einer entgegengesetzten Seite greift, insofern er die Umformung einer ländlichen Umgebung in eine Ölraffinerie zum Ausgangspunkt nimmt, um hierin ein spezifisch ‚urbanes Moment‘ freizulegen. Eine andere Art des lyrisch-abstrakten Zugangs durchzieht hingegen THE LIFE AND DEATH OF 9413 – A HOLLYWOOD EXTRA (Robert Florey, Slavko Vorkapich, 1927), der das genuin ‚städtische Moment‘ weniger auf eine (bewegte) Technologie bezieht, sondern es vielmehr unmittelbar in Analogie mit den Glanz- und Schattenseiten Hollywoods setzt. Dabei liegt die Besonderheit dieses Films, der als einer der einflussreichsten Avantgardefilme der zwanziger Jahre gilt, vor allem darin begründet, dass hier Hollywood in eine Reihe expressionistischer, entfremdeter Bilder des Städtischen überführt wird, denen zugleich ein ironisierender, reflektierender Blick auf den filmischen Expressionismus innewohnt.125
123 Horak 1997, S. 90. 124 Ebd., S. 93. 125 Der Film selbst wurde jedoch als „the first of the impressionistic photoplays to be made in America!“ beworben; Taves, Brian: „Robert Florey and the Hollywood Avant-Garde“, in: Horak 1995, S. 94-117, hier S. 99. 248
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Ihr eindrücklichstes Motiv findet diese Referenz auf den filmischen Expressionismus sicherlich in den Bildern der überdimensionierten Treppe, die den Aufstieg und Fall von John Jones, einem jungen Schauspielaspiranten, der in Hollywood nach Ruhm und Ehre sucht, wie ein fein abgestimmter Seismograph in (verzerrte) Bilder fasst. Der expressionistische Einfluss artikuliert sich zweitens jedoch auch in dem hochgradig schematisierten Stadtbild, das diese Treppe fragmentartig umgibt und das von grotesken Zeichen und Hinweisschildern zersetzt ist („Success“, „Casting“, „No Casting Today“), die im jeweiligen Grad ihrer Verzerrung ebenfalls den Aufstieg und Fall des Protagonisten widerspiegeln.126
Abb. 16: Expressionistische Verzerrung und Schematisierung des Urbanen in A HOLLYWOOD EXTRA (1927)
Dennoch geht A HOLLYWOOD EXTRA nicht vollständig darin auf, das Städtische als eine Reihe fragmentarischer, expressionistischer Bilder zu konfigurieren. Vielmehr ist es zugleich von einzelnen dokumentarischen Aufnahmen Hollywoods durchsetzt, die dem hochgradig symbolischen Geschehen gleichsam eine neue, modifizierende Seite hinzufügen: While authentic in content, these scenes are often shot from a wildly moving or tilted camera, and edited into rapid juxtapositions. This relative objectivity is the false surface of Hollywood: the city, the glitter, and the ceremonies at which the extra marvels.127
Auf der einen Seite durchzieht A HOLLYWOOD EXTRA folglich ein komplexes Wechselspiel aus expressionistischem und objektiv-modernem Erzählgestus. Auf der anderen Seite unterliegt dem Film jedoch auch eine rhythmisch-sinfonische Struktur, denn er wurde, folgt man den Ausführungen Robert Floreys, zuallererst in Zusammenhang mit George 126 Jan-Christopher Horak verweist darauf, dass die Filme der amerikanischen Avantgarde einerseits in engem Austausch mit der europäischen Filmproduktion zu sehen sind, indem sie oft in Kombination mit europäischen Langfilmen aufgeführt wurden und sich zahlreiche Regisseure auf die Techniken des europäischen Kinos beriefen. Anderseits charakterisiert sie jedoch auch eine klare Differenz zur europäischen Tradition: „Although European art and avant-garde films aroused intense interest in America and resulted in a degree of emulation, American avant-garde films were unique products of American culture.“ Horak 2002, S. 27. 127 Taves 1995, S. 97. 249
ABSTRAKTE TOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
Gershwins Rhapsody in Blue entwickelt, die zugleich als Grundlage für die musikalische Begleitung des Films diente.128 Auf diese Weise lässt sich A HOLLYWOOD EXTRA nicht allein als eine komplexe Reflexion des Expressionismus, sondern zugleich als eine implizite Reflexion der zentralen Linie der Stadtsinfonien in den zwanziger Jahren begreifen. In seinem reflektierenden Gestus verdichtet A HOLLYWOOD EXTRA den lyrisch-abstrakten Zugang zum Urbanen, während er ihn zugleich in zwei Richtungen weiter entfaltet. Einen gänzlich anderen Zugang zum Phänomen der Metropole charakterisiert hingegen Robert Floreys vierter Avantgardefilm SKYSCRAPER SYMPHONY (1929). Denn hierin versucht er, das Städtische auf einer sehr gegenständlichen Ebene, das heißt über seine zentralen baulichen Formen, einzufangen und in eine visuelle Geometrie zu überführen, wobei das Hochhaus als entscheidender Bestandteil großstädtischer Modernität und als Inbegriff des Städtischen in den Mittelpunkt gestellt wird. Dabei zeichnet den Film eine hohe experimentelle Vielfalt und Variabilität der Filmsprache aus, wird die bauliche Struktur des Wolkenkratzers stets auf neue Weise eingefangen.129 Das symphonische Moment der SKYSCRAPER SYMPHONY offenbart sich vor allem darin, dass sie in ihrem Verlauf drei unterschiedliche Rhythmen und darin zugleich drei Annäherungen an den Wolkenkratzer beleuchtet. So wird zu Beginn des Films eine Reihe von Standaufnahmen hintereinander geblendet, in denen die Wolkenkratzer als unnahbar und unzerstörbar inszeniert werden. Erst allmählich und schrittweise vollzieht die Kamera eine Reihe von feinen Bewegungen, welche die einzelnen Wolkenkratzer gleichsam abtasten und ihre unermessliche Höhe dadurch umso deutlicher herausstellen. Im zweiten Teil, und darauf aufbauend, beginnt die Kamera nun paradoxe Bewegungen auszuführen; sie vollzieht Drehungen und betont die Diagonale, so als würde sie diese unnahbaren, fest stehenden Gebäude gleichsam bildlich zum Einsturz bringen.
Abb. 17: Unnahbare Statik, entfesselte Beweglichkeit und bewegter Stillstand in SKYSCRAPER SYMPHONY (1929)
128 Zu der frühen Aufführungspraxis dieses Films vgl. Taves 1995, S. 98f. 129 Nicht zuletzt in dieser experimentellen Vielfalt setzt er sich deutlich von der vorherrschenden Produktion der Werbe- und Propagandafilme in den zwanziger Jahren ab, die rund um das Thema des Wolkenkratzers kreisen, um nicht zuletzt den Bewohnern die Angst vor dieser neuen baulichen Form zu nehmen; vgl. hierzu auch Weihsmann 1988, S. 168f. 250
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Auf diese Phase der filmischen Experimente mit einer äußerst beweglichen, teilweise sogar ‚entfesselten Kamera‘, folgt drittens eine Phase der (erneuten) Beruhigung, die insofern als Zusammenführung der ersten beiden Inszenierungsweisen des Wolkenkratzers gelten kann, als sie eine Reihe von Standbildern zeigt, die nun unmittelbar eine diagonale Kameraperspektive einnehmen, so als hätten die Hochhäuser in ihrer Bewegung innegehalten und seien mitten im Sturz stehen geblieben: Presently a tall, lean shadow flashed on the screen followed by varied shots of buildings, crevices in Wall Street, stone canyons with thin little shadows of sunlight trickling through them, Trinity Tower, a closeup of an office window set in stone like a gaping eye. [...] It was partly the architectural wonder of New York that made the film so stirring, but [...] it was the artist’s touch that moved one, the catching of mood, line, color and feeling in the strange walled city.130
In ihrem ständigen Experimentieren bezeichnet die SKYSCRAPER SYMPHONY folglich in erster Linie, wie auch Florey mehrfach herausgestellt hat, eine „architectural study of the skyscrapers“.131 Dennoch begnügt sie sich nicht allein mit der Aufzeichnung des Sichtbaren, sondern bindet diese abstrakte Reihung geometrischer Formen wiederum in eine übergreifende Melodielinie, in die Rhythmik der baulichen Strukturen ein, die somit einen Gegenpol zur reinen Abstraktion des Städtischen bilden. Während das Einfangen der baulichen Strukturen Manhattans in Floreys SKYSCRAPER SYMPHONY in einer experimentellen Abstraktion und einer sinfonischen Überlagerung des Städtischen mündet, kennzeichnet A BRONX MORNING (1931), den ersten Film Jay Leydas, ein gänzlich anderer Zugang, indem er der sozialen Dimension gegenüber der materiellen den Vorrang einräumt bzw. beide Ebenen in ein komplexes Wechselspiel einbindet. Denn dieser Film richtet seinen Blick unmittelbar auf einen Teilraum New Yorks, die Bronx, die als betriebsames, sozial aktives Gebiet konfiguriert wird und damit als eine „dynamic physical and social experience rather than simply as a space to be described and documented“132 erscheint. Die Verlagerung von der materiellen zur sozialen Dimension artikuliert sich dabei vor allem in den Bildern der spielenden 130 Tazelaar, Marguerite: „Amateurs Point the Way“, in: Amateur Movie Makers 6, Nr. 6, September 1929, S. 599; zit. in: Taves 1995, S. 111f. 131 Taves 1995, S. 111. Ihre Vorläufer findet die SKYSCRAPER SYMPHONY dabei in der populären Looney-Lens-Series der frühen zwanziger Jahre, die ein sehr ironischer, spielerischer Zugang zum Thema des Hochhauses kennzeichnet, wenn etwa in SPLIT SKYSCRAPERS (Al Brick, 1924) mittels der Split-Screen-Technik zwei Hochhausaufnahmen gegeneinander gedreht werden und somit tatsächlich visuell zusammenfallen. 132 Uricchio 1995, S. 289. 251
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Kinder und des Treibens auf dem Markt („The Bronx does business ... / ... and the Bronx lives / ... on the street.“), in denen das Straßenleben der Bronx auf sensible, beobachtende Weise eingefangen wird: A Bronx Morning is a portrait of a place and time. It is simultaneously a documentary, an avant-garde experiment, and an amateur film – although its compositional beauty and complex editing disguise that it is a twenty-one-yearold’s first attempt at moviemaking.133
In seinem differenzierten, detaillierten Blick auf einzelne städtische Objekte – Werbeplakate, Preisschilder, Lebensmittel, Müll –, die isoliert betrachtet und in kurzen, hintereinander gereihten Standbildern aufgerufen werden, umkreist THE BRONX MORNING zuallererst die Singularität des Räumlichen, wie auch Uricchio ausführt: „Rather than using analytic editing to articulate process or to imbue spaces and objects with special qualities [...], Leyda uses it to draw the viewer’s attention to the specificity of the object.“134 Diese Vereinzelung und Isolierung beschränkt sich jedoch nicht allein auf die materiellen Dinge; vielmehr werden auch die Figuren auf den Straßen häufig nur angeschnitten, werden nur Detailaufnahmen ihrer Füße und Arme, ihrer Hände und Beine gezeigt, die einer filmischen Abtastung und Sezierung gleichkommen, die ebenso auf das zugrunde liegende Stadtkonzept wie auch auf das spezifische Potenzial des Films verweisen, neue, andersartige Sichtbarkeiten zu produzieren.135
Abb. 18: Vereinzelung und Isolierung der Elemente des städtischen Alltags in A BRONX MORNING (1931)
Die Reflexion des Filmischen, die in MANHATTA einerseits als Beobachtung der Bewegung und des Bewegten, andererseits als Entgrenzung des Raums in den Bildern des Wassers und des Dampfes erfolgte, gewinnt hier eine neue Qualität. Und diese neue Qualität betrifft eine Reflexion 133 Simmon, Scott: „A Bronx Morning“, in: ders.: More Treasures From American Film Archives, 1894-1931. San Fransisco: National Film Preservation Foundation 2004, S. 98-102, hier S. 99. 134 Uricchio 1995, S. 299. 135 In Zusammenhang mit Leydas A BRONX MORNING wird oft auf den starken Einfluss des russischen Formalismus hingewiesen, der sich einerseits in der dialektischen Montage, andererseits aber auch in direkten visuellen Anspielungen auf einzelne Motive in den Filmen Sergej Eisensteins artikuliert; vgl. Simmon 2004, S. 99f. 252
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des filmischen Blicks auf die Stadt selbst, den THE BRONX MORNING unmittelbar zu Beginn in Form einer Zugfahrt durch New York thematisiert, wenn im Fensterausblick ein komplexes Wechselspiel aus bekannten Stadtansichten und entgrenzenden Raumfiguren entsteht, die das ‚dritte Moment‘ der Raumkonstruktion unmittelbar in der Überformung des Materiellen durch den filmisch-intermittierenden Blick situieren.136 Von diesem Punkt ausgehend lässt sich nun anhand eines letzten Beispiels das bisher Gesagte noch einmal auf die grundlegende Differenz zwischen den topographischen und topologischen Raumordnungen des frühen Stadtfilms beziehen. Der Avantgardefilm TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND (Robert Flaherty, 1927) beginnt mit einem kurzen Aufriss der besonderen Geschichte Manhattans, das für nicht mehr als 24 Dollar – so berichtet der Film gleich in seiner Eingangssequenz – von den Indianern abgekauft wurde. Diese historische Dimension des Films, die zunächst lediglich den Rahmen für das anschließend Gezeigte bildet, ist insofern entscheidend, als im Zuge dieser Rahmung auf ein Repräsentationsmedium zurückgegriffen wird, das als graphische Aufzeichnung und ‚Einkerbung‘ räumlicher Eigenschaften unmittelbar auf die erste, konkrete Bedeutungsebene der filmischen Topographie verweist: die Karte. Die erste Sequenz dieses Films speist sich folglich aus einer Überlagerung ebensolcher Karten, die in ihrer graphischen Verdichtung und mehr noch, in ihrer zeitlichen Staffellung die schrittweise Transformation der kleinen, unbedeutenden Halbinsel New Amsterdam in das pulsierende, faszinierende New York der zwanziger Jahre dokumentieren.
Abb. 19: Kartographische Annäherungen in TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND (1927)
Der Wechsel von der Erzählung einer kurzen Stadtgeschichte New Yorks zu Aufnahmen der gegenwärtigen, pulsierenden Metropole erfolgt durch eine schrittweise Überblendung, in welcher der letzte Plan New Amsterdams von einer Luftaufnahme Downtown Manhattans überlagert wird. 136 Hier lässt sich zugleich eine unmittelbare Linie zum frühen filmischen Stadtdokument INTERIOR NEW YORK SUBWAY (Frederick S. Armitage, 1907) ziehen, das eine Subwayfahrt von der 14. zur 42. Straße aufzeichnet und hierin zugleich als Reflexion des Filmischen bzw. seiner intermittierenden Projektion lesbar wird; vgl. hierzu Barchet, Michel: „Vom Sieg des Kinos über die Stadt oder: A Subway Called Desire“, in: Sigrid Lange (Hg.): Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film. Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 299-317, hier insbes. S. 309ff. 253
ABSTRAKTE TOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
Mit dem zeitlichen Sprung geht folglich zugleich ein Medienwechsel einher: Denn nun ist es der Film selbst, der als Medium der Bewegung und der Transformation in Erscheinung tritt, was insofern auf unmittelbare Weise inszeniert wird, als die darauf folgende, weite Teile des Films einnehmende Sequenz eine Fabrikation des Städtischen und damit ihre sichtbare, realräumliche Transformation zeigt. So sieht man Baustellen, Kräne und Arbeiter, die unermüdlich neue Wolkenkratzer errichten. Und wiederum ist es das Motiv des aufsteigenden Dampfes, das dieser Fabrikation des Urbanen seinen transformativen Charakter verleiht. Dennoch wird auch diese ausgreifende, entgrenzende Bewegung im dritten Schritt wiederum gefestigt, indem die gebauten Strukturen der Stadt – nun bereits fertiggestellt und vollendet – aus allen Perspektiven und Blickwinkeln filmisch ergründet werden: durch Kamerabewegungen an den Hochhäusern empor, aus der Nähe und aus der Ferne, in ihrer Gesamtschau und ihrer Einbettung in den topographischen Zusammenhang. Die einzelnen Details der Fassaden werden minutiös mit der Kamera abgefahren, worin zugleich zentrale Verbindungslinien zu Floreys SKYSCRAPER SYMPHONY aufscheinen, die zwei Jahre später entsteht. Es lassen sich folglich drei unterschiedliche Stufen einer räumlichen Transformation unterscheiden, wobei sich die erste in ihrer konkreten Form auf die filmische Topographie (als Karte, als zweidimensionale Repräsentationstechnik des Städtischen), die zweite hingegen auf die filmische Topologie bezieht, die den bewegten, dynamischen Produktionsprozess des Städtischen verdichtet. Die dritte Form der Transformation kombiniert dann in gewissem Sinne diese beiden Raumbildungsprozesse miteinander bzw. führt das topologische Moment wiederum in starkem Sinne auf die städtische Topographie zurück, die mittels der Kamera erfasst, abgetastet und dadurch letztendlich auch erfahrbar gemacht wird. So konfiguriert TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND auf sehr präzise Weise den Übergang von einem Ist-Zustand (der filmischen Topographie) hin zum Transformationsprozess von Räumlichkeit (der filmischen Topologie), worin sich gleichermaßen die Dynamik des Urbanen und das entgrenzende Potenzial der filmischen Raumkonstruktion artikulieren. Führt man die unterschiedlichen Linien dieses vierten Kapitels zum frühen Stadtfilm zusammen, so ergibt sich ein weitaus differenzierteres Bild der filmischen Metropole in den zwanziger Jahren, als es oftmals suggeriert wird. Denn die Filme, von denen hier die Rede war, gehen zu keinem Zeitpunkt darin auf, die Metropolen, mit denen sie sich filmisch auseinandersetzen, schlichtweg aufzuzeichnen oder sie als rein symbolisch verdichtetes räumliches Gebilde von eben dieser Aufzeichnung gänzlich zu entkoppeln. Im Gegenteil: Alle Filme erschaffen ein modifiziertes, vielschichtiges Bild der Metropolen und betreiben im selben 254
IM WECHSELSPIEL DER KÜNSTE
Zuge eine Auffächerung und Dynamisierung eben derjenigen räumlichen Kategorien, die der filmischen Raumkonstruktion zugrunde liegen. Denn wie im ersten Fall der Topologien der Ambivalenz deutlich wurde, speist sich die innere Dynamik der Filme vor allem aus dem Aufziehen unendlicher Gegensätze des Städtischen, überzeichnen sie die zugrunde liegenden Relationen der filmischen Stadt auf deutliche Weise – das Innere und das Äußere, das Städtische und das Ländliche, das Alltägliche und das Nächtliche –, um im nächsten Schritt wiederum beide Seiten als ununterscheidbar auszustellen. Die Entgrenzung des Raums erfolgt dann, in einem zweiten Schritt, im Bereich der Bewegungstopologien im Zuge einer doppelten Maximierung der Bewegung, die gleichermaßen die Stadt und den Film betrifft. Mehr noch: Hier nehmen die Filme immer wieder den Faktor der Bewegung zum Ausgangspunkt, um den filmischen Raum der Großstadt noch einmal neu zu vermessen, ihre inneren Dynamiken und Rhythmen bis zu einem Endpunkt zu führen und dadurch zugleich den städtischen Raum, innen wie außen, deutlich zu erweitern. Oder aber sie kehren die Bewegung um und beziehen sie auf ihr Gegenteil, auf den Stillstand, auf die Ruhe und die Entschleunigung, um im Umkehrschluss die Dynamiken der filmischen Raumerschließung umso deutlicher herauszuarbeiten. In Zusammenhang mit den abstrakten Topologien zeigt sich dann eine dritte Facette der filmischen Raumkonstruktion, eine dritte filmische Topologie, die ihren Bezugspunkt in einem Wechselspiel der Künste findet, das den Raum über ein abstraktes ‚Drittes‘ immer wieder zu seiner Entgrenzung führt, indem sich die Musik, die Lyrik, die Fotografie oder die Karte als konträre räumliche Systeme in die filmische Metropole einschreiben. Der Film wird damit zugleich zum Vermittler zwischen unterschiedlichen medialen Ordnungen, die er durch seine genuinen Möglichkeiten der Raumerzeugung, durch das Mediale, das Konstruierte und das Bewegte, erneut überformt. In allen drei Fällen geht es um die Produktion von Sichtbarkeit der filmischen Stadt, die jeweils mit Blick auf andere Referenzpunkte bzw. auf andere räumliche Grunddispositionen erfolgt. Dabei zeigt sich die filmische Raumkonstruktion immer wieder von eben denjenigen Grundfragen des Raums durchdrungen, die bereits in den ersten beiden Kapiteln die zentralen Zugriffe auf den Raum markierten. So schreiben sich die Fragen nach dem Verhältnis zwischen den einzelnen Orten der Stadt (der Straße, der Gasse) und ihrem übergreifenden Raum (den ‚urbanen‘ Momenten), zwischen der Enge (des Dorfes) und der Weite (der Großstadt) auf besondere Weise in die Weimarer Straßenfilme der frühen zwanziger Jahre und ihre Nachfolger ein. Demgegenüber wird das Wechselverhältnis von Raum und Bewegung und mehr noch, die umfassende Dynamisierung des Raums in den Filmen der Neuen Sachlichkeit, den 255
ABSTRAKTE TOPOLOGIEN IM FRÜHEN STADTFILM
Querschnittsfilmen und Stadtsinfonien der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nicht allein aufgegriffen, sondern zugleich bis zu einem Endpunkt des Möglichen geführt, wobei diese grundlegende Dynamisierung gleichermaßen von Seiten der Metropole und von Seiten des Films beeinflusst wird. Im Bereich der abstrakten Topologien zeigt sich dann ein Wechselspiel zwischen den materiellen und den sozialen Dimensionen des Städtischen, die in den Filmen der amerikanischen Avantgarde auf vielschichtige Weise eingefangen werden. Entscheidend dabei ist – und dies verweist unmittelbar zurück auf die Ausführungen zum symbolischen und relationalen Raum als dritter Position –, dass das Materielle und das Soziale der Städte durch das Symbolische auf eine andere Stufe gestellt und zugleich entgrenzt werden, wobei das Symbolische im Fall der amerikanischen Avantgarde als Wechselspiel der Künste begriffen wird, das wiederum eine (lyrische) Reflexion des Filmischen freisetzt. In den frühen Stadtfilmen der zwanziger Jahre geht es folglich in allererster Linie darum, die Sichtbarkeiten des Städtischen überhaupt erst in ihren unterschiedlichen Facetten zu generieren, die Grenzen und Möglichkeiten städtischer Sichtbarkeit durch den Film auszutesten, um auf dieser Basis zugleich diejenigen Grundkonfigurationen der filmischen Stadt zu legen, die auch die folgenden Stadtfilme im 20. Jahrhundert in hohem Maße prägen werden. Im Zuge dieser Grundlegungen der filmischen Stadt wird die Produktion von Sichtbarkeit immer wieder in eine Fabrikation des Städtischen überführt. Denn im Blick auf das Städtische öffnet sich zugleich der Blick auf die Baustellen, auf die Kräne und Bauarbeiter, die insbesondere in den Querschnittsfilmen der Zeit zu einem zentralen, unabdingbaren Bestandteil des Städtischen avancieren. In dieser Fabrikation des Städtischen werden die Metropolen selbst in ihrem räumlichen Umbruch, in ihren Transformationen gezeigt, wovon BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und DER MANN MIT DER KAMERA wiederholt Zeugnis ablegen. Oder aber die Fabrikation des Städtischen wird in Bilder der Asphaltierung der Stadt überführt, wofür der Vorspann von ASPHALT sicherlich das eindrücklichste Beispiel liefert, während wie die Bilder des Dampfes und der rauchenden Maschinen in MANHATTA und TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND das Werdende und sich Verändernde der Städte widerspiegeln. So wird die Produktion von Sichtbarkeit in den frühen Stadtfilmen der zwanziger Jahre wiederholt in die Fabrikation des Städtischen und damit zugleich in den Produktionsprozess der Metropole selbst überführt. Und es ist genau diese Sichtbarmachung ihrer dynamischen Produktion, die dazu führt, dass die Metropole selbst als ein sich immer wieder neu generierendes, transformierendes räumliches Gebilde in Erscheinung tritt, das in seiner Prozesshaftigkeit besonders durch den Film sichtbar gemacht werden kann. 256
V. D A S U N S I C H T B A R E D E R M E T R O P O L E N : FILM NOIR DER VIERZIGER UND FÜNFZIGER JAHRE Der Film noir der vierziger und fünfziger Jahre markiert in der Entwicklung des Stadtfilms ebenso wie in der Entwicklung der Konstruktionsmöglichkeiten des filmischen Raums eine entscheidende Etappe. Denn einerseits beeinflusst das Bild der Noir-Stadt auch die folgenden Konfigurationen der filmischen Stadt auf maßgebliche Weise, ist die weitere Entwicklung der Filmgeschichte des Urbanen ohne die Insignien der Noir-Stadt beinahe undenkbar.1 Dabei wird die Noir-Stadt immer dann als Chiffre des Urbanen aufgerufen, wenn es um die Nachtseite, die Gegenseite, das Dunkle und damit um das Unsichtbare und Unergründliche der (post-)modernen Metropolen geht. Andererseits führt der Film noir jedoch auch die bisher diskutierten räumlichen Relationen und Bewegungslinien der filmischen Metropole zu einer neuen Dichte. Dies bedeutet zugleich, dass der Film noir filmische Topologien ganz eigener Art herausbildet, die sich zwar auf die bisherigen filmischen Topologien in ihren Grundlinien beziehen, ihnen gleichzeitig aber auch eine deutliche Wendung verleihen. Denn der Film noir setzt sie mit seinem Blick auf das Nächtliche, das Unheimliche und das Unsichtbare der Metropolen in einen neuen Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Grundlagen der filmischen Raumkonstruktion noch einmal neu verhandelt werden.
1
Hinsichtlich der Fortscheibung der Noir-Stadt, vgl. etwa die Diskussionen des Wechselverhältnisses zwischen Film noir und Neo-Noir bei Paul Werner: Film noir und Neo-Noir. München: Vertigo 22005; Andrew Spicer differenziert in seiner einflussreichen Monographie zum Film noir hingegen zwischen einem Neo-Noir 1 als ‚Modernist Film Noir‘ und einem Neo-Noir 2 als ‚Postmodernist Film Noir‘; vgl. Spicer, Andrew: Film noir. Harlow u. a.: Pearson 2002, insbes. S. 130-174; vgl. darüber hinaus: Hirsch, Foster: Detours and Lost Highways. A Map of Neo-Noir. New York: Limelight Editions 1999; sowie zuletzt die Betrachtungen von Mark Bould: „Against all Odds. Neo-Noir“, in: ders.: Film noir. From Berlin to Sin City. London: Wallflower 2005, S. 92-107. 257
DAS UNSICHTBARE DER METROPOLEN
Aus diesen ersten Aussagen wird bereits ersichtlich, dass der Film noir – nicht zuletzt in Abgrenzung zur allgemeinen Filmproduktion der vierziger und fünfziger Jahre – durch eine sehr komplexe räumliche und zeitliche Struktur gekennzeichnet ist. So lässt sich in zahlreichen Filmen beobachten, wie sich einzelne Raumebenen überlagern, ergänzen oder auch widersprechen, wodurch multiple räumliche Schichten entstehen. Auch Edward Dimendberg beschreibt in seiner einflussreichen Studie Film noir and the Spaces of Modernity (2004) den Film noir als ein „amalgam of diverse historical and cultural elements, a ‚polyrhythmic and multi-spatial entity‘ [...] or a work of bricolage [...]. Invoking the past while anxiously imagining the future, films noir reveal multiple spatialities, no less than multiple temporalities.“2 Dieses Phänomen einer multiplen Räumlichkeit einerseits und einer multiplen Zeitlichkeit andererseits begründet sich zunächst in der komplexen Entstehungsgeschichte bzw. in den zentralen literarischen und visuellen Einflüssen des Film noir selbst. Denn der Film noir ist von Beginn an von einer Reihe divergenter, andersartiger Erzähltechniken und filmischen Stile durchdrungen, die ihn immer wieder in ‚andere Zeiten‘ und ‚andere Räume‘ versetzen. An diesem Punkt wird der Film noir zugleich für den Entwurf und die Konturierung einer filmischen Topologie interessant, insofern er seine ‚anderen Zeiten‘ und ‚anderen Räume’ in ein hochkomplexes topologisches Geflecht einwebt, dessen unterschiedliche Facetten im Folgenden ergründet werden sollen. Seine literarischen Grundlagen findet der Film noir dabei zuallererst in den sogenannten hard boiled novels, einer Reihe amerikanischer Kriminalromane, die sich bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren aufgrund ihres großen Erfolgs schnell verbreiten.3 Insbesondere die beiden Detektivfiguren Sam Spade und Philip Marlowe werden in den frühen Beispielen des Film noir immer wieder zum Ausgangspunkt genommen, um im Zuge ihrer Ermittlungen die filmische Noir-Stadt erstmals zu vermessen und ihre ‚mean streets‘ zu erkunden.4 Eine literarische Gegenlinie zu diesen hard boiled novels bilden die Gothic Novels des späten 18. Jahrhunderts, die in ihrer morbiden 2 3
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Dimendberg, Edward: Film noir and the Spaces of Modernity. Cambridge, MA: Harvard University Press 2004, S. 3. Ein zentrales Organ der Verbreitung der hard boiled fiction war das seit April 1920 publizierte Magazin Black Mask, in dem u. a. Dashiell Hammett und Raymond Chandler ihre Kurzgeschichten veröffentlichten. Vgl. Nolan, William F.: „Marlowe’s Mean Streets. The Cinematic World of Raymond Chandler“, in: Lee Server u. a. (Hg.): The Big Book of Noir. New York: Caroll & Graf Publishing 1998, S. 27-36; sowie Jameson, Fredric: „The Synoptic Chandler“, in: Joan Copjec (Hg.): Shades of Noir. London/New York: Verso 1993, S. 33-56. 258
EINFÜHRUNG
Atmosphäre und ihren labyrinthischen Settings ebenfalls einen zentralen Einfluss auf den Film noir ausüben, der gerade für die Frühzeit des Film noir nicht zu unterschätzen ist.5 Gegenüber diesen literarischen Einflüssen sind die filmischen Einflüsse auf den Film noir jedoch noch weitaus vielschichtiger und diversifizierter. Im Kernpunkt stehen hier besonders der deutsche Expressionismus, der Weimarer Straßenfilm, der poetische Realismus Frankreichs sowie die frühen amerikanischen Gangsterfilme der dreißiger Jahre, wobei sich der spezifische Noir-Stil gerade aus der vielfältigen Kombination dieser ungleichen visuellen Stile speist.6 Und es ist nicht zuletzt dieser besondere, wieder erkennbare Noir-Stil, der den französischen Filmkritiker Nino Frank im Jahr 1946 dazu führte, diese Kriminalfilme als eine (visuell) homogene Gruppe wahrzunehmen und sie posthum mit der Bezeichnung ‚film noir‘ zu versehen.7 Gerade aufgrund seiner vielfältigen historischen und kulturellen Einflüsse, die den Film noir zu einem ebensolchen Amalgam machen, wie Dimendberg es beschreibt, bleibt der Film noir selbst jedoch letzten Endes ungreifbar. Er entzieht sich immer wieder einer eindeutigen Definition, was Mark Bould zu der weitreichenden Aussage veranlasst: „Film noir, like the femme fatale, is an elusive phenomenon: a projection of desire, always just out of reach.“8 In den unzähligen (filmwissenschaftlichen) Versuchen, den Film noir und seine Besonderheiten dennoch zu greifen, ihn mit klaren Linien und Einflüssen in Zusammenhang zu bringen, wird der Film noir selbst, so führt Bould weiter aus, zu einer hochgradig diskursiven Größe, wird er zum Gegenstand kontinuierlicher Um- und Neudeutungen, die letzten Endes nicht abzuschließen sind: If one accepts that film noir [...] is in an ongoing process of ultimately irresolvable discursive formation, then any generalization one makes about it will
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Vgl. Spicer 2002, S. 10f. Vgl. hierzu die ausführliche Herleitung der visuellen Einflüsse auf den Film noir bei Spicer 2002, S. 11-19. Dabei wählt Nino Frank diese Bezeichnung in Anschluss an die französische Bezeichnung der hard boiled novels: der série noire: vgl. Frank, Nino: „Un nouveau genre ‚policier‘: L’aventure criminelle“, in: L’Écran français 61 (August 1946), S. 8-14. Aufgrund dieser posthumen Definition herrschen bis heute starke Diskussionen darüber, ob der Film noir nun als Genre, als filmische Bewegung oder als lose Ansammlung von Filmen mit einer ähnlichen visuellen Gestaltung gefasst werden soll; vgl. die einflussreiche Genrediskussion bei Paul Schrader: „Notes on Film Noir“, in: Alan Silver; James Ursini: Film Noir Reader. New York: Limelight Editions 1998 [1972], S. 53-63. Bould 2005, S. 13. 259
DAS UNSICHTBARE DER METROPOLEN
founder not only on multiple exceptions but also on other versions of the genre formulated by other discursive agents.9
In seiner Komplexität bleibt das Phänomen Film noir folglich immer ein Stück weit ungreifbar, was sich auch auf seine Konfiguration des urbanen Raums auswirkt. Denn ein Charakteristikum der Noir-Räume liegt gerade darin, sich einer klaren Vermessung zu entziehen: „Because film noir communicates most expressively through its silences, evasions and disavowals, its vision of the noir city resists easy mapping“.10 Im selben Zuge gibt Noir-Stadt dem Unsichtbaren und dem Ungreifbaren der Metropolen, ihren Schattenseiten und Abgründen jedoch auch ein eindrückliches Bild, indem sie – vor allem in den frühen Beispielen – die Stadt auf symbolische Weise verdichtet. Sie formt die Stadt zu einem bedeutungsgeladenen, überdeterminierten Raum, der alle Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten der nächtlichen Stadt in sich bündelt. Demgegenüber setzt sich der Film noir in seinen späteren Beispielen, oder präziser gefasst: im Zuge seiner Wende von den vierziger zu den fünfziger Jahren, in verstärktem Maße mit den gebauten Strukturen derjenigen Metropolen auseinander, die sich vor seinen Augen entfalten und verändern. Dadurch wir er zugleich zu einem Seismographen, der auf sensible Weise die räumlichen Umbrüche, die sich in der Realwelt vollziehen, aufzeichnet oder gar antizipiert. Diese räumlichen Umbrüche artikulieren sich dabei zuallererst in der beständigen Ausweitung der Metropolen in ihren Umraum, in der Entstehung neuer suburbaner Räume bei gleichzeitiger Umwertung der bisherigen Zentren11, die sich im Film noir um 1950 sowohl in das übergreifende Stadtkonzept als auch in die einzelnen Figurenkonstellationen einschreiben. Auf diese Weise wird der Film noir zugleich zum Dokumentaristen eben derjenigen Teilräume der Metropole, die als „forgotten fragments of the city“12 bereits im Verfall begriffen sind und die erst durch den Film zum Teil eines kollektiven visuellen Gedächtnisses werden können, wofür der Stadtteil Bunker Hill in Los Angeles sicherlich das eindrücklichste Beispiel liefert.13 9 10 11
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Bould 2005, S. 50. Krutnik, Frank: „Something More Than Night. Tales of the Noir City“, in: Clarke 1997, S. 83-109, hier S. 84. Vgl. zu den komplexen Prozessen der Suburbanisierung in Amerika etwa die Abhandlungen von Jackson, Kenneth: Crabgrass Frontier. The Suburbanization of the United States. New York: Oxford University Press 1985, sowie Fishman, Robert: Bourgeois Utopias. The Rise and Fall of Suburbia. New York: Basic Books 1987. Dimendberg 2004, S. 10. Der Stadtteil Bunker Hill, der als Inbegriff einer „lost town, shabby town, crook town“ immer wieder zum Schauplatz der Noir-Handlung wurde, 260
EINFÜHRUNG
Nimmt man diese divergenten Linien zusammen, so birgt der Film noir das Potenzial, zugleich zum Symptom und zum Katalysator räumlicher Transformationen zu werden, wie auch Dimendberg ausführt: To approach Film noir as process and product of such negotiations provides a strategy for reading cinema and the built environment as mutually implicated in the construction of common spatial fantasies and anxieties. It recognizes that Film noir can be both a symptom and a catalyst of spatial transformations.14
Auf der einen Seite zeichnet der Film noir also die räumlichen Umbrüche und Transformationen des Städtischen auf präzise Weise auf. Auf der anderen Seite finden sich jedoch auch Beispiele, in denen er sich selbst in seinem filmischen Blick auf die Stadt beobachtet, was zur Folge hat, dass sich die städtische und die filmische Transformation letztendlich überkreuzen. An diesem Punkt öffnet sich zugleich eine Reflexion der NoirStadt, indem die Filme – wie besonders am Beispiel der semi-documentaries herausgearbeitet werden soll – ihre eigene Konstruktion freilegen bzw. den filmischen Transformationsprozess, durch den die Stadt in eine Noir-Stadt umgeformt wird, unmittelbar sichtbar machen. In diesem Kapitel wird der Blick auf die vielschichtigen Räume und Zeiten im Film noir, auf ihre Herausbildung und Transformationen gelenkt, um auf diese Weise ein facettenreicheres und teilweise auch widersprüchlicheres Bild der Noir-Stadt zu gewinnen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund entscheidend, da in Bezug auf die Stadtdarstellung im Film noir, wie auch allgemein im Genre des Kriminalfilms, häufig die These vertreten wird, es handele sich hierbei – in Analogie zu den stark typisierten Figuren von Detektiv, good-bad-girl und Femme fatale15 – um eine hochgradig standardisierte Darstellung, die jede Stadt zu einer eigenschaftslosen Stadt, zu einer Stadt des immer Gleichen werden lasse: Der Foliencharakter der Großstadt wird besonders deutlich in den stadttypischen Genre-Filmen, wie den Kriminal-, Detektiv-, Gangster-, Mafia- und Polizeifilmen. Sie sind ohne großstädtischen Hintergrund undenkbar, porträtieren
14 15
fiel ab 1955 dem groß angelegten Bunker Hill Redevelopment Project zum Opfer; vgl. Davis, Mike: „Bunker Hill. Hollywood’s Dark Shadow“, in: Shiel/Fitzmaurice 2001, S. 33-45, hier S. 43f.; auch Thom Andersen geht in seinem Meta-Film LOS ANGELES PLAYS ITSELF (2003) auf diesen zentralen Schauplatz des Film noir ein; vgl. Kap. VII. Dimendberg 2004, S. 12. Die wohl umfassendste und vielschichtigste Arbeit zu den Frauenfiguren im Film noir hat E. Ann Kaplan vorgelegt; vgl. Kaplan, E. Ann (Hg.): Women in Film noir. London: BFI 1998; zu den Typisierungen der klassischen Figuren, vgl. auch Spicer 2002 S. 84-104. 261
DAS UNSICHTBARE DER METROPOLEN
durchaus auch Städte, aber auf eine Art, nach der sich die Orte am Ende alle ähnlich sehen.16
Diese Vereinheitlichung der topographischen Vorlagen, die Georg Seeßlen als ‚Metaphysik‘ des Genres bezeichnet, lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass die genretypischen Aufnahmen, wie etwa die Aufnahmen in geschlossenen Räumen, in Bars, in Gangsterverstecken und Polizeirevieren, auf nächtlichen Straßen und Hinterhöfen, kaum Variationsmöglichkeiten lassen, weil sich derartige Örtlichkeiten von Stadt zu Stadt kaum unterscheiden.17 Auch die Noir-Stadt wird, selbst in den zentralen, einschlägigen Arbeiten zum Film noir, allzu oft auf einzelne visuelle Chiffren reduziert: auf die regennassen Straßen bei Nacht, den glänzenden Asphalt, die leuchtenden Neonreklamen, die zwielichtigen Bars und Hinterhöfe, in denen sich die Verbrecher dieser Welt sammeln, wobei sich die Noir-Elemente in jede gegebene Stadt einzeichnen können. Demgegenüber soll in diesem Kapitel der Versuch unternommen werden, dieses scheinbar feste, klar definierte Bild der Noir-Stadt aufzulösen, ihre Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit aufzuzeigen. Die Neubewertung der Noir-Stadt vollzieht sich auf drei unterschiedlichen, aber dennoch eng miteinander zusammenhängenden Linien, die zugleich auf die drei filmischen Topologien dieses Kapitels verweisen. Als erste Linie der Neubewertung ist der Typus des semi-documentary anzuführen, in dem eine sehr differenzierte Auseinandersetzung mit den spezifischen Strukturen und Teilräumen der Stadt zu verzeichnen ist, worauf in Bezug auf die Entstehung von Netztopologien im Film noir näher eingegangen wird. So referiert etwa CALL NORTHSIDE 777 (Henry Hathaway, 1948) unmittelbar in seiner Einleitungssequenz auf die spezifische Stadtstruktur Chicagos, indem der Off-Erzähler rückblickend den großen Stadtbrand des Jahres 1871 mit den Worten reflektiert: „Aus den Trümmern entstand ein Chicago aus Stahl und Beton“, während die Kamera, hoch schwebend über der Stadt, das aktuelle Ergebnis dieser Neuschaffung dokumentiert. Auch im weiteren Verlauf des Films zeigt sich das unbedingte Bestreben, die einzelnen Teilräume der Stadt zu jedem Zeitpunkt innerhalb der städtischen Topographie situierbar zu machen, sie also jeweils unter Angabe ihrer genauen Position und Beschilderung innerhalb des städtischen Geflechtes eindeutig zu verorten. Demgegenüber bezeichnet THE NAKED CITY (Jules Dassin, 1948) insofern eine Steigerung, als sich hier die Handlung nicht allein an klar zu verortenden, sondern vielmehr an charakteristischen, bedeutungsgeladenen 16 17
Majchzrak 1989, S. 30. Vgl. Seeßlen, Georg: Mord im Kino. Geschichte und Mythologie des Detektiv-Films. Reinbek: Rowohlt 1981, S. 272. 262
EINFÜHRUNG
und wieder erkennbaren Orten New Yorks abspielt. Weit davon entfernt, lediglich nicht näher bestimmbare Straßenecken, dunkle Gassen und kulissenhafte Hochhaussilhouetten zu zeigen, wird bereits zu Beginn die besondere bauliche Struktur New Yorks genau beschrieben und aus einer Luftperspektive heraus gefilmt. Auch im weiteren Verlauf dieses Films zeigt sich eine permanente Reflexion der einzelnen Stadtteile und ihrer Bauten – wie etwa Chelsea oder die Lower East Side –, während die finale, spektakuläre Flucht des Mörders auf der Williamsburg Bridge stattfindet, stets mit Blick auf die imposante Stadtkulisse Manhattans. Eine zweite Linie der Neubewertung soll in Zusammenhang mit der Bewegungserzeugung in der Noir-Stadt eingeführt werden. Denn es ist gerade ein Charakteristikum der späten Beispiele des Film noir, die Metropole durch umfassende Bewegungsabläufe grundlegend zu dynamisieren und auszuweiten, worauf in Zusammenhang mit den Topologien des Transfers näher eingegangen wird. So zeigt sich etwa in THE KILLERS (Robert Siodmak, 1946) der kontinuierliche Weg des Versicherungsvertreters Jim Reardon in unterschiedlichen Stationen quer durch das Land: Schritt für Schritt, Ort für Ort, versucht er, die Umstände des Mordes an einem schwedischen Boxer zu ergründen, wobei die daraus resultierende, von zahlreichen Rückblenden durchsetzte Erzählstruktur in vielerlei Hinsicht an CITIZEN KANE (Orson Welles, 1941) erinnert.18 In GUN CRAZY (Joseph H. Lewis, 1950) hingegen finden sich zwei unterschiedliche Arten der Bewegung durch das Land. Denn einerseits ist die Bewegung dem Gaunerpaar unmittelbar eingeschrieben, indem sie als Schießkünstler mit einem Jahrmarkt quer durch das Land reisen. Andererseits verschiebt sich ihre reisende Bewegung jedoch nach dem ersten Raubüberfall immer mehr zu einer permanenten Flucht, bei der ihnen die Polizei stets dicht auf den Fersen ist. Die ausgreifende und beschleunigte Bewegung wird hier zum entscheidenden Merkmal der Raumkonstruktion. Die signifikante Ausweitung der Metropolen im Film noir begründet sich folglich darin, dass die Metropolen zunehmend von Bewegungen durchdrungen sind und darüber hinaus durch eine übergreifende Bewegung miteinander verbunden werden. Auf diese Weise vollzieht sich zugleich ein Wechsel von der zentripetalen, vertikalen und verdichteten Metropole, die besonders den frühen Beispielen des Film noir eingeschrieben ist, hin zu einer zentrifugalen, ausgedehnten und von Leerstellen durchsetzten Metropole, welche die späten Beispiele prägt. Auch Edward Dimendberg bringt diesen räumlichen Umbruch und seine hohe 18
Auf die unterschiedlichen Erzähltechniken und narrativen Strategien im Film noir hat insbesondere J. P. Telotte hingewiesen; vgl. Telotte, J. P.: Voices in the Dark. The Narrative Patterns of Film Noir. Urbana: University of Illinois Press 1989. 263
DAS UNSICHTBARE DER METROPOLEN
Bedeutung für die Entwicklung des Film noir auf den Punkt, wenn er äußert: „The historical coincidence of film noir with the eclipse of the concentrated ‚centripetal‘ urban space in the American metropolis constitutes one key strand of this dynamic. New modalities of dispersed ‚centrifugal space‘ constitute the other.“19 Seinen unmittelbaren bildlichen Ausdruck findet dieser räumliche Umbruch in dem verstärkten Auftreten sogenannter Nicht-Orte, wie Marc Augé sie beschreibt, die in ihrer Ausrichtung auf das Flüchtige, das Ephemere und das Momenthafte das verdichtete städtische Geflecht zunehmend zersetzen und sich als genuine Orte des Übergangs in die filmische Raumkonstruktion einschreiben.20 Aus diesen ersten Ausführungen lässt sich bereits herauslesen, dass die filmische Metropole innerhalb der einzelnen Phasen des Film noir, die Andrew Spicer als Experimental Period (1940-43), Studio-Expressionism (1944-47), Location Period (1947-52) und Fragmentation and Decay (1952-58) bezeichnet hat, stets unterschiedliche Gesichter und Formen annimmt.21 Was diese unterschiedlichen Konfigurationen der filmischen Metropole jedoch wiederum vereint, ist die Tatsache, dass die Metropole jeweils zum zentralen Referenzpunkt wird und zugleich den Horizont des Geschehens markiert. Dies wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass eine sehr große Anzahl von Filmen bereits im Titel auf die Stadt verweist, man denke etwa an THE NAKED CITY, DARK CITY, CRY OF THE CITY und WHILE THE CITY SLEEPS. Die Metropole ist damit keineswegs, und dies lässt sich als dritte Linie der Neubewertung anführen, allein ein Schauplatz des Verbrechens und damit nicht nur ein physischer, materieller Raum, in dem sich das Verbrechen abspielt, sondern ebenso eine hochgradig symbolische Metapher für eben dieses Verbrechen und zugleich für die Schattenseiten der Gesellschaft: Großstadt und Nacht im Film noir – als konkreter wie als symbolischer Raum: Beides erscheint stets voller Verlockungen und voller Gefahren. Die Großstadt mit ihren düsteren, verwinkelten Gegenden, ihrem massenhaften Gemisch und ihrem hektischen Treiben wirkt wie die Wiege für alles Unheil dieser Welt.22
Die Noir-Stadt ist durch eine fundamentale Ambivalenz gekennzeichnet, die sich bis in die kleinsten Details der Gestaltungsmittel des Film noir einschreibt. Denn so, wie zahlreiche Figuren doppeldeutig und widersprüchlich 19 20
21 22
Dimendberg 2004, S. 6. Zur grundlegenden Definition der ‚Nicht-Orte‘ der Übermoderne vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/M: Fischer 1994, S. 92-94. Vgl. zu den Phasen des ‚Noir-Style‘ insbes. Spicer 2002, S. 49-63. Grob, Norbert: „Labyrinthe in Schwarz. Dschungel Großstadt und Film noir“, in: Schenk 1999, S. 132-145, hier S. 132. 264
EINFÜHRUNG
angelegt sind, wie die Narrationsmuster zwischen einem objektiven, dokumentarischen Gestus und radikal subjektiven Erzählmethoden changieren, so weist auch die Noir-Stadt selbst eine grundlegende Ambivalenz auf: „The noir city has a fundamental ambivalence, dangerous, violent, squalid and corrupt but also exciting and sophisticated, the place of opportunity and conspicuous consumption.“23 Die Noir-Stadt ist in ein permanentes Spannungsverhältnis eingebunden und bildet damit polare Topologien heraus, die sich zwischen einer objektiven, aufklärenden, modernen Welt und einer radikal subjektiven, expressionistischen, hoch symbolischen ‚anderen‘ Welt bewegen. Die Noir-Stadt hat zwei Gesichter, die einander gänzlich entgegengesetzt, gleichzeitig aber auch auf das Engste miteinander verschränkt sind. Und so äußert sich diese Ambivalenz selbst in den semi-documentaries als Mischformen zwischen Dokumentation und Fiktion, die ein nur scheinbar ‚authentisches‘ Bild der Stadt zeichnen, wie auch Frank Krutnik herausstellt: Haunted by the overpresence of the unconscious, the streets of the noir city are often curiously empty – the public, social world overwhelmed by privatized traumas. The enclosedness and interiority that were vital to the atmosphere of Hollywood’s dark city were intensified by the practice of studio filming; even during the postwar vogue for location shooting, the display of ‚authentic‘ city spaces in urban crime thrillers tend to be combined with the chiaroscuro styling of noir studio productions.24
So lässt sich festhalten, dass das Verhältnis von Metropole und Film noir weitaus komplexer und zugleich widersprüchlicher angelegt ist, als dies gemeinhin behauptet wird. Sei es als Schauplatz des Geschehens oder als allgemeine Metapher, stets bildet die Metropole den zentralen Bezugspunkt, über den sich die spezifisch filmischen Raumstrukturen erschließen lassen. Hierbei reicht das Spektrum von einer differenzierten Auseinandersetzung mit den materiellen und sozialen Strukturen einzelner Metropolen, in die sich auch realräumliche Veränderungen einschreiben, bis hin zu einer Reflexion der Rolle der Metropole in diesem Geschehen und damit zugleich der filmischen Konstruktion der Noir-Stadt. Um diese räumlichen Komplexitäten und Transformationen im Film noir im Verlauf der vierziger und fünfziger Jahre einzufangen, sollen im Folgenden – und in engem Austausch mit den im vierten Kapitel erarbeiteten Thesen zum frühen Stadtfilm – eine Reihe von Raumrelationen herausgearbeitet werden, die den einzelnen filmischen Topologien zugrunde liegen, um dadurch zugleich einen neuen, modifizierten Blick auf den Film noir zu gewinnen. Auch Edward Dimendberg betont die 23 24
Spicer 2002, S. 67. Krutnik 1997, S. 91f. 265
DAS UNSICHTBARE DER METROPOLEN
Relevanz und zugleich das Potenzial einer Betrachtung der besonderen räumlichen Relationen, die der Film noir herausbildet, wenn er äußert: By refusing sharp distinctions between figure and ground, content and context, the analysis of spatial relations in the film noir cycle may help to redefine it as an object of inquiry and to profile features overlooked by the genre or mise-enscène criticism through which film noir has commonly been studied.25
Um diesen Raumrelationen näher auf den Grund zu gehen, schlägt Dimendberg eine dreifache Aufschlüsselung des Raumbegriffs vor, die unmittelbar auf Henri Lefèbvres triadisches Raummodell zurückgeht. Denn auf diese Weise, so Dimendberg, lässt sich innerhalb der Betrachtung der Raumkonstruktion von den materiellen, architektonischen Formen der Noir-Stadt zum dreigliedrigen Modell der räumlichen Praxis, den Räumen der Repräsentation und den Repräsentationen des Raums übergehen, durch das es möglich wird, die einzelnen räumlichen Facetten des Film noir zu drei unterschiedlichen Raumlogiken zu verdichten: These include characteristic architectural forms (skyscrapers, mass transportation facilities, public landmarks, residential neighborhoods), spatial practices (crowd movements, police surveillance, strolls and routines), spaces of representation (darkness, skylines, landmarks, cityscapes), and representations of space (the urban core, the grid, maps, photographs).26
Diese an Lefèbvre angelehnte Aufschlüsselung unterschiedlicher Sinnordnungen des Raums vermag der räumlichen Komplexität im Film noir bis zu einem hohen Grad Rechnung zu tragen. Dennoch soll an diesem Punkt ein anderer Weg eingeschlagen und die Thesen zur Raumkonstruktion im Film noir vielmehr zu drei filmischen Topologien verdichtet werden. Denn erst dadurch wird es möglich, den Blick auf die filmischen Transformationen des Raums, auf die Wechselspiele zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie und auf die Reflexionen eben dieser Konstruktion zu öffnen. Gemeinsam ist allen drei Topologien, dass sie die topologischen Grundstrukturen des frühen Stadtfilms aufnehmen, diese jedoch in einen veränderten Kontext einbetten, den nun nicht mehr die Produktion von Sichtbarkeit, sondern vielmehr das ‚Andere‘ der Metropolen, ihre Schatten- und Gegenseiten und damit nicht zuletzt das Untergründige und Unergründliche der Noir-Stadt bilden. Die erste Form der filmischen Raumkonstruktion bezeichnen die polaren Topologien im Film noir, die als zentralste und grundlegendste Figur im Film noir überhaupt zu werten sind. Denn hier bildet sich die 25 26
Dimendberg 2004, S. 7-8. Ebd., S. 108. 266
EINFÜHRUNG
Metropole aus einer dialektischen, einer polaren Raumstruktur heraus; sie speist sich aus dem permanenten Aufziehen von Gegensätzen, zwischen denen sich starke Spannungen entfalten. Vor diesem Hintergrund weisen die polaren Topologien in vielerlei Hinsicht auf die Topologien der Ambivalenz des frühen Stadtfilms zurück. Gleichzeitig markieren sie gegenüber dieser Raumstruktur jedoch auch eine Differenz, insofern sie die räumlichen Relationen nicht mehr als zwei Gegensätzlichkeiten konfigurieren, um sie dann, in einem zweiten Schritt, wiederum auf das Engste miteinander zu verstricken. Im Gegenteil: Ihre Besonderheit begründet sich gerade darin, dass sie die Polaritäten von Licht und Schatten, von Innen und Außen, von Realem und Imaginärem, immer wieder in ein und demselben Bild verdichten und somit ihre Ununterscheidbarkeit herausstellen. Das Metropolenkonzept, das damit korrespondiert, ist folglich in hohem Maße durch eine räumliche Geschlossenheit gekennzeichnet. Denn die vertikalen Strukturen, die Hochhäuser und funkelnden Lichter der Stadt verweisen in ihrer Verdichtung auf kein Außen, das nicht selbst wiederum in eine (innere) Polarität überführt werden könnte. Die zweite Facette der filmischen Raumkonstruktion bezeichnen die Topologien des Transfers im Film noir, die in unmittelbarem Austausch mit den Bewegungstopologien des frühen Stadtfilms stehen, sie gleichzeitig jedoch auch weiter auszudifferenzieren. Denn hier werden die Bewegungen innerhalb der Stadt immer ausgreifender und ausgiebiger. Oftmals sieht man die Detektive durch die Straßen der Stadt laufen, unermüdlich auf der Suche nach weiteren Indizien im Mordfall, während im Zuge dieser permanenten Passage die vertikale Struktur der Metropolen schrittweise aufgelöst wird. Diese Entgrenzung der vertikalen Struktur und das Ausgreifen der Metropolen in ihren Umraum gewinnen dann, in den späteren Beispielen des Film noir, eine neue Gewichtung, indem sich mit dieser Verlagerung zugleich die Figurenanlage und die Selektion derjenigen Orte, an denen das Verbrechen vollzogen wird, grundlegend verändern. Die Topologien des Transfers lassen sich jedoch auch noch in einem anderen, abstrakten Sinne ausdeuten, womit die schrittweise Verlagerung einzelner räumlicher Versatzstücke der Noir-Stadt in den ländlichen Umraum gemeint ist, die zugleich eine Reflexion des Film noir und seiner verdichteten, räumlichen Elemente in Gang setzt. Diese filmische Reflexion wird dann insbesondere in Zusammenhang mit der dritten Facette der Raumkonstruktion, den Netztopologien im Film noir, virulent. Denn einerseits sind die semi-documentaries, die im Zentrum dieses dritten Teilkapitels stehen, durch ein Stadtkonzept gekennzeichnet, das die einzelnen Teilräume der Stadt durch den Einsatz unterschiedlichster Medien auf das Engste verzahnt, wodurch hier zunächst die Utopie von Beherrschbarkeit und Kontrolle im Vordergrund
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DAS UNSICHTBARE DER METROPOLEN
steht. Dennoch bezeichnet die umfassende mediale Verschaltung der Metropole nur eine Seite der Medaille der semi-documentaries. Denn gleichzeitig zeigen sie sich auch – punktuell und oftmals erst auf den zweiten Blick erkennbar – von hochgradig symbolischen, polaren Räumen durchdrungen. Mehr noch: Insbesondere am Beispiel von THE NAKED CITY soll aufgezeigt werden, auf welch subtile Weise durch das Aufrufen gerade derjenigen verdichteten Noir-Räume, die der Film noir in seiner Entwicklung eigentlich bereits weitgehend überschritten bzw. in Zusammenhang mit der verstärkten Herausbildung von Bewegungsfiguren hinter sich gelassen hat, wiederum einer filmischen Reflexion unterzogen werden. Einer Reflexion jedoch, die sich im Freilegen eben derjenigen Konstruktionsmechanismen artikuliert, die das andere Gesicht, die Schattenseiten und das Unsichtbare der Metropolen betreffen. An diesen drei filmischen Topologien wird bereits deutlich, dass ihnen ein anderer, modifizierter Blick auf die filmische Metropole zugrunde liegt als den frühen Stadtfilmen der zwanziger Jahre. Denn hier arbeiten sich die Filme nicht mehr, zumindest nicht mehr in vergleichbarem Maße, an der grundlegenden Konstitution der filmischen Metropole ab, die in den frühen Stadtfilmen in vielerlei Hinsicht erstmals vermessen, ergründet und bildlich verdichtet wird. Im Gegenteil: Die bereits mehrfach erwähnte Relationalität des Film noir begründet sich gerade darin, dass sich die einzelnen Filme kontinuierlich auf ein reflexives, selbstbezügliches Wechselspiel einlassen – auf ein Wechselspiel, das nun nicht mehr im Rahmen einer Mediendifferenz erfolgt, in denen der Film gegen andere Medien und Künste, wie etwa die Fotografie, die Grafik, die Lyrik und die Musik, ausgespielt bzw. zu einer Synthese gebracht wird. Im Gegenteil wird im Film noir ein Wechselspiel in Gang gesetzt, das nun auf nichts weniger als die eigene (Film-)Geschichte und auf die eigene Konstruktion als Film noir abzielt. Denn der Film noir findet seine ‚anderen Räume‘ und ‚anderen Zeiten‘ einerseits in engem Austausch mit früheren literarischen und filmischen Bewegungen, die in ihrer ‚Ungleichzeitigkeit‘ ganz neue Raumgebilde entstehen lassen. Andererseits findet der Film noir diese multiplen Räume und Zeiten jedoch auch innerhalb seiner eigenen Zeitspanne und damit in engem Austausch mit den vorherigen Konfigurationen der Noir-Stadt selbst. So bezeichnet der Film noir innerhalb der übergreifenden Entwicklungslinie der filmischen Metropole im 20. Jahrhundert von Beginn an eine hochgradig selbstbezügliche Phase. Und es ist genau dieses Wechselspiel zwischen einem inneren filmischen Austauschprozess und einem schrittweisen Fremdwerden gegenüber sich selbst, durch den der Film noir das Unergründliche, das Ungesagte und das Unsichtbare der Metropolen freilegt.
