Jugend und Gender in Marokko: Eine Ethnographie des urbanen Raums 9783839446317

The book deals with discourses on sexuality and gender and gives an overview of current social transformation processes

199 43 3MB

German Pages 412 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Traditionelle Vorstellungen von Jungfräulichkeit
3. Die Institution der Ehe
4. Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung
5. Deviante Praktiken als Rituale des Widerstands
6. Die Rolle der Medien
7. Tradierte Normen und juristische Rahmenbe dingungen
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
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Jugend und Gender in Marokko: Eine Ethnographie des urbanen Raums
 9783839446317

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Alewtina Schuckmann Jugend und Gender in Marokko

Kultur und soziale Praxis

Alewtina Schuckmann (Dr.) promovierte in Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Alewtina Schuckmann

Jugend und Gender in Marokko Eine Ethnographie des urbanen Raums

Zugl. Dissertation im Fach Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt, Fachbereich 08. Sigelziffer D.30 DFG-gefördertes Forschungsprojekt: Transformationen von Geschlechterverhältnissen in Marokko (Geschäftszeichen: SCHR 602/10-1)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Yacine Heikalane Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4631-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4631-7 https://doi.org/10.14361/9783839446317 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1

Einleitung | 9

1.1 1.2 1.3 1.4

Methoden und inhaltliche Reflexionen | 23 Grenzen des Sagbaren | 28 Forschungsstand | 30 Aufbau der Arbeit | 52

2

Traditionelle Vorstellungen von Jungfräulichkeit | 55

2.1 Das Gebot der Jungfräulichkeit – religiöse Dimension | 56 2.2 Das Diktat der Jungfräulichkeit – soziale Dimension | 60 2.3 Kultur der Reputation – das Scham- und Ehrkonzept | 62 2.4 Frauen im öffentlichen Raum | 68 2.5 Die Furcht vor der weiblichen Selbstbestimmung | 78 2.5.1 Die List der Frauen | 88 2.5.2 Magie und Verführungskunst der Frau | 90 2.6 Rituale im Wandel – Traditionelle und neue Vorstellung von Virginität | 93 2.6.1 Das „Schließungsritual“ (Tqaf) | 94 2.6.2 Die ‚Bettlaken-Schau‘ | 96 2.6.3 ‚Künstliche Jungfrauen‘ | 100 2.6.4 Exkurs weibliche Zirkumzision | 106 2.7 Gelebte Realität – Jungfräulichkeit im heutigen Sinne | 109 Die Institution der Ehe | 113 3.1 Der hohe Stellenwert der Familie | 114 3.2 Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft | 120 3.3 Die Ehe als absoluter Imperativ | 123 3.4 Die soziale Bedeutung der Ehe | 132 3.5 Das Diktat der Ehe im Wandel der Zeit | 138 3.5.1 Die Hochzeitszeremonie | 139 3.5.2 Die Wahl der Heiratspartner | 142 3.5.3 Traditionelle Vorstellungen im Wandel | 146 3

4

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 157

4.1 Bildung in Marokko | 160 4.1.1 Das marokkanische Schulsystem | 161 4.1.2 Studentenrevolten | 166 4.1.3 Die Arabisierung des Schulsystems | 175 4.2 Die Bildungssituation der Frauen | 187 4.2.1 Frauen und Bildung in Geschichte und Gegenwart | 187 4.2.2 Frauen in der Politik | 193 4.3 Die Misere der Jugend | 195 4.3.1 Jugendarbeitslosigkeit in Marokko | 197 4.3.2 Das Versprechen des Staates | 198 4.3.3 Jugend in der waithood | 207 4.4 Das Studium als Zäsur | 212 4.4.1 Der Universitätscampus als physischer Freiraum | 214 4.4.2 Die Bedeutung der Bildung – Werte im Wandel | 218 5

Deviante Praktiken als Rituale des Widerstands | 225

5.1 Relative Jungfräulichkeit | 226 5.2 Das „Multi-Beziehungsmodell“ | 229 5.3 Homosexualität | 233 5.4 Prostitution und ihre wirtschaftliche Bedeutung | 238 5.5 Substitute der Ehe | 242 5.5.1 Die ʿurfi-oder Fatiha-Ehe | 243 5.5.2 Die Genuss- oder Zeitehe | 246 5.6 Geographien der Sexualität | 250 5.7 ‚Soziale Hypokrisie‘ | 255 Die Rolle der Medien | 259 6.1 Die marokkanische Medienlandschaft | 261 6.2 „Marock“ und „Much Loved“ | 263 6.3 Klassische Medien in Marokko | 270 6.3.1 „Femmes du Maroc“ | 274 6.3.2 „Illi“ | 278 6.4 Neue Medien in Marokko | 281 6.4.1 Soziale Medien als virtuelle Freiräume | 285 6.4.2 Mobiltelefone | 289 6

6.5 Schnittstellen zwischen der „Online“- und „Online-Welt“ | 292 6.5.1 Das Cybercafé als realer Freiraum | 292 6.5.2 Neue Öffentlichkeit? – Synthese zwischen der „Online“- und „Offline-Welt“ | 295 6.5.3 Das Fallbeispiel „Kiss-Gate“ | 296 7

Tradierte Normen und juristische Rahmenbedingungen | 303

7.1 Der Code Pénal | 304 7.2 Die Reformpolitik Mohammeds VI. | 315 7.3 Zivilgesellschaft in Marokko | 321 7.3.1 Die Entstehung erster Menschenrechtsorganisationen | 323 7.3.2 Die marokkanische Frauenbewegung | 326 7.3.3 Marokkanischer Feminismus | 330 7.4 Die Frauenrechtskonvention CEDAW | 334 7.4.1 Frauenrechtsorganisationen zwischen lokalen und globalen Kontexten | 339 7.4.2 Der Moudawanna-Reformprozess | 344 7.4.3 Das neue Familienrecht | 350 8

Fazit | 363

9

Literaturverzeichnis | 377

1 Einleitung „Die Menschenrechte der Frau umfassen auch ihr Recht, frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt über Angelegenheiten im Zusammenhang mit ihrer Sexualität, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, bestimmen und frei und eigenverantwortlich entscheiden zu können. Ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Frauen und Männern in Bezug auf die sexuellen Beziehungen und die Fortpflanzung, was die uneingeschränkte Achtung der Unversehrtheit des Menschen einschließt, erfordert gegenseitige Achtung, Einverständnis und gemeinsame Verantwortung für das Sexualverhalten und dessen Folgen.“ Bericht der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking1

Vor über zwanzig Jahren wurde das Recht der Frau auf ihren Körper und ihre Sexualität als Bestandteil der Frage nach sozialer Gerechtigkeit erkannt und als Forderung formuliert. Trotz zahlreicher unterzeichneter internationaler Konventionen, die den Richtlinien internationaler Kodizes entsprechen und gesellschaftlichen Fortschritt (etwa in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft) markieren, also als ein Indiz für sozialen Wandel gelten können, gehören für marokkanische Frauen Diskriminierungen auf juristischer (bspw. im Familien- und Strafrecht), personeller (Vormundschaft männlicher Familienangehöriger), wirtschaftlicher (Erbschaft,

1

Vereinte Nationen: Bericht der vierten UN-Weltfrauenkonferenz in Peking, 4.15.09.1995, Abschnitt C, Nr. 96.

10 | Jugend und Gender in Marokko

Berufstätigkeit) und politischer Ebene (Gesetzgebung, Unterrepräsentanz im Parlament) zum Alltag. Gerade im Bereich der Geschlechterverhältnisse und der Gendergerechtigkeit werden die eingangs zitierten Bestimmungen verletzt. Es existiert nicht nur eine Kluft zwischen der bestehenden Gesetzeslage und deren praktischer Anwendung, sondern auch zwischen kodifizierten Rechten und den Rollen, die Frauen in privaten und öffentlichen Räumen einnehmen. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Diskursen über Sexualität und mit gegenwärtigen sozialen Transformationsprozessen2 in Marokko. Der Fokus liegt auf Veränderungen der Geschlechterverhältnisse, die als ein Ausdruck für sozialen Wandel betrachtet werden können. Dafür werden, um mit Foucault zu sprechen, die Mechanismen der Macht3 analysiert, die die Sexualität kanalisieren und kontrollieren. Nach Foucault entsteht Macht über Machtbeziehungen bzw. Machtverhältnisse zwischen Individuen oder Personengruppen. Dabei ist Macht stets mit Wissen konnotiert. Beide schließen einander unmittelbar mit ein, was bedeutet, dass es keine Machtbeziehung gibt, die sich ohne „ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“4 Um Machtbeziehungen untersuchen zu können, ist es nach Foucault notwendig, „die Instanzen der diskursiven Produktion […], der Produktion von Macht (die manchmal Verbotsfunktionen besitzt) und der Wissensproduktionen […] zu untersuchen.“5 Diskurs im Foucaultschen Sinne meint, wie im französischen Sprachgebrauch, alles Gesprochene oder Geschriebene, was in einer Gesellschaft produziert wird.6 Nach seinem Verständnis ist jeder sprachliche Akt und „jedes

2

In der vorliegenden Arbeit wird dieser Begriff mit dem Terminus „sozialer Wandel“ synonym verwendet. „Sozialer Wandel“, oder der „soziokulturelle Wandel“, gehört zu den allgemeinen Grundbegriffen der Soziologie und umfasst im Allgemeinen sowohl den Wandel struktureller Elemente des Systems als auch Veränderungen kultureller Werte und Normen. Vgl. Jäger, Wieland/Meyer, Hanns-Joachim: Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart (=Hagener Studientexte zur Soziologie), Wiesbaden 2003, S. 17.

3

Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 202014,

4

S. 19.

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977, S. 39. Er spricht dabei von dem „Macht/Wissen-Komplex“. Ebd.

5

Foucault 2014, S. 20.

6

Vgl. Foucault 1993, S. 10.

Einleitung | 11

geschriebene Ding“7 ein Diskurs, weshalb dieser auch nicht auf einen bestimmten Autor zurückgeht, sondern vielmehr verwoben in die Gesellschaft und ihre Institutionen ist.8 Diskurse sind Träger von Wissen und damit von Macht. Sie können als Machtinstrumente eingesetzt werden, wobei derjenige Macht besitzt, der den Diskurs produziert und lenkt. Der Diskurs ist nach Foucault somit „dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht.“9 Es herrscht eine große Angst vor dem unbändigen Diskurs, vor seiner Unkontrollierbarkeit, weil er etwas Ordnungsloses und Gefährliches birgt. Deshalb wird versucht, den unbeschränkten Diskurs einzudämmen.10 Die Kontrolle des Diskurses wird über Institutionen durch „Verbote, Verweigerungen, Zensuren [und] Verneinungen“ ausgeübt.11 Insbesondere in dem Bereich der Sexualität wird dies besonders deutlich. In Die Ordnung des Diskurses spricht Foucault sich für die Notwendigkeit aus, „die literarischen, die religiösen oder ethischen, die biologischen und medizinischen und gleichfalls die juristischen Diskursgruppen zu analysieren, in denen von der Sexualität die Rede ist und in denen diese genannt, beschrieben, metaphorisiert, erklärt, beurteilt ist.“12 Er geht davon aus, dass „in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“13

Der gängigste Weg den Diskurs zu kontrollieren verläuft über Verbote, deren drei Typen das Ritual der Umstände, das bevorzugte oder ausschließliche Recht des sprechenden Subjektes und das Tabu des Gegenstandes sind. Letzteres ist im Kontext der vorliegenden Arbeit von Bedeutung, denn Foucault nennt zwei Bereiche,

7

Ebd.

8

Vgl. ebd., S. 10f.

9

Ebd. S. 11.

10 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1993, S. 33. 11 Foucault 2014, S. 19. 12 Foucault 1993, S. 42. 13 Ebd. S. 10f.

12 | Jugend und Gender in Marokko

die am zahlreichsten Verboten unterliegen: die Sexualität und die Politik.14 Und damit wären wir schon beim zentralen Gegenstand der Arbeit. Marokko ist qua Verfassung eine islamische Monarchie. Der Islam zählt seit seinem Einzug in das nordafrikanische Land im Jahre 712 als Staatsreligion und zu den wichtigsten Säulen des Staates.15 Die Beziehung der Geschlechter wird in Marokko von religiösen Normen und patriarchalen Konzepten bestimmt. Das islamische Recht und seine Auslegung16 bildet die Grundlage für die rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Frau in Marokko. Insbesondere die weibliche Sexualität erfährt eine soziale Tabuisierung und es wird versucht, sie durch einen rigiden Normenkatalog zu kontrollieren. Dies liegt zum einen daran, dass die freie Entfaltung weiblicher Sexualität als Quelle gesellschaftlichen Un-

14 Vgl. ebd., S. 11. 15 Vgl. Sadiqi, Fatima: Women, gender and language in Morocco, Leiden 2003, S. 40. 16 In Marokko richtet sich die Auslegung nach der malikitischen Rechtsschule (madhab). Im Islam existieren insgesamt vier große sunnitische Rechtsschulen (madhahib): die hanafitische, die malikitische, die schafiitische und die hanbalitische.

Einleitung | 13

gehorsams bzw. sozialen Chaos (fitna)17 betrachtet wird. Zum anderen hängt vom moralischen Verhalten der Frau die Ehre ihrer Familie ab.18 Die sexuelle Selbstbestimmung ist eine Frage sozialer Gerechtigkeit und ein Menschenrecht. In der patriarchal geprägten und gendersegregierten Gesellschaft Marokkos gehört das Thema Sexualität jedoch nicht zum privaten Bereich, sondern untersteht staatlicher Kontrolle. Foucault stellt im ersten Band seines dreiteiligen Werks Der Wille zum Wissen fest, dass „[d]er Staat [wissen] muß […], wie es um den Sex seiner Bürger steht“.19 Diesem Bemühen liegt der Anspruch des Staates zugrunde, das Bevölkerungswachstum zu sichern, um Humankapital zu ‚produzieren‘ und die gesellschaftlichen Beziehungsstrukturen aufrecht zu erhalten. Dem Staat geht es also darum „eine ökonomisch nützliche und politisch konservative Sexualität zu bilden“.20 Deswegen habe er den Bereich der Sexualität, mittels geleiteter Diskurse und Gebote für sich beansprucht. „Die auf den Sex gerichteten Verbote“,

17 Fitna hat viele Bedeutungen. Wörtlich übersetzt bedeutet es „Anfechtung“. Häufig wird es mit „Verführung“, im Sinne eines Verhaltens, das darauf zielt, eine bestehende Ordnung zu stören, übersetzt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird es daher als Synonym für soziales Chaos verwendet, im Sinne von einem von Frauen hervorgerufenen sexuellen Durcheinander. Fitna bedeutet auch „Unruhe“, „Aufruhr“ oder „Störung“. Diese kann aus zwei Quellen entstehen: einerseits aus politischen Erhebungen gegen den Machthaber und die Ordnung der Shariʿa, andererseits aus ihrer Auflehnung gegen die Männerdominanz. Darüber hinaus kann fitna sogar als Synonym für ‚Frau‘ per se gebraucht werden, im Sinne einer femme fatale, durch die die Männer die Kontrolle über sich selbst verlieren könnten. Vgl. Mernissi, Fatima: Geschlecht, Ideologie, Islam, München 1991, S. 12, 27, 29, 43; vgl. Chebel, Malek: Die Welt der Liebe im Islam. Eine Enzyklopädie. Erotik, Schönheit und Sexualität in der arabischen Welt, in Persien und der Türkei, München 1997, S. 125f. Der einfacheren Lesbarkeit halber werden arabische Namen, Eigennamen und Begriffe nach der gängigen deutschen Schreibweise wiedergegeben, die sich jedoch an den Transkriptionsregeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) orientiert. 18 Vgl. Abu-Lughod, Lila: Veiled sentiments. Honor and poetry in a Bedouin society, Berkeley 1986; vgl. Mernissi, Fatima: „Virginity and patriarchy“, in: Women’s Studies International Forum, 5 (2) 1982, S. 183-191. 19 Foucault 2014, S. 32. 20 Ebd., S. 41.

14 | Jugend und Gender in Marokko

so Foucault weiter, seien „wesentlich juridischer Natur“.21 Die Judikative stellt auch in Marokko die entscheidende Instanz bei der Umsetzung dieser Vorschriften dar. Als Hauptinstrument zur Durchsetzung dieser Vorschriften dient dem marokkanischen Staat das Strafgesetzbuch (Code Pénal), worin Normen kodifiziert und sittliches Verhalten von unsittlichem differenziert werden.22 Folgende Gesetzesartikel sind als Haupthindernis für die persönliche Entfaltung und individuelle Freiheiten anzusehen, weil sie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, reproduktive Gesundheit und individuelle Freiheiten verwehren: Artikel 490 stellt vorehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe. Gemäß diesem Artikel sind sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe illegal und können zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr führen.23 Artikel 492 setzt außerehelichen Geschlechtsverkehr mit Prostitution gleich. Die Artikel 449 bis 458 verbieten die Abtreibung und erklären sie zu einem Angriff auf die öffentliche Moral.24 Und schließlich kriminalisiert Artikel 489 die Homosexualität.25

21 Ebd., S. 43. 22 Dieser basiert seit der französischen Protektoratszeit (1912-1956) auf dem französischen Code civil bzw. dem Code Napoléon. 23 Artikel 490 beinhaltet das voreheliche Sexual-Verbot (Delikt: „Unzucht“, arab.: zina). Bei Verstoß droht eine Gefängnisstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr. Ehebrecher werden sogar mit zweijähriger Haft bestraft (Art. 491). Der Originaltext lautet: „Sont punies de l’emprisonnement d’un mois à un an, toutes personnes de sexe différent qui, n’étant pas unies par les liens du mariage, ont entre elles des relations sexuelles“. Übers. d. Verfasserin: Alle Personen unterschiedlichen Geschlechts, die nicht durch das Band der Ehe vereint sind und eine sexuelle Beziehung haben, sind mit einem Monat bis zu einem Jahr zu bestrafen. Vgl. Artikel 490, Code Pénal 1962. 24 Die Artikel 449 bis 458 werden als „Verbrechen und Delikte gegen die Familienordnung und öffentliche Moral“ subsumiert, Code Pénal 1962. 25 Artikel 489 behandelt das Verbot der Homosexualität. Das Delikt wird als „Akt wider die Natur“ bezeichnet und mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren geahndet. Gesellschaftlich wird Homosexualität als Perversion (choudoud), also als eine Anomalie, betrachtet. Der Originaltext lautet: „Est puni de l’emprisonment de six mois à trois ans et d’une amende de 200 à 1000 dirhams, à moins que le fait ne constitue une infraction plus grave, quiconque commet un acte impudique ou contre nature avec un individu de son sexe.“ Übers. d. Verfasserin: Jeder, der eine unzüchtige Handlung oder eine Handlung gegen die Natur mit einem gleichgeschlechtlichen Individuum eingeht, wird mit einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft, wenn nicht ein

Einleitung | 15

Diese Artikel unterhöhlen allesamt die freiheitlichen Rechte des Individuums, die seit der Verfassungsreform von 2011 unter ihrem Schutz stehen.26 Die Juraprofessorin und Frauenrechtlerin Malika Benradi, die auch in der Kommission zur Reform des Familienrechts und als Rechtsberaterin bei der Verfassungsreform fungierte, sagte mir in einem Interview, der Code Pénal sei ein Spiegel der Gesellschaft, weil er das politische System und das Wertesystem der Gesellschaft reflektiere.27 Die meisten muslimischen Länder entfernten nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit, teilweise auch schon während der Kolonialzeit, die islamische Gesetzgebung aus ihrem Rechtssystem. Nur im Familienrecht und, in Bezug auf sexuelle Vergehen, auch in Teilen des Strafrechts behielten sie die Shariʿa als Gesetzesgrundlage bei.28 Das heißt also, dass die Gesetze, die sich thematisch auf die Frau, die Familie und die Sexualität beziehen nach religiösem Recht und alle anderen Gesetzesbücher nach positivem Recht geregelt sind. Die Shariʿa macht diese Gesetze zu etwas Absolutem und nicht Verhandelbarem, da Gottes Gesetz stets über dem von Menschenhand gemachten steht. Einzig Tunesien und der Jemen haben ein ziviles Familienrecht, wobei auch dort wiederum Einflüsse des islamischen Rechts enthalten sind.29 Das Familienrecht beinhaltet nicht nur Regelegungen für die Ehe und Familie, sondern auch die Privatsphäre und den Status der Frau.30 Es war bedeutend im Prozess der Staatsbildung, da es die soziale Reproduktion der Grundeinheit der Gesell-

schwereres Verbrechen [gemeint ist eine Vergewaltigung oder die Tat mit einem oder einer Minderjährigen] vorliegt. Vgl. Artikel 489, Code Pénal 1962. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Homosexualität bis 1994 auch in Deutschland im Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches unter Strafe stand. Für homosexuelle Handlungen war eine Freiheitsstrafe mit bis zu fünf Jahren vorgesehen. 26 Vgl. Artikel 6, La Constitution Marocaine 2011. 27 Interview mit Malika Benradi am 3.07.2013 in Rabat. 28 Vgl. Ilkkaracan, Pinar: „Women, Sexuality and Social Change in the Middle East and the Maghreb“, in: Social Research: An International Quarterly, Vol. 69 (3) 2002, S. 753-779, S. 759. 29 Vgl. Joseph, Suad: „Gender and citizenship in the Arab world“, (concept paper), in: United Nations Development Program/ Maroc 20/20: Mediterranean Development Forum, Amman (8.04.2002), S. 21. 30 Vgl. Ilkkaracan 2002, S. 759.

16 | Jugend und Gender in Marokko

schaft, namentlich der Familie, reguliert.31 Nicht ohne Grund war die Debatte, die den Reformprozess um das Familienrecht in Marokko begleitete, ein emotional aufgeladener, die Gesellschaft in zwei Lager teilender Aushandlungsprozess zwischen Modernisten und Konservativen.32 Der Grund dafür liegt im Gegenstand des Familienrechts, der die islamische Gesellschaft im Kern traf: die Familie und die Frau, das Heiligtum des privaten Raums. Der Konflikt entfachte sich insbesondere an Auseinandersetzungen, die die Stellung der Frau in der Gesellschaft per se betrafen. Die Vehemenz, mit der die Debatte um die Reform des Familienrechts geführt wurde, bestimmt nun aktuell auch den Diskurs um eine Reform des Strafgesetzbuches. In Marokko herrscht somit eine Dichotomie im Rechtssystem, also zwischen islamischem und positivem Recht, die selbst innerhalb eines Gesetzbuches ersichtlich ist, denn obwohl das Strafgesetzbuch eigentlich auf positivem Recht33 basiert, richten sich alle Artikel, die die Sexualität betreffen, nach einer streng patriarchalen Auslegung der Shariʿa.34 Das Verbot außerehelicher sexueller Praktiken wird somit religiös legitimiert und dient den Gesetzgebern als Rechtfertigung für die Unantastbarkeit dieser Artikel, was Bemühungen um ihre Modifizierung erschwert. Die hierin enthaltenen Strafen haben ihren Ursprung im Koran und zählen allesamt zu den sogenannten Hadd-Strafen („Grenzstrafen“).35 In der islamischen Rechtsprechung bezieht sich dieser Terminus auf die Bestrafung bestimmter Handlungen, die im Koran verboten sind. Da sie als Verbrechen gegen die Religion gelten, werden sie auch als „koranische Strafen“ bezeichnet. Im Koran heißt es in Sure 65:1: „Wer die Gebote Gottes übertritt, frevelt gegen sich selber (indem er sich ins Unrecht setzt).“36 Zu diesen „Übertretungen“ gehören: Unzucht (zina), falsche

31 Vgl. Joseph, Suad/ Slyomovics, Susan (Hg.): Women and power in the Middle East, Philadelphia 2001, S. 16. 32 Die Debatte um das Familienrecht wird in Kapitel 7 dieser Arbeit eingehend vorgestellt. 33 Vom Menschen gemachtes Recht im Gegensatz zu religiösem Recht, welches als von Gott gemachtes Recht verstanden wird. 34 Ibnouzahir, Zineb Lahlou: „Notre corps, objet de tous les scandales“, in: Femmes du Maroc (1.09.2011). 35 Sie werden auch als hudūd allah („Grenzen Gottes“) bezeichnet. Hadd (Pl.: hudūd) bedeutet „Hindernis“ oder „Grenze“. 36 Der Koran, Sure 65:1, übers. von Rudi Paret, Stuttgart 102007. In der vorliegenden Arbeit wird durchgehend die Koranübersetzung von Rudi Paret verwandt. Die Klammern in Pa-

Einleitung | 17

Beschuldigung der Unzucht (qadhf), der Verzehr von Wein (khamr), Diebstahl (sariqah) und Straßenräuberei (qat‘ al-tariq).37 Dabei wird beispielsweise Unzucht, worunter vorehelicher oder außerehelicher Geschlechtsverkehr gemeint ist, mit achtzig Peitschenhieben bestraft.38 Al-Ghazali bezeichnet Unzucht in seinem Werk Das Buch der Ehe als schändlich, als ein Verbot Gottes und „als eine greuliche Sünde und ein schweres Verbrechen.“39 Die Hadd-Strafen sollen der Sicherung der göttlichen Ordnung dienen. Bei AlGaziri heißt es hierzu: „Der Nutzen der „Grenz“-Strafen liegt in der Beseitigung der Verderbnis der Gesellschaft, in der Bewahrung der Seelen vor der Verdammnis, im Schutz der Ehre, in der Sicherung der Genealogie vor Vermischung, schließlich darin, daß [sic!] das Vermögen frei von mutwilliger Vergeudung gehalten wird.“40

Hier zeigt sich, dass die Hadd-Strafen einen moralischen Imperativ ausdrücken. Der „Schutz der Ehre“ bezieht sich auf die Ehre des Mannes. Diese kann durch ein Fehlverhalten der Frau verletzt werden, insbesondere durch ihre außereheliche sexuelle Aktivität. Innerhalb der Ehe wird Sexualität hingegen ausdrücklich befürwortet. Sexualität in diesem legalen Rahmen dient der Reproduktion und soll die Nachkommenschaft (und Vergrößerung) der Umma (Gemeinschaft der Gläubigen) sichern. Würde eine Frau eine außereheliche sexuelle Beziehung eingehen, wäre nach diesem Verständnis auch die im obigen Zitat erwähnte „Sicherung der Genealogie“ gefährdet. Mernissi zufolge hat die Vaterschaft erst mit dem Aufkommen des Islam den hohen Stellenwert erhalten, der ihr heutzutage beigemessen wird.41 Die Hadd-Strafen

rets Koranübersetzung verdeutlichen die mannigfaltigen Übersetzungsmöglichkeiten bzw. die Mehrdeutigkeit der arabischen Sprache. 37 Vgl. Al-Tabarī, Muḥammad Ibn-Ǧarīr: The history of al-Tabarī, Band 8: The victory of Islam, (übers. von Michael Fishbein), Albany NY 1997, S. 63. 38 Der Koran, Sure 24:4. 39 Al-Ghazali, Abu Hamid: Das Buch der Ehe, (übers. von Thomas Bauer), Hildesheim 2000, S. 21. 40 Vgl. Al-Gaziri, Muhammad: Kitab al-fiqh ʿala l-madhahib al-ʿarbaʿa, al-muǧallad alhamis, kitab al-hudūd, Beirut o.J. Zit. n. Nagel, Tilman: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, S. 86. 41 Vgl. Mernissi 1991, S. 83.

18 | Jugend und Gender in Marokko

gelten, weil sie im Koran als „Grenzen Gottes“ festgeschrieben sind und daher zum religiösen Recht zählen, als unumstößlich.42 Die religiöse Grundlage galt bisher als das größte Hindernis für eine Reform der die Sexualität betreffenden Paragraphen des marokkanischen Strafgesetzbuchs. Jedoch gibt es einige Vertreter der Zivilgesellschaft, die sich für eine Modifizierung des Code Pénal einsetzen. Marokko hat eine sehr aktive Zivilgesellschaft. Insbesondere die Frauenrechtsorganisationen blicken auf eine lange Geschichte zurück und konnten in vielen Bereichen bereits Erfolge verzeichnen. Von besonderer Relevanz war ihre Arbeit im Reformprozess des marokkanischen Familienrechts (moudawanna) im Jahr 2004, an dem sie entscheidend mitwirkten. Die Umsetzung der Familienrechtsreform ist ein Beispiel dafür, wie Frauenrechtsorganisationen mit breiter Vernetzung, fachlicher Kompetenz sowie konstruktiver Mitarbeit eine aktive Beteiligung sowohl am religiösen Diskurs als auch am Reformdiskurs erreichen und somit Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen konnten. Anhand dieses Beispiels sollen potentielle Handlungsoptionen der Zivilgesellschaft für eine Reform des Strafgesetzbuchs aufzeigt werden. So wurde bspw. Artikel 475 des Code Pénal, der einen Vergewaltiger vor einer Freiheitsstrafe bewahrte, wenn er sein (minderjähriges) Opfer ehelichte, aufgrund zivilgesellschaftlichen Engagements im Jahr 2013 bereits revidiert. Der Grund für die Revision des Artikels war der Suizid eines sechzehnjährigen Mädchens, welcher eine große gesellschaftliche Debatte entfachte, die diese Rechtspraxis zu einem öffentlichen Thema machte. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird aufgezeigt werden, auf welche Schwierigkeiten zivilgesellschaftliche Akteure in ihren Bemühungen um eine Reformierung des Strafgesetzbuchs stoßen. Die Problematik liegt hierbei vor allen Dingen in den oben angeführten Paragraphen und ihrer Verwobenheit mit dem islamischen Recht. Da sie allesamt das öffentlich tabuisierte Thema „Sexualität außerhalb der Ehe“ betreffen, wagen es nur wenige Akteure des öffentlichen Lebens, dieses sozial prekäre Thema zu kritisieren. Khadija Riyadi, Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Association Marocaine des Droits Humains“ (AMDH), gehört zu diesen Akteuren, ebenso wie Ibtissame Lachgar, Kriminalpsychologin, LGBTI-Aktivisitin und Gründerin der Bewegung „Mouvement Alternatif pour les Libertés Individuelles“ (MALI). Sie gehört zu den lautesten Stimmen, die

42 Die hudūd (Grenzen) betreffen aber nicht nur das Verhältnis zwischen Gott und dem Gläubigen, sondern prägen auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Vgl. ebd., S. 154.

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für eine Aufhebung aller Verbote, die die individuellen Freiheiten der Bevölkerung einschränken, plädieren. Zu ihren Hauptanliegen zählt die Entkriminalisierung außerehelicher Beziehungen, der Homosexualität und der Abtreibung.43 Nicht nur Akteure der Zivilgesellschaft, sondern auch solche Individuen, die keiner Institution angehören und vermehrt auch junge säkular eingestellte oder links-orientierte Menschen, fordern zunehmend eine Reform des Strafrechts, die Abschaffung der Kriminalisierung ihrer sexuellen Beziehungen und damit eine Anpassung an ihre Lebenswirklichkeit. Nur wenn das Thema Sexualität enttabuisiert wird, können Opfer sexueller Gewalt sichtbar werden, können sie über das, was ihnen widerfahren ist, sprechen, und zwar ohne Gefahr zu laufen, für die Gräueltaten, die ihnen zugefügt wurden, bestraft zu werden und der Verstoßung aus ihrer Familie und damit aus der Gesellschaft ausgesetzt zu sein. Die Forderungen nach einer Strafrechtsreform scheinen inzwischen Gehör gefunden zu haben: Im Laufe der Verschriftlichung der vorliegenden Dissertation ereignete sich etwas, das während meiner Forschung so nicht für möglich gehalten worden wäre. Es scheint in der Politik ein Prozess des Umdenkens bezüglich einer Modifizierung des Strafgesetzbuches stattgefunden zu haben, denn seit Anfang 2015 wird an einer Reform des Strafgesetzbuchs gearbeitet. Auf das Reformprojekt wird in Kapitel 7.1 eingegangen. Solange das Strafgesetzbuch jedoch keiner grundlegenden Reform unterzogen wird, werden junge Erwachsene weiterhin kriminalisiert, wenn sie eine voreheliche Beziehung eingehen. Da die Ehe den einzigen legitimen Rahmen für sexuelle Handlungen bildet, stellt das Sexualverhalten unverheirateter junger Menschen eine Straftat dar. Die Jugendlichen können den Bund der Ehe jedoch häufig nicht eingehen, weil ihnen aufgrund der schwierigen sozioökonomischen Situation die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verwehrt bleibt.44 Aufgrund der hohen Arbeitslosenquote und der damit einhergehenden fehlenden Erwerbstätigkeiten sind sie außerstande sich eine eigene Wohnung zu leisten und gezwungen im Elternhaus wohnen zu bleiben. Somit fehlt ihnen die Möglichkeit der Existenz- und Familiengründung. Da einzig die Heirat den Übergang in das Erwachsenenalter initiiert, befinden sie sich, selbst nach dem Absolvieren einer Ausbildung, noch immer im Zustand der Unmündig-

43 Interview am 28.06.2013 in Rabat. 44 Die Jugendarbeitslosigkeit in Marokko beträgt derzeit 21,5% bei den unter 24-Jährigen. Vgl. Haut-Commissariat au Plan (HCP): Situation, évolution et principales caractéristiques du chômage et du sous emploi en 2016, Rabat 2016.

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keit und familiärer Abhängigkeit. Die jungen Erwachsenen verweilen, aufgrund der Ermangelung der Möglichkeit in die Erwachsenenwelt einzutreten, in einer Art ‚gesellschaftlichem‘ Vakuum, der sogenannten waithood,45 in der sie auf den Anschluss an die Erwachsenenwelt und ein selbstbestimmtes Leben warten. Die Dauer der Adoleszenz wird dadurch in die Länge gezogen, weshalb unter dem Begriff „Jugend“ in der arabischen Welt gemeinhin auch über Dreißigjährige noch geführt werden. Die junge Generation in muslimisch geprägten Ländern bildet bis zu zwei Drittel der Gesellschaft und stellt die soziale Gruppe dar, die zu den einflussreichsten ‚Agenten des sozialen Wandels‘ zählt.46 Das durchschnittliche Heiratsalter, welches in Marokko in den 1980er Jahren noch bei 22,2 Jahren bei Frauen und 27,1 Jahren bei Männern lag, ist bis heute bei beiden Geschlechtern um fast fünf Jahre angestiegen.47 Es besteht somit eine Kluft zwischen sozialer Realität und der Rechtslage. Diese Diskrepanz birgt ein enormes Konfliktpotential in der Lebenswelt48 junger Erwachsener. Das Verbot der Sexualität außerhalb der Ehe setzt die Jugendlichen einer starken psychischen Belastung aus, die bei jungen Frauen jedoch gravierender ausfällt, weil sie die Bürde der Familienehre tragen. Aufgrund des gestiegenen Heiratsalters lässt sich bei jungen Marokkanerinnen und Marokkanern jedoch zunehmend ein von der Norm abweichendes, subversives Verhalten beobachten, das die tradierten Sexualnormen herausfordert. Meinen Untersuchungen zufolge stellen Jugendliche bestehende Gesellschaftsnormen in

45 Ein Begriff, der in Analogie zu den englischen Wörtern waiting (warten) und adulthood (Erwachsensein) enstanden ist. Vgl. Singerman, Diane: „The economic imperatives of marriage. Emerging practices and identities among youth in the Middle East“, in: Wolfensohn Centre for Development and Dubai School of Government (Hg.): Working Paper 6, Washington [u. a.] 2007, S. 7. 46 In Marokko machen allein die unter 15-Jährigen 27,3% der Bevölkerung aus. Vgl. Statistisches Bundesamt: Marokko. 47 Es liegt heute durchschnittlich bei 26,6 Jahren bei den Frauen und bei 31,4 Jahren bei den Männern. Dabei ist das Heiratsalter in den Städten um ca. ein Jahr höher, nämlich 27,4 Jahre bei Frauen und 32,5 Jahre bei Männern. Auf dem Land sind Frauen bei ihrer Heirat durchschnittlich 25,6 und Männer 30 Jahre alt (letzte Erhebung: 2010). Vgl. HautCommissariat au Plan (HCP): Age moyen au premier mariage par sexe et milieu de résidence: 1960-2010, Rabat 2010. 48 Zum Begriff „Lebenswelt“ vgl. Schütz, Alfred/ Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003.

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Frage, üben Kritik an rigiden Geschlechtermodellen und führen teils als deviant wahrgenommene Lebensentwürfe. Diese Devianz49 kann als ein Indikator für die Transition der marokkanischen Gesellschaft von einer genderhierarchischen zu einer genderegalitären Gesellschaft betrachtet werden. Die demographischen Veränderungen in der Gesellschaft, ihre Verjüngung und die Verschiebung des Heiratsalters und die damit verbundenen alternativen Beziehungsformen, können das Potential bergen, gesellschaftliche Transformationen der kulturellen Vorstellungen von Geschlechtermodellen zu bewirken und traditionelle soziale Konstruktionen obsolet werden zu lassen. Ausgehend von der These, dass Jugendliche aufgrund des repressiven Vorgehens des Staates und der daraus folgenden Marginalisierung danach trachten, oktroyierte Grenzen zu verschieben und sich Freiräume zu erschließen, die ihnen (neue) Partizipationsmöglichkeiten eröffnen, wird ihr deviantes Verhalten und die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgen einer Analyse unterzogen. Die vorliegende Arbeit untersucht die Transformationen von Geschlechterkonstruktionen, Geschlechterordnungen und Geschlechternormen. Dabei wurde eruiert, wie soziale Freiräume von Jugendlichen erschlossen und genutzt werden. Diese Freiräume entstehen überwiegend durch soziale Netzwerke sowohl in der virtuellen als auch in der realen (Lebens-)Welt. Beide Lebenswelten – offline wie online – waren Gegenstand der Forschung. Wobei in der virtuellen Welt soziale Medien wie Facebook, YouTube, Blogs etc. untersucht wurden und in der realen Lebenswelt das studentische Umfeld der Jugendlichen, das sich räumlich auf dem Universitätscampus, in Studentenwohnheimen sowie in Cafés, insbesondere Internetcafés, abspielt. Studierende50 sind deshalb die von mir gewählte Akteursgruppe, weil sie im Vergleich zu anderen jugendlichen Milieus über ganz besondere Zugänge und Freiräume verfügen und sich aufgrund ihres vergleichsweise hohen Bildungsgrades anders mit Geschlechterfragen und -verhältnissen auseinandersetzen. Sie gehören mehrheitlich der aufstrebenden Mittelschicht an, haben Zugang zu Bildung

49 Unter dem Begriff wird in der vorliegenden Arbeit jegliches normwidriges Verhalten subsumiert. 50 Aus sprachökonomischen Gründen wird in der restlichen Arbeit weitestgehend auf differenzierte Formen des Femininum und Maskulinum (z. B. Studenten und Studentinnen) verzichtet. Die im Folgenden verwendeten männlichen Pluralformen sind als generisches Maskulinum zu verstehen, d.h. die weibliche Form wird darin stets impliziert.

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und neuen Kommunikationsmedien.51 Dabei kann die Mediennutzung bzw. der Medienzugang in diesem Zusammenhang durchaus als ein Privileg der gebildeten Mittelschicht angesehen werden.52 Aufgrund dessen erhebt die vorliegende Arbeit nicht den Anspruch, gesamtgesellschaftliche Aussagen treffen zu können, sondern beschreibt vielmehr die Lebenswirklichkeit urbaner junger Erwachsener mit relativ hohem Bildungsniveau. Die Leitfrage lautete, welche Diskurse das Überschreiten tradierter Geschlechtergrenzen begleiten, welche Konflikte dadurch entstehen und wie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse verlaufen. Dabei lag der Fokus auf der transformativen Handlungsmacht (agency) der Studierenden in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse und den Anschluss an universelle Menschenrechte. Daraus ergaben sich u. a. folgende Forschungsfragen: • • • • • • •

Welche gesellschaftlichen Normen stehen im Konflikt zur Lebensrealität der Jugendlichen? Welche Gesetze werden als einschränkend in Bezug auf individuelle Freiheiten empfunden? Wie werden Freiräume erschlossen und bestehende Verhaltensnormen umgangen? Welche Kommunikationsformen werden dabei genutzt? Welche Konsequenzen entstehen bei der Überschreitung bestehender gesellschaftlicher Normen? Wie verschieben sich Grenzen zum anderen Geschlecht? Wie wirkt sich die ausgedehnte Jugendphase auf die Geschlechterverhältnisse aus?

51 In Marokko zählen 13% der Bevölkerung zur Oberschicht (classe aisée), 53% zur Mittelschicht (classe moyenne) und 34% zur Unterschicht (classe modeste). Vgl. Körner, Peter: „Marokko – Soziales und Bildung“, in: Munzinger Online/Länder-Internationales Handbuch (12.05.2015). 52 Vgl. Kelly, Sanja: „Hard-won progress and a long road ahead. Women’s rights in the Middle East and North Africa“, in: Dies./ Breslin, Julia (Hg.): Women’s rights in the Middle East and North Africa. Progress amid resistance, New York [u. a.] 2010, S. 1-14, S. 14; vgl. Hafez, Kai: Mythos Globalisierung. Warum die Medien nicht grenzenlos sind, Wiesbaden 2005, S. 149, 224.

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1.1 METHODEN UND INHALTLICHE REFLEXIONEN Die hier vorgelegte Studie basiert auf empirischen Erhebungen in der marokkanischen Hauptstadt Rabat. In einer einjährigen ethnographischen Feldforschung53 – von September 2012 bis August 2013 sowie im November 2013 – wurde die gelebte Realität der lokalen Akteure und Akteurinnen auf der Mikroebene untersucht. Dabei wurde der Schwerpunkt der Datenerhebung auf die emische Perspektive von Studierenden, vornehmlich der Fachbereiche Medizin, Jura und Soziologie der Universität Mohammed V in Rabat gesetzt, um ihre Beweggründe und Handlungsstrategien nachvollziehen zu können. Die Hauptstadt Marokkos wurde als Untersuchungsort gewählt, weil sie als modernes Zentrum und Universitätsstadt den Jugendlichen einen Ort bietet, in dem sie einen modernen Lebensstil entwickeln können und Zugang zu neuen Kommunikationsmedien erhalten. Außerdem sind in Rabat alle wichtigen politischen und kulturellen Institutionen, z. B. Frauenrechtsorganisationen, Stiftungen und Botschaften, angesiedelt. Dies ermöglichte mir Einblicke in die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NRO), insbesondere der „Association Démocratique des Femmes du Maroc“ (ADFM) und der „Association Marocaine des Droits Humains“ (AMDH), sowie die Durchführung von Experteninterviews und war eindeutig ein Standortvorteil im Hinblick auf die Datenerhebung für die institutionelle Ebene meiner Arbeit. Die große Nationalbibliothek sowie die Bibliothek der ADFM boten mir Möglichkeiten für die Archivarbeit und Sichtung von Literatur, die ich in Deutschland nicht ohne Weiteres bekommen hätte. Bei der Untersuchung wurde zwischen drei Ebenen unterschieden: der personellen, medialen und schließlich der kulturellen Ebene, wobei die Analyse ihrer Wechselbeziehungen im Vordergrund stand. Das Forschungsprojekt war somit geteilt in drei unterschiedliche miteinander verflochtene Untersuchungsfelder: Studierende (Individuen) und NRO sind der Analyseebene Mikroebene zugeordnet, Medien

53 Für eine ethnologische Feldforschung ist notwendig, dass sie „stationär“ ist. Das heißt der oder die Forschende hält sich für eine längere Zeit in dem Land auf, dessen Kultur oder bestimmte Gruppierung er oder sie untersuchen möchte. Vgl. Fischer, Hans: Feldforschungen. Erfahrungsberichte zur Einführung, Berlin 2002, S. 10. In der empirischen Disziplin der Ethnologie wird der Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski (18841942) als der „Vater der Feldforschung“ bezeichnet. Er propagierte die Feldforschung unter Ablehnung der sogenannten „Lehnstuhl-Ethnologie“, d.h. der textbasierten Erforschung fremder Kulturen aus der Ferne, als die ethnographische Methode schlechthin.

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(Frauenzeitschriften und Facebook) bilden die Mesoebene und das Werte- und Rechtssystem die Makroebene. Der Feldzugang gestaltete sich unkompliziert, da ich aufgrund meines ersten Feldforschungsaufenthalts in Rabat, im Rahmen meiner Magisterarbeit im Jahr 2009, bereits Kontakt zu vielen Studierenden aufgebaut hatte.54 Die Kontakte wurden über drei Jahre via Facebook gepflegt und aufrechterhalten. Diese Studierenden waren während der Feldforschung im Jahr 2012 meine erste Anlaufstelle. Von ihnen ausgehend haben sich per „Schneeball-Methode“55 neue Bekanntschaften ergeben und meine Probandenzahl erhöhte sich dadurch auf insgesamt vierzig Studierende,56 im Alter zwischen 18 und 30 Jahren. Das heißt also, der Aktivitätsradius wurde stetig erweitert, von anfänglich Studierenden der medizinischen Fakultät, auf die Fachbereiche Soziologie und Jura. Dadurch wurde meine Untersuchungsgruppe heterogener, gleichwohl sie mehrheitlich aus Medizinstudenten bestand. In der Regel gestaltete sich die Kontaktaufnahme unkompliziert. Neben den über das „Schneeball-Prinzip“ entstandenen Kontakten, waren soziale Medien nützlich bei der Kontakterweiterung. Hierüber ließen sich schnell und mühelos neue Kontakte herstellen und der Personenkreis selektieren. Darüber hinaus sind auf Konferenzen, Fachtagungen und Kulturveranstaltungen wichtige Kontakte zu marokkanischen Intellektuellen und Frauenrechtsaktivisten, wie u. a. Fatima Sadiqi, Khadijah Errebah, Zahia Ammoummou, Driss Ksikès, Naima Zitan, Malika Benradi und Ibtissame Lachgar, entstanden. Die Gespräche und Experteninterviews, die ich mit ihnen geführt hatte, halfen mir dabei, die Mikrobene zu verlassen und in die Meso- sowie die Makroebene zu tauchen und dadurch soziale Inhalte in ihrer gesamtgesellschaftlichen Tiefe nachzuvollziehen. Während der Feldforschung wurden Methoden der qualitativen Forschung angewandt. Die „Teilnehmende Beobachtung“, als zentrales Methodenwerkzeug der Ethnologie, ermöglichte die qualitative Datenerhebung. Hierbei ging es vorrangig

54 Den Zugang zu ihnen erhielt ich zu Beginn meines Aufenthalts durch meine Gastschwester Fatima Zahra, die Zahnmedizin studiert. In den ersten Wochen meiner Feldforschung stellte sie mich ihren Freunden und Kommilitonen vor – alle im Alter zwischen 21 und 24 Jahren – und eröffnete mir dadurch einen wertvollen Zugang zu den Personen, die für meine Forschung von unschätzbarem Wert waren. 55 Bei der „Schneeball-Methode“ werden ausgehend von dem Kontakt zu einer Person, Kontakte zu weiteren Personen erschlossen. Diese gehören in der Regel dem näheren oder entfernteren sozialen Netzwerk der ersten Person an. 56 22 Studentinnen und 18 Studenten.

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darum, unmittelbar am Geschehen beteiligt zu sein und am täglichen Leben der untersuchten Gruppe und Individuen zu partizipieren.57 Die „Teilnehmende Beobachtung“ war entlang des studentischen Lebens konzipiert. Konkret heißt das, dass die Studierenden von mir bei ihren Alltagsaktivitäten in Universität und Freizeit begleitet wurden. Neben der Begleitung im studentischen Umfeld – Vorlesungen, Seminare, Lerngruppen – habe ich auch an außeruniversitären Aktivitäten und Standorten wie den Cybercafés (Internetcafés), aber auch an Freizeitaktivitäten wie Sport und Unternehmungen am Wochenende partizipiert. Dadurch konnte ich Einblicke in das Leben der Studierenden bekommen, die für die Beziehungen und Interaktionen zwischen den Geschlechtern erkenntnisbringend waren, da diese einen Kontrast zu ihrem Alltagsverhalten bildeten. Die Methode der „Grounded Theory“ ermöglichte das Ineinandergreifen verschiedener Verfahren bei der Datengenerierung. Der Vorteil der „Grounded Theorie“ liegt in der Ermittlung empirischer Daten, die nicht durch statistische Verfahren oder anderweitige quantitative Methoden erfasst werden können.58 Im Grunde hilft die „Grounded Theorie“ dabei, aus den Daten, die zunächst offen gesammelt und anschließend kodiert werden, übergeordnete Kategorien zu bilden, die immer stärker verdichtet werden und auf deren Grundlage eine Kernkategorie erarbeitet wird, die anschließend die Basis für das Verständnis des jeweiligen Phänomens bzw. Untersuchungsgegenstandes bildet. Diese Methode hilft dem empirisch Forschenden besonders zu Beginn seiner Tätigkeit im Feld und kennzeichnet sich durch eine hohe Flexibilität aus. Auf diese Weise konnte die Datenerhebung an die jeweiligen Situationen und Gegebenheiten angepasst werden, d.h. es konnte zwischen Interviewtranskripten, Beobachtungsprotokollen, Gesprächsprotokollen sowie Gedächtnisprotokollen selektiert werden. Dies war insbesondere dann von Vorteil, wenn unvorhersehbare Interviewsituationen entstanden oder wenn der Gesprächsort kein klassisches Interviewsetting zuließ, aber auch dann, wenn die Interviewpartner keine formelle Interviewsituation wünschten. Im Anschluss wurden die Interviewprotokolle ausgewertet und in den Datenkorpus integriert. Mit Hilfe des akteurs-orientierten Ansatzes59 wurden die Lebensstile, -realitäten und -erfahrungen der Studierenden untersucht. Es wurde versucht, das transformative Potential der einzelnen Akteure auf ihre Gesellschaftsordnung herauszustellen,

57 Vgl. Fischer 2002, S. 10. 58 Vgl. Glaser, Barney G./ Strauss, Anselm L.: The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research, New Brunswick [u. a.] 2009, S. 224. 59 Geertz, Clifford: Interpretation of cultures. Selected essays, New York 1973, S. 14.

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indem eruiert wurde, welche Beweggründe und Strategien ihrem sozialen und politischen Handeln zugrunde liegen. Dabei waren die Fragen, ob das Individuum gesellschaftliche Normen verändern oder sich neue Handlungsspielräume erschließen kann, von besonderem Interesse. Mit Hilfe der inhaltsanalytischen Methode (Diskursanalyse, Medienanalyse) wurde der Diskurs um Sexualität untersucht und eingeordnet. Um die Gefahr der Generalisierung und Überlegenheit der eigenen Kultur gegenüber der untersuchten Kultur, und damit der Kreierung und Exotisierung eines „fremden Anderen“ (othering) zu vermeiden, wurde auch die von Abu-Lughod vorgeschlagene „Ethnographie des Partikularen“ angewandt. Diese Ansätze sollen es ermöglichen, Aussagen über eine Gruppe von Individuen und ihre mannigfachen Lebensinhalte und Realitäten treffen zu können. Die „Ethnographie des Partikularen“ soll den Sozial- und Geisteswissenschaftlern dabei helfen, die „most problematic connotations of culture“60 zu vermeiden, nämlich die Annahme, Kultur sei homogen, kohärent und zeitlos. In Anlehnung an die Writing Culture Debatte61 in der Ethnologie, warnt Abu-Lughod davor, dass Sprache und die Art und Weise, wie man über seinen Gegenstand schreibt, Ausdruck von Macht und Hierarchie sein kann. Es entstehe der Eindruck, das beschriebene Subjekt sei minderwertig, während der Autor ihm gegenüber überlegen sei. Des Weiteren sage ein Gespräch mit einer bestimmten Gruppe von Individuen nicht zwangsläufig etwas über die gesamte Gesellschaft aus.62 Diese Methode sollte dabei behilflich sein, generalisierende Aussagen zu vermeiden und positivistischen Annahmen entgegenzuwirken. Mit Hilfe dieser und der akteurs-orientierten Methode konnten die Erkenntniswelt und Erfahrungshorizonte der von mir interviewten Individuen herausgearbeitet werden. Neben themenbezogener Literatur- und Medienrecherche und Dokumentensichtung wurden zur Datenerhebung darüber hinaus qualitative, d.h. narrative und semistrukturierte, und quantitative Interviews sowie Fokusgruppendiskussionen durchgeführt. Die qualitativen Interviews wurden als semi-strukturierte Leitfadeninter-

60 Abu-Lughod, Lila: „Writing against culture“, in: Fox, Richard G.: Recapturing Anthropology. Working in the presence, Santa Fe 1991, S. 466-479, S. 476. 61 Bei der Writing Culture Debatte geht es um die Erkennung der verborgenen Autorität des Ethnographen und seine selektive Aufzeichnung der Inhalte, die er bzgl. der untersuchten Kultur für wichtig erachtet, und der Auslassungen dessen, was für ihn nicht von Relevanz ist. Vgl. Clifford, James/ Marcus, George E.: Writing Culture. The poetics and politics of ethnography, Berkeley 1986, S. 6f. 62 Vgl. Abu-Lughod 1991, S. 474ff.

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views geführt, da Fragebögen bzw. ein strukturierter Fragenkatalog die freie Entfaltung des Gesprächs beeinträchtigt hätten. Leitfadeninterviews haben den Vorteil, dass sie während des Interviews eine Orientierungshilfe und für die Auswertung ein Gerüst bieten, welches die verschiedenen Interviews vergleichbar macht. Narrative und semi-strukturierte Interviews überwogen in meiner Datenermittlung, weil sie eine besondere Nähe und dadurch den Austausch intimer, tabuisierter Inhalte ermöglichen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, standardisierte Aussagen anstelle realer Erfahrungswerte und -berichte zu erfassen oder Befangenheit auszulösen. Mit Hilfe der Face-to-face-Methode konnten nützliche, lange Tiefeninterviews generiert werden. Die Interviews wurden auf Französisch geführt und überwiegend mit dem Diktaphon aufgenommen.63 Die Fokusgruppendiskussionen wurden innerhalb der Peer groups durchgeführt, weil sie ganz eigene Dynamiken und Themenschwerpunkte entwickeln können und sich anhand ihrer Aushandlungsprozesse und Meinungsbildung sehr lebendig und situativ nachvollziehen lassen können. Da die Peer groups einen wichtigen Rahmen für Normierungsprozesse innerhalb der studentischen Kultur darstellen, stand auch das Verhältnis des Einzelnen zu den jeweiligen Gruppen im Fokus der Forschung. Um die vielschichtigen menschlichen Beziehungen und den Diskurs um Sexualität untersuchen zu können, wurde der sogenannte multi-sited-approach oder auch multi-method-approach64 angewandt, der auch die Medienanalyse – nämlich von klassischen (Zeitschriften) und neuen Medien (Facebook) – beinhaltete. Intensive Interviewphasen wurden mit Auswertungsphasen unterbrochen, in denen das Erfahrene analysiert, eingeordnet und reflektiert werden konnte. Ebenso wurden das Klima der Interviewsituation sowie der soziale Hintergrund der oder des Interviewten stichpunktartig festgehalten. Ferner wurde während der gesamten Feldforschung ein Feldtagebuch geführt, in dem ich meine Erfahrungen und neu gewonnenen Erkenntnisse festhielt. Für die diskursive und gesamtgesellschaftliche Einbettung des Gesagten wurde bei der Bearbeitung und Analyse auf statistische Daten und offizielle quantitative Erhebungen, namentlich von Regierungsseite, von unabhängigen Nichtregierungsorganisationen oder von Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften) zurückgegriffen. Auf solche Statistiken wird im Verlauf der Arbeit komparativ eingegangen und sie

63 Die Zitate aus den Interviews wurden in der vorliegenden Arbeit von der Verfasserin ins Deutsche übersetzt. 64 Marcus, George E.: „Ethnography in/of the world system. The emergence of multi-sited ethnography“, in: Annual Review of Anthropology, (24) 1995, S. 95-117.

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werden als Ergänzung zu den von mir durchgeführten Interviewergebnissen herangezogen. Mit Hilfe dieser Analysemethoden und Analyseebenen wurde versucht, soziale Phänomene, die einen sozialen Wandel bewirken können, in der vorliegenden Arbeit sichtbar zu machen und realitätsnahe Schlussfolgerungen zu ziehen, wohlwissend, dass die Ergebnisse nicht dem Anspruch genügen können, universelle Wahrheiten oder Fakten zu produzieren, sondern lediglich einen Versuch der Interpretation von kulturellen Bedeutungsinhalten und -zuschreibungen im Spannungsfeld zwischen den abstrakten Gebilden „Tradition und Moderne“ darstellen. Geertz postulierte in seinem Werk The Interpretation of Cultures, dass die Ethnologie eine wissenschaftliche Disziplin sei, die keine Fakten liefere, sondern lediglich eine Interpretation von Kulturen bzw. kultureller Bedeutungssysteme bieten könne.65 Sein Schüler Paul Rabinow konstatierte, dass Kultur bereits eine Interpretation sei: „Culture is interpretation. The ‚facts‘ of anthropology, the material which the anthropologist has gone to the field to find, are already themselves interpretations. The baseline data is already culturally mediated by the people whose culture we, as anthropologists, have come to explore. […] [T]he facts we interpret are made and remade. […] Every cultural fact can be interpreted in many ways, both by the anthropologist and by his subject.“66

1.2 GRENZEN DES SAGBAREN Bei der Durchführung meiner Studie gab es einige Hindernisse, auf die ich kurz eingehen möchte. Ähnlich anderen thematisch verwandten Studien, die sich mit der Thematik Sexualität beschäftigen, gab es auch in meiner Forschung bzgl. dieses sensiblen Themas Schwierigkeiten bei der Datenerhebung. Dies liegt daran, dass es sich hierbei um ein Tabuthema handelt. Wie eingangs beschrieben, ist außerehelicher Geschlechtsverkehr ein kriminalisierter Akt, worüber sich die Interviewten nicht unbefangen unterhalten wollten oder konnten. Sexualität wird nicht nur sozial tabuisiert, sondern ist auch eng konnotiert mit der eigenen Reputation, insbesondere mit der der Frauen. Deshalb muss die Bereitschaft, über Sexualität zu sprechen, geschlechterdifferenziert betrachtet werden. Während junge Männer sich mir und der Thematik gegenüber relativ offen verhiel65 Vgl. Geertz 1973. 66 Rabinow, Paul: Reflection on fieldwork in Morocco, Berkeley 1997, S. 450.

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ten, hatten junge Frauen zunächst ihre Schwierigkeiten damit, über ihre sexuellen Erfahrungen zu sprechen. Wenn ich sie z. B. auf die Jungfräulichkeitsthematik ansprach, gab mir die Mehrheit von ihnen zu verstehen, dass sie noch Jungfrauen sind. Die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen kann und möchte ich ihnen nicht in Abrede stellen. Die Authentizität der Aussagen lässt sich nicht beweisen oder negieren, vielmehr geht es darum nachzuvollziehen „aus welcher Position wer mit welchen normativen Annahmen über welche Realität Aussagen trifft.“67 Nur bei einigen wenigen konnte ich durch näheres Kennenlernen das nötige Vertrauen aufbauen, das dieses sensible Thema voraussetzt. Auf den jungen Frauen lastet der Druck der Wahrung ihres (guten) Rufes, und dies nicht nur innerhalb des eigenen gesellschaftlichen Kontextes, also nach innen, sondern auch nach außen, zu mir als Forscherin, Ausländerin und Frau. Meistens war die Rede von einer Freundin, die dies und jenes erlebt habe, keine Jungfrau mehr sei etc. Die Schamkultur, in der sie sozialisiert sind, ist in den Frauen so tief verankert, dass ihre Scham, über sich selbst zu sprechen, zu groß war, als dass sie sich frei zum Thema Sexualität hätten äußern können. Andere Wissenschaftler, die zu einem ähnlichen Thema in muslimisch geprägten Ländern forschten, berichten über das gleiche Problem.68 Ein Zitat gibt genau das, was oben beschrieben wurde, treffend wieder: „People will rarely openly admit that they were not virgins upon marriage, although most people will talk about how they know someone who was not.“69

67 Gertel, Jörg/ Breuer, Ingo: „Alltagsmobilitäten – Marokkos neue soziale Landschaften“, in: Dies.: Alltagsmobilitäten. Aufbruch marokkanischer Lebenswelten, Bielefeld 2014, S. 11-31, S. 23. 68 Vgl. Beaumont, Valérie/ Cauvin Verner, Corinne/ Pouillon, François: „Sexualités au Maghreb“, in: Sexe et sexualités au Maghreb. Essais d'ethnographies contemporaines, 2010 (VI), S. 5-17, S. 11; vgl. Makhlouf Obermeyer, Carla: „Sexuality in Morocco. Changing context and contested domain“, in: Culture, Health & Sexuality, 2 (3) 2000, S. 239-254, S. 246. 69 Willman Bordat, Stephanie/ Kouzzi, Saida: „Legal empowerment of unwed mothers. Experiences of Moroccan NGOs“, in: IDLO (Hg.): Legal empowerment working papers 2009, S. 8.

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1.3 FORSCHUNGSSTAND Ethnologische Arbeiten über muslimische Gesellschaften gibt es in systematischer Form seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu den beliebtesten Themenfeldern der Ethnologen zählten zwei Tropen: Heirat(saustausch),70 tribale Autorität71 und Publikationen, in welchen Konzepte von Scham,72 Reziprozität und männlichweibliche Beziehungen im Vordergrund standen. Das Werk Abu-Lughods war für meine Arbeit hinsichtlich des Aufzeigens von Konzepten über Ehre und Scham richtungsweisend und sehr erhellend. Dieses Buch ist nicht ohne Grund ein Klassiker in der Ethnographie tribaler Kulturen. Darin beschreibt sie auf eindrucksvolle Weise, wie Schamkonstruktionen in Beduinengesellschaften das soziale Leben von Frauen bestimmten. Die zweite Trope war die der Sufi-Orden.73 Während die kulturellen Muster im Fokus standen, spielte der Islam als Religionssystem keine oder lediglich eine marginale Rolle bei den britischen und französischen Anthropologen. Dies änderte sich als die amerikanischen Kulturanthropologen (Geertz, Gellner, Rosen und Eickelman) muslimische Gesellschaften untersuchten.74 Clifford Geertz und seine Schüler Lawrence Rosen, Ernest Gellner und Dale Eickelman führten erste ethnologische Feldforschungen in Marokko durch. Im Fokus standen häufig Riten und Bräuche, Verwandtschaftsbeziehungen und politische Systeme. Bekannt sind Clifford Geertz’ Untersuchungen über soziale Identität, Abstammung, verwandtschaftliche Beziehungen und die soziale Organisation in der marokkanischen Atlas-Region Sefrou, die er gemeinsam mit Hildred Geertz und Lawrence Rosen im Jahr 1979 durchführte.75 Er forschte außerdem in Indonesien und auf Bali und kontrastierte die religiöse Praxis in Marokko mit der Indonesiens, anhand der Entwicklung vom traditionellen – im Fall Indonesiens synkretistischen – zum skripturalistischen Islam. Diese Arbeit ist zu einem Klassiker der Ethnologie

70 Pierre Bourdieu war zwar ein Soziologe, seine Arbeit über die (Heiratspraxis der) Kabylen in Algerien gehört aber ebenso zum Literaturkanon der Ethnologie. Vgl. Bourdieu, Pierre: Esquisse d’une théorie de la pratique, précédée de trois études d’ethnologie kabyle, Genf 1972. 71 Vgl. Evans-Pritchard, Edward: The Sanusi of Cyrenaica, Oxford 1949. 72 Vgl. Abu-Lughod 1986. 73 Vgl. Evans-Pritchard 1949; vgl. Gellner, Ernest: Muslim society, Cambridge 1981. 74 Vgl. Bowen, John R.: „Anthropology of Islam“, in: Encyclopaedia of Islam o.J. 75 Geertz, Clifford/ Geertz, Hildred/ Rosen, Lawrence: Meaning and order in Moroccan society. Three essays in cultural analysis, Cambridge 1979.

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avanciert und eine unerlässliche Lektüre für jeden, der sich mit religiösen Praktiken im Islam in Marokko und Indonesien beschäftigt. Geertz plädiert für einen interpretativen und akteurs-orientierten Ansatz in der Ethnologie.76 Meine Arbeit verbindet viele der oben erwähnten ethnologischen Themenfelder. Das traditionelle Feld der „Anthropology of Islam“, mit dem Fokus auf der Bedeutung des Heiratssystems, der Scham- und Ehrkonzepte sowie der Asymmetrie in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen, wird ebenso behandelt wie religiöse Praktiken und deren Bedeutung für die Gesellschaft, die Politik und das Rechtssystem. Soziologische Arbeiten in Marokko fokussierten sich, ähnlich wie ethnologische Arbeiten, hauptsächlich auf rurale Gebiete. An dieser Stelle soll auf die Studie der Soziologen Paul Pascon und Mekki Bentahar aus dem Jahr 1969 über Jugendliche aus ländlichen Gebieten Marokkos hingewiesen werden.77 Im Fokus ihrer Arbeit stand die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit diversen Interessensgebieten, wie z. B. der Schule, der Freizeitgestaltung, der Arbeit, der Sexualität, dem politischen System, der Familie, Geld, Frauen, der Vergangenheit und Zukunft. Es wurden ausschließlich männliche Jugendliche befragt und ihre Interessen bezogen sich hauptsächlich auf die Themen Geld, Arbeit, Sexualität und Frauen. Bei der Lektüre dieser Studie wird erkennbar, dass Geld die größte Rolle in ihrem Leben spielt und gleichzeitig ihre größte Sorge bildet, weil es nicht nur das tägliche Überleben sichert, sondern ein Mittel für eine Hochzeit bereitstellt, wodurch der Übergang vom Jungen zum Mann eingeleitet wird. Aufgrund des Geldmangels müssen die Jugendlichen jedoch auf deviante Sexualpraktiken zurückgreifen, um ein Ventil zu den sozialen Anspannungen zu haben. Sie berichten sehr offen über ihre Einstellungen zur Homosexualität und zu Bordellbesuchen in benachbarten Städten. Es wird deutlich, dass das Thema Heirat und das Problem des Arbeitszugangs bereits in den 1960er Jahren eine große Rolle gespielt haben. Einen weiteren Topos der marokkanischen Soziologie bilden, neben dem ruralen Schwerpunkt, feministische Studien. Die erste Frauenstudie in Marokko verfasste Malika Belghiti, eine Soziologin aus Pascons und Bentahars Forschergruppe.

76 Vgl. Geertz 1973. 77 Pascon, Paul/ Bentahar, Mekki: „Ce que disent 269 jeunes ruraux. Enquête sociologique“, in: Bulletin Economique et Social du Maroc (BESM) XXI (112/113) 1969, S. 1-144.

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Sie untersuchte den Status von Frauen in ihren Familien in drei marokkanischen Dörfern.78 Die bekanntesten feministischen Arbeiten aus Marokko stammen von Fatima Mernissi.79 Die marokkanische Soziologin ist die prominenteste Persönlichkeit innerhalb und außerhalb Marokkos auf dem Themengebiet Islam und Gender und gehörte Ende des 20. Jahrhunderts zu den mutigsten und provokativsten Autorinnen auf diesem Gebiet, deren Bücher in 26 Sprachen übersetzt wurden. Ihre Arbeiten sind in ihrer Form essayistisch geprägt, aber sowohl historisch, soziologisch als auch theologisch fundiert und brachten neue Erkenntnisse ans Licht, wie z. B. die Herausarbeitung männlicher Motive in der klassischen Koranexegese, worauf im weiteren Verlauf der Arbeit noch eingehend eingegangen wird. Ihre Dissertation Geschlecht, Ideologie, Islam war für meine Arbeit richtungsweisend und außerordentlich hilfreich. Darin beschreibt sie aus feministischer Perspektive die Diskriminierung von muslimischen Frauen in der islamischen Geschichte. Mernissi kämpfte nicht nur für eine Gleichberechtigung von Männern und Frauen in ihrer Gesellschaft, sondern beschäftigte sich auch aus sozialhistorischer Perspektive mit der Geschichte von Frauen in der sogenannten „islamischen Welt“. 1981 wirkte sie in einem Forscherkollektiv mit, das sich mit dem Themengebiet „Familie, Frauen und Kinder“ beschäftigte. Dieses Kollektiv bestand aus ca. zwanzig Wissenschaftlern der Disziplinen Soziologie und Ethnologie, von denen Aicha Belarbi,80 Mokhtar El Harras81 und Rahma Bourqia82 zu den bekanntesten zählen. Im Rahmen

78 Vgl. Belghiti, Malika: „Les relations féminines et le statut de la femme dans la famille rurale dans trois villages de la Tessaout. Etudes sociologique sur le Maroc“, in: Bulletin Economique et Social du Maroc (BESM) XXI (112/113) 1969, S. 289-391. 79 Zu ihren Publikationen gehören u. a.: Geschlecht, Ideologie, Islam, München 1991; Die vergessene Macht. Frauen im Wandel der islamischen Welt, Berlin 1993 und Islam und Demokratie. Die Angst vor der Moderne, Freiburg 2002. Nahezu all ihre Bücher erfreuen sich weltweit hoher Verkaufszahlen. 80 Belarbi war in den Jahren 2000 bis 2008 Botschafterin der Europäischen Union. Zwei Exemplare ihrer Arbeiten lauten Belarbi, Aicha: Le salaire de madame, Casablanca 1991; Dies.: Femmes rurales, Casablanca 1995; Dies.: Égalité, parité, histoire inachevée, Paris 2012. 81 El Harras ist Professor für Soziologie an der Université Mohammad V in Rabat. Seine letzte Publikation war: „Students, family and the individuation process“, in: Hegasy, Sonja/ Kaschl, Elke (Hg.): Changing values among youth. Examples from the Arab world and Germany. International conference, Cairo 20-21 June 2005, Berlin 2007, S. 143-152.

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der Reihe Approches (Annäherungen) erschien in den Jahren 1987 bis 1999 eine Vielzahl feministischer Publikationen auf arabischer und französischer Sprache, die allesamt im Verlag „Le Fennec“ in Casablanca erschienen.83 Seit den 1980er Jahren ist in Marokko ein feministisch-akademischer Diskurs in Gang gesetzt worden, der von Soziologen sowie von Ethnologen, wie Fatima Mernissi, Aicha Belarbi, Rahma Bourqia, Abdessamad Dialmy,84 Soumaya Naâmane-Guessous85 und Fatima Sadiqi86 maßgeblich geprägt wurde. Rezentere Studien wurden von Yasmine Berriane87 und Mériam Cheikh herausgegeben. Letztere beschäftigt sich in ihrer Publika-

82 Sie ist seit 2002 Präsidentin der Universität Hassan II in Mohammedia, Marokko. Zur Vertiefung, siehe Bourqia, Rahma/ El Harras, Mokhtar/ Bensaïd, Driss (Hg.): Jeunesse estudiantine marocaine. Valeurs et stratégies, Rabat 1995; Bourqia, Rahma: Femme et fécondité, Rabat 1996; Dies.: „Femmes, mobilité et production du savoir. Perspective historique“, in: Cheikh, Mériam/ Péraldi, Michel (Hg.): Des femmes sur les routes. Voyage au féminin entre Afrique et Méditérranée, Paris 2009. 83 Zu diesem Verlag gibt Kapitel 6.3 dieser Arbeit nähere Informationen. 84 Dialmy, Abdessamad: Logement, sexualité et islam, Casablanca 1995; Ders.: Jeunesse, sida et islam au Maroc, Casablanca 2000; Ders: „Premarital female sexuality in Morocco“, in: Al-Raida, 20 (99) 2002-2003, S. 75-83; Ders.: Critique de la masculinité, Rabat 2009. 85 Naâmane-Guessous, Soumaya: Au-delà de toute pudeur. La sexualité féminine au Maroc, Casablanca 71991. 86 Fatima Sadiqi: Women, Gender and Language in Morocco, Leiden 2003. 87 Vgl. Berriane, Yasmine: Femmes, associations et politique à Casablanca, Rabat 2013. Weitere Explorationen im Rahmen von religions- und politikwissenschaftlichen Studien sowie wissenschaftlichen Artikeln über politische Transformationsvorgänge in Marokko wurden von Sonja Hegasy durchgeführt. Vgl. dazu Hegasy, Sonja: Staat, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in Marokko, Hamburg 1997; Dies: „Transformation through monarchy in Morocco and Jordan“, in: International Institute for the Study of Islam in the Modern World (ISIM) Newsletter, (5) (June) 2000; Dies.: „Marokko. Eine islamische Monarchie im Wandel?“, in: Zehetmair, Hans (Hg.): Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Wiesbaden 2005, S. 136-145; Dies.: „Researching attitudes towards power in Morocco“, in: Dies./ Kaschl, Elke (Hg.): Changing values among youth. Examples from the Arab world and Germany. International conference, Cairo 20-21 June 2005, Berlin 2007a, S. 129-141.

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tion mit der Prostitution von Gymnasiastinnen in der nordmarokkanischen Stadt Tanger.88 Einen Überblick über die Entstehungsgeschichte des marokkanischen Feminismus liefern die Journalistin Zakya Daoud mit Féminisme et politique au Maghreb. Sept décennies de lutte im Jahre 1996 und der Soziologe Abdessamad Dialmy mit der Monographie Le Féminisme au Maroc aus dem Jahr 2008.89 Letzterer gehört zu den Pionieren auf dem Gebiet Gender und Sexualität in Marokko. In seinen Arbeiten plädiert Dialmy für eine Sexualerziehung90 im Schulsystem und in der Gesellschaft und spricht sich in den letzten Jahren immer häufiger in Interviews oder auf seinem akademischen Blog für die Aufhebung des Sex-Verbots für unverheiratete Paare aus.91 Dialmy setzt sich für eine auf offenen Dialog gerichtete Sexualerziehung in der marokkanischen Gesellschaft ein. In seinen jüngeren Auftritten weist er darauf hin, dass die marokkanische Gesellschaft sich in einer sexuellen Transition befindet, die sich nicht negieren lässt und die es zu akzeptieren gilt.92 Seine Arbeiten waren für mich sehr erkenntnisbringend und eine wichtige Quelle für zusätzliche Informationen, insb. in Kapitel 5, da die Evaluierung dieser sensiblen Inhalte für mich besondere Schwierigkeiten barg. Um nicht ins Fadenkreuz der Zensurbehörde, Geheimdienste oder der Sittenpolizei zu gelangen, rechtfertigen diese Autoren ihre Arbeiten häufig mit dem Bedarf an Wissen über die reproduktive Gesundheit der Bevölkerung. Viele Autoren, darunter auch Dialmy, begründen ihr Interessensgebiet v.a. mit der Aufklärung über Sexualerkrankungen. Seine im Jahre 2000 verfasste Studie Jeunesse, sida et islam au Maroc („Jugend, Aids und Islam in Marokko“) konnte er mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer umfassenden soziologischen Studie über die sexuelle Aufklärung und Gefahren, die aus dem Mangel einer sexuellen Erziehung bei marokkanischen Jugendlichen resultieren, sogar mit Unterstützung des marokkanischen

88 Vgl. Cheikh, Mériam: „Bnât lycée dayrin sexy. De l’amusement à la prostitution à Tanger“, in: Bonnefoy, Laurent/ Catusse, Myriam (Hg.): Jeunesses Arabes. Du Maroc au Yémen. Loisirs, cultures et politiques, Paris 2013, S. 264-273. 89 Vgl. Daoud, Zakya: Féminisme et politique au Maghreb. Sept décennies de lutte, Casablanca 1996 und Dialmy, Abdessamad: Le féminisme au Maroc, Rabat 2008. 90 Dialmy, Abdessamad: Education sexuelle pour jeunes musulmans, Den Haag 2011. 91 Dialmy, Abdessamad: „Premarital female sexuality in Morocco“, in: Al-Raida, 20 (99) 2002-2003, S. 75-83. 92 Mesfioui, Khalid: „La transition sexuelle au Maroc, expliquée par Abdessamad Dialmy“, in: Le 360 (8.03.2015).

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Gesundheitsministeriums durchführen. Wenn man die Sexualitätsforschung also mit den Aspekten der Gesundheit bzw. Krankheitsbewältigung kombiniert, kann die Zensur seitens staatlicher oder religiöser Behörden umgangen werden. So hat es auch die marokkanische Psychologin und Sexologin Amal Chabach gemacht, deren empirisch fundierte Arbeit Le couple arabe au XXI siècle93 zwar keine disziplinär verwandte wissenschaftliche Monografie, aber nichtsdestotrotz ein relevantes Buch auf diesem Themengebiet ist. Die Psychologin liefert Erklärungen zu den Themen Scham, Jungfräulichkeit sowie traumatisierter Sexualität und berichtet aus ihrer jahrzehntelangen Praxiserfahrung über alltägliche Sorgen und Anliegen ihrer Patienten und Patientinnen. Dieses Buch war besonders für den Teil meiner Arbeit wichtig, in dem es um deviante Beziehungsmodelle geht, da dezidierte Antworten auf Fragen zur Sexualität von meinen Interviewpartnern eher zur Ausnahme gehörten. Durch diese Arbeit konnte ich bereits Erfahrenes mit Beispielen unterfüttern und psychologische Ansätze zu meiner Analyse hinzuziehen. Weitere, für meine Dissertation relevante Literatur über das Themengebiet Sexualität und weibliche Sexualität in Marokko stammt u. a. von der marokkanischen Soziologin Soumaya Naâmane-Guessous aus dem Jahre 1991.94 Zum besseren Verständnis des Themas Sexualität der Frau und der Sexualität im Islam allgemein verhalf mir die Lektüre von Abdelwahab Bouhdibas 1975 erschienener Monographie Sexuality in Islam.95 Darin untersucht der tunesische Soziologe die Stellen im Koran und in den Hadithen, die die Sexualität betreffen, und stellt fest, dass im Islam eine tiefe Verflochtenheit zwischen Sexualität und Sakralität vorherrscht. Im Laufe der Geschichte habe sich in der ursprünglich sexualitätsbejahenden arabischen Kultur ein Wandel vollzogen, von der Tendenz eines offenen Umgangs hin zu einem repressiven Umgang mit Sexualität.96 Er sucht auch nach Erklärungen für die Diskriminierung von Frauen und stellt fest: „Male supremacy is fundamental in Islam.“97 Dies sei der Tatsache geschuldet, dass Tradition nicht zwangsläufig Geschichtlichkeit bedeute, also nichts anderes als die Vermischung von Geschichte, Prophezeiung, Legende und Mythos sei.98 Dementsprechend seien Beurteilungen

93 Chabach, Amal: Le couple arabe au 21ème siècle. Mode d’emploi, Casablanca 2010. 94 Naâmane-Guessous 1991. 95 Bouhdiba, Abdelwahab: Sexuality in Islam, London 22001. 96 Vgl. ebd., S. 231. 97 Ebd., S. 19. 98 Vgl. ebd., S. 4.

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von ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Sexualität maßgeblich von männlichen Vorstellungen geprägt. Sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex „Frauen in der arabischen Welt“ reichen bis in die 1970er Jahre zurück und beinhalten vordergründig die Thematik der Rolle der Frau im Islam99 und das Wechselverhältnis zwischen Islam und Moderne. Erdmute Heller und Hassouna Mosbahi gaben 1993 eine Monographie über die Erotik und Sexualität in der Geschichte des Islam heraus.100 Sie kamen zu dem Schluss, dass das Patriarchat101 am meisten die Frauen, insbesondere ihre Verführungskunst, fürchte und Texte islamischer Rechtsauslegung unter Berücksichtigung dieser Angstvorstellung gelesen werden sollten. Zu der gleichen Schlussfolgerung kommt auch Mernissi in ihren Arbeiten. Einen sehr empfehlenswerten wissenschaftlichen Artikel über das System des Patriarchats und darauf basierenden Machtkonstellationen in der arabischen Welt publizierte die amerikanische Anthropologin Suad Joseph.102 Suad Joseph beschäftigte sich eingehend mit dem Konstrukt des Patriarchats in arabischen Gesellschaften.

99

Vgl. dazu Höll, Rosemarie: Die Stellung der Frau im zeitgenössischen Islam. Dargestellt am Beispiel Marokkos, Frankfurt am Main 1979; vgl. Sadiqi 2003.