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Polare Topologien: Die Verschränkung des Gegensätzlichen Polare Topologien bezeichnen in vielerlei Hinsicht eine charakteristische Raumstruktur im Bereich des Film noir, die entscheidend für das Verständnis seiner komplexen räumlichen Anlage ist. Denn unter dem Begriff der polaren Topologien wird eine Form der Raumgestaltung verstanden, bei der sich ein bestimmtes Element immer zugleich auf sein Gegenstück bezieht, bei der eine bestimmte Raumkonfiguration also immer nur in Bezug auf ihr Gegenteil gelesen werden kann, das gleichermaßen in ihr selbst enthalten ist. Als ‚polar‘ werden Elemente bezeichnet, folgt man der allgemeinen Definition, die ‚gegensätzlich bei gleichzeitiger Zusammengehörigkeit‘ sind. Im Film noir werden diese an sich nicht vereinbaren Gegensätze nun, und genau hierin artikuliert sich sein zutiefst topologisches Moment, in ein und demselben Bild integriert, was zur Folge hat, dass wiederholt hochgradig spannungsvolle und widersprüchliche Räume entstehen, die zugleich das Potenzial haben, an die Grenzen des Raums zu stoßen bzw. diesen durch die Ununterscheidbarkeiten ihrer divergierenden Elemente zu transzendieren. Im Film noir werden Räume erschaffen, die Gegensätze und Kontraste herausbilden, die dennoch gemeinsamen Ursprungs sind. Insbesondere im frühen Film noir lässt sich der Raum allein aus der permanenten Setzung von Gegensätzen, von Tag und Nacht, von Licht und Schatten, von Weiß und Schwarz, begreifen. Erst aus diesen Gegensätzen heraus entwickelt sich die spezifische Noir-Ästhetik, die in ihrer Doppelbödigkeit unmittelbar auf die fundamentale Ambivalenz der Metropole verweist. Diesem polaren Wechselspiel der Gegensätzlichkeiten als zentralem Modus der Raumkonstruktion soll in diesem Teilkapitel nachgegangen werden. Dabei werden drei unterschiedliche Polaritäten im frühen Film noir herausgearbeitet, in denen sich das Doppelbödige und das Ambivalente des Film noir auf besondere Weise verdichten: Licht und Schatten, Innen und Außen, Reales und Imaginäres. In Zusammenhang mit dem ersten Gegensatzpaar von Licht und Schatten ist es vor allem die besondere Art der Lichtführung im Film noir, das sogenannte low-key lighting, das einen polaren Raum aus Licht und Schatten entstehen lässt. Denn hierdurch werden irreale Raumeindrücke und Verzerrungen der Figuren erzeugt, die sich deutlich von der möglichst gleichmäßigen Ausleuchtung des Geschehens bzw. der naturalistischen Lichtgestaltung (high-key oder glamour lighting) der klassischen Hollywood-Produktionen abgrenzen: Der Film noir bricht radikal mit jeder naturalistischen Beleuchtungsweise und plaziert seine Lichtquellen an ‚unmöglichen‘ Stellen: Alleiniges Seitenlicht läßt 269
POLARE TOPOLOGIEN IM FILM NOIR
die Gesichter der Personen im Schatten und hebt nur eine Augenpartie hervor; extremes Unterlicht gibt den Gesichtern ein dämonisches, unheilvolles Aussehen; manchmal sind nur die Schattenbilder zu sehen oder diese werden mit Hilfe starken Gegenlichts zu Silhouetten.27
Ihr Vorbild findet diese Setzung von Licht und Schatten in der Lichtdramaturgie des filmischen Expressionismus der zwanziger Jahre28, in dem das gesamte Spektrum von Licht und Schatten in seinen unterschiedlichen Abstufungen durchgespielt wird. Dabei ist entscheidend, wie Gilles Deleuze ausführt, dass Licht und Schatten einen ‚unendlichen Gegensatz‘ beschreiben, denn „das Licht wäre nichts – wenigstens nichts, was in Erscheinung träte – ohne das Dunkel, dem es sich widersetzt und das es sichtbar werden läßt.“29 Licht und Schatten treten folglich als zwei Intensitäten in Erscheinung, die einander erhellen und verdunkeln und zugleich in einem unendlichen Kampf miteinander begriffen sind. Auch im Film noir werden Licht und Schatten gegeneinander ausgespielt und miteinander kombiniert. Dennoch geht die Bezugnahme auf die Licht-Schatten-Dramaturgie des filmischen Expressionismus nicht allein darin auf, ein filmästhetisches Mittel in seiner gestalterischen Bandbreite aufzugreifen. Vielmehr geht es darum, eine bestimmte Atmosphäre des Unheimlichen und des Verbrechens zu kreieren, die im „nicht-organischen Leben der Dinge“30 und in der Ununterscheidbarkeit der Verhältnisse ihren Kernpunkt findet.31 Mehr noch: Der polare Raum, der sich zwischen Licht und Schatten aufspannt, überträgt sich in seiner Doppelbödigkeit und Unentscheidbarkeit auch auf die Figuren selbst:
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Werner, Paul: Film noir. Die Schattenspiele der ‚schwarzen Serie‘. Frankfurt/M: Fischer 1985, S. 91f.; zur Lichtsetzung im Film noir zwischen ‚Sunshine‘ und ‚Shadow‘ vgl. auch Ford 1994, bes. S. 121-125. Dennoch gehen die Bezüge zwischen dem Film noir und dem filmischen Expressionismus weit über Fragen der Lichtführung hinaus, wie die Beiträge des Sammelbands Schatten. Exil (1997) verdeutlichen. Das Filmexil deutscher Regisseure und der amerikanische Film noir werden hierin als zwei sich ineinander spiegelnde Momente begriffen, die weniger kausalen Gesetzen folgen als vielmehr „Zeitschleifen“ markieren; vgl. Cargnelli, Christian; Omasta, Michael (Hg.): Schatten. Exil. Europäische Emigranten im Film noir. Wien: PVS-Verleger 1997, S. 19. Deleuze 1997a, S. 75. Ebd., S. 77. In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf die hohe symbolische Wirkung einzelner Details und ‚tückischer Objekte‘ im Film noir verweisen, denn durch „den exzessiven Gebrauch von ‚belebten Objekten‘ wird eine klaustrophobische Atmosphäre erzeugt“; vgl. Weihsmann 1988, S. 14. 270
DIE VERSCHRÄNKUNG DES GEGENSÄTZLICHEN
Die noir-Stadt mit ihren harten Licht-/Schattenkontrasten und den schäbigen Straßen, oft nur scheinbar erhellt durch blinkendes Neon, unterstreicht unentwegt, wie sehr der Held in Zusammenhänge verstrickt ist, die er weder beherrscht noch durchschaut. Sie betont das Konfuse, Verlorene, Deformierte der Situation und weist zugleich auf das Doppelbödige der Erzählung.32
Insbesondere die Figur des Detektivs ist – ganz im Gegensatz zur klassischen Detektivfigur des objektiven Aufklärers – Teil dieser zwielichtigen Welt aus Licht und Schatten, indem er durch die anziehende und zugleich gefährliche Figur der Femme fatale in das Verbrechen hineingezogen wird. Auch der Typus des good-bad-girl steht an der Schnittstelle dieses polaren Raums und versinnbildlicht gerade die Unentscheidbarkeit und grundsätzliche Zusammengehörigkeit des Gegensätzlichen. Im Film noir wird durch die spezifische Lichtdramaturgie ein Raum aufgespannt, in dem einige Elemente erhellt und exponiert sind, andere hingegen vollkommen im Dunkeln gelassen werden. Und es sind gerade die Schattenbildungen, die das harte Licht auf die Wände projiziert, die eine ganz eigene Rolle spielen, die gleichsam einen Kommentar des Geschehens bilden und darauf verweisen, dass alles auch ganz anders sein könnte.
Abb. 20: Harte Licht-Schatten-Kontraste in PHANTOM LADY (1944), SLEEP, MY LOVE (1948) und SCARLET STREET (1945)
Dennoch kann die Polarität von Licht und Schatten auch eine ganz bestimmte dramaturgische Funktion erfüllen, wie sich am Beispiel von PHANTOM LADY (Robert Siodmak, 1944) verdeutlichen lässt. Die Handlung dieses Films ist in New York angesiedelt, inszeniert als nächtliche, durch und durch anonyme Metropole, in der sich die Spuren, denen Carol Richman folgt, um ihren Chef Scott Henderson vom Verdacht des Mordes an seiner Frau zu befreien, immer wieder verflüchtigen und sich jeder potenzielle Zeuge wie in Luft aufzulösen scheint. Im Kontrast zum nächtlichen, in Graustufen verschwimmenden New York steht nun die Gefängniszelle Hendersons, in der Carol ihren Chef immer wieder aufsucht, um ihm vom Fortgang der Ermittlungen zu berichten. In dieser Gefängniszelle verdichten sich die vielschichtigen Licht-Schatten-Spiele dieses Films, wobei entscheidend ist, dass genau in dem Maße, in dem 32
Grob 1999, S. 139. 271
POLARE TOPOLOGIEN IM FILM NOIR
der Fall immer verworrener und die Aufklärungsversuche Carols immer aussichtloser werden, der Anteil des Schattens am Licht immer größer wird. So werden auch die Figuren in diesem Raum – als alles verloren scheint – nur noch als Silhouetten sichtbar und zugleich in einen hochgradig stilisierten, polaren Raum aus Licht und Schatten überführt, der von der Außenwelt gänzlich abgekoppelt zu sein scheint. Eng damit verbunden ist das zweite Gegensatzpaar, das sich in die Raumkonstruktionen des Film noir einschreibt: Innen und Außen. Bereits in Zusammenhang mit dem frühen Stadtfilm wurde auf das mehrschichtige Verhältnis von Innen und Außen hingewiesen, das sich in zwei unterschiedliche Richtungen ausdifferenzieren lässt: in den (privaten) Innenraum und den (öffentlichen) Außenraum, in (innere) Figur und (äußere) Stadt. Auch im Film noir ist das Innen-Außen-Verhältnis durch einen derartigen doppelten Bezug charakterisiert. Er entwickelt diesen doppelten Bezug und seine Polaritäten jedoch vor allem an den Schnittstellen und Übergängen zwischen Innen und Außen, die sich zu zwei zentralen Motiven verdichten: dem Fensterausblick und dem Jalousienmotiv. Der Fensterausblick ist ein sehr zentraler visueller Topos des Film noir, in dem sich die nächtliche Großstadt, glitzernd und funkelnd mit ihren Leuchtreklamen und Verheißungen, entfaltet. Zumeist hinter dem Rücken des Detektivs situiert, schwingt sie in jedem einzelnen Bild mit und verweist dadurch permanent auf sich selbst bzw. auf die zentrale Rolle, die sie in diesem Geschehen spielt. Die Leuchtreklamen verheißen Vergnügungen und ein Glück auf kurze Zeit, stehen jedoch zugleich auch für die Schattenseiten der Metropolen, für das Verbrechen, das an eben diesen Orten lauert. In welchem Maße der Fensterausblick als Chiffre des Verbrechens und der Noir-Stadt mit allen ihren Ambivalenzen eingesetzt wird, zeigt sich bereits in THE MALTESE FALCON (John Huston, 1941), der oftmals als erstes zentrales Beispiel des Film noir angeführt wird.33 Denn hier ist die Noir-Stadt mit ihren Hochhauskulissen und Leuchtreklamen hinter dem Rücken Sam Spades stets präsent – bei Tag und bei Nacht, als bedrohliches und zugleich faszinierendes Gebilde, das durch das Fenster immer wieder in das Detektivbüro eindringt.
Abb. 21: Lichter der Großstadt im Fenster des Detektivs in THE MALTESE FALCON (1941)
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Oftmals werden jedoch auch STRANGER ON THE THIRD FLOOR (Ingster, 1940) und REBECCA (Hitchcock, 1940) als erste Beispiele bzw. als Vorbedingungen des Film noir genannt; vgl. Spicer 2002, S. 49-52. 272
DIE VERSCHRÄNKUNG DES GEGENSÄTZLICHEN
In THE NAKED CITY (Jules Dassin, 1948) zeigt sich nun eine noch differenziertere Umsetzung dieses Bildmotivs. Denn hier wird der Ausblick auf den Außenraum nicht allein an ein bestimmtes Fenster gekoppelt und erschöpft sich auch nicht darin, die funkelnden Lichter der Großstadt in ihrer Doppelbödigkeit zu inszenieren. Im Gegenteil: In diesem Film zeigen sich drei sehr unterschiedliche Ausblicke auf die Metropole, die zur präzisen Charakterisierung des Geschehens und der darin involvierten Figuren beitragen. Dabei ist zunächst die imposante Stadtkulisse vor dem Fenster der Arztpraxis Dr. Stonemans im Chaffee Building zu nennen, die in ihrer Höhe und ihrer panoramischen Weite nicht allein auf die soziale Position des Arztes in der New Yorker Upper Class verweist, sondern in ihrer Distanz von der Stadt unmittelbar einen Außenblick, eine Reflexion von Seiten des Ermittlers Jimmy Halloran hervorruft. Der zweite Fensterausblick, der sich aus dem Office von Lieutenant Muldoon eröffnet, zeigt hingegen keine überhöhte, sich auf imposante Weise ausbreitende Großstadt, sondern einen sehr realistischen Anblick der Gebäude in New Yorks Stadtteil Chelsea, die in der Einleitung als „rather shabby buildings in a rather shabby street“ beschrieben werden. In diesem nüchternen Anblick ist die Metropole nah, konkret und dicht, die Fassaden der gegenüberliegenden Gebäude sind durch Balken klar strukturiert und werden zum zentralen Bestandteil der bildlichen Gestaltung. Die Metropole ist hier immer präsent, klar umrissen, fast greifbar, was nicht zuletzt daran liegt, dass das Fenster zumeist halb geöffnet ist und somit die Geräusche der Stadt, wie etwa die Stimmen der spielenden Kinder auf der Straße, vollkommen ungefiltert eindringen.
Abb. 22: Fensterausblicke der Arztpraxis, der Polizeistation und der Wohnung der Ermordeten in THE NAKED CITY (1948)
Während die ersten beiden Fensterausblicke in THE NAKED CITY die Großstadt also unmittelbar sichtbar machen, so ist der Ausblick aus dem Fenster im Apartment des Modells Jean Dexter durch einen dünnen, fast durchsichtigen Vorhang verschleiert. Auch hier wird die Noir-Stadt in das Bild integriert und schwingt permanent in dem Geschehen mit; dennoch zieht der Schleier hier eine Distanz zwischen dem Geschehen und der Außenwelt ein und verweist dadurch zugleich auf die Ungeklärtheit und Verschleierung des Mordes an Jean Dexter selbst. Die Stadt bildet hier das Außen einer räumlichen Ordnung, das anwesend und abwesend zugleich ist und so auf indirektem Wege in das Geschehen eindringt.
273
POLARE TOPOLOGIEN IM FILM NOIR
Genau zu dem Zeitpunkt, an dem der Fensterausblick also nicht mehr allein die visuellen Topoi der nächtlichen Großstadt aufruft, sondern aufgefächert und differenziert wird, vermischen sich die materiellen, sozialen und symbolischen Dimensionen der Polarität von Innen und Außen, wird der Fensterausblick selbst in seinem kleinen Ausschnitt, den er von der Metropole preisgibt, zu einem Spiegel der Innenwelt der Figuren und zu einem Gradmesser ihrer Verstrickung in das Verbrechen. Im selben Zuge zeugt dieser differenzierte Einsatz des Fensterausblicks von der entscheidenden Rolle, welche der Metropole in diesem Geschehen zugesprochen wird: Denn selbst da, wo sich die Handlung in Innenräumen abspielt, kommt die Stadt immer wieder wortwörtlich zum Fenster herein. Sie wird zum integralen Bestandteil des Geschehens und zugleich zur Chiffre des Bedrohlichen und Unergründlichen, die in ihrer Doppelbödigkeit zum permanenten Nährboden des Verbrechens wird: The city plays an important role in the development of a nightmare atmosphere. In the best films, however, the role is subtle. The city itself is not depicted as horrible or nightmarish but rather as a setting that gradually contributes to the development of such feelings.34
Eine weitere Verdichtung findet die Polarität von Innen und Außen im Jalousienmotiv, das insofern eine Steigerung gegenüber dem Fenstermotiv darstellt, als sich hier das Innen-Außen-Verhältnis mit der Polarität von Licht und Schatten verschränkt. Wurde bereits im filmischen Expressionismus mit Licht und Schatten experimentiert, indem hier eine „ganze Kontrastreihe weißer und schwarzer Linien, von Lichtstrahlen und Schattenflächen: eine Welt aus Streifen“35 entsteht, so wird dieses Gestaltungsmittel im Film noir noch einmal zugespitzt. Denn die Jalousie zieht zunächst, wie Lorenz Engell in seinen Betrachtungen zur Jalousie im Kriminalfilm ausführt, eine optische Grenze zwischen zwei verschiedenen Räumen, wie etwa zwischen einem Innen- und einem Außenraum. Im Unterschied zum unverhängten Fenster und zur verschleiernden Gardine schneidet sie jedoch das kohärente Licht in Streifen, was wiederum eine grundlegende Instabilisierung des Raums zur Folge hat: Signifikant häufig sind aber auch die eigentlich stabilen Innenräume da, wo sie ein Mindestmaß an Definitions- und Ortsfestigkeit mit sich bringen, durch Jalousienraster und deren Wandelbarkeit instabilisiert. Der Raum bewegt sich damit um den Ermittler herum, nicht weniger als dieser durch jenen hindurch. Subjekt und Objekt der Ermittlung zugleich, wird der Detektiv zum Formgeber,
34 35
Ford 1994, S. 123. Deleuze 1997a, S. 76. 274
DIE VERSCHRÄNKUNG DES GEGENSÄTZLICHEN
durch den sich die Verhältnisse am Ende selbst, und nur vorübergehend, sortieren und klären.36
Mit diesem spezifischen Gestaltungsmittel des Film noir wird insbesondere in DOUBLE INDEMNITY (Billy Wilder, 1944) gespielt, das als eines der einflussreichsten Beispiele des Film noir angesehen werden kann.37 So teilen zu Beginn des Films, als der Versicherungsvertreter Walter Neff zum ersten Mal das Haus von Phyllis Diedrichsen betritt, die Jalousien das Licht noch in klar konturierte, horizontale Linien auf. Mit der zunehmenden Verstrickung Neffs in den Mord an Mr. Diedrichsen werden diese Linien jedoch immer diagonaler und verlieren schrittweise an Kontur. Mehr noch als zuvor wird hier der differenzierte Einsatz der Jalousien zum Seismographen der jeweiligen Befindlichkeiten der Figuren, zeugt die jeweilige Variation des Jalousienmotivs vom Grad der Verstrickung der Figuren in das Verbrechen selbst. Diese ‚Welt aus Streifen‘, die der polare Raum entstehen lässt, geht hier buchstäblich durch die Figuren hindurch. Im selben Zuge werden jedoch auch die harten Kontraste von Schwarz und Weiß in ein undefiniertes Grau verschoben, findet die Doppelbödigkeit des Geschehens und die Unentscheidbarkeit von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, ihren bildlichen Ausdruck in einem Raum, in dem die Konturen zunehmend ungreifbar werden.
Abb. 23: Nuancen des Jalousienmotivs und die Verstrickung der Figuren in das Verbrechen in DOUBLE INDEMNITY (1944)
Insbesondere in den Beispielen der semi-documentaries, und allen voran in THE NAKED CITY, wird das Jalousienmotiv dann in Anspruch genommen, um im Zuge seines differenzierten, modifizierenden Einsatzes eine Reflexion der Stilmittel des Film noir in Gang zu setzen. Denn hier wird 36 37
Engell, Lorenz: „Die Jalousie. Raum, Zeit und Licht in der Architektur des Kriminalfilms“, in: Koch 2005, S. 162-174, hier S. 168. So verweist etwa Andrew Spicer auf die sogenannten ‚großen Drei‘ des Jahres 1944, zu denen neben DOUBLE INDEMNITY auch MURDER, MY SWEET (Edward Dmytryk) und LAURA (Otto Preminger) zählen, die bis heute von zahlreichen Kritikern als Kernbeispiele des Film noir angesehen werden; vgl. Spicer 2002, S. 52. Vgl. hierzu auch die frühe, umfassende Auflistung zentraler Beispiele des Film noir in: Borde, Raymond; Chaumenton, Étienne: A Panorama of American Film Noir, 1941-1953. Übers. und hg. von John Hammon; James Naremore. San Francisco: City Lights Publishers 2002 [1955]. 275
POLARE TOPOLOGIEN IM FILM NOIR
das Jalousienmotiv insofern zum verdichteten Zeichen des Verbrechens und des Unergründlichen, als es ausschließlich dann ins Bild gesetzt wird, wenn Figuren auftreten, die direkt in den Mordfall verwickelt sind: beim Mord an Jean Dexter, mit dem die Geschichte ihren Lauf nimmt, beim Angriff des Mörders auf seinen Komplizen Frank Niles, bei dem das jalousiengefilterte Licht eine abgründige, unheilvolle Atmosphäre kreiert, und schließlich bei der Verhaftung Dr. Stonemans, wodurch der imposante Fensterausblick, der im Verlauf des Films stets als Indiz von Macht, Einfluss und Überlegenheit galt, nun durch das Jalousienmotiv in ein zwielichtiges Licht, in eine Doppeldeutigkeit überführt wird. Die Polaritäten von Licht und Schatten, von Innen und Außen, finden ihr Pendant in einem letzten Gegensatzpaar, in welchem zugleich die hohe Symbolik der polaren Topologien hervortritt: Reales und Imaginäres, Anwesendes und Abwesendes. Die Verschränkung beider Ebenen wird oftmals durch den Einsatz von Gemälden und Spiegeln ausgelöst, die insbesondere im frühen Film noir eine bedeutende Rolle spielen.38 Dabei dienen die Gemälde und Spiegel nicht allein dazu, stets auf die Doppelbödigkeit des Geschehens zu verweisen. Vielmehr werden sie zu einer Schnittstelle zwischen dem ‚realen‘ Raum des Films und einem abweichenden, imaginären und hochgradig symbolischen ‚anderen Raum‘, die ununterscheidbar in einem Zustand des Dazwischen verharren.39 Diese Überlagerungsfigur zweier Räume, die ebenso gleichartig wie verschieden sind, zeigt sich zuallererst in LAURA (Otto Preminger, 1944). Denn hier dient das zentrale Gemälde der Protagonistin Laura zunächst in einem einfachen, unmittelbaren Sinne der Sichtbarmachung der Abwesenden. Auf einer zweiten Stufe wird das Gemälde jedoch in derart hohem Maße mit der abwesenden, vermeintlich toten Laura verknüpft, verschwimmen die Grenzen von Realität und Abbildung so sehr, dass sich der Kriminalbeamte Mark McPherson im Laufe seiner Ermittlungen in sie verliebt, wodurch er ihr reales Auftauchen im Film zunächst auf 38
39
Auf die Adaption von zentralen expressionistischen Elementen im Film noir, wie etwa die Figur des Doppelgängers, die Motive des Porträts und der Spiegel ebenso wie die unterschiedlichen Facetten der Figurenspaltung, hat insbesondere Barbara Steinbauer-Grötsch hingewiesen; vgl. Steinbauer-Grötsch, Barbara: Die lange Nacht der Schatten. Film noir und Filmexil. Berlin: Bertz 32005. Zur Definition ‚anderer Räume‘ bzw. zur Konstitution von Gegenräumen zwischen Utopie und Heterotopie vgl. Foucault 1990, S. 38ff.; im Zusammenhang dieser Arbeit wird Foucaults Raumkonzept vor allem in Bezug auf die Entstehung der ‚Topologien des Außen‘ diskutiert, die gerade im Aufziehen eines Abstands und einer äußeren Grenzziehung der Topologie ihre volle Wirkmacht entfalten; vgl. hier S. 97-99. 276
DIE VERSCHRÄNKUNG DES GEGENSÄTZLICHEN
keinerlei Weise verorten kann. Auch in WOMAN IN THE WINDOW (Fritz Lang, 1944) wird das Gemälde einer unbekannten Schönen, das Professor Wanley an einem Abend andächtig im Schaufenster betrachtet, zum Ausgangspunkt des fatalen Geschehens des Films und damit zum Drehund Angelpunkt seines Alptraums aus unüberlegtem Mord, nervenaufreibender Fahndung und letztendlichem Tod. Hier dient das Gemälde weniger der Sichtbarmachung des Abwesenden als vielmehr dem Heraufbeschwören eines Begehrens, durch das der Professor immer tiefer in das Verbrechen hineingezogen wird.
Abb. 24: Gemälde, Spiegel und Spiegelungen in WOMAN IN THE WINDOW (1944) und in LAURA (1944)
Über die Gemälde treten die Figuren im Film noir folglich in eine andere Welt über, wodurch letztlich beide Welten ununterscheidbar werden, sei dies nun die Welt des (Alp-)Traums wie in WOMAN IN THE WINDOW oder auch die Welt der Täuschung wie in LAURA. Eine ähnliche Funktion lässt sich in einem zweiten Schritt auch dem Spiegelmotiv zuschreiben, das in den frühen Beispielen des Film noir wiederholt eine grundsätzlich andere Raumebene in das Geschehen einzieht, indem es die Handlungen der Figuren reflektiert. Besonders in PHANTOM LADY erfährt das Spiegelmotiv eine Verdichtung, insofern es hier nicht allein das Geschehen reflektiert, sondern darüber hinaus die Spaltung der Persönlichkeit und die Doppelbödigkeit der menschlichen Natur vor Augen führt. Der Spiegel wird dabei gerade in denjenigen Sequenzen zum Symbol einer weitreichenden Spaltung, in denen sich der Mörder Jack Marlow im Spiegel betrachtet, während in diesem Spiegel zugleich seine eigene, innere Zerrissenheit sichtbar wird. Auf diese Weise dienen die Gemälde und Spiegel im Film noir stets dazu, das eigentlich Abwesende, das nicht Sichtbare dennoch sichtbar zu machen und, was mehr ist, sowohl die Sichtbarkeiten als auch die Unsichtbarkeiten in eine Polarität zu überführen. Während die Gemälde und Spiegel bereits das Potenzial beinhalten, gleichsam räumliche Qualitäten anzunehmen und damit den Raum im Jenseits des Gemäldes bzw. des Spiegels zu einer Raumgröße im Diesseits der diegetischen Welt werden zu lassen, soll zuletzt anhand von OUT OF THE PAST (Jacques Tourneur, 1947) ein Beispiel in die Überlegungen einbezogen werden, dessen Handlung durchgängig in einem derartigen ‚anderen‘ Raum spielt. Der filmische Raum entfaltet sich hier in einem Nirgendwo, das die räumliche Ordnung des Film noir vollkommen umkehrt und nun seinerseits die symbolisch aufgeladenen Metropolen, 277
POLARE TOPOLOGIEN IM FILM NOIR
die in den Dialogen aufgerufen werden, zu eben diesem imaginären Anderen werden lässt. Dabei bezeichnet dieses räumliche Nirgendwo zunächst eine idyllische, paradiesische Bucht in der Nähe Acapulcos, wo sich Kitty Moffat vor ihrem Geliebten, einem einflussreichen Gangster, versteckt hält. Als Jeff Bailey sie im Auftrag ihres Geliebten ausfindig macht und sie sich ineinander verlieben, können sie nur aus dem Grunde für eine Weise unentdeckt existieren, weil dieser Ort des Nirgendwo niemandem, noch nicht einmal Kittys Geliebtem, bekannt ist. Hier herrscht eine vollkommen andere Auffassung von Raum und Zeit, scheint diese paradiesische Bucht gänzlich aus der Zeit gefallen zu sein, was auch Jeff mit den Worten reflektiert: „Vielleicht dachten wir, die Welt würde stillstehen, vielleicht aber auch, das Ganze wäre nur ein Traum.“
Abb. 25: Begegnung mit Kitty in Mexiko als ‚anderem Ort‘ in OUT OF THE PAST (1947)
In dieser Umkehrung der Polarität von Realem und Imaginärem wird zugleich eine Reflexion der Noir-Stadt in Gang setzt, durch welche die Metropolen New York, San Francisco und Los Angeles und damit genau diejenigen Städte, die in den vierziger Jahren zum Inbegriff der NoirStadt werden, wiederum Einzug in das Geschehen halten. Denn so losgelöst dieser Ort vom Verbrechen und damit auch von der Noir-Stadt zunächst zu sein scheint, so sehr kehrt diese doch in den Dialogen und Vorstellungen der Figuren zurück. In der Überkreuzung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Visuellem und Auditivem, vollzieht sich eine Umkehrung, indem der ‚reale‘ Raum der Noir-Stadt in einen imaginären Raum umschlägt, während im Umkehrschluss der imaginäre Raum der mexikanischen Bucht zum ‚realen‘ Raum des Films wird. In den zahlreichen Anspielungen und Verweisen auf die Noir-Stadt in OUT OF THE PAST spielt allen voran New York eine zentrale Rolle, indem es als Inbegriff des Städtischen und als Zielpunkt der Wünsche und Hoffnungen der Figuren immer wieder thematisiert wird („... und Sie werden sich fühlen, als seien Sie in New York ...“). Die Figuren befinden sich in einem losgelösten Raum, in einem räumlichen Nirgendwo, das jedoch allein in dem Maße zu einem Nirgendwo wird, in welchem die Metropolen als das ‚Andere‘ im Sinne des (bereits) Zurückgelassenen bzw. des (noch) Unerreichten heraufbeschworen werden. Gerade in ihrer Abwesenheit entfaltet die Noir-Stadt hier ihre besondere Wirkungsmacht. Im selben Zuge wird sie zu einem rein symbolischen Raum, denn selbst
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DIE VERSCHRÄNKUNG DES GEGENSÄTZLICHEN
dort, wo sie nicht unmittelbar ins Bild gesetzt wird, dient sie als Gegenpol des Geschehens und zugleich als Projektionsfläche der Figuren. In dieser Reflexion und dem Ausstellen der Polaritäten der (modernen) Großstadt thematisiert der Film noir zugleich den Topos des ‚Anderen‘ und der ‚Fremdheit‘ in der Stadt. Denn wie bereits in Bezug auf die widersprüchliche Anlage der Detektivfigur ausgeführt wurde, stehen die Figuren im Film noir dieser komplexen, von Gegensätzen durchdrungenen Welt immer wieder wie Fremde gegenüber, die sich in den Verstrickungen und Widersprüchlichkeiten nicht mehr zurecht finden: „The Film Noir city is a tense, brooding, lonely, isolating place that tends to push people over the edge.“40 Mehr noch: In diesen hochgradig verdichteten Polaritäten des Film noir werden Subjekt und Objekt ununterscheidbar, bewegt sich der Raum durch die Figuren hindurch und schreibt sich zugleich als Widersprüchliches und Unergründliches in die gesamte Anlage des Films ein. Diesen Aspekt der Fremdheit gegenüber einem nicht mehr klar greifbaren und erfassbaren Raum nimmt auch Frank Krutnik zum Ausgangspunkt, um den Aspekt der ‚otherness‘ als stets präsenten, unabdingbaren Bestandteil der Noir-Stadt zu charakterisieren: In the arena of the noir city, protagonists must confront both the strangeness of others and the strange otherness within – as film noir’s scenarios of disorientation and dislocation challenge their ability to chart an identity in noir’s expressionistic simulacrum of modern America.41
In dieser Thematisierung einer gebrochenen Identität, die gleichermaßen die Figuren und die Noir-Stadt betrifft, verweist der Film noir zugleich auf die symbolischen Räume zurück, welche die Weimarer Straßenfilme in ihren Wechselfiguren zwischen der physischen Außenwelt der Stadt und der psychischen Innenwelt der Figuren hervorgebracht haben. Die Vorstellung von Stadt, die mit diesen polaren Räumen korrespondiert, ist vor diesem Hintergrund eine in sich geschlossene und nach außen hin klar abgegrenzte Stadt. Denn ebenso wie die polaren Elemente derart eng miteinander verschränkt sind, dass sie kein Außen mehr kennen, wird auch die Stadt als ein in sich geschlossener Kosmos begriffen, der alle widersprüchlichen Elemente in sich bündelt: die Tag- und die Nachtseite, das Licht und den Schatten, das Innen und das Außen. Dieser Eindruck der Geschlossenheit wird insbesondere dadurch verstärkt, dass sich die Metropolen im frühen Film noir noch vorrangig aus einzelnen Innenräumen zusammensetzen, während das Außen allein den 40
41
Ford 1994, S. 123. Auf die Logik der Schließung, die besonders dem frühen Film noir innewohnt, verweist Joan Copjec: „The Phenomenal Nonphenomenal. Private Space in Film Noir“, in: dies. 1993, S. 167-197. Krutnik 1997, S. 89. 279
POLARE TOPOLOGIEN IM FILM NOIR
unmittelbaren, sichtbaren Raum bezeichnet, der durch das Fenster eindringt, oder aber einzelne Straßenzüge umfasst, die im Studio nachgebaut wurden. Die Metropole ist auf diese Weise ein verdichtetes, hoch symbolisch aufgeladenes, selbstbezügliches räumliches Gebilde, das auf kein Außen verweist, sondern allein in seinen Polaritäten inkraft tritt. Auf der einen Seite ist das Stadtkonzept der polaren Topologien also dem der Topologien der Ambivalenz in seiner Geschlossenheit und seiner Selbstbezüglichkeit in hohem Maße verwandt. Dennoch setzt der Film noir bereits an einem anderen Punkt an, indem er sich nicht mehr daran abarbeitet, das Bild der filmischen Metropole erstmals zu konstituieren und filmisch auf das Genaueste zu ergründen. Im Gegenteil generiert er seine Polaritäten und Widersprüchlichkeiten der filmischen Raumkonstruktion bereits im Durchgang durch die bisherigen Konfigurationen der filmischen Stadt, die er anhand zweier zentraler Prämissen einer signifikanten Wendung unterzieht: dem Unsichtbaren und dem Anderen der Metropolen. In anderen Worten: Die Wechselverhältnisse von Innen und Außen, von Figur und Stadt, von privaten und öffentlichen Räumen als Grundfiguren der filmischen Stadt werden im Film noir neu verhandelt. Denn er setzt diese räumlichen Relationen von Beginn an in einen neuen Bezugsrahmen, dessen Horizont nicht mehr bzw. nur noch in modifiziertem Maße die Sichtbarkeit der Metropolen bildet, sondern vielmehr das Untergründige und Doppelbödige, die Gegen- und Schattenseiten, kurz: das andere Gesicht der Metropolen selbst. Der fundamentalen Ambivalenz der Metropolen wird im Zuge der polaren Topologien des Film noir somit ein anderes, eindrückliches Bild verliehen. Denn die Beispiele des Film noir der frühen vierziger Jahre, die hier näher betrachtet wurden, verleihen der Metropole nicht allein ein dunkles und widersprüchliches Gesicht, sondern sie stellen dieses Andere zugleich als konstitutiven und unabdingbaren Teil des Eigenen heraus. Die polaren Topologien des Film noir verhandeln damit in hohem Maße das Thema des Anderen und des Andersseins. Sie tun dies jedoch, indem sie nicht etwa der einen oder der anderen Seite den Vorzug geben, ebenso wenig wie sie darin aufgehen, die Gegensätzlichkeiten beider Seiten herauszustellen. Denn sie konfigurieren beide Seiten als zwei untrennbare und allein in dieser Untrennbarkeit vollkommen erfassbare Elemente der Noir-Stadt, die filmisch letztendlich nur im Modus einer sich wechselseitig durchdringenden Polarität einzufangen sind.
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Die Ausweitung der Metropole und Topologien des Transfers Gegenüber dem stark verdichteten Stadtkonzept, das den polaren Topologien im Film noir innewohnt, indem sie sich mit dem Anderen und dem Ungreifbaren der Metropolen auseinandersetzen, stehen die Topologien des Transfers für ein sich ausweitendes, ausgreifendes Raumkonzept. Sie bilden eine Gegenbewegung zu den dichten Raumstrukturen des frühen Film noir, indem sie den Raum seiner schrittweisen Öffnung zuführen, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht: Denn die Topologien des Transfers entstehen vor allem in den späten Phase des Film noir, an der Wende zu den fünfziger Jahren, und lassen sich in einem ersten Schritt als unmittelbare Reaktion auf die sichtbare Ausweitung und Suburbanisierung der Metropolen begreifen, mit denen sie sich filmisch auseinandersetzen. Diese räumliche Ausweitung der Metropole findet dabei ihren bildlichen Niederschlag in den weiten, entleerten und verlassenen Zonen der Städte, durch welche die Figuren scheinbar ziellos umherirren. Oder aber das Geschehen wird gänzlich in die Vorstädte verlagert, wodurch zugleich das Verbrechen in diesen vermeintlich geschützten Raum eindringt. Unter dem Begriff der Topologien des Transfers wird in einem zweiten Schritt jedoch auch eine Form der Raumkonstruktion verstanden, die einer Logik der Verschiebung folgt. Dies bedeutet, dass nun vermehrt Filme entstehen, in denen die Noir-Stadt bzw. bestimmte, signifikante Versatzstücke derselben durch die Figuren in das Land hinein transportiert werden. Insbesondere am Beispiel von GUN CRAZY (Joseph H. Lewis, 1950) soll herausgearbeitet werden, in welch hohem Maße die Noir-Stadt nun zum Chiffre des Verbrechens schlechthin wird, wie es bereits am verdichteten Motiv der Jalousien deutlich wurde. Dabei ist festzuhalten, dass dieser Transfer der Noir-Stadt überhaupt erst dadurch möglich wird, dass die zentralen Noir-Elemente bereits in der Frühphase des Film noir eine derart komplexe, verdichtete Visualität entwickelt haben, dass sie nun im Umkehrschluss als visuelle Topoi wiederum einsetzbar, transportierbar und übertragbar werden. Die Topologien des Transfers versetzen die Noir-Elemente wiederholt in neue Kontexte und unterziehen sie damit zugleich einer vielschichtigen Transformation. Zunächst soll jedoch auf die Bewegung als Grundfigur der Topologien des Transfers eingegangen werden. Denn die Topologien des Transfers setzen sich in hohem Maße mit genau denjenigen urbanen Räumen auseinander, die entweder unmittelbar auf die Bewegung hin ausgerichtet sind – die großstädtischen Straßen, die Zugstrecken, die Autobahnen quer durch das Land – oder denen das Moment des Ephemeren und des Transitorischen bereits untrennbar eingeschrieben ist, wie etwa den Wartehallen 281
TOPOLOGIEN DES TRANSFERS IM FILM NOIR
und Bahnhöfen, den Hotels und Supermärkten, den Leerzonen und Brachflächen innerhalb der Städte. Es ist also ein gänzlich anderes Arsenal an Räumen, das im Zuge der Topologien des Transfers aktiviert wird. Ebenso wie es bereits in Bezug auf den frühen Stadtfilm festgestellt wurde, gewinnt auch hier die Bewegung gerade an dem Punkt an Bedeutung, an dem die Filme die Studiostädte der frühen, expressionistischen Phase verlassen und in den städtischen Außenraum vordringen. Einen deutlichen Unterschied zu den Bewegungstopologien des frühen Stadtfilms markieren sie hingegen darin, dass hier der filmische Raum nicht durch die unendliche Steigerung der filmischen und der städtischen Bewegtheit zu seinem Endpunkt oder gar zu seiner Entgrenzung geführt wird. Denn in Zusammenhang mit dem Film noir werden die Bewegungen umgekehrt und gerichtet. Sie betreffen nicht mehr die wechselnden Rhythmen der Metropolen, sondern haben nun einen klaren Zielpunkt: Einerseits richten sie sich auf die Aufklärung des Verbrechens von Seiten der Ermittler und andererseits auf die Flucht der Mörder. Auf beiden Seiten wird die filmische Stadt von unterschiedlichen Bewegungen durchkreuzt, wird sie einer umfassenden Dynamisierung und einer topologischen Umformung unterzogen, deren zentralen Referenzpunkt nun die Schattenseiten und das Untergründige der Metropolen markieren. Dies wird vor allem in denjenigen Sequenzen deutlich ausgespielt, in denen die gerichteten Bewegungen der Ermittler und der Verbrecher mit den ungerichteten Bewegungen der Bewohner auf den Straßen konfrontiert und in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden. Im Film noir lassen sich folglich ganz unterschiedliche Figuren der Bewegung beobachten, die ihre Dynamik gerade daraus gewinnen, dass sich die qualitativen, gerichteten Bewegungen in den urbanen Raum einschreiben und ihn transformieren.42 Gemeinsam ist ihnen, dass sie die filmische Raumkonstruktion als einen grundlegend prozessualen Vorgang definieren. Der Raum wird hier zuallererst auf die Bewegung bezogen, die untrennbar mit ihm verbunden ist. Mehr noch: Der Raum entsteht, wie bereits de Certeau formuliert hat, überhaupt erst dann, „wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität 42
Mike Davis hat hingegen darauf hingewiesen, dass die spezifische „street map“ der Noir-Stadt nicht erst im Zuge des Film noir entsteht, sondern dass sie bereits deutlich in den hard boiled novels von Raymond Chandler vorgezeichnet wird: „Raymond Chandler, of course, created the noir street map of Los Angeles which Hollywood subsequently took as its guide. He choreographed the class conflict of locales – Pasadena mansions, Bunker Hill tenements, Central Avenue bars, and Malibu beach homes – that made Los Angeles recognizable after its long apprentinceship as a back lot.“ Davis 2001, S. 36. 282
DIE AUSWEITUNG DER METROPOLE
der Zeit in Verbindung bringt.“43 Im selben Zuge wird der Raum zu einem „Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“44 Durch die Überkreuzungen der Bewegung dynamisiert sich der Raum der Noir-Stadt auf grundlegende Weise. Im Umkehrschluss wird jedoch auch die Bewegung als spezifisch filmisches Mittel der Raumerschließung hervorgehoben, die der Film noir im Modus sich überkreuzender, gerichteter und ungerichteter Bewegung der Figuren durchspielt. Ein sehr zentrales Motiv im Bereich des Film noir ist das Motiv des Gehens in der Stadt. Insbesondere in den späten Beispielen des Film noir werden die Wegstrecken der jeweiligen Ermittler akribisch verfolgt, sei dies nun ein Polizist wie in THE NAKED CITY und in THE BIG HEAT, ein Reporter wie in CALL NORTHSIDE 777 oder auch ein Versicherungsvertreter wie in THE KILLERS. Entscheidend ist nun, dass dabei nicht allein diejenigen Orte aufgerufen werden, an denen neue Indizien im Mordfall zutage treten, sondern auch und insbesondere die Wegstrecken zwischen diesen Orten selbst ins Bild geholt werden. Die Bewegung wird damit zu einer Chiffre des schrittweisen Fortschritts innerhalb der Aufklärung des Verbrechens. Mehr noch: Durch die Bewegungen der Ermittler werden die einzelnen Orte innerhalb der städtischen Topographie überhaupt erst miteinander zu einem filmischen Raum verbunden. Zu einem filmischen Raum jedoch, der seine Dynamik nicht mehr aus der Verdichtung seiner Gegensätzlichkeiten gewinnt, sondern aus der Öffnung des Raums und dem permanenten Verweis auf ein Äußeres, auf ein Nächstes. Die Erschließung des Raums durch unterschiedliche, sich überkreuzende Wegstrecken lässt sich am Beispiel von THE NAKED CITY näher ausführen. Denn hier bahnt sich der Polizist Jimmy Halloran auf sehr systematische Weise seinen Weg durch das Gewirr an Läden, Kiosks und Bars, beständig auf der Suche nach neuen Indizien im Mordfall Dexter. Sein Gehen durch die Straßen steht dabei in deutlichem Gegensatz zum Flanieren oder auch Umherschweifen45, denn er steuert die fraglichen Orte sehr zielgerichtet an, um seine Informationen zu erhalten. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass dieses Ansteuern vor dem Hintergrund zuvor genau ermittelter Daten und langer Listen erfolgt, die Jimmy 43 44 45
de Certeau, S. 218. Ebd. An dieser Stelle sei etwa auf THE LOST WEEKEND (Billy Wilder, 1945) hingewiesen, in dem das Motiv des Gehens in der Stadt in ein Taumeln des Protagonisten überführt wird, das zu einer schrittweisen Auflösung des Raums beiträgt, denn „in Passagen wie diesen zerfällt die Wirklichkeit in Trümmer, die sich zu Traumbildern ordnen: Realismus schlägt in Surrealismus um.“; vgl. Weihsmann 1988, S. 14. 283
TOPOLOGIEN DES TRANSFERS IM FILM NOIR
Halloran Schritt für Schritt abarbeitet, was auch durch den Off-Erzähler dieses Films mit den Worten kommentiert wird: „An investigation for murder is now on the way; by advance systematically, by trial and error, by brain work and leg work.“
Abb. 26: Die Wegstrecken und Befragungen des Ermittlers in THE NAKED CITY (1948)
Die unermüdlichen Wegstrecken des Ermittlers, die Kombinationen von ‚brain work‘ und ‚leg work‘, durchdringen den städtischen Raum und lassen einen kontinuierlichen, horizontal ausgerichteten Raum entstehen. Auf diese Weise bilden sie zugleich ein Gegengewicht zu der Vertikalität der Hochhausarchitektur Manhattans, wodurch sich in THE NAKED CITY zwei divergente räumliche Systeme gegenüberstehen: Einerseits haben wir hier den übergreifenden Blick über die gesamte Stadt, der sich in der Luftaufnahme der Eingangssequenz ebenso wie in der panoramischen Weite des Fensterausblicks von Dr. Stoneman entfaltet. Und andererseits gibt es die Wegstrecken und räumlichen Taktiken, die sich unten auf den Straßen entwickeln und die sowohl das Gegensatzpaar Ermittler/Mörder als auch die alltäglichen Bewohner der Stadt betreffen.46 Während das Motiv des Gehens im späten Film noir also zunehmend zum zentralen Modus der Raumerschließung wird, so ist es im frühen Film noir noch weitaus weniger präsent. Wird es dennoch in die Filmhandlung integriert, so dient es oftmals, wie Dimendberg ausführt, als Ausdruck einer Nostalgie gegenüber einer sich beständig verändernden Umwelt bzw. einer fortschreitenden Urbanisierung, die gerade auf diejenigen Orte ausgreift, die einst zum Inbegriff der Noir-Stadt wurden: Whether understood as a celebration of the city, a species of nostalgia for an older environment vanishing under the impact of postwar modernization, [or] a critique of the mechanisms of abstract space, [...] the different modes of urban passage evident in the centripetal film noir prove an essential component of the film cycle’s representation of the metropolis.47
46
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Erarbeitung zweier Modi der Raumkonstruktion bzw. der Raumerschließung bei Michel de Certeau, die sich zwischen einem räumlichen System (als Ort, als ‚Karte‘) und den räumlichen Praktiken (als Raum, als ‚Wegstrecke‘) bewegen; vgl. de Certeau 1988, S. 188-197 sowie S. 220-226. Dimendberg 2004, S. 122. 284
DIE AUSWEITUNG DER METROPOLE
Erst im Zuge der räumlichen Ausweitung der Noir-Stadt wird auch das Motiv der Bewegung zum integralen und unabdingbaren Bestandteil der Raumkonstruktion. Dies zeigt sich vor allem in den Filmen, in welchen die ‚urbane Passage‘ nicht mehr allein auf eine Stadt begrenzt ist, sondern die in einer ausgreifenden Bewegung unterschiedliche kleine und größere Städte quer durch das Land miteinander verbindet. Dieser Umbruch vollzieht sich maßgeblich in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, etwa in Filmen wie THE KILLERS (1946), OUT OF THE PAST (1947) und GUN CRAZY (1950). Vor allem GUN CRAZY stellt die Bewegung als das zentrale Moment des Films in den Vordergrund, indem sich hier ein Großteil der Handlung während der permanenten Flucht des Gangsterpaars entfaltet. Besonders in der zweiten Hälfte des Films sieht man sie kaum noch an einem Ort verweilen. Vielmehr sind sie in einer unermüdlichen Bewegung begriffen, immer auf dem Sprung zum nächsten Überfall bzw. zur anschließenden Verfolgungsjagd mit den Polizisten. Als Folge dieser ständigen Fluchtbewegung sind auch die einzelnen Handlungsorte, aus denen sich GUN CRAZY zusammensetzt, zuallererst auf ihre Durchquerung, auf den Transit, hin ausgerichtet, wie etwa die unzähligen Straßenzüge, die weite Teile des Films bestimmen. Andererseits ist GUN CRAZY jedoch auch durchdrungen von jenen flüchtigen Aufenthaltsorten, die für die Figuren immer nur für einen begrenzten Zeitabschnitt ihre Gültigkeit besitzen, seien dies nun die zahlreichen Hotels oder auch die Orte des Vergnügens, die Jahrmärkte und Tanzcafés, die nicht mehr als eine kurzzeitige, flüchtige Zerstreuung bedeuten. Auf diese Weise bildet GUN CRAZY zugleich ein Panorama eben derjenigen Orte, die Marc Augé später mit Blick auf die zentralen räumlichen Umbrüche im späten 20. Jahrhundert als Nicht-Orte bezeichnen wird. Dabei steht der Nicht-Ort, wie Marc Augé ausführt, zunächst einmal für eine dreifache Negation des anthropologischen Ortes. Denn ein Nicht-Ort ist ein Ort, „der keine Identität besitzt und weder als relational noch als historisch bezeichnet werden kann“.48 Augé bezieht sich mit dieser Definition auf Transitorte, die rein funktional geprägt sind und die in ihrer Gestaltlosigkeit und Eigenschaftslosigkeit zunehmend das Stadtbild durchsetzen. Insbesondere in Bezug auf die sogenannte surmodernité, die Augé gemäß seines Projekts einer „Anthropologie des Nahen“49 in den
48 49
Augé 1994, S. 92. Ebd., S. 13; so formuliert Augé in Zusammenhang mit seiner Feststellung dreier zentraler Wandlungsprozesse im 20. Jahrhundert, die erstens das Übermaß an Zeit, zweitens das Übermaß an Raum und drittens das Übermaß der ‚Figur des Ich‘ betreffen, dass „die heutige Welt aufgrund ihres beschleunigten Wandels selbst nach dem anthropologischen Blick 285
TOPOLOGIEN DES TRANSFERS IM FILM NOIR
Blick nimmt, diagnostiziert er ein verstärktes Auftreten ebensolcher Nicht-Orte. Und wenngleich diese Nicht-Orte den anthropologischen Ort auch nicht vollständig aufheben, so sind sie doch, wie Augé ausführt, [...] das Maß unserer Zeit, ein Maß, das sich quantifizieren lässt und das man nehmen könnte, indem man [...] die Summe bildete aus den Flugstrecken, den Bahnlinien und den Autobahnen, den mobilen Behausungen, die man als ‚Verkehrsmittel‘ bezeichnet (Flugzeuge, Eisenbahnen, Automobile), den Flughäfen, Bahnhöfen und Raumstationen, den großen Hotelketten, den Freizeitparks, den Einkaufszentren und schließlich dem komplizierten Gewirr der verkabelten oder drahtlosen Netze.50
Diese Nicht-Orte führen ein grundsätzlich neues Moment in den Film noir ein, insofern die einzelnen Orte nun nicht mehr auf Stabilität und Dauerhaftigkeit, sondern vielmehr auf das Flüchtige und das Ephemere ausgerichtet sind. Bereits in der frühen Phase des Film noir, die bisher vor allem mit der Herausbildung von polaren Topologien in Verbindung gebracht wurde, zeigt sich eine dezidierte Affinität zum Typus der Transitorte, wovon etwa THE MALTESE FALCON mit seinen Hotelhallen, seinen Apartments und dem Union Bus Terminal ein Zeugnis ablegt. In noch stärkerem Maße sind die Transitorte und Übergangszonen hingegen DOUBLE INDEMNITY eingeschrieben, indem sie hier unmittelbar an die Planung und die Durchführung des Verbrechens gekoppelt sind. So findet die Vorbereitung des Mordes an Mr. Diedrichsen zu weiten Teilen in einem Supermarkt statt, in dem sich Phyllis und Walter heimlich treffen und ihre Informationen austauschen, während sie zwischen den Regalen permanent ihre Position wechseln. Auch für das Verbrechen selbst wird ein genuin transitorischer Ort gewählt: die einsamen, nächtlichen Gleise in der Nähe einer Bahnstation, auf die Walter Neff, getarnt als der verletzte Mr. Diedrichsen selbst, hinabstürzen wird.