100 Heller, Erdmute/ Mosbahi, Hassouna: Hinter den Schleiern des Islam. Erotik und Sexualität in der arabischen Kultur, München 1993. 101 Patriarchat (von lat.: Pater [Vater]) bezeichnet die patrilineare Abstammung oder männliche Herrschaft über Ressourcen und Produktionsmittel. Vgl. Beer, Bettina: „Patriarchat“, in: Hirschberg, Walter (Hg.): Wörterbuch der Völkerkunde, ²2005 Berlin, S. 284. Weitergefasst bedeutet Patriarchat die Sicherung der Macht von Männern auf rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene, wobei eine männerbegünstigende Geschlechterdifferenzierung festzustellen ist. Laut dem Duden wird danach eine Gesellschaftsordnung bezeichnet, in der der Mann eine bevorzugte Stellung in Staat und Familie innehat und bei der in Erbfolge und sozialer Stellung die männliche Linie ausschlaggebend ist. Vgl. Duden. Die deutsche Rechtschreibung, (Bd. 1) Mannheim [u. a.] 211996.

Suad Joseph definiert das Patriarchat als die rechtliche und gesellschaftliche

Bevorzugung von Männern, deren Rechtfertigung auf Werten basiert, die innerhalb der Verwandtschaft und von der Religion unterstützt werden. Vgl. Joseph, Suad: Patriarchy and development in the Arab world, in: Gender and Development, 4 (2) 1996, S. 14-19, S. 14. 102 Vgl. ebd. Zur patriarchalen Beschaffenheit der arabischen Familie, siehe: Dies.: „Brother/sister relationships. Connectivity, love, and power in the re-production of patriarchy in Lebanon“, in: American Ethnologist 21 (1) 1994, S. 50-73.

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Meine Studie versteht sich als Ergänzung der oben erwähnten Studien (v.a. zu Mernissi, Dialmy und Bennani-Chraïbi), als eine Momentaufnahme und eine Bilanzierung des Status quo in der muslimischen Gesellschaft Marokkos. Ebenso eröffnet meine Arbeit, mit der Ausweitung auf das Feld der sozialen Medien und der medienanalytischen Ausarbeitung feministischer marokkanischer Zeitschriften, ein neues Themenfeld, das am ehesten den Arbeiten von Abu-Lughod nahesteht, mit dem Unterschied, dass Abu-Lughod sich auf das Fernsehen als Medium konzentriert und sich regional auf Ägypten bezieht.103 Rezente feministische Arbeiten von arabischen Autorinnen, die patriarchale Strukturen in ihren Herkunftsländern kritisieren und eine sexuelle Revolution, im Sinne von sexueller Aufklärung fordern, stammen von Shereen El Feki104 und Mona Eltahawy.105 Sie kritisieren die Tabuisierung der Sexualität in muslimischen Gesellschaften, die alle Lebensbereiche durchzieht und sich nachteilig auf die Geschlechterverhältnisse auswirkt. Diese mutigen Frauen wagen es, gesellschaftlich tabuisierte Themen anzusprechen und die Probleme, die um das Thema Sexualität kreisen, zu benennen, obwohl sie von religiösen Fanatikern Hassbotschaften und Morddrohungen erhalten und dadurch zu Dissidentinnen erklärt werden. Von liberal eingestellten Muslimen werden solche Autoren und Autorinnen, die offen über die sexuelle Regression in muslimischen Gesellschaften sprechen oder darüber schreiben, als couragierte Akteure der Zivilgesellschaft betrachtet. Sie wagen es, Tabuthemen anzusprechen und Diskriminierung von Frauen, ihrem Körper und ihrer Sexualität offen anzuprangern. Die konservative Mehrheit jedoch, mitsamt der religiösen Obrigkeit, sieht in ihnen vielmehr Häretiker und Apostaten, die vom Glauben abgefallen sind. Die literarische Behandlung von Sexualität war jedoch nicht immer derart tabuisiert, wie sie es heute ist. Zwischen dem 8. und 19. Jahrhundert, also ab der Abbasi-

103 Abu-Lughod, Lila: „The interpretation of culture(s) after television“, in: Ortner, Sherry B. (Hg.), The fate of „culture“. Geertz and beyond (= Representation books, Band 8), Berkeley: Univ. of California Press 1999, S. 110-135.; Dies.: „The objects of soap opera. Egyptian television and the cultural politics of modernity“, in: Askew, Kelly/ Wilk, Richard R. (Hg.): The anthropology of media. A reader, (Bd. 3) Malden 2002, S. 376-393. 104 El Feki, Shereen: Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt, München 2013. 105 Eltahawy, Mona: Headscarves and hymens. Why the Middle East needs a sexual revolution, London 2015.

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denzeit106 und darüber hinaus, entstand eine Vielzahl an Werken in der persischen und arabischen Literatur, die Liebe und Sexualität thematisierten. Hierzu zählen Liebesgedichte (ġazaliyyāt), Erotika, aber auch Anleitungen für ein gutes Eheleben, die nicht nur von Dichtern und Laien, sondern auch von Rechtsgelehrten verfasst wurden, deren Auftraggeber häufig Kalifen oder Wesire waren. So verfasste Abū ʿAbdallāh Muḥammad al-Nafzāwī sein berühmtes und auch in Europa zu Anfang des 20. Jahrhunderts oft rezipiertes Werk Der duftende Garten, worin er Anleitungen für ein erfülltes Liebesleben gibt, auf Wunsch des Großwesirs von Tunesien.107 Abū-Nuwās,108 Omar Khayyam,109 Sheikh Suyuti,110 Ibn Hazm111, Omar Ibn Rabiʿa112 und al-Nafzāwī,113 besser bekannt als Sheikh Nafzāwī, gehören zu den

106 Die Dynastie der Abbasiden ging auf Abbas, den Onkel des Propheten zurück, und dauerte von 749 bis 1258. Das erste Jahrhundert abbasidischer Herrschaft stellte eine Blütezeit der islamischen Kultur dar. Ihre Hauptstadt und kulturelles Zentrum war Bagdad. Vgl. Herrmann, Joachim (Hg.): Lexikon früher Kulturen, Leipzig 1984, S. 11. 107 Vgl. Golliau, Catherine: „Entretien avec Malek Chebel“, in: Le Point (1755) 4.05.2006, S. 130-133, S. 131. 108 Abū-Nuwās (sein eigentlicher Name lautet al-Ḥasan Ibn-Hāniʾ) war, bis zu seiner Anklage als Ketzer und späteren Hinrichtung, Hofpoet der Umayyaden. Er lebte von 757 bis 815. Sein berühmtestes Werk Diwan ist in Deutschland von Alfred V. Kremer herausgegeben worden: Diwan des Abu Nuwas, des grössten lyrischen Dichters der Araber, o.O. 2013. 109 Khayyam, Omar: Rubaiyat, Hanau 1993. Er war ein persischer Astronom, Mathematiker und Poet und lebte von 1048 bis 1131. Sein voller Name lautet: Ghiyāth al-Dīn Abū al-Fatḥ ʿUmar ibn Ibrāhīm al-Nīsābūrī al-Khayyāmī. 110 Al-Suyuti, Jalaleddin: Kitab al-idhah’ fi ‘ilm il nikah, Tunis o.J. Zit. n. Bouhdiba 22001, S. 276. 111 Abū Muhammad ʿAlī ibn Ahmad Ibn Hazm az-Zāhirī al-Andalusī wie Ibn Hazm mit vollem Namen heißt lebte von 994 bis 1064 in Andalusien. Er war ein Gelehrter am Kalifat von Cordoba. Zu seinem berühmtesten Werk zählt Das Halsband der Taube (tauq al-hamam). Vgl. Chebel 1997, S. 11. 112 Er gilt als der Begründer der lyrischen Form der ghazal (Liebesdichtung). Der auch als ‚Casanova aus Medina‘ bezeichnete Dichter lebte zwischen 644 und 719 auf der arabischen Halbinsel. Vgl. Golliau, S. 132. 113 Al-Nafzāwī, Abū ʿAbdallāh Muḥammad: Der duftende Garten zur Erbauung des Gemüts. Ein arabisches Liebeshandbuch, (aus dem Arabischen übers. v. Ulrich Marzolph) München 2002. Laut eigenen Angaben verfasste er das Buch im Auftrag des Großwe-

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Autoren, die offen über Liebe und Sexualität schrieben, und teilweise auch (ihre) Homosexualität implizit oder explizit thematisierten. Zu letzteren zählen v.a. Abū-Nuwās und Khayyam. Sie haben in ihren Gedichten, die auch mit dem Genrebegriff „Knabenpoesie“ bezeichnet werden, vielfach die gleichgeschlechtliche Liebe zu jungen bartlosen Männern (amrad) besungen.114 Besonders Abū-Nuwās, Dichter am Hof des Abbasidenkalifen al-Amīn in Bagdad, ist für seine weltliche Dichtung bekannt, in der er Wein und einen hedonistischen Lebensstil lobpreist. In der arabischen und persischen Dichtkunst wird seitens der Arabisten häufig zwischen der sogenannten „höfischen“ und der „obszönen“ Liebesdichtung unterschieden.115 Abū-Nuwās gehört zu den prominentesten Vertretern der „obszönen“ Dichtung. Die Tatsache, dass auch und gerade Theologen und Rechtsgelehrte Gedichte über Liebe und Sexualität verfasst haben, verdeutlicht, dass zu dieser Zeit weltliche und religiöse Inhalte ganz selbstverständlich neben- bzw. miteinander

sirs von Tunis. Al-Nafzāwī wurde Ende des 13. Jahrhunderts in Tunesien geboren und starb 1342. 114 Vgl. Chebel 1997, S. 277. Diese Jünglinge, im antiken Griechenland auch Epheben genannt, wurden gegenüber Frauen bevorzugt, deren Schönheit noch bestechender war als die der Frauen und die deshalb als noch gefährlicher für die soziale Ordnung angesehen wurden. So heißt es bei Bouhdiba: „The beardless boy is like a woman. He is even worse. It is even more criminal to look at him than to look at a strange woman.“ Bouhdiba 2001, S. 119. 115 Thomas Bauer kritisiert diese Unterscheidung, weil sie normativ ist und die Wissenschaft heute keine Aussagen darüber treffen kann, was zur damaligen Zeit als ‚obszön‘ oder ‚sittlich‘ eingestuft wurde. Fest steht, dass die Dichter sowie ihre Zeitgenossen keine derartigen Unterscheidungen vorgenommen haben. Eher wurde zwischen Liebesund Scherzgedichten (muǧuniyyāt) unterschieden. Vgl. Bauer, Thomas: Liebe und Liebesdichtung in der arabischen Welt des 9. und 10. Jahrhunderts. Eine literatur- und mentalitätsgeschichtliche Studie des arabischen Ġazal, Wiesbaden 1998, S. 8f. Die Unterscheidung in eine ‚höfische‘ und eine ‚obszöne‘ Dichtung ist nur dann sinnvoll, wenn man die Rezipienten der Dichtungen in den Blick nimmt. So wurde die ‚höfische‘ Dichtung eher von Intellektuellen am Hofe rezipiert, während die als ‚obszön‘ kategorisierten Gedichte für eine breite Öffentlichkeit bestimmt waren, wie z. B. die Sammlungen aus 1001 Nacht. Vgl. Schreiner, Elizabeth: Liebe und Erotik in der arabischandalusischen Lyrik, Skript zur Ringvorlesung an der Universität Salzburg WS 2005/2006, 24.10.2005.

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existierten.116 Die traditionelle Liebesdichtung (ghazaliyyāt) hörte Anfang des 19. Jahrhunderts auf zu existieren.117 Diese Literatur ist im Zuge des Kolonialismus, der gleichzeitig auch einen puritanischen Diskurs in die arabische Welt hineintrug, nahezu verschwunden. In der Folge hat der in Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und der Moderne entstandene islamische Reformismus, der letztendlich im Islamismus mündete, dazu beigetragen, dass dieses literarische Genre aus der sozialen Erinnerung ausradiert worden oder in Vergessenheit geraten ist. Der Anthropologe Malek Chebel widmet sich in seinem Werk Le Kama-Sutra arabe. Deux milles ans de littérature érotique en Orient ebendieser vergessenen Literatur, in all ihrer lyrischen Schönheit. Chebel behandelt in zahlreichen Publikationen das Thema Sexualität in der „islamischen Welt“ und der Geschichte der arabischen Lyrik.118 Dialmy kritisiert an dieser Literatur allerdings, dass sie ausschließlich an den Mann adressiert war, idealerweise an den verheirateten Mann, der seine Ehefrau in den Künsten des Beischlafs unterweist. Außerdem würde diese Literatur in erster Linie der Männlichkeit und männlichen Fantasien frönen, während die Sexualität der Frau nur im Zusammenhang mit ihrer Unterordnung Erwähnung findet.119 Dennoch: Allein das Vorhandensein dieser Literatur bzw. das Wissen darüber, dass diese Werke existieren, zeugen davon, dass die Tabuisierung und Dämonisierung des Themas Sexualität als ein jüngeres Phänomen verstanden werden muss. Zur sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Themenfeld „Jugend“ ist zunächst festzuhalten, dass der Begriff „Jugend“ in zwei Kategorien zu unterscheiden ist: als Phase und als soziale Gruppe. Bourdieu stellte in seinem Aufsatz ‚Jugend‘ ist nur ein Wort von 1993 fest, dass der Begriff „Jugend“ keine feste Größe, keine klar umrissene Kategorie darstellt, sondern kontextabhängig sowie kulturell konstruiert und sozial konstituiert ist.120 Demnach bilden Alterskategorien keine feste Konstante, sondern werden je nach Kultur unterschiedlich definiert. Die Be-

116 Vgl. Bauer 1998, S. 4ff. 117 Vgl. ebd., S. 2. 118 Siehe dazu: Chebel, Malek: Le Kama-Sutra arabe. Deux milles ans de littérature érotique en Orient, Paris 2006. 119 Dialmy, Abdessamad: „Sexualités, femmes et islams“, in: Baudrez, Maryse/ Di Manno, Thierry (Hg.): Les sexualités. Répression, tolérance, indifférence, Brüssel 2012, S. 3354, S. 37. 120 Vgl. Bourdieu, Pierre: „‚Jugend‘ ist nur ein Wort“, in: Ders.: Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, S. 136-146, S. 137.

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griffe „Alter“ und „Jugend“ seien relativ und auch innerhalb einer Kultur von verschiedenen Faktoren abhängig, wie z. B. von der jeweiligen Gesellschaftsschicht, dem Bildungsstand usw. Einteilungen nach Altersklassen und Generationen sind daher nach Bourdieu „variabel und manipulierbar“.121 Der Begriff ist also interkulturell dehnbar und recht vage. In Marokko und anderen Teilen der sogenannten „islamischen Welt“ werden unter den Begriff „Jugendliche“ z. B. gemeinhin 15 bis 30-Jährige gefasst. Erst im Zuge der Moderne und der zunehmenden Urbanisierung ist „Jugend“ aufgrund der verlängerten Jugendphase zu einer sozialen Kategorie und zu einem sozialen Akteur geworden.122 „Jugend“ ist demnach ein relativ modernes Konzept, ein rezentes Phänomen.123 Dieser Begriff stellt nach Bourdieu auch eine soziale Klassifikation dar, die exkludierender Natur ist: „Klassifizierungen nach dem Alter (aber auch nach dem Geschlecht, und natürlich nach der Klasse…) laufen immer darauf hinaus, Grenzen zu setzen und eine Ordnung zu produzieren, an die sich jeder zu halten hat, in der jeder seinen Platz zu behalten hat.“124

Dabei ginge es stets um die Konstituierung und Aufrechterhaltung von Macht.125 Als analytischer und sozialer Begriff hielt „Jugend“ bereits in den 1940er und 1950er Jahren Einzug in die Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Kinder- und Jugendforschung untersucht die Jugendkultur als eine zu unterscheidende, eigene Kulturform und beschäftigt sich vordergründig mit der Sozialisierung von Jugendlichen, häufig mit Fokus auf delinquentes Verhalten der Jugendlichen,126 psychosozi-

121 Ebd., S. 137. 122 Vgl. Bayat, Assef/ Herrera, Linda (Hg.): Being young and Muslim. New cultural politics in the global south and north, New York 2010, S. 28. 123 Während man Kinder zuvor als ‚kleine Erwachsene‘ kategorisierte, begann man erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts, junge Menschen, in diesem Fall Kinder, zum einen als abhängig von ihren Eltern zu betrachten und sie zum anderen mit besonderen Charakteristika, beispielsweise mit kindlicher Unschuld, versehen zu betrachten. Vgl. Aries, Philip: Centuries of childhood, London [u. a.] 1962. 124 Bourdieu 1993, S. 136f. 125 Vgl. ebd., S. 136. 126 Vgl. Hurrelmann, Klaus/ Mansel, Jürgen: „Aggressives und delinquentes Verhalten Jugendlicher im Zeitvergleich. Befunde aus ,Dunkelfeldforschungen‘ aus den Jahren

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alen Belastungen in der Adoleszenz oder im Kontext mit dem Familien- und Schulleben sowie der Peer group.127 Die Jugendkultur wird dabei als eine differenzierte, eigene Kulturform untersucht, insbesondere im Hinblick auf Wertekonflikte mit der Elterngeneration. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden Studien, die sich mit der Entwicklung von Jugend-Subkulturen beschäftigten. Jugendbewegungen, wie die „68erBewegung“, standen häufig im Fokus der wissenschaftlichen Forschung. Hierin ging es vorrangig um Aushandlungsprozesse und Wertekonflikte mit der Elterngeneration, um Protest- und Reformbewegungen sowie um politischen Idealismus, aber auch um die Reform des Bildungssystems.128 In den Subcultural Studies sind jugendliche Subkulturen zu einem interessanten Forschungsthema geworden, bei denen Fragen nach der Identitätsbildung im Zusammenhang mit der Globalisierung hinsichtlich ihrer kulturellen Einflüsse und Strömungen im Vordergrund stehen.129 Im Bereich der Forschung zur Jugendentwicklung bestand ein großes Interesse darin, das Engagement von Jugendlichen hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit zu untersuchen.130 Grundlegend waren hier die soziopsychologischen Arbeiten von Watts, William und Jagers zum politischen Engagement von Jugendlichen und ihren Erfahrungen der sozialen Unterdrückung.131

1988, 1990 und 1996“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1) 1998, S. 78–109. 127 Vgl. Hurrelmann, Klaus/ Engel, Uwe: Psychosoziale Belastung im Jugendalter. Empirische Befunde zum Einfluß von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe, Berlin [u. a.] 1989; vgl. Hurrelmann, Klaus/ Engel, Uwe (Hg.): The social world of adolescents, New York 1989. 128 Vgl. Kenkmann, Alfons: Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968, Schwalbach 2008. 129 Vgl. dazu Cole, Jennifer/ Durham, Deborah Lynn (Hg.): Generations and globalization. Youth, age, and family in the new world economy, Bloomington 2007. 130 Vgl. dazu James, Taj: „Empowerment through social change“, in: Bridges. A publication of health initiatives for youth, 3 (4) 1997, S. 6-7; James, Taj/ Fernandez, Rona: „It’s all about power“, in: Third Force, 6 (1) 1998, S. 19-24; vgl. Roach, Carla/ Sullivan, Lisa/ Wheeler, Wendy: Youth leadership for development. Civic activism as component of youth development programming, Chevy Chase 1999. 131 Watts, Roderick J./ Williams, Nat Chioke/ Jagers, Robert J.: „Sociopolitical development“, in: American Journal of Community Psychology, (31) 2003, S. 185-194.

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In der Jugendforschung sind zwei Konzepte zu unterscheiden: das Konzept des Moratoriums132 und das der Transition.133 Das Moratoriums-Konzept versteht die Jugendzeit als eine Art gesellschaftliche Karenz(zeit), als eine Phase der Verantwortungslosigkeit und der Auszeit. Das Konzept der Transition geht demgegenüber davon aus, dass die Jugendlichen so schnell wie möglich in die Erwachsenenwelt eintreten möchten. Ich konzeptualisiere Jugend vordergründig als eine Phase der Transition von Kind zum Erwachsenen, wobei in meiner Betrachtung auch der Moratoriumscharakter von Jugend, insbesondere in der Studienzeit, miteinbezogen wird. Aber darüber hinaus ist Tatendrang sowie der Wille zur Veränderung und Begeisterung für Ideologien und Utopien als der Jugend inhärent zu betrachten. Dabei spielt das biologische Alter eine nachrangige Rolle. Wichtig ist das Lebensgefühl und die Begeisterungsfreude, die häufig auch mit dem Mehr an Zeit – sei es aufgrund des Studiums und/oder der Arbeitslosigkeit – einhergeht. Die Präkarisierung der Arbeits- und Lebenswelt und die späte Familiengründung haben die Phase der Jugend verlängert. So kann man sich auch mit Anfang dreißig noch der Jugend zugehörig fühlen, während die Welt der Erwachsenen noch unerreichbar fern scheint, weil die Erfahrungen der Erwachsenenwelt, wie feste Arbeitszeiten, Familiengründung und die damit einhergehende Verantwortung aufgrund eines non-konformen Karrierebzw. Lebensweges noch nicht gemacht werden konnten. Das Konzept der Transition ist des Weiteren auch insofern sinnvoll, als den Jugendlichen darin ein umfassendes Transformationspotential eingeräumt wird, sie also als change agents betrachtet werden. „[Y]oung people see the world as a place

132 Vertreter dieses Konzepts sind z. B. Erikson und Eisenstadt. Vgl. Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main 1991; vgl. Eisenstadt, Shmuel N.: From Generation to generation. Age groups and social structure, New Brunswick [u. a.] 32009.

133 Bernfeld und Havinghorst gehören zu den Vertretern des Transitionsansatzes. Vgl. Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt am Main 1976, ders.: Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern, Frankfurt am Main 1979; vgl. Havighurst, Robert J.: Adulthood and old age, in: Ebel, Robert (Hg.): Encyclopedia of educational research, New York 1969, S. 57-66.

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of possibilities and challenge the adult world to acknowledge its contradictions.“134 Jugendliche sind nicht nur die Zukunft von morgen, sie sind es auch, die neue Impulse für die Gesellschaft setzen und neue Gesellschaftsmodelle entwerfen. Sie sind Erneuerer der Gesellschaft135 und, wie Karl Mannheim es ausdrückte, „neue Kulturträger“,136 die im Vergleich zur Vorgängergeneration einen „neuartigen Zugang“137 zum Leben haben, weil sich bei ihnen ein „Einstellungswandel vollzieht und historisch früher Angeeignetes für diese nicht mehr von derselben Relevanz ist.“138 Ihre Einstellungen, Positionierung und ideologische Prägung ist auch für die nachfolgende Generation relevant, da sie es sind, die diese maßgeblich beeinflussen werden. Aus diesem Grund ist eine Momentaufnahme ihrer Lebenswirklichkeit, Perspektiven und Einstellungen in Bezug auf die Zukunft von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Kann sie doch potenziell Aufschluss darüber geben, wie sich das Politische und Soziale in einer Gesellschaft unter Umständen entwickeln wird. Das wissenschaftliche Interesse an Jugendlichen in der MENA-Region nahm, einhergehend mit dem dortigen demographisch wachsenden Anteil von Jugendlichen, seit den 1990er Jahren zu. Entwicklungsforscher arbeiteten dabei Probleme der Jugendarbeitslosigkeit heraus, die zumeist als Versagen des Staates, Arbeitsstellen für die junge Generation zu generieren, verstanden wird.139

134 Ginwright, Shawn/ James, Taj: „From assets to agents of change. Social justice, organizing and youth development“, in: New Directions for Youth Development. Theory, Practice and Research, (96) 2002, S. 27-46, S. 37. 135 Vgl. Cole/ Durham 2007, S. 19. 136 Mannheim, Karl: „Das Problem der Generationen“, in: Ders.: Wissenssoziologie, hrsg. v. Kurt H. Wolff, Neuwied [u. a.] 1970, S. 509-565, S. 530. 137 Ebd., S. 531. 138 Ebd. 139 Vgl. Bennani-Chraïbi, Mounia: Soumis et rebelles. Les jeunes au Maroc, Paris 1994; vgl. Boudarbat, Brahim/ Ajbilou, Aziz: „Youth exclusion in Morocco. Context, consequences and policies“, in: Wolfensohn Center for Development and Dubai School of Government (Hg.): The Middle East Youth Initiative: Working Paper 5, Washington [u. a.] 2007; vgl. Dhillon, Navtej/ Yousef, Tarik (Hg.): Generation in waiting. The unfulfilled promise of young people in the Middle East, Washington 2009; vgl. Breuer, Ingo: „Rabat. Junge Erwachsene, Arbeitsmärkte und soziale Absicherung im urbanen Marokko“, in: Gertel, Jörg/ Breuer, Ingo: Alltagsmobilitäten. Aufbruch marokkanischer Lebenswelten, Bielefeld 2014, S. 327-339.

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Aufgrund ihrer demographischen Überzahl und meist besseren Ausbildung im Vergleich zur Elterngeneration wurden Jugendliche in Nahost und Nordafrika, insbesondere im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit und der Transformation arabischer Länder, zunehmend als Modernisierer oder als Hoffnungsträger ihrer Gesellschaften betrachtet.140 Viele wissenschaftliche Arbeiten haben daher das Potential der Jugend für den sozialen Wandel im Fokus, aber auch mit dem Augenmerk auf das Problem der verlängerten Jugendphase (waithood).141 In diesem Zusammenhang wurden Jugendliche als eine „tickende Zeitbombe“ oder als eine „perspektivlose Masse“ beschrieben.142 Spätestens seit Anfang dieses Jahrhunderts, werden Jugendliche zunehmend auch als Bedrohung wahrgenommen.143 Die Terroranschläge auf das World-TradeCenter am 11. September 2001 haben dazu beigetragen, dass im Zusammenhang mit Jugend auch ihr Gewaltpotential und ihre (islamistische) Radikalisierung zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses wurden. Jugend wurde zunehmend als eine Gefahr für die Gesellschaftsordnung angesehen. Ihre weltweite Rekrutierung für den sogenannten „Islamischen Staat“ in Syrien und Irak und ihre Mobilisierung für den sogenannten „Heiligen Krieg“ (jihad) haben dieses Interesse nur verstärkt und nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Entscheidungsträger der Politik und Sicherheitsorgane alarmiert, nach den Motiven für diese Taten zu suchen. Mounia Bennani-Chraïbi spricht in ihrem Aufsatz über marokkanische Jugend und politischen Islam über eine Dreiteilung der Jugendlichen: Es gibt solche, die Teil einer islamistischen Bewegung sind, solche die mit dem Islamismus sympathisieren und

140 Vgl. Neyzi, Leyla: „Object or subject? The paradox of ‚youth‘ in Turkey“, in: International Journal Middle East Studies, 33 (3) 2001, S. 411-432, S. 420; vgl. Courbage, Youssef/ Todd, Emmanuel: Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern, München 2008. 141 Vgl. Dhillon/ Yousef 2009; vgl. Honwana, Alcinda: Time of youth. Work, social change and politics in Africa, Virginia 2012; vgl. Singerman 2007. 142 Vgl. Moffett, George D.: „North Africa’s disillusioned youth. The population time bomb“, in: The Christian Science Monitor (17.05.1989); vgl. Gertel, Jörg: „Zielgruppe Jugend. Zugänge zum Arbeitsmarkt in Rabat“, in: Meyer, Günter (Hg.): Die Arabische Welt im Spiegel der Kulturgeographie, Mainz 2004, S. 288-296; Kabbani, Nader/ Kothari, Ekta: „Youth employment in the MENA region. A situational Assessment“, in: The World Bank (Hg.): Social Protection, September 2005. 143 Vgl. Bennani-Chraïbi, Mounia/ Farag, Iman (Hg.): Jeunesses des sociétés Musulmanes. Par-delà les menaces et les promesses, Paris 2007.

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solche, die als nicht religiös einzustufen sind. Sie machte die Erfahrung, dass die Gruppe Jugendlicher, die sie untersucht hat, nicht politisiert ist. Eine Islamisierung oder Re-Traditionalisierung marokkanischer Jugendlicher konnte sie in ihrer Untersuchung nicht feststellen.144 Dagegen konstatiert El Ayadi in seiner Studie über die Religiosität marokkanischer Jugendlicher, dass das Vorherrschen religiöser Werte ein generelles Phänomen sei, das alle Alters-, Gesellschafts- und Wirtschaftsklassen betreffe.145 Die islamistische Ideologie, so El Ayadi, sei eine nicht zu verleugnende Tatsache bei den Jugendlichen, allerdings nicht bei der Mehrheit von ihnen. Sie sei auch nicht stärker verbreitet als bei anderen Altersklassen innerhalb der Gesellschaft. Jedoch gibt er zu bedenken, dass radikales islamistisches Gedankengut, womit der Wille zum Jihad gemeint ist, bei der Gruppe der Jugendlichen stärker ausgeprägt sei.146 Doch auch ohne die Jugendlichen mit einer Islamisierung in Zusammenhang zu bringen, scheint den Wissenschaftlern, die sich mit dem Thema „Jugend in der arabischen Welt“ befassen, zumindest wichtig zu sein, welche Wertvorstellungen diese Jugendlichen haben. Oft ist dabei die Frage vorherrschend, ob sie die gleichen tradierten Werte wie ihre Eltern teilen oder in ihren Einstellungen eher ‚westlichen‘ Jugendlichen ähneln.147 Dabei sind insbesondere auch das Verhältnis der Jugend zur Religion und ihr Grad an Religiosität von zunehmendem Interesse. Während lange Zeit angenommen wurde, dass Jugendliche eine wahhabitisch148 inspirierte Auslegung des Islam, die medial am stärksten repräsentiert ist – wie z. B. die YouTube-

144 Vgl. Bennani-Chraïbi, Mounia: „Moroccan youth and political Islam“, in: Bayat, Assef/ Herrera, Linda (Hg.): Being young and Muslim. New cultural politics in the global south and north, New York 2010, S. 63-77, S. 75. 145 Vgl. El Ayadi, Mohamed: „Les jeunes et la religion“, in: Ders./ Rachik, Hassan/ Tozy, Mohamed (Hg.): L’Islam au quotidien. Enquête sur les valeurs et les pratiques religieuses au Maroc, Casablanca 2007, S. 99-175, S. 105. 146 Vgl. ebd., S. 160. 147 Vgl. Hegasy, Sonia/ Kaschl, Elke: Changing values among youth. Examples from the Arab World and Germany. International Conference, Cairo 20-21 June 2005, Berlin 2007. 148 Der Wahhabismus ist eine im 18. Jahrhundert entstandene schriftgläubige Bewegung, die auf den Schriften Muhammad ibn Abd al-Wahhabs beruht, in der die ‚Reinigung‘ islamischer Glaubensinhalte und Praktiken, von bspw. der Heiligenverehrung und anderer als ‚unislamisch‘ deklarierten Glaubenspraktiken, propagiert werden. Vgl. Elger 2006, S. 339f.

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Videos des Imams Yussuf Al-Qaradawi – attraktiv finden, konnte bei marokkanischen Jugendlichen in den letzten Jahren vielmehr eine Hinwendung zum Sufismus beobachtet werden.149 Als spirituelle Lesart des Islam, blickt der Sufismus mit seiner Heiligenverehrung (Marabutismus) auf eine lange Tradition in Marokko zurück.150 Obwohl Wissenschaftler bereits seit Längerem auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit in der MENA-Region hinweisen,151 stieß dieser Aspekt erst mit dem Ausbruch des sogenannten „Arabischen Frühlings“ wieder auf ein breiteres Interesse, nicht nur im Bereich der Wissenschaft, sondern auch in der Politik. Im Zusammenhang mit dem „Arabischen Frühling“ lässt sich also ein vermehrtes Interesse an Jugendlichen in der arabischen Welt konstatieren. Dabei werden Jugendliche und ihr fundierter Umgang mit neuen Medien als Hoffnungsträger für sozialen Wandel betrachtet.152 In diesem Zusammenhang wurden vermehrt sogenannte soziale Medien, wie Facebook, Twitter und YouTube, in den Blick genommen und auf ihre Bedeutung in den Protestbewegungen hin untersucht. Es ist unbestritten, dass neue Medien entscheidend zur Dynamik der sogenannten Arabellion153 beigetragen haben. Mit ihrer Hilfe wurde der Beginn, die Organisation und der Verlauf der Proteste dokumentiert, kanalisiert und somit maßgeblich beeinflusst. Insbesondere soziale Medien, mittels derer sich die Aufständischen organisiert und die Öffentlichkeit informiert haben, leitsteten einen großen Beitrag dazu.154 Auch emanzipative Momente

149 Vgl. dazu: Bekkaoui, Khalid/ Larémont, Ricardo René: „Moroccan youth go Sufi“, in: The Journal of the Middle East and Africa, (2) 2011, S. 31-46; Ghambou, Mokhtar: „Sufism as youth culture in Morocco“, in: Common Ground News Service (10.02.2009); Habboush, Mahmoud: „Moroccan youth rediscover Sufi heritage“, in: The National (12.09.2009). 150 Vgl. Geertz, Clifford: Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien, Frankfurt am Main 1991. 151 Vgl. u. a. Bennani-Chraïbi 1994; Kabbani/ Kothari 2005. 152 Vgl. Honwana 2012; Khalaf, Samir/ Khalaf, Roseanne Saad (Hg.): Arab youth. Social mobilisation in times of risk, London 2011. 153 Dieser Begriff ist im Zuge des „Arabischen Frühlings“ entstanden und setzt sich aus den Wörtern „arabisch“ und „Rebellion“ zusammen. 154 Vgl. Howard, Philip N.: The digital origins of dictatorship and democracy. Information technology and political Islam, Oxford 2011; vgl. Lynch, Marc: „After Egypt. The limits and promise of online challenges to the authoritarian Arab state“, in: Perspectives on Politics (9) 2 2011, S. 301-310; vgl. Khamis, Sahar/ Vaughn, Katherine: „Cyberactiv-

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hat es gegeben, denn der hohe Anteil junger Frauen, die aktiv an den Aufständen und v.a. beim Organisieren der Demonstrationen mitwirkten und auch nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen mitdemonstrierten oder campierten, war auffallend.155 Im Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen entsteht das Interesse, die Interdependenz von Globalisierung und lokaler Kultur sowie die Aneignung von Jugendlichen in ihrem Konsumverhalten mittels Globalisierungstheorien zu untersuchen. Es wird verstärkt auf die Dynamiken der Jugendkulturen geschaut; die Rolle der Musik und anderer Kunstformen, wie z. B. Street-Art, wird zunehmend zum Gegenstand des Forschungsinteresses.156 Darüber hinaus gewinnt zu Beginn dieses Jahrhunderts die Mediennutzung der Jugendlichen im Zusammenhang mit der Globalisierung an Bedeutung, insbesondere die Rolle neuer Medien, wie Mobiltelefone und das Internet. Im Kontext der vorliegenden Arbeit waren die Publikationen der Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Ines Braune erkenntnisbringend. Sie beschäftigt sich seit zehn Jahren mit Jugend in der arabischen Welt, v.a. in Marokko, und promovierte 2008 über die Internetnutzung marokkanischer Jugendlicher.157 Braunes Publikationen waren für die medienanalytischen Aspekte der vorliegenden Arbeit aufschlussreich, da sie das Internet als einen transkulturellen sozialen Raum versteht.158

ism and citizen mobilization“, in: Miraftab, Faranak/ Kudva, Neema (Hg.): Cities in the Global South Reader, New York [u. a.] 2015, S. 300-304. 155 Newsom, Victoria A./ Lengel, Lara: „Arab women, social media, and the arab spring. Applying the framework of digital reflexivity to analyze gender and online activism“, in: Journal of International Women’s Studies, (13) 5 2012, S. 31-45; Krajeski, Jenna: „Rebellion“, in: The New Yorker (14. März 2011). 156 Vgl. dazu: Simonsen, Jorgen Baek (Hg.): Youth and youth culture in the contemporary Middle East, Aarhus 2005; Gertel, Jörg: Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt, Bielefeld 2014. 157 Vgl. Braune, Ines: Aneignung des Globalen. Internet-Alltag in der arabischen Welt. Eine Fallstudie in Marokko, Bielefeld 2008. 158 Vgl. dazu Braune, Ines: „Jugend in der arabischen Welt“, in: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ): Entwicklungszusammenarbeit in islamisch geprägten Ländern. Beispiele aus der Arbeit der GTZ, Eschborn 2005a, S. 69-75; Dies.: „Youth in Morocco. How does the use of internet shape the daily life of the youth and what are its repercussions?“ in: Simonsen, Jorgen Baek (Hg.): Youth and youth culture in the contemporary Middle East, Aarhus 2005b, S. 128-139; dies.: „Internetnutzung in

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Seit einiger Zeit gibt es also einen regelrechten Aufschwung in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit medien-kulturellen Fragestellungen. Da soziokultureller Wandel aktuell wie historisch immer auch auf den Wandel von Medien verweist, ist diese wissenschaftliche Entwicklung weder verwunderlich noch verliert das Thema an Brisanz. Vor diesem Hintergrund müssen Medien, v.a. das Fernsehen, das Internet und Mobiltelefone, als ein wichtiger Faktor für die Transformation von Geschlechterverhältnissen betrachtet werden. Das Fernsehen ist das am besten erforschte Medium, insbesondere in seiner Funktion, gesellschaftlichen Wandel zu forcieren.159 Als „social field“160 kann das Fernsehen in Gesellschaften, in denen eine adäquate zivilgesellschaftliche Beteiligung nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen als ein Medium verstanden werden, das sowohl den Produzenten als auch den Rezipienten ermöglicht, Gesellschaftskritik zu üben, alternative Lebensmodelle zum Ausdruck zu bringen und an sozialen und kulturellen Diskursen zu partizipieren.161 Es bietet Einblicke in Themen, die die Gesellschaft bewegt, und damit auch in das menschliche Empfinden, und kann ein Indika-

Marokko“, in: Jonker, Gerdien et al. (Hg.): Muslimische Gesellschaften in der Moderne. Ideen – Geschichte – Materialien, Wien 2007, S. 122-130; dies.: „Fes. Jugend, Internet und Mobilität“, in: Gertel, Jörg/ Breuer, Ingo (Hg.): Alltags-Mobilitäten. Aufbruch marokkanischer Lebenswelten, Bielefeld 2012; dies.: „Grenzüberschreitungen im Internet. Jugendliche in Marokko“, in: Forum 21 European Journal on Child and Youth Research, 4 (12) 2009, S. 64-69. 159 Vgl. Abu-Lughod 2002; Armbrust, Walter: Mass mediations. New approaches to popular culture in the Middle East and beyond, Berkeley [u. a.] 2000; Armes, Roy: Postcolonial images. Studies in North African film, Bloomington 2005; Brüne, Stefan (Hg.): Neue Medien und Öffentlichkeiten. Politik und Tele-Kommunikation in Afrika, Asien und Lateinamerika, (Bd. 1) Hamburg 2000; Hafez, Kai: Mythos Globalisierung. Warum die Medien nicht grenzenlos sind, Wiesbaden 2005; Ders.: „Mass media in the Middle East. Patterns of politics and societal change“, in: Khalaf, Samir/ Khalaf, Roseanne Saad (Hg.): Arab society and culture. An essential reader, London 2009, S. 452-461; Hahn, Oliver: Arabisches Satelliten-Nachrichtenfernsehen. Entwicklungsgeschichte, Strukturen und Folgen für die Konfliktberichterstattung aus dem Nahen und Mittleren Osten, Baden-Baden 2005. 160 Abu-Lughod 1999, S. 114. 161 Vgl. Shafik, Viola: Arab cinema. History and cultural identity, Kairo 2007a; vgl. Dies.: Popular Egyptian cinema. Gender, class, and nation, Kairo 2007b.

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tor für soziokulturelle und politische Dynamiken innerhalb der Gesellschaft sein.162 Neben dem Internet kann auch das Medium Film, wenn es der staatlichen Zensurbehörde entgehen kann, ein Potential für gesellschaftliche Veränderungen bergen, auch und gerade was die Herausforderung von Genderhierarchien und gängigen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit betrifft. Marokkanische Filmemacher wie Laïla Marrakchi, Nabil Ayouch, Farida Ben Lyazid, Yasmine Kassari und Narjiss Nejjar entwerfen – trotz persönlicher Risiken – aktiv ihre eigenen Bilder.163 Durch vorsichtige oder auch riskante Grenzüberschreitungen konterkarieren und hinterfragen sie gesellschaftliche Normen, machen auf Tabus aufmerksam, bewegen sich zwischen Erlaubtem und Verbotenem und erweitern auf diese Weise Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft.164 Während das Mediengenre Film und Fernsehen zu den am besten untersuchten Medien gehört, bildet die Untersuchung der Printmedien, insb. der feministischen Zeitschriften, noch eine Forschungslücke. Neben dem Fernsehen bieten auch die Printmedien eine Plattform, neue Ideen zu propagieren und emanzipative Impulse in die Öffentlichkeit zu tragen. Seit den 1970er Jahren existiert eine Vielzahl feministischer Zeitschriften in Marokko, die feministische Inhalte produzieren und sich auf diese Weise am Genderdiskurs beteiligen und ihn mitbeeinflussen.165 Trotz der relativ spät einsetzenden Jugendforschung im arabischen Raum liegt in Marokko eine beachtliche Zahl an Studien zur Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor. Allerdings sind es entweder ältere Studien, aus den Jahren 1960 bis1994, und beschränken sich auf Wertevorstellungen der ländlichen Jugend,166 auf die Beziehung zwischen Religion und Politik,167 den Bildungszugang urbaner Jugendlicher,168 das Verhältnis zur Familie sowie das Spannungsverhältnis zwischen Werten, Überzeugungen169 und Religiosität.170

162 Vgl. dazu Abu-Lughod 1999; Shafik 2007a, 2007b. 163 Vgl. Hillauer, Rebecca: Encyclopedia of Arab women filmmakers, Kairo 2005. 164 Es werden in Kapitel 6.2 zwei Filme exemplarisch vorgestellt, die den Diskurs über Sexualität in der marokkanischen Gesellschaft befeuerten. Es handelt sich dabei um die Filme „Marock“ von Laïla Marrakchi und „Much Loved“ von Nabil Ayouch. 165 Beispielsweise die Zeitschriften „Lamalif“, „8. Mars“ und „Kalima“. 166 Vgl. Pascon/ Bentahar 1969. 167 Vgl. Tozy, Mohamed: Champ et contre champ politico-religieux au Maroc, (Dissertation) Aix-Marseille 1984. 168 Vgl. Bennani-Chraïbi 1994. 169 Vgl. Bourqia et al. 1995.

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Es fehlt an rezenten, empirisch fundierten qualitativen Studien zu marokkanischen Studierenden hinsichtlich ihres transformativen Potentials für die Genderordnung sowie für die Institution der Ehe und die Familie. Ebenso wenig wurde das Potential, welches die Bildung von Frauen für den Wandel von Geschlechterbeziehungen in sich birgt, bislang eingehend berücksichtigt. Dabei stellen insbesondere der Bildungsgrad und die damit verbundene Qualifizierung von Frauen eine wichtige Einflussgröße für gesellschaftlichen Wandel hinsichtlich einer egalitären Gesellschaftsordnung dar. Der Bildungszugang, die berufliche Qualifikation und die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt kann die Herauslösung aus traditionellen Geschlechterrollen zur Folge haben. Auf dieser Grundlage wäre eine Erforschung jener Aspekte überaus sinnvoll und von hoher Relevanz für die weitere Forschung. Des Weiteren mangelt es an empirisch fundierten Studien zu den Geschlechterverhältnissen und das sexuelle Verhalten der marokkanischen Jugend. Ebensowenig existieren Arbeiten, die sich diesem Thema medienanalytisch nähern. Neben der Arbeit von Naâmane-Guessous aus dem Jahre 1991,171 die Erkenntnisse über die Einstellungen zur und Erfahrungen mit Sexualität von marokkanischen Frauen vorlegte, existiert als einzige rezente quantitative Erhebung die 2011 erschienene nicht repräsentative Umfrage des marokkanischen Wirtschaftsmagazins „L’Economiste“.172 Naâmane-Guessous Studie liegt über 25 Jahre zurück und thematisiert darüber hinaus nur Frauen, von denen die Mehrzahl bereits verheiratet ist. Meine Arbeit versteht sich als Beitrag zu diesem Themenkomplex, wobei sie selbstredend nicht den Anspruch erhebt, repräsentativ zu sein. Es bleiben zahlreiche Lücken im empirisch fundierten Wissen über Sexualität und Islam in Marokko. Weder gibt es wissenschaftlich Langzeitstudien und Analysen über die Entwicklung des Code Pénal und seine gesellschaftlichen Konsequenzen, insbesondere auf das Leben von Frauen, noch wurde auf die darin vorhandene Dichotomie zwischen religiösen und positiven Rechtsquellen verwiesen. Während der Zusammenhang zwischen Jugendlichen und politischem Wandel eingehend untersucht wurde,173 besteht bezüglich ihres Transformationspotentials

170 Vgl. El Ayadi, Mohamed/ Rachik, Hassan/ Tozy, Mohamed (Hg.): L’Islam au quotidien. Enquête sur les valeurs et les pratiques religieuses au Maroc, Casablanca 2007. 171 Vgl. Naâmane-Guessous 1991. 172 Vgl. Anonymus: „Les jeunes d’aujourdhui 2011“, in: L’Economiste (Juni) 2011. 173 Zur Bedeutung von Bildung für sozialen Wandel vgl. u. a. Courbage/ Todd 2008; Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Gesellschaftliche Entwicklungstrends vor

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auf Geschlechterverhältnisse noch Forschungsbedarf. Darüber hinaus fehlen Studien über das Wohnverhalten von Jugendlichen, sei es in den Städten oder in der Peripherie. Vor dem Hintergrund des dargelegten Forschungsstandes dient die vorliegende Arbeit der Erforschung komplexer Dynamiken der Transformation von Geschlechterordnungen in Marokko aus der Perspektive studentischer Akteure. Relevant sind Diskurse und Kontroversen um das Thema Sexualität. Meine Forschungsergebnisse verstehen sich als Beitrag zu den Gender Studies, zu interdisziplinären Diskursen um Gender und Islam, der Jugendforschung in arabischen Gesellschaften sowie zu sozialem Wandel und Demokratisierungsprozessen in der arabischen Welt.

1.4 AUFBAU DER ARBEIT Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Zunächst soll ein Überblick über die theoretischen Zusammenhänge von Gesetzgebung, Identität, Sexualität und Macht(-erhalt), die den Hintergrund meines Forschungsinteresses, der Fragestellung und der Analyse bilden, geboten werden. Theoretisches und empirisches Material werden miteinander verflochten und nicht abgegrenzt gegenüber gestellt. Im zweiten Kapitel wird auf die Konzepte der Ehre und der Scham in der marokkanischen Gesellschaft eingegangen. Dabei spielen normative Vorstellungen von Jungfräulichkeit in der Religion und der Tradition und ihre Auswirkung auf das Leben der jungen Generation, insbesondere auf junge Frauen, eine tragende Rolle. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem klassischen ethnologischen Thema der Ehe. Dabei wird die sich in einer sozialen Erosion befindliche Institution der Ehe und ihr Stellenwert für die Gesellschaft, im Sinne eines sozialen Angliederungsritus betrachtet. Alte und neue Bräuche und Vorstellungen, die mit der Heirat im Zusammenhang stehen, werden in diesem Kapitel vor- und der Lebenssituation der Jugend gegenübergestellt.

und nach der Vereinigung, Wiesbaden ³2002; Gellner, Ernest: Nations and Nationalism, London [u. a.] 1983; Hammes, Yvonne: Wertewandel seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Auswirkungen des Wandels gesellschaftlicher und politischer Wertorientierungen auf die Demokratie, Frankfurt am Main 2002; Jäger, Wieland: Gesellschaft und Entwicklung. Eine Einführung in die Soziologie sozialen Wandels, Weinheim [u. a.] 1981.

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Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Bildungssystem Marokkos und der Rolle, die Bildung in Transformationsprozessen einnimmt. Dabei wird auf die Bedeutung des Bildungszugangs von Frauen ein besonderes Augenmerk gelegt. Anschließend wird ein allgemeiner Überblick über das marokkanische Schulsystem gegeben und auf die Arabisierung in Marokko sowie auf Studentenrevolten eingegangen. Es werden die Konsequenzen der Arabisierungspolitik aufgezeigt und die Gründe für die Arbeitslosigkeit marokkanischer Jugendlicher herausgearbeitet. Anschließend wird auf das Studium, seine Funktion als Freiraum und dessen Rolle bzgl. der Transformation von Wertvorstellungen eingegangen. Im fünften Kapitel werden deviante Beziehungsformen vorgestellt, die eine Folge der verlängerten Jugendphase und der Einschränkungen individueller Freiheiten der Jugendlichen darstellt. Hier werden Grenzüberschreitungen der Jugendlichen thematisiert und herausgearbeitet, welche Konsequenzen für sie durch die Überschreitung von Normen und Gesetzen entstehen. Dieses Kapitel behandelt die Aushandlungsprozesse der Jugend mit gesellschaftlichen Normen. Während Kapitel zwei, drei, vier und fünf der Mikroebene angehören, bildet Kapitel sechs die Mesoebene und das siebte Kapitel die Makroebene der Arbeit. Im sechsten Kapitel wird die Rolle der Medien hinsichtlich ihres Transformationspotentials auf Genderverhältnisse und -modelle untersucht. Hierbei geht es zunächst um die Rolle der klassischen Medien als Kulturproduzenten und ihren Einfluss auf gesellschaftliche Diskurse. Anschließend wird auf die Rolle der neuen Medien als „Werkzeug“ der Kommunikation mit und der Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht und als Generatoren von Freiräumen eingegangen. Dieses Kapitel bildet die Mesoebene der Untersuchung. Das siebte Kapitel dient der Kontextualisierung des Untersuchungsfeldes. Staatliche Programme, die sich teilweise an internationalen Konventionen orientieren, und Gesellschaftsnormen werden hierin mit der Lebenswirklichkeit urbaner, gebildeter Jugendlicher gegenübergestellt, um Diskrepanzen sichtbar zu machen. Relevant sind Diskurse und Kontroversen um das Thema Sexualität. Dabei werden juristische Bestimmungen (in Form von Gesetzen und Unterzeichnungen internationaler Konventionen) im Hinblick auf die Genderproblematik untersucht. Dafür wird der rechtliche Rahmen abgesteckt und eruiert, wie Gesetzesreformen, die sich auf die Shariʿa beziehen, umgesetzt werden können. In diesem Zusammenhang wird die Erfahrung und das Handlungspotential (agency) der marokkanischen Zivilgesellschaft besonders in den Blick genommen. Da das reformierte Familienrecht (moudawanna) besondere Relevanz für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit hat, wird dieses als Fallbeispiel eingehend diskutiert. Ebenso werden in diesem

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Kapitel die zivilgesellschaftliche Akteurslandschaft, insbesondere Frauenrechtsorganisationen, sowie deren historische und ideologische Hintergründe untersucht. Das Schlusskapitel führt die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammen.

2 Traditionelle Vorstellungen von Jungfräulichkeit

In nahezu allen Religionsgemeinschaften, die eine patriarchale Kultur als zentrale Gemeinsamkeit aufweisen, herrscht das Ideal der Jungfräulichkeit. Im Christentum finden wir die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria vor, die auch im Islam als Sinnbild der idealen Mutter und ihrer Reinheit sowie ihres Glaubens wegen verehrt wird.1 Im Buddhismus empfing Mayavati ihren Sohn Siddharta mittels einer Vision und gebar ihn aus ihrer Seite.2 Die Idealisierung der Jungfräulichkeit in der Entstehungsgeschichte der Religionen schlug sich auf die kulturelle Praxis nieder. Es wurde sukzessive zu einem Gebot für Frauen, sich ihre Jungfräulichkeit bis zur Eheschließung zu bewahren. Besonders in den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die allesamt patriarchal geprägt sind, wird die weibliche Jungfräulichkeit vor der Ehe als Ideal formuliert3 und als Synonym für Reinheit und Unschuld verwendet. Unter dem Einfluss der Moderne ist die Idealisierung der Virginität in vielen Teilen der sogenannten westlichen Welt zurückgegangen; in anderen nimmt sie nach wie vor einen hohen Stellenwert ein.4 In den Vereinigten Staaten von Amerika ist in den 1980er Jahren mit der „TrueLove-Waits-Bewegung“ ein Keuschheitskult entstanden, der die voreheliche Jung1

Vgl. Schneider, Irene: Der Islam und die Frauen, München 2011, S. 55.

2

Buddha erschien ihr in einem Traum in Form eines weißen Elefanten, der in ihren Schoß einging. Vgl. Heller, Birgit: „Zwischen Diskriminierung und Geschlechtergleichheit. Frauen und Religionen“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 24/2013.

3

Die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria ist wohl das bekannteste Beispiel hierfür.

4

Wie z. B. im katholisch geprägten Süd-Amerika, in Teilen Afrikas, die christlich oder muslimisch geprägt sind, in Indien, Pakistan sowie im Nahen Osten.

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fräulichkeit propagiert. Mädchen und junge Frauen schwören ihren Vätern feierlich bei einer Zeremonie, bis zur Hochzeit sexuelle Enthaltsamkeit zu wahren. Diese Renaissance des Jungfräulichkeitsideals ist von christlichen Konservativen und der Regierung als Reaktion auf die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten, v.a. Aids in den 1980er Jahren, und die steigende Zahl der Schwangerschaften von Minderjährigen ins Leben gerufen worden. In muslimisch geprägten Ländern spielt das Gebot der Jungfräulichkeit der Frau nach wie vor eine zentrale Rolle. Dies hat sowohl religiöse als auch soziale Ursprünge. Der ‚Hymen-Kult‘ ist auch in der marokkanischen Gesellschaft äußerst präsent und reduziert unverheiratete Frauen auf ihr Jungfernhäutchen. Die Sakralisierung der Jungfräulichkeit bildet die Grundlage für das voreheliche Sexualverbot und die Diskriminierung der (entjungferten) Frau. Der Hymen dient als Symbol für die Reinheit und Unberührtheit der Frau und sein Erhalt setzt sie massiv unter Druck.

2.1 DAS GEBOT DER JUNGFRÄULICHKEIT – RELIGIÖSE DIMENSION Die Gesetzeslage in Bezug auf illegitimen Geschlechtsverkehr (zina) ist in Marokko eindeutig: Artikel 490 des marokkanischen Strafgesetzbuchs besagt, dass jeder sexuelle Akt zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts, die nicht durch das Band der Ehe verbunden sind, ein Verbrechen darstellt, für das beide Partner mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr bestraft werden. Die soziale Realität sieht jedoch anders aus. Es herrscht eine Kluft zwischen der (rechtlichen und) religiösen Norm und gelebter Realität. In der marokkanischen Gesellschaft bezieht sich das Keuschheitsgebot ausschließlich auf die Frau. Von ihrer Jungfräulichkeit hängt nicht nur ihr Ansehen, sondern auch das ihrer Familie ab. Es gibt einen Ermessensspielraum bzgl. der Schwere unzüchtigen Verhaltens, der mit der Geschlechtszugehörigkeit zusammenhängt. Männer erhalten für unzüchtiges Verhalten in der Regel ein geringeres Strafmaß als Frauen, was bedeutet, dass insbesondere Frauen auf juristischer Ebene eine Diskriminierung erfahren. In der Religion wird das Sexualverbot vor der Ehe klar definiert: Vorehelicher Geschlechtsverkehr gilt laut dem Koran als unzüchtig und somit als verboten. Dort

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heißt es: „Und laßt [sic!] euch nicht auf Unzucht ein! Das ist etwas Abscheuliches – eine üble Handlungsweise!“ 5 Das Gebot der Jungfräulichkeit richtet sich demnach an beide Geschlechter und beinhaltet sowohl die geistige und moralische als auch die körperliche Enthaltung vor der Ehe. Diese Vorschrift hat soziohistorische Gründe: die Sicherung und Nachvollziehbarkeit der patrilinearen Abstammung. Daraus entwickelten sich die Ideen der Jungfräulichkeit und der (weiblichen) Monogamie.6 Um den religiösen Hintergrund des Verbots außerehelichen sexuellen Verhaltens zu verstehen, ist es notwendig, sich die betreffenden Koranpassagen anzusehen. In den folgenden Suren wird zina ausschließlich im Sinne von Ehebruch thematisiert. Sure 24:2 beschreibt die Art der Bestrafung für jene, die Unzucht (zina) begehen: „Wenn eine Frau und ein Mann Unzucht begehen, dann verabreicht jedem von ihnen hundert (Peitschen)hiebe! Und laßt [sic!] euch im Hinblick darauf, daß [sic!] es (bei dieser Strafverordnung) um die Religion Gottes geht, nicht von Mitleid mit ihnen erfassen, wenn (anders) ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt! Und bei ihrer Bestrafung soll eine Gruppe der Gläubigen (als Zeugen) anwesend sein.“7

In dieser Sure wird verdeutlicht, dass zina ein Verbrechen gegen die Religion, ergo gegen Gott selbst darstellt. In der Hadithsammlung von Al-Buhari heißt es, der Prophet sei mit denjenigen, die unverheiratet Geschlechtsverkehr gehabt haben, so vorgegangen, dass er sie zu einhundert Peitschenhieben verurteilte und für ein ganzes Jahr des Landes verwies.8 Jedoch impliziert Sure 24:4, dass es keineswegs ausreicht, zu behaupten, jemand habe sich unsittlich verhalten. Es bedarf vierer Zeugen, andernfalls macht man sich der Verleumdung (qadhf) schuldig, welche mit achtzig Peitschenhieben bestraft wird.9 Diese Verse sind als Reaktion auf die Bezichtigung der Unzucht

5

Der Koran, Sure 17:32.

6

Vgl. Heller 2013.

7

Der Koran, Sure 24:2.

8

Vgl. Al-Buhari, Abu ʿAbdallah Muhammad: Die Sammlung der Hadithe. Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad (ausgewählt aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Dieter Ferchl), Stuttgart 1991, S. 453.

9

„Und wenn welche (von euch) ehrbare (Ehe)frauen (mit dem Vorwurf des Ehebruchs) in Verruf bringen und hierauf keine vier Zeugen (für die Wahrheit ihrer Aussage) beibrin-

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gegenüber A’ischa, der jüngsten Ehefrau des Propheten, enstanden.10 In einem Hadith soll Mohammed deshalb explizit die Verleumdung von unschuldigen Frauen als eine von sieben schweren Vergehen aufgeführt haben.11 Die Strafausübung bei einem solchen Vorwurf ist äußerst selten, denn sie erfordert die Bezeugung von vier Personen, die beim Sexualakt anwesend sein müssten. Jedoch verhält es sich anders, wenn der Ehemann allein die Anschuldigung hervorbringt: „Und wenn welche (von euch) ihre (eigenen) Gattinnen (mit dem Vorwurf des Ehebruchs) in Verruf bringen und nur sich selber als Zeugen (dafür haben), dann soll die Zeugenaussage eines solchen Ehegatten (w. eines von ihnen) darin bestehen, daß [sic!] er viermal vor Gott bezeugt, daß [sic!] er die Wahrheit sagt, und ein fünftes Mal, daß [sic!] der Fluch Gottes über ihn kommen soll, wenn er lügt. Und die (betreffende) Frau entgeht ihrer Strafe (die auf Ehebruch steht) (w. und von ihr wehrt es die Strafe ab), wenn sie viermal vor Gott bezeugt, dass er lügt, und ein fünftes Mal, daß [sic!] der Zorn Gottes über sie kommen soll, wenn er die Wahrheit sagt.“12

Damit stünde Aussage gegen Aussage. Das Wort einer Frau gilt aber nur halb so viel, wie das eines Mannes. Darauf macht Sure 2:282 aufmerksam, die besagt, dass auf einen männlichen Zeugen zwei weibliche kommen sollen.13

gen, dann verabreicht ihnen achtzig (Peitschen)hiebe und nehmt nie (mehr) eine Zeugenaussage von ihnen an! Sie sind die (wahren) Frevler […].“ Der Koran, Sure 24:4. 10 A’ischa verlor ihre Halskette und blieb hinter ihrer Karawane zurück, um nach ihr zu suchen. Als sie von einem jungen Soldaten, der sie in der Wüste vorfand, auf seinem Pferd nach Hause gebracht wurde, entstanden Gerüchte, sie habe mit ihm Ehebruch begangen. Vgl. Muslim Women’s League 1995. 11 Zu diesen Verbrechen zählen: „der Götzendienst und die Vielgötterei, die Zauberei und die Magie, das Töten von Lebewesen, die Gott für unantastbar erklärt hat […], die Wucherei, der Verzehr des Eigentums von Waisen, die feige Flucht vor dem Feind und die Verleumdung unschuldiger Frauen, die unachtsam, aber doch gläubig sind!“ Al-Buhari 1991, S. 455. Mit der Unachtsamkeit ist A’ischas Verlust der Halskette gemeint. 12 Der Koran, Sure 24:6-9. 13 „Und nehmt euch zwei Männer als Zeugen! Wenn es nicht zwei Männer sein können, dann sollen es ein Mann und zwei Frauen sein, solche, die euch genehm sind (zwei Frauen) damit (für den Fall), daß [sic!] die eine von ihnen sich irrt, die eine (die sich nicht irrt) die andere (die sich irrt, an den wahren Sachverhalt) erinnere.“ Der Koran, Sure 2:282.

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Ein weiteres Beispiel für die rechtliche Diskriminierung der Frau in Marokko lieferte mir die Rechtsprofessorin Malika Benradi. Sie sagte mir in einem Interview, wenn ein Mann seine Frau in flagranti erwischen und sie dann töten würde, erhalte er eine milde Strafe vor Gericht, weil er durch diesen Akt seine Ehre und die seiner Familie wiederhergestellt hätte. Die Sorge des Gesetzgebers im Strafrecht beträfe ausschließlich die Familie, die es zu schützen gelte, und nicht die Frau. Beginge eine Frau eine ähnliche Tat, würde sie vor Gericht keinesfalls eine derartige Milde erfahren.14 In dieser Wertelogik gibt es scheinbar lediglich eine Unterscheidung nach dem Schwarz-Weiß-Schema, nämlich zwischen guten und schlechten Frauen, den Ehebrecherinnen: „Schlechte Frauen sind für schlechte Männer, und schlechte Männer sind für schlechte Frauen. Und gute Frauen sind für gute Männer, und gute Männer sind für gute Frauen; sie sind frei von all dem, was sie (die Verleumder) sprechen. Ihrer harrt Vergebung und eine ehrenvolle Versorgung.“15

Beide Suren könnten noch als Empfehlungen betrachtet werden, in Sure 25:68 hingegen wird Unzucht klar als eine Straftat deklariert, die von der Schwere mit Mord gleichgesetzt wird und in die Hölle führe. Die Verse lauten wie folgt: „[Wer hat keine Höllenstrafe zu erwarten?] Leute die, wenn sie Spenden geben, weder verschwenderisch (w. maßlos) noch knauserig sind – (was) dazwischen (liegt) ist richtig –, und die neben Gott keinen anderen Gott anrufen, niemand töten, den (zu töten) Gott verboten hat, außer wenn sie dazu berechtigt sind, und keine Unzucht begehen. Wer so etwas (w. dies) tut, wird (dafür) zu büßen haben. Und am Tag der Auferstehung wird ihm die Strafe verdoppelt (oder: vervielfacht) werden, und erniedrigt (und geschmäht) wird er (für ewig) der Strafe ausgesetzt (w. in ihr) bleiben – ausgenommen diejenigen, die umkehren und rechtschaffen handeln.“16

14 Interview mit Malika Benradi am 3.07.2013 in Rabat. 15 Der Koran, Sure 24:26. 16 Ebd., Sure 26:67-70.

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Im folgenden Hadith17 aus der Hadithsammlung Al-Buharis wird Unzucht als zur Verdammnis verurteiltes Verbrechen von Prophet Mohammed jedoch wieder relativiert: „Der Prophet sagte: ‚Von meinem Herrn kam die erfreuliche Nachricht, daß [sic!] alle Mitglieder meiner Gemeinde, die allein Gott dienen und ihm keine Teilhaber an seiner Göttlichkeit zuschreiben, nach ihrem Tod ins Paradies eingehen werden!‘ Ich [Abu Darr] fragte ihn: ‚Gilt das auch für die, die Ehebruch begangen oder gestohlen haben?‘ – ‚Ja.‘“18

Laut diesem Hadith wird auch derjenige, der Unzucht begangen hat, ins Paradies eingehen, solange er der Umma (der muslimischen Gemeinschaft der Gläubigen) angehört. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Ausspruch an alle Anhänger der Umma oder nur an die männlichen gerichtet ist. Es lässt sich festhalten, dass alle erwähnten Suren außereheliche Sexualität im Sinne des Ehebruchs behandeln, nicht jedoch vorehelichen Sexualverkehr. Im heutigen Verständnis wird unter zina, je nach dem Status der Person, die es begeht, jedoch vorehelicher oder außerehelicher Geschlechtsverkehr verstanden.

2.2 DAS DIKTAT DER JUNGFRÄULICHKEIT – SOZIALE DIMENSION Obwohl sich das Verbot vorehelicher sexueller Handlungen rechtlich wie theologisch an beide Geschlechter richtet, existiert in der Gesellschaft eine generationenüberdauernde, tief verankerte Doppelmoral. Denn das Gebot der Jungfräulichkeit betrifft im soziokulturellen Verständnis ausschließlich die Frau. Diese Diskrepanz ist eng konnotiert mit der Ehre des Mannes, die er über die Unberührtheit seiner Schwester, zukünftigen Ehefrau oder Tochter definiert. Mernissi fasst dieses Ehrverständnis zynisch mit einem Satz zusammen: „The concept of honor and virginity locate the prestige of a man between the legs of a woman.“19

17 Hadith (arab. Plural: Ahādith, eingedeutscht: Hadithe) bedeutet im eigentlichen Sinne „Rede“, „Gespräch“ oder „Erzählung“. In diesem Kontext wird Hadith als „Überlieferung“ übersetzt, womit die überlieferten Aussprüche, Anordnungen und Handlungen des Propheten Mohammed gemeint sind. 18 Al-Buhari 1991, S. 172. 19 Mernissi 1982, S. 183.

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Während vom Mädchen züchtiges oder ehrenhaftes Verhalten erwartet wird, wird die sexuelle Aktivität der jungen Männer auf sozialer Ebene nicht nur toleriert, sondern sogar bejaht, weil sie der Demonstration ihrer Potenz dient, welche als Synonym für ihre Männlichkeit verwandt wird.20 Dies kann als ein Ausdruck der strukturellen Doppelmoral oder der ‚sozialen Schizophrenie‘ verstanden werden.21 Das entjungferte Mädchen gilt als moralisch verloren. Ein Mann, der keine Jungfrau mehr ist, zeigt dadurch hingegen seine Virilität und erhält im Gegenzug Respekt. Auch meine männlichen Interviewpartner bestätigten mir diese Auffassung. Bis auf wenige Ausnahmen wünschten sie sich für ihre Hochzeit eine jungfräuliche Braut. Zwar erfuhr ich von ihnen, dass sie bereits über zahlreiche sexuelle Erfahrungen mit Frauen verfügten, jedoch hörte ich auf die Frage, ob ihre zukünftige Ehefrau Jungfrau sein müsse, stets eine bejahende Antwort. Nach den Gründen gefragt, verwiesen sie alle auf die Religion und schlossen für ihre Zukünftige jegliche Ausnahmen aus. Es ist interessant, dass der Wunsch nach einer Heirat mit einer Jungfrau mit der Religion gerechtfertigt wird. Der Prophet Mohammed selbst, der eine Vorbildfunktion inne hat, hatte unter seinen neun bzw. elf Frauen22 nur eine Jungfrau vorzuweisen, nämlich A’ischa.23 Seine erste Frau Khadija war eine Witwe und ganze fünfzehn Jahre älter als er.24 Eine Medizinstudentin äußerte sich im Interview folgendermaßen dazu: „Jungs können alles machen. Sie gehen mit Mädchen aus, schlafen mit ihnen, würden aber niemals eine Nicht-Jungfrau heiraten. Sie profitieren solange von ihnen [den Frauen, mit denen sie schlafen], bis es zum Thema Heirat kommt – dann berufen sie sich plötzlich auf die Tradition.“25

20 Vgl. Dialmy, Abdessamad: „Sexuality in contemporary Arab society“, in: Social Analysis. The International Journal of Cultural and Social Practice, 49 (2) 2005, S. 16-33, S. 19. 21 Vgl. Mernissi 1982, S. 186. 22 Die Anzahl der Frauen Mohammeds variiert je nach der Quelle. Vgl. Chebel 1997, S. 131. 23 Vgl. Al-Buhari 1991, S. 330. 24 Es heißt, sie war bei der Eheschließung 40 und er 25 Jahre alt. Vgl. Schneider 2011, S. 19. 25 Interview vom 24.10.2012 in Rabat.

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Außerdem würde ein Mann, nachdem er mit einer Frau geschlafen hätte, sie am nächsten Morgen mit anderen Augen betrachten, so die Anmerkung einer anderen Studentin.26 Sie erfahre eine Geringschätzung seinerseits, weil sie für ihn an Wert verloren hätte. Diese kulturelle Praxis ist ein Ausdruck dafür, dass in der Gesellschaft voreheliche sexuelle Erfahrungen mit zweierlei Maß gemessen werden. Die Begründungen dafür sind vielfältig und variieren zwischen der vermeintlich stärker ausgeprägten Libido des Mannes, dem Sammeln sexueller Erfahrungen, dem Erhalt der gesellschaftlichen Geschlechterhierarchie bis hin zur Verhinderung von (temporären) homosexuellen Praktiken, von denen angenommen wird, dass sie von heterosexuellen männlichen Jugendlichen als Ersatzhandlung zum heterosexuellen Geschlechtsverkehr praktiziert werden würden. Das Verständnis von Jungfräulichkeit, so statisch es auch vorkommen mag, hat sich nichtsdestotrotz im Laufe der Zeit gewandelt. Für das Mädchen reicht es im heutigen soziokulturellen Verständnis der Jungfräulichkeit aus, ihr Hymen intakt zu halten. Darauf wird in Kapitel 2.6.3 eingegangen.

2.3 KULTUR DER REPUTATION – DAS SCHAM- UND EHRKONZEPT „Eine Frau ohne Schamgefühl ist wie ein Gericht ohne Salz.“ (marokkanisches Sprichwort)27

Die Ursache für den Jungfräulichkeitskult basiert auf dem Ehr- und Schamkonzept muslimisch geprägter Gesellschaften. Ehre (erd) und Scham (‘ayb, hasham, hashuma, hishma) spielen eine wichtige Rolle in der Sozialisation des Individuums und sind die Grundpfeiler der sozialen Ordnung.28 In den Hadithen heißt es, dass der Glaube aus mehr als sechzig Bestandteilen besteht, wovon die Schamhaftigkeit einen darstellt.29

26 Interview vom 13.06.2013 in Rabat/Salé. 27 „Une femme sans pudeur c’est comme un plat sans sel.“ Naâmane-Guessous 1991, S. 5. Übers. d. Verfasserin. 28 Vgl. Abu-Lughod 1986, S. 33, S. 118; vgl. Beaumont et al. 2010, S. 5. 29 Vgl. Al-Buhari 1991, S. 34.

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Die Ehre spielt insbesondere in der Männerwelt eine tragende Rolle und steht eng mit dem Beschützerprinzip und der Virilität des Mannes in Verbindung.30 Das kulturelle Konstrukt der Scham hingegen ist mit der Frauenwelt konnotiert.31 Die Schamkultur bestimmt die Lebenswelt der Frauen und geht mit dem Diktat der Jungfräulichkeit unverheirateter Frauen einher, welche als Symbol für ihre moralische Reinheit32 fungiert und der Wahrung der Familienehre dient. Da vom moralischen Verhalten der Frau das Ansehen ihrer gesamten Familie abhängt, verstehen die männlichen Familienmitglieder – sei es der Vater, Bruder, Ehemann oder Sohn – es als ihre Pflicht, die Ehre der Familie zu bewahren, indem sie das Verhalten der Frauen kontrollieren und ihre Bewegungsfreiheit beschränken.33 Das Konzept der Familienehre spielt eine äußerst wichtige Rolle in mediterranen Gesellschaften. Sie impliziert, dass das Verhalten, die Identität und das soziale Ansehen des Einzelnen stets in Relation zu dem Ansehen und der Würde der Familie stehen.34 Dahinter steht die verbreitete Annahme, dass die Taten einer Person Auswirkungen auf ihre Familie haben und der Ruf einer Familie von den Familienmitgliedern getragen wird. In diesem Glauben wird schon den Kindern beigebracht, dass das persönliche Wohl hinter dem der Familie positioniert werden muss. Da alle um das Ansehen der Familie besorgt sind, es sich jedoch vorrangig am Verhalten der Frau misst, stellt es eine Pflicht für die Männer der Familie dar, die weiblichen Familienmitglieder zu kontrollieren. Das Verhalten der Frau ist also eng mit ihrem Ruf und dem der Familie verknüpft. „This explains the heavy pressure within the Moroccan family to protect all its members because misbehavior from one member jeopardizes the reputation of all.“35 Deshalb wachen die männlichen Familienmitglieder darüber, dass die Frauen die Grenzen des als moralisch richtig erachteten Verhaltens nicht überschreiten. Darüber hinaus spielt die Erwartung an Frauen, sich dem Wohle der eigenen Familie unterzuordnen noch eine größere

30 Vgl. Evers Rosander, Eva: „Women in groups in Africa. Female associational patterns in Senegal and Morocco“, in: Chatty, Dawn/ Rabo, Annika (Hg.): Organizing women. Formal and informal women’s groups in the Middle East, New York 1997, S. 101-124, S. 118. 31 Vgl. Abu-Lughod 1986, S. 118. 32 Zur Vertiefung der Bedeutung von Reinheit im islamischen Kontext, siehe: AkasheBöhme, Farideh: Sexualität und Körperpraxis im Islam, Frankfurt am Main 2006, S. 15ff. 33 Vgl. Evers Rosander 1997, S. 119. 34 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 6. 35 Vgl. Sadiqi 2003, S. 67.

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Rolle als die Erwartung an das Individuum, sich der Gemeinschaft unterzuordnen.36 Die marokkanische Soziologin Sadiqi drückt es folgendermaßen aus: „The ‚harsh but protective‘ presence of a father, a brother, a husband, a son, or a male close kin, is socially perceived as a ‚shield‘ for girls and women.“37 Indem die Männer die Bewegungsfreiheit und die Sexualität der Frauen kontrollieren, sichern sie den Fortbestand der patriarchalen Gesellschaftsordnung. Als Konsequenz ist das Leben von Frauen stark von Tabus geprägt. Tabus sind in Marokko weit verbreitet und dienen dem Schutz von kollektiven und öffentlichen Identitäten.38 Sie sind eng konnotiert mit der Familienehre und stellen geeignete Mittel dar, Frauen aus der Öffentlichkeit auszuschließen bzw. ihnen den Zugang zu ihr zu erschweren.39 Schweigen und Gehorsamkeit gehören zu den größten Tugenden einer Frau, insb. der Ehefrau oder Tochter, und sind Hauptbestandteil der marokkanischen Schamkultur. Während meiner Feldforschung stieß ich immer wieder auf den Ausdruck „h’chouma“.40 Das „h’chouma-Konzept“ wird den Frauen schon in der Erziehung nahegebracht und gehört zu dem Repertoire der traditionellen marokkanischen Werte. Dieses Konzept ist tief verwoben mit dem Wert des Gehorsams, welches nicht nur den der Frau gegenüber dem Mann meint, sondern auch den Gehorsam der Kinder gegenüber den Eltern, der Schüler gegenüber den Lehrern, der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern und des Volkes gegenüber dem Herrscher (und konsequenterweise auch der Gläubigen gegenüber Gott).41 Das Gehorsamkeitskonzept durchzieht also die gesamte Gesellschaft und die patriarchale Gesellschaftsordnung beruht darauf. H’chouma bezieht sich auf Überschreitungen der sozialen und religiösen Normen und ist eng konnotiert mit dem Scham- und Ehrverständnis. Jegliche Kritik ist h’chouma, jede vermeintliche Grenzüberschreitung, jedes Fehlverhalten wird zum Gegenstand der Tabuisierung. Es kann, je nach Kontext, mit Schande oder Scham übersetzt werden. Sadiqi merkt an, dass das „h’chouma-Konzept“ nicht mit dem des Tabus verglichen werden könne, sondern

36 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 7. 37 Sadiqi 2003, S. 65. 38 Vgl. ebd., S. 60. 39 Vgl. ebd., S. 78f. 40 Hashuma (Scham) wird auf marokkanischem Dialekt h’chouma ausgesprochen. 41 Vgl. Bourqia, Rahma: „Valeurs et changement social au Maroc“, in: Quaderns de la Mediterrània 13, 2010, S. 105-115, S. 107.

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definiert es als „fear of loosing face in front of others“.42 Vor allen Dingen ist h’chouma als eine Ermahnung, sich anständig zu verhalten, und gleichzeitig als eine Warnung, die sittlichen Grenzen nicht zu überschreiten, zu verstehen. H’chouma ist maßgebend für die Handlungsmöglichkeiten von Frauen und die Beurteilung ihrer Moral und Sexualität.43 Es sei auch verantwortlich dafür, dass Frauen ihre Augen bei Anwesenheit eines fremden Mannes niederschlagen müssten, was als ein Zeichen des Respekts und der Bescheidenheit gelte.44 H’chouma fungiert als ein Instrument der Schamkultur und, um mit Foucault zu sprechen, der „Ausschließung“.45 Es ist Hauptbestandteil der Sozialisation der Frauen, bei der „[m]an weiß, daß [sic!] man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß [sic!] man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß [sic!] schließlich nicht jeder beliebige [sic!] über alles beliebige [sic!] reden kann.“46

Das Hauptmerkmal der Schamkultur sei die Ablehnung der weiblichen Sexualität, weil sie die größte Bedrohung des sozialen Systems, also des Patriarchats, darstelle und derer, die davon profitieren.47 Die Schamkultur definiert die Sexualmoral, die wiederum die Geschlechterordnung definiert. Die Lebensrealität von Frauen ist aufgrund des h’chouma-Konzepts und der gesellschaftlich auferlegten Tabus vergleichbar mit einer Gratwanderung hinsichtlich ihrer Wortwahl, Meinungsäußerung, Kleidung und öffentlichen Präsenz. Überschreiten Frauen die Grenzen des ihnen auferlegten sittlichen Verhaltens, droht ihnen im schlimmsten Fall die familiäre Verstoßung und damit die gesellschaftliche Exklusion. Ich möchte an dieser Stelle Naâmane-Guessous zitieren, die über h’chouma treffend schreibt: „[H]chouma des Einen ist nicht automatisch hchouma des Anderen: Hchouma für das junge Mädchen ist nicht das Gleiche, wie für eine Frau; das hchouma in der Stadt ist nicht das Gleiche, wie das hchouma auf dem Land… Hchouma darf nicht mit den Konventionen des haram verwechselt werden, d.h. was von der Religion verboten ist und im Jenseits bestraft wird. […] Hchouma fungiert wie ein undurchdringlicher Schleier, der zwei widersprüchliche Welten

42 Sadiqi 2003, S. 67. 43 Vgl. Makhlouf Obermeyer 2000, S. 243. 44 Vgl. Bourqia 2010, S. 108. 45 Foucault 1993, S. 11. 46 Ebd. 47 Vgl. Abu-Lughod 1986, S. 118.

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voneinander trennt: die eine wird von Sitten und Gebräuchen regiert und schließt die Möglichkeit für ein Lebewesen aus, sich außerhalb des gesellschaftlichen Vorbilds als Individuum zu behaupten; das andere Universum besteht aus Schweigen und Geheimnissen, es ist die Welt jenseits der Konventionen.“48

Die Schamkultur und die Omnipräsenz von h’chouma begünstigt ein Doppelleben sowie Geheimniskrämerei und betrifft insbesondere die Lebenswelt der Frauen. Ich habe in meiner Feldforschung viele meiner Interviewpartner zum Schamkonzept befragt und erfahren, dass es vor allen Dingen dazu diene, Frauen zu maßregeln und zwar bereits im Kindesalter. Besonders für weibliche Jugendliche bedeute dies, dass ihr Auftreten in der Öffentlichkeit einer strengen gesellschaftlichen Kontrolle unterläge. Dies beeinträchtigt – ganz unabhängig von ihrem Familienstand – die Mobilität von Frauen. Die Tradition machte die Frauen zu Bewohnerinnen des privaten Raums, deren Bewegungsfreiheit außerhalb dieses Bereichs als eine Transgression und Anomalie aufgefasst wurde.49 Aber „[h]aving been identified as primarily citizens of the domestic universe, women are then deprived of power even within the world in which they are confined, since it is the man who wields authority within the family.“50 Das heißt also, dass die Frau selbst in der ihr zugewiesenen häuslichen Umgebung marginalisiert wird und der Autorität ihres Ehemannes untersteht. Das ist ein wichtiger Punkt, denn häufig wird darauf hingewiesen, dass die Frau eigentlich die heimliche Herrin des Hauses sei, doch dies ist in der Regel ein Trugschluss. Eine Mutter erhält zwar vor ihren Kindern Respekt und eine gewisse Auto-

48 Naâmane-Guessous 1991, S. 6 (Übers. d. Verfasserin). „[L]a hchouma de l’un n’est-elle pas la hchouma de l’autre: la hchouma pour le [sic!] jeune fille n’est pas la même que pour la femme, ou pour un homme; la hchouma pour les jeunes n’est pas la même que pour les vieux; la hchouma en ville n’est pas la même qu’à la campagne… Il ne faudrait pas non plus confondre de ce code de convenance avec qui est haram, c’est-à-dire interdit par la religion et punissable dans l’au-delà. […] La hchouma se présente donc comme un voile épais qui sépare deux mondes en totale opposition: l’un est régi par les us et coutume et exclut toute possibilité pour un être de s’affirmer en tant qu’individu, hors du modèle sociale; l’autre univers est fait de silence et de secrets, c’est le monde de la personne, au-delà des conventions.“ 49 Vgl. Mernissi 2003, S. 491. 50 Ebd.

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rität im Haus, aber zu ihren obersten Pflichten gehört der Gehorsam gegenüber ihrem Ehemann.51 Diese Gehorsamspflicht basiert auf dem Prinzip der qiwāma (Pflegschaft, Vormundschaft),52 welches von einer Komplementarität und nicht von einer Gleichheit der Geschlechter ausgeht.53 Das bedeutet, dass der Ehemann der Versorger (qawwam) und Beschützer seiner Ehefrau ist, während sie ihm im Gegenzug zum Gehorsam verpflichtet ist. Dieses aus dem islamischen Recht stammende System der Vormundschaft ist das Haupthindernis bei der Forderung nach egalitären Rechten zwischen Männern und Frauen in der sogenannten „islamischen Welt“. Weil es den Forderungen nach Gleichheit stets als gleichwertiges, dafür aber genuines, da islamisches, Gegenmodell entgegengestellt wird, dient dieses Prinzip konservativen Gesetzgebern als entscheidendes Werkzeug, Gleichstellungsforderungen auszuhebeln. Qiwāma bestimmt aber nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch die Rollenverteilung in Familie und Gesellschaft. Dies äußert sich nicht nur in dem Verhältnis zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen Vater und Tochter sowie Bruder und Schwester. Nach arabisch-islamischer Tradition wurden Mädchen zu Bescheidenheit und Unterwürfigkeit erzogen, welche als Voraussetzung für den Bestand der Ehe galt und das Gleichgewicht der Familie garantieren sollte.54 Das Erziehungsmodell rund um h’chouma war an das Mädchen adressiert. Jungen wie Mädchen haben innerhalb der Familie und der Gesellschaft Erwartungen bzw. genau festgelegte Rollen zu erfüllen: Mädchen die der Gehorsamen und Jungen die der Beschützer. Die kulturelle Norm verlangt von der Frau Eigenschaften wie Anstand, Bescheidenheit und Sittsamkeit und von den Männern physische und geistige Stärke, Mut und Virilität. Spätestens in der Pubertät, also mit dem Eintritt der Geschlechtsreife, erfahre das Mädchen eine strenge Überwachung und eine Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf den Aktionsradius des häuslichen Bereichs. Die Kontrolle, die sich in der Überwachung und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit der Mädchen äußerte, war mit dem Erhalt der Familienehre verbunden, die aufs engste mit dem Verhalten der Tochter oder Schwester konno-

51 Vgl. Höll 1979, S. 165; vgl. Mernissi 1991, S. 156. 52 Das Prinzip der qiwāma stützt sich auf Sure 4:34, die besagt, dass der Mann der Frau übergeordnet sei. Vgl. Der Koran, Sure 4:34. Auf diese Sure wird in Kapitel 2.5 genauer eingegangen. 53 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 11. 54 Vgl. Höll 1979, S. 171.

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tiert war.55 Den Mädchen würde in der Erziehung suggeriert, dass die Öffentlichkeit für eine junge Frau ein unangebrachter Ort sei und Gefahren berge. Tradierte Werte, etwa, dass die Frau ihr Glück und ihre Erfüllung ausschließlich innerhalb der Familie als Mutter und Hausfrau fände, weshalb sie sich, wenn es die wirtschaftliche Lage der Familie erlaubte, nur ihrem Haushalt und der Familie widmen sollte,56 spielen auch heutzutage, je nach Elternhaus, eine wichtige Rolle in der Erziehung des Mädchens.57 Auf diesem Rollenverständnis basierte das marokkanische Familienrecht bis zu seiner Reform im Jahr 2004. Durch den Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt sowie die Partizipation von Frauen in der Politik ist dieses traditionelle Rollenverständnis jedoch in einem Wandel begriffen.

2.4 FRAUEN IM ÖFFENTLICHEN RAUM Die Tradition der sozialen Segregation, in der Männern der öffentliche und Frauen der private, d.h. der heimische, Raum zugewiesen wird, hat eine lange Praxis in der sogenannten „islamischen Welt“ und diente als effektivstes Kontrollinstrument außerehelicher Sexualität.58 Als prägnantestes Beispiel für die Geschlechtertrennung ist der Harem anzuführen, in dem sich die Frauen nur in den Hausgemächern aufhielten und sich den Blicken eines männlichen Gastes entziehen mussten, wenn dieser das Haus betrat.59 Der private Raum wurde als Ort der Sexualität und der Familie definiert, während der öffentliche Raum den Männern zugeschrieben wurde. Er gehörte, Mernissi zufolge, dem Universum der Männer an, womit sie die Umma (Gemeinschaft der Gläubigen) per se meint.60 Die größte Angst der Umma sei die Erschütterung der bestehenden sozialen Ordnung, als deren Urheberin die Frau bzw. ihre Sexualität gelte:

55 Vgl. Sadiqi 2003, S. 59. 56 Vgl. Höll 1979, S. 184; vgl. Sadiqi 2003, S. 30. 57 Naguib, Nefissa: Women, water and memory. Recasting lives in Palestine, Leiden [u. a.] 2009, S. 106. 58 Vgl. Mernissi 1982, S. 189. 59 Vgl. Mernissi 1991, S. 160. 60 Vgl. ebd., S. 155.

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„What is feared in the Islamic tradition, and what must be controlled, is not sexuality in general. It is female sexuality, since female nature is the symbol of destruction. Left unbridled, a woman’s very nature is likely to lead to chaos. Her subversive tendencies must therefore be restrained, and her behavior regulated, if social disruption is to be avoided. Conceptions of the moral order require that […] the woman [must] be tamed to become all obedience and passivity.“61

Die Grenze zwischen dem öffentlichen und privaten Raum verwischt jedoch zunehmend aufgrund der Berufstätigkeit von Frauen seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts. Die ökonomischen Veränderungen, die im Zuge der Kolonialzeit die marokkanische Gesellschaft erreichten, hatten zur Folge, dass zunehmend auch Frauen den Arbeitsmarkt aufsuchten, um die Familie finanziell zu unterhalten, vor allem als Zubrot zu den Einkünften des Mannes. Die wirtschaftliche Lage zwang viele Frauen also den Schutz des privaten Raums aufzugeben. In den Städten gingen Frauen bereits zu Zeiten der Unabhängigkeitsbestrebungen in den 1930er Jahren einer beruflichen Tätigkeit nach. Sie waren häufig in der Textil- und Bekleidungsindustrie tätig, während Frauen auf dem Land seit jeher im primären Wirtschaftssektor der Landwirtschaft und Viehzucht beschäftigt waren.62 Infolge konjunkturellen Aufschwungs nach der Unabhängigkeit Marokkos und dem damit einhergehenden Bedarf an Arbeitskräften, erfolgte eine Eingliederung von Frauen in den offiziellen Arbeitsmarkt.63 Der Anteil erwerbstätiger Frauen stieg von 5,6% im Jahr 1960 auf 27% im Jahr 2004 stetig an, wie in der Tabelle ersichtlich wird.

61 Charrad, Mounira M.: States and women’s rights. The making of postcolonial Tunisia, Algeria, and Morocco, Berkeley [u. a.] 2001a, S. 57. 62 Vgl. Mernissi 1991, S. 181. 63 Vgl. Sadiqi 2003, S. 69.

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Tabelle 1: Anteil erwerbstätiger Frauen am Arbeitsmarkt Jahr der Beschäftigung

Erwerbstätige Frauen (in Prozent)

1960

5,6%

1971

10,8%

1982

14,7%

1994

17,3%

2004

27,0%

2012

26,1%

Quelle: Haut-Commissariat au Plan: Femmes Marocaines et marché du travail. Caractéristiques et evolution (2013).

Bei der letzten Erhebung im Jahr 2012 ist die Zahl mit 26,1% leicht rückläufig, was darauf zurückzuführen ist, dass bei steigender Arbeitslosigkeit proportional mehr Frauen entlassen werden als Männer und dass mehr Frauen im informellen Sektor angestellt sind, die in den Statistiken nicht erfasst werden. Die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt wirkte sich positiv auf ihre gesellschaftliche Partizipation und generell auf ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Raum aus, bot ihnen doch die Berufstätigkeit eine Rechtfertigung, den privaten Raum zu verlassen und den öffentlichen zu betreten. Ihre Erwerbstätigkeit hatte nicht nur Auswirkungen auf ihre traditionelle Geschlechterrolle, sondern auch auf die Familie, die sich innerhalb weniger Jahre von der Großfamilie zur Kernfamilie entwickelte.64 Allerdings ist trotz des positiven Nebeneffekts nicht zu vergessen, dass die meisten Frauen aus finanzieller Not heraus einer meist schlecht bezahlten Beschäftigung, häufig im informellen Sektor,65 seltener auch als Büroangestellte, nachgingen. Zwar ist der Anteil arbeitender Frauen seit den 1960er Jahren stetig gestiegen, allerdings blieben ihnen aufgrund negativer Einstellungen und bestehender Vorurteile leitende Positionen oder Stellen als Entscheidungsträgerinnen verwehrt.66 Sadiqi merkt überdies an, dass Frauen aus der sozialen Mittel- und Unterschicht aus 64 Vgl. Sadiqi 2003, S. 30. 65 Beispielsweise als Hausangestellte in französischen Haushalten oder in Haushalten der marokkanischen Oberschicht. Vgl. ebd., S. 76. 66 Vgl. Ennaji, Moha: „Steps to the integration of Moroccan women in development“, in: British Journal of Middle Eastern Studies, 35 (3) 2008, S. 339-348, S. 340.

Traditionelle Vorstellungen von Jungfräulichkeit | 71

wirtschaftlichen Gründen gearbeitet haben, um einen Nebenverdienst zu den Einkünften ihres Ehemannes zu erbringen, während Frauen aus der oberen Gesellschaftsschicht vordergründig einer Arbeitsbeschäftigung – zumeist im privaten oder öffentlichen Sektor – nachgingen, um soziales Prestige zu erlangen.67 Heutzutage arbeiten Frauen dank besseren Bildungszugangs vor allem aus Gründen der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Die Studentinnen, mit denen ich gesprochen habe, bestätigten mir diese Beobachtung. Aus nahezu allen Interviews mit ihnen ging hervor, dass sie studieren würden, um später finanziell unabhängig zu sein oder ihre Familie zu unterstützen. Als weiteren Grund führten einige von ihnen auch die Erweiterung des geistigen Horizonts an. Besonders die jungen Frauen, deren Familie aus der Arbeiterschicht stammt, wünschten sich durch ihren zukünftigen Beruf finanzielle Freiheiten, die Möglichkeit zur Erlangung materieller Güter und die Möglichkeit zu reisen bzw. Urlaub zu machen. Bildung und Arbeit von Frauen sind entscheidend für gesellschaftliche Entwicklungs- und Demokratisierungsprozesse. Erst eine finanzielle Unabhängigkeit schafft die Voraussetzung für die Emanzipation der Frau. Je mehr Frauen in die Erwerbstätigkeit treten, umso unabhängiger können sie ihr Leben gestalten, weil die ökonomische Abhängigkeit vom Mann oder ihren Familien nicht weiter als Druckmittel eingesetzt werden kann. Mir wurde in den Interviews von Seiten der Studentinnen sowie einiger Studenten auf die Frage, was die Erwerbstätigkeit von Frauen für die Gesellschaft bedeute, geantwortet, dass ihnen dadurch die Möglichkeit geboten werde, sich scheiden zu lassen, ohne dabei einen Verlust ihrer finanziellen Absicherung zu erleiden, da sie finanziell für sich selbst sorgen könnten. Der Aspekt der wirtschaftlichen Unabhängigkeit einer berufstägigen Frau vom Mann oder ihrer Familie wird anhand der oben erwähnten Ausführungen ersichtlich. Des Weiteren habe ich in informellen Gesprächen von älteren arbeitstätigen Frauen aus dem Freundes- oder Verwandtenkreis meiner Informanten erfahren, dass diese sich ausdrücklich gegen tradierte Gendernormen, eine Heirat und Kinder entschieden und dass sie mit ihrem Partner auch ohne Trauschein zusammenwohnten. Deshalb manifestierte sich bei mir der Eindruck, dass eigentlich nur diejenigen Frauen sich für ein unkonventionelles Lebensmodell – ein Modell, in dem Heirat und Kinder nicht vorkommen – entscheiden können, die beruflich erfolgreich sind und finanziell für sich selbst sorgen können. Die Erwerbstätigkeit der Frauen, die mit ihrer finanziellen Unabhängigkeit einhergeht, kann demnach die Verschiebung tradierter Genderrollen bewirken.

67 Vgl. Sadiqi 2003, S. 76.

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Außerdem habe ich im Verlauf meiner Feldforschung den Eindruck erhalten, dass diejenigen Frauen, die ein eigenes Auto besitzen, eine gewisse Autonomie in ihrer Bewegungsfreiheit erfahren, sowohl was die Orte, die sie aufsuchen, als auch die Zeiten, an denen sie unterwegs sind, betrifft. Nahezu alle jungen Frauen, die ich kennengelernt habe, verfügen über einen Führerschein und die meisten von ihnen besitzen ein eigenes Auto. Eine meiner engsten Vertrauten bekam von ihrem Vater gleich nach Erhalt ihres Führerscheins ein Auto geschenkt, um damit zum Gymnasium fahren zu können und nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Für viele Familien scheint es aufgrund des männlich dominierten öffentlichen Raums und der weitverbreiteten Belästigung von Frauen auf der Straße sowie ihrer Sicherheit wegen wichtig zu sein, ihren Töchtern so früh wie möglich ein Auto zu kaufen, damit sie sich in der Öffentlichkeit ungehindert und sicher bewegen können. Das traditionelle Rollenverständnis, auf dem die soziale Ordnung basierte, wird durch das Auftreten der Frauen außerhalb des privaten Raums aus dem Gleichgewicht gerissen. Es rufe in den Männern unbewusste Konflikte und Ängste hervor und würde von ihnen als eine Transgression aufgefasst, weil sie der Ansicht seien, dass dieser Raum traditionellerweise ihnen zustehe.68 Frauen würden von ihnen als Eindringlinge in die Öffentlichkeit und als Bedrohung wahrgenommen, nicht nur weil sie aufgrund ihrer sexuellen Reize als Urheberinnen von sozialer Unordnung (fitna) beargwöhnt würden,69 sondern auch weil sie zunehmend als Konkurrentinnen auf dem Arbeitsmarkt betrachtet würden.70 Das Konzept des Mannes als Alleinversorger, auf dem das islamische Prinzip der Komplementarität der Geschlechter und die Geschlechterordnung fußten, droht obsolet zu werden. Dies ist auch der Grund, warum die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frau in muslimisch geprägten Gesellschaften solch ein identitäres und emotional aufgeladenes Thema ist. Deshalb wird das Auftreten von Frauen im öffentlichen Raum einer strengen Kontrolle unterzogen, umso stärker wenn sie alleine wohnen, was immer häufiger der Fall ist, da junge Frauen der Arbeit wegen in die Städte ziehen, um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Traditionellerweise wurde der Aufenthalt von Frauen in der Öffentlichkeit durch die Not gerechtfertigt, bspw. durch die Arbeitssuche sozial benachteiligter Frauen. Respektable

68 Vgl. Mernissi 1991, S. 166. 69 Vgl. Sadiqi 2003, S. 180. 70 Vgl. Mernissi, Fatima: „The meaning of spatial boundaries“, in: Lewis, Reina/ Mills, Sara (Hg.): Feminist postcolonial theories. A reader, Edinburgh 2003, S. 489-501, S. 496.

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Frauen, so Mernissi, hielten sich nicht auf der Straße auf: „Only prostitutes and insane women wandered freely in the streets.“71 Wenn eine Frau sich unbegleitet in der Öffentlichkeit bewegt, wird ihr von der konservativen Bevölkerung deshalb eine lose Moral vorgeworfen. Sie werden häufig Opfer sexueller Belästigungen, weshalb viele von ihnen versuchen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten und zu kleiden und dadurch gewissermaßen ‚unsichtbar‘ zu werden, bspw. durch das Tragen eines Schleiers (Hijab). Um Gerüchte bzw. Beschädigungen ihres Rufes oder gar üble Nachrede zu vermeiden, bietet er den jungen Frauen als einziges – wenn auch nicht immer probates – Mittel, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, ohne Opfer sexueller Belästigung zu werden.72 Dies erklärt zum Teil auch, weshalb der Hijab bei jungen Frauen in den letzten Jahren immer populärer geworden ist. Das heißt jedoch mitnichten, dass verschleierte Frauen in der Öffentlichkeit weniger belästigt würden. Die Tatsache, dass nicht nur Frauen ohne Kopftuch, die bei jungen marokkanischen Frauen eindeutig die Mehrheit ausmachen, sondern auch verschleierte Frauen Opfer von Sexismus im öffentlichen Raum werden, bestätigten mir viele Hijabträgerinnen. Die Islamistin Nadia Yassine sagte mir im Interview, es sei „wie eine Krankheit in Marokko“73 und fand damit, meiner Meinung nach, die passende Beschreibung für dieses Phänomen.

71 Mernissi 2003, S. 493. 72 Vgl. Maddy-Weitzman, Bruce: „Women, Islam, and the Moroccan state. The struggle over the personal status law“, in: Middle East Journal: Democratization and Civil Society, 59 (3) 2005, S. 393-410, S. 397; vgl. Sadiqi 2003, S. 180. 73 Interview mit Nadia Yassine am 26.11.2009 in Rabat. Yassine ist die Tochter des Gründers von „Jamaʿat Al-ʿAdl wa-l-Ihsan“ („Gemeinschaft für Gerechtigkeit und Wohlfahrt“), einer sozialen Bewegung, die die einzige wirkliche Opposition in Marokko darstellt. Sie ist eine illegale, aber geduldete islamistische Organisation mit sufistischen Einflüssen, die die Monarchie infrage stellt und sich eine Theokratie, als die optimale Herrschaftsform, herbeiwünscht. Ihre Anhängerschaft reicht von Schülern und Studenten über Beamte bis zu arbeitslosen jungen Frauen und Männer. Die Bewegung verfügt im ganzen Land über ein breites Netzwerk an Unterstützern. Vgl. Munson, Henry Jr.: Religion and power in Morocco, New Haven 1993, S. 173f. Aufgrund der nicht einzuschätzenden, aber dennoch immensen Anhängerzahl, gilt sie vielen Mitarbeitern des NRO-Sektors als sehr einflussreich. Bildung gehört zur Grundlage ihrer Arbeit. So betreibt die Organisation zahlreiche Bildungs-, studentische Orientierungs- und soziale Hilfsorganisationen.Vgl.

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Über die Schutzfunktion hinaus, die ein Schleier bieten kann, kann er auch als ein Symbol der muslimischen Identität fungieren. Dabei wird er häufig auch als Synonym für die Ehrbarkeit der Trägerin verwendet. Die Verschleierung kann somit auch einen gewissen Wertekonservatismus implizieren. In einer Studie des marokkanischen Wirtschaftsmagazins „L’Economiste“ über die Wertvorstellung der marokkanischen Jugend wurden 1.023 Jugendliche, von denen die Mehrheit (82%) unter 25 Jahre alt war, u. a. zu ihrer Meinung bezüglich des Hijabs befragt.74 Obwohl die Studie nicht repräsentativ ist, vermag sie dennoch Tendenzen aufzuzeigen, die von gesamtgesellschaftlicher Relevanz sind. Zwei Drittel der Befragten, davon 68% der Männer und 63% der Frauen, äußerten sich positiv gegenüber dem Hijab. Dies muss jedoch keinesfalls heißen, dass sie diesen auch anlegen würden oder bereits angelegt hätten, dennoch zeigt diese Erhebung, in welche Richtung sich die Wertvorstellungen der Jugendlichen bewegen. Die Überschrift dieser Frage „Le hijab plus fort que jamais“ („Der Hijab so stark wie nie zuvor“) deutet nämlich darauf hin, dass ein Trend in Richtung Konservatismus stattfindet. Das verdeutlicht, dass nur weil man zur Kohorte der Jugendlichen gehört, man nicht zwangsläufig liberale Vorstellungen vertreten muss. Jugendliche können genauso konservativ sein, wie jede andere soziale Gruppe.75 Die Umfrage gelangt darüber hinaus zu dem Schluss, dass je ärmer die Männer sind, es desto wahrscheinlicher ist, dass sie das Tragen des Schleiers befürworten und sich auch eine verschleierte Ehefrau wünschen. Das Gleiche konnte bei der Gruppe der über 25-jährigen ermittelt werden und zwar unabhängig ihres sozialen Hintergrundes.76 Dies könnte darauf hindeuten, dass das Tragen eines Schleiers mit zunehmendem Alter favorisiert wird. Der öffentliche Raum wird nach wie vor von der Männerwelt dominiert, welche das Stadt- und Straßenbild77 prägen, und ist überdies zuweilen von Misogynie geprägt.78 Sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit stellt in Marokko ein großes

Cavatorta, Francesco: „Civil society, Islamism and democratization. The case of Morocco“, in: Journal of Modern African Studies, 44 (2) 2006, S. 203-222, S. 213. 74 Vgl. L’Economiste: „Les jeunes d’aujourd’hui 2011“, Juni 2011, S. 22. 75 Vgl. Bayat, Asef: „Reclaiming youthfulness“, in: Khalaf, Samir/ Khalaf, Roseanne Saad (Hg.): Arab youth. Social mobilization of Arab youth, London 2011, S. 47-65, S. 48. 76 Vgl. L’Economiste 2011, S. 23. 77 Die gesamte Café-Kultur in Marokko ist z. B. von Männern dominiert. Besonders in ärmeren Gegenden oder in Städten, die weitestgehend nicht touristisch sind, halten sich keine Frauen in Cafés auf. 78 Vgl. Sadiqi 2003, S. 180.

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Problem dar, obwohl der Staat versucht hat, sie durch Kampagnen und rechtliche Bestimmungen79 einzudämmen, und schränkt die Mobilität von Frauen in großem Maße ein.80 Sexuelle Belästigung gehört zum alltäglichen Erfahrungshorizont von Frauen in Marokko. Ihnen wird auf subtile (Blicke), verbale (Zurufe) oder, im schlimmsten Falle, physische Art (Übergriffe) unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Öffentlichkeit für sie einen ungeschützten Raum darstellt. Häufig ist es so, dass die Frauen sexuelle Übergriffe aus Schamgefühl nicht melden, weil sie Angst haben, von der Polizei selbst dafür beschuldigt zu werden. Sexuelle Belästigung ist als direkte Konsequenz der rigiden Sexualmoral und der Geschlechtertrennung zu verstehen. Beide Geschlechter, aber insb. Frauen, werden als sexuelle Wesen per se gedacht und können aufgrund der Kriminalisierung und Tabuisierung der Sexualität nur schwer Beziehungen zueinander aufbauen. Junge Männer seien aufgrund des vorehelichen Sexualverbots sexuell unausgeglichen.81 Häufig fehle ihnen ein Bezug zum anderen Geschlecht und die einzige Erfahrung, die sie über Frauen teilen würden, stamme aus dem Internet und nicht

79 Sexuelle Belästigungen werden gemäß dem Strafgesetzbuch mit einem bis zwei Jahren Gefängnis und einem Bußgeld von 5.000 bis 50.000 Dirhams (ca. 500 bis 5.000 Euro) bestraft. Allerdings handelt es sich hierbei um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Vgl. Artikel 503-1 des Code Pénal, 1963. Der Originaltext „Est coupable d'harcèlement sexuel et puni de l'emprisonnement d'un an à deux ans et d'une amende de cinq mille à cinquante milles dirhams, quiconque, en abusant de l'autorité qui lui confère ses fonctions, harcèle autrui en usant d'ordres, de menaces, de contraintes ou de tout autre moyen, dans le but d'obtenir des faveurs de nature sexuelle“. Übers. d. Verfasserin: „Der sexuellen Belästigung für schuldig erklärt und mit einer Gefängnisstrafe von einem bis zu zwei Jahren und einem Bußgeld von 5.000 bis 50.000 Dirhams bestraft, wird jeder, der seine Autorität und die Funktion, die ihm übertragen wurde, mittels des Gebrauchs einer Aufforderung, Drohung, Beschränkung oder jedes anderen Mittels, mit dem Ziel verletzt, sexuelle Dienste zu erhalten“. 80 Vgl. Sadiqi, Fatima: „Morocco“, in: Kelly, Sanja/ Breslin, Julia (Hg.): Women’s rights in the Middle East and North Africa. Progress amid resistance, New York [u. a.] 2010, S. 311-337, S. 322. 81 Vgl. Kendili, Imane/ Berrada, Soumia/ Kadiri, Nadia: „Homosexuality in Morocco. Between cultural influences and life experience“, in: Sexologies, (19) 2010, S. 153-156, S. 155.

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selten von pornographischen Seiten.82 Die Tradition der Segregation der Geschlechter habe die Erotisierung des Anderen, die sexuelle Dimension aller Beziehungen zwischen den Geschlechtern bloß verstärkt.83 Frauen würden zur Projektionsfläche männlicher Sexualfantasien objektiviert, insb. dann, wenn sie sich ohne Begleitung in der Öffentlichkeit bewegten. Deshalb müssten sie sich und „ihre körperliche Anwesenheit verleugnen, um nicht den männlichen Blick herauszufordern, der sie zum Objekt macht. Treten Frauen körperlich in Erscheinung, zeigen sie damit an, dass sie keinem bestimmten Mann gehören, so dass anderen Männern der Zugriff auf sie auch ohne Erlaubnis gestattet ist. In einem solchen Szenario gehen sie aus dem privaten in den öffentlichen Besitz über.“84

Der sexualisierte Blick des Mannes auf die Frau ist maßgeblich für die Beschneidung ihrer Rechte verantwortlich. Al-Ghazali zufolge ist auch das Auge zweifelsohne eine erogene Zone und das Anschauen der Ehefrau eines Anderen stellt eine Sünde dar. Diese sei jedoch nicht so gravierend wie voreheliche Sexualbeziehungen.85 Bereits 1899 fragte der ägyptische Jurist und Begründer der ägyptischen Nationalbewegung Kassim Amin in seinem Buch Tahrir Al-Mar‘ah („Die Befreiung der Frau“), warum sich nicht die Männer verschleiern oder sich das Gesicht verdecken müssten, wenn sie solch eine Angst davor hätten, von den Frauen verführt zu werden.86 Weshalb also verhüllen die Männer nicht ihren Blick auf die

82 Vgl. Kadiri, Nadia/ Berrada, Soumia: Manuel d’éducation sexuelle. A l’usage des jeunes, Casablanca 2009, S. 72. Eine Untersuchung des Internetdienstes Google hat ergeben, dass die meisten Suchanfragen zu den Themen „Sex“ und „Porno“ aus Pakistan, Ägypten und Saudi-Arabien stammen. Vgl. Anonymus: „NSA sieht Islamisten beim Pornogucken zu“, in: Stern.de (28.11.2013). 83 Vgl. Chebel 1997, S. 23; vgl. Mernissi 2003, S. 491. 84 Farahani, Fataneh: „Abwesend anwesend sein. Überlegungen zur diskursiven Praxis des Schleiers“ in: Härtel, Insa/ Schade, Sigrid (Hg.): Körper und Repräsentation, Opladen 2002, S. 114. 85 Vgl. Al-Ghazali: Revivification, o.O. o. J., S. 35. Zit. n. Mernissi 2003, S. 500. 86 Vgl. Amin, Kassim: La libération de la femme, o.O. 1975, S. 27. „C’est quand même étonnant! Pourquoi ne demande-t-on pas aux hommes de porter le voile ou de dérober leur visage aux regards des femmes s’ils craignent tant de les séduire ? La volonté masculine serait-elle inférieure à celle des femmes?“ Übers. d. Verfasserin: „Das ist doch erstaunlich! Warum fordert man nicht von den Männern, den Schleier zu tragen oder sich

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Frauen, wenn sie sich ihren Reizen nicht widersetzen können? Impliziert es nicht auch, dass Männer, dieser Auffassung zufolge, als willensschwach und der Selbstkontrolle unfähig zu verstehen sind? Tut man ihnen damit nicht Unrecht und tun v.a. diejenigen Männer, die die Verschleierungspflicht der Frau auf Grundlage der oben erwähnten Argumente fordern oder rechtfertigen, nicht in erster Linie sich selbst Unrecht an? Die hierarchische Gesellschaftsstruktur, in der das Patriarchat dominiert, zeigt den Frauen durch sexuelle Belästigung eindeutig ihre Grenzen auf und zwingt sie gewissermaßen, im Schutz des privaten Raums zu bleiben. Trotz der anhaltenden Benachteiligungen von Frauen und der Beibehaltung tradierter Lebensweisen und Projektionen lässt sich feststellen, dass sich in den letzten Jahren auch positive Veränderungen bemerkbar gemacht haben. Einer Umfrage aus den Jahren 2009 und 2010, bei der 2.000 Frauen zu ihrer Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum befragt wurden, ergab, dass 42% von ihnen angaben, sich in der Öffentlichkeit völlig frei bewegen zu können und 49% gaben an, dass sie sich relativ frei bewegen könnten.87 Der oben erwähnten Umfrage zufolge behaupteten 16% der Frauen, jeden Tag sexuellen Belästigungen ausgeliefert zu sein, 24% sprachen davon, relativ häufig belästigt zu werden, während 60% angaben, keine sexuellen Belästigungen erfahren zu haben. 40% der Befragten erfuhren also sexuelle Belästigung. Ein hoher Prozentsatz könnte man auf den ersten Blick meinen. Ich denke jedoch, dass er noch viel höher ist, denn nicht jede Frau traut sich, derartiges zu verlautbaren. Darüber hinaus variiert das Verständnis davon, wo sexuelle Belästigung beginnt, erheblich. Ein Drittel der von mir interviewten Studentinnen verstand bspw. obendrein nicht, was ich mit sexueller Belästigung meinte. Das führte dazu, dass ich auf die Frage, ob sie schon einmal sexuell belästigt worden wären, zunächst eine verneinende Antwort erhielt. Erst bei genauerer Erläuterung meinerseits, wurde mir von sexuellen Anspielungen oder dem Auflauern oder Verfolgen seitens der Männer auf der Straße berichtet. Viele Frauen assoziieren mit sexueller Belästigung also vornehmlich körperliche Übergriffe, aber die Belästigung beginnt

das Gesicht vor den Blicken der Frauen zu bedecken, wenn sie dermaßen fürchten, von ihnen verführt zu werden. Wäre der Wille des Mannes etwa geringer als der der Frauen?“ 87 Vgl. International Foundation for Electoral Systems (IFES) und Institute for Women’s Policy Research (IWPR): The status of women in the Middle East and North Africa (SWMENA) Project. Focus on Morocco: Freedom of movement, & Freedom from harassment & violence – topic brief, 2010, S. 2.

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bereits durch zudringliche Blicke und vermeintliche Komplimente.88 Gerade diejenigen Studentinnen, die sich über die Definition der sexuellen Belästigung nicht im Klaren waren, aber auch einige andere aus meiner Untersuchungsgruppe, bagatellisierten diese Belästigungen ferner als eine Form der ‚marokkanischen Flirtkultur‘. Zwei Studentinnen gaben sogar an, sie würden die Blicke und Zurufe der Männer in der Öffentlichkeit sogar begrüßen und bei ihrem Ausbleiben vermissen. Es wird deutlich, dass die Grenzen dessen, was als sexuelle Belästigung verstanden wird, nicht klar definiert und daher fließend sind und vielmehr von der subjektiven Beurteilung der Einzelnen abhängen.

2.5 DIE FURCHT VOR DER WEIBLICHEN SELBSTBESTIMMUNG Die Segregation nach Geschlechtern rührt daher, dass Männer und Frauen primär als sexualisierte Wesen verstanden werden. Ein wichtiger Aspekt, auf dem dieses Verständnis beruht, entstammt der theologischen Perspektive, der die Auffassung zugrunde liegt, dass die weibliche Sexualität – im Gegensatz zur passiven männlichen Sexualität – aktiv sei und bedrohliche Folgen für die Gesellschaftsordnung habe. Nach diesem Verständnis besäßen Frauen, da sie ihre sexuellen Reize beherrschen und bewusst einsetzen könnten, eine sexuelle Verantwortung.89 Das islamische Konzept von Sexualität unterscheidet zwischen der männlichen und der weiblichen Sexualität. Laut Mir-Hosseini wird davon ausgegangen, dass das weibliche sexuelle Verlangen größer sei als das der Männer. Dieses Verlangen würde jedoch von zwei Faktoren gemildert werden: durch die Bescheidenheit und Schüchternheit (hayā) der Frauen und die Ehre und Eifersucht (ghīra) der Männer.90 Einzig mittels dieser Prinzipien könne die sexuelle Kraft der Frauen begrenzt und kontrolliert werden. Fatima Mernissi zufolge liegt der Ursprung dieser Auffassung in männlich dominierten Koraninterpretationen, wie beispielsweise von Al-Ghazali, in der die Frau

88 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Frauen vor Gewalt schützen. Sexuelle Belästigung (10.12.2014). 89 Vgl. Ilkkaracan 2002, S. 757. 90 Vgl. Mir-Hosseini, Ziba: The construction of gender in Islamic legal thought and strategies for reform“, in: Hawwa 1 (1) 2003, S. 1-28, S. 10.

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als Jägerin und der Mann als ihr passives Opfer verstanden würde.91 Mernissi stellt Al-Ghazalis Verständnis über die weibliche Sexualität der von Sigmund Freud gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass Freud im Unterschied zu Al-Ghazali die Frau als passives Subjekt verstehe, das Vergnügen in der Hingabe und der Unterwerfung suche. Aus beiden Theorien wird erkenntlich, dass männlich dominierte Narrative das Bild von Frauen prägten, mit der Absicht, ihre sexuelle Entfaltung zu kontrollieren bzw. zu unterbinden. Das folgende Zitat verdeutlicht die Wirkung, die Frauen in muslimischen Gesellschaften nachgesagt wird: „Der Frau im Islam wird eine fatale Anziehungskraft zugesprochen, die den männlichen Willen, ihr zu widerstehen, bricht und den Mann auf eine passive, fügsame Rolle reduziert. Es bleibt ihm keine andere Wahl: Er kann sich ihrer Faszination nicht entziehen, deshalb wird die Frau mit fitna, dem Chaos gleichgestellt und ist die Inkarnation der antigesellschaftlichen und antigöttlichen Kräfte des Universums.“92

Die Frau wird als eine personifizierte Versuchung imaginiert, die eine ständige Gefahr für die Männerwelt bedeutet. Ihre – als aktiv gedachte – Sexualität führe, wenn sie nicht kontrolliert werde, zwangsläufig zu sozialem Chaos (fitna) und der Zerstörung der patriarchalen Gesellschaftsordnung.93 Diese Unordnung würde mit der Ǧahilīya,94 dem Heidentum im vorislamischen Arabien, gleichgesetzt, wobei die Frau als Symbol für die vergangene und bevorstehende Ǧahilīya gefürchtet werde.95 Dieser Begriff wird als Synonym für ein Zeitalter der Unwissenheit, Unordnung, Ausschweifung, der Barbarei und heidnischer Wildheit verwendet, das erst mit dem Aufkommen des Islam in gemäßigte Bahnen gebracht und zivilisiert wurde.96 Dabei bezieht sich die Unwissenheit auf das „Nicht-Wissen“ über (den einzigen) Gott.97 Denn in dieser Zeit wurden viele Gottheiten aus Stein angebetet, bevor sie von Mohammed und seinen Anhängern zerstört wurden. Unter diesen Gottheiten befan-

91 Vgl. Ilkkaracan 2002, S. 757; vgl. Mernissi 1991, S. 27. 92 Ebd., S. 26. 93 Vgl. Ilkkaracan 2002, S. 755, 757. 94 Ǧahil bedeutet im Arabischen als Adjektiv: ignorant, unwissend, uniformiert, und als Substantiv: Ignorant, Unwissender oder Analphabet. 95 Vgl. Mernissi 1991, S. 64ff, S. 87f. 96 Vgl. Heller/ Mosbahi 1993, S. 17. 97 Gott heißt im Arabischen al-ilah, was zusammengesetzt zu Allah wurde (was in der arabischen Sprache heute für den einen Gott, im monotheistischen Sinne, steht).

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den sich drei weibliche: Manat, al-Uzza und al-Lat.98 Letztere war für das Wüstenvolk der Nabatäer die Mutter aller Götter; für die anderen Araber waren sie und die beiden anderen Göttinnen Töchter des Gottes Hubal, die als Vermittlerinnen zwischen ihm und den Menschen fungierten.99 Die Mekkaner waren ihren Göttinnen so treu ergeben, dass sie nur dann friedlich zum Islam übergetreten wären, wenn Mohammed die Göttinnen als „Töchter Allahs“ akzeptierte, worauf er sich zunächst auch einließ. So heißt es, er habe sie in Sure 53 aufgenommen: „Was meint ihr denn von al-Lat und al-Ozza und Manat, der anderen, dritten? Sie sind die erhabenen Kraniche, ihre Fürsprache kann man erhoffen“.100 Diesen Kompromiss habe er jedoch kurz darauf mit dem Verweis, es habe sich um „Einflüsterungen des Satans“ gehandelt, widerrufen.101 Kurze Zeit später, so die Überlieferung, erschien ihm Engel Gabriel mit folgender Botschaft: „Und sie (d.h. die Ungläubigen) hätten dich beinahe in Versuchung gebracht, von dem, was wir dir als Offenbarung eingegeben haben, abzuweichen, damit du gegen uns etwas anderes als den Koran aushecken würdest. Dann hätten sie dich zum Freund genommen! Wenn wir dich nicht gefestigt hätten, hättest du bei ihnen fast ein wenig Anlehnung gesucht.“102

Rudi Paret erläutert diese vermeintliche Verfehlung des Propheten in seinem Buch Mohammed und der Koran folgendermaßen: „Ein persönlicher, wenn auch vielleicht sachlich begründeter Wunsch von ihm [Mohammed] hatte in einer Offenbarung Gestalt angenommen. Nachträglich stellte Mohammed fest, daß [sic!] er zu weit gegangen war und sich getäuscht hatte. Die eigentliche Schuld ließ sich aber

98

Vgl. ebd., S. 21.

99

Vgl. Ali, Jawad: „Origines de l’islam. Ses racines païennes matriarcales – les 3 déesses de la Kaaba“. Originaltitel in arabischer Sprache: Alī, Ǧawād: Al-Mufaṣṣal fī tārīḫ alʿarab qabla 'l-Islām, al-Hilla 2006, 5. Band, S. 223.

100 Paret, Rudi: Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten, Stuttgart 102008, S. 67. Paret selbst entnimmt das Zitat von Al-Tabari, Kommentar XVII, S. 119-121. 101 Auf diese Verse spielt der Buchtitel „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie an, der nach der Publikation vom iranischen Revolutionsführer Khomeini mit einer Fatwa (islamisches Rechtsgutachten), die seinen Tod forderte, belegt wurde und seither im englischen Exil lebt. 102 Der Koran, Sure 17:73.

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auf den Teufel abschieben. Der typische Versucher hatte sich sozusagen in den Offenbarungsempfang eingeschaltet.“103

Die folgende Sure ist, Parets Verständnis zufolge, direkt im Zusammenhang mit dieser Einsicht Mohammeds herabgesandt worden: „Und wir haben vor dir keinen Gesandten oder Propheten (zu irgendeinem Volk) geschickt, ohne daß [sic!] ihm, wenn er etwas wünschte, der Satan (von sich aus etwas) in seinen Wunsch unterschoben (oder: eingegeben, w. gelegt) hätte. Aber Gott tilgt [abrogiert] dann (jedesmal) was der Satan (dem Gesandten oder Propheten) unterschiebt. Hierauf legt Gott seine Verse (eindeutig) fest. Er weiß Bescheid und ist weise.“104

Die „satanischen Verse“ sind in keiner Koranausgabe mehr zu finden und ihre Existenz wird von den meisten Islamgelehrten bestritten, gleichwohl Al-Tabari in seinem Korankommentar beweisen konnte, dass sie in Sure 53:19-23 gestanden haben. Im Koran, wie wir ihn heute kennen, erinnert nur noch die gleichnamige Sure 53:19-23 an den Versuch, die Mekkaner mit friedlichen Mitteln zur Konversion zu bewegen: „Was meint ihr denn (wie es sich) mit al-Lat und al-Ussa (verhält), und weiter mit Manat; der dritten (dieser weiblichen Wesen) (w. und Manat, der dritten, anderen)? (Sind sie etwa als Töchter Gottes anzusprechen?) Sollen euch männliche Wesen zukommen, und Gott die weiblichen (die ihr Menschen für euch nicht haben wollt)? Das wäre eine ungerechte Verteilung. Das sind bloß Namen, die ihr und eure Väter aufgebracht habt, und wozu Gott keine Vollmacht herabgesandt hat. Sie (d.h. diejenigen, die derartige Wesen als göttlich verehren) gehen nur Vermutungen nach und dem, wonach (ihnen) der Sinn steht, wo doch die Rechtleitung von ihrem Herrn zu ihnen gekommen ist.“105

Mohammed wurde nach Verkündigung dieser Sure aus Mekka vertrieben und wanderte nach Medina aus. Dieses Ereignis, die Hijra (Wanderung), ist die Geburtsstunde des Islam, welche auf das Jahr 622 n. Chr. datiert ist. Die Kaa’ba (Würfel), heiligster Ort der Muslime in Mekka, war in der vorislamischen Zeit der Tempel der Göttin al-Lat. In der östlichen Ecke des Gebäudes

103 Paret 102008, S. 67. 104 Der Koran, Sure 22:52. 105 Ebd., Sure 53:19-23.

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befindet sich der sogenannte „Schwarze Stein“ (al- ḥaǧar al-aswad), von dem es heißt, er sei ein Meteorit, was jedoch nicht bewiesen ist, weil er noch nie geologisch untersucht worden ist. Es heißt, in der Ǧahilīya umkreisten Priesterinnen des Tempels die Kaaba sieben Mal nackt – wobei jede Umkreisung für Sonne und Mond sowie für die Planeten Mars, Saturn, Merkur, Venus und Jupiter stand – küssten und berührten den Stein, der als Symbol der Fruchtbarkeit zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin al-Uzza fungierte.106 Auch heute noch wird die Kaa’ba von Muslimen, zu deren fünf Säulen des Glaubens die Wallfahrt nach Mekka zählt, sieben Mal umrundet. Ebenso wird der „Schwarze Stein“ am Ende der rituellen Umkreisung (tawaf) berührt oder geküsst. Diese vorislamischen Rituale, also die Umrundung und die Verehrung des „Schwarzen Steins“, sind bis heute erhalten geblieben, nur die Gottheit, die damit verehrt wird, ist mit einer anderen ersetzt worden. Diese Rituale können als Überbleibsel der vorislamischen matriarchalen Kultur verstanden werden, die von der patriarchalen früh-islamischen Gesellschaft bekämpft wurde und bis heute gefürchtet wird. Laut Mernissi hätten Frauen in der Ǧahilīya weit mehr Rechte und sexuelle Freiheiten besessen als in der darauffolgenden Zeit, auch habe es keine vorehelichen Sexualverbote gegeben. Darüber hinaus existierten verschiedene lose Formen der Ehe nebeneinander, bei der es auch einen matrilokalen Ehetypus gegeben haben soll, bei dem die Frauen nach der Eheschließung bei ihrem Stamm blieben. Bei dieser Sadiqa-Ehe („Freundin-Ehe“) zählten die hervorgegangenen Kinder zum Stamm der Mutter. Dabei spielte die biogische Vaterschaft keine Rolle.107 Außerdem hätten die Frauen bei dieser Form der Ehe das Recht, Männer abzuweisen. Auch Polyandrie – eine Form der Polygamie, bei der eine Frau mehrere Männer haben kann – soll es gegeben haben.108 Die Ǧahilīya, in der die Frau weit mehr Freiheiten genoss als in der darauffolgenden Zeit, kann als Synonym für die Selbstbestimmung der Frau betrachtet werden. Die Frau symbolisiert für jene Männer, die in ihr eine Gefahr sehen, die Regellosigkeit (fitna) jener Zeit.109 Die Angst der

106 Vgl. Ali 2006, S. 223. 107 Vgl. Mernissi 1991, S. 73. 108 Vgl. Barakat, Halim: The Arab world. Society, culture, and state, Berkeley [u. a.] 1993, S. 114; vgl. Henninger, Joseph: „Polyandrie im vorislamischen Arabien“, in: Anthropos, Bd. 49 (1./2.) 1954, S. 314-322, S. 314f; vgl. Mernissi 1991, S. 64, S. 73. 109 Vgl. ebd., S. 88.

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Männer vor der Ǧahilīya sei letztendlich das, was den Kern der Geschlechterverhältnisse im Islam bilde, nämlich die Angst vor der Selbstbestimmung der Frau.110 Auf die Missinterpretation früher kanonischer Texte seitens religiöser Autoritäten der Koranexegese (fuqaha) wurde in der Wissenschaft vielfach hingewiesen. Insbesondere wenn es um Frage der Sexualität oder der Geschlechtergleichheit geht, konnte als Motiv die Wahrung der patriarchalen Gesellschaftsordnung herausgearbeitet werden.111 Die Ansichten der Rechtsgelehrten waren eingebettet in den Wissensstand und die Normen und Werte ihrer Zeit. Demnach spiegeln diese Interpretationen die damals herrschende Ideologie und soziale Ordnung wider, nämlich die tribale patriarchale Gesellschaft in Arabien, und dienten ihrer Aufrechterhaltung.112 Zu Recht verweist Mir-Hosseini darauf, dass die Passagen im Koran, die den Status der Frau, den Wert der Familie und die Ehe betreffen, keinen Ausdruck einer allgemeingültigen heiligen Wahrheit darstellen, die sich erst über die Shariʿa manifestiert hätten, sondern vielmehr Ausdruck des arabischen Brauchs (ʿurf) seien, der zuvor existierte.113 Derlei Ansichten würden von den Rechtsgelehrten als göttlicher Wille dargestellt und dadurch sakrosankt, was sie jeder Kritik entzöge. Das Monopol des religiösen Wissens lag ausschließlich in den Händen der Männer.114 Viele Religionen haben einen misogynen Unterton, der erst in jüngster Zeit von feministischen Lesarten infrage gestellt und herausgefordert wurde. Ob es sich um die Verdammung der sündigen Eva, der Diffamierung von Maria Magdalena oder den Ausschluss von Priesterinnen in der katholischen Kirche etc. handelt: Religionen, oder besser gesagt religiöse Traditionen, sind patriarchal motiviert und ge-

110 Vgl. ebd., S. 43. 111 Vgl. Ahmed, Leila: Women and gender in Islam. Historical roots on a modern debate, New Haven [u. a.] 1992; vgl. Mernissi 1991; vgl. Mir-Hosseini, Ziba: Islam and gender. The religious debate in contemporary Iran, Princeton, NJ 1999; vgl. Dies. 2003; vgl. Sabbah, Fatna Ait: Women in the Muslim unconscious, New York [u. a.] 1984; vgl. Mubarak, Hadia: „Breaking the interpretitive monopoly. A re-examination of verse 4:34“, in: HAWWA 2 (3) 2004, S. 261-289; vgl. Wadud, Amina: Quran and woman. Rereading the sacred text from a woman’s perspective, New York [u. a.] 1999. 112 Vgl. Mir-Hosseini 2003, S. 8, S. 22; vgl. Schneider 2011, S. 58. 113 Vgl. Mir-Hosseini 2003, S. 11. 114 Vgl. Heller 2013; vgl. Mir-Hosseini 2003, S. 26, vgl. Schneider 2011, S. 57f. Lediglich im Bereich der islamischen Mystik (Sufismus) fand eine Frau, Rābiʿa al-ʿAdawīya, aufgrund ihrer spirituellen und intellektuellen Überlegenheit Beachtung. Vgl. Schneider 2011, S. 56.

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prägt. Wenn Frauen in den Religionen oder in den Traditionen der Auslegung einen niederen Stellenwert zugeschrieben bekamen, indem sie die Personifikation des Bösen oder als triebhaft diffamiert wurden, so sagt es tatsächlich mehr über die Autoren dieser Schriften aus als über die Frauen. Es wird ersichtlich, dass die traditionellen Lesarten des Islam von partikularen männlichen Interessen motiviert waren. Im Koran findet an mehreren Stellen die Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau Ausdruck,115 die einerseits mit dem Willen Gottes begründet wird und andererseits damit, dass der Mann finanziell für die Frau zu sorgen habe. Die Sure 4:34 wird am kontroversesten diskutiert, wenn es um das Thema Gleichberechtigung und Islam geht: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen (als Morgengabe für die Frauen?) gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind (Gott) demütig ergeben und geben acht [sic!] auf das, was (den Außenstehenden) verborgen ist, weil Gott (darauf) acht [sic!] gibt (d.h. weil Gott darum besorgt ist, daß [sic!] es nicht an die Öffentlichkeit kommt). Und wenn ihr fürchtet, daß [sic!] (irgendwelche) Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch (daraufhin wieder) gehorchen, dann unternehmt (weiter) nichts gegen sie! Gott ist erhaben und groß!“116

Insbesondere das Wort „schlagen“ (ḍaraba) bereitet auch reformorientierten Muslimen und islamischen Feministen, die bemüht sind, ihren Glauben mit Menschenrechten in Einklang zu bringen, Schwierigkeiten bei der Auslegung. Von Seiten islamkritischer, konservativer Kreise in Europa und den USA, wird diese Sure am häufigsten als Beweis herangezogen, dass der Islam Frauenrechte missachte oder zumindest nicht mit Frauenrechten bzw. Menschenrechten kompatibel sei. Die Koranexegese (tafsīr) hat im Laufe der Geschichte verschiedene Interpretation dieses Verses (āya) hervorgebracht. Laut der klassischen Koranexegese, wie bei Al-Tabari, betrifft diese āya vordergründig die familiären Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau. Er autorisiert den Ehemann dazu, seine Frau zu disziplinieren, um ihre Gehorsamkeit gegenüber sich und gegenüber Gott sicherzustellen. Wenn eine Frau ihre Gehorsamspflicht verletze, besäße der Ehemann das

115 Wie in dem Vers der zweiten Sure, die die Wartezeit nach der Verstoßung der Frau betrifft: „Und die Männer stehen [bei alledem] eine Stufe über ihnen.“ Der Koran, Sure 2:228. 116 Ebd., Sure 4:34.

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Recht, sie körperlich zu züchtigen. Dies sei notwendig, damit sie sich ihrem Mann gegenüber nicht überlegen fühle, da dies einer Rebellion (nushuz) nahekäme.117 Nushuz kann die Vorstufe der gefürchteten fitna (soziales Chaos) sein und sei deshalb zu unterbinden. Obwohl nushuz im kleinen Rahmen der Familie stattfindet, kann es auf die gesamte Gesellschaftsordnung übergreifen. Da der Mann der Frau das Brautgeld (mahr) zahlt und für sie finanziell zu sorgen hat, wird seine Superiorität mit der wirtschaftlichen Verantwortlichkeit begründet.118 Die ägyptischen Reformer und Vordenker des heutigen Salafismus, Muhammed Abduh und Rashid Rida, interpretierten diese Sure so, dass in der gottgewollten natürlichen Familienordnung der Ehemann die Führung (qiwāma) innehabe. Der Ehemann stehe zu der Ehefrau wie der Kopf zum Körper. Ein Mann sei der Frau physisch und psychisch überlegen und stehe aus diesem Grund eine Stufe über ihr. Auf diesem Verständnis basiere auch das Recht des Mannes, den Heiratsvertrag abzuschließen und sein Recht auf Scheidung. Die Überlegenheit der Männer bedeute jedoch nicht, dass Gott sie gegenüber den Frauen bevorzuge. Eine Frau könne ihren Mann in den Gebieten Wissen, Arbeit, körperliche Stärke und Machterlangung sogar überbieten. Die Sure 4:34 adressiere vielmehr beide Geschlechter als Ganzes in ihrer biologischen und sozialen Funktion innerhalb der Familienordnung.119 Nach dem Verständnis des Islamisten Sayyid Qutb, der die Auffassung vertrat, die Gendergleichheit nach westlichem Vorbild zöge die gesellschaftliche und kulturelle Zerstörung nach sich, betrachtete diese Sure mit einer Mischung aus traditionellem und modernistischem Verständnis. Seiner Ansicht nach, stelle die Institution der Ehe den Grundstein der muslimischen Gesellschaft dar, einen sicheren Zufluchtsort für die Eheleute und einen nährenden geschützten Ort für die Kinder. Der Koran, so Qutb, gebe dem Mann das Recht der Vormundschaft über die Familie, um Zwietracht und Spannung zwischen den Familienmitgliedern zu verhindern. Gott habe den Mann mit den notwendigen Qualitäten ausgestattet, die ihm diese Rolle zuteil werden ließ. Der Mann habe eine Verantwortung gegenüber der Frau. Die Vormundschaft oder die Überlegenheit des Mannes sei demnach keineswegs

117 Vgl. Al-Tabari, Abu Ja’far Muhammad ibn Jarir: Jami’ al-Bayan ’an Ta’wil ’ay alQur’an, Kairo 1972. Zit. n. Haddad, Yvonne Yazbeck/ Esposito, John L.: Islam, Gender, and Social Change, New York 1998, S. 33. 118 Vgl. Barakat 1993, S. 104; vgl. Schneider 2011, S. 38. 119 Vgl. Haddad/ Esposito 1998, S. 35.

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nur ein Recht, sondern vor allen Dingen eine Pflicht, den Fortbestand der Familienstruktur und damit der Gesellschaft per se zu sichern.120 Die US-amerikanische Islamwissenschaftlerin Hadia Mubarak sieht in dieser Sure hingegen eine falsche Übersetzung von eigentlich gender-neutralen Inhalten. So habe Al-Tabari den Satz „bi ma faḍḍala Allahu baʿḍahum ʿala baʿḍ“ („womit Gott die einen vor den anderen ausgezeichnet hat“) mit „die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat“ übersetzt, obwohl das Suffix „hum“ sich auf beide Geschlechter beziehen kann. Damit übt sie Kritik an der Koranexegese Al-Tabaris sowie an der unkritischen Übernahme seiner Interpretation dieser Sure von Seiten der Korankommentatoren nach ihm: „In gendering language where language is gender-neutral, Ṭabarī enforces the concept that God Himself has favored men over women, thus imposing a misogynistic reading upon the verse. Likewise, the succeeding classical scholars […] all adopt Ṭabarī’s position that God’s favoring of ‚some over others‘ refers specifically to the male gender over the female gender.“121

Darüber hinaus müsse ḍaraba nicht zwangsläufig mit „schlagen“, sondern könne auf viele andere Weisen übersetzt werden, wie z. B. mit „sich entfernen“, „vor Gefahr bewahren“, „ein Beispiel setzen“, „ermahnen“ oder „beeinflussen“.122 Andere reformorientierte Korankommentatoren sehen in dieser Sure in erster Linie das Prinzip der qiwāma begründet. Sie weisen darauf hin, dass sie häufig zugunsten der männlichen Autorität über Frauen missinterpretiert worden sei, tatsächlich müsse sie aber nicht als Überlegenheit, sondern als Verantwortung des Mannes gegenüber der Frau interpretiert werden, und das insbesondere deshalb, weil er für ihren Unterhalt verantwortlich war.123 Dieser Sure setzen sie zwei andere entgegen, in denen Frauen explizit als den Männern ebenbürtig adressiert werden, Sure 33:35 und Sure 9:71. In der erstgenannten Sure heißt es: „Was muslimische Männer und Frauen sind, Männer und Frauen, die gläubig sind, die Almosen geben, die fasten, die darauf achten, daß [sic!] ihre Scham bedeckt ist, (oder: die sich des

120 Vgl. ebd., S. 37f. 121 Mubarak 2004, S. 269. 122 Vgl. ebd., S. 285. 123 Vgl. Badlishah, Nik Noriani Nik/ Masidi, Yasmin: Women as judges, Petaling Jaya 2009, S. 5.

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(unerlaubten) Geschlechtsverkehrs enthalten (?), w. die ihre Scham bewahren) und die Gottes ohne Unterlaß [sic!] (w. viel) gedenken – für sie (alle) hat Gott Vergebung und gewaltigen Lohn bereit.“124

Hier wird kein Unterschied nach Geschlechtern vorgenommen, sondern es werden alle Gläubigen, Männer wie Frauen, angesprochen. In ihrem Glauben sind sie sich also gleich. Sure 9:71 präzisiert das Verhältnis der Geschlechter zueinander und stellt ihre Pflichten in den Vordergrund. Es heißt dort: „Und die gläubigen Männer und Frauen sind untereinander Freunde (und bilden eine Gruppe für sich.) Sie gebieten, was recht ist, und verbieten, was verwerflich ist, verrichten das Gebet, geben die Almosensteuer und gehorchen Gott und seinem Gesandten. Ihrer wird sich Gott (dereinst) erbarmen. Gott ist mächtig und weise.“125

Männer und Frauen stehen sich laut dieser Sure einander als Freunde gegenüber und haben gleiche Pflichten. Die Formulierung „[sie] bilden eine Gruppe für sich“ impliziert auch, dass sie gleiche Rechte besitzen, denn wenn sie eine gemeinsame Gruppe darstellen, so sind sie sowohl in ihren Eigenschaften (als Gläubige) als auch in ihren Rechten gleichgestellt. Diese Suren machen deutlich, dass diskriminierende Äußerungen gegenüber Frauen weniger im Koran ihren Ursprung haben, sondern vielmehr in den Überlieferungen zu finden sind. Es ist notwendig darauf hinzuweisen, dass der Koran nicht selektiv gelesen werden kann, ebenso wenig von vorne nach hinten, wie etwa ein Roman. Zudem müsste man idealiter die arabische Sprache beherrschen, da jede Übersetzung bereits eine Interpretation ist, insbesondere bei den mannigfaltigen Übersetzungsmöglichkeiten eines einzigen Wortes im Arabischen. Darüber hinaus spielt der historische Kontext eine wesentliche Rolle. Das heißt, es gilt die zeitliche Reihenfolge und die Anlässe der Herabsendung der jeweiligen Suren zu beachten.126 Schließlich müssen diese unter Zuhilfenahme der entsprechenden Hadithe

124 Der Koran, Sure 33:35. 125 Ebd., Sure 9:71. 126 So gibt es z. B. die Unterscheidung zwischen mekkanischen und medinensischen Suren, den sogenannten „Schwertsuren“, wie Sure 9 oder Sure 5. Diese sind gewaltvoll, weil Mohammed in der Zeit als er in Medina war, gegen seine Widersacher (arab. Heiden, Juden, Christen) zu Gewalt greifen musste. Diese Suren müssen im historischen Kontext gelesen werden, weil sie als historische politische Äußerungen nur eine temporäre

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gelesen werden, um überhaupt eine Interpretation vornehmen zu können. Dies soll verdeutlichen, wie schwierig es ist, die Textstellen ohne geschichtliche und religiöse Vorkenntnisse einer Interpretation zu unterziehen. Darüber hinaus darf die Religion nicht mit der Tradition, also der sozialen Praxis, gleichgesetzt werden. Diejenigen, die das Vorrecht hatten, den Koran zu interpretieren, legten die Texte dergestalt aus, dass die patriarchale Gesellschaftsordnung nicht gefährdet wurde. Auch wenn der Islam den Frauen mehr Rechte zugestand als sie in der vorislamischen Zeit (Ğahilīya) hatten, wird ersichtlich, dass die Mehrzahl der Koranexegeten eine patriarchale Tradition zu rechtfertigen suchten. Die androzentristische Lesart und die selektive sowie willkürliche Auslegung der Schriften bilden zum Teil noch heute die Legitimationsgrundlage für die Diskriminierung und die politische sowie gesellschaftliche Repression von Frauen. 2.5.1 Die List der Frauen In der arabischen Literatur wird immer wieder die List der Frauen thematisiert. Diese Ansicht kann anhand der Geschichte von Joseph und Suleika, die im Koran und in der Bibel Erwähnung findet, exemplifiziert werden.127 Sie wird im Koran wie folgt dargelegt: Suleika war so angetan von der Schönheit ihres Sklaven Joseph, den sie zusammen mit ihrem Mann als Ziehsohn großzog, dass sie ihn, als ihr Mann Potifar auf Reisen war, verführen wollte. Joseph war zu Beginn zwar anfällig für ihre Verführung, aber konnte sich mit Gottes Hilfe gerade noch beherrschen und floh aus dem Herrenhaus. Bei seiner Flucht zerriss Suleika sein Hemd am Rücken. Beim Eintreffen ihres Mannes Potifar behauptete Suleika jedoch, Joseph habe versucht, sich an ihr zu vergehen. Als jemand aus der Familie auf die Tatsache hinwies, dass sein Hemd hinten zerrissen war, tat Potifar den bekannten Ausruf: „Das ist (wieder einmal) eine List von euch (Weibern). Ihr seid voller List und Tücke (w. eure List ist gewaltig).“128 Etwas unverhofft wird Joseph seiner Schönheit wegen dennoch ins Gefängnis gesperrt, obwohl er sich nichts zu Schulden hat kommen

Gültigkeit besitzen, nämlich nur für das 7. Jahrhundert. Ourghi zufolge sind nur die in Mekka offenbarten Suren zeitlos, weil sie „universell stiftende Lehren im ethischen Sinne beeinhalte[n].“ Ourghi, Abdel-Hakim: „Das Erbe von Medina“, in: Süddeutsche.de (4.12.2015). 127 Vgl. Der Koran, Sure 12; vgl. die Bibel, 1. Buch Mose, Vers 39. 128 Der Koran, Sure 12:28.

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lassen.129 Später kam er jedoch frei und wurde aufgrund seiner Gottesfurcht zum Propheten ernannt. Seine Fähigkeit, Träume zu deuten, mit dem er den Pharao zu beeindrucken wusste, machte ihn schließlich zum Herrscher von Ägypten. Diese Erzählung wird im Koran in aller Länge geschildert und gab seit jeher Anlass für unzählige Korankommentare, wie beispielsweise von Al-Ghazali und Al-Tabari. Sie ist an dieser Stelle deshalb relevant, weil in ihr deutlich zum Vorschein kommt, wie die Rolle der Frau in der früh-islamischen Gesellschaft rezipiert wurde.130 In dieser Geschichte werden Frauen nicht nur als triebhaft, sondern auch als listig und rachsüchtig dargestellt, wohingegen der Mann am Ende doch rational und der Selbstkontrolle fähig ist. Der Ausspruch Potifars über die List der Frauen ist in der arabischen Kultur zur gängigen Volkweisheit geworden, der als Charakterzug von Frauen gemeinhin unhinterfragt akzeptiert wird.131 Es ist nicht nötig an dieser Stelle auf die patriarchal dominierten Interpretation dieser Erzählung hinzuweisen, die allesamt das Ideal des rationalen schönen Jünglings, der sich letztendlich doch der sexuellen Anziehungskraft seiner Herrin widersetzen konnte und seinem Herrn und seinem Glauben treu blieb, lobpreisen. Theologen und Korankommentatoren haben als Hauptelement dieser Geschichte die unkontrollierbare Libido der Frau und die von ihr ausgehende Bedrohung für die Männerwelt herausgearbeitet.132 Für Al-Tabari kommt diese Geschichte einer Warnung Gottes an die Gläubigen gleich: Die weibliche Sexualität sei eine potentielle Gefahr für die Männer, die sie zur Sünde verführe und sich zwischen sie und Gott stelle, sie demnach von Gott entferne. In der arabischen und persischen Poesie, z. B. bei ʿAbd al-Rahman Jami,133 wurde die Erzählung von Joseph und Suleika als eine Geschichte zweier (unglücklich) Liebender interpretiert und häufig zum Vorbild von Liebesgeschichten. Für den tunesischen Soziologen Abdelwahab Bouhdiba ist die Moral dieser Geschichte,

129 „Hierauf, nachdem man die Zeichen (seiner berückenden Schönheit?) gesehen hatte, kam man auf den Gedanken, man müsse ihn eine Zeitlang [sic!] gefangen setzen.“ Der Koran, Sure 12:35. 130 Vgl. Merguerian, Gayane Karen/ Najmabadi, Afsaneh: „Zulaykha and Yusuf. Whose ‚best story‘?“, in: International Journal of Middle East Studies, 29 (4) 1997, S. 485-508, S. 485. 131 Vgl. ebd., S. 501. 132 Vgl. ebd., S. 487. 133 Jami, Abd al-Rahman: Masnavi-i haft awrang, Tehran 1958, zit. nach Merguerian/ Najmabadi 1997, S. 504.

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dass Gott der Frau ihre sexuelle Schwäche und ihre mangelnde Selbstbeherrschung verzeiht. Diese Geschichte sei im Koran primär als eine Prüfung des zukünftigen Propheten zu verstehen.134 In dieser Erzählung wird die Frau auf vierfache Art stilisiert: als Verkörperung der Sinnlichkeit (Reduzierung auf die Körperlichkeit), als Verführerin, als Lügnerin und als Ehebrecherin. Die arabische Literatur scheint von diesem Thema fasziniert zu sein, denn in den Erzählungen aus 1001 Nacht wird an 18 Stellen von Frauen begangener Ehebruch thematisiert.135 Dieser Topos war besonders bei dem ägyptischen Schriftsteller Ali al-Baghdadi (16. Jh.) beliebt, der ihm ganze 25 Erzählungen widmete.136 Dieses Motiv in der Literatur spiegelt die Angst des Mannes wider, vor seiner eigenen Frau betrogen zu werden, die Angst vor Schande und vor Ehrverlust. Dies ist der Grund für die Kontrolle der Frauen seitens der Männer. Man geht in der islamischen Tradition nämlich davon aus, dass Gott Frauen mit weniger Vernunft (aql) als Männer und mit mehr Emotionen bzw. Trieben (nafs) ausgestattet habe.137 Deshalb würden Frauen mit Maßlosigkeit und fitna (Chaos) gleichgesetzt. Würden sie bzw. ihre Sexualität nicht von Männern überwacht werden, führe dies zwangsläufig zu gesellschaftlichem Chaos, weil die Männer ihren unwiderstehlichen Reizen ausgesetzt wären, was aller Wahrscheinlichkeit nach in zina (Unzucht) enden würde.138 2.5.2 Magie und Verführungskunst der Frau Die Angst der Männer vor der Verführungskunst der Frauen spiegelt sich nicht nur in der Koranexegese und der arabischen Literatur, sondern auch in der Geschlechterordnung, namentlich in der Segregation der Geschlechter wider. Mernissi bezeichnet die Verführung als Konfliktstrategie und als eine Form des Austauschs, die man bereits im Jugendalter erlerne und selbst im Erwachsenenalter nicht überwinden könne: „As we are taught to fear and mistrust the other sex, and therefore to relate to its members through seduction, manipulation and domination, we become mere puppets who extend the

134 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 29. 135 Vgl. Chebel 1997, S. 167. 136 Vgl. ebd., S. 168. 137 Vgl. Makhlouf Obermeyer 2000, S. 243. 138 Vgl. Ilkkaracan 2002, S. 755ff.

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games of seduction, acceptable during adolescence, into our relations as mature men and women.“139

Die Schuld an dem gestörten Verhältnis zwischen Männern und Frauen liege bei der Gesellschaft, die jede heterosexuelle Beziehung und damit die emotionale Entfaltung und Bindung zum anderen Geschlecht verhindere und stattdessen Misstrauen und Angst schüre und aufrechterhalte.140 Die marokkanische Gesellschaft gebe, so Mernissi, durch die Geschlechtertrennung homo-sozialen Beziehungen den Vorrang und habe die Verführungskunst als Kommunikationsform etabliert: „A society that opts for sexual segregation, and therefore for impoverishment of heterosexual relations, is a society that fosters ‚homosocial‘ relations on the one hand and seduction as a means of communication on the other.“141

Homo-Soziabilität bezeichnet die Begrenzung oder gar Vermeidung der Interaktion mit Angehörigen des anderen Geschlechts, welche auf der anerzogenen Angst vor dem anderen Geschlecht basiere.142 In Marokko geht die Furcht vor (der List der) Frauen sogar so weit, dass viele junge Männer sich fürchten, bei einer nicht verwandten Frau zu essen, aus Angst, sie könnte sie verhexen.143 Obwohl die Magie im Koran als eine Praxis des Unglaubens (kufr)144 deklariert wird, ist der Aberglaube in Marokko keineswegs schon überwunden oder nur auf dem Lande verbreitet. Auch das Erstarken des Islamismus in den letzten Jahrzehnten hat nicht zu einer Minderung des Glaubens an Zauberei geführt. Ich selbst wurde von meiner Gastfamilie gewarnt, bei Fremden zu essen. Dieser Angst wohnt die Vorstellung inne, man könne über die Nahrung, oder auch über die Haare und Fingernägel, einem Zauber ausgeliefert sein, der zu einer Eheschließung führe, die man in vollem Bewusstsein niemals eingegangen wäre. Die Männer, so Chabach, würden daher bei einer fremden Frau niemals essen oder ihre Haarbürste lassen. Auch würden sie ihr Sperma gleich nach dem Koitus wegwi-

139 Mernissi 2003, S. 492. 140 Vgl. Mernissi 1991, S. 158. 141 Mernissi 2003, S. 491. 142 Vgl. Mernissi 1991, S. 158, S. 202; vgl. Dies. 2003, S. 500. 143 Vgl. Chabach 2010, S. 52. 144 Der Koran, Sure 2:102. In den Überlieferungen hat Mohammed die Magie mitsamt dem Götzendienst als ein schweres Vergehen deklariert. Vgl. Al-Buhari 1991, S. 405.

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schen, denn die Frauen könnten damit zu einem Hexer oder einer Hexe gehen und die Männer mit deren Hilfe hörig machen und, im schlimmsten Fall, nach vielen Jahren, wenn man schon Kinder mit ihnen habe, erst ‚erwachen‘.145 Gleichzeitig gibt Chabach zu bedenken, dass es auf der anderen Seite in Marokko keine Seltenheit sei, dass eine Frau über die Hexerei Oberhand über ihren Partner gewinnen wolle, sei es damit er sie heirate oder zu einem besseren Ehemann werde.146 Deswegen würde bei Männern, die ihren Frauen eine große Zuneigung entgegenbrächten, davon ausgegangen, sie seien verhext worden.147 Das Geschäft mit dem Zauber (sihr) ist überaus lohnend: Talismane, Zaubersprüche, verschiedenste Kräutermischungen und Tinkturen für harmlosere Zauber verkaufen sich gut auf Marokkos Bazaren. Amulette wie z. B. die „Hand der Fatima“ (khmissa) dienen dazu, den „bösen Blick“ (ʿayn al-hassad) abzuwehren. Der Glaube an den „bösen Blick“ gilt nicht als Aberglaube oder als unislamisch, da er im Koran und in mehreren Hadithen Erwähnung findet.148 Es existieren im Koran auch sogenannte Schutz-Suren (ruqyah), die bei wiederholter Rezitation eine von Krankheit oder Zauber befallene Person heilen sollen.149 Gute und böse Hexer (sahir) und Hexen (sahirah), die mit Hilfe von Ǧinns (Geister) Schaden anrichten oder abwehren können, Exorzisten und Heiler haben in Marokko leichtes Spiel mit der Naivität ihrer Kunden, insb. mit Kundinnen, die mit ihren Hoffnungen und Wünschen zu ihnen kommen.

145 Vgl. Chabach 2010, S. 52. 146 Vgl. ebd., S. 51f. 147 Vgl. Makhlouf Obermeyer 2000, S. 244. 148 Im Volksglauben wird ein Mensch, der mit dem ‚bösen Blick‘ belegt wurde, entweder bald krank oder ihm widerfährt ein Unglück. Dies wird damit erklärt, dass dieser Mensch von einer missgünstigen, eifersüchtigen Person entweder nur angeschaut wurde oder er erhielt von dieser ein vermeintliches Kompliment. Der ‚böse Blick‘ wird im Koran in Sure 68:51 erwähnt: „Diejenigen, die ungläubig sind, würden dich, wenn sie die Mahnung (d.h. den Koran) hören, mit ihren (bösen) Blicken beinahe zum Straucheln bringen. Und sie sagen: ‚Er (d.h. Mohammed) ist (ja) besessen.‘“ In den Hadithen nach Al-Buhari berichtet A’ischa: „Der Gesandte Gottes (S) wies mich an, heilsame Verse gegen den bösen Blick zu rezitieren.“ Al-Buhari 1991, S. 403. In einem anderen Hadith überliefert Abu Huraira folgenden Satz des Propheten: „Der böse Blick ist Realität!“ Ebd., S. 404. 149 Die Schutz- oder Heilsuren sind die letzten drei Suren des Korans. Vgl. ebd., S. 404.

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Das größte Geschäft wird mit Liebeszauber (sihr al-mahabba) gemacht.150 Da Liebeszauber meistens über den Magen geht, müssen die Frauen dem Objekt ihrer Begierde etwas ins Essen mischen, was die oben genannte Angst der Männer erklärt, bei ihnen zu speisen. Genauso häufig verbreitet ist der Trennungszauber (sihr at-tafriq), der zwei Liebende trennen soll. Dabei geht man zu einem Magier, der nach dem Namen sowie dem Namen der Mutter der zu verzaubernden Person fragt. Dazu verlangt er etwas Persönliches von der Zielperson, wie ihr Haar oder ihre Kleidung. Falls es nicht zu beschaffen ist, wird dem Kunden etwas Wasser mitgegeben, das er auf den Weg, den die Zielperson für gewöhnlich nimmt, verteilt. Beim Überqueren dieses Weges, wird die Person von dem Trennungszauber getroffen und empfindet sodann keinerlei Zuneigung oder sogar eine Antipathie ihrem Partner gegenüber. Eine andere Möglichkeit wäre, dieses Wasser in das Essen der Zielperson zu geben.151 Auch hier geht der Zauber wieder mit einer Kontamination der Speisen einher. Diese Ängste und Manipulationen werden durch die Geschlechtertrennung hervorgebracht und führen, um es mit Mernissis Worten zu sagen, zu einer „Verarmung der heterosexuellen Beziehungen“,152 denn anstelle einer auf Dialog basierenden Beziehung zum anderen Geschlecht, würden Problembewältigungen stattdessen im Verborgenen vorgenommen, mit dem Resultat eines geschlechterbasierten Misstrauens.

2.6 RITUALE IM WANDEL – TRADITIONELLE UND NEUE VORSTELLUNG VON VIRGINITÄT Mädchen werden mit der Idee erzogen, sie besäßen etwas, das sie verlieren könnten.153 Mit dem Eintritt in die Pubertät werden sie darauf sensibilisiert und davor gewarnt, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Dies kreiert Angstgefühle bei den Frauen, die häufig zu psychischen Problemen und einem unerfüllten oder mit Schuld assoziierten Sexualleben führen. Im Folgenden werden zwei Rituale beschrieben, die eng mit dem Jungfräulichkeitskult verbunden sind. Das Tqaf-Ritual nimmt sein Ende mit der Hochzeit, das 150 Vgl. Bali, Wahid Ibn Abdessalam: Sword against black magic and evil magicians, London 2004, S. 108. 151 Vgl. ebd., S. 68ff. 152 Mernissi 1991, S. 158. 153 Radi, Ghizlane: „Sex. Enough mystification“, in: Freearabs.com (28.03.2014).

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zweite Ritual hingegen beginnt und endet in der Hochzeitsnacht. Während das erste Ritual den Schutz der Jungfräulichkeit gewährleisten soll, dient das zweite ihrer Verifikation. 2.6.1 Das „Schließungsritual“ (Tqaf) Tqaf bedeutet auf Arabisch wörtlich übersetzt „Schließung“. Dieses archaische Ritual ist weniger in der Stadt, sondern vorrangig im ländlichen Marokko anzutreffen. Es ist ein Hauptbestandteil der Initiation eines Mädchens in den Status einer geschlechtsreifen Frau. In einer feierlichen Zeremonie, bei der die ganze Großfamilie – unter Ausschluss der männlichen Familienmitglieder – zugegen ist, wird dem Mädchen zu Beginn seiner Pubertät von seiner Mutter ein Hahnenkamm in den Mund gelegt, während es dabei seine Augen geschlossen hält. Mit den feierlichen Worten: „Jetzt bist du verschlossen und dein Geschlecht bleibt vor jedem Eindringen geschützt“,154 beendet die Mutter das Ritual und entnimmt den Hahnenkamm wieder aus dem Mund der Tochter. Dieser Zauber wird erst unmittelbar vor der Hochzeitsnacht beendet, indem die Braut diesmal den Hahnenkamm herunterschlucken muss und ihre Mutter ihr verkündet, dass ihr Geschlecht von nun an für den Ehemann geöffnet sei.155 Diese zunehmend obsolete kulturelle Praxis spiegelt die Sorge der Mutter um ihre Tochter wider, die sie, auch mit fraglichen Mitteln, zur sexuellen Enthaltung vor der Ehe anhält und verdeutlicht erneut den Stellenwert der Jungfräulichkeit vor der Ehe. Dieser Brauch und die negative, auf Angst basierende, sexuelle Erziehung können bei Frauen zuweilen zu einer unermesslichen Furcht oder gar zu einer Phobie vor der Penetration führen.156 Eine weitere Erklärung dieses Problems wird durch die Tabuisierung der Geschlechtsorgane in der Erziehung begründet. Jungen und Mädchen werden in dem Glauben erzogen, dass ihre Geschlechtsorgane schmutzig seien und deswegen nicht berührt werden dürften.157 Dies führt dazu, dass viele Kinder ihr Geschlecht nicht

154 Kapchan, Deborah Anne: Gender on the market. Moroccan women and the revoicing of tradition, Philadelphia 1996, S. 264. Übers. d. Verfasserin. 155 Vgl. Chabach 2010, S. 98f. 156 Im Extremfall äußert sich diese Phobie über die Dyspareunie oder im Vaginismus. Vgl. ebd., S. 98ff; vgl. Kapchan 1996, S. 254; vgl. Muslim Women's League: Sex and sexuality in Islam, (September) 1995. 157 Vgl. Muslim Women's League 1995.

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einmal beim Waschen berühren, sondern es nur oberflächlich mit Wasser benetzen.158 Diese Erziehung begründet sich in der Schamkultur und kann dafür verantwortlich gemacht werden, dass Frauen selbst im Erwachsenenalter nicht wissen, wie ihre Geschlechtsorgane aussehen.159 Im marokkanischen Dialekt (darija) ist das weibliche Sexualorgan mit einer Unzahl negativer Metaphern belegt,160 wie ‚Gully‘, ‚Kanalisation‘ oder ‚Ärger‘.161 Chebel merkt in seiner Enzyklopädie der Sexualität im Islam leider nur beiläufig an, dass weibliche Sexualorgane sowohl im Sprachgebrauch als auch in der Praxis abschätzig behandelt werden – im krassen Kontrast zu den männlichen.162 Außerdem haften den Wörtern, die die Sexualität beschreiben, im marokkanischen Dialekt etwas Lächerliches, Vulgäres und Despektierliches an.163 Aus diesem Grund tendieren viele Paare dazu, sich Lehnwörter aus dem Französischen, Englischen oder Spanischen zu suchen, um ihre Gefühle auszudrücken.164 Dabei ist die arabische Sprache so reich an Synonymen für das Wort Liebe.165 Allali fügt an, dass ein Volk, welches seine Sprache als lächerlich empfinde, keine hohe Meinung über sich selbst haben könne. Es sei ein Ausdruck sozialer Komplexe und diese soziale Konditionierung gelte es zu überwinden.166 Die beschriebenen Symptome sind Ausdruck eines fremdartigen Verhältnisses zum Körper, das auf Unwissenheit bzw. auf falschem Wissen aufgrund der fehlenden Sexualerziehung beruht und von Misstrauen und Manipulierbarkeit bestimmt ist. Dieses falsche oder mangelnde Wissen schürt Ängste und ermöglicht somit sexuelle und soziale Kontrolle, denn Unwissenheit führt zur Anfälligkeit für Manipulationen.