Abb. 27: Die Planung des Verbrechens an Transitorten in DOUBLE INDEMNITY (1944)
Die starke Affinität zwischen dem Film noir und den innerstädtischen Transitzonen begründet sich dabei vor allem in einer spezifischen Qualität der Nicht-Orte: Gerade dadurch, dass sie in ihrer Anonymität und Gestaltlosigkeit keine klar identifizierbaren Punkte innerhalb der städtischen
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[verlangt], das heißt: nach einem neuartigen und methodischen Nachdenken über die Kategorie der Andersheit“; vgl. Augé 1994, S. 32. Ebd., S. 94. 286
DIE AUSWEITUNG DER METROPOLE
Topographie markieren, bleiben sie ebenso ungreifbar wie unverdächtig und werden genau dadurch zu bevorzugten Orten des Verbrechens. Die Durchsetzung der modernen Großstadt mit einer stetig wachsenden Fülle an Transitorten lässt sich auf der einen Seite folglich als ein räumlicher Transformationsprozess begreifen, der untrennbar auf die Modernisierung und Suburbanisierung der (amerikanischen) Städte in den fünfziger Jahren verweist. Gerade weil der Film noir aber in eben diesem Zeitraum dazu übergeht, die Noir-Stadt nicht mehr allein aus symbolischen StudioStädten heraus entstehen zu lassen, sondern sie in Auseinandersetzung mit der sichtbaren Topographie der Metropolen generiert, werden die Filme zugleich zu Seismographen eben dieses räumlichen Umbruchs. Die realräumlichen Transformationen schreiben sich auf deutliche Weise in den Film noir ein; sie verändern und modifizieren ihn – sowohl in seiner räumlichen Anlage als auch in der Konzeption der Figuren. Gegenüber den verdichteten Innenräumen der frühen Phase stehen hier die ‚Räume des Außen‘, die eine neue räumliche Logik in den Film noir einführen. Denn die Transitorte sind nun zu einem unabdingbaren Bestandteil der filmischen Konstruktion der Metropole geworden. Mehr noch: Indem sie als konstitutives Element in die Raumkonstruktion integriert werden, setzen sie zugleich einen umfassenden Prozess der Fragmentierung der Metropole in Gang, die nun zunehmend in einzelne, nicht mehr eindeutig aufeinander Bezug nehmende Teilräume zerfällt. Und es ist genau an diesem Punkt, an dem sich wiederum das ‚Andere‘ bzw. das ‚Außerhalb‘ einer räumlichen Ordnung artikuliert, die in ihrem Inneren nicht mehr logisch zusammensetzbar zu sein scheint: „The world no longer unfolds in nonsimultaneous parts, as in detective fiction; in film noir it breaks up into inconsistent and always alien fragments.“51
Abb. 28: Innerstädtische Leerstellen, Brachflächen und Suburbia in THE ASPHALT JUNGLE (1950) und THE BIG HEAT (1953)
Mit dieser Fragmentierung geht zugleich eine deutliche Ausweitung der Noir-Stadt in ihre vorstädtischen Gebiete einher, die nun wiederholt zum Tatort des Verbrechens werden. Seine bildlichen Verdichtungen findet dieser Umbruch vor allem in einer Öffnung des Räumlichen selbst: Im Zentrum der Filme stehen nun in die scheinbar endlosen Verfolgungsjagden und Fahrten durch die ausgedehnten vorstädtischen Landschaften von Los Angeles in WHITE HEAT (Raoul Walsh, 1949) oder auch SUNSET 51
Copjec, Joan: „Introduction“, in: dies. 1993b, S. VII-XII, hier S. IX. 287
TOPOLOGIEN DES TRANSFERS IM FILM NOIR
BOULEVARD (Billy Wilder, 1950). Sie finden sich in den zunehmenden Brachen und Leerstellen im vormals hoch verdichteten Zentrum Chicagos in der Einleitungssequenz von THE ASPHALT JUNGLE (John Huston, 1950) oder auch in dem (scheinbar) idyllischen Familienleben in den vorstädtischen Gebieten in THE BIG HEAT (Fritz Lang, 1953). Mit der grundlegenden Umwälzung des Stadtkonzepts verändert sich auch die Konzeption der Figuren. Im Zentrum der Filme steht nun nicht mehr der Detektiv, das ‚Private Eye‘52, der die widersprüchliche urbane Welt nicht mehr zu ordnen vermag und folglich selbst auf das Tiefste in die dunkle Seite der Stadt hineingezogen wird. Im Gegenteil: Die Verbrechen werden nun von einer ‚offiziellen‘ Ordnungsmacht, von Polizisten oder gar dem gesamten Polizeiapparat, aufgeklärt. Es sind nicht mehr einzelne Figuren, die einander gegenüberstehen, sondern es handelt sich vielmehr um die Konfrontation zweier Systeme: der Welt des Verbrechens und der Welt der Aufklärung, wobei beide Seiten gleichermaßen von Korruption und Verrat durchdrungen sind. Dieses Moment einer doppelten Umwälzung – der Figuren und der Stadt – wird oftmals mit John Hustons Film THE ASPHALT JUNGLE (1950) identifiziert, der damit den Anfangspunkt eines ‚gritty realism‘ bildet, der im größtmöglichen Gegensatz zur ‚expressionist stylization‘ der frühen Beispiele steht: The gritty realism of The Asphalt Jungle exerted more influence over the later films noirs than the earlier more expressionist works. The characteristic 1950s noir is a pared-down, tautly scripted crime thriller, which focuses on organized professional criminals and their battles with the authorities. Expressionist stylization is downplayed or avoided altogether in many 1950s noirs, which assault the viewer rather than evoking an atmosphere.53
Geht man an diesem Punkt noch einmal auf die zu Beginn angesprochenen multiplen Räume und Zeiten des Film noir ein, so lässt sich nun eine Präzisierung der dort entwickelten Thesen vornehmen. Denn der Film noir gewinnt seine ‚anderen Räume‘ und ‚anderen Zeiten‘ nicht allein im komplexen Austausch mit denjenigen Konfigurationen der filmischen Metropole, die sich bereits in den zwanziger Jahren entwickelt und ausgeprägt haben. Vielmehr setzt er selbst ein vielschichtiges Wechselspiel 52
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Frank Krutnik spricht hier sogar von einem ‚Private I‘, denn der „noir detective is a privatized hero, customized to the atomistic regime of noir’s urban Gesellschaft“ (Krutnik 1997, S. 89). Auch Joan Copjec verbindet die Detektivfigur im Film noir in ihrem einflussreichen Aufsatz The Phenomenal Nonphenomenal mit einer ‚Individualisierung der Referenzen‘, denn der „film noir continually exposes the landscape of privacy“ (Copjec 1993c, S. 191). Spicer 2002, S. 59f. 288
DIE AUSWEITUNG DER METROPOLE
divergierender Stadtkonzepte in Gang, die er einerseits in einer weitgehenden Abkopplung, andererseits aber auch in einer unmittelbaren Rückführung auf die amerikanischen Städte der vierziger und fünfziger Jahre entwickelt. Der Film noir bewegt sich kontinuierlich zwischen zwei divergierenden Stadtkonzepten, die Dimendberg treffend mit den Begriffen des zentripetalen und des zentrifugalen Raums belegt hat, wobei die Übergänge zwischen beiden räumlichen Systemen stets fließend sind. Die Filme stehen oftmals genau an der Schnittstelle eines „urban space whose historical mutation yields real spatial gaps and temporal voids between the modern as ‚yet-to-come‘ and the urban past as ‚yet-to-bedestroyed‘“54, wobei es ein Charakteristikum des neu entstehenden und ausgreifenden zentrifugalen Raums gelten kann, dass er – im Gegensatz zum verdichteten zentripetalen Raum – durch die Faktoren von Immaterialität, Unsichtbarkeit und Geschwindigkeit gekennzeichnet ist: If centripetal space is characterized by a fascination with urban density and the visible––the skyline, monuments, recognizable public spaces, and inner-city neighborhoods––its centrifugal variant can be located in a shift toward immateriality, invisibility, and speed.55
Das Raumkonzept des Film noir, so scheint es, verschiebt sich in seiner Spätphase zunehmend in Richtung eines „homogenized and homogenizing abstract space“.56 Dennoch, so lässt sich gegen Dimendberg einwenden, gehen auch die späten Beispiele des Film noir nicht vollständig in der Konfiguration eines abstrakten zentrifugalen Raums auf. Vielmehr lässt sich zunehmend beobachten, dass diese offenen, bewegten und ausgreifenden Räume oftmals ganz bewusst auf zentrale Noir-Räume der Frühzeit des Film noir zurückgreifen, sie zitieren und wenden. Damit ist zugleich die zweite Facette der Topologien des Transfers angesprochen: der Transfer bestimmter ‚urbaner Momente‘ des frühen Film noir in kleinstädtische und ländliche Umgebungen. Dieser Transfer kann dabei entweder in den Gedanken und den Dialogen der Figuren hervorgerufen werden, indem die Noir-Stadt zu einem imaginären Ziel der Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte wird, wie es am Beispiel von OUT OF THE PAST ausgeführt wurde. Oder aber der Transfer wird unmittelbar an bestimmte räumliche Elemente und bildliche Versatzstücke der Noir-Stadt geknüpft, wie etwa an den Jahrmarkt, an die Schaufenster und Leuchtreklamen der Stadt, wie am Beispiel von GUN CRAZY (Joseph H. Lewis, 1950) dargelegt werden soll. Dabei werden die Insignien der
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Dimendberg 2004, S. 91. Ebd., S. 177. Ebd., S. 15. 289
TOPOLOGIEN DES TRANSFERS IM FILM NOIR
Noir-Stadt zu regelrechten visuellen Topoi verdichtet, die, einmal aufgerufen, zugleich ein ganzes Arsenal an Bedeutungen transportieren. Der Film GUN CRAZY ist in einer nicht näher bestimmten Kleinstadt in den USA angesiedelt, von der allein berichtet wird, sie befinde sich in der Nähe eines Nationalparks. Dennoch wird unmittelbar in der Einleitungssequenz ein typisches Bild der Noir-Stadt aufgerufen: Man sieht eine dunkle, verlassene Straßenecke, ein blinkendes Leuchtschild mit dem Schriftzug ‚Hotel‘ und glänzende, regennasse Straßen bei Nacht, wodurch eine Atmosphäre kreiert wird, in der das initiale Verbrechen – der versuchte Diebstahl eines Revolvers durch den jungen Bart – überhaupt erst stattfinden kann. Die darauf folgenden Sequenzen, die Barts Verhörung vor Gericht und zahlreiche Rückblenden in seine Kindheit zeigen, sind hingegen in einem vollkommen anderen Modus gefilmt: Hier wird das ländliche Leben als hell, rein und idyllisch dargestellt; auch Bart selbst werden die ehrlichsten und unschuldigsten Motive zugesprochen, was zur Folge hat, dass die Ordnung des ländlichen Lebens, seine Reinheit und Unschuldigkeit, allein durch dieses eine, initiale Verbrechen gestört werden, das in einem ‚anderen‘ Raum stattfindet. Denn indem das Verbrechen in filmischer Hinsicht unmittelbar an die Noir-Stadt gekoppelt wird, erfolgt zugleich ein räumlicher Transfer, oder präziser: der Transfer eines bestimmten, vorgeprägten Ortes an einen anderen Ort, der zugleich bestimmte Handlungsweisen nach sich zieht. Das Verhältnis von Stadt und Land wird in GUN CRAZY auf das Verhältnis von Verbrechen und Unschuld umgelegt und zugleich auf das Deutlichste überzeichnet. Das Städtische und das Ländliche werden als zwei sich gegenseitig ausschließende Welten konfiguriert, die allein im Zuge einer komplexen Einführung des Außen (des Städtischen) in das Innere (das Ländliche) erfolgen kann, deren Inkongruenzen und Bruchstellen jedoch stets sichtbar bleiben. Während die wechselseitigen Einschreibungen von Stadt und Land im frühen Stadtfilm, und insbesondere in SUNRISE, noch als Indiz der fundamentalen Ambivalenzen der filmischen Stadt eingeführt wurden, so zeigt sich hier eine Form der räumlichen Einschreibung, die den Prozess einer räumlichen Entdifferenzierung im Sinne eines Abstands und eines Zwischenraums in Gang setzt. Diese Konfiguration eines Zwischenraums, der sich beständig zwischen dem Inneren und dem Äußeren ausbreitet, bleibt über den gesamten Film hinweg präsent. Denn Bart, der hier als Inbegriff des Ländlichen, des Idyllischen und des Behüteten gezeichnet wird, ist durchdrungen von einem permanenten Begehren nach dem aufregenden, gefährlichen und ‚urbanen‘ Leben der Schießkünstlerin Laurie Annie Starr, das er dennoch, selbst im Zuge seiner zahlreichen Raubüberfälle, zu keinem Zeitpunkt zu erreichen vermag. Um diese Differenz deutlich zu machen, wird
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DIE AUSWEITUNG DER METROPOLE
der Übergang beider Welten und damit der Einzug des Verbrechens in das Geschehen stets durch ein Umschalten des filmischen Modus’ eingeleitet: Immer wieder ist es das Zeigen einzelner Insignien der Noir-Stadt – ein Jahrmarkt mit seinen funkelnden Lichtern etwa oder auch das Schaufenster eines Juweliers mit seinen glitzernden, luxuriösen Auslagen in einem nächtlichen Ambiente –, das zum Auslöser des Begehrens des Unerreichbaren und damit zum Auslöser des Verbrechens wird.
Abb. 29: Einzug der Noir-Stadt in ländliche Gebiete durch Leuchtreklamen und Jahrmarkt in GUN CRAZY (1950)
So wird GUN CRAZY punktuell und sehr gezielt von denjenigen gefährlichen, Begehren heraufbeschwörenden Orten der Noir-Stadt durchsetzt, die zur Chiffre des Verbrechens werden, indem sie es überhaupt erst erzeugen. Aufgrund dieser permanenten räumlichen Verschiebung kann auch die Wiederherstellung der ursprünglichen, ländlich-reinen Ordnung erst dann vollzogen werden, indem das Gangsterpaar gefasst und ihre Verbrechen getilgt werden. Und es ist bezeichnenderweise genau das Gebirge in der Nähe des Heimatstädtchens von Bart, in dem die beiden auf ihrer Flucht umzingelt und letztendlich erschossen werden. In GUN CRAZY wird die Noir-Stadt in ihrer Verdichtung, in ihrer Bedrohlichkeit und Polarität von Licht und Schatten, von Tag und Nacht, in das Land hinaus transportiert, wo sie sich als Schatten- und Nachtseite in das Geschehen einschreibt. Durch diese Kontrastierung mit dem Reinen, Idyllischen und Unschuldigen des Landes werden ihre dunklen Seiten jedoch umso deutlicher herausgestellt, wodurch sich ganz neue räumliche Dynamiken entwickeln. Denn während in den frühen Beispielen die Noir-Stadt als ein hochgradig selbstbezügliches und in sich geschlossenes räumliches Gebilde inszeniert wurde, das zu keinen Zeitpunkt auf das Land als sein Gegenstück verweist, bildet nun die Noir-Stadt selbst dieses Außen, dieses Andere, das dem Ländlichen vollkommen fremd zu sein scheint und seiner räumlichen Logik grundlegend widerspricht. Führt man die einzelnen Argumentationslinien dieses Teilkapitels zusammen, so stehen die Topologien des Transfers für eine mehrfache Auffächerung und Ausweitung der Noir-Stadt. Sie stehen für eine bewegte und bewegliche Dehnung des Raums, die ganz unterschiedliche Facetten filmischer und städtischer Bewegtheit hervorbringt. Da sind zuallererst, und in einem sehr konkreten Sinne, die gerichteten Bewegungen in der Stadt, die Flucht- und Verfolgungslinien, die der Kriminalhandlung untrennbar eingeschrieben sind. Ihren bildlichen Ausdruck finden diese 291
TOPOLOGIEN DES TRANSFERS IM FILM NOIR
gerichteten Bewegungen vor allem in den Motiven des Gehens und der Fortbewegung, in der Überkreuzung unterschiedlicher Bewegungsrichtungen innerhalb der Stadt und quer durch das Land, die in ihrem ausgreifenden Charakter nicht allein eine Abfolge von Zwischenräumen und Passagen innerhalb der Stadt hervorbringen, sondern darüber hinaus den Radius der Noir-Stadt kontinuierlich nach außen hin ausweiten. Im Zuge dieser Öffnung, Streckung und Dehnung des Raums geht zugleich, und dies kann als zweiter Aspekt einer Ausweitung der NoirStadt gelten, eine Aktivierung eines ganz neuen Arsenals an filmischen Orten einher: Genuine Transitorte treten auf den Plan, die bereits in der Frühzeit des Film noir auf die grundlegende räumliche Transformation der Metropolen verweisen. Sie werden zum Zeichen eines räumlichen Übergangs und eines Wandels, der die Suburbanisierung der Städte und ihre Ausweitung in die ‚metropolitan area‘ betrifft, und die im Film noir ihren bildlichen Niederschlag in dem Spannungsverhältnis zwischen einer zentripetalen und einer zentrifugalen Raumorganisation findet. Die Topologien des Transfers im Film noir folgen damit einer Logik der Verschiebung, die stets auf etwas Anderes, auf etwas Folgendes und Nächstes verweist. Die Figuren scheinen hier immer weiter zu streben: Sie streben nach außen, in die Vorstädte, in das Land hinein. Aus dieser Logik der Verschiebung lässt sich jedoch auch noch eine dritte, weitaus abstraktere Facette der Bewegung ableiten, die sich als Aufschub, als Abstand und als Differenzerfahrung artikuliert.57 Denn die Figuren im Film noir scheinen zu keinem Zeitpunkt wirklich an ihrem Zielpunkt anzugelangen. Sie sind Flüchtende und Getriebene, die allein in einer Form von Zwischenraum existieren, der das Nicht-Mehr und das Noch-Nicht einer umfassenden Neuordnung des Städtischen bezeichnet. Im selben Zuge – und in diesen Zwischenraum hinein – wird jedoch wiederum jenes Bild der Noir-Stadt transportiert, wenngleich nur punktuell und in einzelnen räumlichen Versatzstücken, das die Filme des späten Film noir bereits weitgehend hinter sich gelassen haben. Das ‚Andere‘ im Sinne des Gegensätzlichen der polaren Topologien wird hier zunehmend – und im Zuge der fortschreitenden Bewegung der Topologien des Transfers – zu einem graduellen Fremdwerden gegenüber sich selbst umgedeutet. Die Noir-Stadt wird hier zum Gegenstand einer filmischen Reflexion, welche die Differenzerfahrung zwischen einer ländlichen und einer städtischen Raumordnung zugleich auf die Differenz unterschiedlicher, sich kontinuierlich umformender Raumkonzepte der Noir-Stadt umlegt.
57
Zur näheren Ausführung dieser topologischen Grunddisposition in Bezug auf die Facetten des Abstands und des Aufschubs, vgl. hier S. 94-100. 292
Netztopologien: Die Verknüpfung der Noir-Stadt Der Blick auf die Raumkonstruktionen im Film noir der vierziger und fünfziger Jahre hat in Zusammenhang mit den polaren Topologien im frühen Film noir und den Topologien des Transfers in den späteren Beispielen ein äußerst gegensätzliches Bild der filmischen Metropole hervorgebracht: Auf der einen Seite steht die Verschränkung des Gegensätzlichen, die auf kein Außen verweist, da sie bereits alle Elemente und Gegenelemente in sich bündelt. Auf der anderen Seite steht hingegen eine Logik der Verschiebung, die sich permanent auf das Außen bezieht und immer schon ein Nächstes hervorruft, das zu einer umfassenden Öffnung des Raums führt, während es zugleich als Abstand und als Differenz in Erscheinung tritt. Die Netztopologien, die als dritte Form der filmischen Topologien im Film noir eingeführt werden, charakterisiert nun gegenüber der Verschränkung des Raums und seiner permanenten Verschiebung ein drittes Grundprinzip: das Prinzip der Verknüpfung. Die Netztopologien des Film noir lassen sich in vielerlei Hinsicht als eine Form der Raumkonstruktion begreifen, welche die beiden ersten Topologien miteinander in Verbindung bringt, sie kombiniert und übereinanderlegt, um letztendlich auf beiden Seiten die Konstruiertheit der Noir-Stadt auszustellen. Auf diese Weise erfolgt auch hier, wie bereits in Zusammenhang mit den abstrakten Topologien des frühen Stadtfilms entwickelt, die Verknüpfung über eine dritte Position, die das Außen der Raumkonstruktion selbst bezeichnet. Denn wurde im Fall der polaren Topologien das Außen gänzlich in das Bild hineingeholt und im Fall der Topologien des Transfers zu keinem Zeitpunkt wirklich erreicht bzw. in einer Zwischenräumlichkeit belassen, so stehen nun die Netztopologien selbst für dieses Außen, oder präziser: für eine abstrakte Relation, die zwischen den einzelnen Elementen aufgezogen wird. In Zusammenhang mit den Netztopologien wird die Metropole erneut als ein in sich geschlossener Kosmos begriffen. Als ein Kosmos jedoch, der allein über eine abstrakte dritte Position – die hier in Form des Netzes und seinen unterschiedlichen Spielarten entfaltet wird – geschlossen bzw. nur noch auf künstliche, konstruierte Weise zusammengehalten werden kann. Das Netz lässt sich damit zunächst als eine relationale Raumstruktur begreifen, insofern es die einzelnen Knotenpunkte (die filmischen Orte) zu einem Gesamtnetz (dem filmischen Raum) verwebt. Im selben Zuge entwickelt es jedoch auch einen zutiefst topologischen, transformativen Charakter. Denn das Netz steht für eine Abstraktion und Transformation räumlicher Prozesse, wie auch Michel Serres in seinen Überlegungen zum Kommunikationsnetz: Penelope (1964) ausführt, wenn er das Bild 293
NETZTOPOLOGIEN IM FILM NOIR
der unermüdlich webenden und das Gewebte in der Nacht wiederum auflösenden Penelope zum Ausgangspunkt nimmt, um daraus ein „netzförmiges Diagramm“58, ein Gewebe von Punktmengen zu entwickeln, die auf mannigfaltige Weise aufeinander verweisen. Die Netzstruktur entsteht dabei zunächst aus einer „Mehrzahl von Punkten (Gipfeln), die untereinander durch eine Mehrzahl von Verzweigungen (Wegen) verbunden sind“59, wobei entscheidend ist, so Serres, dass „per definitionem kein Punkt gegenüber einem anderen privilegiert, und keiner [...] einseitig einem anderen untergeordnet“60 ist. Die Wege, die konstitutiv für die Entstehung des Netzes selbst sind, bilden somit eine Verbindung bzw. eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Elementen, wobei sich eine „Vielfalt und Komplexität der vermittelnden Wege“61 ergibt. An diesen ersten Aussagen wird bereits deutlich, inwieweit die Netztopologien auf die Form einer inneren Topologie verweisen, die allein aus ‚inneren Punkten‘ besteht und als intrinsische Raumlogik inkraft tritt. Der erste Aspekt des Netzes steht damit für eine selbstbezügliche, innerlich vielfältig verknüpfte Raumstruktur, die alle Elemente in sich bündelt bzw. in das übergreifende Gesamtnetz einwebt. Im selben Zuge – und hierin artikuliert sich der zweite Aspekt des Netzes – wird diese innere Topologie jedoch permanent durch eine äußere, abstrakte Topologie entgrenzt, die sich ihr als Zeichen des Abstands und der Differenz einschreibt. Dabei lässt der Film noir aus dieser Doppelung von innerer und äußerer Topologie heraus komplexe, netzartige Strukturen entstehen, die sich in beständig neuen Anordnungen übereinander legen. Diese topologischen Schichtungen, die den Netztopologien untrennbar innewohnen, lassen sich in einem ersten Schritt ein einzelne Ebenen bzw. in unterschiedliche Aspekte der Netzstruktur zerlegen: Da ist zunächst die konkrete Netzstruktur, die sich über die Stadt legt und die einzelnen Teilbereiche und Figurengruppen in räumliche Schichten bzw. in regelrecht parallel existierende Welten aufteilt. Da ist zweitens, und eng damit verbunden, die zentrale Rolle der Medien, die immer wieder als Motor eben dieser Vernetzung und Verschaltung der Metropole eingeführt und auf sichtbare Weise in den städtischen Raum integriert wird. Und da ist drittens die Ebene der Reflexion der Noir-Stadt, die selbst wiederum ein dichtes Netz an Bezügen und Querbezügen zu anderen Phasen und bildlichen Verdichtungen des Film noir aufzieht. 58
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Serres, Michel: „Das Kommunikationsnetz: Penelope“, in: Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 1999 [1964], S. 155-165, hier S. 155. Ebd. Ebd. Ebd. S. 156. 294
DIE VERKNÜPFUNG DER NOIR-STADT
Die netzartige Auffächerung des städtischen Raums in einzelne, sich übereinander legende Schichten tritt im Film noir verstärkt im Bereich der semi-documentaries auf, die im Zuge der ‚Location Period‘ in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre entstehen und die sich an der Schnittstelle zwischen einer zentripetalen und einer zentrifugalen Raumlogik positionieren. Die Aufteilung der Stadt in einzelne Schichten und Ebenen, die wiederum ihre jeweils eigenen Netzstrukturen, Orte, Figurenkonstellationen und Handlungsstrukturen herausbilden, begründet sich dabei vor allem in einer zentralen Eigenschaft der semi-documentaries: ihrem exzessiven Bestreben, die einzelnen Teilräume derart genau zu beziffern und auseinander zu dividieren, mithin die inneren Strukturen der Stadt derart offenzulegen, sodass im Umkehrschluss auch dem Verbrechen eine scheinbar eindeutig errechenbare, abzirkelbare Geometrie der Orte zugrunde liegt. Damit charakterisiert die Netztopologien eine doppelte Bewegung, die zwischen einer fragmentierenden und einer verbindenden Raumdynamik changiert, wobei letzterer zugleich die Utopie von Einheit, Beherrschbarkeit und Kontrolle untrennbar eingeschrieben ist. Diese Entzifferung der Stadt im Sinne einer Aufschlüsselung ihrer einzelnen räumlichen Schichten wird in THE NAKED CITY (Jules Dassin, 1948) in eine fein abgestufte Geometrie der einzelnen Ebenen der (Noir-) Stadt überführt, wobei entscheidend ist, dass jeder dieser drei Ebenen ein Gestus der topographischen Sezierung und Quantifizierung innewohnt. Als erste, obere Ebene ist zunächst die Vermessung der Stadt anzuführen, die besonders von Seiten des Polizeiapparats betrieben wird, der hier gleichsam als Vorbote des späten Film noir die zentrale Detektivfigur ersetzt. Im Zuge dieser Vermessung wird die Stadt in einzelne, bezifferbare Teilräume aufgeteilt, wird die Stadt in Zahlen durchkalkuliert und dadurch zugleich ihre umfassende Beherrschbarkeit suggeriert.
Abb. 30: Die Vermessung der Stadt durch genaue Ortsangaben in THE NAKED CITY (1948)
Diese Vermessung der Stadt wird insbesondere dann deutlich, wenn in einzelnen Sequenzen die genauen Positionen der Wohnungen, wie etwa ‚52 West 83rd Street‘ für das Apartment von Jean Dexter angegeben werden oder auch Jimmy Halloran der Weg zum Chaffee Building, in dem sich die Praxis Dr. Stonemans befindet, vom Apotheker minutiös in einzelnen Blocks erläutert wird. Auch die schrittweise Einkreisung des flüchtenden Mörders wird allein dadurch durchführbar und organisierbar, indem ein gesamtes Informationsnetz über die Stadt gespannt und jedem Polizeiwagen per Funk eine genaue Zielposition zugewiesen wird. 295
NETZTOPOLOGIEN IM FILM NOIR
Diese Vermessung der Stadt hängt also eng mit der umfassenden Medienpräsenz bzw. der medialen Vernetzung der Stadt zusammen: Telefonzentralen, Druckereipressen und Zeitungsjungen, die das Extrablatt mit den neuesten Entwicklungen im Fall des bathtub girls ausrufen, sind zentrale Elemente des Films, durch die ein homogener Kommunikationszusammenhang geschaffen wird. Bezeichnenderweise wird auch das Police Department zunächst über seine Telefonzentrale eingeleitet, in der unzählige Telefonistinnen die einzelnen Zuständigkeitsbereiche miteinander verbinden, sobald sie die Nachricht vom Mord an Jean Dexter erreicht, wobei diese Aktivierung des gesamten Aufklärungsapparats seinen bildlichen Ausdruck in einer detaillierten Parallelmontage findet. Als zweite, mittlere Ebene in THE NAKED CITY ist die Ebene des alltäglichen Lebens der Menschen zu nennen, das auf fast dokumentarische Weise in einzelnen städtischen Panoramen wiedergegeben wird, worin sich zugleich die Parallelen zu den berühmten Querschnittsfilmen der zwanziger Jahre artikulieren: Panoramen der nächtlichen und der erwachenden Stadt, der Orte der Arbeit und des Vergnügens, des Wohnens und des Transits werden hier ins Bild gesetzt, während die Kamera wiederholt einzelnen Figuren auf den Straßen nachspürt und ihnen folgt, um in ihren Dialogen, in ihren Blicken und Bewegungen ein zweites, ein dokumentarisches Bild der Stadt zu generieren. Die Stadt wird auf dieser Ebene vollkommen in ihrer eigenen räumlichen Logik, in ihren eigenen städtischen Rhythmen eingefangen und steht damit zugleich für den Anspruch der semi-documentaries, ein ‚wahres‘ Bild der Stadt zu liefern, „with the city in its naked stone, the people without make-up“, wie der Off-Erzähler in THE NAKED CITY bereits im Vorspann ankündigt.62 Diese Ebene des alltäglichen Lebens scheint damit zunächst gänzlich unabhängig von den Ermittlungen des Mordfalls zu existieren und ihren gewohnten Gang zu gehen. Im Verlauf der Handlung werden jedoch auch die Bewohner der Stadt immer tiefer in den Fall hineingezogen. Denn einerseits diskutieren sie auf ihrer Heimfahrt in die Vorstädte immer intensiver die neuesten Entwicklungen im Fall des bathtub girls, während sie andererseits durch die kontinuierliche Befragung der Ermittler auf den Straßen der Stadt, in den Bars, den Kiosks und Läden der Lower East Side zum Teil des Verbrechens werden, das nun die gesamte Stadt betrifft. So abgekoppelt die Stadt und ihre Bewohner also zunächst 62
Edward Dimendberg verweist in Bezug auf die Szenen des alltäglichen Lebens in THE NAKED CITY auf den gleichnamigen Bildband des Fotografen Weegee, der hier als Vorbild diente, vgl. Dimendberg 2004, S. 47ff.; ein enger Zusammenhang besteht jedoch auch zu den frühen Stadtfotografien und Avantgardefilmen der zwanziger und dreißiger Jahre, etwa zu Jay Leydas A BRONX MORNING (1931); vgl. hier S. 251ff. 296
DIE VERKNÜPFUNG DER NOIR-STADT
vom Mordfall erscheinen, nicht zuletzt durch die Parallelmontage, die sie als zwei unabhängig voneinander existierende Welten inszeniert, so sehr werden beide Welten im Verlauf des Films miteinander verschränkt.
Abb. 31: Szenen des alltäglichen Lebens in Manhattan in THE NAKED CITY (1948)
In diesen dokumentarischen Passagen des Films scheint folglich immer auch eine Referenz auf die frühen Stadtfilme auf, die dennoch – und in zunehmendem Maße – in die Topologie des Verbrechens eingewoben werden, die sich in THE NAKED CITY in einem permanenten Spannungsfeld zum Modus des Vermessens und des Zeigens konstituiert. In Zusammenhang mit der dritten, unteren Ebene der Stadt, die das Netzwerk der Gauner, Verbrecher und Mörder betrifft, wird diese Vermessung der Stadt hingegen einer Umkehrung unterzogen. Denn die Orte, welche die Gauner aufsuchen und in denen sie verkehren, sind als geheime Orte im Untergrund der Stadt zu bezeichnen, die nicht in das System der alltäglichen Orte der arbeitenden Bevölkerung eingebunden sind. Der einsame Hafenabschnitt, an dem Willie Garzah seinen Komplizen in den frühen Morgenstunden ins Wasser stößt, seine versteckte, sogar vor seinen Komplizen geheim gehaltene Wohnung ebenso wie die Boxhallen, die von zwielichtigen Gestalten der Halbwelt bevölkert sind, bilden ein Netz der ungreifbaren, unwirklichen Orte. Denn diese ‚anderen‘ Orte entziehen sich scheinbar jeder räumlichen Ordnung; sie sind losgelöst und nicht verortbar, indem sie immer wieder durch das Raster der umfassenden topographischen Vermessung der Stadt fallen. Es handelt sich also um drei unterschiedliche Netzstrukturen, die der Stadt aufgeprägt und jeweils einem ganz bestimmten Arsenal an Räumen zugeordnet werden. Bezeichnenderweise geht diese Strukturierung der Stadt ebenso mit der Kopplung an bestimmte Tageszeiten einher: Während sich das alltägliche Leben ebenso wie die Ermittlungen hauptsächlich zur Tageszeit abspielen, wird das Verbrechen eindeutig der Nacht zugeordnet: Der Mord an Jean Dexter erfolgt um ein Uhr nachts, der zweite Mord Willie Garzahs an seinem Komplizen geschieht in der Morgendämmerung um fünf Uhr morgens und damit kurz bevor die Bilder der erwachenden Stadt gezeigt werden. Die Trennung in unterschiedliche Stadtstrukturen wird somit durch die Gegenüberstellung der zwei Gesichter der Stadt intensiviert: Während die Welt der Aufklärung des Verbrechens allein im hellen Tageslicht existiert, zeigt sich die Unterwelt als eine Welt, die nachts aktiv ist und somit der Stadt eine andere, eine 297
NETZTOPOLOGIEN IM FILM NOIR
dunkle, nächtliche und verbrecherische Seite hinzufügt, in der die Ambivalenzen und Polaritäten der Noir-Stadt stark hervortreten.63 Mit der umfassenden Durchstrukturierung der Noir-Stadt geht zugleich die Utopie von Ordnung, Beherrschbarkeit und Kontrolle einher, die der ungreifbaren, sich immer wieder entziehenden Noir-Stadt der frühen Phase auf das Deutlichste entgegengesetzt ist. Dennoch wird auch in den semi-documentaries das Dunkle, das Verbrecherische, kurz: das ‚andere‘ Gesicht der Metropolen nicht vollständig verbannt. Im Gegenteil dringen sie auch hier massiv in das Geschehen ein, nun jedoch im Modus ihrer medialen Erfassbarkeit, ihrer genauen Aufzeichnung und Vermessung, die sich in der Folgezeit vor allem in den populären ‚Urban Confidential‘-Series der fünfziger und sechziger Jahre fortsetzen wird.64 Der erstarkenden Rolle der Medien in Zusammenhang mit der Aufklärung des Verbrechens in der Noir-Stadt trägt in besonderem Maße der Film CALL NORTHSIDE 777 (Henry Hathaway, 1948) Rechnung. Denn hier wird Chicago als ein räumliches Gebilde inszeniert, das durch und durch medial verschaltet ist. Medien werden hier jedoch nicht allein, wie etwa in THE NAKED CITY, als Modus der Raumverknüpfung eingesetzt, sondern sie bilden vielmehr den zentralen Referenzpunkt des gesamten Geschehens. So wird der Protagonist des Films, Jim McNeal – bezeichnenderweise selbst ein ambitionierter Reporter – überhaupt erst durch eine kleine Zeitungsannonce auf ein ungeklärtes Verbrechen aufmerksam, dessen Lösung er sich im Laufe des Films zur Aufgabe macht. Dabei greift er auf einen umfassenden, ausdifferenzierten Medienapparat zurück, der die Stadt zunehmend durchsetzt und auf das Deutlichste ins Bild gebracht wird: Ständig sieht man neue Schlagzeilen von McNeal, begleitet von Aufnahmen der Druckereipressen mit ihren scheinbar endlosen Zeitungsfahnen. Man sieht Zeitungsjungen, welche die großen Fortschritte im Fall Wiecek anpreisen, sowie Telefonistinnen, die die Reaktionen der Leserschaft unermüdlich entgegen nehmen. Medien, Zeitungen und Schlagzeilen werden hier derart deutlich ins Bild geholt, 63
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An dieser Stelle sei zugleich auf die Weimarer Straßenfilme verwiesen, die in ihrer Koppelung von Nacht/Verbrechen und Tag/Aufklärung diese Raumorganisation bereits deutlich vorzeichnen; vgl. hier S. 220-224. Will Straw nennt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Filmen, deren Gemeinsamkeit sich darin begründet, dass sie in einer Kombination aus Dokumentation und Fiktion versuchen, die kriminellen ‚Geheimnisse‘ der Städte aufzudecken und dadurch einen Katalog ‚wahrer‘ Kriminalfälle zu erstellen, wie etwa KANSAS CITY CONFIDENTIAL (1952), NEW ORLEANS UNCENSORED (1955), CHICAGO SYNDICATE (1955) oder INSIDE DETROIT (1956); vgl. Straw, Will: „Urban Confidential. The Lurid City of the 1950s“, in: Clarke 1997, S. 110-128. 298
DIE VERKNÜPFUNG DER NOIR-STADT
sodass sich der gesamte Fortgang der Handlung, die zunehmende Verdichtung des Falls sowie das Zutagetreten der politischen Korruption allein aus den einzelnen Schlagzeilen ablesen lassen, die wiederholt eingeblendet werden: „SLAVES TO SAVE $ 5.000 – OFFERS IT TO CLEAR HER SON“, „NOT GUILTY – WIECEK PLACES FAITH IN MOTHER“, „WIECEK INNOCENT – SAYS EX WIFE“, „FRANK WIECEK PASSES LIE TEST“, „POLITICAL CORRUPTION SEEN IN WIECEK CASE“, „WHERE IS WANDA SKUTNIK?“, „FINGERWOMAN FOUND – REFUSES TO CHANGE HER TESTIMONY“.
Abb. 32: Einsatz von Medien und technischen Apparaturen in CALL NORTHSIDE 777 (1948)
Unterschiedliche Medien und Techniken werden in diesem Film als der Schlüssel zur Entlarvung der eigentlichen Schuldigen – Wanda Skutnik mit ihrer Falschaussage und der gesamte korrupte Polizeiapparat unter General Norris – begriffen. Mehr noch: Sie sind unabdingbarer Bestandteil der Ermittlungen, denn die notwendige Beschaffung von aussagekräftigen Beweisen kann allein dadurch gelingen, dass Jim McNeal mit seiner kleinen Kamera wiederholt Fotos von den Beweisakten anfertigt. Auch der zwingende Beweis der Falschaussage Wanda Skutniks erfolgt schließlich durch eine mehr als 100fache Vergrößerung des Verhaftungsfotos, auf dem das tatsächliche Datum der Zeitung lesbar wird. Auf der einen Seite ist CALL NORTHSIDE 777 folglich, wie bereits in Bezug auf THE NAKED CITY festgestellt wurde, von dem beinahe exzessiven Bestreben durchdrungen, die Stadt einer umfassenden Vermessung zu unterziehen und die Fakten des Verbrechens an die Oberfläche zu holen, sie offenzulegen. Im selben Zuge wird er jedoch auch zum Zeichen eines räumlichen Umbruchs, denn der ‚centrifugal space‘ gewinnt hier eine Qualität, die nicht mehr allein auf eine bestimmte Art der Architektur zurückgeführt werden kann, sondern die vielmehr einen Raum betrifft, der in hohem Maße von den unterschiedlichsten Technologien durchsetzt ist: The most striking feature of centrifugal space remains its frequently nonarchitectural character, its introduction of technologies that facilitate speed and communication into the experience of a built environment once exclusively defined by architecture, urbanism, and landscape.65
In seiner hoch detaillierten Beschreibung und Bezifferung des Urbanen wohnt CALL NORTHSIDE 777 ein zutiefst dokumentarischer Charakter inne. Dennoch erschöpft sich der Film nicht allein in der dokumentari65
Dimendberg 2004, S. 178. 299
NETZTOPOLOGIEN IM FILM NOIR
schen Nachzeichnung der Aufklärung des Verbrechens, sondern er setzt vielmehr sehr bewusst Bilder der dunklen, zutiefst ambivalenten NoirStadt ein, was verdeutlicht, in welch hohem Maße der Typus des semidocumentaries an der Schnittstelle zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelt ist. Dabei ist das Umschalten des filmischen Modus’ stets auf präzise Weise an die zwei unterschiedlichen Zeitebenen des Films gekoppelt. Denn der Film beginnt – nach der bereits angesprochenen Luftaufnahme Chicagos und der Reflexion des Off-Erzählers – mitten im Jahr 1932, als Frank Wiecek des Mordes angeklagt und verhaftet wird. Doch erst mit dem zeitlichen Sprung in das Jahr 1944 und damit bezeichnenderweise in das Jahr der ‚großen Drei‘ des Film noir wird das Bildarsenal einer typischen Noir-Stadt aufgerufen, mit seinen nächtlichen Straßen und Hochhauskulissen, die permanent zwischen den Jalousien des Zeitungsbüros hindurchscheinen. Auch das Schlachthofviertel Chicagos, das wiederholt als hochgradig gefährliches Stadtviertel bezeichnet wird und in dem McNeal schließlich Wanda Skutnik ausfindig macht, ist durchsetzt von den Insignien der Noir-Stadt. Denn je tiefer McNeal in das Verbrechen eindringt, desto präsenter werden die Facetten der NoirStadt. Das Schlachthofviertel wird mit seinen flimmernden Leuchtreklamen und seinen verkommenen, von zwielichtigen Gestalten bevölkerten Kneipen zum Inbegriff des Verbrechens, während im Umkehrschluss die Orte, die an die Aufklärung des Verbrechens gekoppelt sind, das Polizeiarchiv etwa oder auch die zahlreichen Sitzungssäle, umso mehr durch einen zeigenden, beziffernden Modus gekennzeichnet sind. Auch in THE NAKED CITY wird neben der schrittweisen, detaillierten Dokumentation der Fahndung nach dem Mörder Jean Dexters eine zweite, reflektierende Ebene in das Geschehen eingezogen, die insbesondere mit der Figur des Off-Erzählers verknüpft ist. Denn dieser verschafft sich, schwebend über der Stadt und allwissend, einen Überblick und ist somit in der Lage, die Geschehnisse, die sich in der Stadt selbst und auf ihren Straßen zutragen, aus eben dieser Außenperspektive zu kommentieren. In dieser Hinsicht reiht sich THE NAKED CITY zugleich in eine Linie von semi-documentaries ein, deren „characteristic opening is one which establishes an institutional voice and vantage point of authority from which the investigation is undertaken.“66 Diesem Off-Erzähler, der sich gleich zu Beginn der Eröffnungssequenz als Mark Hellinger, der Produzent des Films, zu erkennen gibt67, kann insofern eine einende 66 67
Straw 1997, S. 124. Der Produzent Mark Hellinger war unter anderem auch, wie Mike Davis berichtet, an der Produktion des Films CRISS CROSS (Robert Siodmak, 1949) beteiligt, mit dem er den Plan verfolgte, „[to] do for Los Angeles what Naked City had done for New York.“ vgl. Davis 2001, S. 38. 300
DIE VERKNÜPFUNG DER NOIR-STADT
Funktion zugesprochen werden, als dieser wechselnd die Perspektiven der unterschiedlichen Figuren einnimmt. So kommentiert er die Vorgehensweisen des Polizeiapparats ebenso wie die alltäglichen Handlungen der Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit. Immer wieder gibt er Jimmy Halloran neue Ratschläge und ermahnt ihn, die Augen offenzuhalten. In der letzten Sequenz nimmt er schließlich die Perspektive des Mörders Willie Garzah ein und kommentiert die einzelnen Stationen seiner Flucht. Dabei charakterisiert ihn stets eine gewisse ironische Distanz gegenüber den Figuren und ihren Handlungen, wenn er etwa in Bezug auf die langwierige, fast aussichtslose Fahndung nach Willie Garzah trocken bemerkt: „His name is Willie, maybe. He might have been a professional acrobat, maybe. He might be the man we’re looking for, maybe. Oh yes, he’s a big man – only half a million big men in New York.“ Die Rolle des Off-Erzählers in THE NAKED CITY geht jedoch nicht allein darin auf, die Handlungen der einzelnen Figuren zu begleiten und zu kommentieren. Vielmehr besteht seine Funktion darin, kontinuierlich die Rolle der Metropole als Schauplatz und zugleich als Motor des Verbrechens in den Blickpunkt zu rücken. Auf diese Weise durchzieht den gesamten Film eine Reflexion der Noir-Stadt, die insbesondere an den Aussagen gegenüber Jimmy Halloran auf dem Weg seiner Ermittlungen deutlich wird: So etwa, wenn Halloran aus dem Fenster bei Dr. Stoneman auf die imposante Stadtkulisse New Yorks hinabblickt und der OffErzähler schlicht bemerkt: „There is your city, take a good look, Jean Dexter is dead, and the answer must be somewhere down there.“ Und schließlich endet auch der gesamte Film mit einem Kommentar des OffErzählers, der die tragische Geschichte Jean Dexters wiederum nur zu einer möglichen, zufälligen Variante in dieser Stadt mit acht Millionen Bewohnern und ebenso vielen möglichen Geschichten macht: It’s one o’clock in the morning again, and this is the city, and these are the lights that a child born to the name of Batory hungered for. Her passion has been played out now. Her name, her face, her history was worth five cents a day, for six days. Tomorrow a new case will hit the headlines. [...] There are eight million stories in the naked city. This has been one of them.68
Mit dieser permanenten Reflexion des Anteils der Metropole selbst am Verbrechen geht zugleich die Freilegung der Kriterien ihrer filmischen Konstruktion einher, was zuletzt am Beispiel der Einleitungssequenz von THE NAKED CITY verdeutlicht werden soll. So beginnt der Film mit einer spektakulären Luftaufnahme von Manhattan, während der Off-Erzähler anstelle eines Vorspanns die zentralen, an diesem Film beteiligten Perso-
68
THE NAKED CITY (Jules Dassin, 1948), TC: 01:33:25. 301
NETZTOPOLOGIEN IM FILM NOIR
nen aufzählt. Diese genauen Angaben ebenso wie die Betonung, dass der gesamte Film ‚on location‘ gedreht sei, „with the city in its naked stone, the people without make-up“, ruft unmittelbar den Topos der ‚offenen‘ bzw. der ‚nackten Stadt‘ hervor, der den semi-documentaries so untrennbar eingeschrieben ist.69 In einem zweiten Schritt, und entscheidender noch, bezieht sich dieses Offenlegen der Stadt jedoch auch auf die Mechanismen der filmischen Konstruktion der Noir-Stadt. Denn nach der ersten Etablierung des Settings wird in THE NAKED CITY unmittelbar die Transformation New Yorks in eine charakteristische Noir-Stadt vorgeführt, indem die Stadt mit den Worten: „Well, let’s begin our story this way. It’s one o’clock in the morning“, plötzlich in ein nächtliches Ambiente getaucht wird. Auf einmal sind die Straßen ausgestorben und leer, geistert ein Mann einsam in der verlassenen Wall Street umher, werden eine leere Bank, ein leeres Theater, eine ruhende Fabrikhalle, ein verlassenes Schiff im Hafen und ein schlafender Mann gezeigt.
Abb. 33: Die Transformation der Noir-Stadt in THE NAKED CITY (1948)
Nach diesem Panorama der schlafenden Orte werden im Folgenden unterschiedliche Orte aufgerufen, die nachts aktiv sind, die regelrecht pulsieren. Hierzu zählen einerseits die Orte, an denen Menschen nachts arbeiten, wie etwa die Journalisten in der Zentrale einer Zeitung, eine Putzfrau im Bahnhof und ein Radiomoderator während seiner nächtlichen Sendung. Andererseits gibt es jedoch auch jene pulsierenden nächtlichen Orte, die nicht mit der Arbeit, sondern mit dem Vergnügen assoziiert werden: in diesem Fall ein überfülltes Restaurant und eine Bar, in der die Figuren nach getaner Arbeit ausgelassen feiern. Unmittelbar daran anschließend erfolgt eine langsame Kamerafahrt auf ein Fenster zu, hinter dessen Jalousien ein junges Mädchen von zwei Männern mit ein paar routinierten Griffen überwältigt, betäubt und umgebracht wird. 69
Der Topos der ‚nackten Stadt‘ im Sinne eines Aufdeckens der Verbrechen und der Schattenseiten der Metropolen ist insbesondere den bereits erwähnten ‚Urban Confidential‘-Series eingeschrieben, deren formuliertes Ziel ein ‚lurid urban exposé‘ ist: „In the period being discussed here, dozens of films linked to the idea of urban exposé open in ways which promise and withhold an illicit uncovering of secrets“; Straw 1997, S. 124. In diesem Kontext wird oftmals auch auf den zentralen Einfluss des italienischen Neorealismus auf den Typus des semi-documentaries hingewiesen; vgl. etwa Ford 1994, S. 125; Spicer 2002, S. 56-59. 302
DIE VERKNÜPFUNG DER NOIR-STADT
Es sind demnach im Wesentlichen drei Transformationsstufen, durch die New York in eine charakteristische Noir-Stadt überführt wird: erstens durch den Wechsel von einer Tages- zu einer Nachtperspektive, die unabdingbar für die Entfaltung des Bildarsenals des Film noir ist. Zweitens werden von allen möglichen Orten der Stadt diejenigen ausgewählt, die nachts nicht ruhen, sondern in denen unterschiedliche Aktionen stattfinden. Aus diesen nachtaktiven Orten werden in einem letzten Schritt diejenigen Orte ausgeschlossen, in denen gearbeitet wird. Was verbleibt, sind nun zwei idealtypische Räume des Film noir, die zugleich für die Faszination und die Gefahren der Großstadt stehen: Räume des Vergnügens und Räume des Verbrechens. Interessant ist nun, dass selbst den beiden Vergnügungsorten, dem Restaurant und der Bar, bereits ein Verweis auf das Verbrechen unterliegt, denn hierin befinden sich Dr. Stoneman und Frank Niles, die – wie sich im Verlauf des Films herausstellen wird – auf das Engste in den Mordfall Jean Dexter verwickelt sind. Es geht also in dieser Einleitungssequenz um eine schrittweise Freilegung der filmischen Konstruktion der Noir-Stadt als nächtliche Stadt, in der lediglich vereinzelte Räume aktiviert sind, andere hingegen vollkommen aus dem Geschehen ausgeblendet werden. Der Betrachter wird somit Zeuge der Selektion eben derjenigen Räume, die im Film noir als Schauplatz des Verbrechens dienen. Genau dieser Punkt unterscheidet THE NAKED CITY auch von anderen Beispielen des Film noir. Denn während dort ein rein fiktionales Geschehen gezeigt wird, bricht THE NAKED CITY, insbesondere in der Figur des Off-Erzählers, mit dieser Fiktion bzw. legt eben diese Fiktion als eine Konstruktion frei. Der Betrachter wird von Beginn an nicht in ein fiktionales Geschehen eingespannt, sondern beobachtet vielmehr – wie auch der Off-Erzähler selbst – die Konstruktion des Geschehens und die Auflösung des Verbrechens aus einer Außenperspektive. Auf diese Weise wird die Raumkonstruktion in THE NAKED CITY unmittelbar durch eine äußere Position entgrenzt, wird ein Abstand in das Geschehen eingezogen, das nicht zuletzt im Gestus des Zeigens und des Offenlegens beständig wach gehalten wird. Der Kernpunkt der Raumkonstruktion von THE NAKED CITY und CALL NORTHSIDE 777 liegt folglich darin, in einem Gestus des Offenlegens (der räumlichen Strukturen der Stadt, der einzelnen Aufklärungsschritte des Verbrechens) die Komplexität der verfolgten Raumlinien und Raumbezüge in ein dichtes Netz einzuweben, das sich über die gesamte Stadt legt. Die einzelnen Schichten der Stadt werden hier auf das Genaueste seziert und freigelegt, um sie in einem nächsten Schritt wiederum in eine vermeintlich klare, errechenbare Linie der Aufklärungsarbeit einzubinden. Im selben Zuge aktivieren sie jedoch auch eine Vielzahl von ‚anderen Zeiten‘ und ‚anderen Räumen‘, die für den Film noir so 303
NETZTOPOLOGIEN IM FILM NOIR
entscheidend sind. Sie werden zu einem Zeichen dafür, inwieweit sich die drei Raumstrukturen von polaren Topologien, Topologien des Transfers und Netztopologien in einem einzigen Film überlagern können. So integrieren sie durch die Aktivierung der Noir-Stadt an ganz bestimmten Punkten innerhalb der Narration einen polaren Raum in das Geschehen. Gleichzeitig sind sie jedoch auch von transitorischen Bewegungen durchdrungen, die sich einerseits in den zahlreichen Wegstrecken der Ermittler durch die Straßen der Metropolen, andererseits aber auch in der Immaterialität, Unsichtbarkeit und Geschwindigkeit des von Technologien und Medien durchwirkten zentrifugalen Raums artikulieren. Vor diesem Hintergrund ist auch die zeitliche Sukzession bzw. die Kopplung der drei unterschiedlichen filmischen Topologien an drei bestimmte Phasen des Film noir wiederum zu relativieren. Und dies nicht allein mit Blick auf den Typus des semi-documentary, dem das Changieren zwischen zwei räumlichen Logiken – einer dokumentarischen und einer fiktionalen – bereits in seiner Grundanlage eingeschrieben ist, sondern eben auch mit Blick auf die frühe Phase des studio-expressionism und die späte Phase des fragmentation and decay. Denn bereits die symbolisch verdichteten, expressionistischen Beispiele sind, wie etwa THE MALTESE FALCON und DOUBLE INDEMNITY eindrücklich unter Beweis stellen, von Transitorten durchdrungen, die den urbanen Raum auf das Anonyme und das Ephemere hin öffnen. Demgegenüber kehren jedoch auch die späten Beispiele des Film noir, welche die Ambivalenzen der Noir-Stadt bereits weitgehend hinter sich gelassen und ihre Polaritäten aufgelöst haben, wiederum zu stark verdichteten Bildern derselben zurück, wofür etwa GUN CRAZY oder auch Fritz Langs THE BIG HEAT als Beispiel angeführt werden können, in die sich die Noir-Stadt mit ihren unergründlichen, gefährlichen und verlockenden Orten einschreibt. Die Komplexität des Film noir begründet sich vor allem darin, so eine zentrale Argumentationslinie dieses Kapitels, dass sich hier multiple Räumlichkeiten und multiple Zeitlichkeiten überkreuzen, die gegeneinander gesetzt werden und somit bestimmte Spannungsverhältnisse erzeugen. Der Film noir ist folglich von einer inneren Dynamik gekennzeichnet, bei der sich die Filme selbst, und zwar im Prozess ihrer Entstehung, zitieren und reflektieren. Dieser Punkt ist entscheidend, verweist er doch darauf, dass die Reflexion und das Aufgreifen der visuellen Chiffren der Noir-Stadt eben nicht erst innerhalb der Noir-Ästhetik des Neo-Noir der siebziger und achtziger Jahre erfolgt70, sondern bereits innerhalb der 70
Vgl. hierzu die unter Fußnote 1 angeführten einschlägigen Werke zum Verhältnis zwischen Film noir und Neo-Noir; ebenso ließe sich eine modifizierte Linie zu den europäischen Beispielen des Film noir ziehen, die noch einmal einen ganz neuen Blick auf die Dynamiken des Film noir 304
DIE VERKNÜPFUNG DER NOIR-STADT
Zeitspanne des Film noir selbst. Auf diese Weise bezeichnet der Film noir von Beginn an eine Phase innerhalb der Entwicklung der filmischen Metropole, die hochgradig selbstreflexiv ist und die sich selbst permanent in Relation zu anderen Filmen setzt, deren Elemente sie bewusst aufgreift und wendet. Dadurch und erst an diesem Punkt wird die Reflexion der filmischen Konstruktion der Noir-Stadt möglich, zeigt sich in dieser Reflexion selbst die vollständige Durchdringung der Polaritäten von einer objektiven, technischen, modernen Welt und einer radikal subjektiven, expressionistischen und hoch symbolischen ‚anderen‘ Welt. In ihrer permanenten Reflexion und Wendung der Noir-Stadt verweisen die Filme wiederum auf einen gemeinsamen Punkt – auf die Unbeherrschbarkeit und die Ungreifbarkeit der Noir-Stadt selbst. Denn es ist gerade im Unsichtbaren und im Ungesagten, in dem die Noir-Stadt ihre stärkste Wirkungsmacht entfaltet. Und es ist gerade das Untergründige, das in den Schatten, in der Atmosphäre und in der Stimmung des Film noir selbst verborgen liegt, das der filmischen Metropole in den vierziger und fünfziger Jahren ein neues, ein modifiziertes Gesicht verleiht: A mode of signification that privileges connotation over the denotative, causeand-effect logic of linear narrative, the highly-wrought noir aesthetic ensures that the ‚meaning‘ of the noir city is not to be found in the narrative’s surface details but in its shadows, in the intangibilities of tone and mood.71
Die Metropole vollzieht im Film noir eine zweifache filmische Transformation, deren Zielpunkt einerseits ihre topologische Umformung und andererseits ihre topographische Grundanlage bildet. Denn der Film noir nimmt zuallererst eine regelrechte topologische Umformung der Metropolen vor; er transformiert sie zu genuinen Noir-Städten, die – verdichtet zu bestimmten visuellen Topoi – ein ganzes Arsenal an Bedeutungen transportieren. In der Selektion der Orte und ihrer medialen Konstruktion verleiht der Film noir stets dem Dunklen, den Schattenseiten und den Abgründen der Metropolen ein eindrückliches Bild. In einem zweiten Schritt geht es ihm jedoch auch um die topographische Transformation der Metropolen, auf die der Film noir auf sensible Weise reagiert, indem er sie nicht allein aufzeichnet, sondern vielmehr in die filmische Raumkonstruktion selbst integriert. Die topographische Einschreibung erfolgt somit erst im Durchgang durch den Film selbst, der daraus zentripetale und zentrifugale Raumbilder entwickelt, in denen sich das Nicht-Mehr und das Noch-Nicht der Metropolen auf besondere Weise verdichtet.
71
eröffnen; erste Ansätze hierzu finden sich insbesondere in: Spicer, Andrew (Hg.): European film noir. Oxford: Manchester University Press 2007. Krutnik 1997, S. 98f. 305
NETZTOPOLOGIEN IM FILM NOIR
Auf diese Weise zeigt sich der Film noir in hohem Maße von eben denjenigen Raumfragen durchdrungen, mit denen sich bereits der frühe Stadtfilm auseinandersetzt, wobei er eine doppelte Differenz markiert. Denn auf der einen Seite führt er die Raumrelationen zu einer neuen Dichte, indem er die Ambivalenzen der Großstadt nicht mehr allein in einem bestimmten Teilraum (der Straße, der Gasse) entfaltet. Im Gegenteil gerinnen die filmischen Orte im Film noir als das Punktuelle, das Begrenzte der filmischen Raumkonstruktion selbst zu einzelnen, verdichteten Bildmotiven (den Fenstern und Jalousien, den Gemälden und Spiegeln), in denen sich die gesamte Noir-Stadt in ihrer Doppelbödigkeit, in ihrer Zweigesichtigkeit und mehr noch, in ihrem permanenten Verweis auf das Andere, auf das Unsichtbare der Metropolen entfaltet. Auf der anderen Seite charakterisiert den Film noir jedoch auch eine signifikante Ausweitung der räumlichen Bezüge, indem die Filme nun in den Außenraum der Städte ausgreifen, um dort wiederum erneut die Noir-Stadt zu finden. Im selben Zuge wird der Raum selbst entgrenzt; er wird immateriell und verliert seinen architektonischen Charakter, indem er nun gänzlich von Medien durchsetzt ist oder aber durch die Freilegung seiner medialen Konstruktion selbst an seine Grenzen geführt wird. In den polaren Topologien, den Topologien des Transfers und den Netztopologien des Film noir wird jeweils, wenngleich auf ganz unterschiedlichem Wege, dem Unsichtbaren der filmischen Metropole ein Gesicht verliehen. Denn dem Film noir geht es nicht mehr um die Produktion städtischer Sichtbarkeit, sondern vielmehr um das Hervorbringen ihrer Kehrseite, um die Unsichtbarkeiten und Undefiniertheiten der filmischen Stadt. Es ist folglich ein durchgängiger Abstand, der in das Geschehen eingezogen wird und der unmittelbar darauf verweist, dass die filmische Metropole im Film noir eine Spaltung erfährt. Die Raumkonstruktion zeugt damit immer auch von einem Fremdwerden des Film noir gegenüber sich selbst, das sich in seine inneren Polaritäten, in seine Bewegungslinien, vor allem aber auch in seine entkoppelten Reflexionsfiguren der Noir-Stadt einschreibt. Und es ist gerade diese übergreifende Reflexion der Noir-Stadt und mehr noch, der filmischen Metropole selbst, die auch die folgenden Jahrzehnte maßgeblich prägen wird, indem sich die Stadtfilme nun verstärkt damit auseinanderzusetzen haben, wie sie sich selbst zur (Film-)Geschichte der Metropole mit ihren vielschichtigen, facettenreichen Gesichtern verhalten möchten.