158 Vgl. Chabach 2010, S. 96. 159 Vgl. Chabach 2010, S. 134; vgl. Cheikh, Mériam/ Miller, Catherine: „Les mots d’amour. Dire le sentiment et la sexualité au Maroc“, in: Estudios de Dialectología Norteafricana y Andalusí (EDNA), (13) 2010, S. 173-202, S. 177. 160 Vgl. Cheikh/ Miller 2010, S. 180. 161 Anonymus: „Dialy brise le tabou sur le vagin“, in: Le soir, 25.6.2012. 162 Vgl. Chebel 1997, S. 149. 163 Vgl. Chabach 2010, S. 134; vgl. Allali, Reda: „Chronique sur Zakaria Boualem“, in: TelQuel (13.06.2009), S. 106. 164 Vgl. Chabach 2010, S. 134; vgl. Cheikh/ Miller 2010, S. 176f. 165 Die arabische Sprache beinhaltet mehr als einhundert Begriffe für Liebe. Vgl. Chebel 1997, S. 9. 166 Vgl. Allali 2009, S. 106.

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2.6.2 Die ‚Bettlaken-Schau‘ Ein weiteres Ritual, dass sich um die Jungfräulichkeit und das Ansehen der Braut dreht, ist die ‚Bettlaken-Schau‘ in der Hochzeitsnacht (leilat al-zifat oder leilat al‘urs). Hierbei handelt es sich nicht um eine islamische, sondern um eine folkloristische Tradition aus dem mediterranen Raum.167 Das blutige Bettlaken dient als Beweis für die vorherige Unberührtheit und damit für die Reinheit und Ehrbarkeit der Braut. In den Erzählungen 1001 Nacht wird dafür aus diesem Grund der Begriff „Ehrenlaken“ verwendet.168 Nach dem Vollzug der Ehe wartet die Hochzeitgesellschaft vor der Tür des frisch vermählten Paares auf die Demonstration des vom gerissenen Hymen blutbefleckten Bettlakens. Die Tradition und die Hochzeitsgesellschaft verlange nach diesem Hochzeitsritual. Das blutbeschmierte Laken, manchmal auch die Unterhose, der Frau würde zunächst an die Frauen der Hochzeitsgesellschaft überreicht und diese reichten es – unter Freudetrillern – weiter an die anderen Gäste.169 Diese Praxis steht einer Privatsphäre des frischvermählten Paares diametral entgegen. Es ist deshalb ein solch öffentliches Ritual, weil es der eigentliche Initiationsritus ist, welcher die Braut und den Bräutigam in die Welt der Erwachsenenwelt überführt.170 Abdessamad Dialmy bezeichnet es als einen „rite of defloration“171 (Deflorationsritus), über den die männliche Kontrolle über die weibliche Sexualität ihren Ausdruck erfahre. Doch über das folkloristische Element dieser Hochzeitstradition hinaus, kann das Fehlen des Blutes ein soziales Drama heraufbeschwören. Wenn das Laken keine Blutspuren aufweist, führt es zu einem sozialen Skandal für die Braut und ihre Angehörigen, begleitet von der Verachtung beider Familien, denn die Ehe wird seitens der Familie des Bräutigams für nichtig erklärt. Westermarck berichtet davon, dass in sehr seltenen Fällen die Braut sogar vom eigenen Vater oder Bruder umgebracht wurde.172 Aus diesem Grund forderte Allal Al-Fassi, die Führungsfigur

167 Vgl. El Glaoui, Abdessadeq: Le ralliement. Le Glaoui, mon père. Récit et témoignage, Rabat 2004, S. 112. 168 Vgl. Chebel 1997, S. 187. 169 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 207; vgl. Westermarck, Edward: Marriage ceremonies in Morocco, London 1914, S. 236. 170 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 207. 171 Dialmy 2005, S. 19. 172 Vgl. Westermarck 1914, S. 236.

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der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung, 1927 in einer Petition das Verbot dieser Tradition, die seiner Meinung nach, nicht nur die Frau, sondern die gesamte Gesellschaft degradiere.173 Dabei ist die Blutung als Beweis der weiblichen Jungfräulichkeit ganz und gar ungeeignet, weil sie nicht zwangsläufig mit der Defloration einhergeht. Viele Frauen bluten nicht beim ‚ersten Mal‘; bei anderen ist ihr Hymen durch sportliche Betätigungen bereits vor dem Eingehen einer sexuellen Beziehung gerissen oder es ist so dehnbar, dass es bei der Penetration nicht reißt. Dieser archaische Brauch kreiert einen enormen Druck auf unverheiratete Frauen und Paare, gefährdet er doch die Ehrbarkeit der Braut und ihrer Familie sowie die Eheschließung. Wenngleich diese kulturelle Praktik von der jungen Generation zunehmend mit Ironie betrachtet wird,174 erwartet der Bräutigam nichtsdestotrotz eine jungfräuliche Braut, weil er der erste Mann sein möchte, der sich seiner Frau physisch nähert. Dies hängt mit der Vorstellung des Mannes zusammen, sexueller Lehrmeister seiner Frau sein zu wollen, der ihre Sexualität in der Hochzeitsnacht initiiert.175 Wenige Männer akzeptieren eine Frau, die bereits sexuelle Kontakte hatte, weil sie die ersten Liebhaber ihrer Frau sein möchten.176 Deswegen muss sich eine (sexuell erfahrene) Frau so verhalten, als sei sie auf diesem Gebiet unerfahren und darauf warten, dass ihr Ehemann die Initiative ergreift.177 Die Frau überlässt ihrem Mann also die Kontrolle über ihre Sexualität und damit auch über ihren Körper.178 Eine Frau mit sexuellen Vorkenntnissen könnte schnell in den Verdacht geraten, vor der Hochzeit in Kontakt zu anderen Männern gestanden zu haben, ergo keine Jungfrau mehr zu sein. Allein dieser Verdacht könnte einen Anlass für die gescheiterte Vermählung bilden und damit der Reputation der Frau, mitsamt ihrer Familie, nachdrücklich schaden. Combs-Schilling ergänzt sogar, dass es sich für eine ordentliche Braut nicht geziemt, Vergnügen beim Sexualverkehr zu zeigen.179 Auch Dialmy berichtet darüber, dass marokkanische Männer den Geschlechtsakt dominieren wollen und von der Frau Passivität erwarten. Ein marokkanisches Sprichwort lautet:

173 Vgl. Dialmy 2008, S. 75. 174 Vgl. El Glaoui 2004, S. 112. 175 Vgl. Dialmy 2009, S. 97. 176 Vgl. ebd., S. 101. 177 Vgl. Mernissi 1982, S. 187. 178 Vgl. Combs-Schilling, Margaret Elaine: Sacred performances. Islam, sexuality and sacrifice, New York, NY 1989, S. 211. 179 Vgl. ebd., S. 207.

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„Sie bewegt sich, sie wird geschieden.“180 Dies bedeutet, dass ihre Bewegung dem Ehemann einen Anlass für die Scheidung geben kann, da es Vergnügen und sexuelles Verlangen ausdrückt, was sich für eine respektable Ehefrau nicht gehört.181 Um der Schmach der Verstoßung in der Hochzeitsnacht zu entgehen, lassen Frauen sich kurz vor der Hochzeit ihre Jungfräulichkeit sogar ärztlich bescheinigen. Sogenannte „Jungfräulichkeitszertifikate“ sind in Marokko immer noch eine weit verbreitete kulturelle Praxis und dienen dazu, dem Bräutigam und seiner Familie seine moralische und körperliche Reinheit zu versichern. Nicht wenige Männer misstrauen ihrer Zukünftigen182 und gehen erst den Bund der Ehe ein, wenn sie das Zertifikat in den Händen halten, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, wie der Befragung nach dem sittlichen Verhalten der Frau bei ihren Nachbarn, Bekannten oder Arbeitskollegen.183 Laut Westermarck war in Marokko des frühen 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit der absoluten Jungfräulichkeit, also eines intakten Hymens, der Braut eher sekundär. Einen viel wichtigeren Aspekt stellte die Demonstration vergossenen Blutes in der Hochzeitsnacht dar.184 Das Vorzeigen des blutverschmierten Bettlakens stand im Vordergrund, nicht die reelle Jungfräulichkeit der Braut. Zu dieser Demonstration genügte die Verwendung von Tierblut. Die Praxis der Verwendung von tierischem Blut, als Ersatz für das Blut des Hymens, ist alt in Marokko.185 Schriftliche Zeugnisse darüber reichen bis Anfang des 18. Jahrhunderts zurück.186 Davon zeugt auch folgendes Zitat von Westermarck: „There is always blood on it [gemeint ist das Bettlaken], because, if the bridegroom suspects his bride of not being a virgin, or from his own experience knows that she is not so, he has a cock ready to kill, then, if necessary, smears her chemise with its blood […].“187

Laut diesem Zitat ist es sogar der Bräutigam, der für den Fall, dass die Blutung bei seiner Braut ausbleibt, vorbereitet ist. Das Blutvergießen fungiert hier also weniger

180 Vgl. Dialmy 2005, S. 19f. 181 Vgl. ebd., S. 20. 182 Vgl. Mernissi 1982, S. 187. 183 Vgl. Chabach 2010, S. 21; 99. 184 Vgl. Westermarck 1914, S. 240. 185 Vgl. ebd.; vgl. Comsb-Schilling 1989, S. 209. 186 Vgl. ebd., S. 210. 187 Westermarck 1914, S. 240.

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als Zeugnis der Jungfräulichkeit der Frau, sondern erhält einen Ritualcharakter, ähnlich wie bei Opferungen. Es handelt sich also primär um männliche Machtdemonstration mittels eines Rituals. Das Blut von Tieren als Substitut für die Blutung des Hymens bei der Defloration, hat über die Sorge des Ausbleibens der Blutung hinaus auch einen weiteren Grund, nämlich die Angst des Bräutigams vor der Impotenz. Combs-Schilling beschreibt den Druck des Blutvergießens in der Hochzeitsnacht als eine Frage der Ehre und der Männlichkeit des Bräutigams. Die Verwendung von Tierblut hilft somit beiden Geschlechtern dabei, sich und ihrer Ehre nicht zu schaden. Allerdings würde in einem solchen Fall die Frau größeren Schaden erleiden, denn damit wäre sie mitsamt ihrer Familie in ihrer Ehre beschmutzt. Sie könnte von ihrer Familie verstoßen, wenn nicht sogar von einem Familienmitglied getötet werden,188 um die Familienehre wiederherzustellen, während der Bräutigam lediglich temporär sein Gesicht verlöre.189 Die Zurückweisung der Braut im Falle einer vorehelichen Entjungferung bzw. aufgrund einer ausbleibenden Blutung in der Hochzeitsnacht war zu Beginn des 20. Jahrhunderts so selten, dass Westermarck selbst anführt: „I was told that it never happens that a bride is sent away on account of lost virginity.“190 Das könnte darauf hindeuten, dass der Vollzug der Ehe, mitsamt seiner sozialen und sozioökonomischen Vorteile, zur damaligen Zeit einen höheren Stellenwert hatte als die vermeintliche Ehrbarkeit der Frau, die einzig über das vorhandene Jungfernhäutchen definiert wird. Der ‚Hymen-Kult‘ scheint demnach ein relativ rezentes Phänomen zu sein.

188 Wenngleich es keine offiziellen Zahlen über die Ehrenmordrate in Marokko gibt, ist diese Praxis zur Wiederherstellung der Familienehre nicht unüblich in der Region. Vgl. Dialmy 2005, S. 25; vgl. Dunne, Bruce: „Power and sexuality in the Middle East“, in: Middle East Research and Information Project (MERIP) (Hg.): Middle East Report: Power and sexuality in the Middle East, (206) 1998, S. 8-11, S. 11. Erst im August dieses Jahres verbrannte ein Mann aus Meknès seine beiden Schwestern in einem Auto, weil sie, seiner Meinung nach, ein unehrenhaftes Leben führten und damit die Ehre der Familie beschmutzten. Vgl. Anonymus: „Meknès. Il brûle ses deux sœurs à cause de la légèreté de leurs mœurs“, in: Le Site Info (7.08.2016). 189 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 216. 190 Westermarck 1914, S. 240.

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2.6.3 ‚Künstliche Jungfrauen‘ Viele Frauen fühlen sich wegen des ‚Hymen-Kults‘ genötigt, Tricks anzuwenden oder Strategien zu entwickeln, damit sie ihr Ehemann nicht verstößt, und lassen ihre Jungfräulichkeit durch die Hymenalrekonstruktion wiederherstellen. Damit erhöhen sie ihre Heiratschancen und umgehen die Gefahr, sich den Ruf eines ‚leichtes Mädchen‘ einzuhandeln. Die sogenannte Hymenoplastie, eine medizinisch unkomplizierte Operation unter lokaler Betäubung, dient der Rekonstruktion des Jungfernhäutchens und ist eine gängige Methode im gesamten maghrebinischen Raum. Schon 1982 berichtet Mernissi in einem Artikel über die chirurgische Wiederherstellung des Jungfernhäutchens: „It is no secret that when some marriages are consummated, the virginity of the bride is artificial.“191 Die Hymenalrekonstruktion gehört zu den häufigsten chirurgischen Eingriffen in Marokko, insb. in der Region Rabat/Casablanca.192 Preislich liegt die Wiederherstellung des Jungfernhäutchens zwischen 2.000 und 4.000 Dirhams, was ungefähr 200 bis 400 Euro entspricht.193 Für Frauen aus der Mittel- und Oberschicht stellen die relativ hohen Kosten kein Hindernis dar. Deshalb ist dieses Vorgehen als ein Phänomen der oberen Gesellschaftsschicht anzusehen. Für junge Frauen aus ärmeren Verhältnissen ist und bleibt ihr Hymen das einzige Kapital.194 Sie müssen sich das Geld entweder leihen oder einen (Zweit-)Job aufnehmen, um sich diese Operation leisten zu können. Sie können auch auf sogenannte ‚künstliche Hymen‘ aus China zurückgreifen, die es für ca. 150 Dirhams (ca. 15 Euro) in den Hinterzimmern von Geschäften oder auf dem Markt unter der Hand zu kaufen gibt. Das mit reichlich roter Lebensmittelfarbe gefüllte durchsichtige Kissen wird kurz vor dem Geschlechtsverkehr in der Hochzeitsnacht in der Vagina platziert. Nach etwa zwanzig Minuten dehnt sich die Membran aufgrund der Körperwärme aus und infolge der Penetration tritt die rote Flüssigkeit auf das Bettlaken aus.195 Auf den ersten Blick lässt sich kein Unterschied zu

191 Mernissi 1982, S. 183. 192 Vgl. Dialmy 2002-2003, S. 81. 193 Vgl. Bangré, Habibou: „Maroc. Réparer les hymens au secret“, in: Afrik.com (24.08.2007); vgl.: Anonymus: „Hyménoplastie. Mon expérience“, in: Yabiladi.com (14.05.2013). 194 Vgl. Dialmy 2002-2003, S. 81. 195 Vgl. Anonymus: „Maroc. Le boom des sex-toys chinois vendus sous le manteau“, in: Slateafrique.com (16.02.2012).

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echtem Blut feststellen. Diese Methode stellt eine kostengünstige Alternative zu der Operation dar.196 In der Vergangenheit, als es weder ‚künstliche Hymen‘ noch die Hymenoplastie gab, schufen sich die Frauen mit anderen Mitteln Abhilfe, um ihre Jungfräulichkeit vorzutäuschen und den eigenen Ruf zu erhalten, wie z. B. der weiter oben erwähnten Verwendung von Hühnerblut in der Hochzeitsnacht.197 Die Hymenoplastie, ‚künstliche Hymen‘ und die Verwendung von Tierblut zeigen zwar extreme Wege auf, wie Frauen mit ihrer Rat- und Rechtlosigkeit umgehen, sie sind gleichzeitig aber auch ein Ausdruck ihrer Kreativität und Agency (Handlungsmacht). Diese Methoden stellen eine eindeutige Transgression rigider sozialer Normen dar, mittels derer Frauen Mitbestimmung in einem patriarchalen Wertesystem erhalten können. Wenn es für die künstliche Wiederherstellung des Hymens zu spät ist, wie im Falle einer Schwangerschaft,198 werden die Frauen in der Mehrzahl der Fälle aus dem Elternhaus geworfen.199 Abtreibungen sind in Marokko verboten.200 Das Verbot gründet sich auf Sure 17:31, die eigentlich eine Reaktion auf die Kindstötung201 – ein mutmaßlich gängiger Brauch aus der Zeit der Ǧahilīya, der sich gegen weibliche Kinder richtete – war: „Tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung! Wir bescheren ihnen und euch (den Lebensunterhalt). Sie zu töten ist eine schwere Verfehlung.“202 Den Frauen bleibt also keine andere Wahl, als ihr uneheliches Kind zu gebären, selbst dann, wenn es das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Eine Abtreibung ist nur auf ärztlichen Rat gestattet und zwar nur in solchen Fällen, wenn eine Fehlbildung

196 Anonymus: „Parlament. La virginité en question“, in: Illionweb (9.05.2013). 197 Vgl. Mernissi 1982, S. 188; vgl. Combs-Schilling 1989, S. 197. 198 Im Jahr 2009 wurde die Zahl lediger Mütter auf 27.000 geschätzt. Vgl. Taleb, Mohammed: „Maroc. Le nombre des enfants nés en dehors du mariage va crescendo“, in: Liberation (22.05.2012). Die Frauenzeitschrift „Illi“ berichtet sogar von 200.000 ledigen Müttern im Jahr 2012. Vgl. Fathi, Nouhad: „Chiffre du mois: 200.000“, in: Illi (11) Oktober 2012, S. 22. 199 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 9. 200 Vgl. Code Pénal 1962, Art. 449-458, in der Sektion „Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten (mindere Delikte) gegen die Familienordnung und die öffentliche Moral“. 201 Sadiqi berichtet, dass es zu prä-islamischer Zeit üblich war, Mädchen zu Zeiten von Hungersnöten lebendig zu begraben. Vgl. Sadiqi 2003, S. 35. 202 Der Koran, Sure 17:31.

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des Fötus besteht oder das Leben der Mutter gefährdet ist.203 Besteht keine gesundheitliche Bedrohung, steht der Schwangeren bei einem Versuch der eigenhändigen Abtreibung eine ein- bis fünfjährige Gefängnisstrafe bevor; wenn ein Mediziner die Abtreibung vornimmt, droht ihm ein temporärer oder permanenter Entzug seiner Approbation und eine ein- bis fünfjährige Haftstrafe.204 Somit wird den Frauen die Pflicht auferlegt, ungewollt Mutter zu werden, ob sie nun Opfer sexueller Gewalt oder von Inzest geworden sind.205 Weil die Gesetzgebung es so vorschreibt, greifen ungewollt schwanger gewordene Frauen in ihrer Verzweiflung zu unsäglichen Mitteln, wie Chlor, Stricknadeln, Kleiderbügeln etc. um selbst abzutreiben. In Marokko werden laut Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) täglich 700 Abtreibungen vorgenommen, meist mit unsicherem, oft tödlichem, Ausgang.206 In Marokko gehen 13% der Müttersterblichkeit auf eigenständige Abtreibungsversuche zurück, die 35% aller Marokkanerinnen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben durchgeführt haben.207 Die Mütter, die ihre Kinder nicht abtreiben, lassen sie häufig kurz nach der Geburt im Stich.208 Einer Studie von 2010 zufolge würden in Marokko täglich 24 Kinder von ihren meist sehr jungen Müttern ausgesetzt.209 In einem Bericht über

203 Vgl. Filali, Kenza: „Au Maroc, les médicins sont aussi des gardiens de la charia“, in: Le Desk.ma (4.05.2016). 204 Wenn die Frau bei der Abtreibung stirbt, wird der Arzt mit zehn bis zwanzig Jahren Freiheitsentzug bestraft. Wenn herauskommt, dass der Mediziner regelmäßig Abtreibungen vornimmt, verdoppelt sich die Freiheitsstrafe. Vgl. Code Pénal 1962, Art. 449452. Über ein Dutzend Ärzte sind dafür bereits inhaftiert worden. Vgl. Slimani, Leïla: „Les nouveaux combattants“, in: Jeune Afrique (16.12.2010). 205 Den Frauen wird ebenfalls nicht gestattet, ihr Neugeborenes zur Adoption freizugeben, da diese in Marokko ebenso verboten ist. Vgl. Code de la Famille 2004, Art. 149. Das Adoptionsverbot wird im Koran (Sure 33:4-5) begründet. Es gibt lediglich die Möglichkeit, das Kind bis zu seiner Volljährigkeit in die Obhut einer anderen Familie oder Institution zu geben. Diese Art der Obhut wird kafala (Bürgschaft) genannt. 206 Anonymus: „Moroccan navy ‚blocking‘ Dutch abortion ship“, in: Morocco Worldnews (4.10.2012). 207 Vgl. Slimani 2010. 208 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 9. 209 Dort heißt es auch, dass 61% der unverheirateten Mütter unter 25 Jahren alt sind, davon sind 32% sogar jünger als 20 Jahre. Vgl. Rachik, Hassan (Hg.): Rapport de synthèse de l’enquête nationale sur les valeurs, Rabat 2005, S. 7.

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unverheiratete Mütter heißt es, diese Frauen erlitten häufig Diskriminierungen bei der Geburt im Krankenhaus. So würde das Krankenhauspersonal die Mütter bei der Polizei melden, die sie nach der Entbindung über ihren Personenstand befragen und nicht selten in der Folge inhaftieren würden. In dem Bericht heißt es auch, dass Ärzte den Frauen eine Versorgung im Krankenhaus entsagen würden.210 Der „Marokkanische Verein zur Bekämpfung illegaler Abtreibungen“ („Association Marocaine pour la lutte contre les avortements“) (AMLAC), welcher sich für die Legalisierung von Abtreibungen bei Vergewaltigungsopfern, Minderjährigen und Frauen über 45 Jahren einsetzt, berichtet darüber, dass einer Frau, die dringend operiert werden musste, weil der Fötus gestorben war, vom Krankenhauspersonal die Entbindung verweigert wurde, weil sie keine Heiratsurkunde vorweisen konnte.211 Ich selbst habe von Medizinstudenten, die als Stationsärzte in städtischen Krankenhäusern tätig waren, erfahren, dass dort täglich zwei bis drei unverheiratete Frauen ein Kind entbinden würden. Sie berichteten mir auch davon, dass es Fälle gab, in denen Frauen ihre Neugeborenen vor der Krankenhaustür aussetzten. Ein Medizinstudent teilte mir mit, dass er einmal während seiner Nachtschicht sogar erlebt hatte, wie eine Frau ihr Kind auf der Krankenhaustoilette selbst entbunden und es dort anschließend zurückgelassen habe.212 Dies verdeutlicht die desolate Lage lediger Mütter, die ohne den Schutz der Ehe von der Gesellschaft alleingelassen werden und aus ihrer Not und Verzweiflung heraus, drastische Maßnahmen ergreifen. Mit dem Rausschmiss aus dem Elternhaus geht eine soziale Marginalisierung einher, da die Reputation der Frau dadurch nachhaltig geschädigt wird. Die Frauen sind fortan gezwungen, ein Leben in sozialer Unsichtbarkeit und rechtlicher Inexistenz zu führen. Nicht selten enden solche Frauenschicksale aufgrund der sozialen Isolation und finanziellen Not in der Prostitution. Arbeitgeber weigern sich nämlich häufig, alleinstehende Mütter einzustellen.213 Es wird ersichtlich, dass alleinerziehende Mütter von ihrer Familie und der Gesellschaft ausgeschlossen und sozial, rechtlich wie ökonomisch marginalisiert werden. Doch dieses Schicksal widerfährt nicht nur ihnen, sondern auch ihren Kindern.

210 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 10. 211 Vgl. Filali 2016. 212 Interview am 18.06.2013 in Rabat. 213 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 9. Aus diesem Grund wenden sich einige alleinstehende Mütter an NRO, damit diese ihnen einen Job vermitteln, um nicht selbst mit der unangenehmen Situation konfrontiert zu werden.

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Sie erhalten keinen Familiennamen214 und damit keine Ausweispapiere, wodurch sie ein Leben lang als ‚Bastarde‘ stigmatisiert werden. Diese Kinder, die auch ‚Kinder der Schande‘ oder ‚Kinder der Sünde‘ (awlad al-haram) genannt werden und deren Gesamtzahl in Marokko auf über eine Million geschätzt wird, haben zeit ihres Lebens einen ungeklärten Zivilstatus215 und aufgrund dessen oftmals keinerlei Perspektiven für die Zukunft, bspw. bei der Berufswahl. Alleinerziehende Mütter erfahren eine institutionelle Diskriminierung, weil sie nach der Geburt ihres Kindes kein Familienstammbuch erhalten, da normalerweise der Vater und Ehemann die einzige Ausgabe erhält. Nach dem im Jahr 2003 reformierten Statut personelle (Statusrecht) darf eine alleinerziehende Frau de jure zwar ein Familienstammbuch bekommen, die Behörden stellen ihr de facto aber keines aus, da zu dessen Beantragung eine Heiratsurkunde verlangt wird.216 Hier steht der Code Pénal von 1962, der außerehelichen Geschlechtsverkehr als illegitim betrachtet, in Konflikt mit dem reformierten Statusrecht, der diese Gesetzesnovelle zum Schutz außerehelicher Kinder eingeführt hat. Auch in der Verfassungsreform von 2011 wurde der Schutz der Kinder festgeschrieben. Obwohl die Verfassung die höchste Stufe in der Normenhierarchie eines Landes bildet, herrscht eine Kluft zwischen reformierten Gesetzen und dem vergleichsweise alten Strafrecht. Dieses Paradoxon hat gravierende Auswirkungen für die Betroffenen, denn ohne das Familienstammbuch haben Mutter und Kind keinen Anspruch auf grundlegende (Bürger-)Rechte, sind keine vollen Staatsbürger und somit ohne rechtsgültige Identität.217 Dem Kind wird z. B. das Recht auf Bildung verwehrt, da es ohne das Familienstammbuch keinen Zugang zur Schule erhält. Aufgrund dieser Widersprüchlichkeiten in der Gesetzgebung können (reformierte) Gesetze nicht adäquat umgesetzt werden. Im Jahr 2013 erregte ein Artikel in dem Wirtschaftsmagazin „L’Economiste“ Aufsehen, weil darin von 27.200 alleinstehen-

214 Bei verheirateten Eltern bekommt das Kind in Marokko, wie in anderen arabischen Ländern auch, den Familiennamen des Vaters. 215 Vgl. Sadiqi 2010, S. 315. 216 Die Frauen beklagen, dass sie vom Personal der Standesämter Erniedrigungen erleiden müssen, wenn sie ein Familienstammbuch anfordern. Oft hängt dessen Aushändigung von der Willkür der Beamten ab. Ohne Bestechung des Personals sei es ohnehin fast unmöglich dieses für Mutter und Kind so wichtige Dokument zu erhalten. Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 11. 217 Vgl. ebd., S. 5f.

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den jungen Müttern die Rede war, die bei NRO um Unterstützung baten.218 Diese hohe Zahl lässt sich nicht negieren und ist als eine direkte Konsequenz der fehlenden Sexualerziehung aufgrund der rigiden Sexualmoral zu betrachten. Die Hymen-Rekonstruktion stellt für die Frauen eine Notlösung dar, das Ansehen ihrer Familie nicht zu gefährden, ihr Gesicht zu wahren und sozialer Stigmatisierung zu entgehen. Weil die traditionelle und rechtliche Norm Jungfräulichkeit voraussetzt, bleibt ledigen Frauen, außer der Enthaltsamkeit vor der Ehe, kein anderer Ausweg als die Wiederherstellung ihres Hymens, um ihre Ehrhaftigkeit und ihren Wert für den Heiratsmarkt zu bewahren. Für die ästhetische Chirurgie ist die Hymenoplastie in Marokko zu einem lukrativen Betätigungsfeld geworden, anhand derer die Hypokrisie des ‚Jungfräulichkeitskultes‘ am deutlichsten sichtbar wird. Aus der Sicht der Frauen ist diese Entwicklung jedoch eine positive, weil sie zumindest denen, die es sich leisten können, sexuelle Freiheiten ermöglicht. Gynäkologen attestieren, dass es eine Vielzahl von jungen Frauen gebe, die zu ihnen kämen und sich nicht schämten, entjungfert worden zu sein.219 Der marokkanische Soziologe Dialmy spricht hier allerdings von einer Komplizenschaft der Mediziner: Obwohl von traditionellen Normen abweichend, machen sie sich zu Komplizen beider Seiten und schlagen Profit aus der Notlage der jungen Frauen. Durch die Kreierung ‚künstlicher Jungfrauen‘ helfen sie den Frauen zum einen bei der Bewahrung ihrer Ehre und der Erhaltung ihres ‚(Mehr-)Werts‘ auf dem Heiratsmarkt. Zum anderen jedoch werden damit das patriarchale System, die männliche Ehre und die Sicherung der Reinheit der Abstammungslinie aufrechterhalten.220 Ich würde nicht so weit gehen, die Ärzte als Mittäter eines patriarchalen Systems, das Frauen diskriminiert, zu betrachten. Vielmehr ist diese Praxis als ein Zeichen der Transformation bestimmter normativer Vorstellungen zu werten. Das Problem liegt vor allem in der Tabuisierung dieser gesellschaftlichen Realität, die an Hypokrisie grenzt. Anstatt aus der Notlage der jungen Frauen Profit zu schlagen, wohlbemerkt: es handelt sich um einen kleinen Eingriff für einen hohen Preis, sollte dieses Thema in den Diskurs um Sexualität einfließen, ohne dass die Ärzte dabei den hippokratischen Eid brechen müssten. Darüber hinaus könnte man darauf verweisen, dass die voreheliche Jungfräulichkeit nach islamischem Verständnis von

218 Dabei waren 32% dieser jungen Frauen 15 bis 20 Jahre alt und 61% zwischen 20 und 26 Jahren alt. Vgl. Sabib, Bouchra: „Education sexuelle. Un tabou à 27.000 grossesses!“, in: L’Economiste (22.03.2013). 219 Vgl. Dialmy 2002-2003, S. 80. 220 Vgl. ebd., S. 75.

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beiden Geschlechtern verlangt wird und dass weder im Koran noch in den Hadithen etwas wie ein Gebot der Intaktheit des Hymens, als Marker weiblicher Jungfräulichkeit, geschrieben steht.221 Damit würde man aufzeigen können, dass der Jungfräulichkeitskult keine religiöse, sondern lediglich eine kulturelle Grundlage hat, die man hinterfragen kann und sollte. Dies würde mittel- oder langfristig dazu führen, dass diese gesellschaftliche Norm hinterfragt und modifiziert würde. Andernfalls behandelt man weiterhin nur die Symptome einer diskriminierenden und entwürdigenden sozialen Praxis. Diese Operationen sind für Frauen häufig der letzte Ausweg, wenn sie ein normales Leben führen möchten, d.h. wenn sie nicht von ihrer Familie und der Gesellschaft ausgegrenzt werden möchten. Eine romantische Beziehung könnte an der Nicht-Jungfräulichkeit der Frau scheitern, weil viele Männer sich eine jungfräuliche Ehefrau wünschen. Dieses Ideal ist bis in die heutige Zeit in den Vorstellungen vieler Männer vorhanden. Die damit verbundene Erhaltung des eigenen sozialen Ansehens und des intakten Jungfernhäutchens resultieren in einem körperverneinenden und zwanghaften Verhalten der Frau, das um Schuldgefühle und Ängste kreist. Geschlechtsverkehr wird aufgrund der negativen und fehlenden Sexualerziehung als etwas Schmutziges und Sündhaftes empfunden und deshalb als etwas, wofür man sich schämt.222 Dies könne auch im späteren legitimen Rahmen der Ehe zu einer ‚defekten Sexualität‘ der Frau führen, bei der sie unfähig sei, Freude beim Koitus zu empfinden.223 2.6.4 Exkurs weibliche Zirkumzision Der folgende kurze Exkurs auf die weibliche Genitalverstümmelung (female genital mutilation [FGM]) – wenngleich keine solchen Fälle in Marokko dokumentiert sind – soll als Beispiel für die körperliche Einschränkung, wenn nicht gar für die Verhinderung, der weiblichen Sexualität dienen. Die weibliche Zirkumzision wird in vielen Regionen Nord- und Westafrikas224 durchgeführt und ist außerdem auch im Irak, im Iran sowie in Indonesien und Ma-

221 Vgl. Muslim Women’s League 1995. 222 Vgl. ebd. 223 Vgl. Chabach 2010, S. 85; vgl. Muslim Women’s League 1995. 224 In Ägypten, Oman, Somalia, Guinea, Dschibouti, Eritrea, Mali, Sierra Leone, Gambia, Burkina Faso, Äthiopien, Mauretanien, Liberia, Kenia, Nigeria, in der Elfenbeinküste sowie im Sudan, Tschad, Jemen und dem Senegal. Vgl. Piecha, Oliver M.: „No African problem“, in: Stop FGM Middle East (o.J.).

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laysia vorzufinden.225 Diese lokale Praxis dient dem Ziel, das sexuelle Verlangen der Frau zu unterdrücken oder ganz zu eliminieren. Arnold van Gennep beschreibt die weibliche Beschneidung als „ein Mittel dauerhafter Differenzierung“.226 Es diene im Übergangsritus dazu, „das mutilierte Individuum mit Hilfe eines Trennungsritus aus der undifferenzierten Menge der Menschen heraus[zulösen] (das ist die Vorstellung die dem Abschneiden, Durchbohren usw. zugrundeliegt) und gliedert es gleichzeitig so an eine bestimmte Gruppe an, daß [sic!], da die Operation unauslöschliche Spuren hinterläßt [sic!], die Integration endgültig ist.“227

Van Genneps Auffassung nach, kann das „Entfernen [der Klitoris] zum Ziel haben, das Anhängsel zu beseitigen, durch das die Frau dem Manne ähnelt (was, von einem anatomischen Standpunkt aus betrachtet, völlig richtig ist).“228 Somit stellt die Genitalverstümmelung bei den Kulturen, die sie praktizieren, einen Initiationsritus dar, der die Transformation des Mädchens zu einer Frau einleitet. Die weibliche Beschneidung dient aber nicht nur der Eingliederung des Kindes in die Welt der sexuell reifen Erwachsenen, sondern auch dem Zweck der Verheiratung.229 Obwohl sie selbst häufig noch von der eigenen Beschneidung traumatisiert sind, lassen viele Mütter ihre Töchter heute noch dieser Prozedur unterziehen, weil sie befürchten, sie würden andernfalls keinen Ehemann finden. Dies verdeutlicht, wie tief diese Praxis mit der gesellschaftlichen Normvorstellung verankert ist und welchen Druck ihre Ausübung auf die Frauen hat. Die ägyptische Frauenrechtlerin Nawal El Saadawi gehörte zu den ersten Frauen, die diese Praxis in ihrem Buch Al-mara wa al-jins („Die Frauen und der Sex“) 1972 als patriarchale Form der Unterdrückung von Frauen auf physischer und psychischer Ebene öffentlich denunzierte.230 Der Ursprung dieser archaischen kulturellen Praxis liegt darin, das weibliche Sexualverlangen zu mindern oder gänzlich zu verhindern. Die Klitoris, als Sitz der

225 Vgl. Ilkkaracan 2002, S. 758. 226 van Gennep, Arnold: Übergangsriten (Les rites de passage), Paris 1909, S. 78. 227 Ebd., S. 76. 228 Ebd., s. Fußnote 208, S. 207. 229 Vgl. ebd. S. 89. 230 Vgl. El Saadawi, Nawal: The essential Nawal El Saadawi. A reader, London [u. a.] 2010, S. 62.

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weiblichen Lust, wird dabei ganz oder fast vollständig amputiert.231 Es ist ein barbarischer Akt der Körperverstümmelung, ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Frau, mit dem Zweck, Kontrolle über ihren Körper auszuüben. Es besteht kein Bezug zum Islam. Dennoch wurde die FGM fälschlicherweise mit ihm assoziiert, weil in einigen afrikanischen Ländern diese Praxis mit dem Islam begründet wird.232 Vielmehr ist es Ausdruck eines jahrtausendealten patriarchalen Kontrollmechanismus gegenüber dem weiblichen Körper und der weiblichen Sexualität. Die Befürworter der FGM argumentieren damit, dass es zu den Hygienevorschriften (sunan al-fitra) gehöre, andere wiederum berufen sich auf einen Hadith – „Hadith der Beschneiderin“233 genannt –, um diese Praxis religiös zu legitimieren. In dem Hadith heißt es, der Prophet habe die weibliche Beschneidung (khitan al-untha) toleriert. Er soll zu Umm Habiba (oder Umm ‘Atiyya al-Ansariyyah), einer Beschneiderin von Sklavinnen, gesagt haben: „Wenn du schneidest, übertreibe nicht, denn es macht das Gesicht strahlender und es ist angenehmer für den Ehemann.“234 In einer anderen Übersetzung dieses Hadiths heißt es, es sei für den Mann eine Pflicht (sunna) und für die Frau ‚ehrenwert‘ (makruma) beschnitten zu sein, stelle für sie aber keine Pflicht dar. Jedoch gilt dieser Hadith als schwach (daʿif), denn die Überlieferungskette ist nicht vollständig und eine Rücküberprüfung der Aussage des Propheten lässt sich nicht vollziehen. Außerdem steht die weibliche Genitalverstümmelung dem islamischen Gebot der körperlichen Unversehrtheit des Menschen (hurma) diametral entgegen. Der folgende Vers der Sure 32 verweist auf dieses Gebot, in dem auf die Vollkommenheit der Kreation Gottes hingewiesen wird: „(Er) der alles, was er geschaffen hat, gut gemacht hat […].“235

231 Bei der sogenannten „pharaonischen Beschneidung“ (tahara farʿuniya; khifadh) werden sogar die inneren, manchmal auch die äußeren, Schamlippen abgeschnitten und die Vulva zugenäht (Infibulation), wobei ein kleines Loch zum Abfluss des Harns und der Scheidensekrete offengelassen wird. In der Hochzeitsnacht schneidet der Mann die Naht auf. Gerste, Margrit: „Pharaonische Beschneidung“, in: Zeit Online (4.05.1979). 232 Vgl. Toubia, Nahid: „What is female genital mutilation?“, in: Ilkkaracan, Pinar (Hg.): Women and sexuality in Muslim societies, Istanbul 2000, S. 417-426, S. 421. 233 Abu Dawûd, Sulaimān ibn al-Asch'ath ibn Ishāq al-Azdī: Kitab as-sunan, Buch 41, Nr. 5251. Die Hadith-Sammlung von Abu Dawûd enthält, im Gegensatz zu der Sammlung von Al-Buhari und von Al-Muslim, sowohl authentische als auch schwache Hadithe. 234 Ebd. Das heißt, sie soll keine „pharaonische Beschneidung “ durchführen. 235 Der Koran, Sure 32:7.

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Dieser Exkurs soll verdeutlichen, dass die weibliche Genitalverstümmelung weniger eine religiöse als vielmehr eine traditionelle vorislamische Praxis darstellt, die mehrheitlich in afrikanischen Ländern durchgeführt wird. Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein Ausdruck der physischen Einschränkung weiblicher Sexualität und weiblicher Lust; die fehlende oder mangelhafte sexuelle Erziehung ist ein Ausdruck ihrer psychischen Einschränkung.

2.7 GELEBTE REALITÄT – JUNGFRÄULICHKEIT IM HEUTIGEN SINNE Wie oben beschrieben, treibt die Pflicht, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, ledige Frauen zu kostspieligen Mitteln. Operationen zur Wiederherstellung des Hymens sind in Marokko weit verbreitet und deuten auf die Verzweiflung junger Frauen hin, der Schmach ihrer Familie und der des Bräutigams zu entgehen und das Ansehen ihrer Familie nicht zu gefährden. Der gesellschaftlich auferlegte Druck, jungfräulich in die Ehe zu gehen, lastet schwer auf den jungen Frauen und spiegelt sich auch in den Antworten der von mir interviewten Studentinnen wider: Bis auf eine Ausnahme gaben alle an, noch Jungfrau zu sein. Als Gründe führten sie, wie ihre männlichen Kommilitonen, in erster Linie religiöse Vorschriften und sodann die Tradition, womit der Ehrerhalt der Familie gemeint ist, und das damit verbundene Ansehen der Familie an. Der Einfluss der Religion, der im täglichen Leben keine große Rolle zu spielen scheint, was sich am allgemeinen Lebensstil und u. a. am Alkoholkonsum vieler junger Menschen, insb. der jungen Männer, äußerte, spielte bei der Thematisierung der weiblichen Sexualität eine umso größere Rolle.236 Mit anderen Worten: Wenn der Islam auch im Alltag der Jugendlichen eine eher nachrangige Rolle spielt, so spielt er doch als Wertesystem eine prominente Rolle in ihrem Leben.237 Während die Studenten offen über ihre sexuellen Erfahrungen sprachen und dies der Steige236 In einer Umfrage von 2003/2004, bei der 622 Marokkaner im Alter von 18 bis 35 Jahren zu ihrer Religiosität befragt wurden, gaben 32,6% an, wenig Zeit in der Moschee zu verbringen und ganze 47% gaben an, dort keine Zeit zu verbringen. Dies bedeutet, dass nur ein Fünftel der Befragten regelmäßig bzw. häufig in die Moschee geht. Vgl. Hegasy 2007a, S. 134. 237 Bourqia bezeichnet den Islam deshalb als einen ‚Werteträger‘ (porteur de valeurs). Bourqia 2010, S. 110.

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rung ihres Prestiges in ihrer Peer group zu dienen schien, wurden sexuelle Beziehungen von den Studentinnen negiert oder nur im Zusammenhang mit der Ehe erwähnt.238 Dies kann mit der gesellschaftlichen Einstellung, die der männlichen Potenz einen hohen Stellenwert beimisst und den Frauen Keuschheit und Reinheit auferlegt, erklärt werden.239 Dabei heißt es keineswegs, dass sie keine derartigen Beziehungen eingehen. Vielmehr ist es als ein Resultat der inkorporierten Schamkultur zu werten. In einer Publikation über sexuelle Aufklärung fand ich ähnliche Aussagen von Frauen zum Diktat der Jungfräulichkeit und zu vorehelichen Sexualnormen. Die Autorinnen des Buches zitieren aus einer Studie, die mit 728 Frauen im Alter von zwanzig Jahren und älter aus dem Umkreis von Groß-Casablanca durchgeführt wurde.240 Die Umfrage ergab, dass nur ein Drittel der Befragten (31,5%) sexuell aufgeklärt war und 15,9% von ihnen noch keinen Geschlechtsverkehr hatten. Besonders auffallend war, dass die große Mehrheit der Frauen (82,8%) voreheliche Beziehungen missbilligte. Fast alle Frauen (98,8%) befanden es für unerlässlich, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Insgesamt ließ sich verzeichnen, dass sexuelle Freiheiten und Beziehungen ohne Trauschein von ihnen verurteilt wurden.241 Dies kann einerseits als ein Zeichen dafür verstanden werden, dass sich viele Frauen dem Druck der Tradition angepasst und die sozialen Normen derart verinnerlicht haben, dass sie ihr Urteilsvermögen und ihre Moralvorstellungen beherrschen. Sie können als Bestandteil ihres spezifischen Habitus aufgefasst werden. Andererseits können diese Ergebnisse auch lediglich als ein Ausdruck des moralischen Mainstreams verstanden werden, die wenig über die tatsächliche soziale Praxis aussagen.

238 Dies wird auch von einer Umfrage aus dem Jahr 2005 bestätigt, bei der 865 Studenten und Studentinnen aus Rabat interviewt wurden. Dabei gaben 86,2% der Frauen und 39,6% der Männer an, dass sexuelle Beziehungen nur im Rahmen der Ehe praktiziert werden sollten. Vgl. El Harras 2007, S. 149. Auffällig ist wie viele Frauen im Vergleich zu den Männern diese Meinung vertreten. Das spiegeln auch die von mir erhobenen Daten wider, nach denen Männer eher dazu bereit waren, über ihre sexuellen Erfahrungen zu sprechen als Frauen. 239 Vgl. ebd. 240 Leider wird nicht darauf hingewiesen, wer die Umfrage durchführte. Des Weiteren weisen die Autorinnen auch nicht auf das genaue Alter der Frauen hin. Vgl. Kadiri/ Berrada 2009, S. 14. 241 Vgl. ebd., S. 14f.

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Sexuelle Beziehungen von Frauen werden von der Gesellschaft nur im Zusammenhang mit der Ehe geduldet. Wenige Männer akzeptieren für die Heirat eine sexuell erfahrene Frau. Dass die Männer außerhalb des ehelichen Rahmens das Ansehen ihrer Partnerin ruinieren könnten, nachdem sie mit ihr geschlafen haben, scheint den meisten von ihnen keine Gewissenskonflikte zu bereiten. Dieses Problem hat Mernissi in einem Aufsatz von 1982 bereits auf den Punkt gebracht: „[M]en ask the impossible: they want access to women for brief sexual encounters before marriage, but once they have decided to marry, they launch into a frantic search for a virgin whom no other man has ‚defiled‘. Such a man stands a good chance of penetrating crass stitches put in by a clever gynaecologist, and this is in fact a just turn of events because he too has ‚defiled‘ the daughters, sisters and cousins of other men, and thereby, by his own moral code, the men themselves. In the mind of a man who seeks to marry a virgin after taking the virginity of other young women before marriage, sex is defilement, sexual contact is a degrading experience which degrades the woman, and by the same token, any men who are linked to her by ties of blood or marriage. And he, the hero, destroys the honour of all these men by means of their young women, and will, on his wedding day, win the greatest victory of all by marrying a rare jewel, a woman who no man has ever touched.“242

Ohne zum Zeitpunkt der Feldforschung von diesem Zitat Kenntnis genommen zu haben, habe ich in meinen Interviews sinnverwandt ebendiese Doppelmoral und Bigotterie aufgegriffen und die jungen Männer gefragt, ob sie sich Gedanken über die Ehre der Familie der Frau machen würden, mit der sie geschlafen haben. Schließlich werde sie sicherlich auch einen Bruder haben, der – ähnlich wie sie bei ihren Schwestern – um deren Ehre besorgt sei. Ich fragte danach, ob ihnen die Vorstellung, die potentielle Schwester eines ebenso besorgten Bruders, die Tochter einer anständigen Familie, entehrt zu haben, keine Gewissensbisse bereite. Die meisten Studenten fühlten sich von dieser (zugegeben provokativen) Frage peinlich berührt, schauten verlegen auf den Boden oder wichen ihr aus. Einige gaben mir Recht und fügten hinzu, es vorher nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachtet zu haben. Sie beschwerten sich über die ‚kulturelle Schizophrenie‘ ihrer Gesellschaft, ein Begriff, den ich in Marokko laufend zu hören bekam und der insb. bei der jungen Generation weitverbreitet ist.243

242 Mernissi 1982, S. 185. 243 Auf diesen Aspekt, und was er im Genauen bedeutet, werde ich im Verlauf der Arbeit noch ausführlicher eingehen.

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Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Antworten und Reaktionen meiner Untersuchungsgruppe keineswegs repräsentativ sind und dass man mir in einigen Fällen eine beschönigende, um nicht zu sagen verfälschte, Antwort gab, vermutlich mit der Absicht, einen guten Eindruck zu machen oder sich als besonders liberal bzw. reflektiert darzustellen, womöglich auch aus Unsicherheit. Reden und Handeln sind nun mal unterschiedliche Dinge. Von den Studentinnen bekam ich immer wieder zu hören, dass junge Männer manchmal Gerüchte über Frauen in die Welt setzten, um sich zu brüsten, obwohl mit diesen Frauen keinerlei Intimität stattgefunden habe. Allein die Verbreitung solcher Geschichten kann das Ansehen eines Mädchens nachhaltig negativ beeinflussen. Wenn eine Frau also eines Tages heiraten möchte, muss sie Acht auf ihre Reputation und die Diskretion ihres Liebespartners geben. Wenn er ihr – etwa aus Eifersucht oder aus anderen Gründen – schaden möchte, genügt es, derartige Gerüchte zu verbreiten. In diesem Kapitel wurde das Gebot der Jungfräulichkeit und das Verbot außerehelicher Sexualbeziehungen und deren religiöse und soziokulturelle Ursprünge und soziale Auswirkungen vorgestellt. Es wurden traditionelle Bräuche und gegenwärtige Bewältigungsstrategien, die auf dem Jungfräulichkeitskult basieren, aufgezeigt. Das folgende Kapitel behandelt das Konzept der Ehe und Familie in der marokkanischen Gesellschaft und zeigt auf, wie sich die Institution der Ehe heute im Wandel befindet.

3. Die Institution der Ehe

Die Institution der Ehe nimmt in der marokkanischen Gesellschaft einen zentralen Stellenwert ein. Sie wird als sakral betrachtet1 und soll die Reproduktion der sozialen Ordnung sichern,2 denn durch die Heirat und die Familiengründung wird die patriarchale Gesellschaftsordnung aufrechterhalten. Der arabische Begriff für Ehe, nikah, bedeutet gleichzeitig auch Koitus. Dieser Begriff wird synonym verwendet. Die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs verweist darauf, dass Sexualverkehr in der arabischen Kultur und im islamischen Verständnis nur im Zusammenhang mit der Ehe gedacht wird, ergo nur im ehelichen Rahmen praktiziert werden soll. Es besteht unzweifelhaft ein Interesse des Staates daran, dass Menschen heiraten, eine Familie gründen und Nachkommen generieren. Die Sexualität innerhalb des ehelichen Rahmens steht, um es mit Foucault zu sagen: „im Dienste eines elementaren Bemühens, nämlich dem, das Bevölkerungswachstum zu sichern, Arbeitskraft zu produzieren, die Form der gesellschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten, kurz: im Dienste der Absicht, eine ökonomisch nützliche und politisch konservative Sexualität zu bilden.“3

Hat der Staat Kontrolle über die Sexualität, hat er auch Kontrolle über die Familie und damit über die Gesellschaft. Denn die Familie bildet das Fundament der Gesellschaft. Deshalb ist die Sexualität, wie in der Einleitung bereits erwähnt, nicht dem

1

Vgl. Chabach 2010, S. 25.

2

Vgl. Bourdieu, Pierre: „On the family as realized category“, in: Theory, Culture and Society, 13 (3) 1996, S. 19-26, S. 21.

3

Foucault 2014, S. 41.

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Individuum selbst überlassen, sondern eine Angelegenheit des Staates. Das eigentlich Private wird also zu einem öffentlichen Gegenstand.4 In vielen Verfassungen der arabischen Welt fungiert der Staat als Bewahrer der Familie, in ihrer Funktion als Basis der Nation. Nicht umsonst werden familienrelevante Inhalte in den Verfassungen arabischer Länder festgeschrieben. „[T]he constitutions use the family as the recruiting and training ground for citizenship“,5 schreibt die US-amerikanische Anthropologin Suad Joseph. Aus diesem Grund existiert in arabischen Ländern auch eine „pro-natale Politik“, bei der die gesellschaftliche Reproduktion durch Zahlungen für Geburten bezuschusst wird, die den Arbeitslöhnen der Väter angerechnet werden. Einige Staaten würden sogar staatliche Unterstützung beim Brautgeld (mahr) zusichern, um Eheschließungen zu fördern.6 Die Aufrechterhaltung der Sozialstruktur gehört mit der Religion zu den Hauptpfeilern der traditionellen patriarchalen Gesellschaftsordnung.7

3.1 DER HOHE STELLENWERT DER FAMILIE Der hohe Stellenwert der Familie durchzieht alle Bereiche des sozialen Lebens, in politischen sowie in religiösen Institutionen.8 Die Familie, als eine Art Mikrogesellschaft, stellt die kleinste soziale Einheit der Gesellschaft dar und bildet ihre Kerninstitution: „The Arab family may be described as the basic unit of production and center of Arab social organization and socioeconomic activities. It evolved into a patriarchal, pyramidically hierarchal (particularly with respect to sex and age), and extended institution.“9

4

Vgl. Bourdieu 1996, S. 25.

5

Joseph 1996, S. 16. Aus diesem Grund hat ein außerhalb der Ehe gezeugtes Kind in Marokko später Schwierigkeiten, einen Personalausweis zu bekommen oder es erhält einen mit dem Aufdruck ‚illegitim‘. Vgl. ebd.

6

Vgl. ebd.

7

Vgl. Bourqia 2010, S. 108.

8

Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 8; vgl. Joseph 2002, S. 16.

9

Barakat 1993, S. 97.

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Sie stellt auch eine ökonomische Einheit dar. Nicht nur weil das Ehepaar gemeinsam für die Familie wirtschaftet, sondern auch weil die Kinder – im Falle einer beruflichen Selbstständigkeit – häufig als Arbeitskraft im Familienbetrieb tätig sind. Darüber hinaus bildet die Familie auch ein soziales Netz und bedeutet eine ökonomische Sicherheit für ihre Mitglieder. Denn grundsätzlich fühlen sich Familienmitglieder verpflichtet, ihre Familie finanziell zu unterstützen.10 Kinder stellen teilweise die einzige Altersvorsorge für ihre Eltern dar. Auch heutzutage wird deshalb noch in vielen Teilen der arabischen Welt eine kinderreiche Familie als das Ideal angesehen. Über die Aspekte der Sicherheit im Alter und der zusätzlichen Arbeitskraft hinaus, trägt Kinderreichtum zur Steigerung des familiären Prestiges bei.11 Über die Familie als zentrale soziale Institution, so Barakat weiter, erhalten die Familienmitglieder darüber hinaus ihre religiöse und kulturelle Zugehörigkeit.12 Damit ist sie auch eine politische Einheit, denn sie bildet die Basis für die Gemeinschaft bzw. die Nation, und damit die Umma („Gemeinschaft der Gläubigen“) selbst. Die Tatsache, dass der Staat so viele seiner Ressourcen in die Aufrechterhaltung der Familie als Konzept und als Ideal investiert,13 verdeutlicht deren Signifikanz für die Politik. Die Aufrechterhaltung der ehelichen Institution und der Familie sind insofern wichtig für den Staat, als innerhalb der Familien traditionelle Werte, wie z. B. die Autorität und die Gehorsamspflicht, aufrechterhalten werden. Es bestehen eindeutige Parallelen zwischen den Strukturen der Familie und der Gesellschaft. Die traditionelle Familie ist hierarchisch geprägt und die Autorität des Mannes als Ehemann und Vater wird über sie reproduziert. Die Werte, die über die Familie vermittelt werden, spielen auch im Verhältnis des Volkes gegenüber dem Herrschenden eine zentrale Rolle. Die Familie reproduziert also die traditionelle Gesellschaftsordnung, welche auf Hierarchien und der Gehorsamspflicht, nicht nur der Frauen gegenüber Männern und Kindern gegenüber den Eltern, sondern auch und insbesondere des Volkes gegenüber dem Staat begründet ist. Mit anderen Worten: Das Prinzip der

10 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 4. 11 Vgl. Barakat 1993, S. 100. 12 Vgl. ebd., S. 98. 13 Gran, Peter: „Organization of culture and the construction of the family in the modern Middle East“, in: El Azhary Sonbol, Amira (Hg.): Women, the family and divorce laws in Islamic history, Syracuse 1996, S. 64-78, S. 77.

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patriarchalen Hierarchie basiert auf der Autorität von Männern, die sie kontrollieren und dominieren, und diese Hierarchie entsteht in der Familie.14 Auch linguistisch wird eine Verbindung zwischen der Familie und dem Staat hergestellt. Oft bedienen sich Staatsoberhäupter in arabischen Ländern nämlich solcher Begriffe, die einen Familienbezug suggerieren sollen. Sie nennen sich ‚Vater der Nation‘, als seien sie Patriarchen einer großen Familie. Erinnert sei hier z. B. an den ägyptischen Diktator Mubarak, der in einer Fernsehansprache zu Beginn des „Arabischen Frühlings“ das ägyptische Volk mit „meine Kinder“ ansprach. Damit wird auf die Autorität der Väter Bezug genommen, die in arabischen Familien herrscht. Des Weiteren soll über derlei Metaphern eine moralische Beziehung zu den Wählern geschaffen und eine Verbundenheit der Bürger zum Staat evoziert werden.15 Barakat formuliert den Zusammenhang zwischen Familie und Staat folgendermaßen: „Arab society […] is the family generalized or enlarged, and the family is society in minitiature. Both act and react to one another.“16 Die Familie ist als Konzept deshalb so wichtig für den Staat, weil sie die „Gesellschaft in Miniatur“ darstellt und weil über sie das Patriarchat – also die traditionelle Gesellschafts- und Geschlechterordnung – reproduziert wird. Die Familie erfährt somit eine Politisierung seitens des Staates und das eigentlich Private wird zu etwas Politischem. Suad Joseph bezeichnet die Familie deshalb als ein explizites politisches Projekt innerhalb des Staaten- und Nationenbildungsprojektes arabischer Staaten.17 Die Familie ist, laut Joseph, nämlich die grundlegende politische Ressource, weil sie einerseits die Aufgabe des Staates hinsichtlich der Sozialleistungen (informelle soziale Sicherung) übernimmt und andererseits, weil der Staat Familien und familiäre Netzwerke beim Zugang zu staatlichen Ressourcen privilegiert. Die Familie stattet ihre Mitglieder also mit dem elementaren politischen Netzwerk aus. Familiäre Kontakte sind häufig der Schlüssel für den einfachen Zugang zu Behörden. Dabei ist die Bewilligung von staatlichen Mitteln oder Leistungen abhängig vom Einfluss der Familie. Aufgrund von Familienzugehörigkeiten werden staatliche Transferleistungen somit selektiv vergeben.18 Gerade im marokkanischen Kontext besteht eine tiefe Verbindung zwischen dem Nationalstaat und verwandtschaftlich organisierten Stammesgruppen, die die

14 Vgl. Joseph 1996, S. 14. 15 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 8. 16 Barakat 1993, S. 118. 17 Vgl. Joseph 2002, S. 16. 18 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 4.

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Struktur des Staates und seine Politik nachhaltig beeinflussten.19 „Members of a community thought of themselves as relatives issued from a common ancestor. Family and kinship served as the bases for social formations striving to remain autonomous from the state.“20 Die Berufung auf einen gemeinsamen Vorfahren hatte also einen einenden und identitätsstiftenden Charakter. Bis zur nationalen Unabhängigkeit und darüber hinaus konnten viele tribale Verwandtschaftsgruppen aufgrund dieser bindenden Einheit fortbestehen. Die vorkoloniale marokkanische Geschichte zeugt von antagonistischen Beziehungen zwischen der zentralen Autorität und tribalen Gemeinschaften. Erstere versuchte ihre Macht entweder über Gewalt oder taktische Allianzen mit den lokalen Gruppen zu halten. Die Fähigkeit, eine Balance zwischen den verwandtschaftlichen Beziehungen zu gewährleisten, bildet die Basis des Machterhalts der heutigen Monarchie.21 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich der Staat und die Institution Familie in einer Interdependenz befinden und zum Erhalt patriarchaler Strukturen beitragen. Dies kreiere, so Joseph und Slyomovics, verwandtschaftliche Kontinuitäten sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich, mit dem Resultat, dass verwandtschaftliche Verbindungen alle staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bereiche durchziehen. Diese patriarchale Vetternwirtschaft sei außerdem schuld daran, dass Frauen und Jugendliche, sofern sie nicht einer einflussreichen oder gut vernetzten Familie angehören, wenig Chancen hätten, in diesen Bereichen Fuß zu fassen.22 Aber auch unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen werden patriarchale Strukturen kontinuierlich im Sozialleben reproduziert. So erfahren in diesem Zusammenhang z. B. Frauen und Jugendliche aufgrund der Superiorität der Männer innerhalb des Gesellschaftssystems, eine auf Gender und Alter basierende Diskriminierung.23 In arabischen Staaten würden Männer, insbesondere ältere Männer, besser bezahlte und höher positionierte Berufe ausüben, so Joseph. Diese auf Gender und Alter begründete, privilegierte Position würde dadurch gerechtfertigt werden, dass sie Frauen und Jüngeren gegenüber per se überlegen seien.24 Die Idee

19 Vgl. Charrad, Mounira M.: „State and gender in the Maghreb“, in: Joseph/ Slyomovics 2001, S. 61-71, S. 61. 20 Ebd, S. 63. 21 Vgl. ebd, S. 67ff. 22 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 5. 23 Vgl. Joseph 1996, S. 15f. 24 Vgl. ebd., S. 16.

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der Familie sei, laut Joseph, eine Erfindung des Staates und ihre Romantisierung und Heiligerklärung ziele einzig darauf ab, eine Grundlage zu schaffen, worüber das Verhalten von Frauen eingeschränkt werden könne.25 Die Familie ist heilig. Sie war und ist Aushandlungsgegenstand hitzig geführter Debatten in nahezu allen post-kolonialen muslimischen Gesellschaften. Die Familie wurde insbesondere in Zeiten der Kolonisierung zur Bastion der muslimischen Identität. Die Kolonisatoren okkupierten zwar den öffentlichen Raum, doch der private Raum blieb als Ort der Authentizität – als Ort der Frauen, der Sexualität und der Familie – weitestgehend unberührt. Bouhdiba hält folgerichtig fest, dass Frauen dadurch eine neue Rolle als Bewahrerinnen der Tradition zuteil wurde: „Arab women were now promoted to the historical and unexpected role of guardians of tradition and of the collective identity […]“.26 Die Familie wurde zu einem unantastbaren Heiligtum erklärt, um die eigene kulturelle Identität vor dem Fremden zu bewahren. Nicht umsonst basiert das Familienrecht in den meisten arabischen Ländern auf der Shariʿa, während alle anderen Gesetzestexte auf positivem Recht basieren. Es besteht also eine tiefe rechtliche Verflochtenheit zwischen der Religion und der Familie. Weder die Heirat, noch die Scheidung oder das Erbe sind zivilrechtlich geregelt. Im Familienrecht werden nicht nur alle Angelegenheiten rund um die Familie, Ehe, Kindererziehung, Scheidung, Erbe, Gütertrennung – des privaten Raums generell – kodifiziert, sondern auch der Personenstatus der Frau, und das nicht nur in ihrer Rolle als Mutter.27 Die Ableitung familiärer Werte aus religiösen Werten wird durch die religiöse Kontrolle über das Familienrecht ermöglicht, wodurch das Patriarchat eine religiöse Rechtfertigung erhält.28 Die marokkanische Soziologin Rahma Bourqia schreibt dazu, dass traditionelle Werte, wie die Gehorsamkeit oder der Respekt vor Autoritäten, die patriarchale (Gesellschafts-)Ordnung stützen und vom Staat als religiöse Werte ausgelegt werden, um sich selbst zu legitimieren: „[L’]obéissance est la pierre angulaire de l’ordre patriarcal qui confisque la morale religieuse pour se légitimer.“29 Die religiösen Institutionen gehören zu den mächtigsten Unterstützern patriarchaler Gesell-

25 Vgl. Joseph 2002, S. 11. 26 Bouhdiba 2001, S. 232. 27 Das Familienrecht wird in Kapitel 7 dieser Arbeit noch eingehend behandelt. 28 Vgl. Joseph 2002, S. 20. 29 Bourqia 2010, S. 108. „Die Gehorsamkeit ist der Eckpfeiler der patriarchalen Ordnung, der die religiöse Moral sicherstellt, um sich zu legitimieren.“ Übers. d. Verfasserin.

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schaftsstrukturen, deren Fortbestehen sie durch die Aufrechterhaltung hierarchischer Familienbeziehungen gewährleisten.30 Keine anderen Institutionen, so Joseph, seien bei der ‚Sakralisierung‘ der Familie stärker involviert gewesen als die religiösen.31 Deshalb halten arabische Staaten die Verbindung zwischen der Religion, der Verwandtschaft und der Nation aufrecht.32 Während in der vor-islamischen Zeit verschiedene Familiensysteme, sowohl matriarchale als auch patriarchale, nebeneinander existierten, erhielt mit dem Einzug des Islam einzig die patriarchale Familienstruktur Gültigkeit in der traditionellen Gesellschaftsordnung.33 Die Institutionalisierung des Islam beendete diesen Pluralismus. Fortan wurde der patriarchalen Familienform der Vorzug gegeben. Diese Feststellung stützt sich auf Berichte von Historikern, wie Al-Buhari (im Sahih), Ibn Habib al-Baghdadi (im Kitab AlMuhabbar) und Ibn Saad (im Kitab Al-Jakabat), die sich darin einig waren, dass es in der vor-islamischen Zeit, neben der patriarchalen Ehe, auch Beziehungstypen gegeben habe, bei denen die Kinder nicht dem Vater zugesprochen wurden, sondern bei der Mutter verblieben. Ebenso besaß eine Frau das Recht, ihren Mann zu verlassen bzw. wegzuschicken.34 Erst mit dem Einzug des Islam in die arabische Kultur wurde außereheliche Sexualität als Sünde deklariert: „Bukhari hat in seiner Beschreibung der vorislamischen Ehe dargelegt, daß [sic!] vor dem Islam zina wahrscheinlich nicht als Sünde oder Verbrechen gegen den Glauben angesehen wurde. Erst mit dem Aufkommen des Islam wurde zina zu einem Verbrechen gegen Gott.“35

Im marokkanischen Strafgesetzbuch bildet der Islam die Grundlage für das Verbot der Sexualität vor und außerhalb der Ehe. Artikel 490 hält fest, dass jeder sexuelle Akt zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts, die nicht durch das Band der Ehe verbunden sind, eine Straftat darstellt, welche mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr bestraft wird. Da der Staat mittels der Religion bzw. der Shariʿa Druck auf die Bevölkerung ausübt und damit Kontrolle über sie erhält, kann von einer Komplizenschaft der Religionsgelehrten (ʿulamāʾ) und der Politik

30 Vgl. Joseph 2002, S. 13; vgl. Barakat 1993, S. 118. 31 Vgl. Joseph 2002, S. 11. 32 Vgl. ebd., S. 20. 33 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 11. 34 Vgl. Mernissi 1991, S. 61. 35 Ebd., S. 51.

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ausgegangen werden. Er kontrolliert und perpetuiert mit Hilfe der Jurisprudenz und der Religionsgelehrten die Institution der Ehe.

3.2 DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN INDIVIDUUM UND GEMEINSCHAFT „Aber das menschliche Wesen ist keine dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble [sic!] der gesellschaftlichen Verhältnisse.“36

In arabischen Ländern wird die Familie, und nicht das Individuum, als Säule und als wesentliche Einheit der Gesellschaft betrachtet, die das Fortleben der bestehenden Gesellschaftsordnung sichert.37 Aus diesem Grund wird auch die Familie gegenüber dem Individuum rechtlich als höher gestellt behandelt.38 Im Sozialisationsprozess wird das Individuum nicht in der Entfaltung eines autonomen Selbst bestärkt, sondern stattdessen darin, sich in Beziehung zur Familie zu setzen und sich verantwortlich für seine Verwandtschaft zu fühlen. Deshalb betrachten Individuen sich selbst und ihr eigenes Handeln stets im familiären Kontext. Während das westliche Konzept des Selbst vom Individuum ausgeht,39 geht das marokkanische Konzept von der Gemeinschaft, also vom Kollektiv aus. Sadiqi nennt es das „kollektive Selbst“: „The collective self is so deeply knitted and pervasive in the Moroccan social fabric that it continuously materializes in language use, behavior, daily actions, and ways of thinking and perceiving reality.“40

36 Marx, Karl: „Thesen über Feuerbach“, in: Ders./ Engels, Friedrich: Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 5-7, S. 6. 37 Vgl. Barakat 1993, S. 201. 38 Vgl. Joseph 2002, S. 20. 39 Das Konzept des Individualismus ist die normative Grundlage der universellen Menschenrechte, die von einem individualisierten Bürger ausgehen. Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 14. 40 Sadiqi 2003, S. 66.

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Die Gesellschaft wird dabei einerseits auf Grundlage ihrer Individuen und andererseits auf Grundlage der Familie gedacht. Es besteht zwar eine Vorstellung des autonomen Selbst, aber das Selbst ist immer Teil von etwas Größerem, nämlich von Familie, Stamm, Nation, und kann nicht von diesem losgelöst gedacht werden. „[B]y emphasizing the role of the community to the detriment of the individual, Moroccan culture is different from mainstream Western culture: whereas the latter is monochromic as it emphasizes the role of individuals, the former is inherently polychromic in the sense that focus is never put on individuals as individuals, but on individuals as inherent parts of a community to which they are accountable.“41

Im Arabischen, führt Sadiqi weiter aus, ist das Äquivalent zum Terminus „Identität“ der Begriff „al-huwīyyah“. Dabei gibt es eine Besonderheit: „Al-huwīyyah“ basiert nämlich auf dem männlichen Personalpronomen „huwa“ (er) und nicht auf dem ersten Personalpronomen „ānā“ (ich).42 Dieser Begriff impliziere, dass die Identität des Subjektes aus der Perspektive einer dritten männlichen Person betrachtet wird, es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die arabische Infinitivform immer auf dem maskulinen Personalpronomen basiert. Dieses pluralistische intersubjektive Konzept des Selbst führe Sadiqi zufolge dazu, dass die Selbstwahrnehmung des Individuums nicht aus seinem Inneren heraus stattfindet, sondern sich über die Fremdwahrnehmung der Gruppe zum Subjekt konstituiere.43 D.h. das Selbstbild des Individuums stütze sich in erster Linie darauf, wie andere über ihn oder sie denken. Aus diesem Grund habe ich im vorigen Kapitel den Ausdruck ‚Kultur der Reputation‘ gewählt.44 Darüber hinaus wird im kollektiven Konzept des Selbst der Privatsphäre ein geringer Stellenwert beigemessen. Würde man diese einfordern, käme es einer Beleidigung gegenüber der Familie gleich. Außerdem verbiete das „Schamkonzept“45 ein solches Verhalten, da es von der Gemeinschaft als ein Mangel an Bescheidenheit oder an Schamgefühl aufgefasst würde.46 Jedem Gemeinschaftsmitglied werde während des Sozialisationsprozesses nahegelegt, zuerst das Wohl der Gemein-

41 Ebd., S. 69. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit. 45 Auf das „Schamkonzept“ wurde in Kapitel 2.3 dieser Arbeit eingegangen. 46 Vgl. ebd.

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schaft, im engeren Sinne der Familie, zu berücksichtigen, ehe man an das seinige denkt. Dies würde insbesondere von Frauen erwartet, deren zugewiesener Raum der häusliche ist und denen die Rolle als Hüterinnen familiärer Werte zugesprochen wird.47 Joseph ergänzt, dass allenfalls Männern Individualität zugestanden wird, während Frauen stets als Angehörige der Männer angesehen werden.48 Das Konzept der Individualität muss sich im marokkanischen soziokulturellen Kontext dem Konzept der Verwandtschaft (nasab) und des Stammes (asl) unterordnen.49 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Familie stets höher bewertet wird als das Individuum. Sie ist das Zentrum sozialer Organisation, über die der Einzelne seine religiöse und soziale Zugehörigkeit erhält. Deshalb wird auch die Identität (des Einzelnen) in erster Linie über Verwandtschaftsbeziehungen definiert.50 Der Erfolg oder das Scheitern eines Individuums hat unmittelbare Auswirkungen auf die Reputation der Familie.51 Dies erklärt auch den hohen Stellenwert des moralisch und sittlich einwandfreien individuellen Verhaltens, insbesondere der weiblichen Familienangehörigen, da sich darüber die Familienehre definiert. Das Familienkonzept basiert auf gegenseitiger Verpflichtung und Abhängigkeit, auf Reziprozität bis hin zur Selbstverleugnung. Barakat subsumiert klar definierte Rollenmuster innerhalb der patriarchalen arabischen Familie: Die Rolle des Vaters beziehe sich auf die des Ernährers (janna) und die der Mutter auf die der Hausfrau (banna). Im Gegensatz zu den statischen Rollenmustern der Eltern wechseln die der Kinder von zunächst Abhängigen (ʿiyal) zu Unterstützern (sanad).52 Die Aufgabe der Kinder kehrt sich im Laufe ihres Lebens von Bedürftigen zu Helfern ihrer Eltern um. Dies galt früher umso mehr für Mütter, die auf ihre Söhne zählten, wenn diese erwachsen wurden. Denn in einer Gesellschaft, in der eine Frau früher unvorbereitet seitens des Mannes aus der Ehe verstoßen (ṭalāq) werden konnte, war ein Sohn die einzige soziale Absicherung der Mutter.53 Das Konzept der Individualität ist in der islamischen Weltanschauung von geringer Bedeutung, jedoch nimmt es im Leben der Jugendlichen, inspiriert von den

47 Vgl. ebd., S. 68. 48 Vgl. Joseph 2002, S. 24. 49 Vgl. Sadiqi 2003, S. 66. 50 Vgl. Barakat 1993, S. 98; vgl. Joseph 2002, S. 25. 51 Vgl. Barakat 1993, S. 98. 52 Vgl. ebd. Barakat zufolge geht die Wurzel der Worte ʿāʾila und uzra, die beide mit „Familie“ übersetzt werden können, aus dem Verb „unterstützen“ hervor. 53 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 216.

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Entwicklungen der Moderne, aber auch wegen der voranschreitenden Urbanisierung, Industrialisierung und der Entwicklung von der Groß- zur Nuklearfamilie,54 einen zunehmend höheren Stellenwert ein. Viele der klassischen zugewiesenen Rollenmodelle verlieren in den Zukunftsentwürfen der jungen Menschen an Relevanz. So wurde mir in den Interviews fast ausschließlich der Wunsch nach einer egalitären Rollenverteilung in der Familie genannt. Die Kindererziehung, darin waren sich alle befragten Frauen und ein Großteil der Männer einig, sei eine Aufgabe beider Elternteile. Ebenso wurde ein starker Wunsch nach Unabhängigkeit – der Frauen vom Mann und der Jugendlichen von den Familien allgemein – formuliert. Des Weiteren befürwortete niemand von meinen Interviewteilnehmern die absolute Autorität des Vaters im Sinne eines Patriarchen, dem sich Mutter und Kinder unterzuordnen hätten, wiewohl der Respekt von Seiten der Kinder gegenüber den Eltern im Allgemeinen und gegenüber dem Vater im Besonderen weiterhin relevant bleibt. Dabei sprachen sich fast alle Studierende für eine Kindererziehung aus, die auf dem Dialog zwischen Eltern und Kindern basiert und weniger auf der Gehorsamkeit gegenüber den Eltern.55 Die gewünschte Anzahl von Kindern betrug bei der überwiegenden Mehrheit der von mir interviewten Studenten und Studentinnen zwei bis drei Kinder.56 Die meisten nannten wirtschaftliche Gründe für diesen begrenzten Kinderwunsch. „Es ist unverantwortlich, so viele Kinder in die Welt zu setzen“, war der Grundtenor der Aussagen. Diese Antworten spiegeln die Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie im urbanen Raum wider. Während Kinder in der Vergangenheit als Absicherung im Alter fungierten, da von staatlicher Seite kein ausreichendes soziales Netz etabliert wurde, werden Kinder heutzutage tendenziell eher als eine Belastung in wirtschaftlicher Hinsicht betrachtet.57

3.3 DIE EHE ALS ABSOLUTER IMPERATIV Die Sakralität der ehelichen Institution stützt sich in der religiösen Dimension auf folgende Koranpassage, in der den ledigen Gläubigen nahegelegt wird, zu heiraten:

54 Bourqia spricht von einem Anteil von 63% der Nuklearfamilien in der Gesellschaft. Vgl. Bourqia 2010, S. 110. 55 Auch in der nationalen Umfrage zu Werten in Marokko haben sich 73,8% der Probanden für eine dialogbasierte Erziehung ausgesprochen. Vgl. Rachik 2005, Tabelle 11, S. 30. 56 Nur ein junger Mann wollte fünf Kinder haben. 57 Vgl. Dialmy 2004, S. 97.

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„Und verheiratet diejenigen von euch, die (noch) ledig sind, und die Rechtschaffenen von euren Sklaven und Sklavinnen! Wenn sie arm sind (und sich nicht zutrauen, eine Familie zu ernähren), wird Gott sie durch seine Huld reich machen. Er umfaßt [sic!] (alles) und weiß Bescheid.“58

Hierauf begründet sich das Ehe-Gebot. Offensichtlich war es auch schon zur Entstehungszeit des Islam nicht selbstverständlich, die nötigen finanziellen Mittel für eine Ehe aufbringen zu können. Darauf deutet der anschließende Vers der Sure hin: „Und diejenigen, die es sich (offensichtlich) nicht leisten können zu heiraten, sollen so lange Enthaltsamkeit üben (oder: darauf verzichten?) bis Gott sie durch seine Huld reich macht.“59 Das Gebot der Ehe basiert nicht nur auf dem Koran. Auch der Prophet legte es seiner Anhängerschaft nahe, zu heiraten. Solchen, die es sich nicht leisten können, wird eine Empfehlung gegeben. So heißt es in einem Hadith, Mohammed habe gesagt: „Ihr jungen Leute! Wem von euch es möglich ist zu heiraten, der soll es tun! Wer diese Möglichkeit nicht hat, soll fasten, denn das Fasten verschafft ihm Linderung!“60 Gemäß diesem Zitat wird deutlich, dass die Ehe in erster Linie dazu diente, sich vor der Sünde der Unzucht (zina) zu bewahren. Sie stellte eine Art Schutzmechanismus im Leben der Gläubigen dar, die auferlegten Grenzen Allahs (hudūd allah) nicht zu überschreiten und ihn nicht gegen sich zu erzürnen. Der Koran verweist darauf, dass Gott keine Abweichungen von der Norm wünscht: „Und begeht keine Übertretung! Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen.“61 Fraglich werden solche Empfehlungen, wenn die sozialen Bedingungen so widrig sind, dass weder Gottes Allmacht noch das Fasten Abhilfe verschaffen können. Dies ist insofern dramatisch, als die Heirat die einzige Möglichkeit des Übergangs in die Welt der Erwachsenen darstellt. Solange die jungen Erwachsenen nicht den Bund der Ehe eingehen, befinden sie sich in der Jugendphase, die auch als eine liminale Phase62 betrachtet werden kann. Sie markiert einen statuslosen ‚Wedernoch-Zustand‘ zwischen der Welt der Kinder und der Erwachsenen.

58 Der Koran, Sure 24:32. 59 Ebd., Sure 24:33. 60 Al-Buhari 1991, S. 327f. 61 Der Koran, Sure 5:87. 62 Vom Lateinischen limen, was soviel wie „Schwelle“ bedeutet. Vgl. Turner, Viktor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main [u. a.] 2005, S. 95.

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Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einem „Universum vorläufiger Verantwortungslosigkeit, […] einer Art sozialem Niemandsland“.63 In der Jugendzeit sei man darüber hinaus „sozial aus dem Spiel“,64 so Bourdieu weiter. Anschluss in die Welt der Erwachsenen erhält man durch den Eintritt in das Berufsleben, die eine Selbstständigkeit einleitet, und durch die Heirat. Die liminale Phase ist geprägt von einer Normabweichung, die für die Jugendzeit charakteristisch ist. Das normwidrige Verhalten der Jugend kann eine Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung darstellen, sie kann aber auch die Möglichkeit für sozialen Wandel bergen, weil sie bestehende soziale Normen hinterfragt und konterkariert. Turner schreibt dazu: „Faßt [sic!] man das Schwellendasein als eine Zeit und einen Ort des Rückzugs von normalen sozialen Handlungsweisen auf, kann man es als eine Zeit möglicher Überprüfung der zentralen Werte und Axiome der Kultur, in der es vorkommt, sehen.“65

Die Jugendzeit ist also durch Neuorientierung hinsichtlich bestehender Werte gekennzeichnet und kann sogar den Bruch mit bestehenden gesellschaftlichen Normen bedeuten. Aus diesem Grund werden Individuen oder Gruppen, die sich in dieser Phase befinden, von denjenigen, die die Aufrechterhaltung tradierter Normen gewährleisten möchten, „als gefährlich und anarchisch [angesehen, weshalb sie] durch Vorschriften und Verbote eingeschränkt werden müssen.“66 Da diese Abweichung eine potentielle Gefahr für die Gesellschaftsordnung darstellt, liegt dem Staat viel daran, die Schwellenphase so kurz wie möglich zu halten. Hierin zeigt sich deutlich die soziokulturelle Dimension des Heiratsgebots. Während die Jugendphase als eine liminale Phase, eine Übergangsphase zum Erwachsensein bildet, ist die Heirat als ein Initiationsritus in die Welt der Erwachsenen anzusehen. Heiraten bedeutet, van Gennep zufolge, „von der Gruppe der Kinder oder Jugendlichen in die Gruppe der Erwachsenen, von einem bestimmten Klan zu einem anderen, von einer Familie zur anderen und oft von einem Dorf zu einem anderen überzuwechseln.“67

63 Bourdieu 1993, S. 138. 64 Ebd., S. 139. Hervorhebung im Original. 65 Turner 2005, S. 160. 66 Ebd., S. 107. 67 van Gennep 1909, S. 121.

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Van Gennep unterscheidet drei Arten von Übergangsriten (rites de passage), die es einem Individuum ermöglichen, von einer sozialen Kategorie zu einer anderen zu wechseln: die Trennungsriten (rites de séparation), die Schwellenriten- bzw. Umwandlungsriten (rites de marge) und schließlich die Angliederungsriten (rites d‘agrégation).68 Die Ehe fungiert als ein Angliederungsritual und leitet die Phase der Reife ein.69 Dabei gilt es, die unsichere Phase des Junggesellentums so kurz wie möglich zu halten, da lediglich der heilige Bund der Ehe die Jugendlichen vor unzüchtigem Verhalten (zina) bewahren kann. Vor allen weiblichen Jugendlichen bietet er also Schutz vor illegitimen sexuellen Versuchungen, unehelichen Kindern und dem Ehrverlust. Erst mit der Heirat findet eine Initiation des Individuums in die Welt der Erwachsenen statt. Es erfährt eine Statusänderung zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft, zu dessen Aufgaben die Reproduktion und damit die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung gehören. Die Institution der Ehe und das außereheliche Sexualverbot dienen also der Sicherung des Bevölkerungszuwachses.70 Darüber hinaus ist der Islam eine Religion, die die Expansion anstrebt, weshalb die Vermehrung der Umma zu den obersten Pflichten der Gläubigen zählt.71 Deshalb wird die Sexualität im Rahmen der Ehe nicht nur bejaht, sondern als eheliche Pflicht angesehen.72 „Sexual intercourse is one of the pillars of nikāh.“73 Aus diesem Grund geben der Koran und die Hadithe eine Vielzahl an Empfehlungen und Anweisungen für den Sexualakt. Sexuelle Askese wird darin ebenso abgelehnt wie die Sterilisation.74 Der eheliche Beischlaf und die sexuelle Befriedigung der Frau spielen im Islam eine wichtige Rolle, denn die unbefriedigte Sexualität der Frau wird gefürchtet und mit Anarchie bzw. fitna (sozialem Chaos) in Zusammenhang gebracht, da ihre Sexualität unkontrollierbar werde und sie dadurch andere Männer zur Unzucht

68 Vgl. ebd., S. 21. Dabei stellen die Trennungsriten die Ablösungsphase von einem sozialen Status zum nächsten dar, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten bilden die Zwischenphase und Angliederungsriten die Integrationsphase in die Gesellschaft. 69 Vgl. ebd., S. 114f. 70 Vgl. Foucault 2014, S. 41. 71 Vgl. Naâmane-Guessous 1991. S. 203. 72 Vgl. Mernissi 1991, S. 52. 73 Bouhdiba 2001, S. 18. 74 Vgl. Al-Buhari 1991, S. 329f.

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verleiten könne.75 Da eine unbefriedigte Frau derart gefährlich für die Gesellschaft werden könne, dürfe sexuelle Abstinenz im Rahmen der Ehe 120 Tage nicht überschreiten.76 Deswegen stellt die Impotenz oder die lange Abwesenheit des Mannes einen rechtmäßigen Scheidungsgrund dar.77 Da die Ehe den einzig legitimen Rahmen für Sexualität darstellt und die Familienehre von der Jungfräulichkeit der Tochter abhängt, bietet eine frühe Verheiratung die einzige Lösung, um dem Risiko der vorehelichen Entjungferung und der familiären Schande vorzubeugen. Die Heirat bedeutet für Mädchen und junge Frauen demnach das Ende eines vermeintlich gefährlichen Stadiums der Adoleszenz, mit all ihren Versuchungen und moralischen Prüfungen. Die Eheschließung bietet die Möglichkeit, einen Raum der Vorhersehbarkeit, in dem die Gefahr der Geburt eines unehelichen Kindes minimiert und damit der Ehrverlust der Familie vermieden wird, und der Kontrolle sozialer Beziehungen zu schaffen. Mittels der Ehe wird eine „zone of predictability and control [erzeugt], a framework of obligations and expectations that will provide slightly surer footing in the quicksand of personal relationships“.78 Dies gewinnt insbesondere in einer sich rasant wandelnden globalisierten Welt an Relevanz. Die Heirat hat in einem wirtschaftlich schwachen Land wie Marokko,79 in dem viele Väter arbeitslos sind, auch wirtschaftliche Gründe, da die Familie dann nicht mehr für die Versorgung der Töchter aufkommen muss. Darum wurden sie in der Vergangenheit sehr jung, meist noch vor Eintritt in die Pubertät und häufig mit einem deutlich älteren Mann verheiratet.80 Im ländlichen Raum ist die Praxis der Verheiratung minderjähriger Mädchen auch heute noch verbreitet. In einer Studie aus dem Jahr 1998 wurde festgestellt, dass gerade die Frauen, die auf dem Land leben und nicht alphabetisiert sind oder nur kurz zur Schule gegangen sind, also nur

75 Vgl. Dialmy 2012, S. 38; vgl. Mernissi 1991, S. 50, S. 54. 76 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 18. 77 Vgl. Dialmy 2004, S. 96; vgl. Mernissi 1991, S. 54. 78 Vgl. Geertz, Hildred: „The meaning of family ties“, in: Geertz et al. 1979, S. 315-379, S. 377. 79 Das jährliche pro Kopf Bruttonationaleinkommen Marokkos liegt lediglich bei 3.040 Euro. Vgl. Statistisches Bundesamt, (o.J.). 80 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 211.

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gering oder nicht gebildet sind, mit Männern verheiratet werden, die im gleichen Alter sind wie ihre Väter.81 Für Frauen aus dem ländlichen Raum gibt es keine Transitionsphase zwischen Kind- und Erwachsensein, denn sie werden im minderjährigen Alter verheiratet und sodann zu (Ehe-)Frauen und recht bald auch zu Müttern. Eine Jugend haben sie also nicht, denn es handelt sich um einen direkten Übergang vom Mädchen zur Frau. Hier zeigt sich abermals, dass die Frauen in einem deutlich späteren Alter heiraten, wenn sie alphabetisiert sind bzw. eine Schulbildung erhalten haben. Bei einer Untersuchung zu Heirat und weiblicher Partizipation am Arbeitsplatz aus den 1990er Jahren wurde festgestellt, dass insbesondere Familien mit vielen Töchtern am meisten daran interessiert waren, sie so schnell wie möglich zu vermählen.82 Die Verheiratung mit einem deutlich älteren Mann ist als eine Diskriminierung der Frau bzw. des Mädchens zu verstehen. Dieser Altersunterschied ist ein Ausdruck der Differenz: nicht nur im Status und der Lebenserfahrung, sondern auch in den Wünschen und Erwartungen der Eheleute, was sich über das Machtverhältnis in der Beziehung ausdrückt.83 Die Heirat bildet laut dem französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss den „Archetyp des Tauschs“84 der auf dem Prinzip der Reziprozität zwischen sozialen Gruppen basiert.85 Indem Familien mit anderen Familien durch Eheschließungen in Austausch treten, sichern sie „das Band der Allianz […] und die Vorherrschaft des Sozialen über das Biologische und des Kulturellen über das Natürliche.“86 Die Allianzbildung, welche auf dem Prinzip der Exogamie und dem Inzestverbot basiert, stellt den Ursprung der Kultur dar: „Der Tausch – und infolgedessen die Exogamieregel, die ihnen zum Ausdruck bringt – hat einen sozialen Wert in sich selbst: er liefert das Mittel, die Menschen miteinander zu verbin-

81 Vgl. CERED: „Genre et développement. Aspects socio-démographique et cultures de la différenciation sexuelle, Mohammedia 21998, S. 157. 82 Vgl. Assaad, Ragui/ Zouari, Sami: „The timing of marriage, fertility, and female labour force participation in Morocco“, (Januar) 2003, S. 16. Die Studie wurde zwar schon 1990 durchgeführt, die Ergebnisse wurden jedoch erst im Jahr 2003 veröffentlicht. 83 Vgl. CERED 21998, S. 159. 84 Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt am Main 1981, S. 645. 85 Vgl. ebd. S. 194. 86 Ebd., S. 640.

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den und die natürlichen Bande der Verwandtschaft durch die nunmehr künstlichen – da dem Zufall der Begegnungen oder der Promiskuität des Familienlebens entzogenen – Bande der von der Regel beherrschten Allianz zu überlagern.“87

Durch die exogame Heirat entstehe ein „sozialer Gewinn“88 für beide Gruppen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang vom „Allianzdispositiv“, welches erlaube, „das Spiel der Beziehungen zu reproduzieren und ihr Gesetz aufrechtzuerhalten“.89 In der vorkolonialen Zeit und darüber hinaus wurde der Stamm durch Heiratsallianzen nicht nur vergrößert oder diente der strategischen Beilegung von Stammesfehden,90 sondern es wurde dadurch auch dessen Machteinfluss erweitert. Die patrilineare Gesellschaftsordnung war einzig darauf ausgerichtet, die Linie des Vaters fortzusetzen und zu erweitern, wie beispielsweise durch die Weitergabe des väterlichen Familiennamens. Doch die Ehe und mit ihr die Familiengründung dient nicht nur dem Wachstum des eigenen Verwandtschaftskreises, sozialen Einflusses und der Stärkung des WirGefühls. Nach Bourdieu spiele die Familie eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung per se, nämlich durch soziale und biologische Reproduktion, beispielsweise durch die Reproduktion des sozialen Raums und sozialer Beziehungen.91 Die Namensweitergabe vom Vater an die Kinder sei ein weiteres Beispiel für die Reproduktionsstrategie, welche, Bourdieu zufolge, zu einem Grundelement des vererbbaren symbolischen Kapitals gehöre.92 Dies erklärt, weshalb eine besonders kinderreiche Familie als Ideal galt und auch weshalb sich Männer in patriarchalen Gesellschaften mehrere (Ehe-)Frauen nahmen, die ihnen möglichst viele Kinder schenkten.93 Darüber hinaus erhält eine kinderreiche Familie nicht nur zusätzliche potentielle Arbeitskraft, sondern auch ein größeres gesell-

87 Ebd., S. 641. 88 Ebd., S. 642. 89 Foucault 2014, S. 105. 90 „In a country like Morocco family connections are of great importance, not only for a person’s social position but even for his safety“, heißt es bei Westermarck 1914, S. 19. 91 Vgl. Bourdieu 1996, S. 23. 92 Vgl. ebd. 93 Unfruchtbarkeit kann als Grund für eine Scheidung bzw. das Verstoßen der Frau herangezogen werden oder den Männern als Legitimation dienen, sich eine Zweitfrau zu nehmen.

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schaftliches Ansehen und eine Erweiterung der familiären Macht in ihrer sozialen Umgebung.94 Hinter der Heirat und der Familiengründung verbirgt sich also auch das Motiv des Bestrebens nach sozialer Expansion. Am deutlichsten wird dies bei dem Brauch der Heirat mit der patrilateralen Parallelcousine (bint ʿamm). Bei dieser Heiratsform wird die Tochter des Vaterbruders mit ihrem Cousin vermählt. Der Vorteil dieser Form der endogamen Ehe liegt darin, dass die Frau in ihrem eigenen Verwandtschaftskreis bleibt, durch ihre Nachkommen die eigene Großfamilie erweitert und dadurch die eigene Abstammungslinie fortsetzt. Ein weiterer Vorteil ist wirtschaftlicher Natur: Der Brautpreis sowie das innerhalb der Ehe gemeinsam erwirtschaftete Geld bleibt in den Händen der eigenen Familie.95 Darüber hinaus kann in ländlichen Gebieten durch ein solches Vorgehen die Arbeitskraft der Frau bewahrt werden. Aus diesen Gründen gehöre die endogame Heirat zwischen patrilateralen Parallelcousins und -cousinen zur bevorzugten Form der Heirat in der arabischen Welt.96 Die Nachteile dieser Heiratsform sind jedoch die Verwischung der Abstammungslinie und das Ausbleiben der Möglichkeit, Frauen von anderen Gruppen, und damit die Chance auf Allianzbildung zwischen verschiedenen Familien, zu erhalten.97 Die patrilaterale Parallelcousinenheirat stellt unter den Gesichtspunkten der Verwandtschaftsethnologie eigentlich einen „legitimate quasi incest“98 dar. Barakat führt an, dass in der Vergangenheit zu großes Gewicht auf die bint ʿamm-Ehe als bevorzugte arabische Eheform gelegt wurde, obwohl sie bereits in den 1990er Jahren lediglich zwischen 3% und 20% aller offiziellen Eheschließungen in der arabischen Welt ausmachte. Er verweist allerdings auch darauf, dass dieser Prozentsatz in besonders traditionellen Gegenden und isolierten Gemeinden wesentlich höher liegt.99 Eheschließungen haben aber nicht nur eine soziale, sondern auch eine hohe ökonomische Bedeutung.100 Das Ehepaar bildet nicht nur eine soziale, sondern auch eine Wirtschaftseinheit. Fast alle ehelichen Vereinigungen dienten dazu, den Reich-

94

Vgl. Barakat 1993, S. 100.

95

Vgl. ebd., S. 109.

96

Vgl. Joseph 2002, S. 14.

97

Vgl. Bourdieu, Pierre: The logic of practice, Stanford 1990, S. 162.

98

Ebd.

99

Vgl. Barakat 1993, S. 109.

100 Vgl. van Gennep 1909, S. 117.

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tum der Familie zu vergrößern und Allianzen zu bilden.101 Diese Allianzen waren und sind zum großen Teil auch heute noch von ökonomischen Interessen bestimmt, weshalb bei der Partnerwahl ein gleicher oder möglichst höherer sozialer Rang bevorzugt wird.102 Die Heirat müsse man daher als eine soziale Strategie in einem System von Strategien betrachten, so Bourdieu weiter, die an der Maximierung von materiellem und symbolischem Profit orientiert sei.103 Deshalb lag die Wahl des Heiratspartners oder der Heiratspartnerin in der Regel in den Händen der Eltern, insb. der Mütter, denn obwohl der Vater derjenige sei, der den Brautpreis mit dem Bräutigam aushandelte, sei es die Mutter, die genau wisse, wer aus der Nachbarschaft oder dem Verwandtenkreis, am besten geeignet sei, die Ehefrau ihres Sohnes zu werden.104 Der deutsche Ethnologe Karl-Heinz Kohl formuliert treffend: „Da die Verheiratung von Mitgliedern einer Gruppe mit denen einer anderen Gruppe ein vorzügliches Mittel abgibt, ein über die reine Abstammungsgruppe hinausragendes Netzwerk von sozialen Beziehungen zu errichten, ist die Heirat nur in sehr wenigen Gesellschaften die Privatangelegenheit von zwei Personen verschiedenen Geschlechts.“105

Die US-amerikanische Anthropologin Hildred Geertz merkt in dem Essayband Meaning and Order in Moroccan Society an, dass das Arrangieren der Hochzeiten eine besonders sensible Angelegenheit war, weil sie zu potentiellem Unbehagen oder auch zu Konflikten zwischen den beiden Heiratsparteien führen konnte, da „many delicate and highly valued social bonds are being tested, reinforced, or fabricated with each new contact.“106 Es wird deutlich, dass eine starke Verbindung zwischen der Familie und der Politik sowie der Religion besteht und dass die Ehe keineswegs eine Privatangelegenheit, sondern eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses ist, wie die staatlichen Bemühungen um das Thema Heirat verdeutlicht haben. Sie dient der Kontrolle, der

101 Vgl. Chabach 2010, S. 15; vgl. Bourdieu 1990, S. 148. 102 Vgl. ebd., S. 148. 103 Vgl. ebd., S. 16. 104 Mernissi beschreibt auch, dass es die Frauen seien, die im Hammam nach potentiellen Heiratskandidatinnen Ausschau hielten und dass auch sie es seien, die den Ruf eines heiratsfähigen Mädchens beschädigen könnten, wenn sie beispielweise behaupteten, die Braut habe eine Missbildung oder eine Krankheit. Vgl. Mernissi 1991, S. 135f. 105 Kohl, Karl-Heinz: Die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München 2000, S. 43. 106 Geertz, Hildred 1979, S. 376.

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Allianzbildung, der Machterweiterung und der sozialen Expansion. Mit anderen Worten: Die Familie bildet den verlängerten Arm des Staates hinsichtlich der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Auf der anderen Seite kann sie dem Einzelnen aber auch Schutz bieten vor einem Staat, der häufig als autoritär und repressiv empfunden wird.107

3.4 DIE SOZIALE BEDEUTUNG DER EHE Die Hochzeit bildet den Moment, auf den Frauen seit der Kindheit vorbereitet werden. Die Erziehung des Mädchens besteht in erster Linie darin, es auf die Rolle der Ehefrau und Mutter vorzubereiten, sodass in den Vorstellungen der Mädchen die Idee, eine Familie zu gründen omnipräsent ist.108 Die jungen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, berichteten mir, dass sie seit ihrer Kindheit regelrecht auf die Ehe ‚programmiert‘ würden. Die Ehe bildet für die Frau den wichtigsten Übergang von einer sozialen Kategorie zur anderen.109 „Eine verheiratete Frau genießt einen ganz anderen Status als eine unverheiratete, denn mit der Ehe ist der notwendige Einfluss verbunden, der sie zu einem vollständigen Mitglied der Gesellschaft macht, einem Individuum mit allen bürgerlichen Rechten.“110

Erst der Bund der Ehe erhebt eine Frau zu einer erwachsenen Person. Allerdings verhält es sich eher so, dass eine Frau weiterhin unmündig bleibt und die Vormundschaft des Vaters von der des Ehemannes lediglich abgelöst wird. Eine Frau wird somit weniger als ein (selbstbestimmtes) Subjekt, denn als Objekt gesehen. Bouhdiba beschreibt, dass Frauen in einer Doppelrolle als Objekte betrachtet werden: als Objekte der Vergnügung und als Produzentinnen von Nachkommen. Und er hält fest: „In either case we are dealing with women-as-objects.“111 Da die Struktur arabischer Gesellschaften patrilokal angeordnet ist, geht dieser Übergang für die Ehefrau mit dem Umzug zu der Familie des Ehemannes einher. Die Ehe ist für die Frau somit auch mit dem Verlassen ihres Geburtsortes und dem 107 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 13. 108 Vgl. CERED 21998, S. 105; vgl. Dialmy 2004, S. 101. 109 Vgl. van Gennep 1909, S. 115. 110 Chebel 1997, S. 307. 111 Bouhdiba 2001, S. 214.

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Verlust sozialer Kontakte verbunden, was einem Trennungsritus gleichkommt. Die Tochter gehört ab dem Zeitpunkt der Hochzeit einer anderen sozialen Gruppe an. In dieser neuen Umgebung hat sie keine unveräußerlichen Rechte.112 Um diesem Verlust eines Gruppenmitglieds vorzubeugen, gilt in vielen arabischen oder muslimisch geprägten Gesellschaften der Vorzug der patrilateralen Parallelcousinen-Heirat, worauf im vorigen Kapitel bereits eingegangen wurde. In allen anderen Fällen wird die Tochter von der eigenen Familie der Familie des Bräutigams übergeben. Sie verlässt ihre Familie, ihren Wohnort und untersteht fortan der Verantwortung ihres Ehemannes und dessen Familie. Deshalb mahnte Prophet Mohammed: „Ehe ist Knechtschaft, es achte darum ein jeder darauf, wohin er seine Tochter gibt.“113 Die Frau, die in eine andere soziale Gruppe einheiratet, muss sich von nun an nicht nur an ihren neuen Status, an ihr neues Leben gewöhnen, sondern ist auch auf die Gunst und Unterweisung ihrer Schwiegermutter angewiesen. Nicht selten stellte dieses hierarchische Ungleichgewicht zwischen Schwiegermutter und -tochter eine große Belastung für das Leben der Frischvermählten und für das Eheleben an sich dar. In der arabischen Literatur wird der Topos der Eifersucht und Willkür der Schwiegermutter, die der Frau ihres Sohnes, salopp gesagt, „das Leben zur Hölle macht“, häufig aufgegriffen. Es ist eine Machtdemonstration von Seiten der Älteren gegenüber der Jüngeren. Die Mutter des Ehemannes zeigt seiner Ehefrau unmissverständlich auf, welchen Stellenwert sie in der Familienhierarchie einnimmt.114 Während die Schwiegermutter durch ihren verheirateten Sohn, der ihr bald Enkelkinder bescheren wird, bereits den höchsten ihr zugestandenen Status erworben hat, der nur noch durch weitere Schwiegertöchter und Enkelkinder gesteigert werden kann, muss sich die Schwiegertochter diesen Status durch die Geburt eines eigenen Sohnes erst noch verdienen. „The most reliable way for a woman to secure a place of honor in this world is by giving birth to a man’s male heirs.“115 Mit der Mutterschaft erfüllt die Frau die einzige, ihr zugewiesene institutionalisierte soziale Rolle.116 Erst als Mutter eines Jungen gewinnt die junge Frau an Prestige und Respekt, welcher sich mit der Anzahl an Söhnen steigert.117 Wenn diese später heiraten und

112 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 213. 113 Al-Ghazali 2000, S. 103. 114 Vgl. Mernissi 1991, S. 136. 115 Combs-Schilling 1989, S. 211. 116 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 217. 117 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 211

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sie selbst die Position der Schwiegermutter innehat, hat sie ihren höchsten Status erreicht, den sie wiederum gegenüber ihrer Schwiegertochter demonstriert. „A young new bride needs the assurance of her husband’s family, especially his mother, and she gets it with the first son. Later in life, a boy will bring his wife and his children, and ideally they will all be by her side. She will be respected and supported in her old age.“118

Die Schwiegermutter hat einen großen Einfluss auf das Eheleben der Schwiegertochter und des Sohnes, da die Mutter im Leben ihres Sohnes ein Leben lang eine große Rolle spielt. Häufig, so Bouhdiba, sei das Band zwischen Mutter und Sohn stärker als das zwischen Ehemann und Ehefrau. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Mutterkult“, der essentiell für das Verständnis der Grundstruktur der arabo-muslimischen Persönlichkeit sei.119 Die Ehrbezeugung gegenüber der Mutter bzw. den Eltern wird im Koran an zwei Stellen als Gebot aufgestellt120 und folgender Hadith, der bereits im zweiten Kapitel zitiert worden ist, verdeutlicht die herausragende Stellung der Mutter in der muslimischen Weltanschauung: „Abu Hurair berichtet: Ein Mann kam zum Gesandten Gottes (S) und fragte ihn: ‚O Gesandter Gottes, wer von den Menschen hat das größte Recht auf meine Liebenswürdigkeit und mein Wohlwollen?‘ Der Prophet (S) erwiderte: ‚Deine Mutter.‘ ‚Und als nächstes?‘ ‚Deine Mutter.‘ ‚Und als nächstes?‘ ‚Deine Mutter.‘ ‚Und als nächstes?‘ ‚Dein Vater.‘“121

Darüber hinaus lautet ein, insbesondere von islamischen Feministinnen, viel zitierter Ausspruch Mohammeds, das Paradies läge zu Füßen der Mütter.122 Dieser Hadith wird häufig als Beweis dafür herangezogen, dass der Frau im Islam ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Der deutschen Islamwissenschaftlerin Irene Schneider zufolge impliziert dieser Ausspruch jedoch vielmehr, dass eine Frau nur

118 Naguib 2009, S. 106. 119 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 214. 120 Der Koran, Sure 17:23 und 31:14. 121 Al-Buhari 1991, S. 424f. 122 In der Buhari-Sammlung taucht dieser Hadith nicht auf. Jedoch ist er als Ausspruch „aljannat taḥta aqdāmal ummahāt“ (Übers. d. Verfasserin: Das Paradies ist unter den Füßen der Mütter) vielen Muslimen geläufig. Er taucht bei al-Khuli al-Bahī auf. Zit. n. Bouhdiba: Al-Khuli al-Bahī: Al-mar-ah bain al bait wal mujtama (Übers. d. Verfasserin: Die Frauen zwischen dem Haus und der Gesellschaft), Kairo o.J., S. 133.

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aufgrund ihrer „biologischen Funktion als Gebärerin“123 in das Paradies eingehen würde. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass eine Frau in ihrer Rolle als Mutter eine Aufwertung innerhalb der Gesellschaft erhält. Die österreichische Religionswissenschaftlerin Birgit Heller spricht in diesem Zusammenhang von einer „patriarchalen Mutterverehrung“124 im Islam. Auch die iranische Anthropologin MirHosseini schreibt, dass in den klassischen Fiqh-Texten die Frau weniger als ein soziales Wesen, sondern in erster Linie als ein sexuelles Wesen verstanden werde und ihre Rechte deshalb lediglich im Kontext der Familie diskutiert würden.125 Da die arabische Gesellschaft patrilokal strukturiert ist, lebte die Mutter im Haushalt des Sohnes und auch heutzutage ist es nichts Ungewöhnliches, wenn sie bei der Familie des Sohnes wohnt. Dies liegt primär daran, dass der Sohn, wie bereits erwähnt, im Falle einer Verwitwung oder Verstoßung die einzige finanzielle Sicherheit der Mutter darstellt. Mutterschaft bedeutet somit Schutz für die Frau. Angesichts der erbrechtlichen Benachteiligung von Frauen, stellen, sofern sie nicht erwerbstätig sind, Kinder und insbesondere die Söhne die einzige finanzielle Ressource und Stabilität dar. „If so many Muslim mothers are possessive, even to an abusive degree, the reason is not to be sought elsewhere than in a system that denies them their most elementary rights.“126 Viele Ehefrauen fühlen sich durch die Präsenz der Schwiegermutter stark eingeschränkt oder von ihr schikaniert. Häufig besteht ein negatives Verhältnis zwischen der Ehefrau und ihrer Schwiegermutter, weil sie die Beziehung der Eheleute bestimmen möchte und sich in Fragen der Erziehung sowie der Hausarbeit einmischt.127 Auch die meist enge Mutter-Sohn-Beziehung wird oftmals als Hindernis für eine gute Partnerschaft betrachtet. Die Intimität des Ehepaares erleidet dadurch weitgehende Einschränkungen. Mernissi bezeichnet das Dreieck-Verhältnis MutterSohn-Ehefrau als die Grundlage der traditionellen Familie.128 Die innige Beziehung zwischen der Mutter und dem Sohn endet nicht etwa damit, dass der Sohn sich von ihr emanzipiert, indem er seinen eigenen Haushalt gründet, sondern hält für ein Leben lang an. Bouhdiba geht sogar etwas weiter und spricht von einem ausgepräg-

123 Schneider 2011, S. 51. 124 Heller, Birgit: „Frauen in Männerreligionen“, in: Katapult-Magazin (25.08.2015). 125 Vgl. Mir-Hosseini 2003, S. 4. 126 Bouhdiba 2001, S. 215. 127 Vgl. Mernissi 1991, S. 150. 128 Vgl. ebd. S. 151.

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ten universalen Ödipus-Komplex, der arabischen Gesellschaften zugrunde liege.129 In der heutigen Zeit gewinnt Individualität an Bedeutung; der jungen Generation und den Paaren wird Privatsphäre zunehmend wichtiger. Besonders Frauen leiden unter der Einmischung der Schwiegermutter und ihrem Einfluss auf den Ehemann. Die Aussage einer Patientin, welche Amal Chabach in ihrem psychologischen Ratgeber anführt, verdeutlicht dies auf drastische Weise: „Es gibt kein einziges wichtiges Ereignis zwischen mir und meinem Ehemann, bei dem er nicht gleich zu seiner Mutter läuft und ihr davon erzählt. Er ist krankhaft mit seiner Mutter fusioniert, mit der er täglich stundenlang telefoniert. Wir haben keinerlei Intimität.“ 130

Während die Frau nach der Eheschließung Nachteile erfährt, leitet sie für den Mann einen neuen Lebensabschnitt ein, welcher seinen sozialen Status aufwertet. Die Heirat bedeutet für ihn nämlich über das Erreichen des Erwachsenenstatus hinaus, Selbstständigkeit und Männlichkeit per se. Ihm kommt im patriarchalen Gesellschaftssystem eine übergeordnete Rolle zu. Aufgrund des patrilokalen Verwandtschaftssystems, zieht seine Ehefrau zu ihm und wird zu einem Mitglied seiner Verwandtschaftsgruppe. Die Kinder des Ehepaares erhalten aufgrund der patrilinearen Abstammung den Namen des Vaters. Darüber hinaus erbt das Kind auch die nationale, ethnische, religiöse und soziale Zugehörigkeit des Vaters, wovon die Möglichkeiten und Chancen des Kindes abhängen.131 Die verwandtschaftliche Zugehörigkeit spielt, wie bereits erwähnt, auch außerhalb der Familie, in der Arbeitswelt und insbesondere in der Politik, eine wichtige Rolle. Man erhalte, basierend auf seiner Verwandtschaft, besondere Rechte und Zugang zu Ressourcen und Diensten, die anderen verwehrt blieben.132 Von diesem Nepotismus würden auch Frauen profitieren, die die Karriereleiter, sei es in Politik oder Wirtschaft, erklommen hätten.133

129 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 228. 130 Chabach 2010, S. 33. Übers. d. Verfasserin. 131 Vgl. Joseph 1996, S. 16. 132 Vgl. ebd., S. 17. 133 Vgl. Giacaman, Rita/ Jad, Islah/ Johnson, Penny: „For the public good? Gender and social citizenship in Palestine“, in: Middle East Reports, 26 (1) 1996, S. 11-17. Es ist in der Tat auch in Marokko so, dass diejenigen Frauen, die in der Wirtschaft, Politik oder auch der Zivilgesellschaft höhere Positionen innehaben, dies ihrer Verwandtschaftsgruppe, sei es ihrem Vater oder Ehemann, oder auch ihrem Familiennamen, zu verdanken haben.

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Der Mann kann mit dem Vollzug der Ehe nicht nur seine Verwandtschaftsgruppe erweitern, sondern muss sich fortan als Familienoberhaupt, als Kopf und Ernährer der Familie unter Beweis stellen. In der traditionellen arabischen Familie habe der Vater deshalb bedingungslose Autorität gegenüber seiner Ehefrau und seinen Kindern, weshalb er im arabischen Sprachgebrauch auch rabb al-usra („Herr der Familie“) genannt wird. Seine Autorität verdankte die Vaterfigur in der Vergangenheit vordergründig der traditionellen Arbeitsteilung, die dem Mann den öffentlichen und der Frau den privaten Raum zuwies.134 Seine superiore Stellung innerhalb der Familie bezog sich also weitestgehend auf seine Rolle als Alleinversorger (qawwam). Joseph nennt es das „ökonomische Patriarchat“, das den Männern ermöglichte, Zugang zu Ressourcen zu bekommen, die Frauen verwehrt blieben. Die patriarchale Verwandtschaft sei die primäre Quelle der ökonomischen Sicherheit, weil Männer finanziell verantwortlich für ihre Familie seien. Auch wenn die Frauen durch die eigene Erwerbstätigkeit für das Aufkommen der Familie zuständig waren, wurde ihr Beitrag als geringer im Vergleich zu dem des Mannes betrachtet, weshalb ihre Beisteuer früher nicht in nationalen Statistiken zur Arbeitstätigkeit aufgeführt wurde.135 Die Konzentration von Reichtum, als männlichem Besitz, biete ihnen wirtschaftliche Ressourcen, die die Autorität des Patriarchats untermauern würden.136 Wie schon im Laufe der vorliegenden Arbeit dargelegt, sind derlei Auffassungen aufgrund sozioökonomischer und struktureller Veränderungen in der marokkanischen Familie und Gesellschaft porös geworden. Die absolute Autorität des Vaters und die Rollenverteilung innerhalb der Familie befinden sich im Wandel.137 Dennoch basiert das Familienverhältnis weiterhin auf Hierarchien, nämlich in den Kategorien Alter und Geschlecht, und es ist weiterhin stark partriarchal geprägt.138 In diesem Kapitel wurde die Bedeutung der Ehe für die Gesellschaft und für das Leben des Einzelnen in der Vergangenheit und der Gegenwart herausgearbeitet.

134 Vgl. Barakat 1993, S. 100f. 135 Vgl. Joseph 1996, S. 15. 136 Vgl. ebd. 137 Wenn zuvor die Autorität des Vaters unbestritten war, änderte sich dies spätestens, nachdem ihm, z. B. aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Krankheit, die Funktion als Ernährer der Familie abhandenkam und die Ehefrau einer Arbeit nachgehen musste. Vgl. Höll 1979, S. 180. 138 Vgl. Barakat 1993, S. 102.

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Das nächste Kapitel behandelt die Partnerwahl sowie die Hochzeitszeremonie im heutigen Marokko.

3.5 DAS DIKTAT DER EHE IM WANDEL DER ZEIT Hochzeiten hatten früher, weil sie vordergründig der Allianzbildung dienten, den Charakter eines Vertragsabschlusses oder Kaufvertrags139 zwischen zwei Parteien: der Familie des Bräutigams und der Familie der Braut. Folgendes Zitat von Ziba Mir-Hosseini verdeutlicht diese Tauschabwicklung: „Patterned after the contract of sale (bayʿ), the essential components of nikāḥ are: the offer (ījāb) by the woman or her guardian (waliyy), the acceptance (qabūl) by the man, and the payment of dower (mahr), a sum of money or any valuable that the husband pays or undertakes to the bride before or after the consummation. A woman has the right to refuse sexual access until she receives her mahr in full.“140

Besonders der letzte Satz des Zitats deutet auf den Tauschcharakter des sogenannten Brautpreises (mahr) und der sexuellen Verfügbarkeit der Braut hin. Sie kann sich dem Sexualverkehr solange enthalten, bis ihr nicht der volle Brautpreis ausgezahlt worden ist. Die Morgengabe ist nicht zu verwechseln mit der Mitgift, die der Braut von Seiten ihrer Familie in Form von Geld, Schmuck, Möbeln oder anderen Gegenständen zur Hochzeit überreicht wird. Die Morgengabe (Brautgabe) hingegen ist Teil dessen, was der Mann seiner Ehefrau in Form von Gütern oder Geld überreicht.141 Sowohl die Mitgift als auch die Brautgabe sind de jure ausschließliches Eigentum der Frau. Vielerorts, und auch in Marokko, gehört es jedoch zur gängigen Praxis, dass der Vater bzw. der Vormund der Frau die Morgengabe einbehält. Sie wird als eine Art Kompensationszahlung für die Erziehung und den Unterhalt der Tochter betrachtet.142 Die Tatsache, dass eine Hochzeit im Vorfeld mit einem ökonomischen Transfer verbunden ist, manifestiert den Eindruck, dass es sich primär um einen Tausch von Gütern handelt. Die Braut wird als eine Art ‚Tauschware‘ für eine bestimmte Sum139 Vgl. Mir-Hosseini 2003, S. 4. 140 Ebd., S. 5. 141 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 77. 142 Vgl. ebd., S. 81.

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me (Brautpreis) der Familie des Bräutigams übergeben. Dennoch besteht Uneinigkeit darüber, ob die Funktion des Brautpreises ursprünglich darin lag, die Frau im Falle einer Scheidung finanziell abzusichern oder es vielmehr der Macht- und Dominanzdemonstration des Mannes über die Frau dienen sollte.143 Dass das Feilschen um die Höhe des Brautpreises zwischen den Vätern der zukünftigen Eheleute in der Vergangenheit fester Bestandteil der vorehelichen Absprachen war und die an sich für die Braut vorgesehene Brautgabe häufig nicht ihr, sondern ihrem Vormund übergeben wurde, bekräftigt den Eindruck des Tauschcharakters.144 Dies wird darüber hinaus auch daran ersichtlich, dass sich die Höhe des Brautpreises nach der Güte bestimmter Kriterien, nämlich nach dem Alter und den physischen sowie moralischen Eigenschaften der Braut (ihrer Schönheit und Reinheit) richtet.145 Auch Barakat vertritt die Meinung, dass diese kulturelle Praxis sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart häufig zweckentfremdet wurde.146 MirHosseini führt weiter an, dass die klassischen Juristen sich des Missverständnisses bewusst waren und deshalb betonten, dass der Akt der Ehe zwar der Form nach den Charakter eines Tauschhandels habe, jedoch nicht dem Wesen nach. Es wird darauf verwiesen, dass der Ehemann zwar Zugang zur Sexualität und der Fortpflanzungsfähigkeit der Ehefrau erhalte, aber nicht das Recht auf ihre Person.147 3.5.1 Die Hochzeitszeremonie Hochzeiten sind mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden, den in der Regel die Familie des Bräutigams zu tragen hat. Van Gennep schildert, dass „eine Eheschließung immer eine mehr oder weniger große ökonomische Bedeutung hat und daß [sic!] Handlungen ökonomischer Art (wie die Festlegung, Zahlung, Rückerstattung eines Betrags für Braut oder Bräutigam, der Brautpreis […]) von den eigentlichen Riten nicht zu trennen sind. Die [beteiligten] Gruppen sind mehr oder weniger stark an den ökonomischen Verhandlungen und Abmachungen interessiert. Wenn schon die Familie […] eines seiner pro-

143 Vgl. Barakat 1993, S. 110. 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. ebd., S. 111. 146 Vgl. ebd., S. 110. 147 Vgl. Mir-Hosseini 2003, S. 6.

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duktivsten Mitglieder, sei es ein Mädchen oder ein Junge, verlieren muß, erwartet man wenigstens eine Kompensation!“148

In Marokko sind Hochzeiten mit bis zu 500 geladenen Gästen keine Seltenheit, weil sie einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft haben und zu diesem Anlass nicht nur die Großfamilie, sondern auch entfernte Bekannte und Nachbarn eingeladen werden. Das verdeutlicht, dass es sich in erster Linie um ein Fest für die Gemeinschaft bzw. die Familie handelt. Im Durchschnitt sind bei einer marokkanischen Hochzeit 250 Gäste zugegen und die durchschnittlichen Kosten liegen zwischen 70.000 und einer Million Dirhams (ca. 7.000 und 100.000 Euro).149 Dieser hohe Preis setzt sich u. a. zusammen aus den Kosten für einen angemieteten Hochzeitssaal, einen Zulieferer für Essen und Getränke, eine Musikband, einen Fotografen und eine Neggafa. Sie ist nicht nur für die Brautkleider – eine Braut wechselt auf der Hochzeit bis zu sechs verschiedene Kleider –, sondern auch für den Schmuck und das Styling der Braut zuständig. Eine Neggafa umsorgt die Braut rund um die Uhr, sie achtet darauf, dass die Braut für die Fotos zurechtgemacht wird, richtet das Brautkleid zurecht, hilft ihr beim Umziehen usw. Sie ist die Assistentin der Braut oder sozusagen ‚Mädchen für alles‘ bei der Zeremonie. Nicht zu vernachlässigen ist ebenso der Umfang der Brautgabe, welche in der Mittel- und Oberschicht exorbitante Höhen erreichen kann.150 Die ausschweifenden Kosten für die Hochzeitsfeier und für den Brautpreis können einige Monatsgehälter, wenn nicht sogar Jahresgehälter des Bräutigams bzw. seiner Familie betragen. Dieses soziale Phänomen wurde bereits 1882 von einer Gruppe Intellektueller und Exegeten als Problem erkannt, weshalb sie dem Gouverneur von Fès eine Petition vorlegten, in der sie diese ostentativen Ausgaben anprangerten. Daraufhin wurde ein dahir (Dekret) herausgegeben, das die Überschreitung einer bestimmten moderaten Summe verbot. 1946 wurde von Sultan Mohammed V. ein weiteres dahir erlassen, das diese soziale Praxis begrenzen sollte. Allerdings änderten beide Dekrete nichts an dieser Praxis, die insbesondere die sozial schwachen Gesellschaftsschichten vor enorme Herausforderungen stellt. Naâmane-Guessous stellt

148 van Gennep 1909, S. 117. 149 Vgl. Benchanna, Ibtissam: „Combien coûte une cérémonie de mariage aujourd’hui au Maroc“, in: La vie éco (3.04.2012); vgl. Tchounaud, Ristel: „Concubinage au Maroc. L’aumour triomphe de la loi et la religion“, in: Yabiladi (21.09.2012). 150 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 86.

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fest, dass in den 1980er Jahren acht von zehn Hochzeiten durch unverhältnismäßige finanzielle Ausgaben charakterisiert waren.151 In Zeiten ökonomischer Unsicherheiten und Krisen ist es für einen Großteil der Bevölkerung nur unter enormem finanziellen Aufwand möglich, sich solche Zeremonien zu leisten, meist durch Inanspruchnahme von Krediten. Eine kleine Feier im engen Familienkreis stellt keine Alternative dar, denn in muslimischen Gesellschaften gehört es zur Tradition, Hochzeiten groß zu feiern. Die Begründung für diese Pflicht ist die Empfehlung des Propheten, zu Hochzeiten ein Festessen zu geben.152 Nach Bouhdiba war der Sinn dahinter, die Hochzeit und die mit ihr einhergehende sexuelle Beziehung des Paares mit einem Maximum an Aufmerksamkeit öffentlich zu verkünden.153 Durch die Ankündigung bzw. die Verbreitung der Informationen zur Hochzeit mittels einer großen Feier wird öffentlich bekannt, dass es sich bei der Paarbeziehung nicht etwa um zina, sondern um eine legitime Sexualbeziehung handelt. Die Veranstaltung großer Hochzeitsfeste ist demnach obligatorisch, obwohl man heutzutage die Eheschließung mit dem Eheschließungsdokument nachweisen kann. Es handelt sich sowohl bei der Hochzeitszeremonie als auch bei dem Brautpreis um altertümliche und kostenintensive Bräuche, die für das Individuum verpflichtend sind, da sie von der religiösen Praxis und der Tradition oktroyiert werden, jedoch in völligem Widerspruch zur ökonomischen Situation einer Vielzahl der Jugendlichen und ihrer Familien stehen. Aus diesem Grund geht die Zahl der Eheschließungen nicht nur in Marokko, sondern in der gesamten arabischen Welt kontinuierlich zurück.154 Selbst wenn einige junge Männer und Frauen sich gegen diese Tradition wehren, stoßen sie auf den Widerstand ihrer Familie, insbesondere von Seiten der Braut.155 Hier handelt es sich in erster Linie um einen Konflikt zwischen Tradition und Moderne sowie um einen Wertekonflikt zwischen den Generationen. Immer wenn ich Studierende nach ihren Einstellungen zur Hochzeit fragte, hörte ich als erste Antwort stets den Satz „C’est très coûteux!“ („Das ist sehr kostspielig!“). Das verdeutlicht, dass die hohen Kosten als das primäre Hindernis für die

151 Vgl. ebd., S. 86f. 152 Vgl. Al Buhari 1991, S. 348. 153 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 15. 154 Vgl. Da Costa, Sabel: „Pas seulement une histoire d’amour“, in: Illi (17) 2013a, S. 6267, S. 65. 155 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 81.

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Eheschließung wahrgenommen werden. Je prekärer die finanzielle Lage des Mannes (und seiner Familie), desto später wird seine Hochzeit stattfinden. In einer Umfrage aus dem Jahr 2004 konnten drei Hauptgründe für die Verschiebung des Heiratsalters festgestellt werden: 51,2% der Jugendlichen, die an der Umfrage teilnahmen, waren arbeitslos und für sie stellte der finanzielle Aspekt das größte Hindernis dar. 18% von ihnen gaben explizit die Kosten für die Hochzeitsfeier und 5% die hohen Kosten für den Brautpreis an. Beinahe ein Drittel (31,96%) der insgesamt 1.212 befragten Personen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren führte jedoch auch persönliche Gründe an, wie etwa die Angst vor der Verantwortung oder vor dem Verlust individueller Freiheiten.156 Nichtsdestotrotz haben die hohen Kosten für die Hochzeit einige soziale Transformationen eingeleitet: Während eine Hochzeitsfeier sich in den 1950er Jahren noch bis zu drei Wochen erstrecken konnte und jeder Tag, unter einer strikten Geschlechtertrennung, auf unterschiedlicher Art und Weise und höchst symbolisch, zelebriert wurde, dauerten Feierlichkeiten in den 1970er Jahren lediglich drei Tage. Ab 1980 wurde die Mischung der Geschlechter zunehmend akzeptiert und die Hochzeit wurde häufig nur noch an einem Tag bzw. in wenigen Stunden gefeiert.157 Die hohen Hochzeitkosten, die Zahl der Gäste und das zurückhaltende Verhalten des Brautpaares deuten darauf hin, dass es sich nicht um eine private Zeremonie, sondern um eine Zurschaustellung für die Öffentlichkeit handelt, bei der weniger das Individuum – in diesem Fall das Brautpaar, dessen großer Tag es ist – sondern das Kollektiv, also die Familie, im Zentrum steht. Auch Barakat schlussfolgert: „Traditionally, marriage has been seen as a family and communal or societal affair more than an individual one.“158 3.5.2 Die Wahl der Heiratspartner Es wird deutlich, dass Hochzeiten dazu dienten, einen legitimen Rahmen für die Sexualität zu schaffen, Allianzen zu bilden und die wirtschaftliche Lage der Familie, meist der der Braut, zu verbessern. Auch heutzutage heiraten viele Frauen oft nur,

156 Vgl. El Ghazi, Fadwa: „Pourquoi les jeunes ne veulent pas se marier“, in: L’Economiste (25.11.2004). 157 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 87. 158 Barakat 1993, S. 107.

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um ihre Eltern nicht zu enttäuschen, die ihnen meist schon einen Ehemann ausgesucht haben, dessen Einkommen nicht unwichtig ist.159 Auch die Zwangsheirat oder arrangierte Heirat, bei denen die Eltern meist schon im Kindesalter der Kinder bestimmen, wer ihr Heiratspartner werden soll, ist ein offensichtliches Merkmal dafür, dass die Ehe vordergründig im Interesse der Gemeinschaft und nicht des Individuums steht. Die arrangierte Ehe ist in Marokko nach wie vor verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten.160 Dabei wird das Einverständnis der Ehe nicht von der Braut, sondern von ihrem Vormund gegeben. In den größeren Städten beginnt sich diese kulturelle Praxis jedoch allmählich zu ändern. Übereinkünfte der Familien bzgl. der zukünftigen Partner ihrer Kinder sind durch die Auflösung der Geschlechtertrennung, die im vorigen Kapitel thematisiert wurde, im Begriff obsolet zu werden. Die Wahl der Ehepartner obliegt immer seltener den Eltern und ist mittlerweile der individuellen Entscheidung der Jugendlichen überlassen.161 Die Jugendlichen, insbesondere die männlichen, suchen sich ihre Partner zunehmend nach ihrem eigenen Geschmack aus.162 Allerdings verwiesen alle Studierenden darauf, dass es ihnen wichtig sei, dass ihre Zukünftigen von ihren Eltern akzeptiert werden. Besonders den jungen Frauen war es wichtig, dass ihr Zukünftiger den Erwartungen ihrer Familie entspricht, mit der Begründung, dass sich damit spätere familiäre Probleme vermeiden ließen. Häufig fügte man noch hinzu, dass wenn man den Segen der Eltern erhalte, man auch den Segen Gottes habe. Immer mehr Ehen werden aus Gründen der Liebe geschlossen, wobei der finanzielle Aspekt bei den jungen Frauen weiterhin eine große Rolle zu spielen scheint, denn geheiratet wird häufig innerhalb derselben sozialen Schicht.163 Das traditionelle Konzept des Mannes als „Versorger“ scheint also weiterhin in den Vorstellungen beider Geschlechter vorzuherrschen. Deshalb spielen das Vermögen und die soziale Stellung des zukünftigen Ehemannes eine wichtige Rolle bei der Partnerwahl. Der ökonomische Aspekt ist häufig von größerer Bedeutung als der emotionale. Dies übt einen enormen Druck auf junge Männer aus, der sich auch in den Antworten der

159 Vgl. Chabach 2010, S. 20. 160 Vgl. Charrad 2001b, S. 65; vgl. Mernissi 1991, S. 31 161 Vgl. El Harras 2007, S. 145. 162 Vgl. Carey, Matthew: „Entre rencontres et rendez-vous. Stratégies marocaines de sexualité hors mariage“, in: Sexe et sexualités au Maghreb. Essais d’ethnographies contemporaines, (VI) 2010, S. 171-187, S. 178. 163 Vgl. Da Costa 2013a, S. 66.

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Studierenden in den Interviews zeigte. Viele von ihnen beschwerten sich darüber, dass die Marokkanerinnen oberflächlich seien, weil sie einzig an dem Kontostand ihres Partners interessiert seien. Darüber hinaus seien sie verwöhnt, weil sie von ihnen in regelmäßigen Abständen Geschenke erwarteten und es als selbstverständlich betrachteten, dass der Mann im Café oder Restaurant die Rechnung bezahle. Aus diesem Grund konnte ich bei etwa der Hälfte der jungen Männer eine Idealisierung der Europäerinnen feststellen, welche in ihren Augen emanzipiert seien und somit finanziell für sich selbst sorgten und darüber hinaus nicht solch hohe Erwartungen an den Mann hätten. Die Versorgerrolle übt zunehmend Druck auf die jungen Männer aus, weil Männlichkeit mit ökonomischer Macht assoziiert wird.164 Sie sehen ihre Männlichkeit – und damit die Grundlage ihrer Identität165 – bedroht, da das Konzept des Versorgers nämlich bedeutet, für die Familie als Alleinverdiener sorgen zu können. Dies kann jedoch aufgrund der schwierigen sozioökonomischen Situation in Marokko nicht mehr gewährleistet werden. Zur Lebensrealität der Männer gehört die Arbeits- und somit die Perspektivlosigkeit. Sie können nicht die Rolle des Alleinversorgers übernehmen und das führt zu emotionalen Krisen und Selbstzweifeln. Kommt der Mann nicht in Lohn und Brot, erhält er, mangels der Möglichkeit zu heiraten, keinen Eintritt in das Erwachsenenleben, keinen Anschluss an die Gesellschaft und damit keine Chance auf ein Leben als respektable Person. Er wird dem traditionellen Männerbild nicht gerecht. Da Geld traditionellerweise als männlicher Besitz angesehen wurde, führte es bei den Männern zu Unbehagen, wenn ihre Frauen berufstätig waren und genauso viel oder mehr verdienten als sie selbst.166 Meine Interviewergebnisse spiegeln dies jedoch nicht wider. Für meine männlichen Interviewpartner stellte es kein Problem dar, wenn ihre zukünftige Ehefrau arbeiten würde. Im Gegenteil, die Mehrheit von ihnen sah es als eine (finanzielle) Notwendigkeit an. Ein junger Mann musste bei dieser Frage sogar lachen und antwortete: „Es ist kein Problem für mich [lacht]. Es ist doch für uns als Ehepaar von Vorteil, wenn sie und ich gemeinsam wirtschaften. Man teilt sein Geld in der Ehe. Ich würde vielleicht nicht

164 Vgl. Dialmy 2004, S. 90; vgl. Mernissi 1991, S. 168. 165 Vgl. Da Costa 2013a, S. 65. 166 Vgl. Naâmane-Guessous, Soumaya: „Homo rajelus. Espèce en voie de disparition“, in: Illi (19) Juni 2013, S. 86.

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wollen, dass sie mehr arbeitet als ich, weil ich für sie sorgen will und möchte, dass sie Zeit hat, sich auszuruhen. Aber wenn sie mehr Geld verdient, hätte ich damit kein Problem.“167

Die Kriterien, nach denen eine Braut ausgewählt wird, sind vornehmlich ihr guter Ruf. Die Bezeichnung bint an-nas (wörtlich übersetzt: „Tochter der Menschen“) beschreibt das Ideal einer ehrbaren jungen Frau aus gutem Elternhause. Das Ideal der bint an-nas, der personifizierten Tugendhaftigkeit, ist bis in die heutige Zeit in den Vorstellungen vieler Männer vorhanden. Die marokkanische Psychologin Amal Chabach merkt an, dass der heiratswillige Mann in der Regel seine Mutter bitte, ihm eine Jungfrau zu suchen, am besten nach ihrem Vorbild, oder eine sekkouta (wörtlich übersetzt: „Schweigsame“), d.h. eine Frau, die ihm gehorche und keine Widerworte gebe.168 Über die Keuschheit und damit die Ehrbarkeit der Frau hinaus, ist auch ihr Äußeres und ihre Jugendlichkeit ein wichtiges Kriterium bei der Partnerwahl.169 Gebildete Männer, wie meine Interviewpartner, äußern jedoch zunehmend den Wunsch, sich eine Partnerin zu suchen, die den gleichen Bildungshintergrund wie sie hat. Natürlich ist ihnen auch das Äußere der Frau nicht unwichtig, aber eine gebildete und kultivierte Frau, mit einem guten Charakter und guter Moral war der gemeinsame Nenner der Antworten auf die Frage, wie sie sich ihre ideale Partnerin vorstellten. Dabei spielten bei vielen, insbesondere den weiblichen, Interviewpartnern der muslimische Glaube und das Teilen grundlegender moralischer Werte, wie Treue und Ehrlichkeit, eine wichtige Rolle.170 In einer soziologischen Studie von El Harras aus dem Jahr 2002 ist eine ähnliche Tendenz zu erkennen: 59% der 865 befragten Jugendlichen gaben an, einen gut gebildeten Partner haben zu wollen und 18,8% bevorzugten einen gläubigen Partner. Ebenso war die Jungfräulichkeit der Braut ein wichtiges Kriterium für die Wahl der Heiratspartnerin. Lediglich fünf jungen Männern war es egal, ob ihre Ehefrau Jungfrau ist oder nicht. Entscheidend war für sie vor allen Dingen das Gefühl zu ihr. Anhand dieser Antworten wird erkennbar, dass die gebildeten urbanen Jugendlichen sich zwischen modernen und traditionellen Konzepten bewegen und versuchen, beide in Einklang zu bringen. Gesamtgesellschaftlich verhält es sich anders: Bei einer Umfrage der Zeitschrift „Illi“ aus dem Jahr 2013 gaben nur 46% – also

167 Interview am 17.05.2013 in Rabat. 168 Vgl. Chabach 2010, S. 22. 169 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 211. 170 Es war allen von mir interviewten Studentinnen wichtig, dass ihr Partner gläubig ist und ihre Wertvorstellungen teilt.

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weniger als die Hälfe – der befragten Jugendlichen an, ihre Partner selbst frei wählen zu können und 50% gaben an, den Partner oder die Partnerin mäßig frei wählen zu können.171 3.5.3 Traditionelle Vorstellungen im Wandel Wie wir sehen können, unterliegt das Ideal der Ehe gesellschaftlichen und demographischen Veränderungen. Die Heirat ist heutzutage stärker denn je abhängig von der Konjunktur des Landes. Das führt dazu, dass traditionelle Vorstellungen rund um die Institution der Ehe von modernen herausgefordert und teilweise schon heute abgelöst werden. Die beiden folgenden Unterkapitel zeigen auf, inwiefern sich die traditionellen Konzepte im Wandel befinden. 3.5.3.1 Polygamie Mit Polygamie („Vielehe“), genauer Polygynie („Vielweiberei“), wird das Recht des Mannes, mehrere Frauen zu ehelichen bezeichnet. Im Koran hält Sure 4:3 fest, dass ein Mann nur dann bis zu vier Frauen heiraten darf, wenn er gewährleisen kann, dass keine der Frauen emotional und finanziell benachteiligt wird: „Und wenn ihr fürchtet, in Sachen der (eurer Obhut anvertrauten weiblichen) Waisen nicht recht zu tun, dann heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, (ein jeder) zwei, drei oder vier. Wenn ihr aber fürchtet, (so viele) nicht gerecht zu (be)handeln, dann (nur) eine, oder was ihr (an Sklavinnen) besitzt! So könnt ihr am ehesten vermeiden, unrecht zu tun.“172

In āya 129 derselben Sure wird der Gläubige noch einmal darauf hingewiesen, dass eine Gleichbehandlung mehrerer Frauen de facto unmöglich sei: „Und ihr werdet die Frauen (die ihr zu gleicher Zeit als Ehefrauen habt) nicht (wirklich) gerecht behandeln können, ihr mögt noch so sehr darauf aus sein. Aber vernachlässigt nicht (eine der Frauen) völlig, so daß [sic!] ihr sie gleichsam in der Schwebe laßt [sic!]! Und wenn ihr euch (auf einen Ausgleich) einigt und gottesfürchtig seid (ist es gut). Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben (oder: Aber wenn ihr euch bessert und gottesfürchtig seid, ist Gott barmherzig und bereit zu vergeben).“173

171 Vgl. Da Costa 2013a, S. 64. 172 Der Koran, Sure 4:3. 173 Ebd., Sure 4:129.

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Korankommentatoren und Islamwissenschaftler sind sich einig darüber, dass diese Bestimmung ein Fortschritt gegenüber der vorislamischen Zeit (ǧahilīya) sei, denn in dieser Zeit habe es keinerlei Begrenzungen gegeben. Der Islam habe aber nicht nur die Polygamie auf vier Frauen beschränkt, sondern auch die Polyandrie, d.h. eine Vielehe seitens der Frau mit mehreren Männern, verboten. In Kapitel 2.5 wurde bereits angeführt, dass in der vorislamischen Zeit verschiedene Ehetypen existierten und Frauen sich leicht von ihrem Mann oder ihren Männern scheiden lassen konnten. Diese Eheformen wurden mit dem Islam zugunsten der patriarchalen Ehe abgeschafft.174 In der heutigen Zeit ist die Polygamie zwar, bis auf Tunesien,175 in allen muslimisch geprägten Ländern weiterhin eine legale Form der Ehe, allerdings ist der Prozentsatz polygamer Ehen verschwindend klein.176 In Marokko wurde sie im Rahmen der Familienrechtsreform im Jahr 2004 soweit eingeschränkt, dass sie nahezu unmöglich geworden ist. Sie darf ausschließlich auf richterlichen Beschluss erfolgen und zwar nur dann, wenn der Ehemann mittels seines Gehaltsnachweises darlegen kann, dass er finanziell in der Lage ist, zwei Haushalte zu unterhalten. In Marokko existiert darüber hinaus ohnehin nur die Bigamie, d.h. die Ehe beschränkt sich – im Unterschied zur Polygamie, die bis zu vier Frauen erlaubt – auf lediglich zwei Frauen. Des Weiteren muss die Erstfrau über das Vorhaben ihres Ehemannes unterrichtet werden und ihr Einverständnis für die Vermählung mit einer weiteren Frau geben. Im Übrigen haben Frauen das Recht, im Ehevertrag festschreiben zu lassen, dass sie keine Zweitfrau dulden.177 Erhebungen aus dem Jahr 2007 bestätigen, dass aufgrund der weitreichenden Einschränkungen, die Polygamie in Marokko nur 0,29% der gesamten Eheschließungen ausmacht.178

174 Vgl. Barakat1993, S. 114; vgl. Henninger 1954, S. 314f; vgl. Mernissi 1991, S. 64, S. 73. 175 In Tunesien wurde die Polygamie 1956 abgeschafft. 176 Barakat verweist darauf, dass bereits in den 1970er Jahren die Polygamie in Städten wie Damaskus und Bagdad nicht mehr als 2% aller Eheschließungen ausmachte. Vgl. Barakat 1993, S. 112. 177 Anonymus: „Le texte du projet, article par article“, in: Femmes du Maroc. Edition spéciale (Oktober) 2003, S. 19-26. 178 Jadraoui, Siham: „Le mariage des mineurs a enregistré une hausse de 10%“, in: Le Maroc Aujourd’hui (13.10.2008).

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3.5.3.2 Bayra Die Sorgen unverheirateter Frauen betreffen nicht nur die Unversehrtheit ihres Hymens, sondern kreisen auch um den Ausschluss vom Heiratsmarkt. Diejenigen, die noch keinen Ehemann oder keine Heiratsabsichten bzw. -aussichten haben, haben große Angst davor, eine Bayra (‚alte Jungfer‘)179 zu werden. Dieser pejorative Begriff dient der Bezeichnung einer über dreißigjährigen unverheirateten Frau und ist sehr präsent im Leben junger Marokkanerinnen. Meine Interviewpartnerinnen thematisierten es häufig, mal ironisch, mal ernst, doch diese Vorstellung ist omnipräsent in ihrem Leben, insbesondere im fortgeschrittenen Alter. Ihre Heiratschancen schwinden, weil die meisten Männer eine Frau unter dreißig Jahren bevorzugen, womöglich auch deshalb, weil vermutet wird, dass bei ihr die Wahrscheinlichkeit vorehelicher Sexualkontakte geringer ist als bei älteren Frauen.180 Auch in Europa wurden ältere Frauen, wenn sie unverheiratet blieben, pejorativ als ‚alte Jungfer‘,181 im Englischen als old maid (‚alte Jungfrau‘) oder spinster182 (‚Spinnerin‘) und im Französischen als vieille fille (‚altes Mädchen‘) bezeichnet. All diese Begriffe, die häufig im Zusammenhang der Wörter „alt“ und „Mädchen“ – eigentlich ein Oxymoron – gebildet werden, sind spöttische und abwertende Bezeichnungen für eine in die Jahre gekommene, meist kinderlose Frau, die ihrer ‚eigentlichen Bestimmung‘, Mutter und Ehefrau zu werden, nicht nachgekommen ist. Auch in Deutschland existiert in verschiedenen Regionen eine Vielfalt von uncharmanten Bezeichnungen für Frauen, die ohne Ehemann und ohne Kinder leben. Bezeichnungen wie ‚altes Mädchen‘ oder ‚spätes Mädchen‘ sind noch harmlos im Vergleich zu ‚Alteisen‘, ‚Altwis‘ (bayerisch: ‚alte Wiese‘), ‚alte Tante‘, ‚alte

179 Der hocharabische Begriff für ‚alte Jungfer‘ lautet ‚ʿanis‘. Vgl. Chebel 1997, S. 42. 180 Vgl. Chabach 2010, S. 20. 181 Der Duden gibt zwei Worterklärungen für „Jungfer“ ab. Die erste Wortbedeutung ist veraltet und bedeutet „[junge] noch nicht verheiratete Frau“, die zweite ist eine abwertende Bezeichnung für eine „ältere prüde, zimperliche, unverheiratet gebliebene Frau“. 182 Auch das Wort ‚spinster‘ zeigt, wie sich im Wandel der Zeit ein neutraler Begriff zu einem pejorativen umkehren kann. Während es im 17. Jh. noch als einfache Bezeichnung für eine ledige Frau verwendet wurde, erhielt es im Laufe der Zeit eine herabwürdige Bedeutung, welches – ähnlich der deutschen Bedeutung der „alten Jungfer“ – das Stereotyp der „older woman who is unmarried, childless, prissy, and repressed“ bedient. Oxford Dictionaries: „Spinster“.

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Schachtel‘ und ‚alte Wachtel‘.183 Diffamierende Zuschreibungen solcher Art sind im Grunde nichts anderes als der (kollektive) sprachliche Ausdruck für die suspekte Andersartigkeit dieser Frauen, die ihre reproduktive Aufgabe versäumt oder willentlich nicht wahrgenommen haben. Als Ausdruck der Verachtung wurden sie kollektiv zu Spottfiguren oder Sonderlingen erklärt. Diese Diskriminierung sollte sicherlich auch als abschreckendes Beispiel für jüngere Frauen dienen. Wenn die Hauptaufgabe einer Frau darin besteht, Nachkommen zu generieren, wundert es nicht, warum auch heutzutage kinderlose Frauen kontinuierlich im Privat- wie im Berufsleben ihre Kinderlosigkeit rechtfertigen müssen. Dieser kleine Exkurs soll verdeutlichen, dass solche Zuschreibungen auch in westlichen Gesellschaften vor nicht langer Zeit verbreitet waren und es zum Teil heute noch sind. In der gängigen Vorstellung der Marokkaner lebt eine Bayra häufig bis zu ihrem Lebensende bei ihrer Familie und hat keine oder nur wenig Interaktionen mit der Außenwelt.184 Dies liegt daran, dass Frauen erst dann als solche aufgefasst werden, wenn sie verheiratet sind. Deswegen liegt ihnen viel daran, den Zustand der Unmündigkeit hinter sich zu lassen und ein Leben als Erwachsene zu führen. Aus diesem Grund heiraten Frauen aus Angst vor der sozialen Isolation, wenn die Vollendung des dreißigsten Lebensjahres näher rückt, lediglich um der Heirat willen, was häufig dazu führt, dass eine Ehe geschlossen wird, die nicht von langer Dauer ist. Ich habe mit fünf jungen Frauen, die im Alter von 25 bis 27 Jahren waren, eine Fokusgruppendiskussion zu diesem Thema geführt und von ihnen erfahren, wie stark traditionelle Vorstellungen von Ehe und Sexualmoral auf modernen und urbanen Frauen lasten.185 Drei Aspekte konnten dabei herausgearbeitet werden: Erstens, die beängstigende Vorstellung, mit dreißig Jahren nicht verheiratet zu sein; zweitens, die Bereitschaft, aufgrund dieser Betrachtungsweise, mit einem für sie gänzlich uninteressanten Mann eine Ehe einzugehen, nur um ihre Familie zufriedenzustellen und die kulturellen Normen ihrer Gesellschaft aufrechtzuerhalten; und drittens, die Ohnmacht, dagegen etwas unternehmen zu können.

183 Baumgarten, Katrin: Hagestolz und alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung und Fortleben von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene, Münster [u. a.] 1997, S. 9f. 184 Vgl. Anonymus: „Les femmes sont-elles vraiment si compliquées?“, in: Illi (19) Juni 2013, S. 65. 185 Fokusgruppendiskussion in Rabat, am 19.06.2013.

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Exemplarisch möchte ich auf ein Interview mit einer jungen Ingenieurin eingehen. Sie war zum Zeitpunkt des Interviews 27 Jahre alt und wohnte alleine. Sie ist der Arbeit wegen aus ihrem Elternhaus in Fès, einer Stadt im Nordosten Marokkos ca. 250 Kilometer von Rabat entfernt, nach Témara, einer Vorstadt von Rabat, gezogen und steht als Ingenieurin finanziell auf eigenen Beinen. Sie erfreut sich einer relativen Autonomie aufgrund der finanziellen und territorialen Unabhängigkeit von ihrer Familie. Im Interview, und in unseren Unterhaltungen darüber hinaus, bezeichnete sie sich selbst als eine offene moderne Frau, mit fortschrittlichen Ideen. Es folgt nun ein Ausschnitt des Interviews zur Thematik Bayra und der Angst, unverheiratet zu bleiben: H.: „Gut, ich bin zwar modern und liberal eingestellt, aber nach einem Jahr, wenn ich auf die Dreißig zugehe … wenn ich einen Mann finde … selbst wenn keinerlei physische Anziehung vorhanden ist… er mir persönlich überhaupt nicht gefällt, er aber gut arbeitet, kultiviert ist… dann stürze ich mich auf ihn [lacht], weil ich nicht alleine bleiben will.“ I.: „Du meinst, du möchtest nicht als Bayra enden?“ H.: „Oh, dieses Wort macht mir Angst… Dieses Wort macht mir wirklich [betont das Wort und zieht es in die Länge] Angst, weil ich habe nicht… Weißt du, das ist… das ist in unserem Blut, in unseren Genen [lacht]. Du kannst nicht, selbst wenn du solche Ideen hast [gemeint ist ihre moderne Einstellung] … selbst wenn ich solche extremen Ideen in meinem Kopf habe… – ich bin für die Laizität, ich bin für das alles, aber –… dann wäre ich in einem Widerspruch mit mir selbst, weil ich diesen Mann nicht will. Dieser Mann ist nicht der Mann, den ich mir vorgestellt habe. Wenn ich in Kanada wäre,186 würde ich mich nicht einmal mit ihm treffen. Verstehst du? Ich würde meine Sexualität [dort] frei leben können, solange ich dadurch niemandem Schlechtes zufüge. Ich würde dort nicht gleich [deswegen] als Prostituierte angesehen werden… Aber da ich nun mal hier bin, kann ich nicht… kann ich so nicht leben. Weil da gibt es meine Familie, meine Schwestern, da gibt es diesen Druck… und bei diesem Druck gibt man auf. Es gibt einfach zu viel Druck seitens der Gesellschaft, auf der Arbeit, bei den Freunden,… das ist zu viel… das ist zu viel für eine marokkanische Frau.“187

In diesem Interviewausschnitt kommen alle oben genannten Topoi zum Ausdruck. Besonders der soziale Druck und die Erwartungshaltung der eigenen Familie spielen in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Des Weiteren wird der Wunsch nach Emigration geäußert, da sie, wenn sie die Möglichkeit hätte, im Ausland zu

186 Ihr Traum ist es, irgendwann nach Kanada auszuwandern. 187 Interview vom 17.11.2013 in Témara.

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leben, mit hoher Wahrscheinlichkeit einen anderen Lebensentwurf verfolgen würde, der ihr gestatten würde, selbstbestimmt zu agieren und ihre Sexualität frei auszuleben. Der Wunsch, ins Ausland zu ziehen, ist groß unter einigen Jugendlichen, aber ebenso vage. Es fungiert als imaginierter Ort der Freiheit, in dem ein selbstbestimmtes Leben möglich scheint. Häufig wird ein ausländischer Partner oder eine Partnerin von den jungen Erwachsenen idealisiert, während man marokkanischen Peers eher negative Attribute zuschreibt. Die interviewten Studenten beschwerten sich z. B. über die Untreue und den Materialismus junger Frauen. „Sie nutzen einen nur aus“ oder „sie erwarten ständig Geschenke oder dass man für sie bezahlt“, war die weitverbreitete Meinung. Es ist richtig, dass den jungen Frauen der soziale Hintergrund des potentiellen Partners nicht unwichtig ist. Sie erwarten, dass dieser zumindest ein Auto hat, was mit mehr Komfort, aber auch mit Freiheit und Spontaneität assoziiert wird. Aus diesem Grund sind es vor allem diejenigen Männer, die aus ärmeren Verhältnissen stammen, die sich darüber beschweren. Ohne gewisse Statussymbole ist ein Mann uninteressant.188 Eine junge Frau fand ehrliche Worte als sie mir erklärte, dass es bei einem Mann nicht auf sein Äußeres ankäme, sondern dass es ihr in erster Linie um Komfort und Sicherheit ginge. Ohne den finanziellen Aspekt würde die Beziehung nicht funktionieren.189 Die Unterstellung des Materialismus ist sehr verbreitet. Auch die Bigotterie von verschleierten Mädchen wurde in den Interviews thematisiert. Sprichwörtlich werden verschleierte junge Frauen, wenn sie stark geschminkt sind und enge Kleidung tragen, „oben Moschee, unten Disko“190 genannt. Die jungen Frauen beklagten sich bei mir ebenso über eine mangelnde Seriosität in den Beziehungen und die Untreue seitens der Männer. „Die wollen nur ihren Spaß haben“ oder „sie wollen nur von einem profitieren und gehen danach zur nächsten“, hieß es immer wieder. Viele Studentinnen beschwerten sich darüber, dass die Männer aus den Beziehungen fliehen wollten, sobald die Frauen das Thema Ehe ansprächen. Aus diesem Grund halten sie sich mit dem Wunsch zurück, selbst bei einer langjährigen Beziehung. Das Versprechen auf eine spätere

188 Vgl. Beaumont et al. 2010, S. 11. 189 Interview 5.02.2013 in Rabat. 190 „Al-Masjid fi-l-fauq wa-l-markaz fi-l-taht.“ Andere Bezeichnungen, die in die gleiche Richtung gehen, sind: „Iqraa fi-l-fauq wa rotana fi-l-taht“ (Iqraa –ein islamischer Sender – oben und Rotana – ein arabischer Musiksender – unten) oder „Amr Khaled fi-lfauq wa Amr Diab fi-l-taht“ (Amr Khaled – ein ägyptischer Fernsehprediger – oben und Amr Diab – ein ägyptischer Sänger – unten).

152 | Jugend und Gender in Marokko

Heirat wird häufig von den Partnern verwendet, um mit ihren Partnerinnen intim zu werden. Zum Leidwesen vieler Frauen sind derartige Versprechen lediglich ein Mittel zum Zweck. Enttäuschung ist also ein Leitmotiv auf beiden Seiten. Europäische Partner gelten bei beiden Geschlechtern hingegen als verlässlich, nicht materialistisch, emanzipiert und v.a. als ehrlich. Der obige Interviewauszug verdeutlicht, welchem gesellschaftlichen Druck junge Frauen im gegenwärtigen Marokko ausgesetzt sind – unabhängig der Tatsache, dass diese Frauen gebildet sind und aus einem städtischen Umfeld kommen. Insbesondere in der heutigen Zeit, die durch längere Ausbildungszeiten, ökonomische Krisen und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, rückt die Vorstellung, eine Bayra zu werden, in erschreckende Nähe. Die Heiratschancen der Frauen schwinden je älter sie werden und häufig sind sie zur Passivität gezwungen, weil die kulturellen Normen eine Eigeninitiative der Frau bei der Partnersuche nicht gutheißen. Jedoch lastet nicht nur in muslimisch geprägten Gesellschaften ein sozialer Druck auf unverheirateten Frauen im heiratsfähigen Alter. Bourdieu bezeichnet ihn als eine stillschweigende gesellschaftliche Norm.191 Die Existenz einer Frau war auch in Europa ganz auf die Ehe ausgerichtet.192 Im christlich geprägten Europa galt die Ehe über Jahrhunderte hinweg als die naturgegebene gesellschaftliche Norm des menschlichen Zusammenlebens. Einzig die zölibatäre Lebensführung wurde als tugendhafte Alternative zum ehelichen Stand akzeptiert.193 Alle anderen Formen galten als eine Transgression der gottgewollten gesellschaftlichen Ordnung. Unverheiratete Paare bezeichnete man bis vor nicht allzu langer Zeit als in „wilder Ehe“ lebend. Dieser Ausdruck verdeutlicht, dass es als normwidrig galt, wenn man keine Eheschließung einging und dennoch zusammenwohnte. Im Französischen wird diese Form der Kohabitation im allgemeinen Sprachgebrauch concubinage (Konkubinat) bezeichnet. Dieser Ausdruck stammt ursprünglich vom Lateinischen concumbere („zusammenliegen“), woraus sich das Wort concubina („Beischläferin“) ableitete.194 Vor dem Hintergrund des Gebrauchs des Wortes Konkubine als Synonym für Mätresse, Dirne oder Prostituierte,195 haftet dieser Bezeichnung für das Zusammenwohnen unverheirateter Paare etwas Anrüchiges an.

191 Bourdieu 1996, S. 26. 192 Vgl. Muchembled, Robert: Die Verwandlung der Lust, München 2008, S. 78. 193 Vgl. Baumgarten 1997, S. 11. 194 Vgl. Wahrig Herkunftswörterbuch, München [u. a.] 2003, S. 340. 195 Vgl. Wortschatz Lexikon der Universität Leipzig.

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Aufgrund der hohen Heiratskosten gibt es in Marokko inzwischen vor allem in den Großstädten zunehmend ledige Paare, die ohne Trauschein zusammenwohnen.196 Diese müssen sich jedoch möglichst unauffällig verhalten, damit die Nachbarn oder Vermieter davon nichts mitbekommen und die Polizei informieren, oder auf ihre Diskretion hoffen. Die Mehrheit der Bevölkerung betrachtet das uneheliche Zusammenleben als schändlich, als h’chouma, doch insbesondere in sozial benachteiligten Vierteln leben viele Paare auf diese Weise zusammen, weil sie sich eine Hochzeit nicht leisten können. Dies geschieht ohne das Wissen ihrer Eltern, obwohl es auch solche gibt, die das Zusammenwohnen akzeptieren.197 In solchen Vierteln entstehe eine zunehmende Toleranz für diese Form des Zusammenlebens, erklärte mir der marokkanische Intellektuelle und ehemalige Chefredakteur der Zeitung „TelQuel“, Driss Ksikès, im Interview.198 Ich persönlich habe nur eine junge Frau kennengelernt, die mit ihrem Freund zusammenwohnte. Die Aktivistin und Gründerin der Bewegung für individuelle Freiheiten (MALI), Ibtissame Lachgar, lebt mit ihm seit mehreren Jahren in ihrer Eigentumswohnung in der Medina (der Altstadt Rabats, in der v.a. die ärmere Bevölkerungsschicht ansässig ist), weil sie sich dort weniger von der Nachbarschaft gestört fühlt. Die damals 38-Jährige hat sich bewusst gegen die Ehe entschieden, weil sie sich dem Druck der Gesellschaft nicht beugen möchte.199 Das Zusammenwohnen lediger Paare ist nicht nur in sozial schwachen Kreisen vorzufinden, sondern auch unter Studierenden, die aus höheren Gesellschaftsschichten kommen und sich eine eigene Wohnung leisten können. Für sie stellt das gemeinsame Wohnen eine Phase des besseren Kennenlernens dar, die in einer Eheschließung resultieren kann, aber nicht muss. Eine junge Frau sagte mir im Interview, dass ihre Schwester mit ihrem Freund zwei Jahre zusammenwohnte, aber feststellen musste, dass sie nicht zusammenpassen. Die gescheiterte Beziehung wurde von ihrer Schwester als positiv betrachtet, weil diese Feststellung nach der Heirat für sie schmerzlicher gewesen wäre, weil dies eine Scheidung zur Folge hätte, die mit finanziellem Aufwand und dem Stigma der geschiedenen Frau verbunden wäre.200

196 Marrakesch ist landesweit bekannt als die Stadt, in der viele ledige Paare zusammenwohnen. Vgl. Ibnouzahir 2011. 197 Vgl. Tchounaud 2012. 198 Interview am 21.11.2013 in Rabat. 199 Interview am 28.06.2013 in Rabat. 200 Interview am 20.01.2013 in Rabat.

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Die folgende Tabelle verdeutlicht den Wandel des Heiratsalters in den letzten fünfzig Jahren in Marokko. 1960 heirateten Frauen im Durschnitt mit 17,5 Jahren und Männer mit 24,4 Jahren. Heute liegt das durchschnittliche Heiratsalter der Frau bei 26,6 Jahren und des Mannes bei 31,4 Jahren. In den Städten liegt es um ca. ein Jahr höher, nämlich bei 27,4 Jahren bei Frauen und bei 32,5 Jahren bei Männern.201 Tabelle 2: Durchschnittliches Heiratsalter nach Geschlecht und Wohngebiet von 1960-2010 GesamtJahr

Städtisch

Ländlich

bevölkerung Frauen

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Männer

1960

17,5

24,0

17,5

24,4

17,2

23,8

1971

19,6

25,5

20,9

26,5

18,7

24,8

1982

22,2

27,1

23,8

28,5

20,8

24,8

1994

25,8

30,0

26,9

31,2

24,2

28,3

2004

26,3

31,2

27,1

32,2

25,5

29,5

2010

26,6

31,4

27,4

32,5

25,6

30,0

Quelle: Haut-Commissariat au Plan (HCP) 2015

Der soziale Druck lastet schwer auf den unverheirateten Männern und Frauen. Er kann aber auch das Potential bergen, gesellschaftliche Transformationen herbeizu201 Auf dem Land, wo das Heiratsalter immer schon niedriger war als in der Stadt und die Heirat von Minderjährigen noch immer verbreitet ist, wird im Durchschnitt nichtsdestotrotz eine Erhöhung auf 25,6 Jahren bei Frauen und 30 Jahren bei Männern konstatiert. Vgl. Haut-Commissariat au plan, Rabat 2010. Im Vergleich dazu lag das Heiratsalter in Deutschland im Jahr 2014 durchschnittlich bei 31 Jahren bei Frauen und 33,7 Jahren bei Männern. Vgl. Statistisches Bundesamt: Eheschließungen und durchschnittliches Heiratsalter Lediger (o.J.).