306
VI. F R A G M E N T I E R T E S I C H T B A R K E I T E N : EPISODENFILME DER ACHTZIGER UND NEUNZIGER JAHRE Während die Raumkonstruktion im Film noir durch eine hohe Symbolik gekennzeichnet ist, die immer wieder das Unsichtbare der Metropolen an die Oberfläche holt, sich im selben Zuge aber auch an den umfassenden räumlichen Transformationen der Metropolen stets neu auszurichten hat, so markiert der Episodenfilm der achtziger und neunziger Jahre einen deutlichen Wechsel. Und dieser Wechsel begründet sich vor allem darin, dass sich hier die sichtbare Transformation des Urbanen nicht allein in die Bilder einschreibt, um dann in einem zweiten Schritt die Bilder selbst zu verändern. Im Gegenteil: Die umfassende Fragmentierung und Segregation des Städtischen in den achtziger und neunziger Jahren und die damit einhergehende Modifizierung bzw. Umkehrung räumlicher Verhältnisse wird im Episodenfilm unmittelbar in die mediale Konstruktion des Raums integriert: als Episodisches, als Fragmentiertes, als Ausschnitthaftes, kurz: als fragmentierte Sichtbarkeit der Metropolen selbst. Diese Beobachtung lässt zwei unterschiedliche Begründungslinien zu, die beide gleichermaßen für die Raumkonstruktion im Episodenfilm entscheidend sind: Auf der einen Seite haben sich die Situation der Filmproduktion und die Modalitäten der Raumkonstruktion grundlegend verändert. Denn die weitreichenden Entwicklungen innerhalb des europäischen Nachkriegskinos und die zentralen Einflüsse New Hollywoods haben nicht nur eine neue Art von filmischen Räumen denkbar gemacht, sondern sie treffen sich zugleich darin, dass sie die Fragmentierung des Sichtbaren an die Aussage einer „Nichtgenerierbarkeit von Sinn“ koppeln.1 Auf der anderen Seite sind auch die Fragen des Städtischen in eine neue Dimension eingetreten, indem Fragen der Globalisierung und der
1
Vgl. zu dieser Aussage einer „Nichtgenerierbarkeit des Sinns“ in Zusammenhang mit dem Kinos New Hollywoods, das in dieser Hinsicht unmittelbar auf das europäische Nachkriegskino anknüpft Engell 1992, S. 279-283; zu den Raumkonstruktionen des modernen Films und Deleuzes beliebigem Raum vgl. hier S. 161-164. 307
FRAGMENTIERTE SICHTBARKEITEN
zunehmenden Verstädterung mit neuer Dringlichkeit auf den Plan gerufen werden.2 Dabei begründen sich die inneren Korrespondenzen zwischen dem Episodischen und dem veränderten Gesicht der Städte vor allem im urbanistischen Diskurs zur Auflösung der Großstadt, der weithin die neunziger Jahre prägt. Denn dieser Diskurs setzt sich dezidiert mit den Implikationen einer zunehmenden räumlichen Fragmentierung auseinander, die sich in der Umkehrung der räumlichen Relationen zwischen Zentrum und Peripherie bzw. in der Entgrenzung eben dieser Relationen in Form einer übergreifenden ‚Zwischenstadt‘ artikuliert.3 Beide Entwicklungslinien bilden den Rahmen dieses Kapitels und zugleich eine entscheidende Grundlage für das Verständnis des Episodenfilms in den achtziger und neunziger Jahren. Mehr noch: Beide Linien werden im Episodenfilm in ein konstitutives Bedingungsverhältnis zueinander gesetzt, indem sie als zwei zentrale Transformationsprozesse unmittelbar auf die Konstruktion des filmischen Raums einwirken. Es wird in diesem Kapitel also einerseits darum gehen, die Frage nach der episodischen Anlage aus der Fragmentierung, der Selbstbezüglichkeit und der Reflexivität des modernen Films bzw. der ‚zweiten Moderne‘ herzuleiten. Andererseits wird jedoch auch der Frage nachzugehen sein, inwiefern die wahrnehmbare Fragmentierung der Metropolen bzw. ihre räumliche Umkehrung ihren adäquatesten Ausdruck im Episodischen als dem Bruchstückhaften, dem Unfertigen und dem Ausschnitthaften findet. Geht man zunächst auf die ursprüngliche Wortbedeutung des Episodischen ein, so steht das griechische epeisodion in Aristoteles Poetik für eine zwischen zwei Chorgesängen eingeschobene Sprechpartie.4 Führt 2
3
4
Vgl. Saskia Sassen: Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities. Frankfurt/M./New York: Campus 1996; dies.: Deciphering the Global. Its Spaces, Scales and Subjects. London: Routledge 2006; Scott, Allen J. (Hg.): Global City-Regions. Trends, Theory, Policy. New York: Oxford University Press 2001; Taylor, Peter J.: World City Network. A Global Analysis. London: Routledge 2004. Vgl. Prigge, Walter (Hg.): Peripherie ist überall. Frankfurt/M./New York: Campus 1996; Fishman, Robert: „Die neue Stadt des 20. Jahrhunderts: Raum, Zeit und Sprawl“, in: Bernd Meurer (Hg.): Die Zukunft des Raumes. Frankfurt/M./New York: Campus 1994, S. 91-107; Koolhaas, Rem: „Die Stadt ohne Eigenschaften“, in: Archplus, Nr. 132/1996, S. 18-29; Sieverts, Thomas: Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1998; sowie Breuer, Gerda (Hg.): Neue Stadträume. Zwischen Musealisierung, Medialisierung und Gestaltlosigkeit. Frankfurt/M.: Stroemfeld 1998. Vgl. Aristoteles: Poetik. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München: Heimeran Verlag 1976, etwa S. 47, S. 60 und S. 65; vgl. hierzu auch die Einleitung in: Hoffmann, Hilmar: „Film-Episode und Episodenfilm“, in: Andreas 308
EINFÜHRUNG
man diesen Gedanken weiter, so bildet die Episode „ein flüchtiges, vergängliches Dazwischen, das als ‚Eindringling‘ das Eigentliche unterbricht und auf die Einheit des Wesentlichen fragmentierend einwirkt.“5 Das Episodische steht folglich zunächst für eine Unterbrechung, für einen Bruch, für eine Verzögerung innerhalb der Narration. In Zusammenhang mit dem Episodenfilm findet dieses Prinzip nun insofern eine Steigerung, als dieser allein aus einer Aneinanderreihung einzelner Episoden und damit aus einer kontinuierlichen Folge von Unterbrechungen, Verzögerungen und Fragmentierungen besteht. In seiner begrenzten Form des Kurzen und Ausschnitthaften ist der Episodenfilm zugleich in der Nähe der Kurzgeschichte angesiedelt oder präziser: liegt die Episode, so Hilmar Hoffmann, in Aufbau und Form „im Induktionsbereich der Kurzgeschichte, wie sie etwa Schnitzler prototypisch ausgebildet hat.“6 Diese ersten Aussagen lassen sich mit Blick auf die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre noch weiter differenzieren. So schlägt Karsten Treber in seinem Buch Auf Abwegen (2005) die Unterscheidung zwischen dem Episodenfilm einerseits und dem Typus des episodischen Erzählens andererseits vor, wobei sich der Episodenfilm „aus einzelnen, zeitlich und räumlich in sich abgeschlossenen narrativen Segmenten, die auf der Handlungsebene keinen gegenseitigen Einfluss aufeinander nehmen können“7, speist. Der Episodenfilm erscheint dadurch vielmehr als eine Aneinanderreihung thematisch lose miteinander verknüpfter Kurzfilme – eine Facette, die besonders in den frühen Beispielen des Episodenfilms zu finden ist. Demgegenüber zeichnet sich das episodische Erzählen, das in verstärktem Maße ab den achtziger Jahren auftritt, gerade durch seine Komplexität und die „vielgestaltigen multiperspektivischen Vernetzungen“8 aus, wodurch es „tendenziell einem kaleidoskopartigen Mosaik ähnelt, bei dem die einzelnen Bestandteile ohne das Gesamtbild des Beziehungsgeflechts abstrakt und belanglos wirken.“9
5 6
7 8 9
Schreitmüller (Hg.): Filme aus Filmen. Möglichkeiten des Episodenfilms. Oberhausen: Verlag Karl Maria Laufen 1983, S. 11-30, hier S. 12. Treber, Karsten: Auf Abwegen. Episodisches Erzählen im Film. Remscheid: Gardez! 2005, S. 15. Hoffmann 1983, S. 12. Auch die anderen Beiträge des Sammelbands von Andreas Schreitmüller durchzieht stets der Vergleich bzw. der Abgleich des Episodenfilms mit dem Kurzfilm, was nicht zuletzt in der Eingrenzung der Filme bezüglich der Kategorie des ‚Omnibusfilms‘, das heißt von Kooperationsfilmen mehrerer Regisseure, liegt. Treber 2005, S. 17. Ebd., S. 20. Ebd., S. 19. Für eine nähere Ergründung des episodischen Erzählens sind zudem die angloamerikanischen Bezeichnungen dieses Genres höchst 309
FRAGMENTIERTE SICHTBARKEITEN
Diese Differenzierungen des Episodischen sind entscheidend für das Verständnis der filmischen Raumkonstruktion in den achtziger und neunziger Jahren. Dennoch bildet weniger die umfassende Bestimmung des Episodenfilms und seiner Spielarten den Zielpunkt dieses Kapitels, als vielmehr die Ergründung seines topologischen Potenzials, mithin derjenigen Raumdynamiken, die das Fragmentierte, das Ausschnitthafte und das Episodische kontinuierlich in Bezug zu einem übergreifenden städtischen Raum setzen. Damit ist innerhalb der Entwicklungslinie der filmischen Metropole eine dritte Phase erreicht, die sowohl die konstitutive Produktion von Sichtbarkeit (im frühen Stadtfilm) als auch die Konfiguration des Unsichtbaren (im Film noir) hinter sich gelassen hat. Denn im Episodenfilm wird die filmische Metropole im Modus einer fragmentierten Sichtbarkeit generiert, die nicht mehr auf eine Sinn stiftende Einheit, auf eine Ganzheit zurückgeführt werden kann, oder präziser: deren Ganzheit immer nur eine provisorische, eine künstlich gestiftete sein wird. Im selben Zuge, und hierin begründet sich ihr eigentliches Paradox, wird die filmische Metropole jedoch auch als ein durch und durch relationales Gebilde begriffen, das eine unermeßliche Vielfalt von räumlichen Spannungsverhältnissen hervorbringt, die sich unmittelbar in die Konstruktion des filmischen Raums einschreiben. Dabei lassen sich besonders drei zentrale Aspekte des Episodischen unterscheiden, die als Grundlage der drei filmischen Topologien entfaltet werden sollen. Den ersten Aspekt des Episodischen bildet die Fragmentierung in ihren unterschiedlichen Facetten, wie sie bereits mit Blick auf die grundlegende Wortbedeutung und die konzeptuelle Anlage der Episode erläutert wurde. Als zweiten Aspekt des Episodischen lässt sich nun die Ausrichtung auf das Gegenwärtige und das Simultane anführen. Denn die Zergliederung der Handlung in unterschiedliche Episoden zieht oftmals eine kontinuierliche Blickverlagerung nach sich. So umkreisen zahlreiche Episodenfilme ein bestimmtes Ereignis, eine bestimmte Figur, eine bestimmte Stadt, während die Simultaneität des Erzählten entweder daraus resultiert, dass sich einzelne Regisseure mit einem übergreifenden Thema beschäftigen, wie etwa in BOCCACCIO ‘70 (Vittorio De Sica, Federico Fellini, Luchino Visconti, 1962). Oder aber sie setzen ihre jeweilige Sichtweise einer aufschlussreich; denn während unter dem Begriff des vignette films auf die „Kürze, Flüchtigkeit und Skizzenhaftigkeit der episodischen Darstellungen“ (S. 21) verwiesen wird, tritt im Begriff des multi-plot bzw. multicharacter films die „zersplitterte Vielfalt von Handlungssträngen und Figuren“ (ebd.) in den Vordergrund. Demgegenüber steht der ensemble film für die hohe Bedeutung der „Gemeinschaft der Figuren, die jede für sich etwas zum Netzwerk des übergeordneten Gesamtbildes beizutragen haben“ (ebd.) und somit das Ensemble zum zentralen Merkmal erheben. 310
EINFÜHRUNG
Stadt in Szene, wofür NEW YORK STORIES (Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Woody Allen, 1989) ein wichtiges Beispiel bildet. Die Simultaneität als Grundprinzip der Raumordnung im Episodenfilm lässt sich jedoch auch in einer Reihe von Filmen festmachen, in denen hintereinander unterschiedliche Versionen ein und derselben Geschichte entfalten werden, wie beispielsweise ALL ABOUT ADAM (Gerard Stembridge, 2000) in seinen drei widersprüchlichen Blicken auf Adam durchspielt. Entscheidend dabei ist, dass dieses kontinuierliche Neu- und Umschreiben des Gegebenen letztlich dazu führen kann, dass das Episodische zu einer reinen „affektive[n] Intensität des Gegenwärtigen ohne jegliche Erkenntnis für das Zukünftige“10 wird. Denn mit jeder neuen Version treten nicht nur andere, feinere Facetten des Geschehens zutage, sondern im Umkehrschluss werden auch die bisherigen ‚Wahrheiten‘ des Films nachhaltig infrage gestellt, wodurch der Film letztendlich in einem unendlichen Kreislauf, in einer Zeitschleife gefangen ist. Eine Gegenbewegung zu dieser Schichtung der Ereignisse und Perspektiven markiert nun der dritte Aspekt des Episodischen: das Exemplarische. Dieser Aspekt tritt insbesondere dann hervor, wenn unterschiedliche Geschichten parallel verlaufen und dadurch eine Vergleichbarkeit suggeriert wird, was NIGHT ON EARTH (Jim Jarmusch, 1991) mit seiner thematischen und zeitlichen Parallelisierung einer nächtlichen Taxifahrt in fünf Großstädten dieser Welt sicherlich am Deutlichsten in Bilder gefasst hat. Denn gerade dadurch, dass hier die einzelnen Fragmente und Episoden aus einer bewussten Selektion resultieren, wird auch den Episoden in ihrer Abfolge und in ihrem Zusammenspiel eine besondere Bedeutung zugesprochen, werden die einzelnen Episoden selbst zum Produzenten von Sinn. Dabei steht das Exemplarische oftmals in einem Spannungsverhältnis zum Zufälligen, das sich als zentrales Moment der Raumkonstruktion in die flüchtigen, zufälligen Begegnungen einschreibt, wie etwa in MAGNOLIA (Paul Thomas Anderson, 1999) als Eindringen einer äußeren, irrationalen Macht des Zufälligen entfaltet wird. Die drei Aspekte des Fragmentierten, des Simultanen und des Exemplarischen bilden jedoch nicht allein drei Sinnordnungen des episodischen Erzählens in den achtziger und neunziger Jahren, sondern sie sind bereits den frühen Beispielen des Episodenfilms deutlich eingeschrieben.11 Erst in Zusammenhang mit dem italienischen Neorealismus, so die 10 11
Treber 2005, S. 17. So berichtet etwa der Film DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINS (Berthold Viertel, 1926) von den vielfältigen, überraschenden Wanderungen eines Zehnmarkscheins, während GRAND HOTEL (Edmund Goulding, 1932) sein besonderes episodisches Prinzip gerade in der kaleidoskopartigen Anlage seiner Figuren entfaltet, deren Wege sich in einem Berliner 311
FRAGMENTIERTE SICHTBARKEITEN
These, gewinnt das Episodische jedoch an besonderem Gewicht, indem es hier auf untrennbare Weise mit dem filmischen Programm verknüpft wird. Denn ein zentrales Anliegen des italienischen Neorealismus ist es, die Realität der Nachkriegszeit in ihrer Bruchstückhaftigkeit, in ihrem Improvisierten und ihrer Unzulänglichkeit widerzuspiegeln12, wodurch die Ellipse, wie auch Deleuze ausführt, nicht allein zum zentralen Faktor der Raumkonstruktion, sondern darüber hinaus zu einem unhintergehbaren Moment der partikularisierenden Situationen wird: Die Ellipse bildet nicht länger eine Erzählweise oder eine Form, von einer Aktion zu einer teilweise aufgedeckten Situation überzugehen: sie gehört zur Situation selbst [Hervorhebung d. Verf.], und die Wirklichkeit ist ebenso lückenhaft wie partikularisierend. Verkettungen, Übergänge oder Verbindungen werden absichtlich schwach gehalten.13
Im italienischen Neorealismus bedarf es folglich, so führt Deleuze weiter aus, „eines neuen Typus der ‚Erzählung‘, der fähig sein würde, das Elliptische und Unorganisierte zu verstehen, gleichsam als ob der Film wieder ganz von vorne anfangen und alle Errungenschaften der amerikanischen Tradition in Frage stellen müßte.“14 An dieser Aussage sind zwei Dinge entscheidend: Erstens kann eine nähere Betrachtung des Elliptischen im italienischen Neorealismus dazu dienen, weiteren Aufschluss über die grundlegenden Funktionen episodischen Erzählens und seiner besonderen Form von Räumlichkeit zu gewinnen. Zweitens wird hierüber eine innere Verbindungslinie zwischen dem Episodenfilm und der filmischen Moderne aufgezogen, die auf die Reflexivität und Selbstbezüglichkeit ihrer komplexen filmischen Stadtentwürfe verweist. Im italienischen Neorealismus wird das Episodische in Anspruch genommen, um Aussagen über eine grundsätzlich fragmentierte, dispersive, in letzter Konsequenz nicht mehr auf eine Ganzheit rückführbare Wirklichkeit zu treffen. Dies äußerst sich einerseits in Bildern eines grundlegend zersetzten urbanen Raums, der in einzelne Teilräume und in einzelne
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Nobelhotel überkreuzen. Als genuiner Anfangspunkt episodischen Erzählens wird hingegen stets Schnitzlers Stück Der Reigen (1900) mit seinem dichten Wechsel- und Verwirrspiel der Paarungen angeführt, das u. a. von Max Ophüls als LA RONDE (1950) verfilmt wurde. Vgl. hierzu etwa die Ausführungen André Bazins zum Improvisierten, zum Zufälligen und zum Vorrang des Ereignisses gegenüber der Handlung im italienischen Neorealismus; vgl. Bazin, André: „Der kinematografische Realismus und die italienische Schule der Befreiung“, in: ders: Was ist Film? Köln: Dumont 1975, S. 130-155. Deleuze 1997a, S. 277. Ebd., S. 283. 312
EINFÜHRUNG
Schichten zerfällt, während die thematische Kopplung nur noch eine provisorische, momentane Einheit zu stiften vermag, was BOCCACCIO ‘70 in seiner umfassenden Aufgliederung des städtischen Raums verdeutlicht. In ihrer Unverbundenheit und Bezugslosigkeit werden diese Räume zu beliebigen Räumen, die zunehmend das Stadtbild durchsetzen: In der Stadt, wo niedergerissen oder wiederaufgebaut wird, läßt der Neorealismus eine Vielzahl beliebiger Räume entstehen – urbane Geschwüre, entdifferenziertes städtisches Gewebe, unbebautes Gelände. Was nun am Horizont aufsteigt, was sich reliefartig in dieser Welt abzeichnet und was sich nun als drittes Moment durchsetzen wird, ist nicht einmal die rohe, unbearbeitete Wirklichkeit, sondern ihre Verdoppelung, die innen wie außen, im Denken und Fühlen der Menschen und im gesamten Raum wirksam ist.15
Das Moment des Bruchstückhaften und Fragmentarischen wird andererseits hingegen unmittelbar in die Anlage der Filme integriert, wobei insbesondere PAISÀ (Roberto Rossellini, 1946) als Anfangspunkt episodischen Erzählens im italienischen Neorealismus gelten kann. Denn im Gegensatz zu ROMA, CITTÀ APERTA (1945), dem ersten Teil der einflussreichen Nachkriegs-Trilogie Rossellinis, wird das episodische Moment in PAISÀ nicht allein in den Handlungsverlauf integriert, sondern es schreibt sich vielmehr die Grundstruktur des gesamten Films ein, der in sechs einzelnen Episoden die Befreiung Italiens durch die Alliierten dokumentiert. PAISÀ berichtet von einer zerbrochenen Realität als Aufeinanderfolge vereinzelter, bruchstückhafter Begegnungen, die nur noch lose und provisorisch durch den Kommentar im Wochenschau-Stil zusammengehalten werden können.16 Im selben Zuge zerfällt die sinnstiftende Einheit des Films, entsteht ein Riss im Raum, der das Ganze stets offenhält. Im Blick auf das Elliptische und Episodische im italienischen Neorealismus gewinnen zugleich die Episodenfilme an Kontur, welche die Raumkonstruktion der filmischen Metropole in den achtziger und neunziger Jahren maßgeblich prägen werden. Denn auch hierin geht es um eine Fragmentierung des Blicks, die als Aussage über eine tiefgreifende Fragmentierung der städtischen Realität gelesen werden kann. Im Unterschied zum italienischen Neorealismus betreiben diese späteren Episodenfilme jedoch nicht mehr primär ein Aufbrechen räumlicher Ordnungen, um darin den Riss im Raum offenzulegen bzw. das Reißen der sensomotorischen Verbindungen in Bilder einer bruchstückhaften Realität zu fassen. Vielmehr bringen sie eine Reihe komplexer Figuren der Rückkopplung hervor, die sich gleichsam zwischen die Bilder schieben, um dort die Relationen des Raums noch einmal neu zu vermessen. 15 16
Deleuze 1997a, S. 284. Zum episodischen Prinzip von PAISÀ vgl. auch Bazin 1975, S. 130ff. 313
FRAGMENTIERTE SICHTBARKEITEN
In dieser Hinsicht zeigen sich die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre zugleich von den Entwicklungen New Hollywoods beeinflusst, welche die (amerikanische) Filmlandschaft in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren nachhaltig verändern. Denn gerade in ihrer Absage an einen übergreifenden Sinnzusammenhang zeichnen die Filme New Hollywoods die inhärente Raumlogik des Episodenfilms vor, während sie im selben Zuge das Fragmentarische hervorkehren: Das Mißtrauen gegen den Sinn, die Bevorzugung des Fragmentarischen gegenüber dem Zusammenhängenden, die Ansicht, Sinnherstellung sei nicht nur ein mühsames, sondern auch ein gewaltsames und schädliches Unterfangen, das der Herrschaft einer verlogenen Illusion diene, greift nun also auch das amerikanische Kino an, nachdem sie zuvor im Neorealismus und in der Nouvelle Vague schon das europäische Kino affiziert hatte.17
In dieser Bevorzugung des Fragmentarischen gegenüber einem umfassenden Sinnzusammenhang artikuliert sich zugleich ein symptomatisches Moment der übergreifenden Entwicklung des Stadtfilms in den neunziger Jahren: die schrittweise Perspektivverlagerung auf das Fragmentarische und das Bruchstückhafte des städtischen Raums. Denn betrachtet man die zentralen Berlin-Filme dieses Zeitraums, wie etwa DIE ARCHITEKTEN (Peter Kahane, 1990), DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE (Wolfgang Becker, 1997) oder NACHTGESTALTEN (Andreas Dresen, 1999), so berichten diese stets aus einer Teilperspektive heraus, aus einem Viertel, aus einer Straße, während sich das ‚Ganze‘ des städtischen Raums bereits weitgehend aufgelöst hat bzw. nunmehr in Form einer einzigen ‚Baustelle‘ auftritt, die wiederum allein in ihren städtischen Fragmenten und in der Vereinzelung der Referenzen sichtbar werden kann. Und so äußert auch Guntram Vogt in Bezug auf die Stadtfilme der neunziger Jahre: Im Unterschied zu frühen literarischen Stadtkonstruktionen [...] und zum späten Film etwa bei Wenders [...], bleiben die Filmfiguren der 90er Jahre (zusammen mit ihren Zuschauern) in meist engen Stadt-Teil-Perspektiven verhaftet, die mit ihren fragmentierenden Konstellationen das Urbane insgesamt vor allem als
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Engell 1992, S. 262. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Norbert Grob, wenn er zum Verhältnis zwischen den Hollywoodproduktionen und der filmischen (Gegen-)Bewegung New Hollywoods äußert: „Das Gewohnte wird wieder fremd, das Geschlossene brüchig und offen“; Grob, Norbert: „Bruch der Weltenlinie, Bilder der Auflösung. Neun Annotationen zu Altman und New Hollywood“, in: Thomas Klein; Thomas Koebner (Hg.): Robert Altman. Abschied vom Mythos Amerika. Mainz: Bender 2006, S. 63-77, hier S. 66. 314
EINFÜHRUNG
Bruchstück verschiedener Lebensweisen verstehen. Entsprechend verteilen sich diese Lebensweisen auf eine gewisse Vielzahl von Figuren.18
Die immer größer werdende Relevanz episodischer Strukturen im Stadtfilm hat Rudolf Worschech in Hinblick auf ST. PAULI NACHT (Sönke Wortmann, 1999) wohl am Deutlichsten in Worte gefasst, wenn er äußert: „Vielleicht sind Multipersonenfilme mit ihrer episodischen Struktur das Genre des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts.“19 Denn wenngleich es den Regisseuren, so führt Worschech weiter aus, nach eigenen Aussagen allein um die „einzelnen Schicksale und Geschichten“20 gehe, so wirke doch „ein solcher Film als Ganzes immer wieder wie ein Porträt einer Stadt, eines Landes oder einer Generation.“21 Auch den Episodenfilmen, die im Zentrum dieses Kapitels stehen, unterliegt stets ein Spannungsverhältnis zwischen einzelnen, fragmentarischen Räumen und der Kopplung an den übergreifenden Raum einer Stadt, eines Landes oder gar der ganzen Welt. Diesem Spannungsverhältnis zwischen Fragment und Ganzem unterliegen dabei zwei gegensätzliche Raumkonzepte, die dennoch gemeinsam Einfluss auf die Struktur der Filme nehmen. Denn auf der einen Seite referieren die Episodenfilme in ihrer Aneinanderreihung zeitlich und räumlich in sich geschlossener Segmente auf ein absolutistisches Raumkonzept der Geschlossenheit und der Ausgrenzung des Außen. Auf der anderen Seite lässt das episodische Erzählen jedoch auch einen relativistischen, vielfältig verknüpften Netzraum entstehen, in dem potenziell jede Art von Anschluss denkbar wird. In anderen Worten: Die Episodenfilme der achziger und neunziger Jahre koppeln das Absolute und das Relative fortwährend aneinander, um auf diese Weise die Relationalität des Raums umso deutlicher hervorzubringen. Mehr noch: Sie entfalten ihr volles Potenzial erst dann, wenn sie die Raumkonfiguration ganz in einer Reihe komplexer Relationen aufgehen lassen, die einerseits auf unmittelbare Weise im Bild sichtbar und hörbar werden können, die sich andererseits aber auch als abstraktes ‚drittes Moment‘ von außen in die Raumkonstruktion einschreiben. Die Einführung komplexer Figuren der Rückkopplung in den filmischen Entwurf der Stadt, die den Episodenfilmen der achtziger und neunziger Jahre zutiefst eingeschrieben ist und die in einer Schichtung und Überlagerung einzelner filmischer Topologien resultiert, ist in Zusammen18 19 20 21
Vogt 2001, S. 56; Vogt geht in seinen Aussagen jedoch zu keinem Zeitpunkt explizit auf das Genre des (städtischen) Episodenfilms ein. Worschech, Rudolf: „St. Pauli Nacht“, in: epd Film. Nr. 19, Heft 9/1999, S. 49. Worschech 1999, S. 49. Ebd. 315
FRAGMENTIERTE SICHTBARKEITEN
hang mit den Ausführungen dieses Kapitels entscheidend. Denn hieran wird deutlich, dass es weniger um eine direkte Verbindungslinie zwischen den Episodenfilmen der achtziger und neunziger Jahre und der Figur des Elliptischen im italienischen Neorealismus bzw. der Bevorzugung des Fragmentarischen im Kino New Hollywoods gehen kann, sondern vielmehr um eine Wendung und Neudimensionierung der räumlichen Maßgaben der filmischen Metropole selbst, deren Referenzpunkt nicht zuletzt die sich verändernde Topographie der Städte bildet. Indem die episodischen Stadtfilme der achtziger und neunziger Jahre fortwährend unterschiedliche Raumkonzepte miteinander verketten und aneinander koppeln, lassen sie sich einer Phase zuordnen, die Oliver Fahle einmal als ‚zweite Moderne‘ bezeichnet hat und deren Kernpunkt darin besteht, eine „epistemische Spannung zwischen den beiden Evolutionsstufen des Films (zwischen Aktionsbild und Zeitbild, Anm. d. Verf.) zu thematisieren und herzustellen.“22 Dabei ist entscheidend, dass die Filme der zweiten Moderne diese beiden Bildtypen kontinuierlich miteinander konfrontieren, um sich in dieser Konfrontation gleichsam „selbst als Hervorbringung von außen zu beobachten.“23 In den Figuren der Rückführung des Aktionsbilds auf das Zeitbild und umgekehrt wird folglich immer auch das Räumliche an seine Grenzen bzw. auf seinen Nullpunkt zurückgeführt, um sich von dort aus, und gleichsam aus dieser äußeren Position heraus, wieder auf neue Weise zu konstituieren. Im Zuge dieser Doppelbewegung zwischen der Fragmentierung des Raums einerseits und der Verdichtung der Raumstrukturen in einer Reihe komplexer Relationen andererseits öffnet sich der Blick auf eine dritte Form von Räumlichkeit, der in diesem Kapitel besondere Beachtung geschenkt werden soll und die sich als relationaler Zwischenraum beschreiben lässt. Dies bedeutet, dass die Grundverhältnisse der filmischen Stadt nun nicht mehr in ihren Ambivalenzen (wie im frühen Stadtfilm) und in ihren Polaritäten (wie im Film noir) ineinander verschachtelt oder gar ununterscheidbar gemacht werden. Im Gegenteil: Die Relationen gewinnen im Episodenfilm nun einen eigenen Wert für sich und bilden einen eigenen Zwischenraum heraus, der sich zwischen die filmischen Orte (als Ensembles, als Einzelteile) und den filmischen Raum (als Ganzes, als Übergreifendes) schiebt. Auf diese Weise rücken die Verbindungslinien, die Übergänge und Raumwechsel in den Blick, die dem Episodenfilm so untrennbar eingeschrieben sind und die den filmischen Raum zu einem sich stets neu verknüpfenden räumlichen Gebilde machen. Um diesem zentralen Perspektivwechsel auf den filmischen Raum Rechnung zu tragen, sollen im Folgenden drei filmische Topologien 22 23
Fahle, Oliver: Bilder der zweiten Moderne. Weimar VDG 2006, S. 22. Ebd., S. 103. 316
EINFÜHRUNG
entwickelt werden, die sich auf ihre je eigene Weise mit dieser Form von Zwischenräumlichkeit bzw. der relationalen Rückkopplung im Episodenfilm auseinandersetzen. Denn es ist eine Besonderheit der hier ausgewählten Episodenfilme, dass sie die drei angeführten Aspekte des Episodischen nicht allein als zentrale Referenzpunkte ihrer Raumorganisation setzen, auf welche die Filme unweigerlich zulaufen, sondern dass sie das Fragmentarische, das Simultane und das Exemplarische kontinuierlich in ein Spannungsverhältnis mit ihrem jeweiligen Gegenstück setzen. Dies bedeutet, dass den filmischen Topologien des Episodenfilms stets ein Spannungsverhältnis zwischen Fragment und Ganzem, zwischen Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem, zwischen Exemplarischem und Zufälligem zugrunde liegt, während in ihren auseinanderstrebenden Dynamiken stets das relationale Moment des Räumlichen mitschwingt. Der Aspekt der Fragmentierung wird in Zusammenhang mit den Mikrotopologien im Episodenfilm aufgegriffen. Denn dieses Teilkapitel setzt sich grundlegend mit den Implikationen einer tiefgreifenden Zersplitterung des städtischen Gesamtgefüges in einzelne Teilräume ebenso wie mit der Singularisierung der Bezugspunkte auseinander. Der filmische Raum erscheint in dieser Gruppe von (frühen) Episodenfilmen zunächst als ein „verwirrendes, unkontrollierbares Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren und Ereignissen.“24 Dennoch, und als unmittelbare Gegenbewegung hierzu, zeigen sich zugeich zahlreiche Bestrebungen, den filmischen Raum bzw. das städtische Gefüge wiederum zu einer Synthese zu führen. Nicht zuletzt die Stadt wird hier wiederholt als Motor begriffen, durch den das Nebeneinander der Figuren letztendlich in ein Miteinander überführt wird, wodurch der städtische Raum zum Letzthorizont des Zusammenhalts der Figuren wird.25 Das Stadtkonzept, das mit dieser Form der Raumkonstruktion korrespondiert, ist nun ebenfalls durch eine gegenläufige Bewegung charakterisiert. Denn auf der einen Seite werden die filmischen Orte in ein untrennbares Netz von Bezügen eingespannt, die gemeinsam einen hochgradig selbstbezüglichen, in sich geschlossenen Raum entstehen lassen, in dem jede Figur und jeder Ort potenziell aufeinander verweisen und miteinander in Beziehung stehen können. Auf der anderen Seite schreiben sich jedoch auch die Fragmentierung und die Zersetzung des städtischen Raums auf deutliche Weise ein, indem hier eine Vielzahl kleiner, in sich geschlossener Welten, mithin ein Neben- und Übereinander unterschiedlicher Mikrokosmen entsteht, die „in ausgeprägtem Maße einen Prozess
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Treber 2005, S. 36. Auf diese übergreifende vereinende Funktion des filmischen Raums verweist auch Treber; vgl. ebd., S. 36f. 317
FRAGMENTIERTE SICHTBARKEITEN
der Konstruktion und Abstraktion [beinhalten] – der Mensch durchschaut nicht lediglich die Welt, er erschafft sich seine eigene.“26 Dieser Aspekt der sichtbaren Vereinzelung der Teilräume, die dennoch auf das Gesamtkonzept eines übergreifenden städtischen Raums referieren, soll besonders in Hinblick auf die Raumkonstruktionen in NEW YORK STORIES (Scorsese/Coppola/Allen, 1989), SMOKE (Wayne Wang, 1995) und SHORT CUTS (Robert Altman, 1993) verhandelt werden. Dabei spielt das Spannungsverhältnis zwischen Fragmentierung und Ganzem der Metropole eine entscheidende Rolle, das sich hier in doppeltem Sinne ausdeuten lässt: Denn einerseits wird die Fragmentierung immer wieder auf das Ganze im Sinne einer Geschlossenheit der Metropole zurückgeführt, die sich um die einzelnen Mikrokosmen legt. Andererseits ist das Ganze jedoch auch auf seine (innere) Fragmentierung hin bezogen, wird die Fragmentierung der Stadt zugleich zu einer Absage an die Möglichkeit, überhaupt noch ein Sinn stiftendes Ganzes zu rekonstruieren, denn „[d]as Ganze ist zu überwältigend, als dass es sich einfach anfassen und ‚begreifen‘ ließe – es wird zergliedert, sortiert, kategorisiert.“27 Das zweite Teilkapitel, das unter dem Aspekt der Transittopologien im Episodenfilm entwickelt wird, markiert nun einen deutlichen Wechsel, insofern hier weniger das Spannungsverhältnis zwischen der Fragmentierung und der Einheitsbildung der Stadt in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern vielmehr ihr Potenzial, beständig neue Übergänge und Zwischenräume zu konfigurieren. Unter dieser Perspektive ist der filmische Raum des episodischen Erzählens immer schon auf etwas Prozessuales hin ausgerichtet. Mehr noch: Er ist „ein fortlaufender Prozess von sich ständig verändernden Verknüpfungen und kein bloßer Zustand, der vom Individuum beliebig manipuliert werden kann.“28 Der filmische Raum tritt in diesen Transittopologien als ein entgrenzter und entgrenzender Raum in Erscheinung, der sich beständig weiter ausdehnt. Im selben Zuge verändert sich jedoch auch der Blick auf das urbane Gewebe: Es wird zu einer reinen Zwischenstation der Figuren, die immer schon auf dem Sprung zur nächsten Station zu sein scheinen. Ihre Erschließung des Raums vollzieht sich damit im Prozess eines fortschreitenden Übergangs: zwischen zwei Orten, zwischen zwei Metropolen, zwischen zwei Welten. Gleichzeitig durchleben die Figuren in diesen Zwischenräumen eine eigene, innere Transformation, die sich wiederum auf sichtbare Weise in die Konfiguration des (urbanen) Außenraums einschreibt, wodurch das Wechselspiel zwischen innerer und äußerer Transformation letztlich in einem ständigen Verfehlen bzw. im Auseinandertreten von Raum und 26 27 28
Treber 2005, S. 34. Ebd., S. 33. Ebd., S. 36. 318
EINFÜHRUNG
Figur münden kann, denn „[d]er Mensch ist nicht mehr der absolute Fixpunkt, um den der Raum und die Erzählung rotieren.“29 Das Spannungsverhältnis, das diesen Transittopologien im Episodenfilm zugrunde liegt, entwickelt sich einerseits zwischen der Simultaneität der Ereignisse und der Sukzessivität der Raumerschließung, die ihren unmittelbaren bildlichen Ausdruck in den sich überkreuzenden Wegen und Bewegungen der Figuren finden. Besonders in NACHTGESTALTEN (Andreas Dresen, 1999) werden unablässig Verknüpfungen zwischen den einzelnen Figuren hergestellt, die sich im Modus einer fließenden, dynamischen Bewegung vollziehen, die beständig angestoßen, aufgegriffen und weitergeführt wird. Andererseits unterliegt den Transittopologien jedoch auch das Spannungsverhältnis zwischen Transformation und Stagnation, wie es besonders in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND (Michael Klier, 1989) verdeutlicht wird. Denn hier artikulieren sich die innere Transformation (der Figuren) und die äußere Transformation (der Metropolen) in einer immer weiter ausgreifenden Bewegung durch die Stadt bzw. durch unterschiedliche Städte dieser Welt hindurch, die jedoch zu jedem Zeitpunkt auf ihr potenzielles Ende, auf ihr Umschlagen und auf den möglichen Stillstand der Ereignisse bezogen bleiben. Das Exemplarische als dritter Aspekt des Episodischen wird nun in Zusammenhang mit den Topologien des Zufalls im Episodenfilm virulent, indem es hier in ein Spannungsverhältnis mit dem Zufälligen eintritt. Denn einerseits werden die einzelnen Episoden und Figuren als exemplarisch herausgestellt, wobei sich das Exemplarische in NIGHT ON EARTH (Jim Jarmusch, 1991) vor allem auf die Auswahl der jeweiligen Orte in der Welt, in MAGNOLIA (Paul Thomas Anderson, 1999) hingegen auf die Parallelisierung der Figurenanlagen bzw. die zyklische Wiederholung der Geschichte(n) bezieht. Andererseits, und im Gegensatz zu diesem exemplarischen Gestus, erhält jedoch auch der Zufall auf massive Weise Einzug in das Geschehen. Dabei ist das Eindringen des Zufalls insofern entscheidend für die räumliche Konstruktion der Filme, als das „zum Zufall gehörige Raumkonzept [...] als Herrschaft und Hereindringen des unkontrollierbaren, nicht vorhergesehenen ‚Draußen‘ in den Wirkungskreis und die vertraute Lebenssphäre des Subjekts beschrieben werden [kann].“30 Der Zufall wird damit zugleich als „Übermacht einer absoluten Gegenwärtigkeit empfunden“31, die Raum und Zeit auf untrennbare Weise zusammenfallen lässt. Dieser Aspekt wird vor allem in TIME CODE (Mike Figgis, 2000) zum zentralen Prinzip der Raumkonstruktion erhoben, indem hier alle Handlungen der vier Protagonisten in einer Zeit und in 29 30 31
Treber 2005, S. 36. Ebd., S. 39. Ebd. 319
FRAGMENTIERTE SICHTBARKEITEN
einem Raum aufgehen, die nur noch scheinbar durch die Split-ScreenTechnik auf vier Räume und vier Zeiten verteilt werden. An diesem Punkt öffnet sich der Raum selbst zum Denken hin, während das Außerhalb des Bildfelds als das Paradoxe, das Simultane und das Unerfassbare zu jedem Zeitpunkt in den filmischen Raum einzudringen vermag. Im Episodenfilm der achtziger und neunziger Jahre treffen folglich die Diskurse zur Auflösung der Großstadt auf eine Form der filmischen Raumkonstruktion, die im Fragmentierten, im Elliptischen und im Bruchstückhaften ihren Kernpunkt findet. Dennoch soll es im Folgenden nicht allein darum gehen, diese beiden Linien miteinander zu verrechnen, um im einen den bildlichen bzw. sprachlichen Ausdruck des anderen zu finden. Vielmehr soll das Episodische hier als eine komplexe Raumstruktur in den Blick genommen werden, welche die Relationalität des (filmischen) Raums in allen ihren Facetten durchspielt. Denn die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre zeugen nicht allein von einer wesentlichen Relationalität des filmischen Raums. Vielmehr generieren sie eine Reihe spezifischer, differenzierbarer Qualitäten dieser Relationalität, die sich in den drei filmischen Topologien auf je unterschiedliche Weise artikulieren: Im Fall der Mikrotopologien stehen besonders jene direkten visuellen und auditiven Relationen im Vordergrund, deren Zielpunkt eine Verdichtung des Räumlichen bildet, während die Transittopologien ihre Relationen im Zuge eines bewegten Ausgreifens in den städtischen Außenraum generieren, wodurch hier die Relation im Modus einer Bewegung und einer Passage sichtbar wird. Die Topologien des Zufalls deuten die Relationalität des Raums schließlich in Form mentaler, abstrakter Relationen aus, die sich gleichsam von außen über die Struktur des filmischen Raums legen, während sie ihn zugleich entgrenzen. Auf der einen Seite charakterisiert die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre folglich eine schrittweise Auflösung des Räumlichen, insofern sie das Städtische oftmals im Zuge einer filmischen Passage erschließen, die ihren Blick auf das Bruchstückhafte und das Fragmentarische des urbanen Raums lenkt. Auf der anderen Seite, und entscheidender noch, zeugen sie jedoch auch von einer Rückkopplung des Räumlichen, die als Wiedereinführung des Außen in die Raumkonstruktion inkraft tritt. In diesem Sinne unterscheiden sich die Mikrotopologien, die Transittopologien und die Topologien des Zufalls auch deutlich von den filmischen Topologien im frühen Stadtfilm und im Film noir. Denn sie finden ihren zentralen Referenzpunkt in einer Überlagerung und Verkettung einzelner filmischer Topologien, die ihre Leerstellen und Zwischenräume niemals ganz verbergen, sondern die Konstruktion des filmischen Raums über eine äußere Position stets sichtbar halten.
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Mikrotopologien und die Fragmentierung der Metropole Der Episodenfilm ist dadurch charakterisiert, dass er im Modus des Kurzen, des Fragmentierten und des Vorübergehenden eine Geschichte erzählt, die einen Teil ihrer Aussage bereits daraus gewinnt, dass sie sich als Fragmentiertes, als Simultanes und als Exemplarisches unmittelbar in die räumliche Anlage einschreibt. In anderen Worten: Der Episodenfilm zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der mediale Raum als der „tatsächliche Raum filmischen Erzählens“32 gegenüber dem modalen an Gewicht gewinnt, indem er sich selbst kontinuierlich miterzählt. Dennoch läuft diese erzählerische Anlage nicht notwendigerweise auf eine umfassende Fragmentierung und Bezugslosigkeit der einzelnen Teile untereinander hinaus. Denn gerade im Bereich des Episodenfilms der achtziger und neunziger Jahre zeigt sich die Tendenz, die Metropole, trotz oder vielleicht gerade aufgrund ihrer inneren Differenzierungen, als einen in sich geschlossenen Kosmos zu begreifen, der ohne die Konstruktion eines Außen auskommt und weitgehend aus sich selbst heraus lebt. Dieser Kosmos, der die gesamte Stadt umschließt, setzt sich wiederum aus unterschiedlichen Mikrokosmen zusammen, die sehr feine und teilweise höchst subtile Verbindungslinien untereinander aufweisen: sei dies nun eine Melodie, die wieder aufgegriffen wird, sei dies ein kurzes Fragment einer Unterhaltung, auf welches Bezug genommen wird, oder seien dies ein paar kurze, sich überkreuzende Blicke der Figuren. Gerade weil die einzelnen Geschichten und Mikrokosmen aber innerhalb der Stadt auf derart subtile Weise miteinander verknüpft werden, verweisen sie immer wieder auf sich selbst und auf den Gesamtzusammenhang der Stadt, deren Teil sie sind. Auf diese Weise tritt die Stadt als ein hochgradig selbstbezügliches räumliches Gebilde in Erscheinung, in dem sich unterschiedliche Blickrichtungen, zufällige Begegnungen und vielfältige Bewegungsrichtungen überkreuzen, die unablässig Übergänge und Transitionen zwischen den einzelnen Episoden konfigurieren, sodass der filmische Raum selbst einer beständigen Transformation unterliegt. Bezieht man diese Aussagen zurück auf die Entwicklungslinie der filmischen Metropole, so rufen auch die Mikrotopologien jene Grundverhältnisse auf, die bereits im frühen Stadtfilm und im Film noir von zentraler Bedeutung für die Raumkonstruktion waren. Der Episodenfilm markiert hier jedoch insofern einen signifikanten Wechsel, als er diese Grundverhältnisse in einen neuen Rahmen setzt, den die Fragmentierung der Sichtbarkeit selbst bezeichnet. Dies bedeutet, dass es dem Episodenfilm
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Paech 2000, S. 98; vgl. hierzu auch die Ausführungen auf S. 126-130. 321
MIKROTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
weder primär um die Produktion von Sichtbarkeit noch um das Unsichtbare der Metropolen geht, sondern vor allem um die Auffächerung, die Vereinzelung und die Fragmentierung der Blicke. Denn obgleich die Figuren auf vielfältige Weise miteinander verstrickt werden und obgleich die Teilräume der Stadt in ein dichtes Netz eingespannt sind, zeugen die Filme doch letztendlich von der umfassenden Individualisierung der Referenzen ebenso wie von einer Entfremdung der Figuren – gegenüber der Stadt, gegenüber den anderen und gegenüber sich selbst. In dem Episodenfilm NEW YORK STORIES (Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Woody Allen, 1989), der hier als erstes Beispiel herangezogen werden soll, gewinnt der Aspekt der Herausbildung einzelner Mikrotopologien innerhalb der Metropole, die alle Elemente in sich bündeln und auf kleinstem Raum zusammenhalten, einen unmittelbaren bildlichen Ausdruck. Denn bereits in der ersten Episode Life Lessons (Martin Scorsese) wird die urbane Lebenswelt des Künstlers Lionel Dobie als ein in sich geschlossener, selbstbezüglicher Kosmos eingeführt, dessen einzelne Bestandteile – eine Farbpalette etwa, ein Bündel von Pinseln, ein Whiskeyglas – in einer Reihe von Irisblenden hintereinander aufgerufen werden, die sich in einer langsamen Bewegung öffnen.
Abb. 34: Die Vereinzelung und Fragmentierung des Blicks in den Life Lessons der NEW YORK STORIES (1989)
In diesen Irisblenden verdichtet sich alles, was Dobies Leben ausmacht, während New York allein als übergreifender Rahmen und zugleich als zentrale Bedingung für diese Art von Leben aufgerufen wird. So versichern sich Dobie und seine Künstlerfreunde immer wieder, dass sie ohne diese Stadt nicht leben könnten („Für dich ist auch New York die einzige Stadt“), wenngleich sich diese Stadt bezeichnenderweise weitgehend aus Innenräumen zusammensetzt. In den Life Lessons ist New York zumeist vollkommen abwesend und wird allein in den Dialogen heraufbeschworen. Mit ihren Ateliers, ihren Galerien und ihren Performance-Studios zeichnen die Künstler ihre eigene Welt, ihren eigenen spezifischen Raum in die Stadt ein, wobei New York nicht mehr als die Ermöglichungsbedingung ihres Zusammentreffens darstellt. Dieses Formen eines eigenen Mikrokosmos, der in hohem Maße selbstbezüglich ist und der auf nichts anderes als auf sich selbst verweist, tritt insbesondere in den Momenten des Films hervor, in welchen Dobie auf die Künstlichkeit seiner eigenen Welt reflektiert, wie etwa, wenn er gegenüber seiner Assistentin einen Dialog mit einem ‚Immobilienhai‘ mit folgenden Worten zitiert: „Dann 322
DIE FRAGMENTIERUNG DER METROPOLE
zeigte er aus dem Fenster auf die ganzen sanierten Eigentums- und Dachgeschosswohnungen und sagte, wäre Jackson [Pollock; Anm. d. Verf.] nicht hierher gezogen, wäre das alles nicht passiert.“33 Auch die beiden folgenden Episoden der NEW YORK STORIES sind durch das Aufziehen ebensolcher Mikrokosmen geprägt: Im Fall von Life without Zoe (Francis Ford Coppola) betrifft dies die privilegierten Orte Midtowns – das Luxushotel, in dem Zoe allein mit ihrem Butler wohnt, wenn ihre berühmten Eltern wieder einmal auf Reisen sind, ihre Privatschule, in der sie sich mit anderen privilegierten Kindern trifft und schließlich die Villa der Prinzessin Soroya, auf deren Kostümfest Zoe den verlorenen Ohrring einschmuggelt. Im Fall von Oedipus Wrecks (Woody Allen) setzt sich der Mikrokosmos Manhattans hingegen aus den Wohnungen der Upper West Side des Anwalts Sheldon, seiner Freundin und seiner Mutter, den kleinen Läden der Nachbarschaft, der Praxis seines Psychotherapeuten sowie seiner Anwaltskanzlei zusammen, was zur Folge hat, dass die NEW YORK STORIES scheinbar von drei vollkommen verschiedenen Städten innerhalb einer einzigen Stadt berichten. Die Erschaffung dreier unterschiedlicher Mikrokosmen beinhaltet in NEW YORK STORIES zugleich eine Auffächerung in drei unterschiedliche Blicke auf die Stadt: erstens in den Blick eines Künstlers, zweitens in den Blick eines Kindes und drittens in den Blick eines neurotischen Anwalts, der wiederum durch den omnipräsenten Blick seiner Mutter überformt wird, die wortwörtlich über der Stadt schwebt und ihn von dort aus maßregelt. Diese drei verschiedenen Blicke treffen sich hingegen darin, dass ihnen jeweils ein gewisses Maß an Isoliertheit und Fremdheit unterliegt. Denn während im ersten Fall eine bestimmte künstlerische Distanz eingenommen und im zweiten Fall der Blick eines Kindes inszeniert wird, das sich in dieser Welt von Erwachsenen nicht zurechtzufinden vermag, so wird im dritten Fall der Blick Sheldons gedoppelt bzw. durch den unausweichlichen Blick seiner Mutter überlagert, der ihn letztlich unter die Beobachtung der gesamten Stadt und aller Medien stellt.
33
Mit dieser Aussage spielt der Film auf eine breit geführte Debatte zum Verhältnis von Stadtentwicklung und der Rolle von Künstlern in diesem Prozess an, die sich besonders an New York entzündet und zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem Begriff der ‚creative class‘ bzw. der ‚creative industry‘ zu einer der einflussreichsten Diskussionslinien urbaner Restrukturierung wird; vgl. Zukin, Sharon: Loft Living. Culture and Capital in Urban Change. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1982; dies.: The Culture of Cities. Malden, MA: Blackwell 1995; sowie Florida, Richard: The Rise of the Creative Class. And How It's Transforming Work, Leisure and Everyday Life. New York: Basic Books 2002. 323
MIKROTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
Mit diesen drei Blicken auf die Stadt geht zugleich eine schrittweise Aufteilung und Fragmentierung New Yorks in drei unterschiedliche Zonen einher, die sich auch in die Selektion der einzelnen filmischen Orte einschreibem. Denn während der Künstler mit seinem Loft in Soho das Gebiet Downtown Manhattans besetzt, ist Zoe in den Hotels von Midtown zuhause, wohingegen der Anwalt ein Penthouse in der Upper West Side, mit Blick auf den Central Park, besitzt. Verdeutlicht wird diese Dreiteilung der Stadt bzw. diese Fragmentierung der Blickrichtungen nicht zuletzt im Vorspann des Films, der einen dreistöckigen Brownstone zeigt, in dem jede Etage von einem der drei Protagonisten bewohnt wird. Auf diese Weise wird nicht allein die räumliche Trennung und das (potenzielle) Aneinandervorbeileben der Figuren in ihren jeweiligen Mikrokosmen visualisiert, sondern zugleich die Abfolge der städtischen Topographie von Downtown, Midtown und Uptown in der Abfolge der einzelnen Etagen vorgezeichnet. Mehr noch: Dieser Brownstone kann als Metapher für die einende Funktion der Stadt gelesen werden, insofern sie das Nebeneinander der Figuren letztendlich aufgrund der räumlichen Nähe in ein Miteinander überführt.34 So lässt NEW YORK STORIES in seiner Gesamtkonstruktion alle drei Aspekte des Episodenfilms – das Fragmentarische, das Simultane und das Exemplarische – in einem verteilten Raum hervortreten. Denn in seinen drei exemplarischen Räumen und seinen drei exemplarischen Figurengruppen beschreibt es letztendlich eine Geometrie der Stadt und ihrer Teilräume, ebenso es wie eine Geometrie der Figuren nachzeichnet, die den städtischen Raum in ihren fragmentierten, vereinzelten Blicken auf jeweils andere Weise vermessen. Die Reduzierung der Stadt auf unterschiedliche, nur sehr vereinzelt aufeinander Bezug nehmende Mikrokosmen wird in SMOKE (Wayne Wang, 1995) noch deutlicher ausgestellt. Denn hier kondensiert sich die gesamte Handlung an einem einzigen Ort: dem kleinen Zigarrenladen Brooklyn Cigar & Co. im Stadtteil Park Slope, Ecke 7th Avenue und 3rd Street, wie im Verlauf des Films immer wieder präzise vermerkt wird. Denn an diesem Ort laufen nicht allein alle Fäden und Handlungsstränge zusammen, sondern oftmals entwickeln sich die Handlungen überhaupt erst hier, durch die Begegnungen der Figuren in diesem Zigarrenladen, um sich von dort aus auf andere Gebiete Brooklyns auszudehnen. Dazu gehören einmal die Wohnblocks in Boerum Hill, die wiederholt als 34
In dieser räumlichen Verdichtung der Bewohner der Stadt in einem einzigen Haus lässt sich zugleich eine unmittelbare Linie zwischen NEW YORK STORIES und King Vidors Verfilmung von STREET SCENE (1931) ziehen, das – ebenso wie Kurt Weills gleichnamige amerikanische Oper aus dem Jahr 1947 – alle Facetten des ‚melting pots‘, im Sinne einer Einheit des grundsätzlich Verschiedenen durchspielt. 324
DIE FRAGMENTIERUNG DER METROPOLE
anonymes, undurchschaubares Labyrinth thematisiert werden, indem sich etwa der Protagonist von Auggies Weihnachtsgeschichte in ihnen verläuft, da „alle irgendwie gleich aussehen“. Dazu gehört jedoch auch die heruntergekommene Wohnung von Auggies angeblicher Tochter Felicity in South Williamsburg, am Fuße der Manhattan Bridge, in die sich der Verfall der Stadt bereits auf deutliche Weise eingeschrieben hat. Denn wohin die Figuren hier auch blicken, überall finden sie zerfallende, verlassene Straßenzüge, Häuserwände mit Einschusslöchern und tragische Gestalten, was auch von Auggie mit Befremden („Wo führst du mich denn hier hin?“) kommentiert wird.