Die Institution der Ehe | 155

führen. So wie heutzutage kaum jemand in Europa eine ledige Frau im Alter von dreißig Jahren als ‚alte Jungfer‘ bezeichnet, könnte die Vorstellung der Bayra in Marokko künftig auch obsolet werden. Die Verschiebung des Heiratsalters und auch die Tatsache, dass sich die Differenz zwischen dem Heiratsalter der Frau und des Mannes verringert,202 birgt das Potential, veraltete Vorstellung von Partnerschaft zu überdenken und an die gegenwärtige Lebensrealität der marokkanischen Gesellschaft zu adaptieren. Aus diesem Grund ist die Frage von Bedeutung, welchen Stellenwert die Ehe bei den jungen Erwachsenen hat. Das folgende Kapitel widmet sich diesem Thema. In diesem Kapitel wurde die Beziehung zwischen dem Staat und der Familie, als Garant der patriarchalen Gesellschaftsordnung, herausgearbeitet und es wurde aufgezeigt, welchen Stellenwert die eheliche Institution für die Reproduktion der sozialen Ordnung einnimmt. Da die Familie die zentrale Einheit der Gesellschaft bildet, ist der Staat an deren Fortbestand im großen Maße interessiert. Die Institution der Ehe ist heute einem Wandel unterworfen, der auf die längeren Ausbildungszeiten der Männer und der Frauen und ihrer prekären wirtschaftlichen Situation, aber auch auf Veränderungen in den individuellen Wertvorstellungen der jungen Generation, zurückzuführen ist. Im nächsten Kapitel wird die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen vorgestellt. Es wird zunächst ein Überblick des marokkanischen Bildungssystems gegeben und auf die Effekte des Bildungszugangs auf die Lebenswelt der Frauen eingegangen. Danach werden die Gründe der Jugendarbeitslosigkeit und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen behandelt. Im Anschluss werden die Bedeutung der Studienzeit in ihrer Funktion als Moratorium im Leben der Studenten und die Folgen der verlängerten Jugendphase (waithood) dargelegt. Dabei wird anhand des Studentencampus der reale Freiraum der Studierenden untersucht.

202 In der Vergangenheit war es in besonders traditionell geprägten Gebieten der islamischen Welt üblich, dass ein bedeutend älterer Mann ein junges Mädchen, meist noch vor seiner Pubertät, heiratete. Vgl. Barakat 1993, S. 111.

4. Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung

Der Generationstheoretiker Karl Mannheim bezeichnete bereits 1928, also noch vor dem Aufkommen der Babyboomer-Generation,1 der starken Ausprägung einer „Jugendbeule“ (youth bulge)2 in arabischen Ländern oder dem Ausbruch des sogenannten „Arabischen Frühlings“, in seinem Werk Wissensoziologie die Generation der Jugend als „neue Kulturträger“,3 die verantwortlich für die „beschleunigten Umwälzungen“4 in ihren Ländern sein können. Und in der Tat, davon zeugt die Geschichte, beteiligten sich Jugendliche bei vielen revolutionären Umbrüchen in hohem Maße. Wie in der Einleitung schon hingewiesen wurde, bezeichnet der Begriff „Jugend“ keine feste Kategorie und wird je nach Kontext unterschiedlich definiert. Auch der historische Hintergrund ist entscheidend für die kollektiven Erfahrungen, Einstellungen und die ideologische Ausrichtung einer Generation. Die marokkanischen Jugendlichen der 1960er und 1980er Jahre hatten vielleicht mehr Reisefreiheiten als die Jugendlichen heute,5 aber sie lebten unter dem repressiven Regime

1

Mit diesem Begriff wird die geburtenstarke Nachkriegsgeneration bezeichnet, die zwischen 1945 und 1960 geboren wurde.

2

Mit youth bulge („Jugendbeule“) wird der überdurchschnittlich hohe Anteil an Jugendlichen in vielen arabischen Ländern bezeichnet. Vgl. Courbage, Youssef: „The demographic youth buldge and social rupture“, in: Khalaf, Samir/ Khalaf, Roseanne Saad (Hg.): Arab youth. Social mobilization of Arab youth, London 2011, S. 79-88, S. 81.

3

Mannheim 1970, S. 530.

4

Ebd.

5

Vgl. Gertel 2014, S. 171.

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Hassans II.,6 einer Zeit, die als die „bleiernen Jahre“ (années de plomb)7 zusammengefasst wird. Die Jugendlichen von heute gehören zu einer Generation, die diese Zeit nur von den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennen. Zu ihrer Realität zählen vorwiegend ganz andere Inhalte und kollektive Erfahrungen. Unter dem aktuellen König Mohammed VI. verfügen sie über größere Freiheiten, wie bspw. die Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Hineingeboren in eine globalisierte und digitalisierte Welt, sind sie global vernetzt, können in diversen Foren ihre Meinung kundtun und sich alternativ zu den lokalen Medien informieren. Ihren Bezugsrahmen bildet das Internet.8 Diese Generation teilt aber auch eine negative Erfahrung: Sie ist mit den Anschlägen des 11. September 2001, den Anschlägen in Casablanca 2003 und neuen Formen des Terrorismus aufgewachsen. Sie waren außerdem Zeugen einer breiten Mobilisierung junger Menschen im Rahmen des sogenannten „Arabischen Frühlings“. Was beiden Generationen jedoch gemeinsam ist, ist ihre demographische Überzahl und die Perspektivlosigkeit aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen. In den meisten arabischen bzw. islamisch geprägten Ländern besteht die Gesellschaft zu einem überwiegenden Teil aus Menschen, die jünger als dreißig Jahre alt sind; in vielen Ländern machen die unter 35-Jährigen sogar zwei Drittel (65-75%) der Bevölkerung aus und diese Gruppe stellt die Hälfte der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter dar.9

6

Hassan II. herrschte von 1961 bis zu seinem Tod am 23.7.1999 in Marokko. Er war der Sohn des Sultans Mohammed V. (10.08.1909-26.02.1961), der kurz nach der marokkanischen Unabhängigkeit (1956) am 14.08.1957 offiziell zum König von Marokko proklamiert wurde. Mohammed V. war der Nationalbewegung verbunden und wurde nach seinem zweijährigen Exil auf Korsika und Madagaskar im Jahr 1955 von der Bevölkerung als Nationalheld gefeiert und avancierte zur Leitfigur der anti-kolonialen Bewegung. Vgl. Munson 1993, S. 126f.

7

So wird der Zeitraum der stärksten innenpolitischen Unterdrückung unter Hassan II., zwischen den Jahren 1970 und 1990 bezeichnet. Vgl. Axtmann, Dirk: Reformen autoritärer Herrschaft in Nordafrika. Verfassungs- und Wahlrechtsreformen in Algerien, Tunesien und Marokko zwischen 1988 und 2004, Wiesbaden 2007, S. 164.

8

Vgl. Allali, Reda: „Les mutants“, in: La Revue Economia, 12 (Juli-Oktober) 2011.

9

Vgl. Dhillon, Navtej/ Dyer, Paul/ Yousef, Tarik: „Generation in waiting. An overview of school to work and family formation transitions“, in: Dhillon/ Yousef 2009, S. 11-38, S. 11; vgl. Perthes, Volker: Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, München 2011, S. 32.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 159

In Marokko sind fast ein Drittel der Bevölkerung unter 15 Jahren und 60% unter 30 Jahren alt.10 Das bedeutet, dass die Bevölkerungsmehrheit zur Gruppe der Jugendlichen zählt. Nicht nur die hohe Arbeitslosenquote junger Akademiker, sondern auch die Abhängigkeit vom Elternhaus und die damit einhergehende oktroyierte Unselbstständigkeit der jungen Menschen stellen Parameter ihrer Marginalisierung dar. Die marokkanische Soziologin Bennani-Chraïbi spricht von einer ökonomischen sowie politischen Exklusion und symbolischen Ablehnung der jungen seitens der älteren Generation, indem die alten Eliten ihnen per se keine Partizipationsmöglichkeiten einräumen.11 Dadurch bleibt den Jugendlichen jegliche soziale und politische Teilhabe verwehrt. Manche Beobachter bezeichneten diesen zahlenmäßigen Überschuss an Jugendlichen sogar als „tickende Zeitbombe“.12 Jugendliche stellten für diese Experten eine Art „perspektivlose Masse“ dar, die keinen Anschluss an die Gesellschaft bekommen würden. Indessen betonen Courbage und Todd das Reformpotential der arabischen Jugend und sind der Ansicht, dass der sogenannte youth bulge („Jugendbeule“) der Hauptauslöser für soziokulturelle Umbrüche sein kann. Sie belegen ihre These anhand demographischer Daten und demonstrieren diese an den sinkenden Geburtenzahlen, dem Konsumverhalten, ebenso wie am Alphabetisierungs- und Bildungsgrad der Jugendlichen und insbesondere auch der jungen Frauen.13 Dass Jugendliche als Auslöser soziokultureller Veränderungen fungieren können, ist nicht erst seit dem sogenannten „Arabischen Frühling“ bekannt. Studenten haben weltweit in der Geschichte immer schon gegen soziale Ungerechtigkeit und gegen das Establishment revoltiert und damit soziale und politische Umbrüche in Gang gesetzt. Aus diesem Grund werden besonders gut gebildete urbane Jugendliche in dieser Arbeit als Motor des sozialen Wandels betrachtet. Aufgrund der meist besseren Bildung im Vergleich zur Vorgängergeneration, des besseren Zugangs und Um-

10 Vgl. Ben-Layashi, Samir: „Feet on the earth, head in the clouds. What do Moroccan youths dream of?“, in: Maddy-Weitzman, Bruce/ Zisenwine, Daniel (Hg.): Contemporary Morocco. State, politics and society under Mohammed VI, London [u. a.] 2013, S. 147160, S. 147; vgl. Statistisches Bundesamt 2015. 11 Vgl. Bennani-Chraïbi, Mounia: „Youth in Morocco. An indicator of a changing society“, in: Meijer, Roel (Hg.): Alienation or integration of Arab youth. Between family, state and street, Richmond 2000, S. 143-160, S. 147. 12 Vgl. Moffett 1989; vgl. Gertel 2004; vgl. Kabbani/ Kothari 2005. 13 Vgl. Courbage/ Todd 2008.

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gangs mit neuen Technologien, der besseren Vernetzung zu ihren Peers außerhalb der Landesgrenzen sowie durch bessere Sprachkenntnisse (insbesondere von Englisch und Französisch) werden sie die Zukunft ihres Landes maßgeblich beeinflussen. Durch die Vermittlung ihres Wissens, ihrer Werte und Ideen werden sie einen entscheidenden Einfluss auf die nachfolgenden Generationen haben. Mehr denn je stellen heute die Untersuchung dieser demographisch größten Gesellschaftsgruppe und ihre kulturelle Inszenierung und Ansichten einen wichtigen Gradmesser für die politische, wirtschaftliche und soziale Transformationsprozesse in der arabischen Welt dar.14 Aus diesem Grund ist die Erforschung dieser Generation und ihrer Zukunftsentwürfe von hoher gesellschaftlicher Relevanz.

4.1 BILDUNG IN MAROKKO Bildung wird im Kontext der vorliegenden Arbeit als Voraussetzung und als ‚Katalysator‘ für sozialen Wandel betrachtet, da die Höherqualifizierung der Bevölkerung nachhaltige Auswirkungen auf viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hat.15 Bildung kann eigenständiges und kritisches Denken fördern, Stereotypen entgegenwirken, Einstellungen in Bezug auf gesellschaftlich tradierte Normen verändern und somit positiv auf die allgemeine soziokulturelle und wirtschaftliche Entwicklung einwirken. Eine qualifizierte Jugend birgt ein positives Potential für die Zukunft des Landes und kann ganz entscheidend zu sozialen Transformationsprozessen beitragen. Aus diesem Grund werden insbesondere Studierende in der vorliegenden Arbeit als „Agenten des Wandels“ verstanden. Sie sind die zukünftigen Entscheidungsträger auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Getreu dem Motto „Wissen ist Macht“ eröffnet Bildung dem Einzelnen die Chance des Erklimmens der sozialen Leiter, sie stärkt das Selbstbewusstsein des Individuums und eröffnet ihm neue Handlungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten. Ferner befähigt sie das Hinterfragen des politischen Status quo, aber auch soziokultureller Modelle, wie beispielsweise die Geschlechterordnung sowie Geschlechterhierarchien und -stereotypen, was dazu führen kann, dass sich Lebenskonzepte bzw. Lebensstile wandeln und auf die gesamtgesellschaftliche soziokultu-

14 Vgl. dazu El Ayadi/ Rachik und Tozy 2007; Braune 2005, 2008; Handoussa 2010, Honwana 2012. 15 Vgl. Geißler 2002, S. 436; Gellner 1983, S. 28f.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 161

relle Entwicklung einwirken.16 Der Einfluss der Bildung kann sich darüber hinaus auch positiv auf die Demographie eines Landes auswirken. Die zunehmende Professionalisierung der jungen Frauen und Männer trägt, wie weiter oben bereits beschrieben, zu einer Verschiebung des Heiratsalters bei, was auch zur Folge hat, dass sich das Alter der Frauen, die zum ersten Mal Mütter werden, erhöht. 4.1.1 Das marokkanische Schulsystem Marokko gehört zu den Ländern der Welt, die am meisten von Analphabetismus betroffen sind.17 Laut den aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2015 sind zehn Millionen MarokkanerInnen Analphabeten, was fast einem Drittel (29,85%) der Gesamtbevölkerung entspricht.18 Frauen machen mit 52,6% insgesamt den größeren Anteil von Analphabeten in der Bevölkerung aus. Besonders in den ländlichen Gebieten ist der Anteil von Analphabeten weiterhin überdurchschnittlich hoch (71,8%), während die Analphabetenrate in den Städten bei 39,9% liegt.19 Die allgemeine Schulpflicht wurde 1963 eingeführt, woraufhin zunächst in den Städten moderne Bildungseinrichtungen nach europäischem Vorbild entstanden, die sich rasch im ganzen Land verbreiteten.20 Die Alphabetisierung der Bevölkerung ging anfangs allerdings nur schleppend voran: Laut Statistiken von 1971 waren noch immer 87% der Frauen und 63% der Männer in den Städten und auf dem Land sogar 98% der Frauen vom Analphabetismus betroffen.21 In den Städten konnten

16 Vgl. Courbage/ Todd 2008; Hammes 2002. 17 Gemeinsam mit dem Jemen bildet Marokko in Bezug auf die Alphabetisierung der Bevölkerung das Schlusslicht in der sogenannten „arabischen Welt“. Der Jemen liegt mit 1,8 Prozentpunkten hinter Marokko. Vgl. UNESCO Institute for Statistics: „International Literacy Data 2013“ (o.J.). 18 Vgl. Anonymus: „Maroc. Près d’un tiers de la population toujours analphabète“, in: Le Monde (8.09.2015). 19 Vgl. Haut-Commissariat au Plan, Rabat 2013. 20 Vgl. El Guennouni, Kamal: „Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und Wandel des Frauen- und Familienrechts in Marokko“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ): Arabische Welt, (24) 2010, S. 28-33, S. 31. 21 Die hohe Prozentzahl von Analphabetinnen auf dem Land ist damit zu erklären, dass Mädchen häufig nicht eingeschult wurden, weil sie in starkem Maße zur Mitarbeit im elterlichen Haushalt herangezogen wurden. Diejenigen, die eingeschult worden sind, hatten entweder kaum Zeit zu lernen, weil sie bei der Haus- oder Feldarbeit aushelfen mussten

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jedoch einige Fortschritte erzielt werden, wenn man beachtet, dass 1969 die Zahl der eingeschulten Mädchen mit 60% beinahe ebenso groß war, wie die der Jungen mit 77%.22 Im Jahr 2000 wurde eine Bildungsreform durchgeführt, die den Ausbau von Schulen in ländlichen Gebieten und eine allgemeine Grundschulpflicht ab dem Alter von sechs Jahren vorschrieb, womit dem Analphabetismus bis zum Jahre 2015 Einhalt geboten werden sollte.23 Marokko investiert erhebliche Mittel in die Bildung. 2013 wurden 18,3% der Staatsausgaben bzw. 6,6% des BIP dafür aufgewendet.24 Das marokkanische Schulsystem besteht, nach französischem Vorbild, aus der Vorschule (Le Préscolaire), die drei Jahre umfasst, aus der Grundschule (L’Enseignement Primaire), die sechs Jahre umfasst, aus der Sekundar-Unterstufe (Enseignement secondaire collégial), die drei Jahre umfasst, und aus der SekundarOberstufe (Enseignement secondaire qualifiant), die man nach drei Jahren mit dem Abitur (baccalauréat) abschließt. Neben staatlichen Schulen existieren auch Privatschulen, die vornehmlich von Kindern der gehobenen Gesellschaftsschicht besucht werden.25 Die Unterrichtssprache der Privatschulen ist Französisch, während in staatlichen Schulen auf Arabisch unterrichtet wird.26 Die französische Sprache wird an öffentlichen Schulen ab der dritten Klasse gelehrt. In Regionen, die mehrheitlich von Imazighen27 bevölkert werden, wird auf Tamazight unterrichtet. Die Qualität des Unterrichts an staatlichen Schulen ist seit Jahren auf dem Tiefpunkt. Aus diesem Grund versuchen Eltern alles, um ihren Kindern eine Schulbildung an Privatschulen zu ermöglichen. Für viele Familien der Mittelschicht stellt

oder sie wurden vorzeitig von der Schule genommen, um arbeiten zu gehen oder zu heiraten. Vgl. Höll 1979, S. 174f. 22 Vgl. ebd., S. 175. 23 Vgl. Howe, Marvine: „Morocco’s democratic experience“, in: World Policy Journal, 17 (1) 2000, S. 65-70, S. 68. Seit dem Jahr 2010 gibt es eine staatliche Einrichtung zur Alphabetisierungsförderung. 24 Vgl. Körner 2015. 25 15% der Schüler besuchen private Bildungseinrichtungen. Vgl. ebd. 26 Vgl. ebd. 27 Amazigh (Plural: Imazighen) ist die Selbstbezeichnung der heterogenen indigenen Bevölkerung Marokkos. Der Oberbegriff ihrer Sprachen und Dialekte lautet Tamazight. Der lange verwendete Begriff ‚Berber‘ für die Imazighen stellt eigentliche eine pejorative Fremdbezeichnung dar, die mit ‚Barbaren‘ übersetzt werden kann.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 163

dies einen enormen finanziellen Aufwand dar, denn häufig wird die Hälfte ihres Einkommens darauf verwendet.28 Wenn die Eltern für die Schulgebühren nicht aufkommen können, versuchen sie ihren Kindern zumindest privaten Nachhilfeunterricht zu ermöglichen. Doch in der Regel handelt es sich bei dem Nachhilfeunterricht lediglich darum, den Kindern prüfungsrelevantes Wissen, anstelle von tieferem Wissen und Kompetenzen, zu vermitteln.29 Der Nachhilfeunterricht wird häufig von Lehrern öffentlicher Schulen angeboten, um ihr spärliches Gehalt aufzustocken. Es heißt bei Ben-Layashi, die Lehrer öffentlicher Schulen seien das ganze Jahr über am Streiken für eine bessere Entlohnung.30 Ich habe selbst zwei Lehrer von öffentlichen Schulen kennengelernt und von ihnen erfahren, dass an den Schulen desaströse Zustände herrschen: angefangen von mangelnden basalen Lehrutensilien (Fehlen von Kreide, alten Schulbüchern), überfüllten Klassen bis hin zur schlechten Bezahlung des Lehrpersonals. Aus diesem Grund sind sie häufig gezwungen, einen Zweit- oder sogar einen Drittjob anzunehmen. Einer der beiden Lehrer arbeitete noch als Nachhilfe- und Arabischlehrer, der andere arbeitete nebenbei in einem Call-Center (centre d‘appel). Der Bildungszugang hat sich seit der Unabhängigkeit Marokkos sukzessive verbessert: Im Jahr 2011 betrug die Bruttoeinschulungsrate an Grundschulen insgesamt 114% (der Mädchenanteil lag dabei bei 110%) und an der Aufbaustufe 82% (davon 73% Mädchen). An den insgesamt 15 Universitäten in Marokko waren im Jahr meiner Feldforschung 2012/13 541.027 Studierende eingeschrieben, von ihnen machten Frauen fast die Hälfte (48%) aus.31 Das ist eine sehr positive Entwicklung in einem Land, in dem insbesondere die weibliche Bevölkerung die Mehrheit der Analphabeten bildet und in dem konservative respektive traditionelle Gendervorstellungen vorherrschen. Auch die unten aufgeführte Tabelle verdeutlicht, dass Schülerinnen fast die Hälfte der Schülerschaft ausmachen. Der Anteil des weiblichen Lehrpersonals überwiegt an Vor- und Grundschulen, nimmt aber zu den höheren Schulstufen hin ab.

28 Vgl. Ben-Layashi 2013, S. 148. 29 Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 32. 30 Vgl. Ben-Layashi 2013, S. 148. 31 Vgl. Körner 2015. Mehrheitlich wird ein Studium in den Bereichen Naturwissenschaften (27,9%), Handel, Verwaltung und Recht (16,4%) sowie Geisteswissenschaften (14,9%) bevorzugt. Vgl. Kadiri 2016, S. 27.

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Tabelle 3: Weibliches Lehrpersonal an Schulen Schulstatistik (2013/14) Vorschulen Grundschulen Sekundar- Unterstufe SekundarOberstufe

Lehrkräfte

Schüler

Gesamt 39.824 151.019 76.734

% weiblich 70,8 55,1 38,8

Gesamt 745.991 4.030.142 1.618.105

% weiblich 43,7 47,6 44,7

62.127

31,6

988.134

47,4

Quelle: Ministère de l’Education Nationale

Der Schul- und Universitätsunterricht in Marokko ist als Frontalunterricht konzipiert und auf das Memorieren von Faktenwissen ausgerichtet, die die Schüler und Studenten anschließend in den Examina unter Beweis stellen. Es geht also weniger um die Aneignung von Allgemeinwissen und von Kompetenzen, die im späteren Berufsleben vonnöten sind, sondern um das Abrufen von prüfungsrelevanten Inhalten. Die Schulcurricula sind so gestaltet, dass den Schülern oder Studenten lediglich das Wissen vermittelt wird, welches benötigt wird, um Klausuren zu bestehen und nicht, um ihnen eine eigenständige und lösungsorientierte Herangehensweise an ein Problem oder eine Fragestellung zu vermitteln. Die Examina sind darauf ausgelegt, memorierte Fakten abzufragen.32 Im späteren Berufsleben, darauf wird in Kapitel 4.3.2 noch genauer eingegangen, wird ihnen ebendiese Arbeitsweise und der Mangel an Kompetenzen und lösungsorientiertem Vorgehen den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren, denn Arbeitgeber erwarten für gewöhnlich Angestellte, die fähig sind, eigenständig und lösungsorientiert zu arbeiten. Die Versäumnisse des Schulsystems, die Schüler mit den für den Arbeitsmarkt benötigten Kompetenzen auszustatten, wurden auch in den Interviews von den Studierenden moniert. In den Interviews hatten sich alle Studierenden kritisch gegenüber dem marokkanischem Bildungssystem geäußert. Die häufigsten Kritikpunkte bezogen sich auf die überfüllten Vorlesungssäle, die schlechte Qualität der Lehre, den Mangel an Lehrmaterial sowie die mangelnde Disziplin der Studierenden, aber auch des Lehrpersonals. So berichtete mir ein Student, es sei in der Schule oder Universität keine Seltenheit, dass Lehrer oder Dozenten weit über eine halbe 32 Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 32.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 165

Stunde zu spät kommen oder gar nicht erst zum Unterricht erscheinen würden und das, ohne sich abgemeldet oder sich um eine Vertretung gekümmert zu haben. In Anbetracht der schlechten Bezahlung des Lehrpersonals verwundert diese Haltung nicht, denn die Tatsache, dass Lehrer unterbezahlt sind, unterminiert ihre Moral und ihre Motivation. Honwana folgert treffend: „[I]t is the system that needs to be corrected because teachers, like students, are victims of the system.“33 Meine Interviewpartner waren sich darin einig, dass sowohl das Schul- als auch das Universitätssystem von korrupten Strukturen geprägt seien. Deshalb wurde die Frage, ob man Zugang zum Studium über seine Noten oder über Beziehungen erhalte, von allen Befragten mit „sowohl als auch“ beantwortet. Besonders der Zugang zu begehrten Fächern könne durch persönliche Netzwerke wesentlich erleichtert werden. Alle Studierenden kritisierten die Korruption im Bildungssystem an erster Stelle. Erst danach wurden die oben aufgeführten strukturellen Probleme genannt. Wie in Kapitel 3 bereits hingewiesen, sind politische und wirtschaftliche Strukturen von familiären Beziehungen und klientelistischen Zügen geprägt. Auch der Zugang zu Universitäten und zum Arbeitsmarkt ist von korrupten Strukturen durchzogen. Selbst Universitätsgraduierte können keine adäquate Anstellung finden, wenn sie nicht über die nötigen familiären Beziehungen verfügen.34 Viele Studierende sagten mir, dass ihre Karrierechancen begrenzt seien, weil sie nicht das Glück hätten, aus einflussreichen Familien der staatlichen Elite zu stammen. Damit spielten sie auf die klientelistische und hierarchische Gesellschaftsstruktur Marokkos an. Ein Artikel aus der Jeune Afrique wirft ein Licht auf die staatliche Elite des Landes, welche durch geschickte Heiratsallianzen bis heute das Fundament des politischen und wirtschaftlichen Systems bildet.35 Der US-amerikanische Politologe Mark Tessler verweist darauf, dass kein marokkanischer Unternehmer es zu wirklichem Einfluss im privaten Sektor bringen könne, wenn der König ihm nicht seinen persönlichen Segen erteile.36 Der marokkanische Monarch ist ohnehin der einflussreichste Unter-

33 Honwana 2012, S. 42. 34 Vgl. Tessler, Mark: „Morocco’s next political generation“, in: Meijer, Roel (Hg.): Alienation or integration of Arab youth. Between family, state and street, Richmond 2000, S. 107-132, S. 114. 35 Vgl. Aït Akdim, Youssef: „Une hégémonie des grandes familles dorénavant contestée en politique“, in: Jeune Afrique (12.08.2013). 36 Vgl. Tessler 2000, S. 114.

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nehmer des Landes, wie zahlreiche Berichte bestätigen.37 Das Königshaus kontrolliert alle Bereiche in Politik und Wirtschaft.38 Nicht umsonst wurde im Zuge des „Arabischen Frühlings“ die Beendigung der Korruption auf allen Ebenen gefordert. 4.1.2 Studentenrevolten Angesichts der sogenannten „Kulturrevolution“, welche Ende der 1960er Jahre von der sogenannten „68-Bewegung“ ausging, waren sich viele Beobachter einig, dass die Jugend eine neue revolutionäre Kraft der sozialen Transformation bilde.39 Diese größtenteils von der Jugend getragene Bewegung stellte bestehende Werte und Normen in ihren Gesellschaften infrage, setzte sich für die sexuelle Liberalisierung ein und protestierte gegen den Vietnam-Krieg. Im post-kolonialen Marokko teilten die Jugendlichen, die von den französischen Bildungseinrichtungen profitieren konnten, eine ähnliche Meinung wie die Jugend in Europa und den USA. Eine ganze Generation von Marokkanern war in dieser Zeit von der „68er-Bewegung“ beeinflusst.40 Sozialistische Schriften bildeten ihre ideologische Basis; die Studenten lasen Schriften von Marx, Camus und Sartre, waren aber gleichzeitig auch von der „pan-arabischen“ Idee Gamal Abdel Nassers inspiriert.41

37 Laut dem Forbes-Magazin ist er der fünftreichste Mann Afrikas und besitzt 35% der Anteile an der nationalen Investemtgesellschaft „Société Nationale d'Investissement“ (SNI), eine Beteiligungsgesellschaft, die Anteile an mehreren börsennotierten Unternehmen, einschließlich der größten Bank des Landes „Attijariwafa“, der Bergbaugesellschaft „Managem Group“, des Zuckerproduzenten „Cosumar“ und „Centrale Danone“, des Tochterunternehmens der Firma „Danone“ hält. Vgl. Anonymus: „Africa’s billionaires“, in: Forbes.com (2016). 38 Vgl. Tessler 2000, S. 115. 39 Herbert Marcuse, deutscher Soziologe, politischer Theoriker, Philosoph und Mitbegründer der Frankfurter Schule, vertrat die Ansicht, dass Studenten das Proletariat als Hauptagenten des politischen Wandels abgelöst hätten. Vgl. Marcuse, Herbert: Essay on liberation, Boston 1969, S. 16. 40 Vgl. Gertel 2014, S. 151. Marokko wurde Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zu einem regelrechten „Hippie-Mekka“, wo sich auch berühmte Persönlichkeiten, wie die „Beatles“, die „Rolling Stones“ oder Jimmi Hendrix gerne aufhielten. 41 Als „Pan-Arabismus“ wird die Idee eines Zusammenschlusses arabischer Staaten unter der Führung Ägyptens bezeichnet, die 1954 vom ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel

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Zwischen den 1960er und 1970er Jahren dominierten Menschenrechtsverletzungen die nationale politische Bühne in Marokko: politische Parteien wurden mundtot gemacht42 und Oppositionelle wurden inhaftiert und zu jahrzehntelanger Haft, bis hin zur Exekution, verurteilt. Mein Gastvater erzählte mir z. B., dass es zu jener Zeit gefährlich war, eine politische Meinung zu haben und dass es nichts Ungewöhnliches war, wenn Menschen über Nacht einfach verschwanden. Er berichtete von einem jungen Mann aus der Nachbarschaft, der nach 15 Jahren Gefängnis, sichtlich gezeichnet und unfähig, über das Vergangene zu sprechen, plötzlich wieder auftauchte.43 Die repressive Politik Hassans II. war eine Folge zweier kurz aufeinanderfolgender Putschversuche und missglückter Attentate auf den König in den Jahren 1971 und 197244 von Seiten des Militärs, welche das Vertrauensverhältnis innerhalb der Elite des Landes erschütterten und die Allianz zwischen dem Königshaus und dem Militär infrage stellte.45 Es folgte eine Zeit wachsender politischer Instabilität und massiver Menschenrechtsverletzungen.

Nasser (1918-1970) ins Leben gerufen wurde und mit der Niederlage Ägyptens im „Sechstagekrieg“ 1967 ihr jähes Ende nahm. Vgl. Kettermann, Günter: Atlas zur Geschichte des Islam, Berlin 2008, S. 164. 42 Vgl. Boum 2013, S. 169. 43 Es gibt einen Roman einer Zeitzeugin, Malika Oufkir, deren Vater Mohammed Oufkir, marokkanischer General und Verteidigungsminister, am 19. August 1972 zusammen mit der marokkanischen Luftwaffe einen Putschversuch unternahm. Der Staatsstreich misslang. Oufkir wurde noch am gleichen Tag exekutiert und dessen Familie wurde kurz darauf in Sippenhaft genommen und in ein geheimes Gefängnis in Tazmamart im südlichen Marokko deportiert, in dem sie vor ihrer Flucht zwanzig Jahre lang gefangen war. Vgl. Howe, Marvine: Morocco. The Islamist awakening and other challenges, Oxford [u. a.] 2005, S. 5, S. 110. 44 Im Sommer 1971 attackierten 1.200 Soldaten Hassan II. und seine Gäste an dessen 42. Geburtstag im Königspalast in Skhirat. Der König konnte zusammen mit General Oufkir, der damals zu seinen treuesten Gefolgsleuten zählte, und anderen Gästen in ein Badezimmer flüchten und überlebte das Attentat. Einhundert Gäste wurden getötet. Beim zweiten Putschversuch war der König gerade auf dem Rückflug von seinem Staatsbesuch in Frankreich als seine Boeing 727 von sechs F-5 Kampfflugzeugen attackiert wurde. Die Boeing landete und er blieb unbeschadet. Vgl. Howe 2005, S. 110f. 45 Vgl. Tessler 2000, S. 111.

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Die Jahre 1965 bis in die 1990er Jahre hinein waren gekennzeichnet von Studentenprotesten gegen die Regierung und staatliche Repressionen, die insbesondere in den 1970er Jahren gegen linksorientierte Parteien und Bewegungen gerichtet waren.46 Ab 1965 begannen Studenten gegen einen repressiven Staat und den Despotismus des Königs – Hassan II. rief nach Unruhen im Parlament den Ausnahmezustand aus und übernahm bis 1970 persönlich die Regierungsgeschäfte – und die Zwänge des Patriarchats aufzubegehren und sich für eine Veränderung der starren Geschlechterverhältnisse einzusetzen.47 Universitäten boten den Studierenden Raum für die Entfaltung sozialistischer Ideen, die vom „Pan-Arabismus“ inspiriert waren, sowie für Aktivismus und Mobilisierung. In den Jahren 1971 und 1972 begannen Studierende, sich in Gewerkschaften zu engagieren. Sie solidarisierten sich mit den Arbeitern und viele von ihnen nahmen an deren Protestaktionen und Streiks teil, woraufhin staatliche Repressionen gegen sie zunahmen. Dies führte wiederum dazu, dass sich die studentischen Aktivisten weiter politisierten: Ein Teil von ihnen radikalisierte sich und ging in den Untergrund, ein anderer Teil wollte die Revolution über Formen der Kunst (Musik, Literatur, Theater und Film) vorantreiben. Doch schon bald wurde Kunst als eine Form des Widerstands seitens der Regierung erkannt, was die Inhaftierung von Kunstschaffenden zur Folge hatte.48 Die Jahre 1979, 1980 und 1984 waren von zahlreichen Turbulenzen geprägt: marokkanische Soldaten verzeichneten im Westsahara-Konflikt49 schwere Verluste

46 Vgl. Boum 2013, S. 166. 47 Vgl. Ksikes, Driss/ Daïf, Maria/ Allali, Reda: „La révolution perdue“, in: TelQuel (148) 2004. 48 Vgl. Gertel 2014, S. 151f. 49 Marokkos Anspruch auf die Westsahara ist völkerrechtlich umstritten. Am 6.11.1975 mobilisierte König Hassan II. beim sogenannten „Grünen Marsch“ 350.000 marokkanische Zivilisten, um seinen Besitzanspruch der damaligen spanischen Kolonie Westsahara mit friedlichen Mitteln zu bekräftigen. Am 27.2.1976 zog die spanische Kolonialmacht ab und übergab zwei Drittel des Gebiets an Marokko und ein Drittel an Mauretanien. 1973 wurde die sahraouische Separatistenbewegung „Frente Polisario“ (Kurzform von „Frente Popular para la liberacion de Saguia el hamra y Rio de Oro“) von einer kleinen Gruppe Studenten, mit dem Ziel der Befreiung Westsaharas und der Unabhängigkeit von Spanien, gegründet. Seit dem Abzug der spanischen Kolonialmacht proklamierte die „Polisario“ die unabhängige Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), welche von der Afrikanischen Union (AU) und weiteren 50 Staaten anerkannt wird. Marokko ist aufgrund der Westsahara-Frage seit 1984 kein Mitglied der AU. Erst am 31.01.2017 wurde

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gegen die sahraouische Separatistenbewegung „Frente Polisario“ und die entstandenen Kosten verstärkten die ohnehin schon hohen wirtschaftlichen Probleme des Landes (u. a. hohe Staatsverschuldung, massive Arbeitslosigkeit, Kürzungen der staatlichen Subventionen in der Lebensmittel- und Energieversorgung).50 Proteste ab den 1980er Jahren waren eine Reaktion auf die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten und auf zunehmende politische Repressionen sowie massive Menschenrechtsverletzungen unter Hassan II.51 Der Staat ging nun heftiger gegen die Aufständischen vor: Bei Unruhen in Casablanca, bei denen auch umherziehende Banden aus den bidon-villes („Elendsvierteln“) Banken und Autohäuser attackierten, wurden mehrere Hundert junge Protestler von der Polizei durch Schüsse in die Menge getötet.52 Es folgten zahlreiche Festnahmen, auch von Gewerkschaftsführern und sogar von Parlamentsmitgliedern, die der sozialistischen Oppositionspartei „Union Nationale des Forces Populaires“ (UNFP) angehörten.53 Diese Festnahmen waren politisch motiviert, denn der Regierung missfiel der wachsende Einfluss der Linken auf studentische Kreise. Die Studentengewerkschaft „Union Nationale des Etudiants Marocains“ (UNEM)) („Nationale Vereinigung marokkanischer Studenten“) war eine 1956

Marokkos Wiedereintritt in die AU bewilligt. Die „Polisario“ besetzt Gebiete im Osten und Süden der Sahara, nahe der algerischen und mauretanischen Grenze. Aufgrund von wiederkehrenden bewaffneten Konflikten zwischen der Separatistenbewegung und der marokkanischen Armee, leiteten die Vereinten Nationen (UN) im Jahr 1988 Friedensgespräche zwischen den beiden verfeindeten Parteien ein. In der Folge wurde 1991 ein Waffenstillstand ausgehandelt. Seither sind die UN mit einer Beobachtermission „Misión de las Naciones Unidas para el Referéndum en el Sáhara Occidental“ (MINURSO) in der Westsahara vertreten und fordern ein Referendum über ihren endgültigen völkerrechtlichen Status. Doch trotz internationalen Drucks und Drängens, insb. von den UN und den USA, hielt Hassan II. wie auch sein Nachfolger Mohammed VI. bis heute an ihrem Standpunkt fest, die Westsahara gehöre zum rechtmäßigen Gebiet Marokkos. Der Internationale Gerichtshof wies Marokkos Anspruch auf die Westsahara zurück. Eine Lösung der Sahara-Frage ist bisher nicht in Sicht. Vgl. Howe 2005, S. 115; vgl. Körner 2015; vgl. Projekt-Gruppe Westsahara: Westsahara-Konflikt (o.J.). 50 Auf die wirtschafliche Situation dieser Zeit in Marokko wird in Kapitel 4.3.2 der vorliegenden Arbeit detailliert eingegangen. 51 Vgl. Gertel 2014, S. 152. 52 Vgl. Tesslert 2000, S. 110. 53 Vgl. ebd.

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gegründete, linksgerichtete oppositionelle Organisation, die sich für die Beseitigung der politischen, sozialen und ökonomischen Missstände einsetzte und gegen den Mangel an Arbeitsplätzen sowie die Versäumnisse im Bildungswesen aufbegehrte. Die UNEM stand zunächst dem linken Flügel der Istiqlal und später der 1959 von Mehdi Ben Barka gegründeten sozialistischen Partei „Union Nationale des Forces Populaire“ (UNFP) nahe. 1963 wurde der Generalsekretär der UNEM, Hamid Berrada, zu Tode verurteilt, weil er mutmaßlich einen Komplott gegen den Staat plante, um den im französischen Exil lebenden Oppositionsführer Mehdi Ben Barka zu unterstützen.54 Berrada konnte aus Marokko fliehen und initiierte mit Ben Barka und seinem Parteikollegen Muhammad al-Basri eine Kampagne, in der sie die Monarchie denunzierten. Ein Jahr später wurde der Präsident der UNEM inhaftiert, weil er Berradas Verurteilung öffentlich kritisierte. Zwischen 1963 und 1973 wurden immer wieder UNEM-Anführer verhaftet, weil die Studentenorganisation Streiks organisierte, in Demonstrationen ihre Solidarität für die Befreiung Palästinas zeigte und ab 1969 eine pro-sahraouische Position vertrat. In den Jahren 1960 bis 1970 war sie in illegale Aktivitäten gegen die Regierung und gegen die Monarchie verwickelt. Der Höhepunkt des harten Durchgreifens des Staates war ein Massenprozess von 81 Studenten im April 1972 wegen Hochverrats. 28 von ihnen bekamen lange Gefängnisstrafen. Hassan II. wollte die Studentenvereinigung, als Basis der linken Ideologie, zerschlagen und verbot die UNEM 1973. Fünf Jahre später wurde das Verbot aufgehoben. Der neuen Führung der UNEM mangelte es jedoch an einer klaren ideologischen Ausrichtung und es kam wiederholt zu Auseinandersetzungen zwischen linken und islamistischen Mitgliedern.55 Im Jahr 1974 folgten weitere Massenproteste gegen Studierende und Mitglieder linksradikaler Gruppierungen (gauchistes),

54 Mehdi Ben Barka, ehemaliges Mitglied der nationalistischen „Istiqlal-Partei“ und späterer Gründer der 1959 entstandenen sozialistischen Partei „Union Nationale des Forces Populaire“ (UNFP) – später zur „Union Socialiste des Forces Populaire“ (USFP) umbenannt – wurde im Exil in Paris vermutlich vom ehemaligen Innenminister Mohammed Oufkir (der später einen Putsch auf Hassan II. unternahm) im Auftrag des Königs Hassan II. ermordet. Der Mord, der beinahe eine politische Krise zwischen Frankreich und Marokko ausgelöst hatte, konnte bis heute nicht aufgeklärt werden. Vgl. Howe 2005, S. 100, 106ff. 55 Vgl. Zeghal, Malika: Islamism in Morocco. Religion, authoritarianism, and electoral politics, Princeton, NJ 2008, S. 162.

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weil sie nicht nur ein republikanisches Staatsmodell, sondern auch die Selbstbestimmung der Westsahara forderten.56 Am 9. Januar 1984 wurde ein Studentenstreik gegen die Erhöhung der Studiengebühren in Marrakesch organisiert. Der Streik eskalierte zu einem landesweiten Aufruhr, v.a. im Nordosten Marokkos, aber auch in Städten wie Agadir, Safi, Rabat und Meknès, bei dem Rebellen Regierungsgebäude, Banken, Hotels und Geschäfte attackierten. Die Stadt Al-Hoceima wurde zum Zentrum eines bewaffneten Aufstandes, der von protestierenden Studenten ausging. Trotz des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte, kontrollierten Aufständische am 22. Januar 1984 die Stadt Tétouan im marokkanischen Rif-Gebirge fast vollständig. Die Proteste dehnten sich auch deshalb aus, weil sich viele Menschen den Protestlern aufgrund von Erhöhungen der Lebensmittelpreise, die eine direkte Folge der staatlichen Sparmaßnahmen war, anschlossen. Unter dem Eindruck der landesweiten Aufstände, zog Hassan II. die Preiserhöhungen zunächst zurück, setzte sie aber zum späteren Zeitpunkt wieder um.57 Die „International League of Human Rights“ schätzte die Zahl der darauffolgenden Inhaftierungen auf zwischen 1.500 und 2.000. Dabei erhielten islamische Aktivisten, die bei den Protesten anwesend waren, besonders hohe Strafen, weil der König sie für die Unruhen verantwortlich machte.58 Gegen Mitglieder der Jugendorganisation „Islamische Jugend“ („Jamaʿat al-Chabiba al-Islamiya“) wurde ein halbes Jahr später sogar dreizehn Todesurteile ausgesprochen.59 Die „Chabiba al-Islamiya“ zählt zur ersten organisierten islamistischen Gruppierung in Marokko. Sie wurde 1969 von Abdelkrim Moutii, einem Grundschulinspektor und Anführer der nationalen Lehrergewerkschaft, welcher von der ägyptischen Muslimbruderschaft und den Schriften Sayyid Qutbs inspiriert worden war, gegründet. Die Organisation wurde vom Königshaus zunächst toleriert, weil sie eine Gegenkraft zur linken Oppositionsbewegung bildete. Zu ihren selbsterklärten Zielen gehörten die Moralisierung der Gesellschaft, die sie durch ein Verbot von Alkohol und Prostitution realisieren wollte, die Arabisierung der Bildung und die Implementierung des islamischen Rechts in Marokko. Ihr längerfristiges Ziel war die Destabilisierung der Sozialisten und nationaler Institutionen, die sie als ‚un-

56 Vgl. Sater, James N.: Morocco. Challenges to tradition and modernity, London [u. a.] 2010, S. 41. 57 Vgl. Schulze, Reinhard: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 1994, S. 305. 58 Vgl. Tessler 2000, S. 112. 59 Vgl. Schulze 1994, S. 305.

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islamisch‘ deklarierten.60 Ihrer extremistischen Splittergruppe, „Die Kombattanten des Maghreb“ („Al-Moujahidine al-Maghribiya“), wird die Ermordung des ehemaligen Gewerkschaftsführers der „Union Marocaine du Travail“ und Mitbegründers der sozialistischen Partei „L'Union Nationale des Forces Populaires“ (UNFP), Omar Benjelloun, am 18. Dezember 1975 angelastet. Moutii floh vor der Inhaftierung nach Belgien und seine Organisation wurde 1976 für verboten erklärt.61 Die Ermordung Benjellouns, die, wie später herauskam von Hassan II. verordnet wurde,62 verschärfte den Antagonismus zwischen dem linken und dem islamistischen Lager zusätzlich. 1991 gab es einen Aufprall zwischen Linken und Islamisten, bei dem beide Lager versuchten, die Kontrolle über die UNEM zu gewinnen. Bereits am Ende des Jahrzehnts hatten Islamisten die meisten studentischen Organisationen, einschließlich der UNEM, unter ihrer Kontrolle. Die meisten Islamisten aus den Studentenkreisen waren der islamistischen Oppositionsbewegung „Jamaʿat Al-ʿAdl wa-lIhsan“ („Gemeinschaft für Gerechtigkeit und Wohlfahrt“)63 zugehörig und waren immer wieder in Konfrontationen mit den Autoritäten verwickelt.64 In den Jahren 1991 und 1994 gab es erneut Proteste auf den Universitätscampussen, die gewaltvoll aufgelöst wurden. Die hohe Partizipation islamistischer Vereinigungen an diesen Demonstrationen führte dazu, dass die Sympathie für diese Gruppen unter den Studierenden wuchs.65 Seit den 1970er Jahren ist eine wachsende Islamisierung der marokkanischen Gesellschaft festzustellen. In den 1960er Jahren begann das Königshaus die islamistische Bewegung zu unterstützen, um der sozialistischen Nationalbewegung und der Studentenbewegung, die vom ägyptischen „Nasserismus“ („Pan-Arabismus“) und dem „Marxist-Leninismus“ inspiriert war, entgegenzuwirken.66

60 Vgl. Howe 2005, S. 127. 61 Vgl. Albrecht, Holger/ Wegner, Eva: „Autocrats and Islamists. Contenders and containment in Egypt and Morocco“, in: The Journal of North African Studies, 11 (2) 2006, S. 123-141, S. 126. 62 Vgl. Sater 2010, S. 41. 63 Die Bewegung ist zwar seit 1990 offiziell verboten, aber mittlerweile geduldet. Ihre Anhängerschaft reicht von Schülern und Studenten über Beamte bis zu arbeitslosen jungen Männern und Frauen. Vgl. Munson 1993, S. 173f. 64 Vgl. Zeghal 2008, S. 170. 65 Vgl. Tessler 2000, S. 112. 66 Vgl. Howe 2005, S. 126.

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Nach der Niederschlagung studentischer Revolten in den sogenannten „Bleijahren“ (années de plomb), gewann die islamistische Opposition zunehmend an Bedeutung, was Hassan II. jedoch missfiel. Um die islamistische Bewegung zu schwächen, lancierte der König die gesellschaftliche Islamisierung ‚von oben‘. Die Implementierung einer (öffentlichen) islamischen Moral war die Folge. Rigide Einschränkungen in der Sexualmoral außerhalb der Ehe und Kontrollen, ob die Jugend auch im Ramadan faste, setzen ein. „Die Jugend wurde immer stärker zum Feind und jede Form von Intellektualität als Gefährdung von Gesetz und Ordnung beurteilt“.67 Bis heute sehen sich Jugendliche von Staatsseite mit Repression und Marginalisierung konfrontiert. Am 6. März 2003 wurden zwölf Death Metal-Musiker (im Alter zwischen 22 und 35 Jahren) sowie der Besitzer des Cafés, in dem sie probten, in Casablanca verhaftet. Die Anklage lautete: Satanismus und Erschütterung des muslimischen Glaubens sowie der öffentlichen Ordnung.68 Es folgten Proteste in Casablanca und Rabat. Vor dem Gericht in Casablanca wurden Sit-Ins abgehalten, an denen aus Solidarität mit den Jugendlichen 4.000 bis 5.000 Menschen teilnahmen. Es wurde auch eine Petition für die Freilassung der Jugendlichen eingereicht, denen bis zu drei Jahre währende Gefängnisstrafen drohten. Vier Wochen später wurden die Jugendlichen freigelassen und man vermutet, dass König Mohammed VI. sich persönlich für die Freisprechung der Jugendlichen eingesetzt hatte.69 Auch in Ägypten hat es 1997 eine ähnliche Anschuldigung gegeben, berichtet Bayat, woraufhin Dutzende Jugendliche arretiert wurden.70 Laut der marokkanischen Journalistin Maria Daïf handelte es sich dabei um eine Islamisierung des Systems, in einem Staat, der „verrückt geworden war“,71 denn die Berichterstattungen, in denen diese Jugendliche dämonisiert worden waren, gingen von „At-Tajdid“, einer der islamistischen Partei „Parti de la Justice et du Développement“ (PJD) nahestehen-

67 Vgl. Gertel 2014, S. 152. 68 Vgl. ebd., S. 155. 69 Hegasy, Sonja: „Young authority. Quantitative and qualitative insights into youth, youth culture, and state power in contemporary Morocco“, in: The Journal of North African Studies, 12 (1) 2007b, S. 19-36, S. 29. 70 Vgl. Bayat 2011, S. 61. 71 Übers. d. Verfasserin. Vgl. Daïf, Maria: „Affaire des ‚satanistes‘, le rock et la barre“, in: TelQuel (107) 2003.

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den Zeitung, aus.72 Für die deutsche Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy handelte es sich hierbei um einen Konflikt zwischen einer globalisierten Jugend und einer monopolistischen Staatskultur.73 Als Konsequenz dieser Auseinandersetzung entstand eine gesellschaftliche Debatte um die urbane Jugendkultur, deren Musikgeschmack und die wachsende ‚Verwestlichung‘ der autochthonen Kultur. Diese Debatte fand jedoch ein jähes Ende als am 16. Mai 2003 fünf gleichzeitig ausgeführte Suizidattentate auf Hotels, Restaurants und einen jüdischen Friedhof in Casablanca von vierzehn Jugendlichen aus dem ‚Elendsviertel‘ Sidi Moumen, verübt wurden.74 Es heißt, die Jugendlichen seien von der marokkanischen Organisation „As-Sira al-Mustaqim“ („Der rechte Weg“) rekrutiert worden, einem Ableger der islamistischen Organisation „AsSalafiya al-Jihadia“, die mit „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ (AQIM) in Verbindung gebracht wird.75 Der Anschlag hinterließ einen tiefen Schock in der Gesellschaft, die so etwas in Marokko nicht für möglich gehalten hätte. Gertel berichtet von einem tiefen Bruch, der sich in der Gesellschaft abzeichnete, und von einer Herauslösung der urbanen Jugend aus der Gesellschaft.76 Die Attentate zogen nicht nur staatliche Repressionen, zahlreiche Verhaftungen und ein strenges Anti-Terrorgesetz nach sich, sondern führten auch zu einem Generalverdacht gegenüber Islamisten.77 Nach den Anschlägen gingen fast eine halbe Million Marokkaner auf die Straße, um für ein friedliches Zusammenleben zu demonstrieren und gegen den Terror und die Politisierung ihrer Religion zu protestieren.78 Dabei wurde Hassan II. seitens der Presse und Teilen der Zivilgesellschaft an den Attentaten mitverantwortlich gemacht – war er

72 Vgl. ebd; vgl. Belghazi, Amine: Au Maroc, les fans de hard-rock sont des ‚sataniques‘, privés de mariage, in: Le Monde (6.05.2015); vgl. Garçon, José: „Les rabat-joie du Maroc and roll“, in: Libération (14.03.2003). 73 Vgl. Hegasy 2007b, S. 29. 74 Die Selbstmordattentate hatten insg. 44 Tote und Hunderte Verletzte zur Folge. 75 Vgl. Zeghal 2008, S. 235. Weitere Selbstmordattentate in Casablanca im März und April 2007 werden auch der AQIM zugeschrieben. Es häufen sich Nachrichten, dass Marokko von AQIM als wichtige Rekrutierungsregion betrachtet wird. 76 Vgl. Gertel 2014, S. 156. 77 Hegasy 2009, S. 274. In den Gefängnissen wurden die potentiellen Terroristen gefoltert, was von Menschenrechtsorganisationen aufs Schärfste verurteilt worden ist. Vgl. Faath 2005, S. 135. 78 Vgl. Hegasy 2008, S. 174.

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es doch, der die Entwicklung des Islamismus in der marokkanischen Gesellschaft beförderte.79 4.1.3 Die Arabisierung des Schulsystems Der Islam wurde Anfang der 1970er Jahre von König Hassan II. im Bildungssystem instrumentalisiert. Schon während der Kolonialzeit gehörte es zum Bestreben der marokkanischen Nationalisten und der islamischen Rechtsgelehrten (ʿulamāʾ), die Arabisierung und Islamisierung der marokkanischen Gesellschaft voranzutreiben.80 Dies war auch ein zentrales Anliegen Allal Al-Fassis, ein Rechtsgelehrter der islamischen Al-Qarawiyin Universität – einer der ältesten Universitäten der Welt – und Gründer der nationalistischen Unabhängigkeitspartei „Hizb al-Istiqlal“. Er war der Sohn einer einflussreichen und politisch aktiven Gelehrtenfamilie aus Fès, die bis heute zur marokkanischen Elite zählt. Sein Vater, ʿAbd al-Wahid Al-Fassi, war Mufti von Fès und Generalsekretär des ʿulamāʾ -Rates.81 Allal Al-Fassi stand ideologisch der Salafiya-Bewegung82 nahe, die während der Kolonialzeit als Gegenmodell zum westlichen Imperialismus populär wurde.

79 Vgl. Blumenthal, Hans R.: „Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Marokko. Mehr Demokratie für mehr Monarchie“, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Jahresbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung, Rabat (Dezember) 2003, S. 1. 80 Vgl. Howe 2005, S. 173. 81 Vgl. Zeghal 2008, S. 21f. 82 Die Salafiya ist eine in Ägypten entstandene, von Muhammad Abduh (1849-1905) und Rashid Rida (1865-1935) vertretene Richtung des islamischen Fundamentalismus, die zunächst als Reform-Bewegung als Reaktion gegen den Kolonialismus entstanden ist. Der Salafismus ist von den Lehren Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhābs (1703-1792), dem Begründer des sogenannten Wahhabismus, inspiriert, der, bezugnehmend auf den hanbalitischen Rechtsgelehrten Ibn Taymiyya (1263-1328), eine wörtliche Befolgung der in den islamischen Quellen niedergelegten Gebote predigte. Die Bewegung propagiert die Rückbesinnung auf die ‚wahre‘ islamische Lehre und islamische Werte, wie man sie am Ideal der ersten muslimischen Gemeinschaft (das Wort salaf bedeutet „Ahnen“ oder „Vorfahren“, womit der Prophet und seine Anhänger gemeint sind) vorzufinden glaubt, um eine für die Gegenwart angemessene soziale Ordnung zu errichten. Vgl. Elger 2006, S. 280; vgl. Zeghal 2008, S 19. Der Einzug des wahhabitischen Einflusses in Marokko ist jedoch viel früheren Datums und geht auf den Sultan Muhammad Ibn ʿAbd Allah (1757-1790) und insb. auf Sultan Moulay Suleiman (1760-1822) zurück, von dem es heißt, dass er

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Die städtischen Nationalisten waren selbst arabischstämmig und waren der nationalistischen Arabisierungspolitik aus zwei Gründen zugeneigt: zum einen, weil sie sich um eine einheitliche kulturelle Identität bemühten, um den Einfluss des europäischen Imperialismus in der Gesellschaft zu beenden, und zum anderen weil sie auf die Marginalisierung der Imazighen zielte, welche von Seiten der Kolonisatoren zum Zwecke einer spaltendenden Divide-et-Impera-Politik gesondert behandelt wurden. Im Jahr 1930 führte die Kolonialverwaltung einen sogenannten „BerberErlass“ (dahir berbère) in den amazighischen Gebieten ein, der den Imazighen eine eigenständige Justiz, basierend auf ihrer eigenen autochthonen Rechtstradition und nicht auf der Shariʿa, zugestand. Dies lief den Bestrebungen der Nationalisten zuwider, die eine einheitliche nationalstaatliche Rechtsordnung als Grundlage für einen Nationalstaat forderten.83 Das multi-ethnische Marokko sollte arabisiert werden, damit es zu einem Nationalstaat heranwachsen und dadurch leichter gegen die Usurpation der Kolonialherren mobilisiert werden konnte. Ferner sollte der skripturalistische Islam als identitätsstiftender Islam implementiert werden und damit gleichzeitig der von den Salafiya-Anhängern als häretisch angesehenen Ausübung des Sufismus, die in Marokko in Form der Heiligenverehrung (Marabutismus) insbesondere von Seiten der Imazighen praktiziert wurde, Einhalt geboten werden. Die Arabisierung und Islamisierung der Gesellschaft wurde schließlich, wie bereits angeführt, in den 1970er Jahren vom Königshaus als eine Maßnahme der Schwächung des kolonialen Einflusses und der linksorientierten frankophonen Elite des Landes initiiert und über das Bildungssystem implementiert. Es war also nicht nur ein Bestreben der salafitischen Nationalisten, sondern auch politisches Kalkül Hassans II., der säkularen und sozialistisch geprägten Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der König, der exzellentes Französisch sprach und selbst ein Jurastudium an einer französischen Universität in Rabat und später in Bordeaux absolvierte, favorisierte zu Beginn noch eine moderne Ausbildung nach französischem Vorbild, musste aber unter dem Druck der Traditionalisten nachgeben und verkündete 1978, dass eine Arabisierung (sowohl der öffentlichen als auch der

zwar in rechtlichen Angelegenheiten der malikitischen Rechtsschule folgte, seine Glaubenslehre betreffend aber der hanbalitischen Rechtsschule zugetan war. Vgl. Zeghal 2008, S. 275. 83 Vgl. Schulze 1994, S. 88.

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privaten Schulen) unumkehrbar sei.84 Die Arabisierung des Schulsystems sollte also auf lange Sicht die ideologische Basis der Linken bei der jungen Generation zerstören. Die Arabisierung des Schulsystems gestaltete sich jedoch schwieriger als zunächst erwartet, denn in Marokko existierten vor der Kolonialzeit lediglich Koranschulen, in denen die Rezitation des Korans und islamische Studien unterrichtet wurden. Ein öffentliches Schulsystem, welches eine Ausbildung nach modernen Standards anbot, wurde erst durch die französische und spanische Kolonialverwaltung in Marokko eingeführt. Für das Arabisierungsprojekt mangelte es an Schulmaterial und qualifiziertem Lehrpersonal, weshalb man auf die Einreise von arabischem Lehrpersonal, mehrheitlich aus Ägypten stammend, angewiesen war. Doch recht bald stellte sich heraus, dass die Lehrer unter den Schülern pan-arabistische Ideen verbreiteten, was der Regierung missfiel. Ebenso wie der Pan-Arabismus, war der „arabische Sozialismus“ der Baath-Partei in Syrien und Irak dem Königshaus suspekt. Dies führte zu einer Einschränkung des Kontakts zum Nahen Osten, aber auch zu Tunesien und Algerien.85 Zu einer Zeit, als im Zuge der nationalen Befreiungsbewegungen in der sogenannten arabischen Welt Monarchien zugunsten von Republiken abgeschafft wurden, fürchtete Hassan II. um seine Legitimation und wandte sich an ein anderes Königreich, das in Nassers „Pan-Arabismus“ einen ebenso großen Feind sah: Saudi-Arabien. Zwischen den beiden Königshäusern entstand ab den 1960er Jahren eine strategische Allianz, mit dem Ziel der Machtsicherung. Der saudische Staat ist für seine strikte Auslegung des Islam, den Wahhabismus, bekannt. Die wahhabitische Doktrin und die saudische Königsfamilie bilden den Kern des Staates Saudi-Arabien, einer Allianz aus religiöser und weltlicher Macht, die seit 1744 auf einem jahrhundertewährenden Pakt zwischen dem konservativen Reformer Muhammad ʿAbd al-Wahhāb86 und dem Dynastiegründer Muhammad Ibn Saud (1710-1765) des sogenannten „ersten saudischen Staates“

84 Vgl. Howe 2005, S. 174. Um seinen kulturellen Einfluss auf das ehemalige Protektorat nicht zu verlieren, schickte Frankreich weiterhin Lehrpersonal als Entwicklungshelfer nach Marokko. 85 Vgl. ebd., S. 318. 86 Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (1703-1792) ist Begründer des Wahhabismus, einer rigiden religiösen Auslegung des Islam. In seinem Buch Kitāb at-tawḥīd („Buch der Einheit“) begründete er seine Doktrin. Vgl. Encyclopaedia Britannica: „Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb“.

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beruht.87 Das marokkanische Königreich ließ nun Lehrer aus Saudi-Arabien einreisen, die ein Gegengewicht zu den ägyptischen Lehrern bilden sollten, jedoch wurde mit ihnen gleichzeitig eine wahhabitischen Lesart des Islam importiert.88 Später wurde der Wahhabismus in Form von Audiokassetten, Religionsbüchern, großzügigen monetären Zuwendungen und Predigern, die in den Schulen und Moscheen des Landes die wahhabitische Ideologie verbreiteten, nach Marokko exportiert. Die Freundschaft der beiden Monarchen wurde zudem durch die gemeinsame strategische Allianz mit den USA während des Kalten Krieges und in der ökonomischen und militärischen Unterstützung im marokkanischen Westsahara-Konflikt gefestigt.89 Die Arabisierung der Curricula führte dazu, dass zunächst Fächer wie Philosophie, Soziologie und Ethik gestrichen wurden und mit Islamkunde als obligatorisches Unterrichtsfach ersetzt wurden.90 Die Schüler wurden fortan von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II in Islamkunde unterrichtet, berichteten mir meine Interviewpartner. Bis 1980 waren alle öffentlichen Schulen arabisiert. Ab 1985 wurde auf die Universitäten Druck ausgeübt, sich zu arabisieren, aber die meisten Lehrbücher waren in französischer Sprache verfasst. Doch auch wenn für die Schulen beschlossen wurde, auf Arabisch zu lehren und Französisch in der dritten und Englisch in der vierten Klasse einzuführen, behielten Privatschulen weitestgehend Französisch oder Spanisch als Unterrichtssprache bei.91 Durch den Dualismus im Schulsystem tat sich eine Kluft zwischen den an öffentlichen und an privaten Schulen ausgebildeten Schülern auf. Nach der Unabhängigkeit Marokkos gehörte freie Bildung für alle zu den Zielen der Nationalisten, egal welcher ideologischen Couleur, aber die Qualität der Ausbildung an öffentlichen Schulen war, aufgrund des Mangels an der Ausstattung und an qualifiziertem Lehrpersonal, ungenügend. Die meisten gebildeten Marokkaner, waren Absolventen spanischer oder französischer Schulen und es bestand eine große Sorge, dass sich die Kluft zwischen der französischsprechenden Elite und der

87 Vgl. Fürtig, Henner: „Historisch gewachsene Symbiose. Das Haus Saud und die Wahhabiyya“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (5.11.2014). 88 Vgl. Howe 2005, S. 173 89 Vgl. ebd., S. 126. 90 Vgl. ebd., S. 318. 91 Vgl. ebd., S. 174f.

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arabisch-geschulten Masse noch weiter vertiefte.92 Die Hochschulen behielten Französisch als Unterrichtssprache bei, insbesondere in den Fachbereichen Mathematik, Medizin, Ingenieurwissenschaften, Geisteswissenschaften, Recht und Wirtschaft.93 Bald wurde Kritik an der Zweiteilung des Schulsystems laut, denn Absolventen öffentlicher Schulen fühlten sich nicht ausreichend auf die Universitätskurse vorbereitet und hatten Schwierigkeiten, dem Universitätsunterricht, der weitestgehend auf Französisch gehalten wurde, zu folgen.94 Dadurch sind all diejenigen, die Französischunterricht erst ab der dritten Klasse erhielten, sowohl im Universitätssystem als auch auf dem Arbeitsmarkt von vornherein benachteiligt. In Marokko ist Arabisch zwar die Nationalsprache, aber die Amtssprache ist weiterhin Französisch und diejenigen, die der Sprache nicht oder nur ungenügend mächtig sind, haben kaum eine Aussicht auf eine gute berufliche Perspektive. Hassan II. soll selbst einmal gesagt haben, dass derjenige, der nur eine Sprache spräche, ein Analphabet sei.95 Mir wurde von mehreren Interviewpartnern berichtet, über den König sei bekannt gewesen, dass er die Entstehung einer ‚kritischen Masse‘ zu verhindern suchte, weshalb sogar darüber spekuliert wurde, ob er nicht absichtlich den Prozess der Alphabetisierung hemmte. Der marokkanische Journalist Benchemsi äußerte sich sogar dahingehend, dass „[d]er verstorbene König […] die Jugend als Feind, die Intelligenz als Bedrohung und die Kultur als Gefahr“96 betrachtete. 2003 wurde unter dem neuen König Mohammed VI. eine Universitätsreform vorgenommen, um Studierende auf die sprachlichen Anforderungen an den Universitäten in einem speziellen Vorbereitungskurs heranzuführen. Der Kurs sollte zu einer Verbesserung ihrer Ausdrucks- und Schreibfähigkeit im Französischen beitragen, ihre Selbstständigkeit fördern und sie generell auf die universitären Anforderungen vorbereiten. Allerdings hat sich dieses Vorhaben weitestgehend als unrealisierbar herausgestellt und viele Studierende brechen ihr Studium vorzeitig ab.97

92 Vgl. ebd. 93 Vgl. Amargui, Lahcen: „L’einseignement de la langue française à l’université marocaine“, in: Le français aujourd’hui, 3 (154) 2006, S. 77-81, S. 77. 94 Vgl. Howe 2005, S. 175. 95 Vgl. ebd. 96 Benchemsi, Ahmed Reda: „Dernier mot. La faute à Hassan“, in: TelQuel (148) 2004. Übers. d. Verfasserin. 97 Vgl. Amargui 2006, S. 80.

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Die Folgen dieser Bildungspolitik sind auch im Bereich des Islamunterrichts gravierend, da er eine eindeutig wahhabitische Prägung hat: Der marokkanische Soziologe Mohamed El Ayadi analysierte neun Schulbücher der Fächer Islamische Erziehung, Arabische Sprache und Literatur des Schuljahres 1995/6 und stellte fest, dass „the religious discourse in school is not a simple presentation of religious dogma but an idealization of a religion […], by means of an appeal to glorification and apologetics“.98 In Abgrenzung zum Kapitalismus und Kommunismus wurde in den Schulbüchern das islamische System als das Erstrebenswerteste angepriesen, wobei auf Doktrinen einflussreicher Salafisten, wie Sayyid Qutb und Mawlana Mawdudi, rekurriert wurde. Ebenso konnte El Ayadi feststellen, dass in den Schulbüchern inhaltlich viel Wert auf die Vermittlung traditioneller und religiöser Werte sowie die traditionelle Geschlechterordnung gelegt wurde.99 Eine aktuelle Debatte, die Ende 2016 entstand, verdeutlicht die Konsequenzen der Islamisierung des Schulsystems in den 1970er Jahren. Die marokkanische Vereinigung der Philosophielehrer „Association marocaine des enseignants de philosophie“ (AMEP) veranstaltete vom 21. bis 23. Dezember 2016 landesweit Sit-Ins an Gymnasien. Diese wurden zum Zeichen des Protestes gegen ein islamisches Schulbuch für die erste Klasse abgehalten, in dem das Fach Philosophie als ‚unislamisch‘ diffamiert wird. „Wir haben längst geglaubt, dass der Hass der Regierung gegen die Philosophie vergangen sei, aber wir sind zehn Jahrhunderte zurückgefallen“, schilderte ein Philosophielehrer der Zeitung „Le Monde“ im Interview.100 Das Lehrbuch führt eine Unterteilung der Schulfächer in haram (verboten) und halal (erlaubt), wobei das Fach Philosophie als haram klassifiziert wurde. Jeder, der sich mit Philosophie beschäftige, sei kein Anhänger Mohammeds, sondern ein Satanist, heißt es darin. AMEP sah darin eine wahhabitische Beeinflussung der Schüler und setzte sich aus diesem Grund für die Einstellung des Verkaufs und der Verwendung des Schulbuchs ein.101

98

El Ayadi, Mohamed: „La jeunesse et l’Islam. Tentative d’analyse d’un habitus religieux cultivé“, in: Ders./ Bourqia, Rahma/ El Harras, Mokhtar/ Rachik, Hassan (Hg.): Les jeunes et les valeurs religieuses, Casablanca 2000, S. 87-165, S. 117.

99

Vgl. ebd., S. 133.

100 Vgl. Kadiri, Ghalia: „Au Maroc, un manuel scolaire affirme que la philosophie est ‚contraire à l‘islam‘“, in: Le Monde (27.12.2016). Übers. d. Verfasserin. 101 Vgl. Drira, Chayma: „Maroc. Les manuels d’éducation islamique créent encore la controverse“, in: Jeune Afrique (22.12.2016).

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Darauf wurde man erst aufmerksam als der König im Februar 2016 eine Revision der Schulbücher des Faches Islamische Erziehung forderte, um deren Inhalte an die seit den Anschlägen auf Casablanca eingeführte neue Religionspolitik des Landes anzupassen. Der Bildungsminister kündigte im Juni 2016 eine Revision von 147 islamischen Schulbüchern an, deren Inhalte vom Ministerium als ‚sexistisch‘ und ‚rückwärtsgewandt‘ klassifiziert wurden.102 Die Arabisierung und Islamisierung des Schulsystems und die Allianz mit dem saudischen Königshaus unter König Hassan II. hat zur Entstehung unzähliger islamistischer und zum Teil extremistischer Gruppierungen beigetragen, die wiederholt auch auf marokkanischem Territorium Anschläge verübt haben. Mehrheitlich rekrutieren diese Gruppen Jugendliche aus benachteiligten Vierteln marokkanischer Großstädte.103 Mit Hilfe des ‚Petrodollars‘ exportieren die Saudis ihre strikte Auslegung des Islam als Dogma in die gesamte Welt und unterstützen radikale Gruppierungen weltweit.104 Für die Entstehung und Radikalisierung islamistischer Organisationen wurde Hassans II. Allianz mit Saudi-Arabien und dessen Umgang mit Islamisten zunehmend mitverantwortlich gemacht, weil er diese seit den 1960er Jahren zunächst als Gegenpol zu linken und nationalistischen Kräften instrumentalisierte, mit ihnen aber in den folgenden Jahrzehnten repressiv umging und ihnen wirkliche politische Partizipation verwehrte. Sein Nachfolger Mohammed VI. setzte diese Politik fort, kooptierte die Islamisten jedoch, insbesondere nach den Attentaten von Casablanca. Nach den Anschlägen herrschte in Marokko ein Klima der Angst und der Repression gegen alle islamistischen Gruppierungen, sodass sich die islamistische Partei „Parti de la Justice et du Développement“ (PJD) auf viele Kompromisse einlassen musste.105 Seither präsentiert sie sich als moderate islamistische Partei, die die Mo-

102 Vgl. Oudrhiri, Kaouthar: „Un manuel d’éducation islamique pousse les enseignantes de philosophie à manifester“in: TelQuel (20.12.2016). 103 Vgl. Blumenthal 2003, S. 2. 104 Auch in Deutschland finanziert Saudi-Arabien die Salafistenszene. Vgl. Anonymus: „Deutschland geht gegen radikale Saudi-Moscheen vor“, in: Deutsche Wirtschaftsnachrichten (16.11.2016); vgl. Pick, Ulrich: „Fromm, unauffällig- und gefährlich?“, in: Deutschlandfunk (3.08.2016). 105 Vgl. Hegasy, Sonja: „,Vierzehn Kilometer‘ vor Europa. Islam und Globalisierung in Marokko“, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Was glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, S. 174.

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narchie nicht infrage stellt und ihr Religionsverständnis an die Anforderungen einer zeitgemäßen Auslegung des Islam anpasst.106 Die steigende Popularität der Islamisten hängt außerdem zum einen mit der sozialen Ungleichheit, Armut und hoher Arbeitslosigkeit zusammen und zum anderen damit, dass Islamisten mit ihren sittlich-moralischen Vorstellungen näher an den Einstellungen der wertkonservativen marokkanischen Gesellschaft sind als die westlich orientierte Elite.107 Zudem ist der marokkanische Staat seit den 1970er Jahren in einem beschleunigten Übergang von einer einst auf feudalen Strukturen und Clansystemen beruhenden Ordnung hin zu einer liberaleren, auf Modernisierung ausgerichteten, funktional differenzierten Gesellschaft. Dies hatte zur Folge, dass sich seit den 1980er Jahren als Reaktion darauf von islamistischer Seite Widerstand regte. In der marokkanischen Gesellschaft lässt sich seit Ende der 1970er Jahre ein Prozess der Islamisierung und Retraditionalisierung (Revitalisierung) feststellen. Dies kann als eine Reaktion auf die Krise von traditionellen Strukturen verstanden werden.108 Vor allem aber stellt die Retraditionalisierung eine Reaktion „auf die Konfrontation mit der Moderne“109 dar, bei der bewusst eine Erfindung oder Verklärung von altehrwürdigen Traditionen vorgenommen wird, um der Gesellschaft ihre Dekadenz vorzuhalten und die kulturelle Identität aufrechtzuerhalten. Demnach ist die Retraditionalisierung selbst nichts anderes als ein „Produkt der Moderne“.110 Die Islamisierung der marokkanischen Gesellschaft schreitet auch deshalb voran, weil eine islamistische Regierungspartei, die „Parti de la Justice et du Développement“ (PJD), seit 2011 die Politik des Landes bestimmt. Zahlreiche Ministerposten (darunter u. a. die Familien-, Justiz- und Bildungsminister) werden von Mitgliedern dieser Partei besetzt. Der ehemalige Premierminister der letzten Legislaturperiode (2011-2017), Abdellilah Benkirane, war in den 1980er Jahren ein Anführer der oben erwähnten islamistischen Jugendorganisation „Chabiba al-Islamiya“. 1996

106 Vgl. Werenfels, Isabelle: „Zähmung der Islamisten durch Einbindung ins politische Leben. Erfahrungen mit islamistischen Parteien im Maghreb“, in: Neue Zürcher Zeitung (21.03.2006). 107 Vgl. Steinberg, Guido/ Werenfels, Isabelle: „Al-Qaida im Maghreb. Trittbrettfahrer oder neue Bedrohung?“ in: SWP-Aktuell, (Februar) 2007, S. 1-8, S. 5; vgl. Howe 2000, S. 66. 108 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 158. 109 Kohl 2000, S. 25 110 Ebd.

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gründete er mit seinem Freund, Ahmed Raïssouni, die karitative Organisation „Bewegung der Vereinigung und der Reform“ („Mouvement de l'unicité et de la réforme“ (MUR)), mit dem Ziel, daraus eine politische Partei zu machen.111 Obwohl das Königshaus dem Wunsch der Parteigründung nicht nachkam, erlaubte es ihnen, mit bestehenden politischen Parteien zu fusionieren. Dies taten sie im Jahr 1997 mit der seit 1967 bestehenden, aber inaktiven kleinen Partei „Mouvement Populaire Constitutionnel et Démocratique“ (MPCD). Seit 2002 hat sie sich zur „Parti de la Justice et du Développement“ (PJD) („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) umbenannt. Sie beschreibt sich selbst als gemäßigt islamistisch und zu ihren politischen Vorbildern zählt die türkische AKP.112 Die PJD ging nicht nur bei den Parlamentswahlen von 2011 als stärkste Partei hervor und wurde zur Regierungspartei,113 sondern erhielt auch bei den letzten Parlamentswahlen am 7. Oktober 2016 erneut die Stimmenmehrheit. Aufgrund von parteiinternen und -externen Uneinigkeiten kam zunächst jedoch keine Regierungskoalition zustande. Erst am 25. März 2017 wurde die neue Regierung gebildet, die sich aus den Parteien PJD, der liberalen „Mouvement Populaire“ (MP), den sozialistischen Parteien „Parti du Progrès et du Socialisme“ (PPS) und „Union Socialiste des Forces Populaires“ (USFP) sowie den kleinen Parteien „Rassemblement National des Indépendants“ (RNI) und „Union Constitutionelle“ (UC) zusammensetzt. Die seit den 1970er Jahren andauernde und zunehmende Islamisierung der marokkanischen Gesellschaft, insbesondere der Jugendlichen mit sozial schwachem Hintergrund, trägt ebenfalls dazu bei, dass sich orthodoxe Vorstellungen über Themen, wie den Körper der Frau, die Sexualität und generell rigidere Geschlechternormen etabliert haben, die der marokkanischen Kultur eigentlich fremd sind. In Marokko herrscht heute ein Klima, in dem eine buchstabengetreue Auslegung des Islam, gepaart mit dem von Hassan II. oktroyierten Obskurantismus, sukzessive an Einfluss gewinnt. Diese Entwicklung erschwert den Einsatz von Menschen- und Frauenrechtlern für die Rechte von Frauen und Jugendlichen, aber auch von Minderheiten, wie Homosexuellen, Transgender, alleinstehenden Müttern und deren

111 Vgl. Howe 2005, S. 128. Die MUR selbst war ein Zusammenschluss zweier islamistischer Organisationen: der „Reform und Erneuerung“ („Al-Islah wa al-Tajdid“) und der „Zusammenkunft für die islamische Zukunft“ („Rabiata al-Mustaqbal al-Islami“). Vgl. Albrecht/ Wegner 2006, S. 126. 112 Vgl. Werenfels 2006. 113 Die Partei bildete zusammen mit der „Istiqlal“, der „Mouvement Populaire“ (MP) und der „Parti du Progrès et du Socialisme“ (PPS) die Regierungskoalition.