Abb. 35: Der Verfall der Großstadt und verhinderte Blicke auf Manhattan in SMOKE (1995)
Im Gegensatz zu den NEW YORK STORIES, die Manhattan in drei topographische Schichten unterteilen und zugleich in drei unterschiedlichen, fragmentierten Blicken inszenieren, wird Manhattan in SMOKE niemals wirklich sichtbar. Manhattan dient hier vielmehr als Folie der Abgrenzung, was bereits in der Eröffnungssequenz hervorgehoben wird, wenn der Blick über die Manhattan Bridge auf ein fernes, im Nebel verhülltes Manhattan fällt, das letztendlich – wenngleich nicht mehr als eine Brücke dazwischen liegt – unerreichbar für die Figuren erscheint. Diese Eröffnungssequenz verdeutlicht unmittelbar, dass SMOKE von einem grundsätzlich anderen Blick auf New York gekennzeichnet ist, indem die Handlung ausschließlich in Brooklyn spielt und, was mehr ist, Brooklyn selbst den einzigen Erfahrungshorizont der Figuren markiert. In einem zweiten Schritt wird dieser andere Blick auf die Stadt unmittelbar mit dem zentralen Ort dieses Films, Auggies Laden Brooklyn Cigar & Co., verknüpft, der als Mikrokosmos ganz Brooklyns ausgestellt wird, in dem sich alles Leben bündelt. In dieser Hinsicht haftet Auggies Laden zugleich etwas Exemplarisches an, was seinen nachhaltigsten bildlichen Ausdruck in den Fotos von Auggie findet, der an jedem einzelnen Morgen und zum jeweils gleichen Zeitpunkt das Treiben auf der Straße vor seinem Laden festhält. Das Exemplarische, das stets in besonderem Maße dem Episodenfilm innewohnt, wird hier unmittelbar auf den zentralen Handlungsort übertragen. Der Eindruck einer exemplarischen Einheit des Ortes wird zudem dadurch gesteigert, dass innerhalb des Ladens selbst kaum Kamerabewegungen stattfinden. Vielmehr werden die Interaktionen der Kunden von einem festen Standpunkt aus beobachtet, wird die (kaum bewegte) Kamera zum Zeugen eines marktähnlichen Treibens:
325
MIKROTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
Dieser kleine Laden ist keine anonyme Durchgangszone, durch die man wie in einem Supermarkt hindurchhetzt, sondern gleicht als Ort der Versammlung eher einem Marktplatz, an dem die Unterschiede der verschiedenen ethnischen Identitäten von Brooklyn zu einer sozialen Gemeinschaft verwachsen, die ihre Gemeinsamkeiten betont, ohne ihre Unterschiede begradigen zu wollen – ein differenziertes Ganzes.35
Der kleine Zigarrenladen bildet damit einen Mikrokosmos ganz Brooklyns, in dem sich die große Bandbreite seiner Bevölkerung zusammenfindet und zu einem ‚differenzierten Ganzen‘ formt. Dennoch wird die dabei implizierte Utopie einer vollständigen Vermischung aller Hautfarben und Ethnien an diesem Ort wiederum infrage gestellt, was insbesondere in den Gesprächen zwischen Rashid und Paul deutlich wird, die ihre gegensätzlichen Wohnorte – hier die Brownstones in Park Slope, dort die Hochhäuser in Boerum Hill – als ‚andere Galaxien‘ beschreiben und damit auf die Unmöglichkeit ihres Koexistierens verweisen. Der kleine Laden in Brooklyn wird in diesem Film folglich zu einem Kondensationspunkt, an dem die urbane Bevölkerung als ‚differenziertes Ganzes‘ in ihrer Mannigfaltigkeit ausgespielt wird. In diesem verdichteten Raum scheinen potenziell alle Begegnungen und Verbindungslinien zwischen den Figuren möglich zu sein. Dennoch beinhaltet SMOKE zugleich ein Moment des potenziellen Auseinandertretens der Relationen. Denn betrachtet man die episodische Anlage dieses Films genauer, so zeigt sich auf den ersten Blick eine klare Einteilung des Films in fünf Episoden, die jeweils den Namen eines der Protagonisten tragen: „Paul“, „Rashid“, „Ruby“, „Cyrus“ und „Auggie“. Diese vermeintlich klare Zuordnung führt jedoch keineswegs dazu, dass in den einzelnen Episoden die jeweilige Hauptfigur aus allen Perspektiven ergründet wird. Im Gegenteil bilden die Episoden in SMOKE keine in sich geschlossenen Einheiten, sondern sie sind vielmehr von dem Ineinandergreifen der Figuren und der Widersprüchlichkeit ihrer Geschichten charakterisiert. In der Unterwanderung dieser (nur scheinbar) klaren Zuordnung liegt zugleich das Moment ihres potenziellen Umschlagens begründet. Denn in dieser „formale[n] Ordnung, die sich im Verlauf des Films als brüchig und durchlässig erweist“36, offenbart sich ein spezifisches Potenzial des Episodischen, das SMOKE so deutlich herausstellt: Wenn es den übergreifenden Sinnzusammenhang (der Stadt, des filmischen Raums) in eine Fragmentierung der städtischen Sichtbarkeit überführt, die in den fragmentierten, widersprüchlichen Blicken auf die Figuren selbst ihr Pendant findet. In anderen Worten: Einerseits zeichnet SMOKE eine Metropole, 35 36
Treber 2005, S. 181. Ebd., S. 179. 326
DIE FRAGMENTIERUNG DER METROPOLE
die grundlegend räumlich fragmentiert ist, die allein in ihren Teilräumen, in einem Stadtteil, in einem einzigen Ort aufgeht. Andererseits fragmentiert er jedoch auch die einzelnen Episoden als letztmögliche Sinneinheiten, indem er ihre zunächst klar angelegte Struktur wiederum durch eine Reihe von Widersprüchlichkeiten ad absurdum führt und damit letztendlich eine Aussage über die ‚Nichtgenerierbarkeit von Sinn‘ trifft. Während die NEW YORK STORIES und SMOKE also auf jeweils unterschiedliche Weise von der Vereinzelung des Städtischen berichten, um in einzelnen Teilräumen, ja sogar an einem einzigen Ort die Fülle städtischer Bezüge auszuspielen, so kennzeichnet Robert Altmans Film SHORT CUTS (1993) vielmehr eine Verteilung und Multiplizierung jener Mikrokosmen. In diesem Film, der immer wieder als Begründer des eigentlichen Genres des Episodenfilms angeführt wird37, zeigt sich Los Angeles als ein hochkomplexes, räumlich differenziertes Konstrukt, das in seiner Bandbreite der relationalen Verknüpfungen den fragmentierten Sichtbarkeiten der Metropole ein eindrückliches Gesicht verleiht. Im selben Zuge führt SHORT CUTS jedoch auch die Möglichkeiten der filmischen Raumkonstruktion zu einer neuen Dichte und zu neuer Komplexität, indem es in seinem epischen Ausmaß von drei Stunden und dem hohen Grad der Verstrickung der einzelnen Geschichten neue Maßstäbe auch für die folgenden Konzeptionen episodischen Erzählens im Film setzt.38 Die Komplexität der räumlichen Anlage in SHORT CUTS begründet sich vor allem darin, dass dieser Film auf insgesamt neun Kurzgeschichten und einem Gedicht von Raymond Carver basiert, die auf raffinierte Weise ineinander geschachtelt werden. Im Gegensatz zu früheren Beispielen episodischen Erzählens, wie etwa GRAND HOTEL oder auch SHIP OF FOOLS (Stanley Kramer, 1965), die unmittelbar auf einer episodisch angelegten literarischen Vorlage basieren, verkettet Robert Altman in SHORT CUTS diese an sich getrennten Kurzgeschichten Carvers miteinander, indem er gezielt eine Reihe zufälliger Begegnungen einführt, die einen neuen kausalen Zusammenhang zwischen den einzelnen Episoden 37
38
So bemerkt etwa Karsten Treber, Robert Altman habe mit SHORT CUTS in „erheblichen Maßen die Weiterentwicklung des episodischen Erzählens im Film gefördert und vorangetrieben.“ Ebd., S. 9f.; Margarete Wach differenziert in diesem Zusammenhang noch weiter aus: „Robert Altman hat nicht das episodische Erzählen erfunden, wohl aber die Polyphonie des Erzählens“; Wach, Margarete: „Zufallskombinationen im offenen Netz der Lebenswege. Das episodische Erzählprinzip in SHORT CUTS und die Folgen“, in: Klein/Koebner 2006, S. 78-105, hier S. 89. Dabei ist anzumerken, dass Altman bereits in seinem Film NASHVILLE (1975) eine hochkomplexe episodische Struktur entwickelt hat, die in vielerlei Hinsicht die Grundstrukturen von SHORT CUTS vorzeichnet. 327
MIKROTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
stiften.39 Neben den zahlreichen zufälligen Begegnungen dieses Films ist als entscheidendes Beispiel sicherlich die Begebenheit anzuführen, dass hier die Kellnerin Doreen den Autounfall mit dem kleinen Casey Finnigan auf seinem Schulweg verursacht, in dessen Folge er schwer verletzt wird und schließlich stirbt, und keine vollkommen unbekannte Frau, wie ursprünglich in der Kurzgeschichte angelegt. Ein zweiter Aspekt, der SHORT CUTS von den frühen Episodenfilmen unterscheidet, ist die Spannweite des Handlungsraums. Denn auf der einen Seite wird hier eine Fülle von Mikrokosmen aufgezogen, die als einzelne, in sich geschlossene Systeme den übergreifenden städtischen Raum auf nachhaltige Weise fragmentieren. Auf der anderen Seite wird die Metropole Los Angeles selbst jedoch als ein ebensolches geschlossenes System begriffen, was vor allem in der Eingangs- und der Schlusssequenz deutlich wird. Denn diese handeln von (Natur-)Katastrophen, welche die einzelnen Bewohner in ein gemeinsames Schicksal einbinden: Zu Beginn des Films ist dies eine umfassende Seuchenplage, die es notwendig macht, dass Helikopter über der Stadt Gifte zur Eindämmung der Ungeziefer versprühen. Am Ende ist es schließlich ein Erdbeben, das die Bewohner der Stadt, so unterschiedlich sie im Laufe des Films auch in ihren Voraussetzungen, ihren Chancen und ihren Hoffnungen gezeichnet werden, wiederum auf grundlegende Weise miteinander vereint.40 Der räumlichen Anlage von SHORT CUTS ist damit unmittelbar das Spannungsverhältnis von Fragment und Ganzem eingeschrieben, das den Mikrotopologien des Episodenfilms untrennbar zugrunde liegt und das hier bereits im Vorspann des Films hervortritt, wenn der Schriftzug „Short Cuts“ als eine differenzierte Struktur aufeinander zustrebender Einzelteile inszeniert wird, in der die Trennlinien für das Gesamtbild ebenso bestimmend sind wie die Einzelteile selbst.41 Im weiteren Verlauf des Films artikuliert sich das Wechselspiel zwischen Fragment und Ganzem hingegen insbesondere in den Relationen selbst, das heißt in den 39
40
41
Zu der literarischen Grundlage von SHORT CUTS und seinen filmischen Modifikationen, vgl. insbesondere Clark, Oliver: Short Cuts. Formen filmischen und literarischen Erzählens bei Robert Altman und Raymond Carver. Alfeld: Coppi-Verlag 2000. Dieses Eingreifen der Naturgewalten als ‚deus ex machina‘ bei Altman diskutiert Thomas Koeber auch am Beispiel von A PERFECT COUPLE (1979) und THE GINGERBREAD MAN (1998); vgl. Koebner, Thomas: „Von Verrückten und Tollhäusern. Ein Querschnitt durch die Filme“, in: Klein/ Koebner 2006, S. 10-62, hier S. 37. Treber sieht die Wortbedeutung von ‚Short Cuts‘ hingegen vor allem in den „schnellen Abkürzungen von Figurenbeschreibungen und Handlungsfolgen“ (Treber 2005, S. 164) verwirklicht. 328
DIE FRAGMENTIERUNG DER METROPOLE
vielfältigen Verbindungslinien und Bezügen der einzelnen Figuren und Geschichten untereinander, die bis ins kleinste Detail hinein durchstrukturiert und choreographiert sind. Damit verbunden ist zugleich ein signifikanter Wechsel innerhalb der räumlichen Struktur. Denn die Grundverhältnisse der filmischen Metropole, die Gegenstand der letzten beiden Kapitel waren, münden hier nicht mehr in ein Aufzeigen ihrer Gegensätzlichkeiten als Ambivalenz (wie im frühen Stadtfilm) oder als Polarität (wie im Film noir). Im Gegenteil findet in den Episodenfilmen der achtziger und neunziger Jahre und in SHORT CUTS im Besonderen alles in den Relationen selbst statt, werden alle räumlichen Verhältnisse in jenen Zwischenraum verlagert, der durch die Relationen entsteht. Dabei entwickelt SHORT CUTS für diese besondere Form der relationalen Raumkonstruktion eine ganze Reihe bildlicher Verdichtungen, die selbst wiederum differenzierbar sind. So beginnt der Film zunächst damit, die einzelnen Figuren in ihren natürlichen Relationen untereinander – mit ihren Partnern, mit ihren Kindern, mit ihren Nachbarn – einzuführen, was besonders dadurch verstärkt wird, dass sie vornehmlich in ihrem häuslichen Umfeld gezeigt werden.42 Auf diese Weise zeichnet SHORT CUTS ein Panorama der Stadtbewohner, dem in seiner Auswahl unmittelbar ein exemplarischer Charakter innewohnt. Eine Verdichtung erfahren diese natürlichen Relationen nun genau zu dem Zeitpunkt, als Casey Finnigan von der Kellnerin Doreen mit dem Auto angefahren wird. Denn durch dieses Ereignis, das zahlreiche Handlungsstränge im Verlauf des Films maßgeblich prägen wird, entwickelt sich eine neue Art der Verknüpfung zwischen den Figuren, die sich unter dem Begriff der zufälligen Relationen fassen lässt. Immer häufiger treten einzelne Figuren des Films parallel auf, immer öfter überkreuzen sich die Tonspuren, ohne dass eine Unterhaltung eindeutig auszumachen wäre, wie etwa in der Konditorei von Andy Bitkower, in der sich die Wege von Ann Finnigan, Stormy Weathers und Claire zufällig und unbemerkt kreuzen. Im Zuge dieser zufälligen Begegnungen wird eine Vielstimmigkeit der Figuren erzeugt, wodurch SHORT CUTS, wie Michael Wilmington ausführt, zu einer „many-sided, many-mooded, dazzlingly structured electronic jazz mural of a city on the edge“43 wird. Diese „Polyphonie des Erzählens“44 wird zudem dadurch unterstrichen, dass die Kamera wiederholt scheinbar zufällige, abschweifende Bewegungen vollzieht. So 42
43 44
Diese Fokussierung von privaten Räumen unterscheidet SHORT CUTS wiederum von Robert Altmans NASHVILLE, in welchem die Handlung weitaus stärker in öffentlichen Räumen stattfindet. Wilmington, Michael: „Short Cuts. City Symphony“, unter: http://www. criterion.com/current/posts/349; Zugriff am 15.10.2009. Wach 2006, S. 98. 329
MIKROTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
verharrt die Kamera beispielsweise für einen kurzen Moment bei einer sprechenden Figur, um im nächsten Moment bereits zur nächsten überzugehen, die mit der ersten zunächst in keinerlei Verbindung steht, während die Kamerabewegung bereits einen (kaum merklichen) Verweis auf ihre zukünftigen Verstrickungen beinhaltet. Und es sind gerade diese Abschweifungen der Kamera, die laut Treber den Inbegriff ‚narrativer Abwege‘ und damit den Inbegriff episodischen Erzählens bezeichnen: Durch dieses intensive Interesse an narrativen Abwegen bei der Betrachtung der Figuren innerhalb einzelner Szenen und ebenso in der Gesamtmontage des Films, die immer wieder durch einen abschweifenden Blick erschlossen werden, wird ein einzelnes, alles bestimmendes Zentrum der Erzählung vehement abgelehnt.45
Eine Gegenbewegung zu diesem dezentrierenden, abschweifenden Blick der Kamera bildet die erneute, schrittweise Steigerung der Relationalität, die nun nach den natürlichen und den zufälligen Relationen eine Reihe direkter visueller und auditiver Relationen hervorbringt. So bietet Ann Finnigan etwa ihrem Sohn ein Glas Milch an, das im nächsten Moment umgestoßen wird, nun jedoch im Rahmen einer Fernsehsendung, die sich Earl Piggot soeben ansieht, was bezeichnenderweise durch den Kommentar begleitet wird: „Accidents happen every day. Fortunately most are harmless, but some are very serious.“ Kurz darauf wird Doreen nach Hause kommen und Earl davon berichten, dass sie einen kleinen Jungen versehentlich angefahren hat, worin sich einmal mehr das vorausdeutende Moment der Bildgestaltung und der Kameraführung artikuliert.
Abb. 36: Direkte, visuelle Verbindungslinien und das Relationale in SHORT CUTS (1993)
Der filmische Raum wird in SHORT CUTS, wie auch Treber ausführt, „im Zusammenspiel von Figurenzeichnung, Montage und Einstellungsgröße [...] zur komprimierten Zeit“.46 Denn es findet zwar eine kontinuierliche Überlagerung von Einzelhandlungen statt; diese Einzelhandlungen der Figuren werden jedoch weder in einen (psychologischen) Begründungszusammenhang mit der Vergangenheit, noch mit einem vorausweisenden 45 46
Treber 2005, S. 166. Ebd., S. 170. Dieser Eindruck einer komprimierten Zeit wird zudem dadurch verstärkt, dass kaum die Bewegungen der Figuren von einem Handlungsort zum anderen gezeigt werden, sondern dass die einzelnen Sequenzen vielmehr in verdichteter Weise durch eine Aneinanderreihung harter Schnitte kontrastierend hintereinander gestaffelt werden. 330
DIE FRAGMENTIERUNG DER METROPOLE
Ausblick auf die Zukunft verbunden, sondern existieren allein in der Gegenwart. Während sich also die Verknüpfungen zunehmend (visuell) verdichten und sich das Netz der Bezüge immer enger um die Figuren legt, werden auch die einzelnen Handlungen immer (selbst-)zerstörerischer, abgründiger und bedrohlicher, treten Betrug, Verrat und Ignoranz der Figuren untereinander immer deutlicher zutage, ebenso wie die Erkenntnis, dass sie eigentlich nichts von einander wissen. Diese letzte Phase der Zuspitzung der Konflikte und der Entfesselung der Gewalt in SHORT CUTS, die sich als Phase der Auflösung der Relationen begreifen lässt, geht zugleich mit einer Überzeichnung der Schattenseiten der Großstadt einher, die als Ermöglichungsraum eben dieser zufälligen und beliebigen, darin letztendlich aber auch fatalen Begegnungen ausgestellt wird. Die Stadt als Ermöglichungsraum zufälliger Begegnungen, die bereits in den frühen Stadtfilmen der zwanziger Jahre – man denke etwa an DIE STRASSE oder an ASPHALT – deutlich thematisiert wurde, wird hier folglich negativ gewendet in einen Raum, der zwischen den einzelnen Bewohnern unablässig neue Verknüpfungen herstellt und Beziehungen initiiert. Diese Verknüpfungen, welche die Stadt generiert, sind jedoch selbst entweder durch innere Streitereien oder durch äußere Schicksalsschläge auf das Tiefste und Unwiederbringlichste zerrüttet. Und so verweisen die Relationen am Ende des Films auch auf nichts anderes als auf sich selbst bzw. auf das unablässige Potenzial, neue Verbindungslinien herzustellen. Gerade aufgrund der hohen relationalen Verknüpfung der einzelnen Figuren untereinander werden die Anteillosigkeit und Folgenlosigkeit ihrer Beziehungen umso deutlicher herausgestellt, sodass die Relationen zuletzt nichts mehr als Fremdheit und Leere produzieren. SHORT CUTS zeichnet damit „ein Ensemble jeweils von einander entfremdeter Einzelgänger, die nur scheinbar miteinander, in Wirklichkeit nebeneinander leben, jede und jeder für sich, eigensinnig, boshaft, ratlos, verletzlich.“47 Diese Erkenntnis der umfassenden Fremdheit gegenüber dem Nachbarn, dem vermeintlich nahen Partner, ja sogar gegenüber sich selbst, verdichtet sich symbolisch in dem Song der Nachtbar-Sängerin Tess I don’t know you, der sich gleichsam über die Bilder legt, während er im selben Zuge darauf verweist, in welch hohem Maße die Musik in SHORT CUTS nicht allein als Kommentar des Geschehens fungiert, sondern vielmehr als Grundstruktur dieses polyphonen Raums aus Variationen und Improvisationen begriffen werden kann, was auch Wilmington in Zusammenhang mit der Polyphonie von SHORT CUTS ausführt: Short Cuts is a jazz variation on Carver’s stories, maybe even a jazz symphony. Improvisation is the key. That’s why a jazz score threads through the film, why 47
Koebner 2006, S. 38. 331
MIKROTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
the bouncy Duke Ellington–Peggy Lee ‚I’m Gonna Go Fishin’‘ is the last song we hear with the end titles.48
Das Paradox der räumlichen Anlage von SHORT CUTS begründet sich vor allem darin, dass auf der einen Seite eine immer größer werdende Komplexität der Verknüpfungen erreicht wird, dass dieser hohe Grad an Verbindungslinien jedoch auf der anderen Seite nicht mehr als Befremden, Unkenntnis und Ohnmacht produziert: Tess ist unfähig, den Selbstmord ihrer Tochter zu begreifen, Ann und Howard Finnigan befinden sich in einer stummen Ohnmacht nach dem Tod ihres Sohns, die Wymans und Kanes zeigen sich letztendlich vollkommen unberührt, ja sarkastisch angesichts der Schreckensmeldungen im Fernsehen. Mit dieser Erkenntnis der eigenen Ohnmacht wird schließlich wiederum der Bogen zum Anfang des Films zurückgespannt, indem es erneut ein Naturereignis ist, das die Figuren – die noch einmal in relativ kurzen Sequenzen hintereinander aufgerufen werden – in ein gemeinsames Schicksal einbindet. Dennoch ist nach diesen drei Stunden, in denen die Beziehungen der Figuren untereinander wechselvolle und fatale Wendungen genommen haben, nichts mehr wie vorher: Sie haben sich entweder als lose und folgenlos herausgestellt oder aber sie sind zerrüttet und zerbrochen, ebenso wie die Stadt als übergreifender Raum und die geteilten Schicksalsschläge nur einen vorübergehenden, provisorischen Sinn stiften können, worin auch Margarete Wach einen Zerfall der räumlichen Ordnung sieht: „In der Welt dieser fensterlosen Monaden ist der Rest unsichtbar, die Wirklichkeit ohnehin zu komplex und reichhaltig, als dass sie überblickt werden könnte.“49 Die Welt des Episodenfilms ist nicht mehr greifbar und tritt nur noch in ihren fragmentierten Sichtbarkeiten hervor, während die unzähligen Verknüpfungen wiederum zu den „letzten absurden Überreste[n] einer sinnhaften Ordnung“50 werden, die sich letztendlich „nur noch in marginalen, spöttischen Zeichen offenbaren kann“.51 Gerade aufgrund dieser Auflösung der Relationen zieht am Ende des Films die Metropole Los Angeles wiederum deutlich in das Geschehen ein, wird Los Angeles erneut als absoluter Rahmen der Handlung und als Letzthorizont des Films aufgerufen, wenn etwa Stormy Weathers unbeirrt angesichts der tragischen Geschehnisse in seinem Fernsehinterview ein Loblied auf diese Stadt hält. Auch der Abspann referiert in hohem Maße auf die Stadt als Begründungszusammenhang des gesamten Geschehens, denn der Film endet in einem weiten Kameraschwenk über 48 49 50 51
Wilmington o. J., o. S. Wach 2006, S. 99. Treber 2005, S. 174. Ebd. 332
DIE FRAGMENTIERUNG DER METROPOLE
das ausgebreitete, fern daliegende Los Angeles, das schrittweise durch einzelne Ausschnitte eines Stadtplans überblendet wird.
Abb. 37: Die kartographische Vermessung der Metropole Los Angeles im Abspann von SHORT CUTS (1993)
Dieser Einsatz eines Stadtplans im Abspann von SHORT CUTS ist insofern entscheidend, als die Kamera immer wieder genau diejenigen Bezirke umkreist, die als Schauplätze der Handlung zuvor implizit oder explizit thematisiert wurden: der Luna Park etwa, in dem ein Mädchen angeblich durch einen Steinschlag ums Leben kam, oder auch der heruntergekommene Stadtteil, in dem Earl und Doreen wohnen und dem sie permanent entkommen wollen. Gerade dadurch, dass der Stadtplan in unterschiedlichen Farben eingefärbt ist, scheint es so, als bekäme er unterschiedliche Facetten verliehen, als werde er belebt und als begännen die einzelnen Bezirke nun von Neuem eine Geschichte zu erzählen, die jedoch auch eine ganz andere sein könnte – und in diesem Gestus ist SHORT CUTS den Schlussworten des Off-Erzählers in THE NAKED CITY äußerst nahe. Zentraler ist jedoch, dass der Abspann von SHORT CUTS zwei unterschiedliche Arten der Annäherung an die Metropole Los Angeles zeigt: erstens eine filmische Annäherung in Form eines weiten Schwenks der Kamera über die gesamte Stadt, welche die übergreifende Kamerabewegung des Vorspanns aufnimmt. Und zweitens eine abstrakte, topographische Annäherung, die ihren bildlichen Niederschlag in dem farblich differenzierten Stadtplan findet. Und es ist vor allem diese zweite Form der Annäherung, die stets darauf verweist, in welch hohem Maße die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre die filmische Topologie als Raumstruktur der zufälligen, flüchtigen und paradoxen Relationen letztlich wiederum in starkem Sinne auf die konkrete städtische Topographie bzw. im Fall von SHORT CUTS sogar auf die Karte als Repräsentationsform von (städtischer) Räumlichkeit zurückführen. Los Angeles bildet in Zusammenhang mit dem Episodenfilm der achtziger und neunziger Jahre stets ein bevorzugtes Beispiel, um hierin das grundlegend Fragmentierte, das Episodische und das Dispersive der (postmodernen) Großstädte zu verorten.52 Damit stehen die Episodenfilme zugleich in engem Zusammenhang mit einer einflussreichen Linie 52
Diese Fokussierung auf Los Angeles bzw. auf den Großraum von Los Angeles ist ebenfalls zahlreichen Episodenfilmen der 2000er Jahre zutiefst eingeschrieben, man denke etwa an Filme wie TRAFFIC (Steven Soderbergh, 2000) oder auch L.A. CRASH (Paul Haggis, 2004). 333
MIKROTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
innerhalb der Stadtgeographie, die unter dem Überbegriff der LA School stets die zentrale Vorreiterrolle von Los Angeles als ‚Postmetropolis‘ herausgehoben hat.53 Denn Los Angeles wird in Zusammenhang mit den übergreifenden räumlichen Transformationsprozessen, das heißt mit der Globalisierung und der zunehmenden Verstädterung, oftmals eine paradigmatische Funktion zugesprochen, als „the place where ‘it all comes together’“54 und mehr noch, als „paradigmatic window through which to see the last half of the twentieth century“.55 Los Angeles wird oftmals als diejenige Metropole begriffen, in der die zentralen Umbruchprozesse auf das Deutlichste und Markanteste hervortreten, was Mark Shiel wiederum zum Anlass nimmt, um in Los Angeles nicht allein die fortschrittlichste, sondern zugleich die rückständigste Metropole zu sehen: [T]his notional positioning of Los Angeles as some kind of global core to which the rest of the world can be viewed as periphery must be balanced by the recognition that if Los Angeles is a paradigm, it is so not merely because it can be proposed as one of the world’s most ‚advanced‘ urban societies but also because it can be proposed as one of the world’s most ‚backward‘ urban societies – a tense and often violent combination of First and Third World realities in one (albeit highly segregated) space. Thus, Los Angeles contains uneven development internally while accentuating it on the world stage.56
Führt man die Linien dieses Teilkapitels zusammen, so lassen alle drei Episodenfilme innerhalb der Stadt einzelne Mikrotopologien entstehen, die alles in sich bündeln, während sie zugleich das Verhältnis zwischen Fragment und Ganzem, zwischen Ort und Raum verhandeln. Dabei kann das Ganze allein in seinen Fragmenten sichtbar werden (wie in NEW YORK STORIES), oder aber ein einzelnes Fragment bereits das Ganze der Stadt enthalten (wie in SMOKE). Im dritten Fall stehen dann die einzelnen
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Bezeichnenderweise sind es gerade die Vertreter der LA School, wie Edward W. Soja oder Mike Davis, die maßgeblich an der Neukonzeption räumlicher Kategorien im Zuge des ‚Spatial Turn‘ in den achtziger Jahren beteiligt sind; vgl. Soja, Edward W.: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London/New York: Verso 1989; Scott, Allen J.; Soja, Edward J.: The City. Los Angeles and Urban Theory at the End of the Twenieth Century. Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1996; sowie Davis 1990. Soja 1989, S. 191. Ebd., S. 223. Zu einer übergreifenden Diskussion der Stadtkonzeption als ‚stereotype‘, ‚archetype‘ und ‚prototype‘ vgl. Brenner, Neil: „Stereotypes, Archetypes and Prototypes: Three Uses of Superlatives in Contemporary Urban Studies“, in: City & Community. 2(3)/2003, S. 205-216. Shiel 2001b, S. 7. 334
DIE FRAGMENTIERUNG DER METROPOLE
Fragmente und das Ganze in einem kontinuierlichen Austauschprozess und verweisen wechselseitig aufeinander, wodurch das Ganze ebenso in den Fragmenten sichtbar wird wie jene unablässig auf das Ganze, auf den übergreifenden Zusammenhang verweisen (wie in SHORT CUTS). In ihrem zugrunde liegenden Raumkonzept changieren die Episodenfilme folglich zwischen der Konfiguration von offenen Systemen, die jede Art von Anschluss möglich und denkbar machen und der Konfiguration eines geschlossenen Systems, das der übergreifende städtische Raum bildet. Dabei ist entscheidend, dass alle Wechselspiele zwischen Fragment und Ganzem, dass alle räumlichen Verhältnisse (Innen/Außen, Privat/ Öffentlich, Inklusion/Exklusion) hier in die Relationen selbst hinein verlegt werden, was für die Konstruktion der filmischen Metropole weitreichende Konsequenzen hat. Denn sie ist hier nicht mehr jenes räumliche Gebilde, das in seinen Ambivalenzen und Polaritäten alle Figuren durchdringt und durch sie hindurch geht, sodass die Unterscheidungen von Innenwelt (der Figuren) und Außenwelt (der Stadt) zuletzt ganz aufgelöst werden. Im Gegenteil: In den Episodenfilmen kennzeichnet die Figuren gerade eine Distanz gegenüber ihrer Außenwelt, welche sie weitaus mehr beobachten, als dass sie selbst von ihr durchdrungen und verändert werden. Genau an diesem Punkt verbinden sich jedoch auch wiederum äußere und innere Konstruktion: Wenn die äußere Fragmentierung der Stadt in der inneren Zerrissenheit der Figuren reflektiert wird, deren Verbindungen zu anderen und zu sich selbst von innen her zerbrochen sind. In den Episodenfilmen wird zwischen Figur und Stadt folglich ein signifikanter Abstand eingezogen. Was die Mikrotopologien jedoch wiederum in eine Linie mit den Topologien der Ambivalenz und den polaren Topologien setzt, ist die Tatsache, dass auch hier die Handlung in hohem Maße in die Innenräume verlegt wird – in das Atelier Dobies, in den Zigarrenladen in Brooklyn, in die unzähligen Wohnungen in Los Angeles. Dennoch ist die Verlagerung in die Innenräume wiederum als unmittelbare Reaktion auf den grundlegend transformierten Außenraum der Städte zu begreifen: Gerade weil die Gesamtheit der Stadt nicht mehr in einem Film zu erfassen ist, gerade weil die Urbanisierungsprozesse in eine neue Dimension eingetreten sind, die nur noch ein experimentales Opus wie KOYAANISQATSI einzufangen vermag, verlagern die Filme ihre Blicke auf einzelne Fragmente der Stadt, auf die Mikrokosmen, in denen sich das Leben einzelner Figuren zu einer Geschlossenheit verdichtet. Oder aber die Filme, und dies hat SHORT CUTS gezeigt, begegnen der Ungreifbarkeit des Urbanen darin, dass sie eine schier unendliche Vielzahl an Relationen herstellen, die sich letztendlich jedoch als provisorisch und folgenlos erweisen, indem sie keine Gesamtheit mehr stiften können.
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Zwischenräume, Übergänge und Transittopologien Ein zentrales Charakteristikum des Episodenfilms ist es, die Metropole in ihre Teilräume zu zerlegen, um auf diese Weise den Blick auf die hoch komplexen, in sich geschlossenen Mikrokosmen zu lenken. Diese Fragmentierung des Urbanen lässt sich jedoch auch noch in eine zweite Richtung ausdeuten, indem nun nicht mehr das Zusammenspiel der Figuren bzw. ihre vielfältig verstrickten Netze in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern vielmehr die mit der Fragmentierung einhergehende Öffnung der Raumstruktur im Sinne eines bewegten Ausgreifens der Figuren in den Außenraum, in die Peripherien der Städte. Denn im Zuge der Transittopologien, die in diesem Teilkapitel entwickelt werden, entsteht eine modifizierte Form von Zwischenräumlichkeit, die nun nicht mehr primär in den Relationen, in ihrer Dehnung und Streckung selbst begründet liegt, sondern die sich zwischen den Bewegungen der Figuren entfaltet. Auf diese Weise wird der Blick zugleich auf eine andere Art von Räumen innerhalb der Stadt gelenkt: Nun sind es nicht mehr die geschlossenen, verdichteten Innenräume, in denen sich das städtische Leben bündelt, sondern das Leben findet selbst im Raum des Dazwischen statt, mithin in jenen transitorischen und provisorischen Orten der Metropolen, die auch im Leben der Figuren nicht mehr als eine Zwischenstation bedeuten. In dieser Hinsicht schreibt der Episodenfilm genau diejenigen Prozesse fort, die bereits in Zusammenhang mit den Topologien des Transfers im Film noir angesprochen wurden: die permanente Passage der Figuren, ihre Bewegungen durch die Stadt, durch unterschiedliche Städte, durch das ganze Land hindurch. Während diese Passage der Figuren im Film noir jedoch noch zum Ausdruck einer ausgreifenden, zentrifugalen Ausrichtung der Stadt wurde, so gewinnt sie im Episodenfilm eine neue Qualität, die Deleuze in Zusamenhang mit der ‚Krise des Aktionsbildes’ beschrieben hat und die sich vor allem darin begründet, dass „an die Stelle der Aktion oder der sensomotorischen Situation die Fahrt, das Herumstreifen (balade) und das ständige Hin und Her “57 tritt. Dabei artikuliert sich die balade zumeist in Form einer ‚urbanen Wanderung‘. Sie ist eine ziellose Bewegung, die sich in einem ununterbrochenen Laufen, Kommen und Gehen in beliebigen Räumen äußert: Das ist tatsächlich das Eindeutigste an der modernen Wanderung: sie findet im beliebigen Raum statt – einem Rangierbahnhof, einem aufgegebenen Depot, Löchern im urbanen Gewebe –, im Gegensatz zur Aktion im früheren Realismus, die sich meistens in bestimmten raumzeitlichen Zusammenhängen vollzog. 57
Deleuze 1997a, S. 278. 336
ZWISCHENRÄUME UND ÜBERGÄNGE
Es geht darum, [...] den Raum ebenso wie die Fabel, die Intrige oder die Aktion auseinanderzunehmen, sie zu zerstören.58
Auch die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre sind in hohem Maße von dieser Form der ‚urbanen Wanderung‘ durchdrungen, die den Raum auflöst und ihn zersetzt. Denn hier sind die Bewegungen nicht mehr gerichtet, wie dies noch im Film noir der Fall war. Vielmehr treten sie als ‚reine Bewegung‘, als ‚reines Laufen‘ inkraft, das wiederum zum Ausdruck einer zunehmenden Entkopplung zwischen Figur und Stadt wird. Denn die Welt ist nicht mehr begreifbar, ebenso wenig wie sich der städtische Raum noch durch die Bewegungen erschließen und beherrschen ließe. Dies hat ABSCHIED VON GESTERN (Alexander Kluge, 1966), einer der einflussreichsten Stadtfilme des Neuen deutschen Films, in der scheinbar unendlichen Flucht der Hauptfigur Anita G. durch die ‚unwirtlichen Städte‘ der Nachkriegszeit wohl am eindrücklichsten in Bilder gefasst. Dabei wohnt der beständigen Bewegung Anitas gleichermaßen ein Moment der Flucht und ein Moment der Suche inne, was auch für die Konzeption der durchquerten Städte von zentraler Bedeutung ist. Denn im Zuge dieser schier unendlichen, ausgreifenden Bewegungen werden die Städte selbst zu Durchgangszonen und öffnen sich einer andersartigen Raumwahrnehmung. Anitas Koffer werden zu „Signaturen des Herausfallens aus einer ‚eigenen‘ Zeit- und Raumgewißheit“59, was letztendlich von der Unmöglichkeit zeugt, in den entfremdeten, ungreifbaren Städten noch einen festen Verankerungspunkt auszumachen. Diese bildliche Verdichtung eines reinen Laufens durch eine zerfallene, heruntergekommene Stadt, die nicht mehr als Einheit wahrgenommen werden kann, charakterisiert auch Jim Jarmuschs Filmdebüt PERMANENT VACATION (1980), das als zentraler Einfluss für die Entwicklung des (städtischen) Episodenfilms gelten kann. Denn hierin begründet sich die gesamte Filmhandlung in dem permanenten Umherlaufen des 16jährigen Protagonisten Allie durch eine zerrüttete Lower East Side, in die sich das Elend und der Verfall New Yorks in jede Häuserecke, in jeden Straßenzug und in jeden Hinterhof eingezeichnet haben. Mehr noch: In diesem Umherschweifen wird auch die Geschlossenheit und Sinnhaftigkeit der Stadt selbst infrage gestellt, denn als „‚Drifter‘ machen die Hauptpersonen eine Erosion der normierten Stadt zugänglich, die nicht allein mit der spezifischen Erfahrung und Sichtweise der Personen verrechnet werden kann.“60 Zugleich wird anhand des Umherschweifens des Protagonisten jedoch auch seine eigene Entwicklung nachgezeichnet, wird PERMANENT 58 59 60
Deleuze 1997a, S. 278f. Möbius/Vogt 1990, S. 21. Ebd., S. 24. 337
TRANSITTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
VACATION, so Rolf Aurich, zum Ausdruck einer „fesselnden Reise ins Innere eines jungen Tagträumers“.61
Abb. 38: Das Umherschweifen und die permanente urbane Passage in PERMANENT VACATION (1980)
Die Doppelung von äußerer und innerer Transformation wird auch die folgenden Ausführungen zu den Transittopologien im Episodenfilm begleiten. Denn mit der permanenten Bewegung bzw. mit dem wiederholten Wechsel der Bewegungsrichtungen geht zugleich ein grundlegend verändertes Stadtbild einher: Die Stadt wird hier selbst zu einer Station, zu einem Übergangsraum für die Figuren, der allein für eine bestimmte Phase ihres Lebens seine Gültigkeit besitzt. Damit, und auch dies wird in PERMANENT VACATION bereits vorgezeichnet, wird das Leben in der Stadt, so kurz es auch sein mag, für die Figuren zu einem Moment der inneren Verwandlung, der Transition von einem Zustand in einen nächsten. Denn wenn sie diese Stadt wieder verlassen haben, werden sie bereits jemand anderes sein, werden sie eine innere Wandlung vollzogen haben, die auch ihre zukünftigen Handlungen bestimmt. Dabei nehmen die Stationen, welche die Figuren in den Metropolen durchlaufen, bezeichnenderweise selbst das Gesicht von Übergangsorten und Transiträumen an, treten genuine Nicht-Orte auf den Plan, die auf das Flüchtigste, auf das Ephemerste der Zeit bezogen sind. Dies zeigt sich einerseits daran, dass die Figuren oftmals Hotelzimmer, Motels und andere flüchtige Behausungen aufsuchen, ohne sich wirklich in ihnen einzurichten. Dies zeigt sich andererseits aber auch daran, dass sie auf ihren Wegen wiederholt an Orte des Transits gelangen: leere Wartehallen, Bahnhöfe, Autobahnraststätten und verlassene Gegenden zählen zu den häufigsten bildlichen Verdichtungen in diesem Zusammenhang. Der Aspekt des Umherschweifens, der balade und des kontinuierlichen Übergangs zwischen den einzelnen Teilräumen der Stadt, die selbst wiederum in hohem Maße auf die Bewegung bezogen sind, lässt sich besonders am Beispiel von NACHTGESTALTEN (Andreas Dresen, 1999) nachvollziehen. Denn hier werden die unterschiedlichen Facetten der Bewegung im Modus des Episodischen in ihrer vollen Bandbreite ausgespielt und am Beispiel von sechs exemplarischen ‚Nachtgestalten‘ 61
Aurich, Rolf: „Zwischen zwei Kontinenten. Der frühe Jim Jarmusch in New York und Europa“, in: ders.; Stefan Reinecke (Hg.): Jim Jarmusch. Berlin: Bertz 2001, S. 123-144, hier S. 123. 338
ZWISCHENRÄUME UND ÜBERGÄNGE
verfolgt, die allesamt in dieser Nacht die Stadt durchkreuzen. Gerade weil aber keine der Figuren in dieser Stadt wirklich zuhause ist, verdeutlichen ihre Bewegungen zugleich ihre fundamentale Fremdheit und Bindungslosigkeit gegenüber dem urbanen Raum. Denn die Figuren in NACHTGESTALTEN sind allesamt Fremde in Berlin; sie sind Besucher, wie etwa der kleine Junge Feliz, der am Flughafen Tegel vergeblich auf seinen Freund Ricardo wartet, oder auch wie Jochen, der Bauer aus Neuruppin, der in der großen Stadt nach Liebe, Zuneigung und einem Stück Abenteuer sucht, während die übrigen Figuren insofern als Fremde in der Stadt gelten können, als sie von den Bewohnern immer wieder als Fremdkörper wahrgenommen und konsequent ausgegrenzt werden, wie etwa das Obdachlosenpärchen Hanna und Victor oder die junge Stricherin Patty. Den Rahmen dieser nächtlichen Wanderungen bildet Berlin, in dem sich die Wege dieser sechs Figuren immer wieder auf zufällige Weise kreuzen. Auch die klare Zeitspanne verleiht dem Film eine gewisse Einheit, insofern hier die Gegebenheiten einer Nacht erzählt werden – vom frühen Abend bis zum nächsten Morgen –, während den übergreifenden Bezugspunkt ein fiktiver Pabstbesuch in Berlin im Jahr 1999 bildet. Hiervon wird unablässig im Fernsehen berichtet, und auch die Kommentare der Bewohner Berlins, der Taxifahrer, der Flughafenangestellten, der Imbissbuden- und Hotelbesitzer weisen wiederholt darauf hin, dass sich die Stadt in dieser Nacht „in einem Ausnahmezustand“ befinde. Dabei geraten auch die Figuren auf ihren Wegen durch die Nacht immer wieder in einen ebensolchen „Ausnahmezustand“ und an die Grenzpunkte ihrer Existenz, wodurch sich Stadt und Figur wechselseitig spiegeln: Auf den ersten Blick dominiert zwar die jeweils im Vordergrund stehende Beziehungsgeschichte der einzelnen Paare, aber jeder weitere Blick eröffnet den fragmentierten städtischen Raum, innerhalb dessen sich diese entsprechend brüchigen Beziehungen abspielen. So bezieht sich das Chaos in den kleinen Verhältnissen auf die chaotisch-geordneten Metropolen-Verhältnisse.62
Das Wechselspiel zwischen Figur und Stadt wird hier jedoch nicht allein auf das Verhältnis von Ordnung und Chaos umgelegt, sondern es entfaltet sich vielmehr in einem Zwischenbereich, in der Choreographie der ausgreifenden Bewegungen der Figuren durch diesen nächtlichen Raum. Denn die Fremdheit und Haltlosigkeit der Figuren in dieser Stadt äußert sich zuallererst in einer ständigen Fortbewegung, die sie niemals wirklich, oder nur ganz zuletzt, an ihrem Zielpunkt ankommen lässt. Berlin wird hier als eine nächtliche Metropole gezeichnet, die allein über die unausgesetzten Bewegungen der Figuren erschlossen werden
62
Vogt 2001, S. 753. 339
TRANSITTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
kann, was bereits im Vorspann auf den Punkt gebracht wird. Denn hier werden die sechs zentralen Figuren jeweils durch signifikante Bewegungen eingeleitet: das Gehen, das Fahren, das Fliegen. Auch die Überleitungen von einer Episode zur nächsten erfolgen jeweils durch das Aufgreifen einzelner Bewegungslinien. So beginnt der Film damit, dass die Obdachlose Hanna überraschend einen 100-Mark-Schein in ihrem Hut findet und über die Straße davonstürzt, um ihrem Freund Victor von ihrem Fund zu berichten. Die Kamera folgt ihrer Bewegung durch einen Schwenk und verweilt dabei kurz bei dem Fahrer eines Wagens, mit dem Hanna kollidiert. Anstatt jedoch Hanna auf ihrem weiteren Weg zu Victor zu folgen, nimmt die Kamera nun die Fahrtrichtung des Fahrers – einer zentralen Figur der zweiten Episode – auf und begleitet ihn ein Stück auf dem Weg zum Flughafen Tegel. Der zweite bewegte Übergang dieser Eingangssequenz wird wiederum durch Hanna ausgelöst, indem diese, nachdem sie Victor gefunden und sich mit ihm auf den Weg gemacht hat, um ihr gefundenes Geld in eine Nacht im Hotel zu investieren, mit dem Blick einer Bahn folgt. Auch diese Blickrichtung wird von der Kamera aufgenommen, weitergeführt und ins Innere der Bahn gelenkt, wo sich Jochen – der Protagonist der dritten Episode dieser Nacht – befindet.
Abb. 39: Bewegungen und Übergänge im Vorspann von NACHTGESTALTEN (1999)
Die Bewegungen und Bewegungsrichtungen dieses Films bewirken folglich den Übergang von einer Geschichte zur anderen – eine Facette, die sich durch den gesamten Film zieht, indem immer wieder das Ende einer Bewegung, wie etwa das Parken eines Autos, von einer anderen Bewegung, etwa dem Anfahren eines zweiten Autos mit den Figuren einer anderen Episode, aufgegriffen und weitergeführt wird. Auf diese Weise fungieren die Figuren, wie Treber in Bezug auf den Film TRAFFIC (Steven Soderbergh, 2000) festgestellt hat, „stets als bewegliche Teile einer einzigen großen, flüchtigen und instabilen Transitzone“63, die in einem permanenten Knüpfen von Beziehungen und Bewegungslinien aufgeht. Neben den unterschiedlichen Bewegungsrichtungen, die entscheidend für die Konstruktion des filmischen Raums in NACHTGESTALTEN sind, gibt es jedoch auch drei Nebenfiguren, die als direkte Verbindungsglieder zwischen den einzelnen Geschichten dienen und die immer wieder in die Handlung eingewoben werden. Da ist zuallererst eine Gruppe Jugendlicher, die mit ihren Diebstählen auf alle drei Episoden Einfluss 63
Treber 2005, S. 147. 340
ZWISCHENRÄUME UND ÜBERGÄNGE
nimmt: Sie stehlen Jochens Rucksack am Bahnhof Zoo, in Kreuzberg klauen sie Peschkes Auto, während sie Hanna auf einer Brücke in Sicherheit bringen, nachdem diese von Victor geschlagen wurde. Durch ihre Handlungen initiieren die Jugendlichen folglich immer wieder eine Stagnation oder einen Fortgang der Geschehnisse der drei Episoden. Als zweite Randfigur, die beständig (visuelle oder akustische) Verbindungen zwischen den einzelnen Episoden herstellt, dient ein Taxifahrer, in dessen Wagen im Laufe des Films alle Figuren einmal eingestiegen sein werden, während die dritte, und vielleicht auch die versteckteste Verbindungslinie dieses Films ein Obdachloser bildet, der immer wieder am Bildrand auftaucht oder aber mit seinem übervollen Einkaufswagen den Figuren den Weg verstellt. Diese Beobachtung ist entscheidend, steht sie doch für einen zentralen Wechsel, der mit den Transittopologien einhergeht. Denn nun entstehen die Verknüpfungen und Verbindungen nicht mehr unmittelbar zwischen den zentralen Figuren selbst, sondern sie werden auf die Randfiguren des Films verlegt. Indem diese Randfiguren aber als Taxifahrer und als Obdachloser einen integralen Bestandteil des Städtischen bilden, gewinnt auch die Stadt als Ermöglichungsbedingung dieser Verknüpfungen ‚am Rande‘ und der zufälligen Begegnungen ein neues Gewicht. Denn in diesen feinen Verbindungen und verpassten Begegnungen vermittelt sich zugleich, wie Vogt ausführt, [...] etwas vom Immer-Möglichen, vom Nicht-Realisierten – eine Begegnung, ein Kennenlernen, dem eigenen Leben eine andere Wendung geben. In diesen Momenten geschieht mit den Figuren etwas, was ihre Existenz in der Stadt, das Städtische und Existentielle, intensiviert und transzendiert. In bestimmter Weise ist dadurch die Stadt präsent und abwesend zugleich.64
Dieses permanente Dazwischen des Immer-Möglichen und Nicht-Realisierten artikuliert sich dabei in der grundlegenden Ausrichtung der Stadt auf die Bewegungen, wobei sich zwei unterschiedliche Facetten festmachen lassen. Auf der ersten Ebene finden wir die konkreten Bewegungen durch die Stadt hindurch, welche die Figuren unablässig vornehmen. Denn selbst dort, wo ihr Bewegungsfluss unterbrochen wird – wie etwa zu dem Zeitpunkt, als Hanna und Victor aus dem ersten Taxi geworfen werden –, versuchen sie unmittelbar, ihren Weg fortzusetzen, selbst wenn sie dies zu Fuß tun müssen. Die zweite Bedeutungsebene betrifft hingegen die Transitorte, an denen sich die Figuren immer wieder, wenngleich nur flüchtig, aufhalten: die Wartehalle des Flughafens Tegel, der Bahnhof Zoo, die unterschiedlichen Hotellobbys, in denen sich Hanna und Victor nach den (allzu hohen) Zimmerpreisen erkundigen, das Stundenhotel, in
64
Vogt 2001, S. 754. 341
TRANSITTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
das Patty Jochen führt, ebenso wie die zahlreichen Rolltreppen, Fahrstühle und U-Bahnen, auf denen sich die Figuren weiterbewegen. In NACHTGESTALTEN, in dieser „Odyssee durch die Anonymität einer Großstadt im Ausnahmezustand“65, überkreuzen sich jedoch nicht allein die konkreten Bewegungen der Figuren und die genuinen Bewegungsorte, sondern sie durchlaufen zugleich zwei übergreifende Phasen der Bewegung: Während die Bewegung zu Beginn des Films noch dazu dient, die einzelnen Figuren und Geschichten erstmals miteinander zu verweben, so werden die Bewegungen im weiteren Verlauf immer differenzierter. Sie werden schrittweise gesteigert, sodass es schließlich zu einer mehrfachen Eskalation kommt: Victor schlägt Hanna auf einer Brücke im Regen nieder; Peschke verzweifelt aufgrund seines gestohlenen Autos und seiner Ratlosigkeit, wie er den Vater des Jungen ausfindig machen soll; und Jochen wird, nachdem er Patty zufällig mit einer Heroin-Spritze im Bad entdeckt hat, in eine brutale Schlägerei mit ihren Mitbewohnern verwickelt. Es handelt sich folglich um eine schrittweise Steigerung der Bewegungen der Figuren, die letztendlich zu einer Eskalation, zu einer Entfesselung der Bewegung führt. Gerade in diesem Punkt und in dieser Überzeichnung der Abgründe und des Gewaltpotenzials dieser sechs Fremden in der nächtlichen Großstadt, artikuliert sich wiederum die „Rückkehr des Sozialen“66, die in hohem Maße die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre prägt. Denn hier geht es nicht mehr um eine bloße ‚Geometrie‘ der Figuren, die in ihren Bewegungen und Handlungen gleichsam abgezirkelt werden. Im Gegenteil: Der Blick auf ihre brüchigen, zerrütteten Beziehungen, die bereits SHORT CUTS auf so deutliche Weise in Bilder gefasst hat, beinhaltet immer auch eine Aussage über die Brüchigkeit und Fragmentierung der urbanen Umwelt selbst, durch die sie sich hindurchbewegen, ohne mit ihr eine innere Verbindung einzugehen. Das Stadtkonzept, das sich in NACHTGESTALTEN abzeichnet, ist damit zunächst das einer durch und durch bewegten Stadt, die in solch hohem Maße von den Bewegungen und Bewegungsrichtungen durchdrungen ist, dass die kontinuierliche Kreuzung der (Neben-)Figuren untereinander sich beinahe als notwendige Konsequenz aus dieser vielfältig verknüpften Stadt lesen lässt. Genau darin artikuliert sich jedoch wiederum eine Absage an den übergreifenden Sinnzusammenhang der Stadt, die bereits in Bezug auf SHORT CUTS auf den Plan gerufen wurde: Gerade weil alles in die Relationen (wie in SHORT CUTS) und in die Bewegungen (wie in NACHTGESTALTEN) verlegt wird, verweisen diese letztendlich auf sich selbst und zugleich auf ihre Folgenlosigkeit für die Figuren. Dieser Aspekt wird in NACHTGESTALTEN sogar noch zugespitzt, indem hier vor 65 66
Wach 2006, S. 103. Ebd. 342
ZWISCHENRÄUME UND ÜBERGÄNGE
allem die Randfiguren – als (beinahe) unsichtbare Gestalten des städtischen Alltags – die zufälligen Überkreuzungen der Figuren überhaupt erst initiieren. Sie werden zum Zeichen einer räumlichen Verlagerung und einer schrittweisen Veränderung des Urbanen, indem sie eine „Ausdehnung des Blicks für das ‚Daneben‘ dieser Nacht“67 bewirken. Mit NACHTGESTALTEN wird die Bewegung innerhalb der Stadt folglich bis zu ihrem Endpunkt geführt und im selben Zuge als zufällig, folgenlos und flüchtig herausgestellt. Eine andere Facette der Transittopologien entfalten hingegen diejenigen Filme, die unterschiedliche Städte in einer übergreifenden Bewegung miteinander verbinden, während die Figuren selbst eine ebenso äußere wie innere Transformation durchlaufen.68 Diese Doppelung wird besonders in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND (Michael Klier, 1989) thematisiert. Denn auf den ersten Blick verfolgt dieser Film den kontinuierlichen Übergang der beiden Protagonisten, Jerzy und Ewa, zwischen drei zentralen Metropolen, die in ihrer übergreifenden Bewegung immer weiter nach Westen weisen: von Warschau über Berlin bis nach New York. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass es sich hier keinesfalls um eine einfache und eindeutige Reise mit klaren Zielrichtungen handelt. Vielmehr sind die Figuren in einem Übergang begriffen, bei dem sie niemals ganz angekommen sein werden und auch niemals genau wissen, ob es sich nun um eine Station auf ihrem weiteren Weg oder bereits um einen Endpunkt handelt. Dabei greift wiederholt der Zufall in das Geschehen ein, indem sich Ewa und Jerzy sowohl in Warschau als auch in Berlin zufällig treffen, um sich im nächsten Moment wieder zu verlieren, bis sie sich zuletzt, am Ende des Films, in Manhattans Hell’s Kitchen wiederfinden. Während bereits im Film noir der kontinuierliche Übergang zwischen unterschiedlichen Städten zu einem zentralen Referenzpunkt der Raumkonstruktion wurde, so wird diese Konfiguration von Übergängen in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND auf eine neue Stufe gestellt. Und dies äußert sich vor allem darin, dass hier die Bewegung selbst eine 67 68
Treber 2005, S. 242. An dieser Stelle sei zugleich auf die Fernseh-Trilogie WOHIN UND ZURÜCK (1982/86) von Axel Corti verwiesen, die ebenfalls einzelne Städte dieser Welt – New York, Santa Fé, Prag, Paris, Marseille und Wien – in einer zirkulären Beziehung miteinander verbindet. Auch hier werden die Stationen in der Fluchtbewegung des Protagonisten Ferry Tobler allein in ihrer Momenthaftigkeit und Flüchtigkeit inszeniert, worauf auch Knut Hickethier verweist: „Ob Prag, Paris oder Marseille, wohin ihn die Verfolgung treibt, immer sind es unzusammenhängende Bilder, Momentaufnahmen der Stadt, die das Unstete unterstreichen, die dieses Ständig-aufder-Flucht-Sein versinnbildlichen.“ Hickethier 1999, S. 191. 343
TRANSITTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
andere Qualität erhält bzw. dass sie sich in drei unterschiedliche Aspekte aufspaltet, die wiederum jeweils mit einer der drei Stationen in Verbindung stehen. So ist das prägende Moment der filmischen Inszenierung von Warschau zunächst die Negation der Bewegung in Form eines Stillstands und einer Stagnation, die unmittelbar in der Eingangssequenz verdeutlicht wird, wenn die Stadt wie in einer Starre gefangen zu sein scheint und in der keinerlei Geräusche zu vernehmen sind. Warschau zeigt sich in diesen ersten Sequenzen als vollkommen leer und ausgestorben, denn obgleich an den Hausfassaden vereinzelte Lebenszeichen auszumachen sind, so sind die Straßen selbst doch vollkommen unbelebt. Erst mit dem schrittweisen Übergang in die Innenstadt werden einige, vereinzelte Bewegungen sichtbar. Dieser Eindruck einer umfassenden Leere und Stagnation wird zudem dadurch verstärkt, dass Jerzy immer wieder als Figur des Wartenden inszeniert wird, indem er wiederholt stehen bleibt und die Geschehnisse um sich herum beobachtet, ohne jedoch eine Verbindung mit seinem Umraum einzugehen.
Abb. 40: Die drei Stationen der Reise von Jerzy und Ewa in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND (1989)
Der Übergang von Warschau nach Berlin, und damit der Anfangspunkt dieser „episodische[n] Städte-Odyssee“69, vollzieht sich bereits nach wenigen Minuten des Films. Nachdem sich Jerzy von seinem Bekannten verabschiedet hat und sich der Blick ein letztes Mal auf die weiten, ausgestorbenen Hochhaussiedlungen Warschaus öffnet, wird unmittelbar auf das nächtliche Treiben am Berliner Bahnhof Zoo übergeblendet. Von Beginn an, und dies lässt sich als zweiter Aspekt der Bewegung anführen, ist Berlin auf einen Zwischenzustand bezogen, bildet es für die Figuren nicht mehr als eine Übergangsstation, die zwischen zwei möglichen Punkten liegt. Dies wird zunächst daran deutlich, dass die Figuren stets von ihrer Abreise, von ihrem Wegkommen sprechen: Jerzys Zielpunkt ist Amerika, Ewa hingegen träumt davon, ihr Leben auf Hawaii zu verbringen. Das Ephemere dieser Station zeichnet sich jedoch auch auf besondere Weise in Jerzys ersten Aufenthaltsort ein: eine heruntergekommene Baracke auf einem nicht näher bestimmbaren Gelände, deren trister Eindruck durch die Fototapete mit den karibischen Motiven, die sogar über das einzige Fenster geklebt ist, nur noch verstärkt wird. Es ist folglich ein Ort, der dadurch, dass er von Beginn an auf etwas Anderes, auf etwas
69
Vogt 2001, S. 711. 344
ZWISCHENRÄUME UND ÜBERGÄNGE
Nächstes, eine nächste Station oder gar ein anderes, besseres Leben hin ausgerichtet ist, unmittelbar eine Sehnsucht in den Figuren hervorruft, an eben diesen anderen Ort zu gelangen. Auch Jerzy wird genau an diesem Ort den zentralen Satz äußern: „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“, ein polnisches Sprichwort bzw. eine „Formel, in der der Film die Sehnsucht und das Scheitern, den Traum und die Traurigkeit vereint.“70 In diesem Wechselspiel zwischen Sehnsucht und Scheitern offenbart sich zugleich ein zentrales Moment dieser städtischen Randzonen, die in ihrer Tristesse gleichsam einen generischen Charakter annehmen: In den detailreich gefilmten Randzonen fehlt diesen Stadt-Fragmenten jeder Glanz der Metropolen. In ihrer, den Besitzlosen zugewiesenen und sie gleichzeitig abweisenden Tristesse, in ihrer Gewalt der Ausgrenzung, sind sich diese Armuts-Viertel zum Verwechseln ähnlich.71
Berlin bezeichnet in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND einen Zwischenraum, der seine Funktion allein aus einem Vorher (das es nicht mehr ist) und einem Nachher (das es noch nicht ist) bezieht. Auf diese Weise wohnt Berlin ein zutiefst provisorischer Charakter inne, worin der Film, gerade auch vor dem Hintergrund seines Entstehungszeitpunkts, zugleich auf die unmittelbar bevorstehende Wende hindeutet.72 Diese Funktion Berlins als Zwischenstation auf einem größer angelegten Weg wird von den Figuren durchgängig reflektiert und in die Unterhaltungen eingewoben: Auf der einen Seite wird Berlin als ein Provisorium begriffen, auf das sich keine der Figuren wirklich einlässt. Auf der anderen Seite schwingt jedoch auch stets die Angst mit, diese Station könnte sich als eine (vorläufige) Endstation entpuppen. Die Figuren befinden sich in diesem Film, wie Andreas Kilb beschreibt, in einem endlosen Nirgendwo, das nur noch in seinen Hinterhöfen und Absteigen wirksam wird: In diesem Film sind wir im nirgendwo. Zuerst in Warschau, diesem toten Ort, der aus zwei Hinterhöfen besteht, einer Kneipe, einem Schwarzmarkt auf schlammiger Wiese und ein paar Häusermauern, öd und leer wie das Meer. Dann in Berlin, der Grenzstadt, die wie eine Wüste aussieht, wie Weltraumstädte in Science-Fiction-Filmen, nur billiger, fremder, ferner.73
70 71 72
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Tittelbach, Rainer: „Auf der Flucht und ohne Ankunft“, in: Die Welt vom 3.8.1989. Vogt 2001, S. 708. Vgl. hierzu auch Rezensionen zum Film, die wiederholt auf darauf hinweisen, dass sich in dieses West-Berlin bereits deutlich die ‚Umbruchsituation‘ vor der Wende einschreibt; vgl. Vogt 2001, S. 709f. Kilb, Andreas: „Grenzenlos“, in: Die Zeit vom 2.2.1990. 345
TRANSITTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
Der Übergang zwischen Berlin und New York wird ebenso abrupt eingeleitet, wie dies bereits im Übergang zwischen Warschau und Berlin der Fall war, während die zeitliche Dimension, die zwischen beiden Städten liegt, erst im Nachhinein narrativ gefüllt wird. So wandert Jerzy, nachdem er schließlich sein Visum erhalten hat, durch die Straßen Manhattans und gelangt in eine Bar in Hell’s Kitchen, in der auch Ewa mittlerweile als Putzhilfe arbeitet. Durch diesen Zufall vollkommen überrascht, berichten sie einander, wie sie es letztendlich nach New York geschafft haben. Insbesondere durch Jerzys Reisebericht, der ihn von Berlin nach Mexiko und dann mit dem Auto quer durch die USA bis nach New York geführt hat, gewinnt die Zeitspanne zwischen den beiden Episoden eine neue Dimension. Im selben Zuge wird mit der New York-Episode jedoch auch ein dritter Aspekt der Bewegung erreicht: ihr möglicher Endpunkt und die Aussicht darauf, dass sie nun gemeinsam in New York bleiben werden, wenngleich Jerzy auf Ewas letzte Bemerkung: „Vergiss nicht, viel weiter nach Westen geht’s nicht“, schlicht erwidert: „Mal sehen.“ Die transitorischen Bewegungen der Figuren in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND sind durch einen sich stetig ausweitenden und immer größeren Radius gekennzeichnet: Die Figuren bewegen sich nicht mehr durch eine Stadt hindurch, sondern gleich durch mehrere Städte, ja durch mehrere Länder. Denn einerseits scheint jedes nur denkbare Reiseziel und jeder Zielpunkt der Auswanderung möglich geworden zu sein. Andererseits werden jedoch auch die Hoffnungen, die mit jeder neuen Station verbundenen sind, immer wieder auf die Realität dieser drei so unterschiedlichen Metropolen zurückgeführt, die keinerlei Rücksicht auf die Hoffnungen der Zugereisten nehmen. Das damit einhergehende Stadtkonzept korrespondiert folglich mit der Vorstellung einer durch und durch provisorischen Stadt, die ihren Endzustand noch nicht gefunden hat, die vielmehr selbst in einem weitreichenden Umbruch begriffen ist, der sich unmittelbar in die einzelnen Teilräume als flüchtiges und fragmentiertes Dazwischen einschreibt, worin sich zugleich die von Walter Prigge formulierten Facetten der Auflösung der Städte artikulieren: Vier Mechanismen sprechen gegen das Bild der kompakten, Zentralität formierenden Stadt: die Fragmentierung des Stadtraumes, innerstädtische Peripherie erzeugend; die Individualisierung der Sozialstruktur, sozialen Rand produzierend; die Medialisierung städtischer Kulturen, urbane Milieus dezentrierend; und die Suburbanisierung, Zentren und Peripherien in ein neues Verhältnis zueinander setzend.74
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Prigge, Walter: „Mittendrin und außen vor. Vier Fragen zur Auflösung der Städte“, in: Birgit Konopatzki; Ilona Traub (Red.): Katalog der 45. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Oberhausen: Karl Maria 346
ZWISCHENRÄUME UND ÜBERGÄNGE
Insbesondere die Berlin-Episode ist in diesem Zusammenhang entscheidend, denn dadurch, dass diese Station beinahe den gesamten Film einnimmt, trifft der Film zugleich eine Aussage über eine Welt im permanenten Zwischenzustand, die nicht mehr als provisorische Behausungen, flüchtige, zufällige Begegnungen und die (vergebliche) Hoffnung auf ein anderes Leben bereitstellt. Dementsprechend referieren auch die Stadtbilder, die dieser Film zeichnet, auf grundlegend fragmentierte, in ihre Teilräume zerlegte Städte, die keinen Gesamtzusammenhang mehr herzustellen vermögen, sondern die vielmehr in ihrer ‚Eigenschaftslosigkeit‘ ein gemeinsames, über die Welt verteiltes fragmentiertes Ganzes herausbilden. Die Welt wird damit zu einer Zwischenstadt, denn diese ist, so die Definition von Thomas Sieverts, „die Stadt zwischen den alten historischen Stadtkernen und der offenen Landschaft, zwischen dem Ort als Lebensraum und den Nicht-Orten der Raumüberwindung“.75 Während in NACHTGESTALTEN die Bewegungen der Figuren also gesteigert werden, um schließlich in eine Eskalation und eine Entfesselung der Bewegungen zu münden, so bezeichnet der Faktor der Bewegung in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND ein grundlegendes Paradox. Denn auf der einen Seite handelt dieser Film von nichts anderem als von der Bewegung und von dem unablässigen Transit der Figuren, der sie immer weiter gen Westen treibt. Auf der anderen Seite verfehlt dieser Film jedoch die Bewegung in ihrer konkreten, gerichteten Form, und dies gleich auf dreifache Weise: Denn zunächst reduziert er sie auf ihren Anfangspunkt im Sinne einer Stagnation und damit auf ein ‚Vorher‘ der Bewegung (Warschau). Daraufhin konfiguriert er sie in ihrer zeitlichen Dehnung als Zwischenstation, die auf eigentümliche Weise zwischen Stagnation und Bewegung, zwischen Anfangs- und Endpunkt gefangen bleibt (Berlin), um sie zuletzt durch ihren potenziellen Endpunkt wiederum stillzulegen bzw. nur vage Verweise auf ein mögliches ‚Nachher‘ der Bewegung in den Schlussdialog einzuziehen (New York). Beide Filme zeugen von einer Odyssee der Figuren, und in beiden Filmen wird die Zeit zu einer immanenten Kategorie der Raumerschließung, wobei sie das Verhältnis von Raum und Zeit auf ganz unterschiedliche Weise entwickeln: In NACHTGESTALTEN wird die Zeit komprimiert und auf eine einzige Nacht verdichtet. Mehr noch: Die Zeit selbst scheint den Figuren in dieser Nacht immer wieder davonzulaufen, wodurch sie sich in einer ständigen und beschleunigten Bewegung befinden. Demgegenüber ist ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND gerade durch
75
Laufen 1999, S. 104-107, hier S. 104; Gerda Breuer fokussiert in diesem Zusammenhang hingegen die Faktoren der Musealisierung, der Medialisierung und der Gestaltlosigkeit; vgl. Breuer 1998. Sieverts 1998, S. 7. 347
TRANSITTOPOLOGIEN IM EPISODENFILM
eine umfassende Dehnung der Zeit charakterisiert: durch eine Dehnung, die sich zuallererst zwischen den Bewegungen entfaltet und dadurch zugleich den Blick auf jenen Zwischenraum freigibt, der sich zwischen den Städten und über die gesamte Welt erstreckt. Die grundlegend bewegte Stadt, wie sie im ersten Fall inszeniert wird, verschiebt sich damit im zweiten Fall in Richtung einer provisorischen Stadt, in welcher sich das Flüchtige der Bewegungen und die Dehnung der Zeit überkreuzen. In beiden Fällen scheint der städtische Raum letztlich unter den unablässigen Bewegungen der Figuren zu zerfallen, sei es nun, dass er sich in einer ‚reinen Bewegung‘ (wie in NACHTGESTALTEN) oder aber in einem ‚reinen Übergang‘ (wie in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND) auflöst. Denn gerade im Zuge der unablässigen Bewegungen der Figuren entziehen sich die Städte immer wieder auf eigentümliche Weise. Sie werden ungreifbar und damit selbst zu eigenschaftslosen, generischen Städten, die den Figuren in keiner Weise mehr Halt bieten können. In den Transittopologien des Episodenfilms gewinnt folglich auch die Fragmentierung der filmischen Metropole eine neue Facette: Hier wird die Stadt nicht mehr in ihre einzelnen Mikrokosmen zerlegt, die in sich hermetisch abgeriegelt und geschlossen sind. Vielmehr bezeichnet die Stadt nun selbst ein solches weit ausgedehntes, ausgreifendes Fragment, das die einzelnen Orte, als letzte Überreste eines geschlossenen Systems, zu genuinen Transiträumen, zu offenen und sich öffnenden Räumen werden lässt, die von Beginn an auf ihr Verlassen hin ausgerichtet sind. Auch die Transittopologien des Episodenfilms zeugen damit grundlegend von den fragmentierten Sichtbarkeiten der Metropolen. Denn sie verteilen ihre Blicke auf unterschiedliche Figuren, auf unterschiedliche Geschichten und unterschiedliche Bewegungslinien, die sich der Stadt auf je andere Weise einschreiben. Dabei erfolgt die Fragmentierung des Blicks jedoch weniger im Zuge einer multiplizierten, verteilten Sichtweise auf die komplexen, netzartigen Figurenanlagen, die auf schier unendliche Weise verstrickt werden. Im Gegenteil: Die Fragmentierung des Blicks vollzieht sich hier im Zuge eines Umherstreifens und damit im Zuge eines Durchwanderns der Städte, die scheinbar nur noch aus öffentlichen und offenen Räumen bestehen. Die fragmentierten Blicke schweifen über die leeren und entleerten, die provisorischen und flüchtigen Orte der Stadt, die der Auflösung der Städte ein eindrückliches Gesicht verleihen. Gerade weil hier das Zentrum aber von flüchtigen, haltlosen Orten durchsetzt ist, verlagern die Figuren zunehmend, und dies hat vor allem ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT deutlich gemacht, ihre Bewegungen nach außen, in die Peripherien der Städte oder aber in eine ständige Abfolge immer weiterer Stationen, die nur ein potenzielles, mögliches Ende ihrer (inneren und äußeren) Transition bedeuten.
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Topologien des Zufalls: Das Denken der Welten Wurden die Metropolen in Zusammenhang mit den Mikrotopologien als in sich geschlossene, wenngleich innerlich hoch diversifizierte und komplexe Raumgebilde begriffen und in Zusammenhang mit den Transittopologien als eine Übergangsstation bzw. als Teil einer ausgreifenden Bewegung konfiguriert, die in starkem Sinne auf eine Transformation hin ausgerichtet ist, so sollen an dieser Stelle die Topologien des Zufalls und ihre spezifische Konstruktion der filmischen Metropole in den Blick genommen werden. Denn die Topologien des Zufalls führen das Außen als dritte Position in die Raumkonstruktion ein, das sich einerseits im Blick auf einen übergreifenden, globalen Zusammenhang und damit in unmittelbarem Bezug zur Welt begründet (NIGHT ON EARTH), während es andererseits als Macht des Zufalls (MAGNOLIA) und als Macht des Simultanen (TIME CODE) den filmischen Raum zu seiner Entgrenzung führt. Durch diese Erweiterung des Bezugsrahmens des filmischen Raums wird das Außen selbst zum entscheidenden Faktor der Raumkonstruktion. Dies bedeutet zugleich, dass die Metropole hier nicht mehr auf sich selbst verweist, sondern vor allem in ihren komplexen Verknüpfungen wirksam wird: mit der Welt, mit dem Zufall, mit dem Simultanen. Insbesondere der Zufall lässt sich als ein Schlüssel begreifen, über den sich die episodischen Raumgeflechte näher fassen lassen. Denn gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausdifferenzierung der filmischen Metropole wird der Zufall oftmals zum Letzthorizont, um das Städtische in seiner Komplexität überhaupt noch erfahrbar zu machen. Und so gelangt auch Guntram Vogt am Ende seiner Betrachtungen zur Stadt im Film zu folgender Aussage hinsichtlich der Entwicklung der filmischen Stadt: Immer sind es Bruchteile von Zeit und Raum, die über die Kreuzungslinien von Personen und Situationen entscheiden. Mit einer gewissen Vereinfachung ließe sich behaupten, daß zum romanhaften und theatralen Schicksal des 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert immer mehr der filmische Zufall hinzugekommen ist, der zum Ende hin erstaunlich häufig gerade im städtischen Zusammenhang eingesetzt wird.76
Über den Zufall tritt auch die Relation in ein neues Stadium ein. Denn während die Relationen im ersten Fall auf sehr konkrete, visuelle und auditive Weise übersetzt und im zweiten Fall im Zuge der Bewegung auf das Andere, auf das Nächste bezogen wurden, so treten sie in Zusammenhang mit den Topologien des Zufalls als mentale Relationen inkraft. 76
Vogt 2001, S. 790. 349
TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
In dieser dritten Gruppe von Episodenfilmen wird damit eine Form der filmischen Topologie entwickelt, die in ihren abstrakten Verknüpfungen, in ihren gedanklichen Beziehungen auf das Außen ihre volle Prägekraft entfaltet. Als eine solche ‚Topologie des Außen‘ lässt sie sich in Rückgang auf die raumtheoretischen Positionen Jacques Derridas als Abstand, als Aufschub und als Verschiebung oder auch, im Sinne Michel Foucaults, als Außen bzw. als das, was außerhalb aller räumlicher Ordnungen liegt, denken.77 Es geht folglich um eine Relationslogik der Raumkonstruktion, die Deleuze im Rahmen seiner Ausführungen zum Relationsbild besonders im Kino Hitchcocks verwirklicht sieht.78 Dieser Bezug ist insofern für die folgenden Ausführungen entscheidend, als sich ein Bild, das sich Relationen zum Gegenstand nimmt, notwendigerweise auf ein Drittes hin öffnet bzw. nur über dieses Dritte gedacht werden kann. Indem die Relation aber als abstrakte Komponente einen eigenen Wert an sich gewinnt, entsteht zugleich eine dritte Form von Zwischenräumlichkeit: eine Zwischenräumlichkeit, die sich nun im Zuge der Herstellung abstrakter Relationen zwischen den einzelnen Bildern ausbreitet. In dieser Hinsicht gewinnen die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre viel vom Kino Jean-Luc Godards, das eine grundsätzlich andere, differenzierende Form von Räumlichkeit in den Film einführt: Bei der Methode Godards handelt es sich nämlich keineswegs um Verknüpfung. Ist ein Bild gegeben, dann kommt es darauf an, ein anderes Bild zu wählen, das einen Zwischenraum zwischen beiden bewirkt. Es handelt sich hier nicht um eine Operation der Verknüpfung, sondern, wie die Mathematiker sagen, der Differenzierung oder, wie die Physiker sagen, der Disparation: zu einem gegebenen Potential muß man ein anderes, aber nicht irgendeines wählen, und zwar derart, daß sich eine Potential-Differenz zwischen beiden herstellt, die Produzent eines dritten oder von etwas Neuem ist.79
Der Zwischenraum der Relation ist folglich ein derartig differenzierendes Drittes, das sich zwischen zwei Bildern konstituiert, die in einem bewussten Abstand zueinander gesetzt werden, wobei der Zwischenraum selbst eine eigene räumliche Qualität entwickelt. In Zusammenhang mit den Episodenfilmen der achtziger und neunziger Jahre soll diese Form von Zwischenräumlichkeit als eine abstrakte Kombinationslogik der Bilder durchgespielt werden, die in einem ganz bestimmten Verhältnis zueinander gesetzt werden. Die Konfiguration von filmischen Zwischenräumen ist in dieser Hinsicht notwendigerweise an eine Reflexion der filmsprachlichen Mittel gekoppelt, die auch im Bereich des Episodenfilms, wie sich 77 78 79
Vgl. auch die Ausführungen zur ‚Topologie des Außen‘, hier S. 94-100. Vgl. Deleuze 1997a, S. 264-275. Deleuze 1997b, S. 234. 350
DAS DENKEN DER WELTEN
insbesondere am Beispiel von TIME CODE zeigen wird, zu einem konstitutiven Bestandteil der (vierfachen) Raumkonstruktion avanciert. Bei Godard vollzieht sich die filmische Reflexion dieses ‚dritten Moments‘ im Modus einer präzisen Differenzierung und eines Auseinanderdividierens der einzelnen Bestandteile des filmischen Bewegungsbildes. Insbesondere in SAUVE QUI PEUT (LA VIE) (1980) zeigt sich ein starkes Bestreben, das Sichtbare und das Unsichtbare, das Visuelle und das Auditive zunächst auseinander zu dividieren, mithin einen Abstand zwischen diesen beiden Größen einzuführen, um sie im Folgenden wiederum über ein drittes Moment, das die Anordnung der Bilder selbst bezeichnet, zusammenzuschließen. Bei Godard wird ein unüberbrückbarer Abstand eingezogen, der sich gerade im Auseinandertreten, in der Fragmentierung und der Sezierung der Bilder manifestiert. Auch die drei Episodenfilme, die im Folgenden näher betrachtet werden, zeugen von einer derartigen ‚Differenzierung‘ des filmischen Raums. Dennoch variieren sie darin, inwieweit sie diese abstrakte, dritte Position, die zunächst einmal außerhalb der räumlichen Ordnung existiert, wiederum auf das ‚Ganze‘ des filmischen Raums beziehen. Die Vorstellung einer relationalen, mentalen Verknüpfung der Bilder wird vor allem in NIGHT ON EARTH (Jim Jarmusch, 1991) aufgegriffen, während sie zugleich in einen erweiterten – und gerade mit Blick auf die weitere Entwicklung des Episodenfilms entscheidenden – Kontext eingebettet wird. Denn das Bezugszentrum bildet hier nicht mehr allein eine einzige Metropole, die in den fragmentierten Blicken eingefangen wird. Ebenso wenig geht die Raumkonstruktion in NIGHT ON EARTH darin auf, einen kontinuierlichen Übergang zwischen den Metropolen zu konfigurieren, die sukzessive von den Figuren durchschritten werden, wie etwa in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND. Im Gegenteil: Das Bezugszentrum in NIGHT ON EARTH bildet, wie der Titel bereits andeutet, nichts weniger als die gesamte Welt, die zu jedem Zeitpunkt der Raumkonstruktion als abstraktes, ‚drittes Moment‘ mitgedacht wird. Dieses kontinuierliche ‚Mitdenken der Welt‘ als dritte Position, die von außen an den filmischen Raum herangeführt wird, ohne jemals gänzlich in diesem aufzugehen, wird unmittelbar im Vorspann von NIGHT ON EARTH auf sichtbare Weise ausgeführt. Denn hier bewegt sich die Kamera in einer ausgedehnten Fahrt auf eine rotierende Weltkugel zu, die sich schrittweise in eine Weltkarte verwandelt, während die Kamera langsam an Indien und Südeuropa vorbei über den Atlantik und das karibische Meer bis hin nach Kalifornien gleitet, während parallel dazu Tom Waits’ Back in the Good Old World eingespielt wird. Dabei ist bezeichnend, dass der Film in seinem Verlauf diese übergreifende Bewegung der Kamera genau umkehren und eine Reise von Westen nach Osten unternehmen
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TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
wird, stets folgend einer genau abgezirkelten Choreographie, welche die zunächst einmal getrennten Episoden „Los Angeles“, „New York“, „Paris“, „Rome“ und „Helsinki“ auf fünf Weltzeituhren verteilt, um sie daraufhin in ihrer sichtbaren Staffelung wieder miteinander zu verbinden. In Anschluss an diese erstmalige Einbettung der fünf Metropolen in ihren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, wird im Folgenden erneut der Globus aufgerufen, während sich die Kamera nun zielgerichtet auf einen leuchtenden Punkt hinzubewegt: Los Angeles. Dieser Vorgang wiederholt sich jedes Mal, wenn von einer Episode zur nächsten übergegangen wird. Auf diese Weise wird der Übergang zwischen den einzelnen Episoden sowohl musikalisch, mit dem präzise abgetreppten Soundtrack von Tom Waits, als auch bildlich an eine Art Übergangsritual gekoppelt, das eine doppelte Funktion innehat: In seiner konkreten Funktion bedeutet es das Ende der einen und den Anfang der nächsten Episode und damit zugleich den Grenzpunkt zwischen zwei räumlichen Systemen. In seiner zweiten, abstrakteren Funktion steht es hingegen für den kontinuierlichen Rückbezug auf das Ganze, das heißt auf den übergreifenden Bezugsrahmen der Welt mit ihren unterschiedlichen Zeitzonen. Auf der einen Seite markieren der Globus und die Uhren folglich ein Differenzkriterium zwischen den einzelnen Metropolen, indem hier ein eigener Zwischenraum des Übergangs in den Film eingezogen wird. Auf der anderen Seite, und in noch stärkerem Maße, wird hier jedoch zugleich eine mentale Relation aufgezogen, die sich auf die Welt als Gesamtkonstrukt und als übergreifende räumliche Logik bezieht.
Abb. 41: Das Verhältnis von Metropolen und Welt in NIGHT ON EARTH (1991)
Die Position des Dritten, die im Kern einer jeden relationalen Raumlogik begründet liegt, wird in NIGHT ON EARTH folglich von der Welt selbst besetzt. Denn die fünf Metropolen-Episoden werden hier nicht einfach hintereinander geschnitten oder gar ineinander verschachtelt, sondern sie müssen jedes Mal aufs Neue den ‚Umweg‘ über die Welt, über den Globus, über das Ganze nehmen. Dies ist insofern entscheidend, als durch dieses wiederholte Übergangsritual nicht allein eine Vergleichbarkeit der Episoden suggeriert wird, sondern dass in diesem Übergang zugleich der Bezug zur Welt in jeder einzelnen Episode mitschwingt. Damit wohnt dem Film eine subtile Form der Differenzierung inne, in welcher die Abfolge des gesamten Films in den einzelnen Episoden bereits von Beginn an klar vorgezeichnet wird (als fünf Weltzeituhren, als fünf Metropolen), die Schritt für Schritt, Uhr für Uhr, und jeweils zur selben Zeit – denn die 352
DAS DENKEN DER WELTEN
Uhren drehen sich nach Ende einer jeden Episode wieder auf ihren ‚universellen‘ Anfangspunkt zurück – hintereinander eingeleitet werden. Indem die Welt nun aber als übergreifender Rahmen des Films und zugleich als Referenzpunkt jeder einzelnen Episode aufgerufen wird, wirft der Film zugleich die Frage auf, inwiefern diese fünf Metropolen selbst als Teil einer umfassenden ‚Weltstadt‘ begriffen werden können, die ein vielfach verknüpftes Ganzes bildet. Das grundlegende Spannungsverhältnis, das NIGHT ON EARTH in Bezug auf die Inszenierung der fünf Metropolen eingeschrieben ist, lässt sich folglich als Verhältnis von Generischem und Spezifischem fassen. Dieser Punkt wird besonders in den Einleitungssequenzen deutlich, die jeweils einem ähnlichen Muster folgen, indem sie eine Reihe von Standbildern hintereinander aufrufen, bevor die jeweilige Episode in Form einer nächtlichen Taxifahrt ihren Lauf nimmt. Dabei zeigt sich die Besonderheit, dass es immer wieder ähnliche Bilder und vergleichbare Ausschnitte sind, welche die Metropolen einleiten, weniger jedoch diejenigen Spezifika, die sie unverkennbar machen und eindeutig zuweisen würden. So wird Paris gänzlich ohne den Eiffelturm, Rom ohne den Vatikan oder das Collosseum und New York ohne das Empire State Building oder die Skyline des Financial Districts eingeleitet. Und obgleich die New York-Episode ihren Anfangspunkt am Times Square nimmt, so wird sich diese nächtliche Taxifahrt doch im weiteren Verlauf auf die unbekannteren Gebiete und verlassenen Gegenden Downtown Manhattans und Brooklyns erstrecken.
Abb. 42: Das Generische der Städte in den Einleitungssequenzen der Episoden in NIGHT ON EARTH (1991)
Auf diese Weise wird in einem ersten Schritt das Generische der Städte herausgestellt, indem immer wieder ähnliche räumliche Versatzstücke aufgerufen werden: Telefonzellen, Parkplätze, Hotels, Bars, verlassene Straßen und nicht zuletzt jeweils eine Uhr, die erneut die genaue Ortszeit anzeigt. Die Gleichgestaltigkeit dieser Städte, „die vom Kino bereits vielfach gelesen wurden, zerlesene Städte“80, wird zudem dadurch verstärkt, dass den zeitlichen Rahmen eine einzige Nacht bildet, welche die fünf Metropolen in ein ähnliches Licht taucht. Das Spezifische wird also in den ersten Momenten ausgespart, um den Blick auf das Allgemeine und das Vergleichbare dieser fünf Metropolen freizumachen. Gleichzeitig, und hierin begründet sich wiederum die Feinheit der Raumkonstruktion 80
Kilb, Andreas: „Night on Earth (1991)“, in: Aurich/Reinecke 2001, S. 213-226, hier S. 221. 353
TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
in NIGHT ON EARTH, enthüllen diese räumlichen Panoramen der fünf Metropolen jedoch stets ein anderes Gesicht, sind sie gerade in ihrer potenziellen Ununterscheidbarkeit, die sich in der Auswahl ähnlicher räumlicher Elemente begründet – die Bars, die Parkplätze, die verlassenen Straßen –, wiederum deutlich zu unterscheiden. Dabei finden sich die Unterscheidungskriterien gerade in den Details, wie etwa in ihrem besonderen Material (die gusseisernen Balkone in Paris), in ihrer baulichen Struktur (die Renaissance-Palazzi der Altstadt in Rom) oder auch in ihrem besonderen Klima (die Sonne in Los Angeles, der Schnee in Helsinki). In ein vergleichbares Wechselspiel zwischen Generischem und Spezifischem sind auch die Beziehungen der einzelnen Figuren eingespannt. Denn die Episoden gehen jeweils von einer identischen Ausgangssituation aus: dieselbe Welt, dieselbe Nacht, dieselbe Zeit, dieselbe Handlung in Form einer Taxifahrt, wodurch das Generische, das Allgemeine, ja das Parabelhafte dieser unterschiedlichen Geschichten in der nächtlichen Metropole betont wird: „[T]his both captures the transitory nature of urban experience – unpredictable meetings and journeys – and foregrounds what is usually deemed insignificant, trivial, everyday, as central to this film.“81 Mehr noch: Indem die Episoden während einer Nacht spielen, wird zugleich der Wahrnehmungs- und Handlungsrahmen der Figuren deutlich vorgeprägt, teilt sich die Nacht zu jedem Zeitpunkt der Raumkonstruktion mit. Auf diese Weise wird die Nacht selbst zu einem Handlungsträger. Sie wird zu einem Produzenten von Sinn, indem sie den Raum immer wieder auf das Unwahrscheinliche und den Zufall hin öffnet, wie Treber am Beispiel nächtlicher Episodenfilme ausführt: Die Nacht lebt – sie wimmelt vor ungeahnten Möglichkeiten. Dunkelheit und Zufall implizieren beide auf ihre Weise eingeschränkte ‚Sichtverhältnisse‘, einmal durch die begrenzte Verfügbarkeit einer ‚enthüllenden‘ Helligkeit und dann ebenso als nicht nachvollziehbare Kausalität, welche das Zurückverfolgen einer Wirkung zu ihrer Ursache unmöglich macht.82
Die Nacht wird damit, so führt Treber weiter aus, „zur eigendynamischen, ‚unerhörten‘ Zeit, in der das Außergewöhnliche und Magische offen aufblühen“.83 Dies zeigt sich in NIGHT ON EARTH einerseits daran, 81
82 83
Mahoney, Elisabeth: „‚The People in Parenthesis‘. Space under Pressure in the Postmodern City“, in: Clarke 1997, S. 168-185, hier S. 178. Und sie führt weiter aus: „Narrative might be liberated in this film by the play with time and location, but as we see in the New York and Paris sections in particular, women are reassigned to a traditional (here, transgressive) place in the city“ (ebd.). Treber 2005, S. 231. Ebd. 354
DAS DENKEN DER WELTEN
dass die Figuren während ihrer Taxifahrt wiederholt in zufällige, ungeplante Begegnungen eingebunden werden, wodurch der Film als „ein Skizzenbuch der unvermeidlichen Verirrungen, der planmäßigen Fehlschläge, der verpassten Geschichten“84 gelesen werden kann, das „im Zeichen der Flüchtigkeit“85 unablässig neue Variationen entstehen lässt. Das ‚magische Moment‘ der zufälligen Begegnungen dieser Nacht zeigt sich andererseits jedoch auch daran, dass die Figuren am Ende der Taxifahrt eine Entwicklung durchgemacht haben werden. Denn entweder hat sich ihr Verhältnis zueinander geändert (Los Angeles, New York), haben sie mehr über das Leben und den Tod erfahren (Paris, Rom) oder aber haben sie selbst eine Läuterung durchlaufen (Helsinki), wodurch der Innenraum des Taxis letztlich zu einem reflektierenden Raum wird, in dem sich das Außen der Städte auf allegorische Weise spiegelt: Die Nacht dieses Films ist aus anderen Filmen erbaut, nicht aus Bildern der Wirklichkeit. Die Welt vor den Fenstern wirkt wie ein Zitat ihrer selbst; der Raum, auf den es ankommt, ist der Innenraum des Taxis, nicht der Außenraum der Stadt. Hier, im Medium der Flüchtigkeit, kommt das Flüchtige für kurze Zeit zur Ruhe. Was draußen Symbol ist, wird drinnen zwanglos allegorisch, die wirkliche Welt wird zur wahren: Hollywood, der melting pot, das alte Europa, die Melancholie des Nordens.86
Das Eindringen des Zufälligen als magisches und außergewöhnliches Moment, das in NIGHT ON EARTH immer wieder punktuell entfaltet wird, steht nun in MAGNOLIA (Paul Thomas Anderson, 1999) unmittelbar im Zentrum, indem diesen Film von Beginn an eine umfassende Reflexion des Zufälligen als Unerwartetem und letztendlich auch Unergründlichem durchzieht. Das Zufällige als übergreifendes Thema und als entscheidendes Moment der Raumkonstruktion rahmt den gesamten Film, indem der Prolog und der Epilog mit einem Kommentar versehen werden, der die Geschehnisse dieses Films in eine große Linie der Zufälle einbettet. Bei diesem Kommentar handelt es sich um die Rekonstruktion dreier tödlicher Zufälle, die über das gesamte 20. Jahrhundert verteilt sind. So werden in London (1911) drei Männer gehängt, deren Nachnamen in zusammengesetzter Form den Ort ihres Verbrechens bezeichnen: Greenberry Hill („And I would like to think this was only a matter of chance“). In Reno (1983) stirbt ein Sporttaucher an einem Herzinfarkt, nachdem er von einem Löschflugzeug unbeabsichtigt aus dem Wasser gezogen wurde, woraufhin sich der Flieger, der dem Taucher zwei Tage zuvor zufällig in einem Casino begegnet war, aus Reue das Leben nimmt („And 84 85 86
Kilb 2001, S. 213. Ebd., S. 214. Ebd., S. 223. 355
TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
I am trying to think this was all only a matter of chance“). Und in Los Angeles (1958) stürzt sich ein Junge vom Dach, um Selbstmord zu begehen, wird jedoch im Fall von einem unbeabsichtigt ausgelösten Gewehrschuss seiner Mutter erfasst und ist auf der Stelle tot, noch bevor ihn das Sicherheitsnetz, das ihm letztendlich das Leben gerettet hätte, auffangen kann. Auch der Erzähler kommentiert diese Macht des Zufalls mit Befremden: „This cannot be one of those things. This, please, cannot be that. And therefore I would like to say: This was not just a matter of chance.“
Abb. 43: Die Macht des Zufälligen und seine Rekonstruktion in MAGNOLIA (1999)
Neben dieser Omnipräsenz des Zufälligen, das vom Erzähler wiederholt als ‚reiner Zufall‘ in Zweifel gezogen wird, ist MAGNOLIA jedoch auch, und dies wird ebenfalls im Prolog deutlich, durch eine umfassende Parallelisierung der Handlungen charakterisiert. Denn all diese zufälligen Geschehnisse der Welt werden wiederum als exemplarische Begebenheiten in einen (scheinbaren) Kausalzusammenhang gesetzt. Auch der Figurenanlage in MAGNOLIA haftet ein exemplarischer Gestus an, indem diese ebenfalls durch eine umfassende Parallelisierung charakterisiert ist. Dabei betreffen die Parallelen weniger, wie dies bei NIGHT ON EARTH zu beobachten war, eine zeitliche Simultaneität, durch welche die Figuren in ähnliche Handlungen (eine Taxifahrt) in einer ähnlichen Umgebung (einer Metropole) zu einer ähnlichen Zeit (einer Nacht) eingebunden sind. Vielmehr tritt sie in MAGNOLIA in einer umfassenden Parallelisierung der Lebenslinien und der Wiederholung einzelner Schicksale inkraft, so etwa in Form des alten und des neuen Wunderkinds. Auf diese Weise überkreuzen sich die einzelnen Lebenslinien der Figuren nicht allein räumlich im Großraum von Los Angeles, sondern darüber hinaus auch zeitlich, oder präziser: in der Dimension ihres gesamten Lebens. Dabei ist entscheidend, dass MAGNOLIA nicht allein durch eine hohe Komplexität der Figuren und der Handlungsstränge, mithin durch ein „kaum zu überblickendes Universum“87 gekennzeichnet ist, sondern darüber hinaus das topologische Moment als Paradoxie, als Zufall und als Willkürliches in die Raumkonstruktion einführt. Der filmische Raum changiert hier kontinuierlich zwischen dem Möglichen und dem Wahrscheinlichen, während die Figuren im Laufe des Films immer weiter dazu übergehen werden, wie Treber treffend herausstellt, „das Mögliche über das Wahrscheinliche [zu] stellen, weil es schlicht und einfach
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Wach 2006, S. 100. 356
DAS DENKEN DER WELTEN
überall zum Wirklichen wird.“88 Dies bedeutet, dass die Welt, wie sie in MAGNOLIA gezeichnet wird, zu jedem Zeitpunkt das Moment eines potenziellen Umschlagens, eines potenziellen Andersseins beinhaltet, das sich über das gesamte Geschehen legt. Und genau diesen Punkt macht der biblische Froschregen am Ende des Films so eindrücklich deutlich, der sich mit aller Kraft auf den Straßen entlädt, woraufhin die Figuren in größter Panik eine Reihe von Unfällen verursachen (der Krankenwagen mit der ohnmächtigen Linda, der Sturz von Quiz Kid Donnie Smith, der Auffahrunfall von Rose Gator), oder gar freiwillig (wie Earl Partridge) bzw. unfreiwillig (wie Jimmy Gator) den Tod finden. Der Zufall wird damit zum zentralen Moment der Raumkonstruktion, während sich im selben Zuge der Raum auf das Offene, auf das Mögliche hin öffnet. Mehr noch: Indem der Zufall die gesamte Welt des Films erfasst, wird auch die Welt selbst zu einer Art ‚übernatürlichem System‘, auf das die Figuren weder Zugriff haben noch es gedanklich fassen können, was zur Folge hat, dass sie dieser entfesselten Welt immer wieder ohnmächtig gegenüber stehen, unfähig, angesichts des Geschehens noch eine Reaktion auszuführen. Dennoch scheint den Figuren und ihren Wegen zugleich eine ‚koordinierte Choreographie‘ zugrunde zu liegen, zeugt die Figurenanlage in MAGNOLIA letztlich von dem Bestreben, „die vermeintliche Willkürlichkeit des Zufalls als koordinierte Choreographie herauszuarbeiten, ohne einen ‚Autor‘ dieses Werkes anzugeben“.89 Diese fein abgezirkelte Choreographie der Figuren artikuliert sich dabei einerseits in der zunehmenden Dichte und Komplexität der Bezüge der Figuren untereinander, wie es bereits SHORT CUTS so deutlich in Bilder gefasst hat. Darüber hinaus zeigen sich in MAGNOLIA jedoch auch einzelne, singuläre Momente, in denen die vielfältigen Teile und Fragmente (die Figuren, die Orte) in ein übergreifendes Ganzes eingewoben werden, wie etwa am Beispiel des ‚geteilten Songs‘ Wise Up von Aimée Mann deutlich wird, in den alle Figuren hintereinander, an ihren jeweiligen Orten, einstimmen. Mit diesem Song wird ein übergreifender und entgrenzender Raum erzeugt, der die Figuren und die Handlungsstränge zu einer höheren ‚Ordnung der Dinge‘ zusammenfügt, die selbst außerhalb ihres Zugriffs liegt. In noch stärkerem Maße als dieser geteilte Song versinnbildlicht schließlich der entfesselte Froschregen die Einführung eines ‚magischen Realismus‘ in das Geschehen, wobei die konkrete Erfahrung des Undenkbaren und Unwahrscheinlichen von den Figuren immer wieder mit dem Satz: „This is something that really happens“, zu einer letztmöglichen Form der Selbstvergewisserung wird und damit
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Treber 2005, S. 203. Ebd., S. 205. 357
TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
zugleich zu einem Versuch, das Unwahrscheinliche in Wahrscheinlichkeit zu überführen, um es auf diese Weise in ihre Welt zu integrieren: Das Zufällige, Unwahrscheinliche und manchmal auch das zuvor als unmöglich Geglaubte sind feste Bestandteile des alltäglichen Lebens. Das auf Kausalität und Rationalität beruhende Realitätskonzept wird so auf die Akzeptanz von mysteriösen, magischen Aspekten des Daseins ausgedehnt – das Abwegige vergrößert die enge ‚wahre‘ Welt.90
Treber verbindet dieses Einbrechen des Unwahrscheinlichen, das eine ‚magische Welt‘ im Film aufzieht, mit der dramaturgischen Figur eines Deus ex Machina, welcher als „Mittel der Auflösung eines dramatischen Konfliktes, [...] von außen herangetragen wird, sich also nicht aus der Konsequenz der dramatischen Handlung ergibt.“91 An dieser Beobachtung sind zwei Punkte entscheidend: Erstens bezeichnet die Figur des Deus ex Machina ein unerwartetes und unwahrscheinliches Ereignis, das eine unmotivierte, künstliche Konfliktlösung darstellt und damit zunächst einmal als Paradoxie in die Raumkonstruktion eingeführt wird. Zweitens wird dieses Ereignis nicht von innen, das heißt aus dem inneren Kern des Konflikts heraus gelöst, sondern im Gegenteil durch die Einführung eines zunächst einmal unverbundenen, willkürlichen Außen, wodurch zugleich die Geschlossenheit des Ensembles brüchig wird. Im selben Zuge öffnet sich der Film auf das Topologische, auf das Paradoxe und das Unmögliche hin, die als Zeichen einer möglichen Transformation bis zum Ende hin wach gehalten werden. Auch der Erzähler wird in seinem resümierenden Epilog So Now Then erneut auf die drei zufälligen und tödlichen Begebenheiten des Prologs eingehen, um hieraus nur einen provisorischen Schluss zu ziehen, der die Geschehnisse offenlässt: And there is the account of the hanging of the three men, and the scuba diver, and the suicide. There are stories of coincidence and chance, of intersections and strange things told. And which is which? And who only knows?92
In MAGNOLIA hat der Zufall, das Willkürliche, kurz: das nicht mehr rational Fassbare die Welt ergriffen. Die Verzweigungen der Figuren führen letztendlich in die Leere oder aber sie sind in einer unendlichen, zyklischen Schleife gefangen. Für diese hoch komplexe Anlage findet der Film gleich zu Beginn, in seinem Vorspann, ein eindrückliches Bild, das gerade in seiner strukturellen Ähnlichkeit zum Abspann von SHORT CUTS die Differenzen beider Episodenfilme deutlich hervortreten lässt. 90 91 92
Treber 2005, S. 224. Ebd. MAGNOLIA (Paul Thomas Anderson, 1999), TC: 02:58:12. 358
DAS DENKEN DER WELTEN
Denn während SHORT CUTS den Reigen seiner Figuren in einem weiten Panoramaschwenk der Kamera über Los Angeles abschließt, über das sich wiederum einzelne Kartenabschnitte eines Stadtplans mit den Schauplätzen der Handlung legen, so als würde man die Geschehnisse des Films noch einmal auf abstrakte Weise an sich vorüberziehen lassen, so steht in MAGNOLIA ein derartiges abstrakt-topographisches Bild gleich zu Beginn, noch bevor die Handlung ihren Lauf nimmt.
Abb. 44: Öffnung der Magnolienblüte und rhizomatische Relationen in MAGNOLIA (1999)
Eine Differenz zu SHORT CUTS artikuliert sich hingegen darin, dass in MAGNOLIA die Blattstruktur einer Magnolienblüte zum Ausgangspunkt genommen wird, um die Verzweigungen der einzelnen (Lebens-)Linien der Figuren und der Schauplätze des Films zu umreißen. Diese Magnolienblüte öffnet sich dabei im Zeitraffer, um im Zuge dieser Öffnung immer deutlicher ihre Blattstruktur hervortreten zu lassen, die sich im nächsten Moment in das Straßengewebe eines angedeuteten Stadtplans verwandelt. Parallel dazu werden in einer Folge von Millisekunden einzelne, farblich verfremdete Standbilder der zentralen Figuren und Schlüsselelemente des Films aufgerufen, die für das bloße Auge nicht mehr als ein Flimmern bedeuten und die dennoch in komprimierter Form den gesamten Film einmal an sich vorüberziehen lassen. Während in SHORT CUTS also die Topographie der Stadt an die Repräsentationstechnik der Karte gekoppelt wird, so bildet in MAGNOLIA eine natürliche Blattstruktur und damit eine organische, rhizomatische Struktur, die topographische Basis. Hierdurch wird nicht allein der Netzwerkgedanke erneut und verdichtet in die Raumkonstruktion eingeführt, sondern darüber hinaus ein mehrfacher Übergang vollzogen: vom Abstrakten zum Organischen, von einer räumlichen Repräsentationstechnik hin zu einer natürlichen, komplexen Blattstruktur, welche der hohen Dichte und den ineinander verwobenen Wegen der einzelnen Verknüpfungen, die sich im Verlauf dieses Films entfalten werden, ein Bild der Verzweigungen voranstellt. In den Topologien des Zufalls wird eine Welt entworfen, deren mannigfaltige Verknüpfungen nicht einfach nebeneinander existieren, sondern die vielmehr stets in Bezug auf eine (konkrete oder abstrakte) Größe variieren, die gleichsam den äußeren Fluchtpunkt der räumlichen Relationen bildet. Während in NIGHT ON EARTH ein kontinuierliches Mitdenken der Welt vorgeführt wird und in MAGNOLIA der Zufall und das Paradoxe Einzug in das Geschehen halten, so steht in TIME CODE (Mike Figgis, 2000) der Aspekt der Simultaneität im Mittelpunkt. Denn der gesamte Film besteht aus vier Plansequenzen, das heißt aus vier kontinuierlich 359
TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
gefilmten Bild- und Tonspuren ohne jeden Schnitt, die durchgängig mittels eines Split-Screens nebeneinander projiziert werden und die Handlungen der vier Protagonisten bis zu ihrem tragischen Höhepunkt verfolgen. Dabei konzentriert sich die Handlung auf ein Filmproduktionsbüro am Sunset Boulevard in Los Angeles, in dem sich letztlich alle Wege der Figuren kreuzen werden, um sich von dort aus wieder zu verteilen. In TIME CODE wird der filmische Raum selbst fragmentiert und auf vier filmische Räume verteilt, die dennoch untrennbar ineinandergreifen. Dabei ist die Teilung des Bildschirms in vier gleichgroße Teilräume nicht etwa eine schlichte Gegebenheit, die von Beginn des Films an definiert ist, sondern entscheidend ist vielmehr, dass diese räumliche Teilung im Vorspann auf sichtbare Weise vollzogen wird. Die grafische Einführung zweier Trennlinien, die von den Rändern des Bilds aufeinander zustreben, wird hier zum Zeichen einer schrittweisen Fragmentierung des Raums, dessen Vervierfachung zunächst mittels einer Reihe visueller, grafischer Multiplizierungen der Bild- und Tonebene gleichsam ausgetestet und in abstrakten, minimalistischen Formen durchgespielt wird. In dieser Doppelbewegung von Eingrenzung und Entgrenzung des Raums werden, wie auch Treber herausstellt, die „Verflechtungen des episodischen Erzählens auf abstrakte Weise vorgeführt“93, wodurch sich TIME CODE zugleich als eine Reflexion des Episodischen lesen lässt. Die Reflexion des Episodischen und seiner Grenzpunkte wird in einem zweiten Schritt jedoch auch darin lesbar, dass die klar vorgegebene und stark reduzierte Bildstruktur in einem permanenten Spannungsverhältnis zur komplexen Choreographie der Figuren steht, die sich nur scheinbar mit den vier Segmenten verrechnen lässt. In anderen Worten: Die vier parallelen Bildschirme können nur auf den ersten Blick mit den vier Protagonisten identifiziert werden, da diese gerade die Eigenschaft haben, immer wieder die Bildschirme zu wechseln und an anderen, überraschenden Stellen aufzutauchen, um von dort aus – wie besonders im Fall des Produzenten Alex deutlich wird – die Handlung zu beeinflussen. Die vier Segmente bezeichnen folglich eine durchlässige, brüchige Struktur, die immer wieder durchkreuzt und umgekehrt werden kann, was sich insbesondere in den Sequenzen zeigt, in denen eine Figurengruppe bildlich mit einem anderen Segment zusammenfällt, um in der Folge dieser Überkreuzung gänzlich in letzteres überzugehen, was nicht zuletzt durch die räumliche Fokussierung des Handlungsortes auf ein einziges Produktionsbüro in Los Angeles wiederholt geschieht. Und bezeichnenderweise ist es wiederum das Eingreifen einer Naturgewalt in Form eines vierfachen Erdbebens, welches die vier Segmente und ihre jeweiligen Protagonisten in parallele Handlungen einbindet, was visuell durch die 93
Treber 2005, S. 306. 360
DAS DENKEN DER WELTEN
starken Erschütterungen und das Wackeln der Kamera transportiert wird. Dabei zeigen sich wiederholt die Bestrebungen, die absolute zeitliche Parallelität der vier Segmente in eine visuelle Parallelität zu überführen, indem etwa ähnliche Detailaufnahmen (wie ein Zoom auf die Augen der Protagonistinnen) eingesetzt oder aber ähnliche Handlungen zwischen jeweils zwei der vier Segmente vollzogen werden, wodurch eine Reihe bildlicher Muster entsteht, die wiederum auf die komplexe Inszenierung und die abstrakte Choreographie dieses Films verweisen.
Abb. 45: Visuelle Korrespondenzen und Figurenchoreographie in TIME CODE (2000)
In TIME CODE zeigt sich folglich eine präzise abgestimmte Choreographie der Figuren, die ebenso in ihrem eigenen Segment agieren wie sie in die anderen Segmente eingreifen. Gesteigert wird dieser Eindruck einer umfassenden Choreographie zudem dadurch, dass die Tonspur immer wieder zwischen den vier Segmenten hin- und herspringt. In einem Moment folgt die Tonspur also noch der Unterhaltung zweier Figuren, um im nächsten Moment wieder zu der Tonspur eines anderen, parallel laufenden Segments überzuwechseln, während die Unterhaltung auf der ersten Ebene nur noch visuell weiterverfolgt werden kann.94 Die Nähe dieses Films zu einem Tanz der Figuren oder auch zu einem Orchesterstück, in welchem immer wieder ein Instrument (bzw. eine Figur) hervortritt, um sich daraufhin wieder in die allgemeine Melodielinie des Orchesters zu integrieren, wird insbesondere dadurch nahe gelegt, dass Mike Figgis selbst die Abfolge und die Choreographie der Figuren auf einem Notenpapier aufzeichnete.95 Film und Musik, Visuelles und Auditives werden hier, wie auch allgemein in den Episodenfilmen, zu zwei untrennbar miteinander verknüpften Systemen, die kontinuierlich einen dynamischen Raum erschaffen, der sich in der Zeit entfaltet. Denn neben den bereits ausgeführten, zahlreichen visuellen Parallelen nimmt gerade das Akustische im Episodenfilm wiederholt eine verklammernde, vereinheitlichende Funktion ein, was MAGNOLIA in seinem ‚geteilten‘ Song 94
95
Diese Überlappung der Tonspuren ist jedoch nur eine Facette des Films, der zugleich als interaktiver Film produziert wurde, in dem sich der Zuschauer seine eigene Tonspur mischen und beispielsweise ein bestimmtes Segment über den gesamten Film hinweg verfolgen kann. Hierauf verweist Tara Veneruso in ihrem Interview; vgl. Veneruso, Tara: „An Interview with Mike Figgis, Director of ‚Time Code‘“, unter: http://www.next-wavefilms.com/timecode, Zugriff am 15.3.2008. 361
TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
in Bilder gefasst hat, indem es die Tonspur unmittelbar an die Konstruktion des filmischen Raums koppelt. Im Modus des Episodischen, des Kurzen und des Fragmenthaften, so scheint es, dienen Musik, Geräusche und Dialoge immer wieder „als vereinheitlichende ‚Synchronspur‘ und kontinuierliches ‚Bindegewebe‘ zwischen klaffenden Löchern der Handlung, die durch das ständige Abschweifen des Kamerablicks zustande kommen.“96 In TIME CODE wird die Komplexität der räumlichen Anlage also einerseits dadurch gesteigert, dass wiederholt bestimmte Synchronpunkte durch eine Überlappung der Tonebenen der vier Segmente entstehen, die diese miteinander konvergieren lassen. Andererseits begründet sich die Komplexität des räumlichen Konzepts dieses Films aber auch darin, dass die vier Plansequenzen vollkommen kontinuierlich ablaufen, was zur Folge hat, dass der filmische Raum selbst als ein vierfach verdoppelter in Erscheinung tritt. Dennoch bleibt Figgis auch bei diesem vierfach aufgefächerten Raum nicht stehen, sondern verdoppelt diesen erneut durch die Reflexion seines eigenen Produktionsprozesses. Dies zeigt sich einerseits in der kontinuierlichen (visuellen und auditiven) Reflexion der Bild- und Tonaufzeichnung selbst. Andererseits wird jedoch auch das Projekt des gesamten Films in die Handlung hineingeholt, indem eine junge russische Regisseurin dem Produktionsteam des Studios eben diese Idee eines synchron ablaufenden, mittels vier Kameras parallel aufgezeichneten Films vorstellt, woraufhin sie von der Produktionsgruppe, und allen voran von Alex, auf die Unmöglichkeit ihres Vorhabens verwiesen wird. Der Raum wird in TIME CODE einerseits zu einer mentalen Funktion, indem er durch seine kontinuierliche Vervierfachung letztendlich allein in den Synchronpunkten der Choreographie, in den abstrakten visuellen und auditiven Korrespondenzen aufgeht. Die Illusion des ‚einen‘ Raums wird hier von Beginn an untergraben, und mehr noch: Der Raum wird selbst im Zuge einer fortwährenden Reflexion seines eigenen Produktionsprozesses als etwas ‚Unmögliches‘ klassifiziert. Zugleich finden wir in TIME CODE jedoch auch einen Raum, der auf radikale Weise auf die Zeit bezogen ist; auf eine Zeit jedoch, die sich selbst wiederum allein in ihren Grenzpunkten zu artikulieren vermag: der absoluten Gegenwart, der Simultaneität und Synchronizität einerseits und der kontinuierlichen Produktion eines Nacheinander, von vorübergehenden Gegenwarten und einer unendlichen Sukzession der Ereignisse, die niemals – selbst am Ende des Films – ganz abgeschlossen und gelöst sein werden.97 96 97
Treber 2005, S. 329. Zu der Konvergenz ‚vorübergehender Gegenwarten‘ und ‚sich bewahrender Vergangenheiten‘ im Kristall-Bild als Beispiel eines unmittelbaren Zeit-Bilds, das nicht von der Zeit abstrahiert, sondern ‚ihre Unterordnung unter die Bewegung‘ umkehrt; vgl. Deleuze 1997b, S. 132ff. 362
DAS DENKEN DER WELTEN
An diesem Punkt tritt zugleich das verbindende Moment der Topologien des Zufalls, von denen in diesem Teilkapitel die Rede war, hervor: Es gibt eine Größe, eine dritte Position (die Welt, den Zufall, das Simultane), welche die Ensembles unablässig auf das Ganze hin öffnet und offenhält. In anderen Worten: In allen drei Fällen geht es um die Herstellung eines übergreifenden filmischen Raums, dessen Besonderheit darin besteht, die einzelnen Ensembles über eine Reihe abstrakter, mentaler Relationen miteinander zu verknüpfen und gleichsam von außen miteinander zu verbinden. Im selben Zuge werden diese Ensembles jedoch auch auf das Ganze hin offengehalten. Denn in NIGHT ON EARTH öffnet sich der Raum stets auf die gesamte Welt, die in jeder einzelnen Einstellung mitschwingt. In MAGNOLIA ist dies der Zufall, der den filmischen Raum stets auf das Mögliche und auf das Unwahrscheinliche hin öffnet, während sich in TIME CODE dieses Offene in der umfassenden Simultaneität der Ereignisse artikuliert, die den filmischen Raum kontinuierlich in vier mögliche und zugleich veränderliche Versionen auffächert. Die Welt, wie sie in den Topologien des Zufalls konfiguriert wird, ist nicht mehr zu fassen, sie entzieht sich den Figuren, und sie entzieht sich zu jedem Zeitpunkt des Films. Dennoch schreibt sie sich als eben dieses Unfassbare, Ungreifbare und Unergründliche wiederum auf das Deutlichste in die filmische Raumkonstruktion ein und bildet damit ein Außen, das außerhalb des Zugriffs der Figuren liegt. Als Folge hiervon stehen die Figuren, wie besonders MAGNOLIA auf den Punkt bringt, dieser unfassbaren Welt wie ohnmächtig gegenüber. Sie registrieren nur noch das, was um sie herum geschieht. Oder aber sie begreifen die Welt als das Simultane und das Nebeneinander, das nur noch auf künstliche Weise geordnet werden kann, indem es, wie in TIME CODE, in eine Choreographie der Abläufe und der Bewegungen überführt wird. In NIGHT ON EARTH entsteht dann eine Welt, die sich allein aus zufälligen und flüchtigen Begegnungen speist, während die Figuren selbst aus dem Zufälligen, das außerhalb ihres Zugriffs liegt, etwas Exemplarisches gewinnen. Im Zuge der Betrachtungen einzelner, sich überlappender filmischer Topologien im Episodenfilm der achtziger und neunziger Jahre – den Mikrotopologien, den Transittopologien und den Topologien des Zufalls – sind wir folglich in einem weiten Bogen von der grundlegenden Produktion der Sichtbarkeit der Metropole, wie sie besonders im frühen Stadtfilm der zwanziger Jahre zu beobachten ist, über die Hervorbringung des Unsichtbaren der Metropole, die sich vor allem im Film noir der vierziger und fünfziger Jahre artikuliert, bis hin zu den fragmentierten Sichtbarkeiten der Metropole gelangt. Denn die filmischen Blicke auf die Metropole werden in den hier besprochenen Episodenfilmen zunächst auf
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TOPOLOGIEN DES ZUFALLS IM EPISODENFILM
mehrere Episoden verteilt, die sowohl ein eigenes Ensemble an Teilräumen der Stadt als auch ein eigenes Ensemble von Figuren hervorbringen. Auf diese Weise entstehen vielfältige, sich überlagernde Blickrichtungen, entwickeln die Filme gerade in ihren Verzweigungen und Abschweifungen ihr volles Potenzial. In diesem verteilten, fragmentierten, episodischen Blick auf das Urbane finden die Figuren jedoch selbst wiederum Metropolen, die von innen her zersetzt und schrittweise aufgelöst sind, die ihre weitreichende Fragmentierung bereits durchlaufen haben. Dabei entwickeln die drei filmischen Topologien jeweils einen anderen bildlichen Ausdruck für diese Fragmentierung und Zersetzung der Metropolen. Denn im Fall der Mikrotopologien wird die Metropole in einzelne Mikrokosmen zerlegt, die filmisch gleichsam seziert und wie unter einem Vergrößerungsglas beobachtet werden (wie in NEW YORK STORIES, SMOKE und SHORT CUTS). Im Fall der Transittopologien tritt die Metropole hingegen in den beständigen Bewegungen der Figuren zunehmend als entdifferenziertes urbanes Gewebe hervor (NACHTGESTALTEN), das letztendlich in einer einzigen, über die gesamte Welt verteilten Zwischenstadt aufgeht (ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND). Im Fall der Topologien des Zufalls ist die Metropole hingegen nicht mehr allein fragmentiert und zersetzt, sondern zugleich in ihrer Ganzheit ungreifbar und unfassbar geworden. Denn der Gesamtzusammenhang lässt sich nur noch künstlich (wie in NIGHT ON EARTH und TIME CODE) oder aber durch die Macht des Zufalls herstellen (wie in MAGNOLIA). In allen drei Fällen geht es den hier behandelten Episodenfilmen um eine Steigerung der Relationalität als Grundkonzept ihrer räumlichen Anlage. In allen drei filmischen Topologien geht es um die Relationen, die zum entscheidenden Moment der Raumkonstruktion werden und die somit einen eigenen Zwischenraum produzieren, der sich zwischen den Bildern ausbreitet. Dennoch treten die Relationen hier nicht allein, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, als Figuren der Verknüpfung inkraft, sondern ebenso als Figuren der Differenzierung. Dies bedeutet, dass die Episodenfilme in einem ersten Schritt ihre volle Wirkmacht gerade dann entfalten, wenn sie die Relationen als Momente einer universellen, unablässigen Verknüpfung konfigurieren, die alle Elemente in sich zusammenbindet – sei es nun, dass es sich um direkte visuelle und auditive Relationen (im Fall der Mikrotopologien), um genuin bewegte, ausgreifende Relationen (im Fall der Transittopologien), oder aber um abstrakte, mentale Relationen (im Fall der Topologien des Zufalls) handelt. In einem zweiten Schritt kehren sich diese schier unendlichen Verknüpfungen jedoch um und werden zu Figuren der Differenzierung, des Abstands und des Auseinandertretens. Denn bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Relationen leer und brüchig sind, wie insbesondere
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DAS DENKEN DER WELTEN
SHORT CUTS eindrücklich unter Beweis stellt. Auch die zahlreichen Bezüge der Figuren untereinander vermögen nicht die Einheit zu garantieren, die letztlich nicht mehr herstellbar ist. In diesem Gestus treffen die Filme zugleich eine zentrale Aussage über die Metropolen, mit denen sie sich auseinandersetzen: Die Metropolen sind zu komplex, als dass sie noch filmisch zu fassen wären, es sei denn, sie werden in ihre Einzelteile und Fragmente zerlegt. Denn alle Bemühungen, unzählige Verbindungslinien und Verknüpfungen herzustellen, münden letztendlich in der Erkenntnis, dass die Städte nur noch mittels einer (episodischen) Fragmentierung der Sichtbarkeiten einzufangen sind und mehr noch, dass ein übergreifender Sinnzusammenhang nicht mehr herzustellen ist. Auf diese Weise zeugen die Episodenfilme genau von jener ‚Nichtgenerierbarkeit von Sinn‘, die gleichermaßen die zu komplex gewordenen Metropolen betrifft wie sie untrennbar der räumlichen Logik des Episodischen eingeschrieben ist. Den Episodenfilmen der achtziger und neunziger Jahre unterliegt damit einerseits eine rückkoppelnde Raumdynamik, insofern hier eine räumliche Logik ausgespielt wird, welche die Einführung einer abstrakten, dritten Position bzw. eines Außerhalb in die Raumkonstruktion als Prozess einer Rückkopplung sichtbar macht. Denn die Relationen, die der Episodenfilm hervorbringt, scheinen entweder vollkommen aus sich selbst heraus zu leben (wie im Fall der Mikrotopologien) oder aber sie verweisen kontinuierlich auf ein Folgendes, ein Nächstes (wie im Fall der Transittopologien). Demgegenüber verlagert sich der Kernpunkt des Episodischen in den Topologien des Zufalls zunehmend dahin, die Raumschichten der urbanen Welten übereinander zu legen und ihre Konvergenzpunkte herauszufiltern, um im selben Zuge die Rückkopplung der äußeren, dritten Position in das Innere der Topologie sichtbar zu machen. Andererseits entwickeln die Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre jedoch auch eine erschließende, ausgreifende Raumdynamik, denn sie zeugen stets von einer deutlichen Auffächerung des Räumlichen. In ihrer Multiplizierung der Blickwinkel und Perspektiven auf das Urbane, mithin in ihrer Multiplizierung der urbanen Welten, die nicht mehr auf den einen Raum bzw. auf eine räumliche Entität zurückgeführt werden können, eröffnen sie zugleich das Potenzial, eine Vielfalt von Räumen denkbar zu machen. In den Episodenfilmen der achtziger und neunziger Jahre wird die Komplexität des Urbanen folglich nicht einfach fragmentiert und aufgelöst, sondern im Gegenteil in ihrer Komplexität noch gesteigert, indem sie letztendlich als Schichtung und Überlagerung vielfältiger und teilweise widersprüchlicher Topologien lesbar wird, die von der Komplexität und Kontingenz der urbanen Welten zeugen.