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Kindern. Eine Retraditionalisierung der Gesellschaft lässt sich auch in den Städten und bei der jungen Bevölkerung beobachten. Davon zeugt auch die Studie von El Ayadi, Bourqia, El Harras und Rachik aus dem Jahr 2000, in der es heißt, dass religiöse Werte und Praktiken für Jugendliche heute einen höheren Stellenwert haben als noch in den 1960ern.114 Das Gleiche schilderte mir mein Gastvater, als er von der offenen Atmosphäre in Rabat und auf dem Universitätscampus berichtete, wo Männer und Frauen so etwas wie eine Gleichstellung genießen konnten. Islamische Kleiderordnungen durchziehen inzwischen zunehmend das Stadtbild im urbanen Raum. Dass Frauen sich in den 1970er Jahren – ähnlich wie im prärevolutionären Iran – an westlicher Mode orientierten und es nichts Ungewöhnliches war, wenn sie Miniröcke oder am Strand Bikinis trugen und ganz selbstverständlich mit Männern in Cafés saßen, rauchten und die sexuelle Befreiung diskutierten,115 ist angesichts des Status quo schwer vorstellbar. Während Frauen sich früher zum Beispiel – wenn überhaupt – erst nach der Ehe verschleierten, ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass zunehmend junge ledige Frauen einen Hijab tragen. Auch zwei meiner Interviewpartnerinnen, die zum Zeitpunkt der Feldforschung keinen Schleier trugen, tragen ihn nun, obwohl sie nicht verheiratet sind. Auch wenn das Tragen eines Hijabs von einigen Frauen als ein Mittel betrachtet wird, um sich halbwegs frei in der Öffentlichkeit bewegen zu können, d.h. um sich vor sexuellen Belästigungen zu schützen, kann er – nicht nur wegen seiner Ineffizienz in dieser Hinsicht – auch als ein Ausdruck von zunehmendem Konservatismus in der Bevölkerung betrachtet werden. Für Abdessamad Dialmy ist er ein Symbol der Islamisierungsbewegung, die sich in der Gesellschaft zunächst über den weiblichen Körper manifestiere: „[T]he movement of Islamization of Arab society begins initially with the Islamization of the woman’s body through the veil.“116 Heute kann das Tragen von Miniröcken gefährlich für Frauen in Marokko sein und das nicht nur in besonders konservativen ländlichen Regionen, sondern in Touristenhochburgen wie in der Stadt Agadir, im Süden Marokkos. Dort wurden im Juni 2015 zwei junge Frauen im Alter von 19 und 23 Jahren auf dem Souk (Markt) von der Polizei festgenommen, weil sie Miniröcke trugen. Die Beamten wurden von einer wütenden Menschenmenge informiert, die die Kleidung der Frauen als Provokation auffasste und sie bei deren Eintreffen einkesselte und beschimpfte. Ihnen drohte eine Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren für die „Erregung öffentlichen

114 Vgl. El Ayadi 2000, S. 130. 115 Vgl. Benchemsi 2004. 116 Dialmy 2005, S. 17.

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Ärgernisses und des Angriffs auf die islamischen Sitten“.117 Kurz darauf breitete sich eine Welle der Solidarität über die sozialen Online-Netzwerke aus, in denen Männer und Frauen Fotos von sich in Miniröcken auf ihren Profilen mit dem Hashtag #mettreunerobenestpasuncrime („das Tragen eines Kleides ist kein Verbrechen“) veröffentlichten. Diese Mobilisierung im Internet führte dazu, dass insgesamt etwa 18.000 Unterschriften für eine Online-Petition, in der die Freilassung der beiden Frauen gefordert wurde, gesammelt werden konnten. Landesweit wurden in Agadir, Casablanca und Rabat Solidaritätsdemonstrationen veranstaltet, bei denen viele Frauen und auch einige Männer Miniröcke trugen oder diese demonstrativ in die Luft hielten.118 Diese Solidaritätsmobilisierung führte schließlich zur Freilassung der beiden Frauen im Juli 2015.119 Darüber hinaus wird zunehmend auch die Freizügigkeit an Badestränden angeprangert. Im Jahr 2016 berichteten verschiedene nationale und internationale Medien darüber, dass Frauen in Bikinis oder Badeanzügen an marokkanischen Stränden entweder auf ihre unsittliche Bekleidung hingewiesen, beleidigt oder eingeschüchtert wurden. Dies ging sogar so weit, dass in einer inzwischen gesperrten FacebookGruppe heimlich aufgenommene Fotos von Frauen in Badekleidung exponiert und deren Trägerinnen öffentlich diffamiert wurden.120 Die voranschreitende Islamisierung der marokkanischen Gesellschaft wird heute mit Besorgnis vom Königshaus betrachtet, zu deren politischer Legitimation die Instrumentalisierung und Zentralisierung des Islam gehört. Als „Führer der Gläubigen“ (ʿamir al-mou’minine) möchte der König das Monopol über die Religion behalten und stellt immer wieder die Besonderheit der marokkanischen Lesart des Islam heraus. Er bemüht sich seit den Terroranschlägen in Casablanca (2003) um die Etablierung eines moderaten marokkanischen Islam malikitischer und sufitischer Prägung. Die Betonung eines toleranten Islam, als ein wichtiger Pfeiler der marokkanischen Identität, ist als eine Deradikalisierungsmaßnahme nach den Anschlägen von Casablanca zu verstehen. In der Folge wurden viele Islamisten und Salafisten inhaftiert und ein strenges Anti-Terror-Gesetz erlassen, welches 2014, im

117 Artikel 483 des Strafgesetzbuchs (Code Pénal). 118 Dancourt, Anne-Charlotte: „Les Marocaines défendent le droit à la minijupe“, in: Cheekmagazine.fr (30.06.2015). 119 Anonymus: „Affaire de la jupe. Les deux jeunes filles d’Inezgane acquittées“, in: PanoraPost.com (13.07.2015). 120 Vgl. Hamidou, Anne: „Burkini en France, bikini au Maroc. Même combat!“, in: Le Monde (26.08.2016).

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Zusammenhang mit der Rekrutierung marokkanischer Jihadisten für den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS), noch verschärft worden ist.121 Der König ordnete dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten (Ministère des habous et des affaires islamiques), welchem er selbst vorsteht, die Überwachung des Inhalts der Freitagspredigten von 30.000 Moscheen an. Der seit 2002 amtshabende Minister für religiöse Angelegenheiten, Ahmed Taoufiq, gehört der Sufi-Bruderschaft „Qadiriyya Bouchichiya“ an und versucht, einen liberalen Islam marokkanischer Prägung zu implementieren.122 Die Besetzung dieses Amtes mit einem Sufi kann als ein weiteres Beispiel der Bemühung des Königs um die Etablierung eines auf Toleranz basierten Islamverständnissen in Marokko verstanden werden. Das Bestreben, dem Islamismus eine friedliche und apolitische Form des Islam entgegenzusetzen, scheint sich bereits rentiert zu haben, denn laut mehreren Studien haben sich viele Jugendliche dem Sufismus zugewandt.123 Darüber hinaus hat dieses Ministerium im Jahr 2005 einen neuen Studiengang an der Theologischen Fakultät „Dar-al-Hadith al-Hassania“ in Rabat geschaffen, der weibliche Theologinnen (mourchidat) – auch ‚weibliche Imame‘ genannt – ausbildet. Sie vertreten gemeinsam mit 150 ausgebildeten jungen Imamen die neue Religionspolitik des Landes und sollen auf diese Weise radikalen islamistischen Ideologien und Strömungen Einhalt gebieten.124 Des Weiteren soll die Etablierung eines religiösen Radiosenders, „Radio Darul Qur’an“ („Radio Heiliger Koran“), im Jahr 2004 und eines staatlichen ReligionsFernsehkanals, „Assadissa“, im Jahr 2005 ebenfalls ein auf Toleranz und Pluralismus basierendes Religionsverständnis fördern.125 Darüber hinaus ließ König Mo-

121 Vgl. Mawassi, Lahcen: „Morocco toughens anti-terror law“, in: Magharebia (12.11.2014). 122 Sein Vorgänger tolerierte die Verbreitung des wahhabitischen Islam im Königreich. Taoufiq hingegen möchte die Ausbreitung des Wahhabismus eindämmen. Zu seinen Methoden gehören u. a. die Schließung von illegalen Gebetsräumen und das Verkaufsverbot von Audiokassetten mit Hasspredigten. Vgl. Zuber, Helene: „The quiet revolution. Morocco’s king aims to build a modern Islamic democracy“, in: Spiegel Online (9.01.2006). 123 Vgl. Bekkaou/ Larémont 2011; Ghambou 2009; Habboush 2009. 124 Vgl. Sadiqi 2010, S. 318. Die mourchidat nehmen, mit Ausnahme der Leitung des Freitagsgebets, die gleichen Aufgaben wahr, wie ihre männlichen Kollegen. 125 Vgl. Werenfels, Isabelle: „Vom Umgang mit Islamisten im Maghreb. Zwischen Einbindung und Unterdrückung“, in: SWP-Studie, Berlin (Dezember) 2005, S. 1-33, S. 15.

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hammed VI. in der neuen Verfassung von 2011 festschreiben, dass nur der „Hohe Rat der religiösen Rechtsgelehrten“ („Conseil supérieur des Oulémas“) die einzige religiöse Institution darstellt, die als Repräsentantin des offiziellen Islam in Marokko fungiert und die befähigt ist, religiöse Rechtsgutachten (fatwa) auszustellen.126 Diesem Rat sitzt er selbst vor und behält damit den religiösen Bereich in seiner Macht. Im Januar 2017 entschied sich die Regierung für eine weitere Maßnahme gegen den wahhabitischen ‚Islam-Import‘: Das Innenministerium verbot die Produktion und den Verkauf der Burka und begründete es damit, dass dies als ein Sicherheitsproblem identifiziert worden sei.127

4.2 DIE BILDUNGSSITUATION DER FRAUEN Im Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums aus dem Jahr 2015 liegt Marokko weit abgeschieden auf Platz 139 von insg. 145 Plätzen. In diesem Bericht wird jährlich die Geschlechtergleichstellung der Länder in Bezug auf die Kategorien Bildung, Gesundheit, wirtschaftliche und politische Partizipation von Frauen ermittelt und international verglichen. Arabische Staaten bilden beim Gender Gap Index fast ausnahmslos das Schlusslicht. Für das schlechte Abschneiden Marokkos können die rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung und Exklusion von Frauen aus dem Politik- und Bildungsbereich – mehr als die Hälfte der Frauen sind Analphabetinnen (52,6%) – und dem Arbeitsmarkt verantwortlich gemacht werden. Größere Defizite verzeichnen lediglich Jordanien, der Iran, der Tschad, Syrien, Pakistan und der Jemen.128 Dieses Ergebnis ist ein Indiz dafür, dass Marokko trotz relativ progressiver, auf Parität ausgerichteter Gesetzgebung im Vergleich zu anderen muslimisch geprägten Ländern noch weit von realer Gleichstellung der Geschlechter entfernt ist. 4.2.1 Frauen und Bildung in Geschichte und Gegenwart Bildung und die Erwerbstätigkeit von Frauen sind entscheidend für gesellschaftlichen Wandel und den Demokratisierungsprozess. Bildung von Frauen hat ebenso 126 Vgl. La Constitution 2011, Artikel 41. 127 Anonymus: „Morocco bans the sale and production of the burka“, in: BBC-Online (10.01.2017). 128 Vgl. World Economic Forum: The Global Gender Gap Report 2015.

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einen starken Einfluss auf die demographische Entwicklung des Landes. Durch längere Ausbildungszeiten hat sich das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen erhöht. Das beweisen Zahlen zum Heiratsalter derer, die keine Schulbildung hatten und derer, die eine Schulbildung genossen. Dabei reicht schon der Besuch einer Grundschule aus, dass sich das Heiratsalter von Frauen nach hinten verschiebt. Darüber hinaus wirkt sich der Schulbesuch auch auf die Anzahl der Kinder aus, die sie gebären.129 Dies ist ein Nebeneffekt des späteren Eheeintrittsalters, denn die Zeit der Reproduktion wird dadurch entsprechend verkürzt, und der damit einhergehende Geburtenrückgang wird in Zukunft positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes haben.130 Dies ist besonders in einer Gesellschaft von Bedeutung, in der Frauen traditionell sehr früh verheiratet wurden. Die marokkanische Familie hat sich in den letzten Jahrzehnten, wegen moderner Verhütungsmethoden und staatlicher Kampagnen für die Geburtenkontrolle, von der Großfamilie zur Nuklearfamilie, mit ein bis zwei Kindern pro Einheit, entwickelt.131 Heute existieren Klein- und Patchworkfamilien sowie Familien mit alleinerziehenden Müttern.132 Der Bildung kommt eine Schlüsselfunktion in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung und die Emanzipation von Frauen zu. Sie sind dank des Bildungszugangs nicht nur gebildeter, sondern auch unabhängiger geworden und können dank der einhergehenden besseren Verdienstmöglichkeiten finanziell für sich selbst sorgen. Finanzielle Unabhängigkeit ist ein weiterer Faktor, der für die Gleichberechtigung der Geschlechter und für die Wahrung individueller Freiheiten entscheidend ist.133 Die Erwerbstätigkeit von Frauen bildet die Grundlage für ihre Emanzipation, da dies mit einer finanziellen Unabhängigkeit von ihren Familien bzw. von ihren Ehemännern einhergeht. Malika Benradi äußerte sich dazu folgendermaßen im Interview: „Eine finanziell unabhängige Frau ist eine mündige Frau. Sie wird im Falle einer Scheidung wohl kaum zu ihren Eltern zurückgehen. Sie wird auch nicht

129 Vgl. Boudarbat/ Ajbilou 2007, S. 21. 130 Vgl. Courbage 2011, S. 79. 131 Bis in die 1960er Jahre hinein lag die durchschnittliche Anzahl von Kindern in einer marokkanischen Familie bei sieben bis acht Kindern. Vgl. Muños, Gema Martin: „Arab youth today. The generation gap, identity crisis and democratic deficit“, in: Meijer, Roel (Hg.): Alienation or integration of Arab youth. Between family, state and street, Richmond 2000, S. 17-26, S. 18. 132 Vgl. Bourqia 2010, S. 110. 133 Vgl. Boix, Carles: Democracy and redistribution, Cambridge 2003, S. 3.

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dazu geneigt sein, eher eine Zweitfrau zu akzeptieren, anstatt sich scheiden zu lassen, nur aus Angst, nicht zu wissen, wohin sie gehen kann.“134 Außerdem trägt die bessere Bildung der Frauen zu einer Destabilisierung bzw. einer Transformation von Machbeziehungen innerhalb der Familie bei.135 Durch Bildung können nicht nur genderbasierte Stereotype, wie z. B. die Dominanz der Männer über die Frauen, hinterfragt und beseitigt werden. Frauen erhalten darüber hinaus Informationen über ihre Rechte sowie mehr Mitsprache und Mitbestimmung am gesellschaftlichen Leben. Der Zugang zur Bildung ermöglicht den Frauen somit geistige und finanzielle Unabhängigkeit. Die Bildung von Frauen spielte eine maßgebliche Rolle für die Emanzipationsbewegung. Malika Al-Fassi, die Symbolfigur der Unabhängigkeitsbewegung, hatte bereits 1935 im Alter von fünfzehn Jahren einen Artikel in der Zeitung „AlMaghreb Revue“ unter dem Pseudonym „El-Fatate“ verfasst, in der sie sich – wie Allal Al-Fassi – für das Recht auf Bildung für Frauen aussprach.136 Diese blieb jedoch zunächst nur den gehobenen Schichten vorbehalten.137 In den 1930er Jahren entstanden in Fès, Rabat und Casablanca moderne Schulen für Mädchen aus städtischen Eliten.138 Mit der Unabhängigkeit nahm der Wunsch nach Bildung von vielen Marokkanern und Marokkanerinnen zu. Im Jahr der Unabhängigkeit besuchten annähernd 112.000 Mädchen die Schule, in den Jahren 1961/62 hatte sich die Zahl mit 235.000 Schülerinnen sogar mehr als verdoppelt. Die allgemeine Schulpflicht wurde in Marokko im Jahr 1963 eingeführt. Das größte Problem lag in der nur langsam fortschreitenden Alphabetisierung der Bevölkerung, insbesondere der weiblichen. Die Regierung ist sich darüber im Klaren, dass der Analphabetismus die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Marokko bremst und dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht ohne die Bildung von Frauen, die noch in den 1960er Jahren mit 96% nicht lesen und schreiben konnten, erreicht werden kann. Aus diesem Grund

134 Interview am 3.07.2013 in Rabat. 135 Vgl. Courbage 2011, S. 80. 136 Vgl. Moket, Soraya: Politische Partizipation marokkanischer Frauen am Demokratisierungsprozess Marokkos, Frankfurt am Main [u. a.] 2007, S. 138. 137 Alle Prinzessinnen genossen eine gute Ausbildung durch Privatunterricht nach modernen Standards der damaligen Zeit. Vgl. Daoud 1996, S. 245. 138 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 398; vgl. Sadiqi 2003, S. 21.

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wurden in den letzten zehn Jahren staatliche Alphabetisierungskurse initiiert,139 mit dem Resultat, dass die Analphabetenrate von Frauen von ehemals 96% im Jahr 1960 auf 52,6% im Jahr 2012 gesunken ist.140 Die Alphabetisierung der Bevölkerung stellt die Grundvoraussetzung für sozialen Wandel dar. Dies gilt umso mehr für Frauen, da sie mehrheitlich von Analphabetismus betroffen sind. Erst wenn sie lesen und schreiben können, können sie sich ihrer Rechte gewahr werden und diese auch einfordern. Heutzutage sind immerhin 32,9% der Bevölkerung mit höherer Schulbildung oder abgeschlossenem Studium Frauen.141 Von den verbesserten Bildungsmaßnahmen sind allerdings nicht alle Frauen betroffen. Im Generellen gibt es einen enormen Unterschied zwischen Frauen auf dem Land, deren Leben weitestgehend von tradierten Wertvorstellungen und Arbeitsteilung bestimmt ist,142 und städtischen Frauen, die aufgrund ihrer Ausbildung, besser über ihre Rechte informiert sind und deshalb in höherem Maße davon profitieren können.143 Somit teilt der Bildungszugang die marokkanischen Frauen in zwei soziale Gruppen. Die gebildeten Frauen haben einen höheren Sozialstatus als ungebildete Frauen, die in der Regel zur armen Bevölkerungsschicht zählen. Sie haben mehr Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung sowie Zugang zu besserer und qualifizierter Arbeit, was ihnen wiederum finanzielle und soziale Unabhängigkeit bietet.144 Durch Bildung erhalten Frauen Informationen über ihre Rechte und können diese als volle Bürgerinnen wahrnehmen, indem sie sich selbst und ihre Wünsche artikulieren und Entscheidungen in einer männlich-dominierten Öffentlichkeit treffen können.145 Bildung kann auch als ein Schutz gegen die Verheiratung minderjähriger Frauen fungieren. Wie in Kapitel

139 Vgl. Howe 2000, S. 68. Ich habe während meines Forschungsaufenthalts zwei ältere Frauen kennengelernt, die während eines Zeitraums von zwei bis drei Jahren an solchen Alphabetisierungskursen teilnahmen und in dieser Zeit, hauptsächlich für die Koranlektüre, lesen und schreiben gelernt haben. 140 Vgl. Haut-Commissariat au Plan 2013; vgl. Anonymus: „Maroc: baisse du taux d'analphabétisme féminin entre 1960 et 2009“, in: Jeune Afrique (6.03.2010). 141 Vgl. Haut-Commissariat au Plan 2013. 142 In ländlichen Gebieten besuchen nur drei von acht Mädchen im Alter von acht bis zehn Jahren die Grundschule und nur eines von zehn besucht eine weiterführende Schule. Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 398. 143 Vgl. Kelly 2010, S. 14. 144 Vgl. Sadiqi 2003, S. 189. 145 Vgl. ebd.

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3 der Arbeit bereits beschrieben wurde, sind vor allem ungebildete Mädchen von früher Verheiratung betroffen. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Eheschließung nimmt mit der Dauer des Schulbesuchs ab. Bei einer Studie von CERED aus dem Jahr 1998 war unter gebildeten Marokkanerinnen niemand dabei, die minderjährig verheiratet worden ist.146 Frauenrechte gehen Hand in Hand mit ökonomischen Rechten bzw. ökonomischer Sicherheit. Eine gebildete Frau hat bessere Chancen auf eine gut bezahlte Arbeit und die dabei gewonnene finanzielle Selbstständigkeit der Frau verringert deren finanzielle Abhängigkeit von ihrer Familie bzw. ihrem Ehepartner.147 Eine finanzielle Autonomie begünstigt eine stärkere Position der Frau innerhalb ihrer Familie, da sie nicht auf den Unterhalt ihres Ehegatten angewiesen ist, und macht sie gewissermaßen weniger anfällig für psychologische Gewalt, bspw. wenn eine Scheidungsandrohung erfolgt. Bessere Bildung von Frauen befähigt sie ferner auch zu Lebensentwürfen, in denen tradierte Rollenmodelle hinterfragt oder erst gar nicht adaptiert werden. Ich habe z. B. von zwei gebildeten Frauen, die bereits berufstätig sind, erfahren, dass sie nicht vorhätten, sich ihnen auferlegten gesellschaftlichen Konventionen, wie dem Primat der Heirat, zu beugen. Allerdings bevorzugen die meisten der von mir interviewten jungen Frauen nach dem Studium oder schon währenddessen zu heiraten, was auf den immer noch starken Einfluss tradierter Werte und Geschlechterrollen zurückzuführen ist.148 Die Erhaltung von Traditionen und kulturellen Werten fällt nämlich in den Aufgabenbereich der Frau.149 Viele der Studentinnen antworteten mir auf die Frage, ob sie nach dem Studium arbeiten wollten mit „Ja“, wiesen allerdings darauf hin, dass sie nur so lange arbeiten würden, bis sie heiraten bzw. schwanger werden würden. In diesem Falle würden sie sich um die Familie und die Kindererziehung kümmern und nur wenige von ihnen äußerten den Wunsch, anschließend – d.h. wenn die Kinder im schulpflichtigen Alter wären – einer Arbeit nachgehen zu wollen. Diejenigen Frauen, die sich für eine Karriere entscheiden, müssen oftmals feststellen, dass sie vom Heiratsmarkt ausgeschlossen werden.150 Das kann mit ihrem relativ hohen Alter zusammenhängen oder mit dem höheren Bildungsgrad der Frauen. Dies führt dazu, dass sich viele junge Frauen in einem persönlichen Dilemma

146 Vgl. CERED 1998, S. 160. 147 Vgl. ebd. 148 Vgl. Sadiqi 2003, S. 189. 149 Vgl. ebd., S. 168. 150 Vgl. Sadiqi 2003, S. 190; vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 397.

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befinden, wenn sie sich einerseits zwischen einem selbstbestimmten, modernen Leben und andererseits der Erfüllung gesellschaftlicher und familiärer Erwartungen entscheiden müssen. Während sich viele Frauen nach wie vor letzterem beugen, gibt es dessen ungeachtet eine Reihe von Beispielen, die belegen, dass Frauen qualifizierten Berufen, teilweise sogar in sogenannten Männerdomänen, nachgehen. Das Spektrum beruflicher Möglichkeiten, das den Frauen heutzutage offensteht, erstreckt sich von Bus- und LKW-Fahrerinnen, über Soldatinnen und Polizistinnen bis hin zu Pilotinnen, Professorinnen, Anwältinnen und Richterinnen.151 Zu solchen Frauen, die sich gegen traditionelle Rollenmodelle entschieden, zählt z. B. Nawal El Moutawakil. Sie wurde im Jahr 1984 erste Olympiasiegerin aus einem arabischen Land152 und ist seit 2007 sogar Ministerin für Jugend und Sport.153 Ein Drittel der Ärzte und ein Viertel der Professoren im heutigen Marokko sind Frauen.154 Viele Leiterinnen und Präsidentinnen von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen sind in der Regel Akademikerinnen.155 Außerdem bekleiden Frauen zunehmend juristische Posten: Heute repräsentieren Frauen 30% der insg. 3.728 Richter des Landes, 11,8% sind Staatsanwältinnen156 und 16 Richterinnen sind sogar am obersten Gerichtshof tätig.157 Die steigende Präsenz von Frauen in der Jurisprudenz, insbesondere als Richterinnen in Familiengerichten, stellt eine positive Entwicklung dar. Dies ist insofern wichtig als der Hauptgrund für rechtliche Diskriminierung von Frauen auf den zu großen Ermessenspielraum der Richter zurückzuführen ist, die

151 Vgl. Daoud 1996, S. 331; vgl. Pennell 2000, S. 387. 152 Sie gewann beim 400-Meter-Hindernislauf in Los Angeles eine Goldmedaille. Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 398. 153 Vgl. Lanz 2007, S. 3. 154 Vgl. Gray, Doris H.: „Educated, professional women in Morocco and women of Moroccan origin in France. Asserting a new public and private identity“, in: Journal of Middle East Women’s Studies, 2 (3) 2006, S. 48-70, S. 60. 155 Vgl. Sadiqi 2010, S. 329. Rabéa Naciri, die Vize-Präsidentin von ADFM, ist z. B. Professorin für Geographie an der Universität Mohammed V in Rabat. 156 Vgl. Faquihi, Faiçal: „Magistrature. Les premiers pas d’une réforme épreuve“, in: L’Economiste (17.09.2013); vgl. FIDH 2012, S. 73. 157 Vgl. Sadiqi 2010, S. 327f.

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mehrheitlich männlich sind und sich weigern, geltendes Recht adäquat anzuwenden.158 4.2.2 Frauen in der Politik Im Zuge der Reformwelle, welche im Kontext des „Arabischen Frühlings“ entstanden ist, wurde am 14. November 2011 eine Quotenregelung von 15% für die Repräsentation der Frauen im Parlament festgelegt.159 Die reformierte Verfassung von 2011 gibt im Artikel 26 vor, dass jede Partei zu einem Drittel aus weiblichen Abgeordneten bestehen soll. In der vorgezogenen Parlamentswahl vom 25. November 2011 ging die islamistische „Parti de la Justice et du Développement“ (PJD) als stärkste Partei hervor und stellte, gemäß der neuen Verfassung, den Ministerpräsidenten Abdellilah Benkirane. Bei dieser Wahl war der Frauenanteil überdurchschnittlich hoch: 60 weibliche Abgeordnete wurden ins Parlament gewählt. Indessen wurde in der überwiegend islamistischen Regierung unter dem islamistischen Premierminister Benkirane lediglich eine Frau zur Ministerin ernannt: Bassima Hakkaoui (PJD) ist seither Ministerin für Solidarität, Frauen, Familie und soziale Entwicklung. Die Nominierung nur einer Frau bei insgesamt 31 Ministerämtern war ein großes Ärgernis für Frauenrechtlerinnen und die Anhänger des „Mouvement du 20 Février“ („Bewegung des 20. Februar“),160 die sich u. a. für mehr Gleichstellung in Politik und Gesellschaft starkmachten. Sie betrachteten es außerdem als großen Rückschritt für die Gleichstellungspolitik, eine Islamistin auf dem Posten zu sehen, den zuvor (2007-2011) die Sozialistin Nouzha Skalli von der „Union Socialiste des Forces Populaires“ (USFP) innehatte, die mit der ideologischen Ausrichtung der säkularen Frauenrechtsorganisationen konformging. In der Tat sind unter Hakkaoui die Fortschritte der alten Regierung in Fragen der Gendergleichstellung, bspw. in Form des

158 Vgl. ebd., S. 313. Die Anwältin und Frauenrechtlerin der „Association Marocaine des Droits Humains“ (AMDH) Zahia Ammoumou und die Richterin und Juraprofessorin Malika Benradi berichteten mir im Interview das Gleiche. 159 Bei der Parlamentswahl im November 2011 wurden 60 Frauen in das Parlament (bestehend aus 365 Sitzen) gewählt, ganz nach der Quotenregelung von 15%. Im Oberhaus mit 270 Sitzen, sind sechs Frauen vertreten. Sie repräsentieren damit 2,2% des Oberhauses, was sich wenig anhört, aber im Vergleich zu den Wahlen 2006 eine Erhöhung von immerhin drei Sitzen darstellt. Vgl. FIDH 2012, S. 71. 160 Eine soziale Bewegung, die sich im Zuge des „Arabischen Frühlings“ formiert hat.

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„Aktionsplans zur Integration der Frau in die Entwicklung“ („Plan d’action nationale pour l’intégration des femmes au développement“ (PANIFD)161 von 2007, ins Stocken geraten. Im Oktober 2013 kam es infolge einer Koalitionskrise zur Regierungsumbildung.162 Benkirane stellte daraufhin am 10. Oktober 2013 ein neues Kabinett vor, welches auf 39 Ministerposten erweitert und mit sechs Frauen sowie mehreren parteilosen Abgeordneten besetzt wurde. In der aktuellen Repräsentantenkammer liegt der Frauenanteil bei 17,48% (69 weibliche von insg. 395 Abgeordneten). Der Anstieg von ehemals zwei auf mittlerweile 69 weibliche Parlamentsabgeordnete ist als ein enormer Fortschritt zu werten. Im Oberhaus (Chambre des Conseillers) hingegen sind Frauen weiterhin unterrepräsentiert. Ihre Anzahl beschränkt sich auf lediglich 14 von insgesamt 106 Sitzen, was nur 13,46% entspricht. Nichtsdestotrotz ist ein Anstieg von 11,23% im Vergleich zur alten Legislaturperiode zu verzeichnen, bei der von 270 Sitzen nur sechs Sitze an Frauen vergeben wurden. Im Bereich der politischen Partizipation von Frauen sind ebenso Fortschritte erzielt worden. Seit 2002 verpflichteten sich die Parteien, dreißig Plätze auf einer nationalen Liste für Frauen zu reservieren, mit dem Effekt, dass der Frauenanteil im Parlament im Jahr 1997 von 0,6% auf 17,48% im Jahre 2013 anstieg. Darüber hinaus wurde im Juni 2009 eine Quotenregelung von 12% auf lokalpolitischer Ebene erhoben, die Frauen eine höhere Partizipation und Repräsentanz gewährleisten sollte.163 Die Quotenregelung hat deutlich zur Stärkung der politischen Partizipation von Frauen beigetragen. Noch nie zuvor in der Geschichte des Landes war der Frauenanteil im Parlament so hoch. Heute besetzen Frauen Ämter als Ministe-

161 Der Plan sieht vier Ansätze vor: Frauenförderung in den Bereichen Bildung, reproduktive Gesundheit, Arbeitsbeschäftigung in politischen Institutionen sowie in Rechtsgleichheit. Vgl. Haut-Commissariat au Plan (HCP): Prospective „Maroc 2030“. Dynamique sociale et évolution des statuts des femmes au Maroc, Rabat 2006, S. 19. 162 Der PJD wurde Anfang 2013 seitens der „Istiqlal“ vorgeworfen, sich nicht ausreichend den wirtschaftlichen Problemen des Landes zu widmen. Im Juli 2013 legten sechs Minister der „Istiqlal“-Partei ihr Amt offiziell nieder; die Koalition brach auseinander. Internen Beobachtern zufolge soll es sich hierbei jedoch um die Absicht des Königs und der königlichen Berater, den Premier zu schwächen, gehandelt haben. Vgl. Anonymus: „Maroc. La liste du nouveau gouvernement dévoilée“, in: Jeune Afrique (10.10.2013). 163 Vgl. Sadiqi 2010, S. 314.

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rinnen, Regierungsberaterinnen und als Frauenbeauftragte in nahezu allen Ministerien. Darüber hinaus leitete König Mohammed VI. weitere Veränderungen ein, die als avantgardistisch bezeichnet werden können: die Ernennung einer Frau als königliche Beraterin und einer Frau als Mitglied des sechzehnköpfigen „Höchsten Rats der Religionsgelehrten“ (Conseil Supérieur des Oulémas) im Jahr 2004 und die bereits erwähnte Etablierung eines neuen Studiengangs für weibliche Theologinnen (mourchidat) im Jahr 2005.164 Nie zuvor hatten Frauen diese Posten inne. Dieses Novum steht ganz im Sinne der seit langem verfolgten Umstrukturierung der religiösen Institutionen zur Durchsetzung einer moderaten und auf Toleranz basierenden Religionspolitik, die radikalen islamistischen Strömungen Einhalt gebieten soll.

4.3 DIE MISERE DER JUGEND Junge Menschen gelten in Marokko erst dann als Erwachsene, wenn sie den Bund der Ehe eingegangen sind. Wie bereits im vorangehenden Kapitel dargelegt, bietet die Ehe den einzigen gesellschaftlich legitimen Rahmen für sexuelle Beziehungen. Durch die Erhöhung des Heiratsalters verlängert sich die Jugendphase und der Eintritt in das Erwachsenenalter verschiebt sich auf unbestimmte Zeit.165 Das gestiegene Heiratsalter hat verschiedene Ursachen: der Zugang zur Bildung und längere Ausbildungszeiten, insbesondere von Frauen, Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche aufgrund mangelnder Arbeitsplätze und niedriger Bildungsqualität, Arbeitslosigkeit oder unsichere Arbeitsverhältnisse. Wirtschaftliche Gründe sind maßgeblich für die Verschiebung des Heiratsalters verantwortlich. Ohne Beschäftigung und ohne festes Einkommen können sich die jungen Männer nicht um eine eigene Wohnung kümmern.166 Ein eigener Haushalt stellt vielleicht nicht kurzfristig, 164 Vgl. ebd., S. 318. 165 Siehe Tabelle 2. 166 In einer Studie aus dem Jahr über den Alltag von 471 Jugendlichen aus Rabat, im Alter von 15 bis 34 Jahren, konnte festgestellt werden, dass ein Großteil der Teilnehmer noch bei den Eltern wohnt. Es bestehen Unterschiede in Bezug auf die Einkommensquellen der Jugendlichen. Es gibt solche, die nicht arbeiten und solche, die unregelmäßig arbeiten und von den Eltern finanziell unterstützt werden und solchen, die regelmäßig arbeiten und gleichzeitig finanziell ihre Eltern unterstützen. Darüber hinaus leben 5% von ihnen zwar nicht mehr bei den Eltern, aber werden von ihnen finanziell unterstützt und

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aber mittel- und langfristig eine Grundvoraussetzung für die Eheschließung und Familiengründung dar. Die jungen Erwachsenen sind aufgrund der Erwerbslosigkeit gezwungen, in ihrem Elternhaus wohnen zu bleiben und sind dadurch in hohem Maße von ihrer Familie abhängig. In einer Studie von 2016 mit 2.000 Jugendlichen167 im Alter von 15 bis 29 Jahren wurde festgestellt, dass 51% der interviewten Personen keinen Arbeitsplatz haben und dass 82% der Jugendlichen noch bei ihren Eltern wohnen, von denen 45,1% kein eigenes Zimmer besitzen.168 Insbesondere für junge Frauen bedeutet dies eine Kontrolle seitens der Familie und eine enorme Einschränkung in ihrer Bewegungsfreiheit und Autonomie. Darüber hinaus stellen die hohen Kosten, die mit einer Hochzeit einhergehen, etwa für die Verlobung, das Brautgeld und die Hochzeitsfeier einen Hinderungsgrund für die Ehe dar. Aufgrund der fehlenden finanziellen Grundlage, ist der Mann außerstande, eine Familie zu gründen und zu versorgen.169 Dialmy spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Ehe-Krise“.170 In der Tat lässt sich dieses soziale Phänomen als eine Krise subsumieren, denn die Ausmaße sind schicht- und regionenübergreifend und beziehen sich somit auf die gesamte Gesellschaft.

18% leben nicht mehr bei den Eltern und verdienen ihr eigenes Geld. Das Durchschnittseinkommen dieser Jugendlichen differiert je nach Standort zwischen 1.178 Dirhams (ca. 117 Euro) und 2.739 Dirhams (ca. 273 Euro). Es herrscht ein deutlicher Unterschied zwischen dem Budget der jungen Frauen, durchschnittlich 1.470 Dirhams (ca. 147 Euro), und der Männer, nämlich über 2.435 Dirhams (ca. 243 Euro). Aus der Gruppe der wirtschaftlich besser gestellten und zugleich auch jüngsten Studienteilnehmer beziehen 53,1% ihr Geld von der Familie, diejenigen, die ihre ökonomische Situation mit ‚gut‘ bewerteten, beziehen 77,9% ihres Einkommens aus eigenständiger Arbeit. Die ökonomisch schwächste und zugleich auch älteste Gruppe erwirtschaftet zu 84% ihr Einkommen selbst. Vgl. Gertel 2014, S. 158f. 167 1.200 Jugendliche stammen aus dem städtischen Umfeld. 168 Vgl. Kadiri, Zakaria: „La jeunesse au Maroc. Marginalités, informalités et adaptations“, in: Economia. Mieux comprendre pour mieux decider, (Juni) 2016, S. 23-31, S. 25. 169 Dabei spielt in der Studie zu den Lebensentwürfen von Jugendlichen ‚eine gute Heirat‘ mit 35,6% fast eine ebenso große Rolle, wie eine ‚gute Arbeit‘ zu haben (31,6%). Und während den Männern eine gute Anstellung zu haben mit 34,1% etwas wichtiger erscheint als zu heiraten (32,2%), fällt die Priorität der Frauen deutlich auf die Heirat (39,9%). Vgl. Gertel 2014, S. 160. Das lässt sich damit erklären, dass für Männer ein guter Job erst die Voraussetzung für eine Heirat schafft. 170 Vgl. Dialmy 2004, S. 101.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 197

4.3.1 Jugendarbeitslosigkeit in Marokko Das Studium stellt eine Qualifizierung für den späteren Beruf und eine Vorbereitung auf das Arbeitsleben dar und bereitet den Weg für die spätere gesellschaftliche Stellung des Einzelnen. Während der Studienzeit formiert sich die Persönlichkeit der Heranwachsenden. Sie beginnen sich in der gesellschaftlichen Hierarchie zu verorten bzw. ihren Platz darin zu suchen. Die Universität, als ein Ort der Wissensproduktion und des Wissenserwerbs, ist eine Institution, die Titel und damit auch Rechte vergibt, die nach dem Abschluss idealiter gute Zukunftsperspektiven ermöglichen sollen. Somit ist der universitäre Abschluss und die Motivation für ein Studium mit einer gewissen Erwartungshaltung der Studierenden, bezogen auf die spätere Berufsausübung und die Karriere- und Aufstiegschancen, die mit dem jeweiligen Beruf zusammenhängen, verbunden.171 Allerdings – und das gilt nicht nur für Marokko – sieht die Realität, in der sich die Studierenden nach abgeschlossenem Studium wiederfinden, häufig anders aus, als von ihnen erhofft. In der arabischen Welt sind ca. 65 bis 75%, also etwa zwei Drittel der Bevölkerung, unter 35 Jahren alt.172 Und genau diese demographisch größte Gruppe ist am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen. Heute ist die Jugendarbeitslosigkeit in arabischen Ländern höher als in anderen Weltregionen.173 Während Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, weltweit ohnehin mit durchschnittlich 16,6% zu den Hauptbenachteiligten auf dem Arbeitsmarkt zählen,174 sind in der arabischen Welt 20 bis 25% der Jugendlichen arbeitslos.175 Die aktuelle Arbeitslosenquote (Stand: 2016) liegt in Marokko bei 10%. Davon leben 80,3% der Arbeitslosen in den Städten. Die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren liegt bei 21,5% und der städtischen Jugendlichen sogar bei 38,8%. In den Städten liegt der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren mit einem Universitätsabschluss bei 31,8%.176 Dabei gehören diejenigen Jugendlichen, die nach ihrer Ausbildung zum ersten Mal eine Arbeit suchen, mit 54,3% zu der größten Gruppe der Jugendarbeitslosen. Da-

171 Vgl. Bourdieu 1993, S. 140. 172 Vgl. Perthes 2011, S. 32. 173 Vgl. ebd., S. 31. 174 Vgl. International Labour Organization (ILO): Global Employment Trends for Youth. Scaling up investments in decent jobs for youth, 2015, vgl. S. 6. 175 Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 20. 176 Vgl. Haut-Commissariat au Plan 2016.

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von sind Frauen mit 67% am meisten betroffen.177 Dies zeigt, dass der Einstieg in das Berufsleben nach dem Studium verhältnismäßig schwer gelingt und mit einer längeren Phase der Arbeitslosigkeit verbunden ist. In der Regel sind Graduierte doppelt oder auch dreifach stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als junge Erwachsene mit einer Primarausbildung oder ohne Ausbildung.178 Das liegt zum einen daran, dass Jugendliche mit einem Universitätsabschluss auf der Suche nach einer adäquaten Anstellung sind. Marokko ist wirtschaftlich jedoch noch nicht so weit fortgeschritten, so dass die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt nicht ausreichend vorhanden ist.179 Zum anderen stammen diese Jugendlichen mehrheitlich aus einkommensstarken Haushalten, sodass ihre Familien sie im Zweifelsfalle bei einer längeren Arbeitssuche finanziell unterstützen können. Sie sind also nicht gezwungen, irgendeinen Job anzunehmen, der ihrer Qualifikation nicht entspricht, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.180 4.3.2 Das Versprechen des Staates Die desolate Lage auf dem Arbeitsmarkt ist vor allen Dingen eine Konsequenz des Ausbaus des höheren Bildungswesens in arabischen Staaten. In der post-kolonialen Phase haben die Regierungen der jungen Generation suggeriert, sie hätte mit einem Hochschulabschluss Anspruch auf Stellen im öffentlichen Sektor.181 Dieses Versprechen wurde als der „arabische Sozialpakt“182 bezeichnet. In der Folge waren viele junge Menschen bestrebt, einen höheren Abschluss zu erlangen. In den letzten

177 Vgl. ebd. Es können bis zu drei Jahre vergehen, bis ein marokkanischer Jugendlicher nach dem Studium eine Arbeit findet. Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 20. 178 Vgl. Boudarbat, Brahim/ Ajbilou, Aziz: „Moroccan youth in an era of volatile growth, urbanization, and poverty“, in: Dhillon, Navtej/ Yousef, Tarik (Hg.): Generation in waiting. The unfulfilled promise of young people in the Middle East, Washington 2009, S. 166-188, S. 174. 179 Vgl. Achy, Lahcen: „Trading high unemployment for bad jobs. Employment challenges in the Maghreb“, in: Carnegie Endowment for International Peace, Washington D.C. 2010. 180 Vgl. International Labour Organization (ILO) 2015, S. 34. 181 Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 14. Dies war insb. in Ägypten und Marokko der Fall. 182 Beck, Martin: „Der ‚Arabische Frühling‘ als Herausforderung für die Politikwissenschaft“, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS). Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, 54 (4) 2013, S. 641-661, S. 643.

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zwanzig Jahren erhielt eine überproportional hohe Zahl an Jugendlichen Zugang zu weiterführenden Schulen und Universitäten.183 Die Zahl der Einschreibungen an marokkanischen Hochschulen nahm von 1.819 im Jahr 1956 auf 230.000 im Jahr 1992 zu, hat sich also auf mehr als das 126-fache erhöht.184 Das Ergebnis dieses Andrangs auf Bildungsinstitutionen wird als éducation des masses185 (Massenbildung) bezeichnet, deren Qualität unter der hohen Anzahl an Studierenden und ihrer unzureichenden schulischen Vorbildung litt. Auch wenn die Staaten anfangs noch bemüht waren, öffentliche Stellen im Sinne des „Sozialvertrags“ zu generieren, waren fast alle ab Mitte der 1990er Jahre dazu nicht mehr in der Lage. Stellen an staatlichen Institutionen, die ohnehin personell überbelegt waren, waren von älteren Jahrgängen besetzt und neue Stellen konnten für die rasant wachsende Bevölkerungsgruppe im arbeitsfähigen Alter nicht ausreichend geschaffen werden.186 Die Staaten waren aber nicht nur aufgrund struktureller Probleme außerstande den „arabischen Sozialpakt“ aufrechtzuerhalten. Die finanzielle Grundlage des „Sozialvertrags“ basierte auf den Gewinnen des staatlichen Öleinkommens und externen Hilfszahlungen. Durch diese Einkommensströme konnten Subventionen, Freibeträge und hohe Renten finanziert werden.187 Diese Rentierökonomien waren also stark an die Entwicklungen des Ölpreises gebunden, da die Staaten entweder selbst über diesen Rohstoff verfügten oder von Rücküberweisungen von Arbeitskräften (unilateral transfers), die in den ölproduzierenden Ländern beschäftigt waren, profitieren konnten.188 Marokko gehört zwar nicht zu den ölfördernden Ländern, entsandte aber in den 1980er Jahren Tausende von Arbeitern nach SaudiArabien und in andere Golfstaaten.189 1984 initiierte Hassans II. eine „ArabischAfrikanische Union“190 mit Libyen. Durch dieses Abkommen gelang es ihm,

183 Vgl. Perthes 2011, S. 31. 184 Vgl. Tessler 2000, S. 108. 185 Vgl. Bourqia 2010, S. 110. 186 Vgl. Beck 2013, S. 647. 187 Vgl. ebd., S. 646. Der Nahe Osten gehört zu den Regionen mit den höchsten Pro-KopfRenten. 188 Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 14. 189 Vgl. Howe 2005, S. 318. 190 Vgl. American Society of International Law: „Libya-Morocco: Treaty instituting the Arab-African Union of States“, in: International Legal Materials, 23 (5) (September) 1984, S. 1022-1026.

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Muammar al-Gaddafi von seiner Unterstützung der sahraouischen Unabhängigkeitsbewegung „Polisario“ abzubringen und wirtschaftliche Kooperationen einzugehen, von denen Marokko in Form von Öl-Importen zu besonders günstigen Konditionen und das unterbevölkerte Libyen in Form von marokkanischen Arbeitskräften profitieren konnte. Marokko konnte dadurch seine enormen Schulden, welche aufgrund der Energieimporte entstanden sind, reduzieren, und dank der Rücküberweisungen der marokkanischen Arbeiter eine Semi-Rentierökonomie etablieren. Die „Semi-Rentierstaaten“, zu denen neben Marokko auch Tunesien, Ägypten und Jordanien zählen, verfügen über geringere Renteneinkommen und müssen auf andere Rentenbezüge, wie Budgethilfen und Entwicklungshilfe zurückgreifen.191 Infolge des Ölpreissturzes 1986, resultierend aus dem OPEC-Streit, und der anschließenden jahrzehntewährenden wirtschaftlichen Stagnation kam es zu erheblichen Kürzungen der Staatsausgaben. Durch seine seit den 1970er Jahren erhöhten öffentlichen Ausgaben, die über eine überproportionale Besteuerung der Landwirtschaft, Auslandsverschuldung und steigenden Einnahmen aus dem Export von Phosphat und Phosphat-Produkten finanziert wurden, konnte Marokko seine öffentlichen Investitionen um mehr als 340% erhöhen. Dadurch konnte das Land Lebensmittel, Elektrizität und öffentliche Güter stärker subventionieren. Auch konnten dadurch die Gehälter angehoben werden und der öffentliche Sektor expandieren.192 In den 1980er Jahren führten diese expansiven Ausgaben, die hohen Kosten, die aus dem Westsahara-Konflikt entstanden, und die sinkenden Phosphatpreise schlussendlich dazu, dass der Staat bereits 1983 vor einem Staatsbankrott193 stand und um Hilfe beim IWF und der Weltbank bitten musste. Die Kredite des IWF und der Weltbank waren mit Auflagen verbunden, die u. a. eine Liberalisierung der Wirt-

191 Vgl. Pawelka, Peter: Der Vordere Orient und die internationale Politik, Stuttgart 1993, S. 126f. 192 Vgl. Richter, Thomas: „Materielle Ressourcen und der Beginn orthodoxer Wirtschaftsreformen in Marokko, Tunesien, Ägypten und Jordanien. Der Rentierstaats-Ansatz unter Anpassungsdruck?“, in: Beck, Martin/ Harders, Cilja/ Jünemann, Annette/ Stetter, Stephan (Hg.): Der Nahe Osten im Umbruch. Zwischen Transformation und Autoritarismus, Wiesbaden 2009, S. 50-77, S. 55f. 193 1973 lagen die Schulden bei 1,3 Mrd. USD. 1983 hatten sie sich bereits verzehnfacht (13 Mrd USD). Vgl. Mattes, Hanspeter: „Die Privatisierung der marokkanischen Wirtschaft. Rahmenbedingungen und Maßnahmen“, in: Wufuq, (4-5) 1991, S. 103-159, S.110.

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schaft forderten.194 Dies führte zu einer Anpassung in der Budgetpolitik des Landes und der Privatisierung von Schlüsselindustrien, was zu Einschnitten im Sozialsystem führte.195 Diese Maßnahmen zogen gravierende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt nach sich, nämlich eine Expansion des Dienstleistungssektors, einen Rückgang von Arbeitsplätzen in der Industrie und eine Stagnation im öffentlichen Sektor. Infolgedessen verdoppelte sich die Arbeitslosenquote zwischen den Jahren 1983 und 2002.196 Dabei waren v.a. die Jugendlichen von hoher Arbeitslosigkeit betroffen und zwar insbesondere jene mit höherem Bildungsabschluss.197 Die zahlreichen Studentenproteste Anfang der 1980er Jahre sind als Reaktion auf die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse zu verstehen. Etwa die Hälfte der Arbeitslosen war zwischen 15 und 24 Jahren alt. Anfang der 1990er Jahre waren 70% der Bevölkerung unter 30 Jahren alt und die Jugendarbeitslosenquote war mit 30,7% mehr als doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung (12%).198 In den Städten lag die Arbeitslosenquote bei 19% und die der Jugendlichen war mit 45,4% ungleich höher.199 Demographische Veränderungen, aufgrund der hohen Geburtenrate, und die rasant wachsende Urbanisierung taten ihr Übriges. Die Arbeitsmärkte konnten der Nachfrage auf Arbeitsplätze der geburtenstarken Jahrgänge nicht gerecht werden, weil ihr Wachstum nicht mit dem zahlenmäßigen Andrang der Arbeitssuchenden mithalten konnte. Als Resultat herrschte ein eklatanter Mangel an Arbeitsplätzen.

194 Vgl. Richter 2009, S. 57. 195 Die Folgen des Strukturanpassungsprogramms zogen Sparmaßnahmen nach sich, die sich in Form von Kürzungen im Sozialbereich äußerten. Dazu gehörten Senkungen der staatlichen Subventionen von Nahrungsmitteln und Energiepreisen. Vgl. Gertel 2014, S. 153. 196 Vgl. Breuer, Ingo: „Junge Erwachsene, Arbeitsmärkte und soziale Absicherung im urbanen Marokko“, in: Ders./ Gertel, Jörg: Alltagsmobilitäten. Aufbruch marokkanischer Lebenswelten, Bielefeld 2014, S. 327-339, S. 328; vgl. Dhillon et al. 2009, S. 14. 197 Von den arbeitslosen Jugendlichen waren 48,7% Sekundarstufenabsolventen, 25,8% Primarschulabsolventen und nur 12% ohne Ausbildung. Vgl. Gertel 2014, S. 154. 198 Vgl. Ministère de la prévision économique et du plan: Le plan de développement économique et social 2000-2004, Rabat 2004, S. 38. 199 Vgl. Baraka, Nizar/ Benrida, Ahmed: La croissance économique et l’emploi, OnlinePublikation (24.01.2006), S. 339.

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Vielerorts scheiterte das Bildungssystem außerdem daran, die Studenten auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes vorzubereiten.200 Viele Unternehmen in der Region weisen auf die mangelnde Qualifikation ihrer Angestellten als das Haupthindernis für Wirtschaftswachstum hin, trotz besserer Bildungsbedingungen, wie der Ausbau der universitären Infrastruktur und der bessere Bildungszugang für beide Geschlechter.201 Die niedrige Bildungsqualität ist also ein weiterer Grund für die Jugendarbeitslosigkeit. Der Mangel an Fachkräften hemmt wiederum das Wirtschaftswachstum, weshalb keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden können.202 Das staatliche Scheitern bei der Etablierung wirtschaftlicher Entwicklungsprogramme in den 1960ern und 1970ern Jahren, gefolgt von immer höherer Staatsverschuldung und den daraus resultierenden Kürzungen in den Bereichen Ernährung und Energieversorgung, Gesundheit und Bildung, führten zu zahlreichen Protesten und Gewaltausbrüchen auf den Straßen in den 1980er und 1990er Jahren, welche in der Regel von Studenten angeführt wurden.203 Die unzähligen arbeitslosen Akademiker (chômeurs diplômés) sind ein direktes Ergebnis des gescheiterten staatlichen Versprechens, Arbeitsplätze zu generieren. Die „Nationale Vereinigung der diplomierten Arbeitslosen“ („Association National des Diplômés Chômeurs“, ANDC) wurde 1992 von marokkanischen Hochschulabsolventen mit dem Ziel gegründet, den Staat und die Öffentlichkeit auf ihre Notlage hinzuweisen.204 Mit ca. 7.000 Mitgliedern gehört sie zu der größten Gruppe, die von Anfang an bei den Demonstrationen im Zuge des sogenannten „Arabischen Frühlings“ in Marokko aktiv war. Diese arbeitslosen Akademiker sind es auch, die eine Anstellung im öffentlichen Dienst präferieren und Weiterbildungsmaßnahmen

200 Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 11. 201 Vgl. Boudarbat/ Ajbilou 2007, S. 166; vgl. Dhillon, Navtej/ Salehi-Isfahani, Djavad/ Dyer, Paul et al.: „Missed by the boom, hurt by the bust. Making markets work for young people in the Middle East. An agenda for policy reform and greater regional cooperation“, in: Dubai School of Government/ Wolfensohn Center for Development & Brookings (Hg.): Middle East youth iniative, (Mai) 2009. 202 Vgl. Dhillon et al. 2009, S. 18f. 203 Vgl. Boum 2013, S. 170; vgl. Kapitel 4.1.2 der vorliegenden Arbeit. 204 Vgl. Tessler 2000, S. 113. 2004 war ihre Arbeitslosenquote mit 26,8% mehr als doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung mit 11,8%. Vgl. Gertel, Jörg: „Jugendliche Lebenswelten – Wer leistet eigentlich Widerstand in Rabat?“, in: Ders. (Hg.): Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt, Bielefeld 2014, S. 150-173, S. 156.

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ablehnen, weil sie der Meinung sind, keine zu benötigen, da sie bereits über einen Universitätsabschluss verfügen.205 Sie weigern sich in der Privatwirtschaft zu arbeiten, weil diese in ihren Augen ohnehin instabil und obendrein klientelistisch geprägt ist. Stattdessen fordern sie vom Staat, sein Versprechen einzuhalten und ihnen Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung bereitzustellen.206 Die an sich moderate Gruppe, versuchte sich in der jüngeren Vergangenheit durch schockierende Aktionen Gehör zu verschaffen. Im August 2005 beging einer ihrer Mitglieder Suizid, im Dezember desselben Jahres und im März 2006 versuchten sechs Nachahmer aus der Gruppe einen kollektiven Selbstmord zu begehen, um auf drastischere Weise auf ihre desolate Lage hinzuweisen.207 Auch im Jahr 2012 gab es kollektive und einzelne Selbstverbrennungen ohne tödliche Folgen im Rahmen von Demonstration der „Bewegung 20. Februar“ vor dem Parlament in Rabat.208 In nahezu allen Demonstrationen der Arabellion waren gut ausgebildete junge Menschen überrepräsentiert. Ihre soziale, wirtschaftliche und politische Exklusion gehörte zu dem Auslöser des „Arabischen Frühlings“, der diese Generation zu Tausenden länderübergreifend mobilisierte. Was zuvor als undenkbar schien, wurde zur Realität: die Menschen versammelt sich in Massen zum Demonstrieren und forderten das Abdanken der Regenten. Darüber hinaus verdeutlicht die Tatsache, dass diese Bewegung zu einem Großteil von jungen Menschen getragen wurde, dass sie, entgegen der Annahme, sie seien apathisch und apolitisch, sehr wohl über ein politisches Bewusstsein verfügen.209 Es besteht eine tiefe Diskrepanz zwischen dem Bildungssystem und dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen begann sich schon in den 1980er Jahren abzuzeichnen, weil der Staat seine Aufgabe als Arbeitgeber im öffentlichen Sektor nicht mehr ausreichend erfüllen konnte. Mit der Einführung wirtschaftlicher Strukturanpassungsprogramme im Jahr 1983 wurde die Hoffnung auf die Privatwirtschaft gelegt, den Universitätsabsolventen neue attraktive Arbeitsplätze bereitzustellen. Die hohe Arbeitslosigkeitsrate der Akademiker wurde von der Regierung zu der Zeit noch als ein reines Konjukturphänomen betrachtet, das sich mit der Zeit von selbst einpendeln würde. Dabei hat sich diese Entwicklung

205 Vgl. Boudarbat/ Ajbilou 2009, S. 177; vgl. Governing Council 2011. 206 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 157. 207 Vgl. Gertel 2014, S. 156. 208 Vgl. ebd., S. 157. 209 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 149.

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in den Folgejahren verschlimmert.210 1987 wurde eine Maßnahme zur Förderung von Unternehmensgründungen eingeführt. Das unter dem Namen „Gesetz 36/87“ geführte Programm bot Hochschulabsolventen Kredite mit besonders niedrigen Zinssätzen an, die 90% ihres Kapitalbedarfs decken sollten. Des Weiteren wurde 2008 das Programm „Moukawalati“ („meine Firma“) initiiert. Zehn Milliarden Dirhams (ca. eine Milliarde Euro) betrug das Budget für diese Unternehmung, die das Ziel verfolgte, durch günstige Kreditvergabe an junge Unternehmer (im Alter zwischen 20 und 45 Jahren) insgesamt 30.000 Unternehmen und damit 90.000 Arbeitsplätze zu schaffen. Ein anderes Programm, „Taehil“ („Qualifizierung“), wurde 2006 bis 2008 speziell für Universitätsgraduierte entwickelt, um ihre Qualifikation an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen. Das Budget dafür bestand aus 500 Millionen Dirhams (ca. 50 Mio. Euro), von denen ca. 50.000 Absolventen gefördert werden sollten.211 Im Jahr 2000 wurde die „Agence Nationale pour la Promotion de l’Emploi et des Compétences“ (ANAPEC) („Nationale Agentur für Beschäftigungs- und Kompetenzförderung“) ins Leben gerufen, um einen Ausgleich zwischen dem Angebot und der Nachfrage von Arbeitsplätzen zu schaffen. Die Agentur bietet auf den Arbeitsmarkt zugeschnittene Fortbildungen, eine Jobbörse, Karriereberatung und Hilfestellung für konkrete Projektvorhaben junger Unternehmer an.212 Die 2009 angestoßene Bildungsreform sollte ebenfalls dazu beitragen, ein Gleichgewicht zwischen der Nachfrage und Angebotsseite, also zwischen qualifizierten Arbeitnehmern und passenden Stellenangeboten, auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen und die jungen Leute für den privaten Sektor zu qualifizieren.213 Weil die Regierung keine Stellen mehr im öffentlichen Sektor generieren kann, ermutigt sie die Jugend, in den privaten Sektor einzusteigen. Da der private Sektor als Motor des Wirtschaftswachstums gilt, besteht ein großes Interesse der Regierung im Wachstum des Privatsektors, mit dem Ziel, die Akademiker dort zu integrieren. Die eigens dafür ins Leben gerufenen Jugendprogramme sollten den graduierten Jugendlichen über Trainingsprogramme und Fortbildungen ermöglichen, entsprechende Qualifikationen zu erwerben und sie ermutigen in die Selbstständigkeit zu gehen.214

210 Vgl. Boudarbat/ Ajbilou 2009, S. 175. 211 Vgl. ebd., S. 182. 212 Vgl. ebd., S. 181. 213 Vgl. African Economic Outlook, 2012. 214 Vgl. Boudarbat/ Ajbilou 2009, S. 176f.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 205

Trotz moderater Verbesserungen blieben diese Programme jedoch weitestgehend ineffizient und führten nicht zu den gewünschten Resultaten, wodurch eine tiefe Diskrepanz zwischen dem Bildungssystem und dem Arbeitsmarkt entstand. Der Hauptgrund der Ineffizienz dieser Programme waren ihre kurzfristige Ausrichtung. Es mangelte an einem ganzheitlichen Programm und der Fokus lag auf schnellen Lösungen und nicht auf langfristigen Strategien, um der hohen Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.215 Ein Arbeitsplatz im öffentlichen Sektor wird – trotz des oben beschriebenen Programmangebots – weiterhin von den jungen Akademikern präferiert, weil es einen unbefristeten und damit sicheren Arbeitsplatz darstellt, bei dem man, im Gegensatz zu den anderen Sektoren, ein relativ hohes Gehalt und eine staatliche Rente erhält.216 Allen anderen Arbeitssektoren mangelt es an finanzieller Sicherheit: weder besteht eine Weiterzahlung des Gehalts im Falle eines krankheitsbedingten Ausfalls, noch gibt es einen Kündigungsschutz. Viele Arbeitsverträge existieren ohnehin nicht auf dem Papier, sondern basieren lediglich auf mündlichen Absprachen, die jederzeit aufgehoben werden können und somit eine fehlende Rechtsicherheit bedeuten.217 So radikal und realitätsfern die Ansprüche der arbeitslosen Akademiker auch zu sein scheinen: Anhand dieser Ausführungen wird erkennbar, weshalb die Jugendlichen sich einen sicheren Job im öffentlichen Sektor wünschen. Gerade jungen Männern bietet ein gesicherter Arbeitsplatz die nötige Grundlage, mittels derer sie die Transition zu einem Erwachsenen vollziehen können, da er ihnen die Mittel bereitstellt, einen eigenen Haushalt und eine Hochzeit finanzieren zu können. Diejenigen, die nicht mit der Unterstützung ihrer Familie rechnen können oder die es leid sind, von ihr abhängig zu sein, sind bereit, zu emigrieren oder einen Job anzunehmen, für den sie überqualifiziert sind. Die Familien unternehmen enorme finanzielle Anstrengungen, um ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen.218 Das beginnt bereits mit der Finanzierung des Besuchs einer Privatschule und ferner mit dem Unterhalt während des Studiums sowie in den anschließenden zermürbenden Jahren der Arbeitssuche. Das wiederum verstärkt das Gefühl der sozialen Marginalisierung und führt zu einer enormen Frustration sowie der Infragestellung des

215 Vgl. ebd., S. 182. 216 Vgl. ebd., S. 175; vgl. Dhillon et al. 2009, S. 28. 217 Vgl. Breuer 2014, S. 332. 218 Vgl. Bourdarbat/ Ajbilou 2009, S. 175, S. 180.

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weitverbreiteten Glaubens, ein Hochschulabschluss garantiere eine gute berufliche Perspektive und folglich einen besseren Lebensstandard.219 Wenn die Hochschulabsolventen in den privaten Sektor gehen, dann tun sie dies häufig im informellen Sektor, bspw. als Handwerker.220 Der Anteil der Beschäftigung im informellen Sektor beträgt 41%, was 14% des BIP ausmacht, und sein Wachstum stellt eine Folge des Beschäftigungsproblems aufgrund des weitgehend gescheiterten „Sozialpakts“ in Marokko dar. Den größten Anteil der Beschäftigung im informellen Sektor bilden der Handel, der Dienstleistungssektor sowie das verarbeitenden Gewerbe, bei einem gleichzeitigen Rückgang des industriellen Sektors.221 Für den Staat stellen die arbeitslosen Akademiker eine große Belastung dar, nicht nur weil er sie nicht in den Arbeitsmarkt integrieren kann, sondern auch weil sie sich wöchentlich zu Demonstrationen organisieren und ihre Anliegen lautstark kundtun. Diese wöchentlichen Auftritte lähmen nicht nur den gesamten Straßenverkehr in der Innenstadt Rabats, rund um das Parlament, welches sich in direkter Nähe zum Hauptbahnhof befindet, sondern wird generell als eine Gefahr für die Stabilität des Regimes betrachtet, zeigen sie doch den Unmut einer nicht integrierten Masse.222 Hassan II. erkannte bereits nach den Studentenunruhen von 1990, dass das grundlegende Problem nur durch die Integration von Graduierten in den Arbeitsmarkt gelöst werden konnte.223 Aus diesem Grund beschloss die Regierung den Arbeitsmarkt zu reformieren, um bessere Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen. Die Maßnahmen reichten von den oben erwähnten Jugendprogrammen, einer Arbeitsgesetzreform im Jahr 2003, einer Lockerung des Kündigungsschutzes bis hin zu einer Reduktion von Lohnnebenkosten.224 Für die kommenden Jahre sehen Beobachter eine Verschlechterung der Lage. Man geht davon aus, dass sich die Nachfrage nach Arbeitsplätzen verdoppeln und die Urbanisierung weiter voranschreiten wird. Zwei Drittel der Bevölkerung werden

219 Vgl. ebd., S. 175. 220 Vgl. ebd., S. 176. 221 Vgl. Demba, Ferdinand: „L’informel. Un poids inquiétant pour l’économie marocaine“, in: Conjoncture.info (Site d’information de la Chambre de Commerce d’Industrie du Maroc) (12.12.2014). 222 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 158; vgl. Ben-Layashi 2013, S. 154. 223 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 157. 224 Vgl. Boudarbat/ Ajbilou 2009, S. 179.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 207

in den Städten leben, was die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit im urbanen Raum noch verstärken wird.225 Wie schon am Anfang dieses Unterkapitels angeführt, gehören Akademiker zu derjenigen Bevölkerungsgruppe in Marokko, die am meisten von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Das Versprechen des Staates, man könne durch höhere Bildung die soziale Leiter erklimmen, hat die unzähligen arbeitslosen Akademiker erst produziert. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung der Studierenden bzw. der Absolventen und den realen Zukunftsaussichten, die zu einer enormen Unzufriedenheit führt.226 Die Teilhabe an der Gesellschaft als Erwachsene bleibt ihnen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen verwehrt. Die gefragten Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor, in der freien Wirtschaft sowie den politischen Ämtern sind nach wie vor in den Händen der Eliten, bestehend aus einflussreichen Großfamilien und der Entourage der königlichen Familie. Sie blockieren den Zugang zu diesen Stellen oder schieben sich freigewordene Posten in nepotistischer Manier untereinander zu, sodass die jungen aufstrebenden und meist besser qualifizierten Akademiker nur selten einen Zugang zu diesen bekommen.227 Aufgrund des unzureichenden Zugangs zum qualifizierten Arbeitsmarkt gehören die Jugendlichen zu einer marginalisierten sozialen Gruppe in allen gesellschaftlichen Bereichen. 4.3.3 Jugend in der waithood Der hohe demographische Jugendanteil in der marokkanischen Bevölkerung ist ein Ergebnis der hohen Geburtenraten der vergangenen Jahrzehnte. Der marokkanische Staat versuchte das rasante Bevölkerungswachstum mittels einer Familienplanungspolitik und der Einführung moderner Verhütungsmethoden einzudämmen. Im Jahr 1965 wurde ein königliches Memorandum an politische Parteien, Gewerkschaften und andere nationale Gruppierungen adressiert, bei dem der rasante Bevölkerungszuwachs, die hohe Mutter- und Kindersterblichkeitsrate thematisiert und erstmals eine Geburtenkontrolle gefordert wurde.228 In der Folge wurden Maßnahmen im Bereich der Gesetzgebung, Politik und Medizin ergriffen, die der Öffentlichkeit im

225 Vgl. ebd., S. 185f. 226 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 146. 227 Vgl. ebd., S. 147. 228 Vgl. Haut-Commissariat au Plan (HCP): Approche multi-sectorielle de la politique de population, Rabat 2011, S. 204f.

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Jahr 1966 als „Nationales Programm der Familienplanung“ („Programme National de Planification Familiale“) vom Gesundheitsministerium vorgestellt wurde. Diese Maßnahmen führten dazu, dass sich das Bevölkerungswachstum seit den 1970er Jahren verlangsamte. Zwischen den Jahren 1980 und 1997 nahm die Rate der Anwendung moderner Verhütungsmethoden um ganze 40 Prozentpunkte zu; sie stieg von 19 auf 59%.229 Gleichzeitig sank die Rate der Kindersterblichkeit seit 1985 kontinuierlich.230 Die Anzahl der Kinder ging von sechs bis sieben auf zwei bis drei zurück und das Heiratsalter stieg auf 25 Jahre an. Nichtsdestotrotz ergab die letzte Volkszählung im Jahr 2014, dass sich die Bevölkerungszahl seit 1960 fast verdreifacht hat.231 Der Staat ist zunehmend außerstande, seiner Aufgabe im Arbeits-, Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Bereich nachzukommen.232 Wie schon erwähnt, wird durch das Fehlen eines (gesicherten) Arbeitsplatzes der jungen Generation der Eintritt ins Erwachsenenleben verwehrt. Sie bleiben selbst beim Erreichen des Erwachsenenalters unselbstständig, weil sie finanziell und ihre Wohnsituation betreffend von ihren Eltern abhängig sind. Damit verharren die Jugendlichen in einer verlängerten Jugendphase, da sie weder Kinder sind noch der Erwachsenenwelt angehören. Diese Schwellenphase, die von Viktor Turner auch als eine liminale Phase bezeichnet wird, ist als prekär zu betrachten, weil die Jugendlichen darin einen unsicheren und undefinierten Status haben.233 Sie befinden sich in einer Art ‚gesellschaftlichem Vakuum‘, umgeben von unsichtbaren, jedoch vorhandenen sozialen Grenzen, die sie wissentlich oder unwissentlich überschreiten und beständig neu zu definieren versuchen. Diese Phase wird auch als waithood bezeichnet. Die Wortzusammensetzung aus dem Englischen „waiting“ (warten) und „adulthood“ (Erwachsenenalter) beschreibt also eine Zeit, in der man auf den Übergang in die Erwachsenenwelt wartet. Die Jugendlichen sind aufgrund ihrer prekären wirtschaftlichen Situation außerstande ihren Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten und Vorkehrungen für eine Heirat zu treffen, die ihnen die Möglichkeit bietet, ein Leben als vollwertiges Mitglied der

229 Vgl. ebd., S. 207. Dabei lag die Rate im städtischen Gebiet bei 66% und im ländlichen Gebiet bei 51%. 230 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 143. 231 Das Bevölkerungswachstum liegt momentan bei 1,054%. Vgl. Haut-Commissariat au Plan (HCP): Population légale d‘après les résultats du RGPH 2014 sur le Bulletin official No. 6354, Rabat 2014b. 232 Vgl. Ben-Layashi 2013, S. 148. 233 Vgl. Turner 2005, S. 95.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 209

Gesellschaft zu führen. Sie sind sozial ausgeschlossen und dieser Ausschluss führt nicht nur bei ihnen, sondern auch bei ihren Eltern zu einem Gefühl der Unsicherheit und Angst bezogen auf ihre Zukunft.234 Die waithood gehört nicht zur Ausnahme, sondern zur Norm im Leben eines Jugendlichen – und das nicht nur in arabischen Ländern, sondern global.235 Dabei erleben junge Männer und Frauen die waithood auf unterschiedliche Weise. Während das Konzept des Mannes als Alleinverdiener kulturell noch immer Bestand hat, betrifft die mit Arbeitslosigkeit verbundene verlängerte Jugendphase insbesondere die Männer. Die Transition der Frau in die Erwachsenenwelt hingegen findet über die Ehe und die Mutterschaft statt.236 Somit ist die Dauer ihrer waithood im besonderen Maße von der des Mannes abhängig und an seine Fähigkeit gebunden, sich aus diesem Zustand zu befreien. Außerdem ist auch die Bildung der Frauen ein entscheidender Faktor für ihre verlängerte Jugendphase. Und diese birgt sogar positive Aspekte, denn wenn eine Frau früher durch frühe Verheiratung eine übergangslose Transition vom Kind zur Frau erlebte, ohne jemals eine Jugendphase gehabt zu haben, bietet ihr der Schul- oder sogar noch der Universitätsbesuch die Möglichkeit auf eine Jugend, im Sinne einer Phase der persönlichen Entfaltung. Die US-amerikanische Politologin Diane Singerman benutzte den Begriff waithood als erste im Zusammenhang mit dem Jugendüberhang in Ägypten: „,Waithood‘ places young people in an adolescent, liminal world where they are neither children nor adults.“237 Singerman sieht vor allen Dingen die hohen Hochzeitskosten als Hauptgrund der waithood und die Jugendbeule als Quelle erheblicher sozialer Brüche in arabischen Gesellschaften an.238 Laut Singerman ist das Aufbringen der Hochzeitskosten mit einem erheblichen finanziellen Aufwand für die Familien der Braut und des Bräutigams und insbesondere für den Bräutigam selbst verbunden. In der Regel würden die Kosten unter vier Parteien geteilt: der Braut, dem Bräutigam sowie den Eltern der Braut und des Bräutigams. Der finanzielle Aufwand sei jedoch vor allem für den Bräutigam besonders hoch, denn er trage ca. 40% der Kosten. Etwas weniger als ein Drittel würde von der Familie des Bräu-

234 Vgl. Singerman, Diane: „The negotiation of waithood. The political economy of delayed marriage in Egypt“, in: Khalaf, Samir/ Khalaf, Roseanne Saad (Hg.): Arab youth. Social mobilisation in times of risk, London 2011, S. 67-78, S. 67f. 235 Vgl. Honwana 2012, S. 47, S. 165, S. 167. 236 Vgl. ebd., S. 24. 237 Singerman 2007, S. 7. 238 Vgl. Singerman 2011, S. 69.

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tigams und ebenso viel von den Brauteltern bezahlt, während ein kleiner Teil der Kosten von der Braut getragen werde. Singerman kommt zu dem Schluss, dass eine Hochzeit dem Elffachen der jährlichen Haushaltskosten gleichkomme.239 Durchschnittlich benötige eine Familie eines Niedriglohnarbeiters 88 Monate, um den Betrag einer anfallenden Hochzeit zusammenzutragen.240 Nach diesen Berechnungen dauere es, je nach der Gesellschaftsschicht, mehrere Jahre, das erforderliche Geld für die Deckung der Hochzeitskosten zu akkumulieren. Aus diesem Grund könne sich die Verlobungszeit über viele Jahre hinstrecken, damit möglichst viel Zeit bliebe, die nötige Summe zu erwirtschaften.241 Wie man anhand der Aufführungen von Singerman erkennen kann, sind die finanziellen Lasten der Hochzeitsvorbereitungen der Hauptgrund für das verschobene Heiratsalter und die Hauptsorgen der jungen Menschen in Ägypten. Der finanzielle Aspekt ist häufig auch ein Grund für die blutsverwandten Ehen, wie bereits anhand der Parallelcousinen-Heirat in Kapitel 3 dargelegt wurde. Diese innerfamiliären Hochzeiten würden, laut Singerman, 31% der Eheschließungen in Ägypten ausmachen und ihre Zahl habe sich seit den 1960er Jahren kaum geändert.242 Singerman versteht die waithood primär als eine passive Wartezeit. Die mosambikanische Anthropologin Alcinda Honwana hingegen beschreibt diese Phase als dynamisch, in der die Jugendlichen auf kreative Art und Weise neue Formen des Seins und der Interaktion mit der Gesellschaft erfänden.243 Sie sieht in ihr eher eine Chance für die Jugendlichen. Als Herausforderung für die bestehende Gesellschaftsordnung, könne die waithood als eine Phase des Aushandelns und des Interagierens mit der Gesellschaft betrachtet werden, welche ein Potential für sozialen Wandel berge: „In the process they are creating new meanings for both youth and adulthood. The circumstances that enabled the previous generations to achieve normative adulthood no longer exist, and this generation is negotiating new experiences and repertoires available to them.“244

239 Vgl. ebd., S. 70. 240 Vgl. ebd., S. 72. 241 Vgl. ebd., S. 74. 242 Vgl. ebd., S. 76. 243 Vgl. Honwana 2012, S. 4. 244 Ebd., S. 31f.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 211

Sie spricht von einer Improvisation und Flexibilität der Jugendlichen in Bezug auf eine Anstellung und die sozialen Beziehungen (zur Familie oder Freunden), doch bleiben die Ausführungen der positiven Aspekte der waithood dabei relativ vage. Die Autorin führt selbst an, dass die Lebenswelt der Jugendlichen von Unsicherheit in allen Bereichen und Perspektivlosigkeit geprägt ist.245 Von meinen Interviewpartnern wurde sie mehrheitlich als frustrierend empfunden, insbesondere deshalb, weil man in hohem Maße von den Eltern abhängig ist, während man doch ein Leben als Erwachsener – mit all seinen Freiheiten und Verpflichtungen – führen möchte. Trotz der Chancen, die solch eine Wartephase bergen kann, fühlt sich die Mehrheit der Jugendlichen gesellschaftlich marginalisiert und zwar insbesondere von Seiten des Staates und generell von Älteren.246 Die Marginalisierung beginnt mit ihrer Abhängigkeit von der Familie, von dem Ausschluss am Erwachsenenleben, erstreckt sich von den Mangel an Rechten über die Kriminalisierung von Kontakten zum anderen Geschlecht bis hin zum Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben. Die Jugendlichen begegnen im Alltag also einer Vielzahl von Grenzen und Verboten, was zu Spannungen und Frustration führt. Sie befinden sich in der Peripherie der bestehenden sozialen Ordnung. Häufig ist dieser gesellschaftliche Ausschluss der Grund dafür, im Ausland ein neues Leben beginnen zu wollen.247 Die Chancen dafür stehen indessen verhältnismäßig schlecht. Während qualifizierte Jugendliche in der Regel, bis auf den Sprachnachweis, keine Schwierigkeiten haben, ein Visum zu beantragen und bspw. nach Europa zu gehen, stellt für unqualifizierte Jugendliche meist nur der illegale Weg über das Mittelmeer die einzige Möglichkeit dar.248 In Marokko werden die Boote, mit denen sich mehrmals täglich insb. junge Männer auf den Weg nach Europa begeben – wohlbemerkt: Marokko und Spanien trennen an der engsten Stelle nur 16 Kilometer – „Todesboote“249 genannt. Diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, müssen häufig feststellen, dass das vermeintliche El Dorado für sie Entbehrungen und Enttäuschungen bereithält. Vielleicht ist aus diesem Grund einigen Studien zu entnehmen, dass die meisten Jugendlichen gar nicht emigrieren wollen, egal wie schlecht ihre Lage aussieht, oder dass sie wieder zurückkehren,

245 Vgl. ebd., S. 166. 246 Vgl. Ben-Layashi 2013, S. 147. 247 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 148; vgl. Muños 2000, S. 23. 248 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 149. 249 Vgl. Ben-Layashi 2013, S. 150.

212 | Jugend und Gender in Marokko

wenn sie schon im Ausland gelebt haben.250 Auch die Mehrheit meiner Interviewpartner wollte lieber in Marokko bleiben. Allerdings äußerten sie den Wunsch nach einer größeren Reisefreiheit in die USA oder nach Europa, ohne lange Visaverfahren.

4.4 DAS STUDIUM ALS ZÄSUR Während das post-universitäre Leben mit vielen Belastungen verbunden und von Unsicherheit und Zukunftsängsten geprägt ist,251 stellt das Studium ein temporäres Entkommen von sozialen Normen, Erwartungen und Verantwortung dar. Die Studienzeit ist als eine Zäsur im Leben der jungen Erwachsenen anzusehen. Als eine Art gesellschaftliche Auszeit bildet sie eine Lebensphase, in der das Hinterfragen von politischen und gesellschaftlichen Themen und subversive Lebensstile sowie moderne Gesellschaftsentwürfe dominieren. Während des Studiums wird bei den Jugendlichen der Drang nach individuellen, modernen Lebenskonzepten und nach sexueller Freiheit zunehmend größer. In dieser Phase werden soziale Normen über Bord geworfen und Beziehungen eingegangen, die als deviant bezeichnet werden können, da sie den bestehenden gesellschaftlichen Normen zuwiderlaufen. Die jungen Erwachsenen möchten von ihrer Jugend profitieren und sich nicht früh binden.252 Die Verschiebung des Heiratsalters ist also nicht nur der längeren Ausbildungszeit an sich und den Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche geschuldet, sondern ist auch auf die sich wandelnden Lebensentwürfe der jungen Menschen zurückzuführen, die u. a. ein Resultat der Urbanisierung und Modernisierung sind.253 Die Studienzeit bzw. die längere Jugendphase (waithood) bietet somit auch positive Aspekte, da sie mehr Freiheiten birgt. Ihre übrige Lebenswelt ist von unhierarchischen Strukturen sowie von Liminalität, Marginalität und struktureller Inferiorität geprägt,254 während die für sie verschlossene Erwachsenenwelt ein „strukturiertes, differenziertes und oft hierarchisch

250 Vgl. u. a. Gertel 2014, S. 165; vgl. Kadiri 2016, S. 31. 251 Vgl. El Harras 2007, S. 143. 252 Vgl. Terrab, Sonia/ Saâdi, Meryem: „Explosion sexuelle au Maroc“, in: TelQuel (372) 2009. 253 Vgl. Boudarbat/ Ajbilou 2009, S. 138. 254 Vgl. Turner 2005, S. 125.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 213

gegliedertes System politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Positionen“255 darstellt. In diesem Zusammenhang kann man die Jugendlichen als das bezeichnen, was Turner als die unstrukturierte und relativ undifferenzierte Gruppe der communitas, im Sinne von einer Gemeinschaft gleichrangiger Mitglieder dieser Gruppe, beschreibt.256 Sie weist Merkmale der „Anti-Struktur“257 auf und bildet das Pendant zur Gesellschaft, welche Turner als „Struktur“ bezeichnet. Mit diesem Begriff meint Turner die „‚Sozialstruktur‘ […], d.h. ein mehr oder weniger ausgeprägtes Arrangement spezialisierter und voneinander abhängiger Institutionen sowie die institutionelle Organisation von Positionen und/oder Akteuren, die diese Institutionen voraussetzen.“258 Die communitas trete dort auf, wo die „Sozialstruktur“ nicht vorhanden sei.259 Die Merkmale von „Struktur“ sind von Normen geleitet und basieren auf der Einhaltung von Gesetzen und Bräuchen,260 während die communitas ebendiese überschreitet oder aufhebt.261 Der Übergang von der communitas zur „Struktur“ ist durch das „Zwischenstadium der Statuslosigkeit“262 geprägt. Für die Mitglieder der communitas sind somit ihr niedriger Status und ihr „strukturelle[s] Außenseitertum“263 charakteristisch. Sie leben jenseits der sozialen Ordnung. Aufgrund der rigiden Genderordnung, der sozialen Kontrolle und der Marginalisierung suchen Jugendliche nach Freiräumen, die ihnen gestatten, soziale Normen zu umgehen. Diese entstehen überwiegend durch soziale Netzwerke sowohl in der virtuellen Welt als auch in der realen Welt. Obwohl eine Interdependenz zwischen der sogenannten „Online“- und „Offline-Welt“ besteht, möchte ich zunächst selektiv auf die verschiedenen sozialen Räume eingehen. Im Vordergrund stehen in der virtuellen Welt v.a. soziale Medien, worauf in Kapitel 6 eingegangen wird, und in der realen Welt die Studienzeit (als zeitlicher Freiraum) und das studentische Umfeld (als physischer Freiraum), worauf in diesem Kapitel das Augenmerk gelegt wird.