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VII. E P I L O G . Z W I S C H E N T O P O G R A P H I E U N D TOPOLOGIE: LOS ANGELES PLAYS ITSELF
Wenn man davon ausgeht, dass jeder Film einen bestimmten ‚Moment‘ hat, wie es Anton Kaes in seiner Analyse des Weimarer Straßenfilms DIE STRASSE (Karl Grune, 1923) anhand der plötzlichen Belebung eines unbelebten, gemalten Augenpaars beschreibt, in dem sich die Macht des Blicks und die Modernität des Urbanen überkreuzen.1 Und wenn man davon ausgeht, dass auch jede Metropole ihren bestimmten ‚Moment‘ in der Geschichte hat, in dem sie sich auf besondere Weise vor anderen Metropolen auszeichnet und hervortritt2, so lässt sich der Experimentalfilm LOS ANGELES PLAYS ITSELF (Thom Andersen, 2003) als eine Ansammlung bzw. als eine Überkreuzung ebensolcher Augenblicke und besonderen Momente der filmischen Metropole verstehen. Der Film LOS ANGELES PLAYS ITSELF ist ein filmischer Essay über Los Angeles und zugleich ein Meta-Film, bestehend aus über 200 Filmausschnitten, der sich seinem Gegenstand – der unzählige Male verfilmten und wiederverfilmten Metropole Los Angeles – auf unterschiedliche Weise und in drei Zugriffen nähert, während er im selben Zuge die Möglichkeiten und Grenzen der filmischen Stadtkonstruktion auslotet. Mehr noch: Die Besonderheit dieses Films begründet sich gerade darin, dass er immer wieder die Grenzzonen und Übergänge zwischen einer filmischen Topographie und einer filmischen Topologie modelliert. Andersens Film lässt sich folglich als ein Versuch lesen, eine umfassende Historiographie der filmischen Stadt zu schreiben. Er tut dies jedoch im Wechselspiel
1
2
Kaes schreibt hierzu: „Every film has its moment. Be it an unforeseen glance, an unmotivated gesture, or a startling sequence unnecessary for narrative progression, such a ‚moment‘ reveals in a flash what’s at stake – then and now“; Kaes, Anton: „Urban Vision and Surveillance. Notes on a Moment in Karl Grune’s Die Strasse“, in: German Politics and Society. Issue 74, Vol. 23, No. 1, Spring 2005, S. 80-87, hier S. 80. Vgl. hierzu die Positionen von Reif (2006) und Eisenberg (2001), die in Kapitel III in Bezug auf die Definition der filmischen Metropole angeführt wurden; vgl. Kapitel III, Fußnoten 24 und 25. 367
ZWISCHEN TOPOGRAPHIE UND TOPOLOGIE
zwischen topographischen und topologischen Annäherungen und nimmt dazu wiederum den Film selbst in Anspruch. LOS ANGELES PLAYS ITSELF lässt sich als ein Epilog zur filmischen Metropole lesen, deren Entwicklungslinien und Dynamiken im 20. Jahrhundert Gegenstand dieser Studie waren. Denn diesen Film durchzieht eine umfassende Reflexion der Filmgeschichte der Metropole, während er im selben Zuge die filmische Metropole zum Ausgangspunkt nimmt, um die Geschichte des Films noch einmal neu zu schreiben. So bildet er zunächst einen dreistündigen Querschnitt von Los Angeles, wie es bereits die frühen Stadtfilme der zwanziger Jahre so gekonnt in Szene gesetzt haben. LOS ANGELES PLAY ITSELF markiert hierzu jedoch insofern einen Unterschied, als sein Querschnitt nicht allein die Metropole Los Angeles und auch nicht allein den Film betrifft, sondern die gesamte Historiographie der filmischen Metropole selbst. So kombiniert, verkettet und komprimiert er einzelne Filmausschnitte zu einer großen filmischen Collage und bildet dadurch den filmischen Querschnitt durch knapp neunzig Jahre Filmgeschichte von Los Angeles.3 Dementsprechend weit gefächert ist auch das Spektrum der Filme, das von frühen Beispielen der zehner Jahre, wie A MUDDY ROMANCE (Mack Sennett, 1913), über zentrale Filme der LA Film School der siebziger Jahre, wie etwa THE KILLER OF SHEEP (Charles Burnett, 1977) und BUSH MAMA (Haile Gerima, 1979), bis hin zu aktuellen Beispielen, wie THE MILLION DOLLAR HOTEL (Wim Wenders, 2000) und SWORDFISH (Dominic Sean, 2001), reicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich LOS ANGELES PLAYS ITSELF als eine „Stadtsinfonie im Rückwärtsgang“ lesen, die noch einmal alle zentralen Stationen der Filmgeschichte dieser Stadt Revue passieren lässt: Thom Andersen nennt seinen Essay darüber, wie Filme Los Angeles darstellen, eine ‚Stadtsymphonie im Rückwärtsgang‘. Die Phrase ist evokativ, wenn auch bescheiden, denn Los Angeles Plays Itself ist in Wirklichkeit eine Symphonie mit vielen Stilrichtungen und Tempi. Geleitet von seiner aufmerksamen, nachdenklich stimmenden Erzählung, trägt Andersen, mit Hilfe von Ausschnitten aus einer eklektischen Reihe von Filmen, eine kritische Geschichte und Gegengeschichte von Los Angeles zusammen.4
3
4
Vor diesem Hintergrund zieht Steve Ericksen den Vergleich zu Jean-Luc Godards umfassendem Projekt der HISTOIRE(S) DU CINÉMA (1988-98); vgl. „The Reality of Film. Thom Andersen on ‚Los Angeles Plays Itself’“, unter: http://www.indiewire.com/article/the_reality_of_film_thom_anderson_on_los_angeles_plays_itself; Zugriff am 15.10.2009. Ofner, Astrid: „Los Angeles Plays Itself“, in: dies: Der Weg der Termiten. Beispiele eines essayistischen Kinos 1909-2004. Marburg: Schüren 2007. 368
LOS ANGELES PLAYS ITSELF
Dabei liegt dem Film stets die zentrale Frage zugrunde, wie man sich einer Metropole nähern kann, deren Verfilmungen im Verlauf ihrer Geschichte eine schier unendliche Fülle an Variationen hervorgebracht haben. Andersen findet hierfür eine ebenso schlüssige wie komplexe Lösung, indem er Los Angeles einer umfassenden filmischen Vermessung unterzieht, welche die einzelnen Filme bzw. Filmausschnitte nach drei Kategorien anordnet: ‚The City as Background‘, ‚The City as Character‘ und ‚The City as Subject‘. Wie diese Dreiteilung bereits andeutet, werden hier unmittelbar diejenigen Diskussionslinien aufgerufen, welche die Definitionsansätze der filmischen Stadt von jeher begleitet haben.5 So stellt Andersen wiederholt die Frage, ab welchem Zeitpunkt eine Stadt zu einer genuin filmischen Stadt wird, wie sich der Übergang von der reinen Darstellung der Stadt zur Stadt als ‚Mitakteur‘ vollzieht, und vor allem: welche filmischen Konfigurationen der Stadt selbst, und insbesondere einer Metropole wie Los Angeles als „the most photographed city in the world“6, überhaupt noch gerecht werden können. Diese Sortierung und Kategorisierung der filmischen Metropole quer durch das 20. Jahrhundert hinweg hat in Bezug auf den Umgang mit der Geschichte des Films weitreichende Konsequenzen. Denn indem die Metropole hier selbst zum Hauptreferenzpunkt erhoben wird, auf den sich die gesamte Anordnung des Films konzentriert, liest Andersen die gesamte Filmgeschichte noch einmal quer, ohne Rücksicht bzw. nur mit modifizierter Rücksicht auf ihre Entwicklungsphasen und Genrekonventionen. Den Entwicklungslinien der Filmgeschichte wird damit eine andere, ein zweite mögliche Filmgeschichte gegenübergestellt: die Filmgeschichte der Metropole selbst, die alle bisherigen Kategorien verwirft und noch einmal neu anordnet – und nicht zuletzt in diesem Gestus artikuliert sich das grundlegende Spannungsfeld zwischen der topographischen Vermessung und der topologischen Neuordnung und Transformation der Filmgeschichte, das LOS ANGELES PLAYS ITSELF, so die These, auf untrennbare Weise eingeschrieben ist. Die wechselvolle Geschichte von Los Angeles im Film wird vor diesem Hintergrund folglich auch nicht etwa sukzessive in ihrem strikten historischen Verlauf nachgezeichnet, wenngleich der Film diese Linien nicht gänzlich verwirft, sondern punktuell immer wieder einbezieht. Vielmehr lässt sich die übergreifende Bewegung des Films als eine spiralförmige, zyklische Bewegung charakterisieren, welche – ausgehend von den drei zentralen Kategorien – die filmische Metropole immer weiter 5 6
Zu den Diskussionslinien der filmischen Stadt vgl. hier S. 182-186. Vgl. Andersen, Thom: „Los Angeles Plays Itself. Script des Films“, unter: http://www.fdk-berlin.de/verleih/news-anzeige/archive/2005/11/article/394/236.html?cHash=50d8e1a458; Zugriff am 15.9.2007. 369
ZWISCHEN TOPOGRAPHIE UND TOPOLOGIE
einkreist.7 Dies bedeutet zugleich, dass zunächst einmal das breite Spektrum der filmischen Konfigurationen von Los Angeles im Gesamtverlauf des 20. Jahrhunderts aufgemacht wird, während sich der Korpus der Filme zunehmend verdichtet und immer mehr in die Tiefe dessen vordringt, was die Filmgeschichte an vielschichtigen, komplexen oder, in Andersens Worten, ‚wahren‘ Bildern von Los Angeles hervorgebracht hat.8 Los Angeles, so legt der Titel nahe, spielt sich in diesem Film selbst und wird dadurch sowohl zum Motor als auch zum Gegenstand einer umfassenden filmischen Reflexion, die sich auf zwei Ebenen vollzieht. Denn einerseits wohnt den einzelnen Filmausschnitten selbst, in ihrer Selektion und in ihrer Kombination, bereits ein reflexives Moment inne, das sie im Verlauf des Films eine bestimmte Eigendynamik entwickeln und somit eine ganz eigene Geschichte erzählen lässt. Andererseits ist jedoch auch der Kommentar Andersens, der diese filmische Collage begleitet, von einem zutiefst reflexiven Gestus durchdrungen, indem er jeden einzelnen Filmausschnitt daraufhin befragt, welchen Beitrag er im Rahmen des übergreifenden Wechselspiels von Los Angeles als Filmstadt und filmischer Stadt geleistet hat.9 Die Bilder und der Kommentar bilden auf diese Weise sowohl eine Geschichte als auch eine Gegengeschichte, die sich gemeinsam wiederum als Gegengeschichte des Kinos lesen lassen. Und es ist gerade diese doppelte Reflexionsebene, diese Metaperspektive, die LOS ANGELES PLAYS ITSELF auf die filmische Metropole einnimmt, in der sich das Spannungsverhältnis zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie artikuliert. So lässt sich LOS ANGELES PLAYS ITSELF zum Anlass nehmen, um noch einmal das Wechselspiel dieser beiden Logiken der filmischen Raumkonstruktion, dieser glatten und gekerbten Räume des Films, in einer breiten Perspektive durch das 20. Jahrhundert hinweg zu verfolgen. Auf diesem Weg werden zugleich – und auch hierfür bietet Andersens Film zahlreiche Ansatzpunkte – diejenigen drei Phasen der filmischen Metropole, die im Zentrum der Betrachtungen standen, erneut aufgegriffen und variiert. Dabei findet sich auf der einen Seite die filmische 7
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Andersen selbst bezeichnet in einem Interview die Struktur des Films als intuitiv: „I think the structure is fairly natural and straightforward, although it’s basically intuitive.“; Erickson o. J., o. S. So spricht auch Erickson in seiner Einleitung des Interviews mit Andersen davon, es gehe ihm stets um eine „accurate relationship to reality“, wodurch LOS ANGELES PLAYS ITSELF der beständige Versuch kennzeichne, „to grab control back by searching for truth within the image overload“; vgl. Erickson o. J., o. S. Eingesprochen wird dieser Kommentar hingegen von Encke King, der ebenfalls Regisseur zahlreicher Experimentalfilme ist. 370
LOS ANGELES PLAYS ITSELF
Topographie (als das Sichtbare, als das Gekerbte, als Spur), die hier in hohem Maße als kartographische Vermessung der Stadt inkraft tritt. Denn die einzelnen Filmausschnitte werden sowohl klar zugeteilt und kategorisiert als auch immer wieder in Hinblick auf ihre Sichtbarmachung der konkreten, architektonischen Substanz dieser Metropole befragt. Und da ist auf der anderen Seite die filmische Topologie (als das Unsichtbare, als Potenzial, als Qualität), die auf untrennbare Weise mit der Umformung und Transformation der Metropole zusammenhängt, indem sie grundsätzlich andere, nicht-metrische und paradoxe Räume denkbar macht. Dabei wird sich zeigen, dass diese beiden Eckpunkte der Raumkonstruktion innerhalb der drei von Andersen aufgezogenen Kategorien der ‚City as Background‘, der ‚City as Character‘ und der ‚City as Subject‘ jeweils andere Spannungsverhältnisse aufbauen, wodurch das Verhältnis zwischen Topographie und Topologie stets neu auszuloten ist. In diesem Epilog wird es zuallererst darum gehen, anhand des filmischen Essays LOS ANGELES PLAYS ITSELF jene Dynamiken mitzuverfolgen, die sich aus dem spiralförmigen, zyklischen Zugriff auf die Filmgeschichte ergeben, die im Modus der filmischen Metropole durchgespielt wird. Darüber hinaus soll das komplexe Wechselspiel zwischen der kartographischen Aufzeichnung bzw. der filmischen Vermessung von Los Angeles einerseits und der Auflösung und Unterwanderung dieses Zugriffs durch eine andere Art von Räumen, durch paradoxe und fragmentierte Räume, die sich eben dieser Vermessung entziehen, in den Blick genommen werden. Und es ist insbesondere diese zweite Sinnordnung des Raums, die eine Kartographie der anderen Art, eine imaginäre, rein gedankliche Karte in das Geschehen einzieht und dadurch ein Kino des Sehens und ein Kino des Denkens freisetzt. Die Vermessung der filmischen Metropole Der erste Zugriff, den LOS ANGELES PLAYS ITSELF auf die filmische Metropole vollzieht, lässt sich als umfassendes Projekt einer topographischen Vermessung bezeichnen, die als Aufzeichnung des Sichtbaren im Sinne des materiellen, architektonischen Raums der Stadt inkraft tritt. Dabei macht Andersen unmittelbar – noch bevor er sich der ‚City as Background‘ nähert – das Spannungsfeld zwischen Los Angeles als filmischer Stadt und als Filmstadt auf, indem er seinen Film mit kurzen Ausschnitten von THE CRIMSON KIMONO (Samuel Fuller, 1959) beginnen lässt, der die so oftmals in Szene gesetzte Noir-Stadt in ihrer Reinform heraufbeschwört: Die Lichter der Großstadt, Leuchtreklamen bei Nacht in Los Angeles’ Little Tokyo und eine Nachtbar-Tänzerin, die vor ihren Verfolgern zu treibender Jazz-Musik durch die Straßen flüchtet.
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ZWISCHEN TOPOGRAPHIE UND TOPOLOGIE
Abb. 46: Das Aufrufen der nächtlichen Metropole in THE CRIMSON KIMONO (1959)
Im nächsten Moment blendet der Film auf ein gänzlich anderes Bildspektrum über, während parallel dazu Andersens Kommentar mit folgenden Worten einsetzt: „This is the city: Los Angeles, California. They make movies here. I live here. Sometimes I think that gives me the right to criticize the way movies depict my city.“10 In der Folge wird nun Los Angeles als Filmstadt und damit als zentraler Produktionsort der Filmindustrie gezeigt. Mehr noch: Andersen seziert die Zersetzung der Stadt durch den gesamten Apparat der Filmindustrie auf akribische Weise. So werden etwa Straßenschilder gezeigt, die nach berühmten Filmstars, Regisseuren und Kameraleuten benannt sind. Auch konkrete Hinweisschilder auf die Drehorte innerhalb der Stadt werden ins Bild gesetzt, die mit den Aufschriften ‚Diablo‘, ‚Elysian‘ oder auch ‚Crimes‘ die Filmcrews zu ihrem jeweiligen Drehort leiten, während Andersen selbst immer wieder eine Reflexion über diejenigen Orte der Stadt – hier eine ausgestorbene Tankstelle, dort ein leeres Fast-Food-Restaurant – in Gang setzt, die allein durch den Film zum Leben erweckt werden. Mit dieser Eingangssequenz wird unmittelbar der Rahmen des gesamten Films abgesteckt, der sich zwischen der topographischen Vermessung und der filmischen Transformation, zwischen der Filmstadt und der filmischen Stadt erstreckt. Während sich zu Beginn des Films jedoch Stadt und Film noch weitgehend getrennt voneinander, als zwei unterschiedliche räumliche Logiken gegenüberstehen, so wird Andersen im weiteren Verlauf des Films schrittweise dazu übergehen, diese beiden Ebenen miteinander zu verschränken und sie als zwei sich wechselseitig beeinflussende Sinnsysteme des filmischen Raums zu konfigurieren. Im ersten Teil dieses filmischen Querschnitts, der sich mit der ‚City as Background‘ auseinandersetzt, steht die topographische Vermessung der Filmstadt noch deutlich im Vordergrund. Hier zerlegt Andersen die Stadt in ihre baulichen Grundbestandteile, greift einzelne Viertel, Schauplätze und Straßenzüge von Los Angeles heraus, um sie anhand genauer Ortsangaben innerhalb der urbanen Topographie zu verorten. Dennoch bleibt er nicht an diesem Punkt stehen, sondern zeichnet diese Orte in ihrer je eigenen filmischen Entwicklung, in ihrer je eigenen ‚Filmkarriere‘ nach, die sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchlaufen. Als zentralstes Beispiel ist in diesem Zusammenhang sicherlich das Bradbury 10
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Building zu nennen, das erstmals in Filmen der vierziger und frühen fünfziger Jahre auftaucht, wie etwa in CHINA GIRL (Henry Hathaway, 1942) und in D.O.A. (Rudolph Maté, 1950), wobei es seine erste spezifische Prägung durch eine spektakuläre Verfolgungsjagd erhält. Insbesondere durch seinen prominenten, gleichzeitig aber auch stark verfremdeten Einsatz in BLADE RUNNER (Ridley Scott, 1982), der dystopischen Vision von Los Angeles schlechthin, erfährt das Bradbury Building eine schrittweise Umwertung, gewinnt es ein neues Image, das Andersen sogar mit dem Image von Filmstars in Analogie setzt.
Abb. 47: Die ‚Filmkarriere‘ des Bradbury Buildings in LOS ANGELES PLAYS ITSELF (2003)
Auch die Union Station, der Bahnhof von Los Angeles, kann eine eigene ‚Filmkarriere‘ verzeichnen und ist dadurch charakterisiert, dass sie immer wieder für unterschiedliche filmische Zwecke eingesetzt wird, die ihrer ursprünglichen Funktion völlig fremd sind, wie etwa als Polizeistation in BLADE RUNNER oder sogar als Los Angeles International Airport in THE REPLACEMENT KILLERS (Antoine Fuqua, 1998). Dennoch hebt Andersen in diesem Zusammenhang besonders das im Jahr 1924 von Frank Lloyd Wright erbaute Ennis House heraus. Und dies nicht allein, da es durch ein noch breiteres Spektrum an Einsatzmöglichkeiten gekennzeichnet ist, sondern da es wie kaum ein anderes Gebäude in Los Angeles Raum und Zeit gänzlich zu transzendieren vermag: The Ennis House apparently transcends space and time. It could be fictionally located in Washington or Osaka. It could play and ancient villa…a nineteenth century haunted house…a contemporary mansion…a twenty-first century apartment building…or a twenty-sixth century science lab where Klaus Kinski invents time travel.11
An diesem Punkt tritt zugleich die doppelbödige Argumentation Andersens hervor, welche der zunächst einmal klaren Einteilung des Films in drei Sinneinheiten der filmischen Metropole eine neue Komplexität verleiht. Denn auf den ersten Blick steht hier die topographische Vermessung der Stadt im Vordergrund, indem ihr immer wieder ein materieller, architektonischer Raumbegriff zugrunde gelegt wird, der sich allein auf ihre gebauten Strukturen und ihre topographischen Sichtbarkeiten zu beziehen scheint – und genau in dieser Hinsicht lässt sich auch die Kategorie der ‚City as Background‘ verstehen, bei der die Stadt in ihrer 11
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baulichen Struktur zunächst einmal ‚einfach nur da‘ ist und auf die der Film zugreift, um mit ihr eine Geschichte zu erzählen.12 Auf der anderen Seite wird diese umfassende Vermessung der filmischen Stadt jedoch auch durch eine konträre räumliche Logik unterlaufen. Denn den einzelnen, singulären Architekturen von Los Angeles – dem Bradbury Building, der Union Station und dem Ennis House –, die ihre je eigene, wechselvolle Filmgeschichte zu verzeichnen haben, wird hier ein eigenes Leben verliehen, das der Film über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg verfolgt. Dies bedeutet zugleich, dass diese Gebäude durch den Film zu lebenden Architekturen werden, die ihre eigenen Entwicklungsdynamiken entfalten. Dabei handelt es sich jedoch nicht, wie etwa im frühen Stadtfilm, um genuin bewegte Räume, die plötzlich animiert werden und somit vom ‚nicht-organischen Leben der Dinge‘ zeugen. Im Gegenteil: In LOS ANGELES PLAYS ITSELF gewinnen diese filmischen Architekturen ihr ‚Leben‘ erst mit Blick auf die Filmgeschichte, in deren Verlauf sie kontinuierlichen Deutungen und Umdeutungen unterworfen sind und damit erst im Zuge der Metaperspektive des Films. Diese Beobachtung verbindet sich unmittelbar mit einer zweiten Facette, die Andersen im Rahmen seiner ‚City as Background‘ herausstellt und die gleichsam als Negativum dieser Hervorhebung singulärer, überdeterminierter Architekturen gelten kann: das Phänomen, dass sich Los Angeles aufgrund seiner generischen, gleichgestaltigen baulichen Formen oftmals gerade nicht selbst zu spielen scheint.13 Andersen belegt dies mit dem Begriff der ‚Falschheit‘ und der ‚Lügen der Filmindustrie‘, wenn etwa in den frühen Filmen der zwanziger und dreißiger Jahre die baulichen Strukturen von Los Angeles allein als Material zur Darstellung einer generischen, nicht näher bestimmbaren Stadt dienen. Oder aber, wenn sie gar zur Inszenierung einer vollkommen anderen Stadt eingesetzt werden, wie etwa in THE PUBLIC ENEMY (William A. Wellman, 1931), in dem Los Angeles durchgängig Chicago spielt. In dieser Hinsicht zeigt sich Andersen zugleich deutlich von den Argumentationen eines Mike Davis beeinflusst, wenn dieser die Undefiniertheit und Ungreifbarkeit
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So äußert sich auch Andersen ganz zu Beginn des Films: „Of course, I know movies aren’t about places, they’re about stories. If we notice the location, we are not really watching the movie. It’s what’s up front that counts. Movies bury their traces, choosing for us what to watch, then moving on to something else“; Andersen o. J., o. S. Andersen argumentiert hier in seinem Kommentar folgendermaßen: „The varied terrain and eclectic architecture allowed Los Angeles and its environs to play almost any place. [...] Its landmarks are obscure enough that they could play many roles” (ebd.). 374
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von Los Angeles im frühen Stadtfilm auf ironische Weise als ihr „apprentinceship as a back lot“14 bezeichnet und weiter ausführt: Los Angeles [...] had no compelling image in American letters. [...] While turning a lens on itself and constructing ‚Hollywood‘ [...], the industry otherwise had no need to acknowledge the specificity of place. LA was all (stage) set, which is to say, it was u-topia: literally, no-place (or thus any place).15
Die Kategorie der ‚City as Background‘ zielt damit sowohl auf das Generische als auch auf das Spezifische der filmischen Stadt ab, sie bezieht sich ebenso auf die Gleichgestaltigkeit der baulichen Formen, die im Film für (beinahe) jeden Zweck eingesetzt werden können, wie auf die Überdeterminiertheit einzelner filmischer Orte, die dazu führt, dass sich jede neue Verfilmung eben dieser Orte zugleich mit einer ganzen Linie vorheriger bildlicher Zuschreibungen auseinanderzusetzen hat. Auf beiden Linien wird die topographische Vermessung der filmischen Stadt durch die topologischen Facetten des filmischen Raums unterwandert, entzieht sich die filmische Stadt immer wieder dem Maßstab, der ihr durch die Kategorie der ‚City as Background‘ angelegt wird. Es geht also auch hier zunächst um die Produktion von Sichtbarkeit, die sich im Wechselspiel zwischen den glatten und den gekerbten Räumen des Films vollzieht. Die umfassende Sichtung, Aufzeichnung, Kategorisierung und Vermessung, kurz: die Kerbung der ‚City as Background‘ bildet lediglich eine Seite der Medaille der filmischen Raumproduktion. Denn auf der anderen Seite treten unter dieser Vermessung immer wieder die glatten Räume des Films hervor, die sich einerseits in der spezifisch filmischen Verfremdung des Sichtbaren artikulieren und die andererseits als das Potenzial des Films inkraft treten, der Prozessualität und dem Werden von Räumlichkeit ein Bild zu verleihen. Die unsichtbaren Städte und das Gedächtnis des Films In der ersten Kategorie der ‚City as Background‘ wird folglich ein Spannungsfeld zwischen der topographischen Vermessung der Stadt und ihrer Unterwanderung durch die topologischen Facetten der filmischen Raumkonstruktion aufgemacht, das in einem breiten Spektrum quer durch die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts hindurch verfolgt wird. Immer wieder vermischt hier Andersen die unterschiedlichsten Phasen und Genres, um sie nach räumlichen Kriterien noch einmal neu zu ordnen. Gegenüber diesem weiten, eklektischen Zugriff auf die Filmgeschichte markiert die zweite Kategorie der ‚City as Character‘ nun einen signifikanten Wechsel. 14 15
Davis 2001, S. 36. Ebd., S. 35. 375
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Und dieser Wechsel begründet sich zuallererst in einer Fokussierung des Blicks, der in räumlicher Hinsicht auf einzelne Stadtviertel und Teilräume der Metropole Los Angeles, in zeitlicher Hinsicht hingegen auf die Mitte des 20. Jahrhunderts gerichtet ist, worin zugleich die schrittweise Einkreisung der filmischen Metropole und damit die spiralförmige, zyklische Bewegung von LOS ANGELES PLAYS ITSELF hervortritt. Der Übergang von der ‚City as Background‘ zur ‚City as Character‘ vollzieht sich vor allem im Zuge eines „sense of place“16, welcher den Filmen nun zugeschrieben wird. Dies bedeutet, dass die filmische Metropole nicht mehr darin aufgeht, lediglich den räumlichen Rahmen der Handlung zu bilden, sondern selbst auf aktive Weise in das Geschehen eingreift, indem sie etwa eine ganz bestimmte Atmosphäre kreiert und auf diese Weise den einzelnen Teilräumen der Stadt ein Eigenleben verleiht, oder aber indem sie in ihrem ‚sense of place‘ eine Aussage über genau diejenigen Orte trifft, die sie ins Bild setzt. Und bezeichnenderweise nimmt Andersen für diese Facette der filmischen Stadtkonstruktion zuallererst den Film noir der vierziger und fünfziger Jahre in Anspruch, wenn er mit Blick auf DOUBLE INDEMNITY (Billy Wilder, 1944) äußert: „You could charge L.A. as a co-conspirator in the crimes this movie relates.“17 Diese Aussage lässt sich jedoch noch weiter zuspitzen, denn die Metropole wird im Film noir nicht allein zum Mitwisser und zum ‚co-conspirator‘ des Verbrechens, sondern sie ist selbst in ihren Polaritäten und Ambivalenzen, in ihrer Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit, auf das Tiefste in die Handlung eingeschrieben. Die Noir-Stadt lässt sich als eine hochgradig symbolische Form der Raumkonstruktion lesen, bei der sich der spezifische ‚sense of place‘ gerade darin äußert, dass jedes einzelne Element stets auf sein Gegenteil, auf das Andere, auf die Schattenseite verweist, die gleichsam in ihm selbst enthalten ist.18 In der hohen Symbolik der Noir-Stadt, in ihrer Verfremdung und Umformung des Sichtbaren ebenso wie in ihrem hohen Grad an Zeichenhaftigkeit und Selbstreflexivität, wird sie immer wieder zum Ausdruck der topologischen, der glatten Räume des Films, die sich in ihre Doppelbödigkeit und ihr Untergründiges einschreiben. Dennoch setzt Andersen auch hier wiederum ein topographisches Maß an, wenn er diese hoch symbolischen, verdichteten Noir-Räume, die gerade dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn sie vom Unsichtbaren und Ungreifbaren der Städte berichten, nach ihrem jeweiligen Umgang mit der städtischen Topographie befragt. So verortet er beispielsweise das Haus von Phyllis 16 17 18
Andersen o. J., o. S. Ebd. Vgl. hierzu die Ausführungen zur allgemeinen Konzeption der Noir-Stadt zwischen Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit, hier S. 259f. und S. 264-268. 376
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Diedrichsen in DOUBLE INDEMNITY auf präzise Weise „just above the north end of Vine Street, close to Hollywoodland where Cain had placed it.“19 Oder aber er stellt den späten Film noir KISS ME DEADLY (Robert Aldrich, 1955) als einen ‚literalist film‘ heraus, der sich aus ‚wirklichen Adressen‘ zusammensetze und damit als ein „close to definitive [...] portrait of the city in the mid-fifties“20 gelten könne, wodurch das Topographische und das Topologische immer weiter auseinandertreten. Das Unsichtbare und das Andere der Städte, das durch den Film sichtbar gemacht werden kann, lässt sich jedoch auch noch in eine zweite Richtung ausdeuten: als das Gedächtnis des Films. Auch unter dieser Perspektive entwickelt die ‚City as Character‘ ihren spezifischen ‚sense of place‘, indem sie auf sensible Weise gerade diejenigen Orte aufzeichnet, die bereits im Verfall begriffen sind. Der Film wird damit zu einem Speichermedium eben derjenigen verlorenen Teilräume und Viertel der Stadt, die den massiven urbanen Umstrukturierungen von Los Angeles zum Opfer gefallen sind, wobei sich die Betrachtungen Andersens vornehmlich auf den Stadtteil Bunker Hill konzentrieren, der von ihm als „the most photographed district in Los Angeles“21 und zugleich als genuines „film noir territory“22 bezeichnet wird.
Abb. 48: Bunker Hill als ‚forgotten fragment of the city‘ in seinem filmhistorischen Verlauf in LOS ANGELES PLAYS ITSELF (2003)
An diesem Punkt öffnet Andersen seine Perspektive erneut und zeichnet die wechselvolle Geschichte von Bunker Hill im Film nach, der in noch stärkerem Maße als die einzelnen, singulären Architekturen, die Gegenstand der ‚City as Background‘ waren, eine eigene Filmgeschichte durchläuft. Denn bereits in der Zeitspanne des Film noir selbst unterliegt Bunker Hill einer weitreichenden Umdeutung, indem dieses Viertel einerseits zum Inbegriff von Chandlers „crook town, shabby town“, andererseits aber auch wiederholt als „solid working-class neighborhood, a place
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Andersen o. J., o. S. Andersen führt hier weiter aus: „KISS ME DEADLY is a literalist film. Mike Hammer has a real address: 10401 Wilshire Boulevard. And when he pulls away from his apartment building in his new Corvette, what we see is what was really there“; Ebd. Ebd. Ebd. 377
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where a guy could take his girl home to meet his mother“23 in Szene gesetzt wird. Demgegenüber enthüllen die Filme der siebziger Jahre, wie etwa THE OMEGA MAN (Boris Sagal, 1971), das Bild einer völlig anonymisierten, eigenschaftslosen Hochhausstadt, in der jede Spur ihrer Geschichte gänzlich verloren scheint. Und es ist gerade in dieser Differenz, in der sich ein spezifisches Potenzial des Films enthüllt, das Andersen so hervorhebt: die Fähigkeit, unterschiedliche Zeiten und Räume zu bewahren, ihre Vergangenheitsschichten sichtbar zu machen und auf diese Weise eine „documentary history of their evolution“24 zu schreiben. Die stärkste bildliche Verdichtung von Bunker Hill hat jedoch, so Andersen, der Independentfilm THE EXILES (Kent MacKenzie, 1961) hervorgebracht, mit dem er zugleich seinen Bogen zur Kategorie der ‚City as Character‘ abschließt. Denn dieser Film behandelt eine Gruppe von Exilanten in Los Angeles, genauer: eine Gruppe ausgesiedelter Indianer aus Arizona, die in Bunker Hill leben und sich hier, in diesem Stadtviertel, ihre ganz eigene Welt eingerichtet haben. Dabei ist der Film in seiner Inszenierung von Bunker Hill von einer gegenläufigen Bewegung gekennzeichnet: Auf der einen Seite wird THE EXILES zu einem sichtbaren Beweis dafür, „that there once was a city here, before they tore it down and built a simulacrum.“25 Auf der anderen Seite zeichnet sich jedoch auch bereits der schrittweise Verfall von Bunker Hill ein, wodurch THE EXILES zugleich zum Sinnbild für tiefen sozialen Probleme und die Segregation in Los Angeles in den frühen sechziger Jahren wird.
Abb. 49: Das pulsierende Bunker Hill und der schrittweise Verfall in THE EXILES (1961)
Und auch in dieser Hinsicht artikuliert sich der ‚sense of place‘, welcher der ‚City as Character‘ so untrennbar innewohnt: Wenn er den unsichtbaren Städten und den Parallelwelten der Stadt, der Welt der Exilanten und der Ausgegrenzten, die außerhalb der räumlichen Ordnung existieren und sich ihren ganz eigenen Raum in den städtischen Raum einzeichnen, ein nachhaltiges Bild verleiht: „It reveals the city as a place where reality is opaque, where different social orders coexist in the same space without touching each other.“26 So handelt dieser Film zugleich von den Spannungsverhältnissen zwischen Reich und Arm, zwischen Privilegierten 23 24 25 26
Ebd. Andersen o. J., o. S. Ebd. Ebd. 378
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und sozial Schwachen, zwischen Einheimischen und Exilanten, die dieser filmischen Metropole noch einmal ein gänzlich anderes Gesicht verleihen. Denn hier wird Los Angeles in seiner Widersprüchlichkeit und seinen unvereinbaren Komponenten gezeichnet, und mehr noch, werden diese inneren Widersprüchlichkeiten und Unvereinbarkeiten selbst zum prägenden Merkmal dieser (filmischen) Metropole. Nimmt man diese Aspekte zusammen, so vollzieht sich mit dem Wechsel von der ‚City as Background‘ hin zur ‚City as Character‘ in allererster Linie ein Wechsel in der Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum. Denn während es im ersten Fall lediglich um diejenigen Bauteile geht, die zunächst einmal ‚einfach nur da‘ sind und als Material für die filmische Raumkonstruktion dienen, so geht es im zweiten Fall vielmehr um die Bedeutungsproduktion, die sich an diesen und mit diesen städtischen Räumen vollzieht. Als Folge davon verschiebt sich die Produktion von Sichtbarkeit schrittweise in Richtung der Hervorbringung des Unsichtbaren und Ungreifbaren der Metropolen, das innerhalb der Kategorie der ‚City as Character‘ auf zweierlei Weise entfaltet wird: Auf der einen Seite steht das Unsichtbare für das andere Gesicht, für das Dunkle, für die Schattenseiten der Metropole selbst, wie der Film noir sie hervorgebracht hat. Auf der anderen Seite wird das Unsichtbare der Städte jedoch auch als das Nicht-Mehr und das Noch-Nicht einer räumlichen Ordnung begriffen, das in seiner Prozessualität allein durch den Film sichtbar gemacht werden können. Die ‚City as Character‘ positioniert sich damit unmittelbar in einem versetzen, in einem modifizierten Kontext, indem sie das Potenzial des Films hervorbringt, von der Unsichtbarkeit zur (potenziellen) Sichtbarkeit überzugehen und, was mehr ist, das Unsichtbare als das nicht mehr Sichtbare der Städte zu bewahren. Räume ohne Maß und das Denken des Kinos Während die ersten beiden Kategorien zwischen der Produktion von Sichtbarkeit und der Hervorbringung des Unsichtbaren changieren und dadurch ein ständig wechselndes Spannungsverhältnis zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie aufziehen, stehen die Filme, die Andersen unter der Kategorie der ‚City as Subject‘ fasst, für eine gegenläufige Bewegung. Denn die hier behandelten Filme zeugen gerade von einem umfassenden Auseinandertreten dieser beiden Sinnsysteme des filmischen Raums, wodurch zugleich ein hoch komplexes, reflexives Kino entsteht, das bezüglich seiner Konstruktion filmischer Räumlichkeit den beiden ersten Kategorien noch einmal deutlich entgegengesetzt ist. Um diesen grundlegenden Perspektivwechsel, der mit der Kategorie der ‚City as Subject‘ einhergeht, zu verdeutlichen, trifft Andersen gleich zu Beginn die weitreichenden Aussagen: 379
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The city could finally become a subject in the early seventies, because it had finally become self-conscious. It could no longer be mistaken for a sunny Southern town. It had big-city problems: big-city racism and big-city race riots.27
An dieser Aussage sind zwei Dinge entscheidend: Erstens grenzt Andersen auf diese Weise seinen filmischen Korpus noch weiter ein, indem er sich auf eine Phase der filmischen Metropole konzentriert und somit eine innere Entwicklungslinie der filmischen Metropole impliziert, die von den frühen Stadtfilmen (‚City as Background‘), über den Film noir und seine Nachfolger (‚City as Character‘), bis hin zur ‚City as Subject‘ in den siebziger Jahren gelangt. Dennoch unterwandert Andersen diese vermeintlich klare Zuteilung und Entwicklungslogik der filmischen Metropole zu jedem Zeitpunkt des Films, indem er wiederholt aus dieser Linie ausbricht und gänzlich andere, überraschende Beispiele in seine Überlegungen einbezieht, die oftmals quer zum filmischen Korpus stehen. Zweitens verlagert Andersen seinen Blick mit dieser Aussage auf ein Gegenkino, auf ein politisches Kino, das die Bandbreite der sozialen Probleme der Stadt umfasst und unmittelbar ins Bild setzt. Denn während die ‚City as Character‘ dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich stets in das Geschehen selbst einschreibt und in ihrem ‚sense of place‘ diejenigen Dinge sichtbar macht, die an sich nicht sichtbar bzw. nicht mehr sichtbar wären, so beziehen die Filme, die Andersen unter der Kategorie der ‚City as Subject‘ subsumiert, nun eine eigene Position und treffen eigene Aussagen über die Stadt, mit der sie sich filmisch auseinandersetzen. Und sie tun dies auf zweierlei Weise: Denn zunächst bezieht sich Andersen auf diejenigen Filme, die unmittelbar die Themen der Segregation und der räumlichen Exklusion innerhalb der Stadt, wie etwa die Fragen des ‚ungleichen‘ Verkehrssystems oder auch der zentralen Rolle der LAPD und der polizeilichen Gewalt gegenüber Minderheiten, verhandeln. Der Aspekt der Bewusstwerdung, der ‚self-consciousness‘, die Andersen der ‚City as Subject‘ zuspricht, artikuliert sich jedoch nicht allein in dem Bewusstsein der Filme, dass sie eine Aussage über die Stadt zu treffen haben, sondern sie betrifft ebenso ihre Bewusstwerdung als Film selbst. Dies bedeutet, dass die Filme in der Reflexion ihres eigenen Filmseins zugleich eine Aussage über die Welt treffen, die sich vor ihnen ausbreitet und mit der sie sich als Film auseinandersetzen; eine Aussage jedoch, die bereits durch den Film hindurch gegangen ist. Dieser Aspekt soll insbesondere an zwei Beispielen entfaltet werden, mit denen auch Andersen seine Betrachtungen zur ‚City as Subject‘ abschließt: THE KILLER OF SHEEP (Charles Burnett, 1977) und BUSH MAMA (Haile Gerima, 27
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1979). Denn diese beiden Filme beziehen sich ebenfalls auf die ethnischen Probleme von Los Angeles, indem sie afroamerikanische Protagonisten und ihren spezifischen Blick auf das Leben im Stadtteil Watts ins Zentrum der Filme stellen. Im selben Zuge entwickeln sie jedoch auch einen ganz eigenen filmischen Stil, experimentieren sie mit der filmischen Form und rufen unterschiedliche Verfremdungstechniken von Räumlichkeit auf den Plan, mit denen sie zugleich ihre eigene Welt als eine verfremdete, nicht mehr greifbare Welt herausstellen. Als Teil der von Clyde Taylor als ‚LA Rebellion‘ bezeichneten Gruppe afroamerikanischer Regisseure, die in den siebziger Jahren aus der Filmschule der UCLA hervorgeht, stehen Charles Burnetts THE KILLER OF SHEEP und Haile Gerimas BUSH MAMA für eine andere Art von Kino, das sowohl in Abgrenzung zum Mainstreamkino Hollywoods als auch zu den Blaxploitationfilmen der siebziger Jahre zu begreifen ist.28 Unter starker Bezugnahme auf den italienischen Neorealismus der vierziger und fünfziger Jahre entsteht hier eine vollkommen neue Art von Filmen, die sich durch das Zeigen des alltäglichen Lebens, durch den Einsatz von Laiendarstellern sowie durch die langen, ruhigen Einstellungen filmstilistisch deutlich von den bisherigen Beispielen abheben, was auch Andersen mit den Worten beschreibt: „But there is another city. [...] And another cinema. A city of walkers, a cinema of walking.“29 Denn die langen, ruhigen Einstellungen lassen in BUSH MAMA und THE KILLER OF SHEEP Räume entstehen, die ohne ein eindeutiges Maß und ohne eindeutige Koordinaten existieren. Es sind gedehnte und gestreckte Räume, die in einem anderen, gebrochenen Verhältnis zur Realität stehen. Beide Filme drehen sich um eine zentrale Figur: In BUSH MAMA ist dies Dorothy, die wiederholt durch den Stadtteil Watts streift und dabei stets auf die Grenzen ihres Raums verwiesen wird. Und in THE KILLER OF SHEEP ist dies Stan, der die Welt um sich herum auf sensible Weise registriert und in sich aufnimmt. Gleichzeitig droht er jedoch an dieser Realität, an seiner Arbeit im Schlachthof und an den sozialen Missständen in Watts, zu zerbrechen. Es geht ein ‚Riss‘ durch seine Welt, den Andersen auch in Hinblick auf BUSH MAMA beschreibt:
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So betrachtet Paula J. Massood BUSH MAMA auch als Gegenfilm zu den zentralen Blaxploitationfilmen, wie etwa SWEET SWEETBACK’S BAADASSSSS SONG (Melvin van Peebles, 1971) und SUPERFLY (Gordon Parks Jr., 1972), mit dem Vorhaben: „I will assert that the city is an active presence in the film, playing a central role like any other character“; Massood 2003, S. 86. Zur weiteren Diskussion von BUSH MAMA im Spannungsfeld der Blaxploitationfilme in den siebziger Jahren, vgl. ebd., S. 79-116. Andersen o. J., o. S. 381
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Neorealism describes another reality, and it creates a new kind of protagonist: Dorothy, the bush mama, is a seer, not an actor. There is a crack in the world of appearances, and she is defenseless before a vision of everyday reality that is unbearable.30
In beiden Fällen geht es um ein Kino des Sehens. Es geht um die Welt, die Stan und Dorothy in sich aufnehmen, die sie jedoch nicht verarbeiten können, da sie sich ihrem Zugriff entzieht. Diese Aussage über die letztendliche Ungreifbarkeit einer städtischen Umwelt, die zu widersprüchlich, zu gewalttätig und zu komplex geworden ist, artikuliert sich in beiden Filmen in einem vielschichtigen Ineinandergreifen von privaten und öffentlichen, von Innen- und Außenräumen, die nicht mehr klar unterscheidbar sind. Gleichzeitig tritt hier, wie Paula J. Massood am Beispiel von BUSH MAMA beschreibt, eine „multiplicity of noises on top of each other in a near-deafening urban heteroglossia“31 hervor, die das Urbane zu einer vielschichtigen Vermischung aus Tonspuren und Bildfragmenten werden lässt. In beiden Fällen zeugt die filmische Transformation des Urbanen von einem Auseinandertreten zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie, die letztendlich nicht mehr aufeinander rückführbar sind und die gerade in ihrem Auseinandertreten den ‚Riss‘ in der Welt wahrnehmbar und sichtbar machen.
Abb. 50: Ein Kino der Fußgänger, ein Kino des Sehens in THE KILLER OF SHEEP (1977) und BUSH MAMA (1979)
Der filmische Raum wird jedoch nicht allein durch das Ineinandergreifen und die Überlagerungen von Innen und Außen, von Visuellem und Akustischem transzendiert, sondern er öffnet sich zugleich auf die Zeit hin. Dabei liegt beiden Filmen ein nicht-lineares, mannigfaltiges Zeitkonzept zugrunde, indem die Zeit hier, wie auch Andersen herausstellt, zyklisch verstanden wird: Unterschiedliche zeitliche Schichten schieben sich übereinander, während sie im selben Zuge, und trotz ihrer zeitlichen Differenz, unmittelbar miteinander in Kontakt gebracht werden: Neorealism also posits another kind of time, a spatialized, nonchronological time of meditation and memory. In BUSH MAMA everything is filtered through Dorothy’s consciousness, and the film is as it slides freely from perception to memory. Charles Burnett’s KILLER OF SHEEP seems suspended out of time. 30 31
Andersen o. J., o. S. Massood 2003, S. 111. 382
LOS ANGELES PLAYS ITSELF
Burnett blended together the decades of his childhood, his youth, and his adulthood and added an idiosyncratic panorama of classic black music, from Paul Robeson to Lowell Fulson.32
Hier tritt ein anderes Kino hervor, das Räume entstehen lässt, die sich dem Maßstab, den Andersen seinem filmischen Querschnitt durch knapp neunzig Jahre Filmgeschichte von Los Angeles anlegt, immer wieder zu entziehen scheinen. Denn diese Räume lassen sich nicht eindeutig verorten. Sie existieren in gewissem Sinne außerhalb des Koordinatensystems, jenseits noch eines messbaren Raums und einer messbaren Zeit. So wird Andersens Projekt einer konkreten Kartographie der filmischen Metropole, die sich zunächst an ihren materiellen, gebauten Strukturen orientiert, zuletzt von einer abstrakten, filmischen Kartographie unterwandert, die paradoxe, entgrenzende und topologische Formen von Räumlichkeit in das Geschehen einzieht. Dadurch werden Fragen nach den Grenzen der filmischen Metropole selbst aufgeworfen, oder präziser: nach den Grenzen ihrer Konzeptionalisierung, ihrer Fassbarkeit und Greifbarkeit. So zeigen sich in LOS ANGELES PLAYS ITSELF zuallererst die umfassenden Bestrebungen Andersens, das Phänomen dieser filmischen Metropole zu fassen, es greifbar, sichtbar und dingfest zu machen, was sich vor allem in seinem Sezieren, Zerteilen, Ordnen und Neuanordnen äußert, das ebenso die Stadt wie die gesamte Filmgeschichte betrifft. Im selben Zuge animiert, belebt und ‚bewegt‘ er die Filmgeschichte jedoch selbst, indem er sie in Bezug auf die filmische Metropole noch einmal neu mischt, ihre Kategorien wieder verwirft, um im nächsten Moment wieder an einem anderen Punkt anzusetzen. Auf diese Weise ist der Film LOS ANGELES PLAYS ITSELF untrennbar in ein Wechselspiel zwischen der filmischen Topographie und der filmischen Topologie, zwischen den gekerbten und den glatten Räumen des Films eingespannt, stetig alternierend zwischen einer ‚metrischen‘ und einer ‚intuitiven Geometrie‘. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Titel LOS ANGELES PLAYS ITSELF noch einmal neu lesen. Denn gerade im Zuge dieser Aufmischung und Animierung der filmischen Metropole und der Filmgeschichte scheint dieser filmische Essay letztendlich zu der Aussage zu gelangen: Los Angeles spielt nicht nur sich selbst – die Stadt lebt: Sie lebt mit dem Film, der ein Teil von ihr ist; sie lebt im Film, der immer wieder neue Konfigurationen und Variationen von ihr entwirft; und sie lebt durch den Film, der selbst diejenigen Teile bewahrt und sichtbar macht, die eigentlich nicht mehr sichtbar wären oder aber gänzlich in Vergessenheit geraten sind. In anderen Worten: Es ist das übergreifende Werden, das Prozessuale des Films selbst, das sich in die Stadt ein32
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schreibt und sie somit zum Leben erweckt, denn jeder Fortschritt, so haben Deleuze und Guattari formuliert, geht im gekerbten Raum vonstatten, während sich das Werden selbst im glatten Raum vollzieht.33 Bezieht man diesen Epilog zu LOS ANGELES PLAYS ITSELF in einem letzten Schritt erneut auf den Gesamtkontext dieses Buchs, so zeigen sich auf beiden Seiten drei unterschiedliche Stufen, zeigt sich ein Dreischritt, im Zuge dessen die Entwicklungsdynamiken der filmischen Stadt jeweils nachvollzogen werden. Dennoch wäre es zu kurz gefasst, die drei Kategorien der ‚City as Background‘, der ‚City as Character‘ und der ‚City as Subject‘ einfach mit den drei Phasen der filmischen Metropole im frühen Stadtfilm, im Film noir und im Episodenfilm zu verrechnen, da dies die vielschichtigen Dynamiken der filmischen Metropole im Verlauf des 20. Jahrhunderts, und vor allem die Raumdynamiken des frühen Stadtfilms, in vielerlei Hinsicht schlichtweg unterschlagen würde. Andersens filmischer Essay soll im Kontext dieses Buchs vielmehr als eine Variation zu den Entwicklungslinien und Dynamiken der filmischen Metropole begriffen werden. Als eine Variation zu den Wechselspielen zwischen der Produktion von Sichtbarkeit, dem Unsichtbaren der Metropolen und den fragmentierten Sichtbarkeiten, als eine Variation zu den wechselseitigen Einschreibungen des Materiellen, des Symbolischen und des Sozialen und vor allem: als eine Variation zur filmischen Topographie und filmischen Topologie, zu den gekerbten und glatten Räumen des Films. LOS ANGELES PLAYS ITSELF, diese ‚Stadtsinfonie im Rückwärtsgang‘, lässt sich damit in vielerlei Hinsicht als ein Spiel mit diesen drei Phasen, als ein Spiel mit eben denjenigen Grundverhältnissen der filmischen Metropole lesen, die im Laufe ihrer Entwicklung stets neue Formen generiert und differenzierte bildliche Verdichtungen hervorgebracht haben. Und es ist ein Spiel, das seine Besonderheit nicht zuletzt aus seinem freien, eklektischen Zugriff auf die Filmgeschichte gewinnt, der im Zuge einer übergreifenden Reflexion der filmischen Metropole in einer Gesamtperspektive auf das 20. Jahrhundert die Geschichte des Films noch einmal neu sortiert und neu anordnet, um die Filmgeschichte als Möglichkeit einer Raumgeschichte durchzuspielen.
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Vgl. Deleuze/Guattari 1992 [1980], S. 674. 384
VIII. S C H L U S S B E T R A C H T U N G Der filmische Essay LOS ANGELES PLAY ITSELF, der Gegenstand des Epilogs dieses Buchs war, lässt sich als ein Beispiel lesen, das die filmische Metropole zum Ausgangspunkt nimmt, um an ihr die Entwicklungslinien der Filmgeschichte noch einmal neu zu justieren. So unterzieht Thom Andersen die einzelnen filmischen Inszenierungen der Metropole einer umfassenden topographischen Vermessung, indem er sie seziert, verortet und kategorisiert. Immer wieder gleicht er die filmische Metropole mit ihren materiellen, gebauten Strukturen ab, sucht in einzelnen Gebäuden, in einzelnen Stadtvierteln nach den Spuren des Films ebenso wie er umgekehrt im Film nach den Spuren der verlorenen Orte der Metropolen sucht. Stets steht dabei das Topographische als zentrale räumliche Sinnordnung im Vordergrund, bildet die Metropole selbst den Ausgangspunkt und Zielpunkt der filmischen Betrachtungen. In diesem Buch wurde das Phänomen der filmischen Metropole vom anderen Ende des Spektrums – und gleichsam in Umkehrung der Bewegung des Epilogs – gefasst: von Seiten der filmischen Topologie und damit von Seiten eines Raumkonzepts, in dem die Transformation den zentralen und entscheidenden Ausgangspunkt bildet, um über den filmischen Raum nachzudenken. Unter diesem modifizierten Blickwinkel tritt eine Facette der filmischen Raumkonstruktion hervor, die in den bisherigen Arbeiten zum filmischen Raum noch nicht hinreichend Beachtung gefunden hat bzw. deren raumtheoretische Implikationen bisher noch nicht erschöpfend reflektiert wurden: und dies ist der Aspekt der Transformation, die ebenso auf die intrinsische Prozessualität der filmischen Raumbildung reflektiert wie sie an den Grenzzonen einer Raumvorstellung operiert, deren Öffnung und Ergründung der Film unablässig betreibt. Denn filmische Räume entfalten sich jenseits bekannter Raumkoordinaten. Sie erschließen einen Grenzbereich, in dem sich bildräumliche Fixierungen und ein bewegtes, transformierendes Raumdenken überkreuzen. In diesem Jenseits des Raums, das diese Studie in einzelnen, differenzierbaren Schritten herleitet, werden die Möglichkeiten eines Raumkonzepts ausgelotet, das in seiner konzeptuellen Zuspitzung und analytischen Entfaltung als relationaler Transformationsraum eine weitreichende Umdeutung und Erweiterung der filmischen Raumkategorie zu bewirken 385
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vermag. Denn im Blick auf die topologischen Facetten der filmischen Raumbildung – mithin auf die vielschichtigen Raumtransformationen und Umkehrungen des Raums, die gerade den Stadtfilm stets charakterisiert haben und immer noch charakterisieren – lässt sich der filmische Raum als eine Größe begreifen, in der das Bewegte, das Dynamische und das Transformative den räumlichen Fixpunkt bilden. Der Film produziert damit eine spezifische Form von Räumlichkeit, die sich anderen Medien und Künsten entzieht. Denn er bringt filmische Topologien hervor, die das Räumliche vom anderen Ende des Spektrums greifen, oder präziser: in denen ein klar vermessbarer, fixierbarer, unbewegter Raum lediglich den Sonderfall des übergreifenden, grundlegend bewegten Transformationsraums des Films markiert. Die filmische Topologie reflektiert diese weitreichende Umkehrung, indem sie konzeptuell an einem Punkt ansetzt, an dem zahlreiche filmische Raumtheorien bereits ihren Endpunkt finden: am Anfangspunkt einer räumlichen Transformation. Der filmische Raum gerät damit als eine vielgestaltig bewegte Raumgröße in den Blick, die nicht etwa durch den Film in irgendeiner Weise ‚in Bewegung zu setzen‘ wäre, sondern die bereits in ihrer Grundanlage über die Transformation gedacht wird. Denn erst von dort aus – aus der Perspektive dieser transformativen Umkehrung – werden jene differenzierten räumlichen Gebilde beschreibbar, welche die filmische Metropole im Verlauf des 20. Jahrhunderts hervorbringt, modelliert und variiert. Dabei geht die filmische Konstruktion des Urbanen zu keinem Zeitpunkt darin auf, die sichtbaren Strukturen der Metropolen im Zuge einer reinen filmischen Aufzeichnung bzw. Darstellung einzufangen. Vielmehr liegt ein Kernpunkt dieser Studie darin, im Blick auf die komplexen und vielschichtigen Raumstrukturen der Metropole einen anderen, differenzierenden Blick auf den filmischen Raum einzuüben: einen Blick, der sich schrittweise vom Paradigma der Repräsentation löst, das gerade im Bereich des Stadtfilms nach wie vor die zentrale Maßgabe bildet; einen Blick folglich, der den filmischen Raum konsequent in Bezug auf seine (inneren und äußeren) Transformationen begreift; und damit schließlich einen Blick, der ein Jenseits des Raums erschließt, in dem sich die filmische Transformation des Raums in den unterschiedlichen, sich überlagernden filmischen Topologien beobachten lässt. Dieser Dreischritt erstens einer Abkehr von der Repräsentation, zweitens einer Hinwendung zur Transformation und drittens einer Auffächerung des Raums in einzelne filmische Topologien soll im Folgenden – und im Rückblick auf die Ausführungen dieses Buchs – erneut diskutiert werden. Geht man zunächst auf den Aspekt der schrittweisen Loslösung vom Paradigma der Repräsentation ein, so ist es notwendig, eine unmittelbare und für die Zielrichtung dieses Buchs entscheidende Präzisierung 386
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vorzunehmen. Denn die schrittweise Ablösung von der Frage nach der Repräsentation des Städtischen, die der topologische Blick auf den filmischen Raum unweigerlich beinhaltet, bedeutet keineswegs eine vollständige Verwerfung des Topographischen. Im Gegenteil spielt die sichtbare, konkrete Topographie der Metropolen, die der Film auf seine besondere Weise sichtbar und wahrnehmbar macht, eine unabdingbare Grundlage für das Verständnis der filmischen Konstruktion des Urbanen. Der entscheidende Schritt, den dieses Buch vollzieht, liegt nun darin, die Topographie der Städte als eine filmische Topographie zu fassen und damit als eine Topographie, die bereits durch den Film hindurch gegangen ist. Dies bedeutet, dass die filmische Topographie niemals ohne die filmische Topologie – als ihr notwendiges Gegenstück – betrachtet werden kann, ebenso wenig wie jene denkbar wäre ohne den topographischen Blick auf das Urbane, der den filmischen Stadtentwurf kontinuierlich an das Sichtbare und Hörbare der Städte zurückkoppelt – und nicht zuletzt hierin begründet sich die Auswahl der Filme, die nicht etwa als utopische oder dystopische Visionen in einer entkoppelten Zeitlichkeit existieren, sondern die sich vielmehr unmittelbar mit denjenigen Städten auseinandersetzen, die sich vor ihrem ‚Kamera-Auge‘ ausbreiten. Die filmische Konstruktion des Raums, die hier in drei Zeitschnitten durch die filmische Metropole im 20. Jahrhundert durchgespielt wurde, speist sich aus einem kontinuierlichen Spannungsverhältnis, genauer: aus dem Spannungsverhältnis zwischen zwei räumlichen Sinnordnungen, die auf jeweils verschiedene Weise von der Prozessualität der filmischen Raumkonstruktion zeugen: die filmische Topographie als das, was sich unmittelbar in den Film einschreibt (als Sichtbares, als Spur, als Gekerbtes), und die filmische Topologie als das, was der Film als gedankliche Disposition, als Potenzial des Filmischen freisetzt (als Unsichtbares, als Mediales, als Glattes). Gemeinsam stehen sie für einen weitreichenden Perspektivwechsel auf den filmischen Raum: Denn mit ihnen wird es möglich – und damit ist bereits der zweite Aspekt der Hinwendung zur Transformation angesprochen –, die Betrachtungen an jenem Punkt anzusetzen, der den Prozess der filmischen Transformation selbst betrifft. In den ersten beiden Kapiteln – mithin den eigentlichen raumtheoretischen Grundlegungen dieses Buchs – wurde dieser wesentliche Transformationspunkt bzw. der Moment, in dem die gesamte Raumordnung umschlägt, in einer jeweils dreistufigen raumtheoretischen Argumentation hergeleitet. Stets standen drei zentrale Raumfragen im Vordergrund: die Ort-Raum-Differenz, die dynamische RaumZeit und die drei räumlichen Sinnordnungen des Materiellen, des Sozialen und des Symbolischen im ersten Kapitel, die im zweiten Kapitel dann – und gleichsam in einer Variation ihrer inneren Anlage – in Richtung der Medialität, der 387
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Konstruktivität und der Bewegtheit des filmischen Raums zugespitzt wurden. In beiden Kapiteln bildeten diese drei unterschiedlich fokussierten Raumfragen die notwendige Bedingung für die Erarbeitung eines filmischen Raumkonzepts, nicht jedoch die hinreichende Bedingung. Denn hierfür mussten erst zwei innere Wendungen bzw. Umkehrungen des Raums eingeführt werden: der relationale Raum und der topologische Raum, die jenen wesentlichen Transformationspunkt bereits in ihrer konzeptuellen Anlage beinhalten und die die entscheidende Grundlage bilden, um den Raum konsequent über die Transformation zu konzipieren. Die raumtheoretische Herleitung führte damit stets auf einen Transformationspunkt bzw. auf eine Umkehrung der Raumvorstellungen selbst zu, um sich im nächsten Moment auf einen relationalen Transformationsraum hin zu öffnen, der nun anhand des dritten Aspekts – der Auffächerung des Räumlichen in einzelne filmische Topologien – und im Hinblick auf die Raumdynamiken der drei Phasen der filmischen Metropole diskutiert werden soll. Gemeinsam ist den Betrachtungen zum frühen Stadtfilm, zum Film noir und zum Episodenfilm, dass sie die spezifische Form von Räumlichkeit, die der Film produziert und die dem Film innewohnt, bereits in einem Jenseits des Raums situieren. Denn sie setzen die Relation und die Transformation, die zuvor als zwei zentrale Faktoren des topologischen Perspektivwechsels eingeführt wurden, als Nullpunkt des filmischen Transformationsraums, um von dort aus alle weiteren Aussagen zur Konstruktion filmischer Räumlichkeit abzuleiten. Erst im Zuge dieser raumtheoretischen Umkehrung wird es folglich möglich, nach den Entgrenzungen räumlicher Relationen, nach den topologischen Umformungen, den Paradoxien, den Denkfiguren und damit nicht zuletzt nach den Reflexionen der filmischen Raumkonstruktion zu fragen. Während der erste Aspekt der Abkehr von der Repräsentation eine Vorbedingung für das Verständnis des Argumentationsgangs dieser Arbeit bezeichnet, die sich schrittweise von diesem Paradigma löst, ohne es gänzlich zu verwerfen, und der zweite Aspekt eine Hinwendung zur Vorstellung eines Transformationsraums bildet, der untrennbar mit der raumtheoretischen Herleitung der ersten beiden Kapitel zusammenfällt, so entwickelt sich im Zuge des dritten Aspekts und damit im Zuge der drei filmischen Phasen der Metropole eine zweiseitige räumliche Dynamik: Denn einerseits stehen die hier ausgeführten filmischen Topologien im Zeichen der Entgrenzung, insofern sie den filmischen Raum als eine Raumordnung begreifen, die nicht allein mediale, konstruierte und bewegte Räume generiert, sondern die dabei immer wieder an die Grenzen des euklidischen Raums stößt. Dabei kann dieser Grenzbereich, wie die einzelnen Filmbeispiele gezeigt haben, durch die Steigerung der Bewegtheit, das heißt durch die Dynamisierung und Rhythmisierung des 388
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Raums erreicht werden, indem die filmische Bewegung kontinuierlich an ihren Endpunkt geführt wird oder aber bereits auf ein ‚Jenseits der Bewegung‘ verweist. Die Grenzen des euklidischen Raums können jedoch auch im Zuge einer Steigerung der Konstruiertheit erlangt werden, indem die räumlichen Relationen von Innen und Außen, von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherie, von Realem und Imaginärem nicht allein ineinander verschränkt, sondern letztendlich ununterscheidbar werden. Oder aber dieser Grenzbereich betrifft eine Steigerung der Medialität, die sich in den abstrakten, mentalen Relationen, in einem Denken des Außen und im Auseinandertreten von Visuellem und Auditivem, von Fragment und Ganzem artikuliert, die nicht mehr aufeinander rückführbar sind. In einem zweiten Schritt, und untrennbar mit dieser Entgrenzungsbewegung verbunden, stehen die filmischen Topologien jedoch auch im Zeichen der Erschließung. Denn in dem Moment, in dem die Transformation zum Ausgangspunkt genommen wird, um über den filmischen Raum und seine Konstruktionsmöglichkeiten nachzudenken, in dem Moment also, in dem der euklidische Raum lediglich einen Sonderfall bzw. einen Grenzbereich des Filmischen markiert, öffnet sich der Blick auf das grundlegende Potenzial des Films, eine Vielfalt von Räumen denkbar und wahrnehmbar zu machen. Denn der Film transformiert die sichtbare und hörbare Welt, indem er ihr eine spezifische Form filmischer Räumlichkeit einschreibt. Er entwirft entgrenzende, transformierende Räume, die sich wechselseitig überlagern und ineinandergreifen. Diese Auffächerung des Räumlichen, die der Film kontinuierlich betreibt, wurde in dieser Studie im Hinblick auf die filmische Konstruktion des Urbanen in Form dreier topologischer Grundfiguren nachvollzogen, die zunächst konzeptuell – als innere, selbstbezügliche, als bewegte, ausgreifende und als äußere, rückkoppelnde Topologie – entwickelt wurden. Die Vorstellung einer topologischen Auffächerung des Räumlichen soll nun im Folgenden – und in Erweiterung der drei zuvor entfalteten Diskussionslinien – zum Anlass genommen werden, um die drei Phasen der filmischen Metropole erneut zu diskutieren. Denn betrachtet man die Facetten der filmischen Metropole in ihrem Zusammenspiel, so zeigt sich, dass jeder Phase eine ähnliche Abfolge bzw. eine schrittweise Modifizierung der Konstruktion filmischer Räumlichkeit eingeschrieben ist. Dies begründet sich einerseits darin, dass dieser Dreischritt in engem Austausch mit jenen Raumfragen entwickelt wurde, die in den ersten beiden Kapiteln als Vorbedingungen eines Perspektivwechsels auf den filmischen Raum eingeführt wurden. Andererseits haben die Raumfragen innerhalb der Filme selbst – und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der räumlichen Komplexität der Metropole – ihre jeweils eigenen Dynamiken entwickelt. Sie haben sich zu drei Grundkonfigurationen der filmischen Metropole 389
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verdichtet, die nun in einem übergreifenden Bogen als Erstheit, Zweitheit und Drittheit der filmischen Metropole diskutiert werden sollen. In einem ersten Schritt wird jeweils die Erstheit der filmischen Metropole konfiguriert, die sich daraus speist, dass sie in ihrer Selbstbezüglichkeit zu jedem Zeitpunkt ihrer Konstruktion auf das Eigene verweist. Die Topologien der Ambivalenz des frühen Stadtfilms, die polaren Topologien des Film noir und die Mikrotopologien des Episodenfilms bezeichnen folglich eine besondere Art der filmischen Topologie, die über die Unmittelbarkeit ihrer Bezüge wirkt, indem sie die räumlichen Relationen, die der filmischen Metropole von Beginn an eingeschrieben sind, auf das Engste aufeinander bezieht und in ein komplexes Wechselspiel überführt. Der Modus, durch den das Innen und das Außen, das Städtische und das Ländliche, das Materielle und das Symbolische miteinander verbunden werden, ist der Modus der Verschränkung, der unablässig die einzelnen Elemente der Raumkonstruktion aufeinander bezieht und zu einer Synthese bringt. Dabei können die einzelnen räumlichen Verhältnisse einerseits zunächst als Gegensätze eingeführt werden, um sie im nächsten Schritt wiederum ineinander zu verschachteln (wie im frühen Stadtfilm). Oder aber die Raumrelationen sind von Beginn an von einer Polarität gekennzeichnet, die sie unmittelbar als Spannungsverhältnis in ein und dasselbe Bild integriert (wie im Film noir). Im dritten Fall zeigt sich dann insofern eine Modifizierung, als die Relationen nur auf den ersten Blick vielfältig und komplex zu sein scheinen, während sie auf den zweiten Blick einen Abstand und eine Leere produzieren, worin sich zugleich eine Absage an die Möglichkeit artikuliert, überhaupt noch eine übergreifende Gesamtheit stiften zu können (wie im Episodenfilm). Einen nächsten Schritt markiert die Zweitheit der filmischen Metropole, die unablässig auf ein Außen verweist, das sich in den unterschiedlichen Formen der Bewegungserzeugung artikuliert. Auf diese Weise wird zugleich der intrinsischen Geschlossenheit der Metropole, die sie in Zusammenhang mit der Erstheit entwickelt, eine sukzessive, bewegte Öffnung des Räumlichen entgegenstellt. Der Modus, in dem dies geschieht, ist der Modus der Verschiebung, was zur Folge hat, dass das kontinuierliche, bewegte Ausgreifen in den Außenraum der Städte sowohl eine (äußere) Transformation des Urbanen als auch eine (innere) Transformation der Figuren bewirken kann. So werden über die vielfältig ansetzenden Bewegungen immer wieder Übergänge und Passagen konfiguriert, wird die filmische Bewegung zum Motor und Indikator eines Übergangs und mehr noch, einer räumlichen Transformation der Metropolen. Im Fall der Bewegungstopologien des frühen Stadtfilms bleibt diese kontinuierliche Bewegungserzeugung jedoch noch deutlich auf die inneren Rhythmen und Dynamiken der Metropole bezogen und verweist nur 390
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kontrapunktisch auf das Außen, auf das Ländliche. Im zweiten Fall, den Topologien des Transfers im Film noir, ist dieser Verweis auf das Außen hingegen den Bewegungen untrennbar eingeschrieben, was zugleich dazu führt, dass sie in ihrem bewegten Ausgreifen in den Raum zu Zeugen eines tiefgreifenden räumlichen Umbruchs der Metropolen werden. Diese doppelte Bewegung wird dann in den Transittopologien des Episodenfilms insofern fortgeschrieben, als nun die Figuren in ihren Bewegungen auf nichts weniger als auf die gesamte Welt ausgreifen, während sie dabei zugleich auf eine Welt treffen, in der sich die Metropolen bereits derart in den Außenraum ausgebreitet haben, sodass sie der umfassenden Verstädterung der Welt ein eindrückliches Bild verleihen. Einen letzten Schritt innerhalb dieser Facetten der filmischen Raumkonstruktion markiert die Drittheit der filmischen Metropole, die ihr volles Potenzial dann entfaltet, wenn sie ein Außen, eine dritte Position in die Raumkonstruktion einführt. Dabei werden über diese dritte Position unablässig neue Relationen und abstrakte Verknüpfungen aufgezogen, die entweder als Rückkopplung der Zweitheit an die Erstheit wirksam werden oder aber selbst als Reflexionsfiguren der filmischen Raumkonstruktion in Erscheinung treten. Der Modus, der diesen Topologien untrennbar eingeschrieben ist, lässt sich als Modus der Verknüpfung bezeichnen, der kontinuierlich auf die Relation als dritte Position verweist. Dabei kann sich diese innerhalb einer umfassenden Mediendifferenz artikulieren, die zugleich das mediale Potenzial des Films auf neue Weise verhandelt (wie in den abstrakten Topologien). Oder aber sie entwickelt eine Reihe von Netzstrukturen, die nicht allein die einzelnen Orte der Stadt, sondern darüber hinaus ihre symbolischen Verdichtungen im Zuge einer umfassenden Reflexion zusammenführen (wie in den Netztopologien). Im dritten Fall wird dann eine Gesamtheit konfiguriert, die innerlich bereits zutiefst fragmentiert und zerbrochen ist und allein über einen äußeren Bezugsrahmen, über die Stiftung einer künstlichen Einheit zusammengehalten werden kann (wie in den Topologien des Zufalls). Von diesem grundlegenden Dreischritt ausgehend, der den drei filmischen Topologien der einzelnen Kapitel untrennbar eingeschrieben ist, lässt sich der Blickwinkel jedoch auch noch einmal umkehren und auf eine übergreifende Perspektive auf das 20. Jahrhundert öffnen. Denn einerseits entfalten sich die Erstheit, die Zweitheit und die Drittheit der filmischen Metropole innerhalb der drei Filmkapitel. Sie entfalten sich als drei inhärente Logiken der filmischen Raumkonstruktion, die jeweils andere Facetten zum Vorschein bringen. Andererseits lässt sich diese dreifache Raumlogik jedoch auch – und dies wird in einem zweiten Schritt auszuführen sein – in Bezug auf die drei Phasen der filmischen Metropole in ihrer historischen Abfolge lesen. Denn betrachtet man die Beispiele des 391
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frühen Stadtfilms, des Film noir und des Episodenfilms genauer, so zeigt sich, dass sie zwar jeweils ähnliche, vergleichbare Konzepte der Metropole hervorbringen (das Eigene, das Andere, das Dritte), dass sie diesen Dreischritt jedoch jeweils innerhalb eines ganz eigenen, modifizierten Referenzrahmens verhandeln, den diese drei Phasen selbst markieren. Im frühen Stadtfilm, im Film noir und im Episodenfilm werden folglich jeweils eine Erstheit, eine Zweitheit und eine Drittheit der filmischen Metropole konfiguriert. Sie tun dies jedoch, indem sie diesen Dreischritt stets innerhalb eines jeweils grundsätzlich veränderten, abgewandelten Referenzrahmens entfalten, den sie selbst als drei unterschiedliche Genres bzw. filmische Bewegungen und zugleich als drei unterschiedliche zeitliche Abschnitte innerhalb des 20. Jahrhunderts markieren. Dabei wäre es zu kurz gefasst, diesen Referenzrahmen schlichtweg mit einer Erstheit, einer Zweitheit und einer Drittheit der filmischen Metropole zu verrechnen, die gleichsam ihre Richtung gewechselt haben und nun in ihrer historischen Abfolge als drei diachrone Konzepte der filmischen Metropole auftreten, da dies ihre zuvor ausgeführte räumliche Komplexität und Vielfalt in jeder Hinsicht unterschlagen würde. Vielmehr sollen sie hier als innere Bezugspunkte einer fein abgestuften historischen Dimension dienen, welche die drei Phasen der filmischen Metropole eben nicht vollständig in einer abstrakten, berechenbaren Abfolge der filmischen Topologien aufgehen lässt, sondern diese jeweils an den Zeitpunkt ihrer Entstehung und damit zugleich an differenzierte Stadtkonzepte koppelt. Der frühe Stadtfilm setzt sich auf besondere und intensive Weise mit der Produktion von Sichtbarkeit auseinander, indem er die filmische Metropole erstmals, oder präziser: erstmals in dieser deutlichen Pointierung, in ihren Grundbestandteilen und -verhältnissen filmisch ergründet und entfaltet. Auf diese Weise begreifen die frühen Stadtfilme die filmische Metropole als das, was sie selbst ist, und mehr noch, was der Film in ihr sichtbar machen kann – seien dies nun ihre gebauten, materiellen Strukturen, ihre vielfältigen sozialen Implikationen oder auch ihre bewegten, rhythmischen Dynamiken. Dabei wird die Produktion von Sichtbarkeit, die stets das Eigene der Metropolen hervorbringt – selbst da noch, wo sie auf das Andere, das Ländliche verweist – immer wieder in konkrete Bilder der Fabrikation des Städtischen überführt, welche die filmische Metropole als ein gänzlich aus sich selbst heraus lebendes und sich unablässig selbst reproduzierendes räumliches Gebilde erscheinen lassen. Den zentralen Referenzpunkt der Raumkonstruktion des Film noir, auf den sich die Noir-Stadt in allen ihren Facetten ausrichtet, bildet das Unsichtbare der Metropole, das im Sinne einer Konfiguration des Anderen und des potenziellen Andersseins verstanden werden kann. Denn hier wird die filmische Metropole in Bezug auf das gelesen, was sie untergründig 392
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immer schon war – und gerade hierauf verweisen die zahlreichen filmischen Bezüge zum frühen Stadtfilm –, was jedoch erst zu diesem Zeitpunkt vollends an die Oberfläche der Bilder geholt wird: das Dunkle, die Schattenseiten und das Untergründige der Metropolen, die sich in jedes einzelne Bild einschreiben. Ihre bildlichen Verdichtungen finden das Andere und das Anderssein insbesondere in den polaren Topologien des frühen Film noir, indem hier ein Element und sein Gegenelement in ein und demselben Bild verschränkt werden. Dieses Andere artikuliert sich jedoch auch da, wo die Noir-Stadt in ihrer symbolischen Dichte in die späteren Bewegungstopologien und Netztopologien eindringt, wo sie reflektiert wird und auf diese Weise selbst zum Anderen einer räumlichen Ordnung wird, die sich in einem sichtlichen Umbruch befindet. In Zusammenhang mit dem Episodenfilm wird schließlich das Außen als Modus der Raumkonstruktion eingeführt und zugleich zum zentralen Referenzpunkt der Filme erhoben. Denn diese zeigen Metropolen, die nur noch auf künstliche Weise über eine äußere, dritte Position geschlossen werden können, während sie in ihrem Inneren zunehmend in einzelne Teilräume und nicht mehr aufeinander Bezug nehmende Leerstellen zerfallen, wodurch sie primär in ihren fragmentierten Sichtbarkeiten in Erscheinung treten. Die Einführung des Außen als dritte Position zeugt hier von dem Versuch, einen übergreifenden Sinnzusammenhang der filmischen Metropole herzustellen, der jedoch nur noch im (relationalen) Modus der Fragmentierung, des Zwischenraums und des Zufälligen erfolgen kann. In diesem Sinne zeugen die Filme von jener ‚Nichtgenerierbarkeit‘ von Sinn, die eine zu komplex gewordene urbane Welt betrifft. Im selben Zuge steigern sie jedoch wiederum diese städtische Komplexität, indem sie mehrere divergierende Topologien übereinander schichten und damit den Raum kontinuierlich durch eine äußere Position entgrenzen. Diese doppelte Bezugslinie, die sich zwischen der filmischen Metropole und der Erstheit, der Zweitheit und der Drittheit als Modi der Raumkonstruktion entfaltet, betrifft in erster Linie die spezifische Räumlichkeit des Films, deren Ergründung und raumtheoretische Herleitung das zentrale Ziel dieses Buchs war. Denn der Film gründet auf dem Potenzial, den Raum zu transformieren; er transformiert ihn jedoch, so die Argumentation dieser Arbeit, auf sehr differenzierte Weise, indem er filmische Topologien generiert, die einerseits selbst, in konzeptueller Hinsicht, auf Transformation gründen, während sie andererseits, in Hinblick auf das gesamte 20. Jahrhundert, einer Reihe von Transformationen unterworfen sind. Und dennoch wäre diese Transformationsbewegung undenkbar und unvollständig ohne ihr zentrales Gegenstück, das heißt ohne die filmische Topographie, die einen modifizierten Blick auf die Entwicklungsdynamiken der filmischen Metropole zulässt, indem sie stärker von Seiten der 393
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Metropolen selbst argumentiert. Denn im Zuge der Betrachtungen der Raumdynamiken der einzelnen Phasen der filmischen Metropole wurde wiederholt deutlich, in welch hohem Maße sich die filmischen Stadtentwürfe zugleich als Reaktion auf diejenigen zentralen Umbruchprozesse lesen lassen, die die Gestalt der Metropolen im 20. Jahrhundert auf nachhaltige Weise verändert haben und immer noch verändern. Im frühen Stadtfilm der zwanziger Jahre begründet sich dies vor allem in einer Neudimensionierung des Städtischen selbst. Denn hier sind die Filme von dem Bestreben gekennzeichnet, die Neuartigkeit der baulichen Strukturen der Großstadt einzufangen, wie es etwa am Beispiel der Wolkenkratzer in der frühen amerikanischen Avantgarde deutlich wird. Zugleich entwerfen sie für die veränderten sozialen und psychischen Implikationen dieses genuin städtischen, ‚modernen‘ Lebens beständig neue Bilder, indem sie einerseits die Möglichkeiten und Chancen des Städtischen (wie insbesondere in den Filmen der Neuen Sachlichkeit), und andererseits die Abgründe und Gefahren eingehend beleuchten (wie insbesondere in den Weimarer Straßenfilmen). Im frühen Stadtfilm wird die neue Dimension des Städtischen aus allen denkbaren (Kamera-)Perspektiven eingefangen und filmisch ergründet, was sich zunächst einmal im Modus einer Aufzeichnung des Sichtbaren vollzieht. Gleichzeitig wird in diesen frühen Stadtfilmen jedoch auch ein (oftmals spielerisches) Austesten der Möglichkeiten des Films in Gang gesetzt, das immer wieder an die Grenzzonen der filmischen Raumkonstruktion gelangt. Im Bereich des Film noir der vierziger und fünfziger Jahre geht es hingegen nicht mehr um ein grundlegendes Einfangen und filmisch-bewegtes Aufzeichnen des Städtischen in seinen Grundbestandteilen. Im Gegenteil lässt sich im Film noir ein signifikanter Wechsel innerhalb der Konfiguration der Metropole verzeichnen. Und dieser Wechsel begründet sich nicht allein in dem bereits beschriebenen veränderten Referenzrahmen, der stets das Unsichtbare und das Unergründliche der Metropolen an die Oberfläche holt, sondern insbesondere darin, dass sich die Metropolen selbst in einer Umbruchsituation befinden. Dabei verhält sich der Film noir zu diesem Umbruch auf zweierlei Weise, worin seine Ambivalenzen gegenüber dem Städtischen deutlich hervortreten. Denn einerseits verfolgt er – und dies gerade in der frühen Phase zu Beginn der vierziger Jahre – eine weitgehende Abkopplung vom sichtbaren Außen der Metropolen, die nun zu hochgradig symbolischen Noir-Städten verdichtet werden. Andererseits zeichnet der Film noir jedoch auch, wie es vor allem ab den späten vierziger Jahren deutlich wird, die räumlichen Transformationen, die sich in den Innen- und Außenräumen der Metropolen vollziehen, auf sensible Weise auf und modifiziert vor diesem Hintergrund sein gesamtes filmisches Programm, wodurch die Noir-Stadt 394
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oftmals nur noch als Reflexion innerhalb einer bereits veränderten, erweiterten und ausgedehnten urbanen Umwelt aufscheint. Mit dem Episodenfilm der achtziger und neunziger Jahre treten die Urbanisierungsprozesse schließlich erneut in eine veränderte Dimension ein, die nun nicht mehr allein die schrittweise Suburbanisierung und das Ausgreifen der Städte in den ländlichen Umraum bezeichnet, sondern nichts weniger als die zunehmende Verstädterung der Welt. Dieser räumliche Umbruchprozess artikuliert sich dabei in den Filmen in zweifacher Hinsicht: Denn einerseits zeigt sich eine Auflösung, eine Zersetzung und Fragmentierung der Metropolen, die nur noch in ihren Teilräumen erkennbar werden, während sich andererseits eine deutliche Erweiterung des Bezugsrahmens auf die gesamte Welt als das ‚Ganze‘ einer räumlichen Ordnung beobachten lässt, die allein in ihren relationalen Verknüpfungen zusammengehalten werden kann. In beiden Fällen zeugen die Filme von einer Ungreifbarkeit des Städtischen, die mit dieser Neudimensionierung einhergeht und die sich maßgeblich in die räumliche Anlage des Episodenfilms in seiner Doppelbewegung zwischen der Vereinzelung der Fragmente und der Relationalität des Ganzen einschreibt. Nicht zuletzt in diesem Durchspielen der Raumdynamiken der filmischen Metropole zeigt sich, in welch hohem Maße die filmische Topologie immer wieder auf die filmische Topographie zurückgeführt wird und wie im Umkehrschluss die filmische Topographie durch die filmische Topologie beständig modifiziert wird. Dabei sind im Verlauf der Ausführungen ganz unterschiedliche Facetten dieser beiden Sinnordnungen des filmischen Raums hervorgetreten, die von einfachen Gegensätzen bis hin zu komplexen Bezugslinien, von konkreten Figuren bis hin zum übergreifenden Perspektivwechsel auf den filmischen Raum reichen. Denn auf der einen Seite finden wir den allgemeinen topographisch-topologischen Zugriff dieser Arbeit bzw. die schrittweise Herleitung der filmischen Topologie und der filmischen Topographie, die zunächst auf einer konzeptuellen Ebene entfaltet und in ihrem Zusammenspiel erläutert wurden. Auf der anderen Seite sind in den einzelnen Filmbetrachtungen jedoch auch differenzierte, unterscheidbare Artikulationen dieser zwei Grundkonstellationen aufgetreten. Es haben sich einzelne topographische und topologische Figuren herauskristallisiert, die gleichsam Kondensationspunkte bilden und in denen diese beiden Raumlogiken zu konkreten Bildern und Motiven gerinnen: Einerseits die topographischen Verdichtungen in Form von Karten und Plänen, die sich als anderes Repräsentationsmedium von städtischer Sichtbarkeit in die Filme einschreiben und oftmals in Kontrast zur filmischen Bewegtheit gesetzt werden. Und andererseits die topologischen Umformungen, die paradoxen Raumgebilde und abstrakten Denkfiguren, die einen deutlichen Abstand zum topographischen 395
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Raum markieren, indem sie eine andere Art von Räumen entwerfen, die allein im Film und durch den Film entstehen können. Gemeinsam lassen sie sich als eine Möglichkeit begreifen, den filmischen Raum neu zu denken. Und dieses Neudenken gründet vor allem darin, dass sowohl die filmische Topologie als auch die filmische Topographie ihre Betrachtungen genau an jenem Punkt ansetzen, der den Transformationsprozess des filmischen Raums selbst betrifft. Indem die filmische Topologie ihren Blick aber im Gegensatz zur filmischen Topographie unmittelbar in Richtung des Potenzials und der Qualität des filmischen Raums als medialem, konstruiertem und bewegtem Raum richtet, wird mit ihr zugleich eine filmische Reflexion in Gang gesetzt, die sich in der Freilegung ihrer Konstruktion und in einem spezifisch filmischen Raumdenken artikuliert. Damit steht die filmische Topologie immer auch für einen selbstreflexiven Gestus der Filme, der sich unmittelbar in der Prozessualität und der Transformativität des filmischen Raums offenbart. Die filmische Topologie ist folglich zu keinem Zeitpunkt allein auf den Ist-Zustand des Films und zu keinem Zeitpunkt allein auf die Aufzeichnung und Darstellung des Urbanen bezogen. Denn sie wird zuallererst und in allen den hier ausgeführten Facetten als Transformationsprozess der filmischen Raumkonstruktion wirksam, der dem Werden und der Prozessualität des filmischen Raums ein Bild gibt und, was mehr ist, diese beiden Facetten unmittelbar in die Raumkonzeption integriert. Das Verhältnis zwischen Film und Transformation, oder vielmehr: die Frage danach, inwiefern der filmische Raum über die Transformation zu denken ist, welche konzeptuellen Konsequenzen sich aus dieser Modifizierung ergeben und welche neuen Raumformen unter dieser Perspektive entstehen, lässt sich folglich als die zentrale, entscheidende Grundlinie begreifen, die sich durch das gesamte Buch hindurchzieht, wenngleich sie in ihrem Verlauf einer Reihe von Umdeutungen unterworfen ist. Denn in der Einleitung wurde die Transformation noch innerhalb einer dreistufigen Logik als die sichtbare, beschleunigte und paradoxierte Bewegtheit des filmischen Bildes begriffen, die am Beispiel dreier Raumszenen in BUILDING UP AND DEMOLISHING THE STAR THEATRE erörtert wurde. Die Transformation wurde hier folglich zuallererst als filmische Bewegtheit ausgedeutet, die auf das grundlegende Potenzial des Films referiert, genuin bewegte Räume zu produzieren. Im Zwischenkapitel wurde die Transformation hingegen im Zuge einer Neuausrichtung bzw. einer Justierung der filmischen Topographie und der filmischen Topologie an den komplexen räumlichen Formen des Urbanen zum Indikator einer filmischen Prozessualität, in welcher die filmische Raumkonstruktion als ein transitorischer, relationaler Prozess ausgedeutet wurde.
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Einen dritten Aspekt der filmischen Transformation markierten schließlich die Auffächerungen der filmischen Topologie im frühen Stadtfilm, im Film noir und im Episodenfilm, die hier in verdichteter Form noch einmal als Erstheit, Zweitheit und Drittheit der filmischen Metropole in ihren inneren Entwicklungsdynamiken ebenso wie in ihrem historischen Verlauf durchgespielt wurden. Die Transformation wurde hier als topologische Umformung ausgedeutet, insofern die drei filmischen Topologien, die zunächst als abstrakte Größen entwickelt wurden, in Bezug auf die drei Filmkapitel jeweils konkrete Raumdynamiken entfaltet haben. Sie werden zum Zeichen einer beständigen Umformung und Variation des filmischen Raums: Sie bewegen sich auf den innersten Transformationspunkt der Ununterscheidbarkeit zu (als innere Topologie); sie entgrenzen diese Ununterscheidbarkeit in einer beständigen Bewegung der Verlagerung, der Ausdehnung und der Dynamisierung des Räumlichen (als bewegte Topologie); und schließlich nähern sie sich dem äußersten Transformationspunkt des Abstands und der Wiedereinführung des Außen (als äußere Topologie), wodurch der filmische Raum als eine transformierende und veränderliche Raumgröße in Erscheinung tritt. Auf allen drei Linien markiert die Ergründung des spezifischen Verhältnisses von Film und Transformation den Zielpunkt der Betrachtungen. Die drei Facetten der filmischen Transformation, die jeweils ein Potenzial des filmischen Raums hervorkehren (das Bewegte, das Prozessuale, das Umformende), lassen sich damit zuallererst als konsequente Hinführung auf ein Raumkonzept begreifen, das die vielschichtigen Dynamiken der filmischen Raumkonstruktion, ihre Überlappungen und Entgrenzungen, in ihrem Zusammenspiel zu erfassen vermag. Und dennoch hat der Film die Eigenschaft, sich den ihm angelegten Raumlinien immer wieder zu entziehen. Indem der Film auf einem topologischen Raumdenken gründet, zeugt er immer auch von einer Unabschließbarkeit bzw. einer Nicht-Fixierbarkeit des Räumlichen. Denn während es im Bereich der filmischen Topographie eine Größe gibt, die stets verrechnet werden kann, die stets ihre genaue Position innerhalb der räumlichen Logik zugewiesen bekommt, existiert im Bereich der filmischen Topologie eine Größe, die niemals vollständig in dieser räumlichen Logik aufgeht, ja die sich einer räumlichen Fixierung permanent entzieht und somit eine Verwerfung und Durchkreuzung der räumlichen Leitlinien betreibt. Es sind folglich zwei unterschiedliche Transformationsarten – eine stetige, kontinuierliche Transformation und eine entgrenzende, paradoxierende Transformation –, die im Verlauf dieser Studie in wechselnder Gewichtung in Anschlag gebracht wurden. Erst in ihrem Zusammenspiel artikuliert sich jedoch das Potenzial der Topologie, das Zugleich dieser beiden auseinanderstrebenden Transformationsarten zu denken. In ihrem 397
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spezifischen Blick auf den Raum, der sowohl ein abstraktes Denken des Raums in Strukturen und Relationen möglich macht als auch die Beschreibbarkeit von paradoxen, selbst nicht-räumlichen Prozessen zulässt, bildet die Topologie als raumtheoretisches Konzept ein hohes Potenzial, das auch in den Bereichen anderer medialer Raumkonfigurationen zu einer modifizierten und erweiterten Perspektive führen könnte. Die Betrachtungen zur Topologie, die hier sehr eng am Beispiel des filmischen Raums und seiner spezifischen Raumlogiken entwickelt wurden, könnten damit zugleich zum Ausgangspunkt eines erneuten Nachdenkens über die Möglichkeiten einer medialen Raumtheorie werden, die den Raum konsequent über seine Transformationslogiken denkt. Denn die Topologie macht komplexe Raumfiguren beschreibbar, die sich einer Fixierung durch ein räumliches Koordinatensystem konsequent entziehen. Sie macht Raumfiguren beschreibbar, die ihren Kernpunkt in ihrer eigenen Veränderlichkeit, in ihrem Werden und in ihrer Transformativität finden, ohne ihre räumliche Grundstruktur jemals ganz zu verwerfen. Denn die Topologie verlangt – so haben wir zu Beginn gesagt – den Raum zunächst zu vergessen und ihn ganz hinter sich zu lassen, um ihn im nächsten Moment wieder in die Raumkonstruktion hineinzuholen. Nun jedoch unter veränderten Bedingungen bzw. unter einem modifizierten Blickwinkel, dessen Maßgabe ein raumtheoretisches Potenzial der Topologie bildet: das Potenzial, den Raum selbst noch an einem Punkt zu fassen, an dem er seine räumlichen Eigenschaften bereits weitgehend hinter sich gelassen hat; das Potenzial, das Räumliche in einem Jenseits des Raums zu situieren, in dem die Grundbedingungen des Raums noch einmal neu zur Disposition gestellt werden; und schließlich das Potenzial, nicht allein die Grundkoordinaten des Raums zu verändern und seine Maßstäbe zu entgrenzen, sondern im Zuge dieser weitreichenden Umkehrung das Raumdenken selbst zu transformieren.
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FILMOGRAPHIE 2001. ODYSSEE IM WELTRAUM (Stanley Kubrick, UK/USA 1968) A BRONX MORNING (Jay Leyda, USA 1931) ABSCHIED VON GESTERN (Alexander Kluge, BRD 1966) A CITY SYMPHONY (Herman G. Weinberg, USA 1930) ALL ABOUT ADAM (Gerard Stembridge, IE/UK/USA 2000) A MUDDY ROMANCE (Mack Sennett, USA 1913) A PERFECT COUPLE (Robert Altman, USA 1979) À PROPOS DE NICE (Jean Vigo, F 1930) ASPHALT (Joe May, D 1929) AUTUMN FIRE (Herman G. Weinberg, USA 1931) BERLIN ALEXANDERPLATZ (Phil Jutzi, D 1931) BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (Walter Ruttmann, D 1927) BLADE RUNNER (Ridley Scott, USA/HK 1982) BOCCACCIO ‘70 (Vittorio De Sica, Federico Fellini, Luchino Visconti, I/F, 1962) BUSH MAMA (Haile Gerima, USA 1979) CALL NORTHSIDE 777 (Henry Hathaway, USA 1948) CHICAGO SYNDICATE (Fred F. Sears, USA 1955) CHINA GIRL (Henry Hathaway, USA 1942) CITIZEN KANE (Orson Welles, USA 1941) CITY GIRL (Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1930) CITY OF CONTRASTS (Irving Browning, USA 1931) CRISS CROSS (Robert Siodmak, USA 1949) CRY OF THE CITY (Robert Siodmak, USA 1948) DARK CITY (William Dieterle, USA 1950) DAS CABINET DES DR. CALIGARI (Robert Wiene, D 1920) DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE (Wolfgang Becker, D 1997) DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE (Frederick S. Armitage, USA 1901) DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM (Paul Wegener, Carl Boese, D 1920) DER LETZTE MANN (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1924) 419
JENSEITS DES RAUMS
DER MANN MIT DER KAMERA (Dziga Vertov, UdSSR 1929) DER TEUFELSREPORTER (Ernst Laemmle, D 1929) DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINS (Berthold Viertel, D/USA 1926) DIE ARCHITEKTEN (Peter Kahane, DDR 1990) DIE FREUDLOSE GASSE (Georg Wilhelm Pabst, D 1925) DIE STRASSE (Karl Grune, D 1923) D.O.A. (Rudolph Maté, USA 1950) DOUBLE INDEMNITY (Billy Wilder, USA 1944) DR. MABUSE, DER SPIELER (Fritz Lang, D 1922) DREAM OF A RAREBIT FIEND (Edwin S. Porter, USA 1906) DYNAMIK DER GROSS-STADT (László Moholy-Nagy, D 1920/21) FAUST (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1926) GERMANIA ANNO ZERO (Roberto Rossellini, I 1948) GRAND HOTEL (Edmund Goulding, USA 1932) GUN CRAZY (Joseph H. Lewis, USA 1950) HINTERTREPPE (Leopold Jessner, Paul Leni, D 1921) HISTOIRE(S) DU CINÉMA (Jean-Luc Godard, F 1988-98) INSIDE DETROIT (Fred F. Sears, USA 1956) JONAS (Ottomar Domnick, BRD 1957) KANSAS CITY CONFIDENTIAL (Phil Karlson, USA 1952) KISS ME DEADLY (Robert Aldrich, USA 1955) KOYAANISQATSI (Godfrey Reggio, USA 1982) L.A. CRASH (Paul Haggis, USA/D 2004) LA RONDE (Max Ophüls, F 1950) LAURA (Otto Preminger, USA 1944) LE MÉPRIS (Jean-Luc Godard, F/I 1963) LETTRE A FREDDY BOUACHE A PROPOS D’UN COURT-METRAGE VILLE DE LAUSANNE (Jean-Luc Godard, F 1982) LITTLE CAESAR (Mervyn LeRoy, USA 1931) LOS ANGELES PLAYS ITSELF (Thom Andersen, USA 2003)
SUR LA
M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (Fritz Lang, D 1931) MAGNOLIA (Paul Thomas Anderson, USA 1999) MANHATTA (Charles Sheeler, Paul Strand, USA 1920/21) MANHATTAN (Woody Allen, USA 1979) MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, D 1930) METROPOLIS (Fritz Lang, D 1927) MON ONCLE (Jacques Tati, I/F 1958) MURDER, MY SWEET (Edward Dmytryk, USA 1944) NACHTGESTALTEN (Andreas Dresen, D 1999) 420
FILMOGRAPHIE
NANA (Jean Renoir, F 1926) NASHVILLE (Robert Altman, USA 1975) NEW ORLEANS UNCENSORED (William Castle, USA 1955) NEW YORK STORIES (Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Woody Allen, USA 1989) NIGHT ON EARTH (Jim Jarmusch, F/UK/D/USA/JP, 1991) NOSFERATU. EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1922) OIL – A SYMPHONY IN MOTION (Artkino, USA 1933) OPUS I-IV (Walter Ruttmann, D 1921-25) OTTO E MEZZO (Federico Fellini, I/F 1963) OUT OF THE PAST (Jacques Tourneur, USA 1947) PAISÀ (Roberto Rossellini, I 1946) PARIS QUI DORT (René Clair, F 1925) PERMANENT VACATION (Jim Jarmusch, USA 1980) PHANTOM LADY (Robert Siodmak, USA 1944) PIERROT LE FOU (Jean-Luc Godard, F/I 1965) PLAYTIME (Jacques Tati, F/I 1967) REBECCA (Alfred Hitchcock, USA 1940) RIEN QUE LES HEURES (Alberto Cavalcanti, F 1926) ROMA, CITTÀ APERTA (Roberto Rossellini, I 1945) SAUVE QUI PEUT (LA VIE) (Jean-Luc Godard, F/AT/BRD/CH 1980) SCARLET STREET (Fritz Lang, USA 1945) SCHERBEN (Lupu Pick, D 1921) SHIP OF FOOLS (Stanley Kramer, USA 1965) SHORT CUTS (Robert Altman, USA 1993) SKYSCRAPER SYMPHONY (Robert Florey, USA 1929) SLEEP, MY LOVE (Douglas Sirk, USA 1945) SLEEPING WITH THE ENEMY (Joseph Ruben, USA 1991) SMOKE (Wayne Wang, D/USA/JP 1995) SPLIT SKYSCRAPERS (Al Brick, USA 1924) STRANGER ON THE THIRD FLOOR (Boris Ingster, USA 1940) STREET SCENE (King Vidor, USA 1931) SUPERFLY (Gordon Parks Jr., USA 1972) SUNRISE (Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1927) SUNSET BOULEVARD (Billy Wilder, USA 1950) SWEET SWEETBACK’S BAADASSSSS SONG (Melvin van Peebles, USA 1971) SWORDFISH (Dominic Sean, USA/AU 2001) SYLVESTER (Lupu Pick, D 1924) THE ASPHALT JUNGLE (John Huston, USA 1950)
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THE BIG HEAT (Fritz Lang, USA 1953) THE CAMERAMAN (Edward Sedgwick, Buster Keaton, USA 1928) THE CRIMSON KIMONO (Samuel Fuller, USA 1959) THE EXILES (Kent MacKenzie, USA 1961) THE FOUNTAINHEAD (King Vidor, USA 1949) THE GINGERBREAD MAN (Robert Altman, USA 1998) THE KILLER OF SHEEP (Charles Burnett, USA 1977) THE KILLERS (Robert Siodmak, USA 1946) THE LIFE AND DEATH OF 9413 – A HOLLYWOOD EXTRA (Robert Florey, Slavko Vorkapich, USA 1927) THE LOST WEEKEND (Billy Wilder, USA 1945) THE MALTESE FALCON (John Huston, USA 1941) THE MILLION DOLLAR HOTEL (Wim Wenders, D/UK/USA, 2000) THE NAKED CITY (Jules Dassin, USA 1948) THE OMEGA MAN (Boris Sagal, USA 1971) THE PUBLIC ENEMY (William A. Wellman, USA 1931) THE REPLACEMENT KILLERS (Antoine Fuqua, USA 1998) TIME CODE (Mike Figgis, USA 2000) TRAFFIC (Steven Soderbergh, D/USA 2000) TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND (Robert Flaherty, USA 1927) ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND (Michael Klier, BRD 1989) VON MORGENS BIS MITTERNACHT (Karl Heinz Martin, D 1920) WHILE THE CITY SLEEPS (Fritz Lang, USA 1956) WHITE HEAT (Raoul Walsh, USA 1949) WOHIN UND ZURÜCK (Axel Corti, AT/BRD/CH 1982/86) WOMAN IN THE WINDOW (Fritz Lang, USA 1944)
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS KAPITEL III: Metropolen in Transformation: Eine Zwischenbetrachtung Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:
Die filmische Transformation und ihre Umkehrung in DEMOLISHING AND BUILDING UP THE STAR THEATRE (1901) Die Endpunkte der räumlichen Transformation in KOYAANISQATSI (1982) Das Auseinandertreten von Topographie und Topologie in verzerrten Bildern des Urbanen in JONAS (1957) Visuelle Chiffren Manhattans und die Unmöglichkeit ihres Erfassens in MANHATTAN (1979)
KAPITEL IV: Die Produktion von Sichtbarkeit: Zum frühen Stadtfilm der zwanziger Jahre Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15:
Überlagerung von Innen- und Außenraum als Schattenspiel in DIE STRASSE (1923) Armut, Verfall und Trostlosigkeit als Schattenseiten der Großstadt in DIE FREUDLOSE GASSE (1925) Einschreibung des Großstadtchaos in das ländliche Idyll in SUNRISE (1927) Die idyllische Überformung der bewegten Großstadtstraße in SUNRISE (1927) Die Konfiguration des Übergangs zwischen Tag und Nacht als zwei Seiten städtischen Lebens in ASPHALT (1929) Die bedrohliche Bewegung der Hausfassade des Grandhotels Atlantic in DER LETZTE MANN (1924) Übergänge von fotografischer Statik und filmischer Bewegung in SUNRISE (1927) Die Flucht aufs Land und die entleerte Stadt in MENSCHEN AM SONNTAG (1930) Die filmische Abstraktion und die Struktur der Großstadt in BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927) Die Einschreibung der Kamera in den städtischen Raum in DER MANN MIT DER KAMERA (1929) Das Wechselspiel der Künste zwischen Lyrik, Malerei und Fotografie in MANHATTA (1920/21)
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JENSEITS DES RAUMS
Abb. 16: Expressionistische Verzerrung und Schematisierung des Urbanen in A HOLLYWOOD EXTRA (1927) Abb. 17: Unnahbare Statik, entfesselte Beweglichkeit und bewegter Stillstand in SKYSCRAPER SYMPHONY (1929) Abb. 18: Vereinzelung und Isolierung der Elemente des städtischen Alltags in A BRONX MORNING (1931) Abb. 19: Kartographische Annäherungen in TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND (1927) KAPITEL V: Das Unsichtbare der Metropolen: Film noir der vierziger und fünfziger Jahre Abb. 20: Harte Licht-Schatten-Kontraste in PHANTOM LADY (1944), SLEEP, MY LOVE (1948) und SCARLET STREET (1945) Abb. 21: Lichter der Großstadt im Fenster des Detektivs in THE MALTESE FALCON (1941) Abb. 22: Fensterausblicke der Arztpraxis, der Polizeistation und der Wohnung der Ermordeten in THE NAKED CITY (1948) Abb. 23: Nuancen des Jalousienmotivs und die Verstrickung der Figuren in das Verbrechen in DOUBLE INDEMNITY (1944) Abb. 24: Gemälde, Spiegel und Spiegelungen in WOMAN IN THE WINDOW (1944) und in LAURA (1944) Abb. 25: Begegnung mit Kitty in Mexiko als ‚anderem Ort‘ in OUT OF THE PAST (1947) Abb. 26: Wegstrecken und Befragungen des Ermittlers in THE NAKED CITY (1948) Abb. 27: Die Planung des Verbrechens an Transitorten in DOUBLE INDEMNITY (1944) Abb. 28: Innerstädtische Leerstellen, Brachflächen und Suburbia in THE ASPHALT JUNGLE (1950) und THE BIG HEAT (1953) Abb. 29: Einzug der Noir-Stadt in ländliche Gebiete durch Leuchtreklamen und Jahrmarkt in GUN CRAZY (1950) Abb. 30: Die Vermessung der Stadt durch genaue Ortsangaben in THE NAKED CITY (1948) Abb. 31: Szenen des alltäglichen Lebens in Manhattan in THE NAKED CITY (1948) Abb. 32: Einsatz von Medien und technischen Apparaturen in CALL NORTHSIDE 777 (1948) Abb. 33: Die Transformation der Noir-Stadt in THE NAKED CITY (1948) KAPITEL VI: Fragmentierte Sichtbarkeiten: Episodenfilme der achtziger und neunziger Jahre Abb. 34: Die Vereinzelung und Fragmentierung des Blicks in den Life Lessons der NEW YORK STORIES (1989)
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb. 35: Der Verfall der Großstadt und verhinderte Blicke auf Manhattan in SMOKE (1995) Abb. 36: Direkte, visuelle Verbindungslinien und das Relationale in SHORT CUTS (1993) Abb. 37: Die kartographische Vermessung der Metropole Los Angeles im Abspann von SHORT CUTS (1993) Abb. 38: Das Umherschweifen und die permanente urbane Passage in PERMANENT VACATION (1980) Abb. 39: Bewegungen und Übergänge im Vorspann von NACHTGESTALTEN (1999) Abb. 40: Die drei Stationen der Reise von Jerzy und Ewa in ÜBERALL IST ES BESSER, WO WIR NICHT SIND (1989) Abb. 41: Das Verhältnis von Metropolen und Welt in NIGHT ON EARTH (1991) Abb. 42: Das Generische der Städte in den Einleitungssequenzen der Episoden in NIGHT ON EARTH (1991) Abb. 43: Die Macht des Zufälligen und seine Rekonstruktion in MAGNOLIA (1999) Abb. 44: Öffnung der Magnolienblüte und rhizomatische Relationen in MAGNOLIA (1999) Abb. 45: Visuelle Korrespondenzen und Figurenchoreographie in TIME CODE (2000) KAPITEL VII: Epilog: Zwischen Topographie und Topologie. LOS ANGELES PLAYS ITSELF Abb. 46: Das Aufrufen der nächtlichen Metropole in THE CRIMSON KIMONO (1959) Abb. 47: Die ‚Filmkarriere‘ des Bradbury Buildings in LOS ANGELES PLAYS ITSELF (2003) Abb. 48: Der Stadtteil Bunker Hill als ‚forgotten fragment of the city‘ in seinem filmhistorischen Verlauf in LOS ANGELES PLAYS ITSELF (2003) Abb. 49: Bunker Hill und der schrittweise Verfall in THE EXILES (1961) Abb. 50: Ein Kino der Fußgänger, ein Kino des Sehens in THE KILLER OF SHEEP (1977) und BUSH MAMA (1979)
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DANKSAGUNG Mit diesem Buch geht eine sehr intensive, bereichernde und entscheidende Zeit zu Ende, die von vielen Menschen getragen wurde, denen ich zu größtem Dank verpflichtet bin. Die einzelnen Phasen, die mich zuletzt in die Gedankengänge eines Jenseits des Raums geführt haben – von der allerersten Beschäftigung mit Raumtheorien über die Zeit der Metropolenforschung bis hin zum Entwurf einer filmischen Topologie –, waren von Menschen geprägt, die mir nicht allein beigestanden und mich in jeglicher Hinsicht unterstützt haben, sondern die darüber hinaus die Grundlagen meines Denkens immer wieder bereicherten und veränderten. Mein erster und größter Dank geht an meinen Betreuer, Herrn Prof. Dr. Erhard Schütz, mich in der ganzen Zeit auf allerbeste Weise beraten, betreut und gefördert hat – auch und gerade in den komplizierten Phasen. Durch sein großes Vertrauen in meine Arbeit und seine unglaubliche Loyalität und Unterstützung war die Ausführung meiner Arbeit überhaupt erst möglich – und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Einen ebenso großen und tiefen Dank möchte ich Herrn Prof. Dr. Lorenz Engell aussprechen, der mir in der Phase der Überarbeitung des Buchs so entscheidende Impulse gegeben hat. Durch seine Begeisterung und sein konsequentes Vorausund Weiterdenken meiner Ansätze hat er die konzeptuellen Grundlagen dieses Buchs ungemein vorangetrieben und gefördert. Dass die Arbeit nun in dieser Form vorliegt, habe ich allein ihm zu verdanken. Die Phase des Graduiertenkollegs war geprägt von intensiven Diskussionen und einer Vielfalt der Perspektiven, die den Horizont meiner Arbeit kontinuierlich erweitert haben. Der Austausch zu raum- und stadttheoretischen Fragestellungen, der dort stattgefunden hat, war in jeder Hinsicht eine große und nachhaltige Bereicherung. Mein größter Dank geht hier an Herrn Prof. Dr. Heinz Reif, der das Graduiertenkolleg Geschichte und Kultur der Metropolen im 20. Jahrhundert mit so viel Engagement und persönlichem Einsatz geführt und sich in beispielloser Weise auf jedes einzelne Thema eingelassen hat. Auf New Yorker Kollegsseite möchte ich insbesondere Herrn Prof. Volker Berghahn und Herrn Prof. Stefan Andriopoulos für die so herzliche Aufnahme und die Einführung in eine ganz neue Universitätskultur ebenso wie für die zahlreichen, immer gewinnbringenden Gespräche danken. Vor allem aber habe ich in dieser 427
JENSEITS DES RAUMS
Zeit immer bleibende Freunde gewonnen: Susanne Stemmler, Max Hirsh, Johannes Novy, Anita Schlögl, Thorsten Dame, Pe-Ru Tsen, Asta von Buch, Sandra Huning, Nicole Münnich, Katja Sussner, Ignacio Farías und viele andere waren und sind immer an meiner Seite, haben dieses Projekt verfolgt, mit mir diskutiert und waren die beste nur denkbare Unterstützung. Die Phase der Überarbeitung dieses Buchs war vom wissenschaftlichen Umfeld des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie geprägt, das die Ausgangsbedingungen und Zielpunkte meines Denkens auf intensive Weise beeinflusst und modifiziert hat. Die Arbeit in diesem hochkarätigen Forschungszusammenhang noch einmal weiterentwickeln zu dürfen war über alle Maßen bestärkend und ein großer Gewinn. Mein Dank geht hier vor allem an die beiden Direktoren, Herrn Prof. Dr. Bernhard Siegert und – erneut – Herrn Prof. Dr. Lorenz Engell, die mein Buch mit ihrem Wissen und ihrem Vertrauen so stark getragen und bereichert haben, ebenso wie ich meinen wunderbaren KollegInnen danken möchte – André Wendler, Michael Cuntz, Adina Lauenburger, Leander Scholz und Harun Maye –, mit denen mich in Zukunft hoffentlich noch viele gemeinsame Projekte verbinden werden. Für die umsichtige, kompetente und ungemein freundliche Betreuung meiner Publikation danke ich dem transcript Verlag, insbesondere Herrn Gero Wierichs, der mir in allen großen und kleinen Fragen immer unmittelbar und auf beste Weise weitergeholfen hat. Mein Dank geht außerdem an Frau Dr. Karin Werner für die wunderbare Chance, mit den Urbanen Welten das Verlagsprogramm ein Stück mitzugestalten. Weiterhin danke ich dem Center for Metropolitan Studies Berlin und dem IKKM Weimar für die sehr großzügige Unterstützung des Drucks sowie der FAZIT-Stiftung für die Gewährung eines Abschlussstipendiums der Promotion. Nicht zuletzt gilt mein Dank denjenigen Menschen, die mich in allen Phasen immer wieder gestärkt, die meine Begeisterung und meine Bedenken geteilt haben und die einfach immer für mich da waren. Ich danke Frau Prof. Dr. Renate Möhrmann für ihr tiefes und unbeschreibliches Vertrauen; ich danke Julika Zimmermann für das großartige und bewundernswerte Lektorat ebenso wie für ihre große Freundschaft; ich danke Lisa Gotto und Björn Bohnenkamp, die nicht nur wunderbare Gesprächspartner, sondern darüber hinaus enge Freunde sind. Ich danke von ganzem Herzen meiner Familie, die den allergrößten Anteil am Fortgang dieses Buchs genommen hat, die zu jedem Zeitpunkt mitgefiebert und mitgehofft hat und dadurch eine unermessliche Unterstützung war. Und ich danke meinen Freunden, ohne die diese Phase meines Lebens gar nicht denkbar gewesen wäre: Akiko Bernhöft, Christina Lust, Katharina Schäfer, Annie Boeurneuf, Benjamin Lytal, Eva Hausdorf, Arno Kunert, Iris Willmeroth, Valeska Schwieren und, von Herzen, Mina Tander.
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