255 Ebd., S. 96. 256 Vgl. ebd. 257 Turner benutzt diesen Begriff nur einmal, und zwar nur im Buchtitel. 258 Ebd., S. 159. 259 Vgl. ebd., S. 124. 260 Vgl. ebd., S. 111. 261 Vgl. ebd., S. 125. 262 Ebd., S. 97. 263 Ebd., S. 131.

214 | Jugend und Gender in Marokko

4.4.1 Der Universitätscampus als physischer Freiraum Studierende ziehen in dieser Lebensphase aus ihrem Elternhaus aus, um in den Universitätsstädten zu studieren. Hier genießen sie aufgrund der Anonymität eine relative Autonomie und können sich der unmittelbaren Beobachtung und Kontrolle sowie des Einflusses ihrer Familien entziehen. Diese vorübergehende Freiheit stellt für Studenten, aber vornehmlich Studentinnen, eine besondere Phase der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit dar.264 Nicht nur aufgrund der Entfernung vom elterlichen Domizil stellt das Studium einen Freiheitsgewinn dar;265 der Universitätscampus an sich fungiert als Freiraum für Studierende, weil er das unbefangene Zusammenkommen beider Geschlechter ermöglicht. Er kann als Ort des Kennenlernens, des Flirtens oder auch als Nische der Pluralität in einer Umgebung, in der das gemeinsame Auftreten von Männern und Frauen von der konservativen Mehrheitsbevölkerung mit Argwohn und Misstrauen beäugt wird, fungieren. Idealiter kann der Campus einen Ort der Diskussion, des kritischen Denkens und des Aushandelns potentieller zukünftiger Gesellschaftsordnungen darstellen. Die Studentinnen, die ich kennengelernt habe, erfahren während des Studiums eine größere Autonomie, insbesondere dann, wenn sie ein eigenes Auto besitzen, und gehen mit ihren Freundinnen und Freunden in Cafés, Restaurants und in Discotheken. Im universitären Umfeld selbst erfreuen sich die Studentinnen größerer Bewegungsfreiheiten als außerhalb des Campusses und einer offenen Atmosphäre. Niemand von ihnen gab in den Interviews an, dass sie in dieser Umgebung sexuelle Belästigungen, wie sie sie von der Straße oder dem öffentlichen Raum her kennen, erfahren hätten. Entgegen meiner Vermutung, die Universität sei ein männlich dominierter Raum, hatte niemand von meinen Interviewpartnerinnen an der Universität negative oder gar diskriminierende Erfahrungen gemacht. Obwohl die Professoren zu einem Großteil Männer sind, überwiegt der Frauenanteil in Studiengängen wie Jura, Medizin und Soziologie.266 Die Studierenden, die ich während meiner

264 Vgl. Nouraie-Simone, Fereshteh: On shifting ground. Muslim women in the global era, New York 2005, S. xv. Die Studentenwohnheime sind in Marokko nach Geschlechtern getrennt. 265 Viele ortsansässige Jugendliche bleiben während ihrer Studienzeit im Haus ihrer Eltern wohnen, sei es aus finanziellen oder aus pragmatischen Gründen. 266 Alle Befragten gaben an, dass der Frauenanteil in ihren Fachbereichen ca. 60 bis 70% betrage.

Die Lebenswelt der Jugend in Marokko – eine Annäherung | 215

Feldforschung bei ihren universitären Aktivitäten begleitet habe, pflegten einen respektvollen, freundschaftlichen und unbefangenen Umgang miteinander. Das Studium kann darüber hinaus auch dem Kennenlernen potentieller Heiratspartner dienen. Dies konnten auch die Studierenden bestätigen, mit denen ich gesprochen habe. Sie berichteten mir, dass die Universität ein Ort sei, an dem sich viele zukünftige Ehepaare finden würden. Jeder meiner Interviewpartner kannte mindestens ein Pärchen aus dem Freundeskreis, welches sich an der Uni kennengelernt hatte, und ein Großteil von ihnen kannte Kommilitonen, die verlobt oder bereits verheiratet waren. Aus meinen Interviews ging außerdem hervor, dass die Studierenden sich einen gebildeten und gleichberechtigten Partner bzw. Partnerin wünschten. Die Versorgerrolle des Mannes spielte in ihren Zukunftsentwürfen keine oder nur eine geringe Rolle. Die Mehrheit der Studenten antwortete mir, dass ihre zukünftige Ehefrau selbstverständlich arbeiten könne. Auch hatten sie keine Probleme damit, wenn sie später mehr Geld verdienen würde. Das verdeutlicht, dass mit einem höheren Bildungsniveau auch die Unterminierung traditioneller Wertvorstellungen einhergeht und eine größere Bereitschaft zu egalitären Beziehungsmodellen besteht. Des Weiteren waren allen Befragten eine gemeinsame Kindererziehung sowie eine auf Reziprozität basierende Aufgabenteilung in der Ehe wichtig. Diese Antworten können als ein Zeichen dafür gedeutet werden, dass gebildete Männer sich eine adäquat gebildete Frau wünschen. Jedoch wurde mir auch bestätigt, dass auf gesamtgesellschaftlicher Ebene viele Männer eine weniger gebildete oder nicht berufstätige Frau bevorzugen würden. Auf meine Frage nach den Gründen dafür, wurde mir häufig entgegnet, dass es darauf zurückzuführen sei, dass sich der Mann gegenüber einer ungebildeten Frau überlegen fühle und die tradierte Rolle als Ernährer der Familie aufrechterhalten könne. Die Studienzeit kann als eine Phase betrachtet werden, die Freiräume zur Aushandlung neuer Gendermodelle und alternativer Zukunftsentwürfe bieten kann. Insgesamt vertritt die junge urbane und gebildete Generation eine liberale Sicht auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Indessen ging aus meinen Gesprächen und Interviews mit den Studierenden hervor, dass sich die Jugendlichen, sobald diese Lebensphase zu Ende geht, traditionellen Lebenskonzepten zuwenden. Das ließ sich v.a. bei den Männern konstatieren, die während der Studienzeit keinen großen Wert auf die Jungfräulichkeit ihrer Partnerin legen, sich aber später, wie es die Familie und die gesellschaftliche Konvention vorsieht, eine Jungfrau zur Frau nehmen. Eine Studentin teilte mir im Interview mit, dass derartige Ansichten ein Beweis für die Heuchelei der Männer seien:

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Solange die Männer studieren und jung seien, würden sie ein modernes Leben, nach europäischem Vorbild führen wollen, aber sobald es zur Heirat käme, würden sie wieder zur Tradition zurückkehren.267 Darüber hinaus wurde mir immer wieder davon berichtet, dass verheiratete Männer nicht selten eine Geliebte haben, mit der sie ihre Fantasien ausleben, während zuhause eine brave Hausfrau und Mutter auf sie warte. Dieses Doppelleben ist als eine Flucht oder als eine Abwehrreaktion auf den Druck gesellschaftlicher Konventionen anzusehen: Da der Lebensstil, den sie gerne führen würden nicht auf Akzeptanz der Öffentlichkeit stößt, gehen sie ihm im Geheimen nach. Viele Jugendliche nannten in diesem Zusammenhang den Begriff ‚soziale Schizophrenie‘ oder ‚soziale Hypokrisie‘, was verdeutlicht, dass sie sich der eigenen Doppelmoral bewusst sind, aber in erster Linie die Gesellschaft dafür verantwortlich machen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen liegt es daran, dass Marokko ein konservatives, muslimisch geprägtes Land ist, in dem die Einhaltung tradierter soziokultureller Normen – wie das Ehr-Konzept – von hoher Relevanz ist. Zum anderen herrscht dort eine ‚Kultur der Reputation‘, in der Freiheiten des Individuums der Gemeinschaft bzw. dem familiären Frieden untergeordnet werden, um Konflikte zu vermeiden. Die Furcht vor familiärer und damit gesellschaftlicher Exklusion überwiegt bei der Frage, ob man dem Druck und der Erwartungshaltung der Familie nachgibt und sich dem von ihr vorgesehenen traditionellen Lebensentwurf fügt oder ob man sich für ein selbstbestimmtes und auf individuellen Wünschen ausgerichtetes Leben entscheidet, welches jedoch den Ausschluss aus der eigenen Familie nach sich ziehen kann. Die Anpassung an den Wunsch der Familie und an gesellschaftliche Konventionen ließ sich insb. bei den Studentinnen feststellen. Ihre Antworten waren häufig reservierter als die der jungen Männer. Die Studentinnen schienen auf die Konformität mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu zielen. Bis auf eine Ausnahme gaben alle Frauen an, noch Jungfrauen zu sein. Darüber hinaus stellt der zeitliche Aspekt, noch vor dem Erreichen eines bestimmten Alters – spätestens jedoch vor dem dreißigsten Lebensjahr – einen Ehemann zu finden, die Frauen unter einen enormen Druck. Aus Angst eine bayra (‚alte Jungfer‘) zu werden, akzeptieren sie ein Leben mit einem Partner, der nicht ihren Vorstellungen entspricht und den sie nicht lieben, um eine gewisse gesellschaftliche Autonomie zu erlangen, die sie als Ledige nicht haben könnten.268 Die Tatsache, dass nahezu alle Interviewten anga-

267 Interview am 20.03.2013 in Rabat. 268 Vgl. dazu das Interview im Kapitel 3.5.3.2.

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ben, nach dem Studium oder nach einigen Jahren der Berufserfahrung heiraten zu wollen, deutet ebenfalls auf die Zuwendung zu tradierten Partnerschaftsmodellen hin. Dabei sind die Männer in ihrer Wahl der Heiratspartnerin freier als Frauen. Nur selten würde eine junge Frau einen Mann gegen den Willen ihrer Eltern ehelichen, weil dies mit einem Bruch mit der Familie einhergehen würde. Demnach sind die Freiräume, die während der Studienzeit entstanden sind, als temporäre Freiräume anzusehen – als eine Zäsur –, da sie den gesellschaftlichen Normen zuwiderlaufen. Es wird deutlich, dass während der Studienzeit liberale Konzepte der Partnerschaft gelebt werden, diese aber zugunsten der Tradition oder der Erwartungshaltung ihrer Familie wieder aufgegeben werden. Der Großteil der Studenten gab in den Interviews an, das Gefühl zu haben, sich in einem Konflikt zwischen Tradition und Moderne zu befinden. Viele von ihnen sprachen von einem Verlust kultureller und traditioneller Werte, die sie v.a. mit dem Alkoholtrinken, Rauchen und dem Zeigen von nackter Haut begründeten. Einige sprachen sogar von einem Identitätsverlust. Die Mehrheit der Befragten gab an, in einem Kompromiss zwischen der Tradition und Moderne zu leben. Sie äußerten in diesem Zusammenhang den Wunsch nach einem Mittelweg zwischen traditionellen und modernen Lebenskonzepten. Indessen ist dieser Spagat nur bis zu einem bestimmten Maße möglich und lässt sich nicht ohne Ausflüchte, Verheimlichungen und Lügen aufrechterhalten. Die wenigsten jungen Leute können die Norm der vorehelichen Abstinenz erfüllen. Sie sind gefangen zwischen dem Lockruf eines modernen Lebensstils, wo sexuelle Aktivität als normal betrachtet wird, und der Botschaft des offiziellen Islams, welcher Sexualität nur im ehelichen Rahmen billigt.269 Um nicht mit dem Elternhaus und den gesellschaftlichen Normen in Konflikt zu geraten, verheimlichen die Jugendlichen z. B. ihre Beziehungen vor den Eltern270 und die jungen Frauen negieren vor ihren Eltern die Anwesenheit von Männern bei Freizeitunternehmungen. Das wiederum führt zu einem persönlichen Dilemma, welches aus der ‚kulturellen Schizophrenie‘ resultiert. Bei der vermeintlichen List handelt es sich in Wirklichkeit um eine Bewältigungsstrategie in Bezug auf den rigiden Umgang bei Verstößen gegen die tradierte Sexualmoral. Beachtet man die Übergangstheorien van Genneps und Turners, ist diese Beobachtung keinesfalls verwunderlich oder irritierend, denn die liminale Phase oder

269 Vgl. Dialmy 1998, S. 16. 270 Alle Befragten führten in den Interviews an, dass ihre Eltern nicht über ihren festen Freund oder ihre feste Freundin in Kenntnis seien.

218 | Jugend und Gender in Marokko

Schwellenphase bildet ja lediglich einen ‚Weder-Noch-Zustand‘, einen Übergang. Das Individuum schwebt dabei zwischen zwei Welten.271 Diese Phase der „AntiStruktur“ wird mit der Hochzeit, welche als Angliederungsritual dient, abgelöst. Mit dem Ende der Schwellenphase vollzieht sich die Angliederung an die Gesellschaft.272 Der subversive Lebensstil wird zugunsten der normativen Gesellschaftsordnung aufgegeben und auf diese Weise wird der Übergang der Jugendlichen zu Erwachsenen vollzogen. Aufgrund der starken Tabuisierung außerehelicher Sexualbeziehungen und der statischen, tradierten und oktroyierten Vorstellungen von Geschlechterrollen, bewegen sich die Jugendlichen in der Auslebung ihrer Sexualität in einer Art ‚Grauzone‘. Das führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen der Tradition und der eigentlichen Lebensrealität junger Menschen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass strukturelle Veränderungen dazu beigetragen haben, dass sich traditionelle Modelle von Beziehungen, wozu Ehe, Partnerwahl und Kindererziehung zählen, und Geschlechterrollen sowie Wertvorstellungen insgesamt in einem Wandel befinden. Frauen haben heute Zugang zur Bildung, wodurch sich ihr Heiratsalter bereits verschoben hat und kontinuierlich weiter verschiebt. Insbesondere berufstätige Frauen sind aufgrund ihrer finanziellen Autonomie weniger dem Druck, sich frühzeitig zu vermählen, ausgeliefert. Neue Konzepte der Partnerschaft und des partnerschaftlichen Zusammenlebens werden erprobt, die bestehenden Beziehungs- und Gendermodelle werden hingegen infrage gestellt. Es lässt sich feststellen, dass die Institution der Ehe und der Familie großen Veränderungen unterworfen und darüber hinaus stark von der Konjunktur des Landes abhängig ist. 4.4.2 Die Bedeutung der Bildung – Werte im Wandel Bildung und Erziehung nahmen in der islamischen Kulturgeschichte einen hohen Stellenwert ein und galten als erstrebenswert, insb. in Bezug auf Kenntnisse des Korans und der Hadithe.273 Heutzutage sind die Kinder meist besser gebildet als ihre Eltern.274 Vor allem die Söhne sind die Hoffnungsträger ihrer Familien. Mehrere Autoren konstatieren, dass sich die familiären Beziehungen aufgrund des westli-

271 Vgl. van Gennep 1909, S. 27. 272 Vgl. ebd. S. 28ff. 273 Vgl. Schneider 2011, S. 203. 274 Vgl. Hegasy 2007b, S. 24; vgl. Honwana 2012, S. 13.

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chen Einflusses, der mit der Kolonialzeit in Marokko Einzug erhielt, der technischen und wirtschaftlichen Innovationen, zu denen die Jugend besseren Zugang hatte, und des Bildungsunterschiedes verschoben hätten.275 Der Bildungsgrad und die damit verbundene Qualifizierung von Frauen stellt eine wichtige Komponente für den Wandel innerhalb der Familie dar und bildet die Grundlage für die Transition der Gesellschaft in Richtung einer egalitären Gesellschaftsordnung. Die Erwerbstätigkeit der Frau kann als Einleitung des Endes der patriarchalen Familienstruktur angesehen werden. Es fand nicht nur eine Veränderung des traditionellen Rollenverständnisses statt, sondern auch eine Umkehrung der sozialen Verantwortung. Barakat nennt es die „democratization of husband-wife and father-children relationships“.276 Diese Demokratisierung der familiären Beziehungen ist als ein direktes Resultat des Wandels der Familienstruktur zu verstehen, die auf sozioökonomische Veränderungen, die Erwerbstätigkeit und die steigende Autonomie der Frau und der Kinder zurückzuführen sind. Höll zufolge führte die oftmals bessere Bildung der Kinder zu einer Krise der jungen Generation, insbesondere wenn die Eltern Analphabeten waren, weil die einstige Bewunderung und Ehrfurcht vor den Eltern schwinden würde. Ebenso halte die ältere Generation an der Tradition auf allen Gebieten fest, während sich die junge Generation immer weiter davon distanziere.277 Diese Aussage stimmt, meiner Ansicht nach, nur partiell. Die Jugend hält einerseits weiterhin an gewissen Traditionen fest und betont ihre Wichtigkeit, wie man an den Ausführungen weiter oben erkennen kann. Andererseits möchte sie aber dessen ungeachtet an neuen Veränderungen und am modernen Leben teilhaben. Bennani-Chraïbi bezeichnet diese Ambivalenz als eine „bricolage culturel“ („kulturelle Bastelei“).278 Man bediene sich demnach unterschiedlicher Wertesysteme, der traditionellen wie der modernen, die auf den ersten Blick als nicht miteinander kompatibel erscheinen. Doch diese Einstellungen seien, so Bennani-Chraïbi, nicht etwa als „schizophren“ zu werten, sondern würden ein Nebeneinander verschiedener Wahrheitssysteme darstellen, von der jedes einzelne einer spezifischen eigenen Logik folge. Auf den ersten Blick schiene es, als hegten die Jugendlichen paradoxe Wünsche, was ihre Zukunftsentwürfe anbetrifft, wie bspw. das Land zu verlassen und ein Leben nach dem ‚westlichen‘ Modell zu führen, doch gleichzeitig würden

275 Vgl. Höll 1979, S. 172; vgl. Mernissi 1982, S. 190. 276 Barakat 1993, S. 102. 277 Vgl. Höll 1979, S. 180. 278 Bennani-Chraïbi 1994, S. 27.

220 | Jugend und Gender in Marokko

sie den Wunsch danach äußern, den Islam als normatives Handlungsmodell wiederherzustellen. Es gehe hierbei einerseits um die Selbstbehauptung des Individuums, mit der Sehnsucht nach der Beteiligung an der Konsumgesellschaft, dem Erreichen individueller Selbsterfüllung, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auch wenn dies mit der Überschreitung sexueller und politischer Verbote verbunden sei. Andererseits bestehe ein Wunsch nach dem Wiederaufbau sozialer Beziehungen, welche durch ein höheres Prinzip vereint sei: die Religion. Da die individuelle Selbsterfahrung als schmerzvoll und isolierend empfunden werde, weil es von einem Bruch bestehender Beziehungen, bspw. mit der Familie, begleitet werde, bestünden zwei ambivalente Tendenzen: entweder die Gruppe zu verlassen oder diese wieder aufzubauen.279 Meinen Erfahrungen zufolge ist das Festhalten an alten Traditionen nicht zwangsläufig ein Spezifikum der älteren Generation, sondern auch von dem Bildungsniveau und dem sozioökonomischen sowie familiären Hintergrund der jeweiligen Person oder Gruppe abhängig. So sind z. B. gebildete Menschen eher geneigt, sich auf Neues einzulassen, ohne dadurch einen drohenden Werteverfall zu wittern. Ebenso ist davon auszugehen, dass Menschen, die in einem urbanen Milieu aufgewachsen sind, offener für Veränderungen sind, weil sie mit ihnen im städtischen Umfeld häufiger konfrontiert werden, als Menschen auf dem Land. Zu den Hauptquellen der gesellschaftlichen Werte zählten früher vor allem die Religion, die Tradition und das Brauchtum.280 Sie bestimmten zu jener Zeit das soziale Leben und galten dem Individuum und dem Kollektiv als das Bezugssystem schlechthin. Im Zuge der Unabhängigkeit des Staates, den nachfolgenden soziopolitischen und sozioökonomischen Entwicklungen sowie der Globalisierung herrschen in Marokko heute, neben dem alten Wertesystem, mannigfaltige neue Wertesysteme, die auf die Jugendlichen einwirken, sie beeinflussen oder aber überfordern. Diese können von liberalen Ideen, wie den universellen Menschenrechten, der Gleichstellung der Frau, dem Laizismus, dem Säkularismus, der Redefreiheit, der Demokratie usw. inspiriert sein oder auch in die andere Richtung gehen, wie etwa an reaktionäre Ideen wie der Rückbesinnung an eine ahistorische, prämoderne Frühzeit des Islam (Salafismus) gebunden sein, die die Errungenschaften der Moderne, sofern sie den eigenen Interessen und Zielen zuwiderlaufen, vehement ablehnen. Moralische Werte sind untrennbar mit der religiösen Ordnung in der Gesell-

279 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 145. 280 Vgl. Bourqia 2010, S. 106.

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schaft verbunden. Die Religion bildet ein ‚moralisches Gerüst‘ und diktiert die Werte, die man sich selbst und anderen gegenüber zu befolgen hat.281 Dabei bildet die Familie die erste Institution, in der Werte vermittelt und reproduziert werden. Die Organisation der Familie basierte lange Zeit, und tut es – je nach familiärem Hintergrund – heute noch, auf dem Prinzip der Hierarchie und der Autorität.282 Eines der wichtigsten Werte, das einem Individuum in seiner Familie überliefert wird, ist der elterliche Segen (rda). Jedem Familiensprössling ist daran gelegen, den Segen seiner Eltern nicht entzogen zu bekommen, was im Extremfall die Verbannung (sakht) aus dem Elternhaus bedeuten würde. Diese Verbannung, so Bourqia, würde gleichzeitig bedeuten, von der Gesellschaft und Gott persönlich verbannt worden zu sein.283 Die Familie bildet zwar weiterhin einen wichtigen Bezugsrahmen der jungen Erwachsenen und ist die Mikrogesellschaft, die dem Individuum Werte und Normen nahebringt und ihm Grenzen aufzeigt, jedoch nimmt ihr Einflussbereich auf das Leben der jungen Menschen stetig ab. Die Hierarchie innerhalb der Familie befindet sich seit den letzten zwanzig bis dreißig Jahren in einem kontinuierlichen Wandel. Die junge Generation entfaltet eigene Wertvorstellungen, die unter Umständen mit denen der älteren Generationen kollidieren können. Schon heute ist eine gewisse Transformation zwischen den Generationen zu beobachten, einhergehend mit der sich wandelnden familiären Hierarchie, in der z. B. der Vater, aus verschiedenen Gründen, wie etwa Arbeitslosigkeit, Arbeitsmigration oder schlechterer Bildung im Vergleich zu den Kindern, kontinuierlich an seinem Status als Familienoberhaupt einbüßt.284 Abgesehen davon ist Jugendzeit generell von Aushandlungen von Freiräumen, der Behauptung eigener Standpunkte und der Infragestellung elterlicher Autorität geprägt. Darüber hinaus verschieben sich familiäre Beziehungen auch aufgrund technischer und wirtschaftlicher Innovationen, zu denen die Jugend in der Regel besseren Zugang hat, und des Bildungsunterschiedes, wobei häufig das eine das andere bedingt. Denn ohne eine gewisse Grundbildung, ist der Umgang mit modernen Technologien, bspw. dem Computer, ausgeschlossen. Dies führt zu einer Transformation des Eltern-Kind-Verhältnisses:

281 Vgl. ebd. 282 Vgl. ebd.; vgl. Bararat 1993, 102, 106, 120. 283 Vgl. Bourqia 2010, S. 107. 284 Vgl. ebd., S. 109; vgl. Höll 1979, S. 172.

222 | Jugend und Gender in Marokko

„The knowledge gap between the majority of students and their parents has resulted in the transformation of parent-children relations: parents have not only ceased to act as knowledge transmitters, but have also had to relinquish a significant amount of their moral and religious authority.“285

Dieser Wandel in der Eltern-Kind-Beziehung führt dazu, dass die Vorbildfunktion und somit der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder an Wirksamkeit und Gültigkeit einbüßt.286 Bessere Bildung der jungen Generation kann demnach das Autoritätsverhältnis verkehren und zu einem Wertewandel beitragen.287 Das, was man gemeinhin als einen Generationenkonflikt bezeichnet, ist nach Bourdieu jedoch vielmehr ein Konflikt zwischen verschiedenen Personen oder Altersgruppen, „die sich über ihr jeweils anderes Verhältnis zum Schulsystem konstituieren.“288 Die Konflikte zwischen den Generationen sind somit weniger auf die Generationen selbst zurückzuführen, sondern resultieren vielmehr aus den unterschiedlichen Zugängen zur Bildung.289 Es handelt sich demnach vielmehr um divergierende Verhältnisse, die aus unterschiedlichen Schulsystemen entstanden sind. Neben den Bildungsunterschieden können auch unterschiedliche Erfahrungen zu Konflikten zwischen den Generationen führen. Während in der Sozialisation der älteren Generation Ideologien wie Nationalismus, Sozialismus und AntiImperialismus dominierten, müssen die Generationen, die nach der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten geboren wurden, diese nicht zwangsläufig teilen.290 Zu einem Wandel der individuellen und gesellschaftlichen Wertesysteme hat also nicht nur der Zugang zur Bildung beigetragen, sondern ein Zusammenspiel aus internen und externen Faktoren, welche die marokkanische Gesellschaft im Zuge der nationalen Unabhängigkeit und der Staatenbildung nachhaltig beeinflusste. Dazu gehören, neben der Globalisierung, technischen Innovation und Migration, auch internationale Konventionen zu Menschen-, Frauen- und Kinderrechten sowie internationale Maßnahmen für die Demokratieförderung in der arabischen Welt, die neue Rechte und Werte, wie die Rede- und Pressefreiheit sowie die Stärkung der Zivilgesellschaft hervorgebracht haben. Auf der Grundlage all dieser Entwicklun-

285 El Harras 2007, S. 145. 286 Vgl. ebd, S. 143. 287 Vgl. Hegasy 2009, S. 271. 288 Bourdieu 1993, S. 145. 289 Vgl. ebd. 290 Vgl. Muños 2000, S. 23.

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gen findet in Marokko eine fortwährende Aushandlung zwischen sogenannten traditionellen und modernen Werten statt, die zu neuen Entwürfen von Lebens- und Gendermodellen führen können. Diese Veränderungen haben zu dem geführt, was man im Allgemeinen einen Wertekonflikt oder eine Wertekrise nennt.291 In meiner Forschung habe ich, basierend auf den Antworten der Studierenden und meinen Beobachtungen, jedoch die Erfahrung gemacht, dass traditionelle Werte (wie z. B. der Respekt vor der Familie, der Mann als Beschützer der Frau, Bewahrung der Jungfräulichkeit) und neue Werte (Individualität, Recht auf Privatsphäre und Sexualität, außereheliche Beziehungsformen, demokratische Grundwerte, wie die Rede- und Versammlungsfreiheit) häufig koexistieren. Deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang, in Anlehnung an Helmut Klages, eher von einer „Wertesynthese“ sprechen. Darunter wird der Wertewandel in einer Gesellschaft nicht als notweniger Konflikt, bei dem alte und neue Werte in Opposition zueinander stehen, sondern vielmehr als eine sich entfaltende, produktive Wechselwirkung angesehen.292 Diese Ausführungen sollen verdeutlichen, dass das Familien- und Generationenverhältnis, mit der Betonung auf individuellen Entscheidungen und Freiheiten, im Zusammenhang mit dem Zugang zur Bildung in den letzten Jahren im Wandel begriffen ist. Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Feststellung im Zusammenhang mit der städtischen Bevölkerung getroffen wurde und nicht als allgemeingültig für die gesamte Gesellschaft betrachtet werden darf. Es handelt sich also primär um ein städtisches Phänomen. Beachtet man jedoch die voranschreitende Urbanisierung Marokkos und die Tatsache, dass im Jahr 2015, mit ca. 60%, über die Hälfte der Bevölkerung in den Städten lebte, können die obigen Aufführungen als relativ zutreffend für die Bevölkerungsmehrheit betrachtet werden.293 In diesem Kapitel wurden die Lebenswirklichkeit der Jugend und die Rolle, die die Studienzeit in ihrem Leben hinsichtlich der Erschließung von Freiräumen spielt, thematisiert. Es wurde auch ein Überblick über das Bildungssystem und die ökonomischen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt gegeben, welche entscheidend für den Eintritt in das Erwachsenenleben und die Ehe sind. Aufgrund des Mangels an

291 Vgl. Bourqia 2010, S. 108. 292 Vgl. Klages, Helmut: Werteorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt am Main 21985, S. 164ff. 293 Vgl. Haut-Commissariat au Plan (HCP): Taux d’urbanisation (en %) par année : 19602050, Rabat 2014a.

224 | Jugend und Gender in Marokko

Arbeitsplätzen und der schwierigen Arbeitsmarktsituation, sind junge Menschen von der gesellschaftlichen Partizipation ausgeschlossen, haben keinen Zugang zum Wohnungsmarkt und sind im hohen Maße von der Unterstützung ihrer Eltern abhängig. Diese Ausgangslage hindert sie an dem Eintritt in die Ehe und dem Erreichen des Erwachsenenstatus. Ohne den ehelichen Rahmen, ist ihre Sexualität einer Kriminalisierung unterworfen, der sie vor große Herausforderungen stellt. Im folgenden Kapitel werden die gesellschaftliche Exklusion der Jugendlichen, die eine Folge der rigiden sozialen Normen ist, und die Auswirkungen der repressiven Sexualmoral auf ihre Lebenswelt thematisiert. Ferner wird in diesem Kapitel die Erschließung von Freiräumen untersucht, in denen die Jugendlichen deviante Beziehungsformen praktizieren.

5. Deviante Praktiken als Rituale des Widerstands

Sexualität und die Ehe sind in Marokko grundlegenden Veränderungen unterworfen und stehen in direktem Zusammenhang mit sozialen, ökonomischen und kulturellen Konditionen. Die Arbeitslosigkeit und die damit verbundene prekäre Lebensgrundlage junger Menschen und die Verschiebung des Heiratsalters sind miteinander verflochten und haben Auswirkungen auf ihre Bewältigungsstrategien. Aufgrund der sozialen Marginalisierung der Jugendlichen und des repressiven Vorgehens des Staates, der ihnen Grenzen bzgl. ihrer individuellen Freiheiten, aber auch ihrer Partizipationsmöglichkeiten auferlegt, trachten sie danach, diese oktroyierten Grenzen zu verschieben und sich Freiräume zu erschließen, die ihnen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Mit anderen Worten: Je rigider der Staat und je größer die staatliche Kontrolle, desto größer ist die Bereitschaft, diese Grenzen zu verschieben und sich Freiräume zu erschließen. Dieses subversive Verhalten stellt für die Jugendlichen eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit der rigiden Sexualmoral dar. Da ihnen aufgrund schwieriger sozioökonomischer Faktoren der Anschluss an den Erwachsenenstatus und der Zugang zu einer ‚legalen‘ Sexualität verwehrt bleiben, suchen sie nach Möglichkeiten, ihre Sexualität in anderen Rahmen zu praktizieren, und pflegen außereheliche Beziehungen im Verborgenen. Sexualität und Intimität spielen eine wesentliche Rolle im Alltag der Jugendlichen und können Chancen für die Umgestaltung von Geschlechterbeziehungen und für persönliche sowie kollektive Identitäten bergen.1 Im Folgenden werden deviante Praktiken und Beziehungen zwischen Männern und Frauen genauer erläutert. 1

Vgl. Honwana 2012, S. 89.

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5.1 RELATIVE JUNGFRÄULICHKEIT In Marokko ist das Sammeln von sexuellen Erfahrungen von Ambivalenz und Komplexität geprägt.2 Deviante Beziehungsformen gehören zwar zur sozialen Praxis, über die jeder Bescheid weiß, aber über die niemand offen spricht, weil Sexualität zu einem tabuisierten Thema gehört und man dadurch sich selbst oder den Partner in eine ernst zu nehmende Gefahr bringen könnte.3 Wie in Kapitel 2.6.3 aufgezeigt wurde, ist das Verständnis der Jungfräulichkeit im soziokulturellen Sinne weit gefasst. Viele Frauen sind keine Jungfrauen im eigentlichen Sinne mehr. Obwohl die Sexualmoral in der Gesellschaft weiterhin durch strenge Ehrvorstellungen gekennzeichnet ist und deshalb von den Frauen Jungfräulichkeit vor der Ehe erwartet wird, haben immer mehr junge Menschen in Marokko voreheliche Sexualbeziehungen und das zunehmend im jüngeren Alter.4 Das Durchschnittsalter beim ersten Mal beträgt 16,7 Jahre bei Jungen und 18,2 Jahre bei Mädchen.5 Laut der Studie von Naâmane-Guessous aus dem Jahr 1991 hatten bereits 65,3% der befragten 200 Frauen mindestens eine voreheliche sexuelle Beziehung.6 Dabei konnte die Autorin feststellen, dass es vor allem die jüngeren (unter 35-jährigen) und besser gebildeten Frauen – solche mit einem Sekundarabschluss II oder mit einem Universitätsabschluss – waren, die häufiger voreheliche sexuelle Erfahrungen machten.7 Diese Beobachtung verdeutlicht, dass gebildete Frauen sexuell aufgeklärter sind und Sexualität in den Kontext mit individuellen Freiheiten und Selbstbestimmung setzen. Das Recht auf Sexualität wird von gebildeten Jugendlichen zunehmend als ein Menschenrecht betrachtet. Gebildete Frauen in den Städten ergreifen vermehrt selbst die Initiative bezüglich der Kontaktauf-

2

Vgl. Kadiri, Nadia et al.: „Internet and sexuality in Morocco, from cyber habits to psychopathology“, in: Sexologies, (22) 2012, S. 49-53, S. 52.

3

Aufgrund der Schamkultur waren meine Interviewpartnerinnen gehemmt über ihre Sexualtität zu sprechen. Nur ganz enge Freundinnen hatten im Laufe meiner einjährigen Feldforschung genug Vertrauen zu mir aufgebaut, welches notwendig ist, um über solch sensible Themen reden zu können.

4

Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 45

5

Vgl. Fathi, Nouhad: „Pour que l‘éducation sexuelle soit dans les curricula de l’enseingement“, in: Illionweb.com (30.01.2014).

6

Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 46.

7

Vgl. ebd., S. 47.

Deviante Praktiken als Rituale des Widerstands | 227

nahme zum anderen Geschlecht und wählen ihren Partner selbst aus.8 NaâmaneGuessous stellt außerdem fest, dass Sexualität von gebildeten Frauen losgelöst von Angst, Komplexen und Schuldgefühlen praktiziert werde.9 Für diese Frauen stelle Geschlechtsverkehr eine Quelle der Freude und eine Manifestation der Liebe dar.10 Im Unterschied zu ihnen bedeute er für die befragten älteren und verheirateten Frauen einen unerträglichen Frondienst, eine Pflicht der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann, von dem sie im Gegenzug Nahrung und ein Heim erhalten würden.11 Während es sich für ‚anständige‘ Frauen früher nicht geziemte, Lust am Liebesspiel zu empfinden,12 ist es heute von zunehmender Wichtigkeit für beide Partner. Sex würde nicht mehr als ein Akt betrachtet, bei dem der Mann das alleinige Vorrecht habe, Lust zu empfinden. Naâmane-Guessous konnte außerdem herausfinden, dass Mädchen, deren Mütter alleinerziehend und berufstätig waren, mehr Freiheiten genossen und häufiger Kontakt zu Männern hatten.13 Dialmy hält fest, dass junge Frauen zunehmend ihr Recht einfordern, über ihren Körper selbstbestimmt verfügen zu können.14 Er schreibt an anderer Stelle: „Female sexuality has been able to affirm itself outside the institution of marriage; it is a sexuality that is de-institutionalized and that is beginning to claim the right to auto-determination and independence.“15

Bennani-Chraïbi berichtet ebenfalls darüber, dass voreheliche Sexualbeziehungen unter den Jugendlichen weit verbreitet sind.16 Die voreheliche Sexualpraxis steht im Konflikt zur Gesetzeslage und führt zu einer Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Normen und gelebter Realität. Es stellt sich die Frage, ob sie zu einer sexuel-

8

Vgl. Terrab, Sonia/ Saâdi, Meryem: „Explosion sexuelle au Maroc“, in: TelQuel (372) 2009.

9

Nur eine von vier Frauen fühlte sich in der Studie schuldig, voreheliche sexuelle Erfahrungen gesammelt zu haben. Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 50.

10 Vgl. ebd., S. 209. 11 Vgl. ebd., S. 211. 12 Vgl. Combs-Schilling 1989, S. 207. 13 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 47. 14 Vgl. Dialmy 2012, S. 47. 15 Ders. 2002-2003, S. 82. 16 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 146.

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len Revolution führen kann oder ob sie nur eine Übergangsphase darstellt, die mit der Eheschließung endet. Als deviantes Sexualverhalten sind alle Formen sexueller Beziehungen außerhalb des ehelichen Rahmens zu verstehen. Voreheliche Sexualität muss nicht zwangsläufig mit einer Penetration einhergehen und ist deshalb nicht mit Geschlechtsverkehr im herkömmlichen Sinne gleichzusetzen. Sie kann andere, alternative Sexualpraktiken beinhalten, die als Substitut fungieren und in Marokko als sexe artificiel („künstlicher Sex“) bezeichnet werden. Dialmy erklärt es folgendermaßen: „Sociologically, the increase in pre-marital sexual activity is bound to dissociate sex from marriage. This activity is characterized by sexual substitutive practices that reconcile the modern principle of pleasure with the Islamic-patriarchal principle of non-defloration.“17

Geschlechtsverkehr ohne Defloration ermöglicht den Jugendlichen also ein Sexualleben, ohne die gesellschaftliche Norm der Jungfräulichkeit vor der Ehe zu verletzen oder, wie Dialmy es ausdrückt, ohne dabei sein „Hymen-Kapital“18 zu verlieren. Zunehmend gestehen auch junge Männer den Frauen das Recht auf ein Liebesleben zu, jedoch nur unter der Prämisse, dass sie ihr Hymen dabei intakt halten.19 Eine junge Frau berichtete mir: „Meine Jungfräulichkeit bedeutet mir gar nix und meinem Freund noch weniger… Aber ich behalte sie aus Respekt vor meinen Eltern und auch weil ich sie für meinen zukünftigen Ehemann als Geschenk aufheben will.“20 Sollte das Hymen dennoch reißen, besteht die Möglichkeit, wie in Kapitel 2.6.3 dargelegt wurde, sich vor der Hochzeitsnacht einer Hymenoplastie zu unterziehen oder sich ein ‚künstliches Hymen‘ einzusetzen. Die Verwendung solcher Hilfsmittel führt zu einer Ausweitung der sexuellen Handlungsspielräume junger Frauen, die als eine Reaktion auf die rigide gesellschaftliche Sexualmoral und bestehende Diskrepanz in den Einstellungen zu weiblicher und männlicher Sexualität verstanden werden kann. Diese Praxis kann aber auch das Vertrauensverhältnis zwischen den Geschlechtern beeinträchtigen, denn die jungen Männer, die sich eine jungfräuliche Braut für die Hochzeit wünschen, können sich nicht mehr sicher sein, ob diese auch tatsächlich eine genuine Jungfrau oder eben eine ‚künstliche Jungfrau‘ ist.

17 Dialmy 2002-2003, S. 77. 18 Vgl. ebd., S. 80. 19 Vgl. Chabach 2010, S. 21. 20 Interview am 2.07.2013 in Rabat.

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Bei den jungen Frauen ist eine Ambivalenz in der sexuellen Praxis festzustellen. Sexe artificiel wird von Seiten der Frauen nur mit ihrem festen Freund, den sie als ihren potentiellen Ehemann betrachten, eingegangen. Andere junge Frauen enthalten sich bei ihrem festen Freund völlig, weil sie befürchten, er könnte seinen Heiratswunsch ändern und davon ausgehen, dass sie auch bei anderen so leicht zu haben wären.21 Dies liegt an der Ambiguität in der Mentalität der Männer, die die Frauenwelt in zwei Lager aufteilen: die ‚Heiligen‘ (potentielle Ehefrauen und Mütter) und ‚die Huren‘ (die zur Befriedigung des männlichen Sexualtriebs beitragen).22 Die Frauen befürchten, dass die Männer vor ihnen den Respekt verlieren, wenn sie mit ihnen vorehelichen Geschlechtsverkehr eingehen. Durch die sexuelle Enthaltung kann die junge Frau ihrem Partner, den sie als potentiellen Heiratskandidaten betrachtet, beweisen, dass sie fähig ist, gesellschaftliche Normen und Tabus zu respektieren. Die Doppelmoral der Männer, die nicht auf Geschlechtsverkehr verzichten wollen und Druck auf ihre Partnerinnen ausüben, kann mit der gesellschaftlichen Doppelmoral – die von den Jugendlichen selbst als ‚soziale Hypokrisie‘ bezeichnet wird – erklärt werden, die der männlichen Virilität eine höhere Bedeutung beimisst als dem Befolgen religiöser Gebote, die auch von Männern außereheliche Abstinenz verlangt. Die Männer sind sich im Klaren darüber, dass sie – im Gegensatz zu den Frauen – weder soziale noch physische Konsequenzen zu erwarten haben.23 Der Psychologin Amal Chabach zufolge gibt es jedoch auch einige Männer, die die sexuelle Vergangenheit der Frauen akzeptieren würden.24

5.2 DAS „MULTI-BEZIEHUNGSMODELL“ Für viele Jugendliche bildet das „Multi-Beziehungsmodell“, Dialmy zufolge, eine gängige voreheliche Beziehungsform. Damit wird das Pflegen von lockeren sexuel21 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 240. Eine junge Frau äußert in der Umfrage von Naâmane-Guessous, sie würde mit ihrem Freund nur bis zum „Pinselstrich“ gehen, aber wenn sie Bekanntschaft mit anderen mache, würde sie andere Praktiken eingehen. Vgl. ebd. 22 Vgl. ebd., S. 241. Naâmane-Guessous benutzt für erstere den Ausdruck „femme-raison“ („Vernunft-Frau“) und für letzere den Begriff „femme-vagin“ („Vagina-Frau“). 23 Vgl. El Harras 2007, S. 149. 24 Vgl. Chabach 2010, S. 21.

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len Beziehungen zwischen einem Mann und mehreren Frauen und der simultanen Beziehung zu einem jungfräulichen Mädchen bzw. zwischen einer Frau zu mehreren Männern und einem festen Freund, welche/r als potentielle/r Heiratspartner/In in Frage kommt, bezeichnet. Allerdings gibt es die Unterscheidung zwischen der aufeinanderfolgenden „Multi-Partner-Beziehung“, d.h. dem ständigen Wechsel der Partner, und der simultanen „Multi-Partner-Beziehung“, bei der man mehrere Partner zur gleichen Zeit hat. Die simultane „Multi-Partner-Beziehung“ ist unter Männern stärker verbreitet als unter Frauen. Häufig ist es so, dass ein Mann eine ‚reine‘ – d.h. jungfräuliche – Freundin hat, aber neben ihr Beziehungen zu weiteren (Gelegenheits-)Freundinnen unterhält, mit denen er Geschlechtsverkehr praktiziert.25 Hier zwingt sich erneut die Dichotomie zwischen der ‚Hure‘ und der ‚Heiligen‘ auf. Denn das patriarchale Rollenverständnis sieht für Frauen nur zwei Rollen vor: die respektable Frau (Ehefrau und Mutter) und die ‚leichte‘ Frau (Sängerinnen, Prostituierte, Geliebte), mit denen sexuelles Vergnügen assoziiert werde.26 Bouhdiba bezeichnet letztere als „Anti-Ehefrauen“ und führt aus: „Arab man is still obsessed by the anti-wife whom he seeks in every possible form: dancer, films star, singer, prostitute, passing tourist, neighbor, etc.“.27 Durch eine derartige Beziehung könnten die jungen Männer einerseits die Ehre ihrer potentiellen Heiratspartnerin schützen und gleichzeitig ihren sexuellen Trieb befriedigen, wodurch sie ihre Virilität – ein soziales Merkmal von Männlichkeit – unter Beweis stellen würden.28 Eine solche Beziehung unterhielten auch ca. ein Drittel der von mir interviewten Studenten. Während bei allen anderen die feste Freundin nichts von den anderen Kontakten wusste, gab ein Student im Interview an, mit seiner festen Freundin ein Arrangement zu haben, wonach er Geschlechtsverkehr mit anderen haben könnte. Seiner Auskunft zufolge, tolerierte seine Freundin dies, weil sie sich darüber im Klaren sei, dass ein Mann stärkere sexuelle Triebe habe als die Frau. Inzwischen sind die beiden verheiratet und haben mittlerweile einen Sohn.29 Naâmane-Guessous merkt in ihrer Studie von 1991 bereits an, dass es auch eine beachtliche Anzahl an jungen Frauen gebe, die mehrere Männer gleichzeitig treffen würden. Es handele sich dabei häufig um Frauen mit höherer Bildung (Sekundarstu-

25 Vgl. Dialmy 2002-2003, S. 79. 26 Vgl. Dialmy 2005, S. 19. 27 Bouhdiba 2001, S. 243. 28 Vgl. Dialmy 2002-2003, S. 79. 29 Interview am 20.05.2013 in Rabat.

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fe II oder Universitätsabschluss). Dabei hätten die jungen Frauen in der Regel einen festen Freund und daneben mehrere kurzlebige Beziehungen oder aber sie pflegten nur Kontakte zu solch wechselnden Bekanntschaften. Zum (gängigen) festen Freund bestünde eine Verbindung der Zuneigung: Er würde als der potentielle Ehemann betrachtet, der für die Frau eine Sicherheit für die Zukunft bedeute, weshalb sie bei ihm den Schein ihrer Jungfräulichkeit wahre. Der wechselnde Freund (ami de passage) hingegen stelle für sie nur ein Mittel zur Befriedigung bestimmter sozialer oder materieller Bedürfnisse dar. Mit dieser temporären Begleitung, so Naâmane-Guessous, verfolge die Frau eher hedonistische Ziele. Diese Bekanntschaften seien häufig jene Zufallsbekanntschaften, denen man im Café oder auf der Straße begegne. Den Frauen ginge es hierbei v.a. darum, von ihrer Jugend zu profitieren, bevor sie heiraten. Vielleicht, so mutmaßt Naâmane-Guessous, sei es auch ein Zugang zu einem leichteren Leben im Vergleich zu dem, welches sie von zuhause her kennen würden, und sei daher als eine Form der sozialen Revanche gegenüber einem strengen familiären Umfeld zu betrachten. Vor allem aber stelle es für die jungen Frauen ein Mittel dar, um Geschenke und Taschengeld zu erhalten.30 Aus diesem Grund eile solchen Frauen der Ruf voraus, eine ‚Abschlepperin‘ (dragueuse) oder eine ‚Sammlerin‘ (collectionneuse) zu sein. Häufig würden sie mit einer Prostituierten verglichen,31 obwohl sie von ihren Partnern für Sex kein Geld bekommen würden, sondern eher indirekt, in Form von Geschenken, entlohnt würden. Vielmehr würden sie wegen ihres als unmoralisch erachteten Benehmens als Prostituierte betrachtet. Die von Naâmane-Guessous befragten Frauen definierten sich selbst jedoch nicht als solche, weil eine Prostituierte Geld im Anschluss an den Sexualakt erhält, während sie finanzielle Zuwendungen kontinuierlich im Laufe der Beziehung erhalten und diese freiwillig eingehen würden.32 Honwana merkt außerdem an, dass es sich häufig um ein reziprokes Verhältnis in derartigen Beziehungen handele.33 Der ‚gebende Part‘ erhalte sexuelle Zuneigung, Begleitung in der Öffentlichkeit und Unterhaltung und der ‚erhaltende Part‘ bekomme wiederum finanzielle Zuwendung, sei es durch Geld oder in Form von Geschenken, sowie die Möglichkeit, sich in gesellschaftlichen Kreisen zu bewegen, die für diese Frauen nicht ohne Weiteres erreichbar wären. Dabei sei nicht auszu-

30 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 42. 31 Vgl. Dialmy 2009, S. 93f. 32 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 43f. 33 Vgl. Honwana 2012, S. 91.

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schließen, dass bei einer solchen Beziehung Gefühle oder sogar eine Liebesbeziehung entstehen könne.34 Als Beweggründe für das „Multi-Beziehungsmodell“ bei jungen Frauen, werden meistens materialistische Gründe angeführt. Die Frau würde in schicke Restaurants ausgeführt, erhalte Geschenke und Taschengeld von ihren Partnern und das habe insb. für Mädchen aus sozial benachteiligten Verhältnissen einen starken Anreiz.35 Sie möchten von Konsumgütern profitieren, sich auch etwas Materielles leisten können, was sie sich ohne die Aufmerksamkeiten der Partner nicht leisten könnten. Ein weiterer Grund könnten auch Studienkosten sein, die die Studentinnen dazu bringen könnten, sich einen „Sugar-Daddy“, wie Honwana den ‚gebenden Part‘ in solchen Beziehungen bezeichnet, zu suchen.36 Darüber hinaus könnten diese Frauen ihre Sexualität ausleben wollen, ohne sich Gedanken um ihren Ruf machen zu müssen.37 Das heißt also, dass Frauen über diese Beziehungsform eine gewisse Kontrolle über ihren Körper und ihre Sexualität gewinnen können. Entsprechend kann das Pflegen von mehreren losen Beziehungen zu Männern auch eine emanzipative Komponente bereithalten. Deshalb kann das „Multi-Beziehungsmodell“ als eine Form der agency (Handlungsmacht) junger Menschen in prekären Lebenssituationen betrachtet werden, die ihnen erlaubt, ihre Sexualität auszuleben und sich gleichzeitig finanziellen Spielraum zu verschaffen, auch wenn sie Gefahren der sexuellen oder emotionalen Ausbeutung bergen kann.38 Der Aspekt der finanziellen Abhängigkeit bzw. der Absicherung der Frauen von den Männern spielt bei dieser Beziehungsform eine wichtige Rolle. An dieser Stelle muss zwischen der romantischen Beziehung, die eine junge Frau zu ihrem Partner oder die ein junger Mann zu seiner Partnerin unterhält, und zwischen der ‚versorgerischen‘ Beziehung, welche junge Menschen mit finanziell besser situierten Partnern pflegen, unterschieden werden.39 Beide Modelle können nebeneinander existieren und tun es auch mit dem Wissen der Partner. Manchmal wird die Beziehung zu „Sugar-Daddies“ oder „Sugar-Mamas“ auch gemeinsam entschieden und von beiden Partnern praktiziert, um sich ein komfortableres gemeinsames Leben zu

34 Vgl. ebd. 35 Vgl. Chabach 2010, S. 70. 36 Vgl. Honwana 2012, S. 109. 37 Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 45. 38 Vgl. Honwana 2012, S. 109. 39 Vgl. Honwana 2012, S. 91.

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ermöglichen.40 Diese Form der parallelen Beziehung zu einem Dritten, neben der romantischen Beziehung zu einem festen Partner, könne jedoch bei letzterer zu einem Wandel in der Natur der Intimität und der Rollenverteilung innerhalb der Beziehung sowie zu erhöhtem Konfliktpotential, ausgelöst von Misstrauen und Eifersucht, führen.41 Deshalb wird die „Multi-Beziehungs-Form“ in der Regel ohne Kenntnis des festen Partners oder der festen Partnerin praktiziert. Was das „Multi-Beziehungsmodell“ auszeichnet ist seine temporäre Beschränkung. Spätestens wenn die monetäre Zuwendung nachlässt oder der oder die Partner/In heiratet, nimmt diese Beziehungsform ein Ende. Das vorgestellte Modell stellt sicherlich keine Norm dar, ist aber zunehmend verbreitet und ist ein Resultat der Arbeitslosigkeit und des Bruchs der klassischen Transition Schule-ArbeitHochzeit, der früher den traditionellen Lebensweg bildete. Es kann daher als ein Ausdruck eines neuen Umgangs mit Sexualität und intimen Beziehungen verstanden werden, der die Herausbildung neuer Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und männlicher und weiblicher Sexualität nach sich ziehen kann.42

5.3 HOMOSEXUALITÄT Homosexualität wird nach dem traditionellen Verständnis als eine Anomalie oder als eine Perversion (choudoud)43 betrachtet. Aufgrund der sozialen und rechtlichen Repression können sich Homosexuelle nicht offen zu ihrer sexuellen Orientierung bekennen. Homosexualität im Islam ist wissenschaftlich weitestgehend unerforscht, insbesondere weil der Koran und die Hadithe als heteronormative Quellen die Sexualmoral determinieren. Es herrscht Uneinigkeit unter den islamischen Rechtsgelehrten über das Verbot der Homosexualität im Koran, denn es ist nirgends ausdrücklich festgeschrieben. In Sure 4:16 heißt es, wenn die beiden Männer, die den Geschlechtsakt begehen, es bereuen, würde Gott ihnen verzeihen.44 In einer anderen

40 Vgl. ebd., S. 109. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd., S. 110. 43 Vgl. Dialmy 2009, S. 59. 44 Hier muss zunächst Sure 4, Vers 15 zitiert werden, weil Sure 4, Vers 16 sich (kontextuell) auf sie bezieht: „Und wenn welche von euren Frauen etwas Abscheuliches begehen, so verlangt, daß [sic!] vier von euch (Männern) gegen sie zeugen! Wenn sie (tatsächlich)

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Sure wird die biblische Geschichte von Sodom und Gomorrha45 als ein Beispiel des Sittenverfalls herangezogen. An dieser Stelle heißt es, das Volk von Lot, welches in Sodom ansässig gewesen sein soll, habe die Sünde der Homosexualität auf sich geladen: „Und (wir haben) den Lot (als unseren Boten gesandt). (Damals) als er zu seinen Leuten sagte: ‚Wollt ihr denn etwas Abscheuliches begehen, wie es noch keiner von den Menschen in aller Welt vor euch begangen hat? Ihr gebt euch in (eurer) Sinnenlust wahrhaftig mit Männern ab, statt mit Frauen. Nein, ihr seid ein Volk, das nicht maßhält.‘ Seine Leute wußten [sic!] nichts anderes (darauf) zu erwidern als sie (zueinander) sagten: ‚Vertreibt sie (d. h. den Lot und seine Angehörigen) aus eurer Stadt! Das sind (ja) Menschen, die sich rein halten (oder: die sich für rein halten?)!‘ Und wir erretteten ihn und seine Familie (von [sic!] dem Strafgericht, das über sein Volk hereinbrechen sollte) mit Ausnahme seiner Frau. Sie gehörte zu denen, die zurückblieben (?). Und wir ließen einen (vernichtenden) Regen auf sie niedergehen. Schau nur, wie das Ende der Sünder war!“46

Der arabische Begriff für Homosexualität lautet liwāt (auch loth oder luti) und geht auf diese Überlieferung zurück, in der auf die Sünde von Lots Volk verwiesen wird.47 In Sure 26:165-166 wird Homosexualität expliziter thematisiert. Dort heißt es: „Wollt ihr euch denn mit Menschen männlichen Geschlechts abgeben und (darüber) vernachlässigen (w. (unbeachtet liegen) lassen), was euer Herr euch in euren Gattinnen (als Ehepartner) geschaffen hat? Nein, ihr seid verbrecherische Leute (w. Leute, die sich einer Übertretung schuldig machen).“48

zeugen, dann haltet sie im Haus fest, bis der Tod sie abberuft oder Gott ihnen die Möglichkeit schafft (ins normale Leben zurückzukehren)! Und wenn zwei von euch (Männern) es begehen, dann züchtigt (?) sie (w. tut ihnen Ungemach an)! Wenn sie (daraufhin) umkehren und sich bessern, dann wendet euch von ihnen ab.“ Der Koran, Sure 4:15-16. 45 Vgl. 1. Buch Mose, Genesis 18:16-19:29. 46 Der Koran, Sure 7:80-84. 47 Vgl. Schippers, Arie: „Die Knabenpoesie in der arabisch- und hebräisch-andalusischen Literatur“, in: Forum Homosexualität und Literatur, (31) 1998, S. 35-56, S. 54. 48 Der Koran, Sure 26:165-166.

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In den folgenden Versen wird, wie in Sure 7:80-84, von der Errettung Lots und seiner Familie und dem vernichtenden Regen berichtet, der über das Volk hereinbrach, das sich nicht bekehren lassen wollte. Die anschließende Sure 26:174 verstärkt das zuvor Zitierte und verdeutlicht, dass es sich für gläubige Muslime nicht ziemt, homosexuell zu sein: „Darin liegt ein Zeichen (das den Menschen zur Warnung diene müßte [sic!]). Doch die meisten von ihnen sind (eben) nicht gläubig.“49 In den islamischen Schriften, wie dem Koran und der Sunna,50 wird die homosexuelle Sexualpraxis stets mit dem Verweis auf die Sünde des Volkes von Lot streng abgelehnt. In folgenden Suren findet Lots Geschichte im Koran Erwähnung: 7:80-84; 11:77-80; 15:67-72; 26:165-170; 27: 54-58; 29: 28-31; 54:33-39. Die hohe Anzahl der Suren verweist darauf, dass der gleichgeschlechtliche Sexualakt, wie auch die außereheliche Sexualität, zu den größten Verstößen im Islam gehören.51 Gesellschaftlich wird Homosexualität als widernatürlich betrachtet und die Gegner argumentieren, dass sie antithetisch zum islamischen Gebot der Ehe zwischen Mann und Frau, als Grundlage der Familie, sei. Eine homosexuelle Verbindung wird als hinderlich für den Fortbestand der menschlichen Rasse betrachtet.52 Dagegen wird Lesbianismus (sihaq) im Koran nirgends erwähnt.53 Dies kann damit erklärt werden, dass die männliche Homosexualität als eine Bedrohung der Männlichkeit angesehen wird und nicht mit den arabischen Vorstellungen über Männlichkeit in Einklang zu bringen ist. Dies wird auch anhand der Dichotomie passiver/aktiver Sexualpart deutlich: Da die Penetration als männlicher Akt assoziiert werde, würde derjenige, der penetriert, nicht als Homosexueller betrachtet.54 Ein Mann, der den aktiven Part beim homosexuellen Geschlechtsverkehr einnimmt, ist seinem Selbstverständnis nach also heterosexuell. Als Homosexueller wird nach dem gesellschaftlichen Verständnis nur derjenige betrachtet, der penetriert wird

49 Ebd., Sure 26:174. 50 Unter dem Begriff Sunna (Pfad, Weg) wird die Lebensweise des Propheten Mohammed zusammengefasst. Diese wird in Form von dessen Aussprüchen und Gepflogenheiten in den Hadithen wiedergegeben. Die Sunna gehört zusammen mit dem Koran zu den wichtigsten Rechtsquellen im Islam. 51 Vgl. Kendili et al. 2010, S. 155. 52 Vgl. Muslim Women’s League 1995. 53 Vgl. Chebel 1997, S. 251. Jedoch zählten die Rechtsgelehrten des Fiqh die weibliche Homosexualität zu den im Koran erwähnten Schandtaten Sodoms und legten sie als zina aus. 54 Vgl. Dunne 1998, S. 10.

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(aʿtai).55 „The active/passive dichotomy is central in the traditional Arab organization of sexuality. It is a dichotomy that equates manhood essentially with virility.“56 Der penetrierte Mann wird als passiv und, wie Chebel anmerkt, als Körper und Objekt wahrgenommen.57 Die Passivität zählt jedoch zu den Merkmalen der Frau,58 weshalb der aʿtai als weiblich bezeichnet wird. Diese ‚weiblichen‘ Männer, sogenannte mukhannath, erfuhren häufig einen Ausschluss aus der Gemeinschaft der Männer. Während der passive Mann mit Untergebenheit assoziiert werde, würde das aktive Pendant mit Dominanz assoziiert, was als Zeichen der Männlichkeit aufgefasst werde. Der Geschlechtsakt sei demnach v.a. ein Ausdruck der Machtbeziehung von sozial ungleichgestellten Partnern und nicht von Gegenseitigkeit. „Sex, that is, penetration, took place between dominant, free adult men and subordinate social inferiors: wives, concubines, boys, prostitutes (male and female) and slaves (male and female). What was at stake was not mutuality between partners but the adult male‘s achievement of pleasure through domination.“59 Die Machtbeziehung wird noch mehr durch die Tatsache bestärkt, dass es vorrangig Männer aus der gehobenen Gesellschaftsschicht waren, die – neben ihrer Ehefrau – die oben aufgezählten Sexualpartner haben konnten. Wenn die aktive männliche Rolle bewahrt bleibe, würde der Mann nicht als homosexuell, sondern einfach als männlich, wenn nicht gar als „hyper-maskulin“60 betrachtet. Obwohl es den Anschein hat, dass homosexuelle Praktiken nur zwischen einem dominanten aktiven Mann und einem passiven Knaben oder Sexarbeiter bzw. Sklaven stattfanden, deren Verhältnis also vordergründig ein ungleichgewichtetes war, existierten bereits im Mittelalter sehr wohl egalitäre homosexuelle Beziehungen zwischen Männern gleichen sozialen Ranges, die sich in ihrer Rolle abwechselten.61 Die Präferenz der Beziehung zwischen einem jüngeren glatthäutigen Epheben (amrad) und einem wesentlich älteren Mann, wie aus der Knabenpoesie bekannt ist,

55 Vgl. Dialmy 2004, S. 93; vgl. Ders. 2011, S. 21. 56 Dialmy 2005, S. 19. 57 Vgl. Chebel 1997, S. 193. 58 Vgl. Dialmy 2004, S. 94. 59 Dunne 1998, S. 10. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. Rowson, Everett K.: „The categorization of gender and sexual irregularity in medieval Arabic vice lists“, in: Epstein, Julia/ Straub, Kristina (Hg.): Body guards. The cultural politics of ambiguity, New York [u. a.] 1991, S. 66.

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wird von einigen Wissenschaftler auch als ein Ausdruck einer tiefen Misogynie der damaligen patriarchalen Gesellschaften gedeutet.62 Während man früher davon ausging, dass der Homosexuelle verflucht worden oder von bösen Geistern besessen sei, wird der Homosexualität heute ein Krankheitswert zugeschrieben, bei dem man von einem psychischen Ungleichgewicht ausgeht, der mit Psychotherapie oder durch Behandlungen bei einem Hexer kuriert werden könne.63 Dabei war die Toleranz gegenüber der gleichgeschlechtlichen Sexualität seit mindestens dem 9. Jahrhundert in arabischen Gesellschaften groß,64 wie die erotische Literatur, in der die homosexuelle Liebe vielfach thematisiert wurde, beweist. Während Homosexuelle oder Transsexuelle in der Medienwelt heutzutage einen relativ freien Status und einen gewissen Respekt genießen,65 werden Homosexuelle im privaten Raum, auch und insbesondere von ihrer Familie, diskriminiert, weil sie von ihnen als Schande empfunden werden und deshalb einen Ehrverlust fürchten. Sie werden nicht selten auch in sozialen Netzwerken vorgeführt, bedroht oder inhaftiert. Für den homosexuellen Sexarbeiter (zamel) würde jedoch Verständnis entgegengebracht, weil davon ausgegangen werde, dass er es aus finanzieller Not und nicht aus einer sexueller Neigung heraus praktiziere.66 Dialmy führt an, dass homosexuelle Männer ihre Sexualität auf diese Weise ausleben könnten: „Through sex work the homosexual is better able to confront the social persecution to which he is exposed in Arab society“.67 Auch Bruce Dunne berichtet darüber, dass Transsexuelle in der Türkei, obwohl Homosexualität dort offiziell nicht verboten ist, über die Prostitution einen Weg gefunden hätten, ihre Sexualität auszuleben. Er zitiert einen türkischen Transsexuellen, der die Hypokrisie der Gesellschaft offenlegt: „These

62 Vgl. Kendili et al. 2010, S. 154. 63 Häufig wird davon ausgegangen, dass der Homosexuelle von bösen Geistern besessen oder

verflucht

worden

sei.

Dabei

würde

versucht,

den

Patienten

zu

„de-

homosexualisieren“. Vgl. Kendili et al. 2010, S. 155. Es sei darauf hingewiesen, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität bis 1992 in ihrem Katalog „International Classification of Diseases“ (ICD) als Krankheit aufführte. 64 Vgl. Rowson 1991, S. 72f. 65 Vgl. Dunne 1998, S. 10. Auch im Mittelalter war Transsexuellen und Homosexuellen die Rolle als Musiker, Tänzer oder Sänger vorbehalten. Vgl. Dialmy 2005, S. 18. 66 Vgl. Dialmy 2004, S. 94. 67 Dialmy 2005, S. 23.

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people who curse us during the day give money to lie with us at night.“68 Da es aufgrund der Gesetzeslage und sozialen Inakzeptanz von Homosexuellen in Marokko an offiziellen Gay-Communities fehlt, bleibt ihnen kein anderer Rahmen als ihre Sexualität en cachette zu praktizieren. Zur Aufrechterhaltung ihrer Tarnung hilft es eine Frau zu heiraten und eine Familie zu gründen.69 In Metropolen wie Istanbul, Beirut oder Kairo ist dennoch zunehmend ein Vorhandensein von politischem Aktivismus seitens der Gay-Subkultur festzustellen.70 In Marokko leben männliche Prostituierte, die ohnehin von der Gesellschaft marginalisiert, verachtet und von ihren Familien verstoßen werden, in ständiger Angst vor sogenannten casseurs de pédés („Schwulenschlägern“).71 Darüber hinaus bestraft das marokkanische Strafgesetzbuch den homosexuellen Akt mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren (Art. 489).72 Im Sudan, Iran, Jemen, in Saudi-Arabien, Mauretanien, Afghanistan, Pakistan, Katar, den Vereinten Arabischen Emiraten sowie in Teilen Nigerias, Somalias, Syriens und des Iraks wird Homosexualität auch heute noch mit dem Tode bestraft.73

5.4 PROSTITUTION UND IHRE WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNG Prostitution, das älteste Gewerbe der Welt, ist in Marokko verboten. Artikel 489 setzt sie mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug und einem Bußgeld von 5.000 bis 1.000.000 Dirhams (ca. 500 bis 100.000 Euro) unter Strafe. Nichtsdestotrotz floriert dieses Gewerbe von professionellen Prostituierten, aber auch von Amateurinnen, im Land. Mit letzteren meine ich Schülerinnen oder Studentinnen, die gelegentlich für

68 Dunne 1998, S. 11. 69 Vgl. Beaumont et al. 2010, S. 12. 70 Vgl. Dunne 1998, S. 11. 71 Vgl. Dunne 1998, S. 11. 72 Zwischen den Jahren 2000 und 2010 sind über fünfzig Männer nach diesem Gesetz inhaftiert worden. Vgl. Slimani 2010. Es sei zur Erinnerung darauf hingewiesen, dass Homosexualität bis 1994 auch in Deutschland im Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug unter Strafe stand. 73 Vgl. Fenton, Siobhan: „LGBT relationships are illegal in 74 countries, research finds“, in: The Independent (17.05.2016).

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Geld mit Männern schlafen. Meist gehören diese jungen Frauen der ärmsten Gesellschaftsschicht an. Mir wurde in einem informellen Interview von einem jungen Mann, der eine Zeit lang als Portier einer luxuriösen Villa in Rabat arbeitete, berichtet, dass diese immer wieder an reiche Geschäftsmänner aus den Golfstaaten vermietet wurde, um junge Frauen, die sexuelle Dienste anboten, zu empfangen. Dieser Mann schilderte mir mit sichtlicher Abscheu, dass er eines Tages einem sehr jungen Mädchen, welches er auf maximal 17 Jahre schätzte, die Tür aufmachte. Er hörte, wie es bei der Ankunft an der Villa mit seinem Vater telefonierte und diesem mitteilte, dass es jetzt eingetroffen sei. Diese Geschichte sei nicht die einzige, die der junge Mann erlebt habe. Er berichtete mir, dass die Freier häufig nach besonders jungen Frauen, die darüber hinaus auch unbedingt jungfräulich sein müssten, verlangten. Solche Erzählungen erweckten bei mir den Eindruck, dass die Ehre der Familie, die sich ja über das Verhalten der weiblichen Familienmitglieder definiert, in den Fällen nachrangig ist, wenn existentielle Not herrscht, da die jungen Mädchen für ein paar Stunden oder für eine Nacht mehr verdienen als ihre Väter in einem ganzen Monat. Der Wert der Jungfräulichkeit wird unter diesem Aspekt nachrangig. Auch Dialmy berichtet darüber, dass es in solchen Fällen häufig die Eltern seien, die ihre Töchter zur Prostitution ermutigten.74 Mernissi merkt in diesem Zusammenhang an, dass Prostitution stets dort zu einer wirklichen Industrie werde, wo die Arbeitslosenquote besonders hoch sei.75 Städte wie Agadir und Marrakesch im Süden und Tanger im Norden des Landes sind bekannte Hochburgen der Prostitution.76 Auch im ländlichen Bereich ist sie stark verbreitet.77 Sex-Tourismus gehört zu einer nicht zu unterschätzenden Einnahmequelle der Tourismusindustrie. Saudische Geschäftsmänner reisen häufig aus geschäftlichen Gründen nach Marokko und nehmen in dieser Zeit Dienste von Prostituierten in Anspruch. Alleinreisende männliche Touristen aus den Golfstaaten

74 Vgl. Dialmy 2002-2003, S. 82. 75 Vgl. Mernissi 1982, S. 191. 76 Vgl. Anonymus: „L’émission ‚Sept à Huit‘ consacre un reportage choc sur la prostitution à Marrakech“, in: Huffington Post Maroc (20.06.2016). 77 Vgl. Venema, Bernhard/ Bakker, Jogien: „A permissive zone for prostitution in the Middle Atlas of Morocco“, in: Ethnology, 43 (1) 2004, S. 51-64; vgl. Qadéry, Mustapha: „Bordel de bled, bordel au bled. Figures rurales de la prostitution au Maroc“, in: L’année de Maghreb, (VI) 2010, S. 189-202.

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gehören zur bekannten Klientel.78 Aus diesem Grund würded die Marokkanerin in der arabischen Welt als Prostituierte rezipiert. Mir erzählte eine junge Frau: „Die saudischen Frauen hassen die Marokkanerinnen, weil sie Angst haben, dass wir ihnen ihre Männer wegnehmen. Aus diesem Grund wollen sie auch keine marokkanischen Frauen bei sich als Hausmädchen einstellen.“79 Marokko hat im Nahen Osten den Ruf, im Besitz einer laschen Sexualmoral zu sein, weshalb es zu einer beliebten Destination für Männer aus diesen Ländern geworden ist. 2007 wurde infolge der oben genannten Befürchtungen saudischer Frauen in Marokko ein Gesetz erlassen, das Männer aus den Golfstaaten und dem Nahen Osten dazu verpflichtet, das Einverständnis ihrer Ehefrau bezüglich der Reise nach Marokko einzuholen.80 Die Skepsis gegenüber der Sexualmoral marokkanischer Frauen geht sogar so weit, dass im Jahr 2010 ein zeitweiliges Verbot seitens der saudischen Regierung für die Einreise von Marokkanerinnen nach Mekka erlassen wurde. Der Grund dafür bestand in der Bezichtigung, sie würden unter Vortäuschung einer Pilgerreise, nach Saudi-Arabien kommen, um sich zu dort zu prostituieren, selbst wenn sie in Begleitung eines Familienmitglieds oder ihres Ehemannes kämen.81 Später wurde dieses Verbot zurückgenommen. Im September 2013 sorgte die Festnahme einer Beamtin des Landwirtschaftsministeriums in Rabat für Schlagzeilen, weil herausgekommen ist, dass sie ein Dutzend angemietete Wohnungen im Nobelviertel Hay Riad an Touristen aus den Golfstaaten für einen Tagespreis von 250 bis 300 Euro vermietete. Die Polizei wurde von verärgerten Nachbarn informiert, denen die häufige Frequentierung der Wohnungen von Männern aus dem Golf und jungen Marokkanerinnen suspekt erschien. Nur einige Tage zuvor wurden zwei Männer aus Kuweit, ein Libyer und eine Marokkanerin von der Polizei festgenommen. Die fünfzigjährige verheiratete Frau soll den Touristen Kontakte zu jungen Frauen hergestellt haben.82 Im November 2015 wurde eine andere Frau in Rabat wegen Zuhälterei festgenommen. Sie kontaktierte junge Mädchen über Facebook und lockte sie zu sexuellen Handlungen mit Touristen aus dem Golf und anderen arabischen Länder, durch Versprechungen

78 Vgl. Beaumont et al 2010, S. 11. 79 Interview am 30.11.2012 in Rabat. 80 Vgl. Malik, Nesrine: „Saudi ban on Moroccan women is a stereotype too far“, in: The Guardian (29.08.2010). 81 Vgl. ebd. 82 Vgl. Akhmisse, Sophia: „Prostitution. Hajja Kenza et les autres“, in: Le360.ma (27.09.2013).

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von schnellem Geld. 2.000 Dirhams (ca. 200 Euro) sollen die jungen Frauen für eine Nacht mit den Männern bekommen haben. Sie bekam eine einjährige Freiheitsstrafe. In dem gleichen Bericht heißt es, dass die Prostitution von Minderjährigen zu einem weit verbreiteten, jedoch stark tabuisierten Phänomen in Marokko gehöre.83 Diese Verhaftungen werden sporadisch unternommen, um der Bevölkerung zu suggerieren, dass die Behörden alles im Griff hätten und so etwas in einem muslimischen Land nicht dulden würden, berichtete mir ein Immobilienmakler, den ich bei meiner Wohnungssuche nach dieser Praxis befragte. Tatsächlich wüssten die Behörden sehr wohl, welche Wohnungen in welchen Vierteln für solche Geschäfte angemietet würden, tolerierten dies aber, weil sie zum Teil von den Zuhältern bestochen würden und zum Teil, weil Sextourismus Kapital in das wirtschaftlich schwache Land bringe.84 „It creates a kind of dynamic consumption in certain regions and sectors (tourism) and serves to attract some foreign visitors.“85 Diese Spontaneität im staatlichen Vorgehen gegen Prostitution wird auch anhand des folgenden Zitats von Bruce Dunne bestätigt: „State efforts to repress illicit sexual conduct or promote social-sexual norms (e.g., by closing brothels or ordering women indoors) were sporadic, short-lived and typically occasioned by political circumstances and the need to bolster regime legitimacy.“86 Auch Dialmy spricht von der nicht zu unterschätzenden ökonomischen Bedeutung von Prostitution, die er sogar als „prostitution economy“87 bezeichnet. Das Tolerieren der Prostitution wird damit begründet, dass ein härteres Durchgreifen eine soziale Krise heraufbeschwören würde.88 Er wirft dem Regime moralische Korruption vor, die auf der einen Seite der Jugend das Recht auf Sexualität verwehrt, ungeachtet der Tatsache, dass es ein Resultat ihres Scheiterns in der Bereitstellung von Arbeitsplätzen ist, und auf der anderen Seite die Prostitution keiner strengen Kontrolle unterzieht.89 Bouhdiba bemerkt, dass die Prostitution in den arabischen Sitten tief verankert 90 ist. Sie wurde seit Jahrhunderten in arabischen Ländern toleriert.91 Während der

83 Vgl. Kebali, Kholoud: „Un an de prison pour une ‚maquerelle‘ de Rabat“, in: Illionweb (23.11.2015). 84 Interview am 14.09.2012 in Rabat. 85 Dialmy 2002-2003, S. 81. 86 Dunne 1998, S. 10. 87 Dialmy 2002-2003, S. 81. 88 Vgl. Dialmy 2005, S. 23. 89 Vgl. ebd., S. 29. 90 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 192.

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Kolonialzeit gab es in Marokko sogenannte „bordels militaires“ (militärische Bordelle), die vom Staat geduldet worden sind, um die Moral der Truppen aufrechtzuerhalten.92 So z. B. in „Bousbir“, einem Viertel in Casablanca, in dem ca. 600 muslimische und jüdische Prostituierten arbeiteten.93 Die Sexualität junger Männer wird häufig durch den Gang ins Freudenhaus initiiert.94 In der Studie von Pascon und Bentahar wird darüber berichtet, dass wenn ein Jugendlicher aus einem ländlichen Gebiet in die Stadt kam, er davon ausging, dass die Frauen, die sich auf der Straße aufhielten, Prostituierte waren, weil sie es auf dem Land nicht gewohnt waren, dass Frauen sich ohne triftigen Grund auf der Straße aufhielten.95 Traditionell wurde zwischen den Frauen, die sich auf der Straße aufhielten, den sogenannten „Mädchen der Straße“ (bint ez-zanqa), und anständigen Frauen, den„Mädchen des Hauses“ (bint ad-dar), unterschieden.96

5.5 SUBSTITUTE DER EHE Da es den Jugendlichen an finanziellen Möglichkeiten fehlt, eine Ehe einzugehen, schauen sie sich nach Substituten für die offizielle Ehe um, die ihnen – zumindest im traditionell islamischen Rahmen – eine Intimität ermöglichen. Sie greifen auf diese außerrechtlichen alternativen Eheformen zurück, weil ihnen durch derlei Eheschließungen keine zusätzlichen Kosten entstehen. Diese nicht registrierten Eheformen erfreuen sich zunehmender Popularität bei den Jugendlichen aus arabischen und muslimischen Ländern. Allein in Ägypten handelt es sich groben Schätzungen zufolge jährlich um 20.000 bis 30.000 solcher Eheschließungen.97 Folgende neue und alte Formen der Ehe haben sich herausgebildet: die ʿurfi-Ehe, die muta’aEhe und die misyar-Ehe. Diesen Eheformen ist gemeinsam, dass sie häufig temporärer Natur sind.

91 Vgl. Dunne 1998, S. 9. 92 Beaumont et al. 2010, S. 11. 93 Vgl. ebd., S. 7. 94 Vgl. Bouhdiba 2001, S. 193; vgl. Pascon/ Bentahar 1969, S. 73. 95 Vgl. ebd., S. 63. 96 Vgl. Cheikh 2013, S. 269. 97 Vgl. Singerman 2011, S. 74.

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5.5.1 Die ʿurfi- oder Fatiha-Ehe Die ʿurfi-Ehe (von ʿurf: Brauch, Sitte) oder Fatiha-Ehe (zawaj bi-l-fatiha) ist eine inoffizielle Form der Ehe. Die Ehe tritt in Kraft, sobald die erste Sure Fatiha („die Eröffnende“) vom Imam oder einem faqih (Rechtsgelehrten) ausgesprochen wurde. Die Praxis wird traditionellerweise in Anwesenheit des Bräutigams, des Vormunds der Braut und mindestens zweier Zeugen durchgeführt. Das Paar gilt vor den Augen der Familie oder der Gemeinde fortan als verheiratet. Wie der Name ʿurfi verdeutlicht, basiert diese Hochzeitsform auf arabischem Brauch. Bereits zur Zeit des Propheten wurde auf diese Weise geheiratet. Diese Form der Ehe wird auch „islamische Ehe“ oder „religiöse Ehe“ genannt, weil sie bis zur Bildung der Nationalstaaten, in deren Zuge die zivile Eheschließung in Kraft trat, die gängige Form der Trauung war.98 Der Tradition zufolge muss ein Brautpreis (mahr) gezahlt werden und ebenso muss die Ehe zelebriert werden, damit, wie in Kapitel 3 bereits beschrieben, die Verwandtschaft und die Nachbarn wissen, dass es sich um eine legitime Eheschließung handelt. Heute werden diese Ehen aufgrund ihrer Illegalität unter Ausschluss von Freunden und Familie und häufig im Geheimen geschlossen; auch wird kein Brautgeld bezahlt.99 Unter diesem Gesichtspunkt liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei dieser Art der Ehe um einen Versuch der Legitimation des Koitus ohne Trauschein handelt. Mit der Einführung des Familienrechts im Jahr 1957 wurde die Fatiha-Ehe in Marokko außer Kraft gesetzt, denn im marokkanischen Familienrecht wird für den Heiratsakt die Anwesenheit zweier Notare, die die Heiratsurkunde ausstellen, vorausgesetzt.100 Obwohl sie konform mit der Shariʿa geht, wird die „islamische Ehe“ in Marokko seit dem reformierten Familienrecht von 2004 nicht mehr als rechtsgültig betrachtet.101 Innerhalb der folgenden fünf Jahre (bis Februar 2009) sollte eine Autorisierung solcher zuvor geschlossenen Ehen erfolgen. Doch dies wurde nur von einer kleinen Zahl an Ehepaaren vorgenommen:102 die politischen Bestimmungen

98

Vgl. Naâmane-Guessous 1991, S. 82.

99

Vgl. Singerman 2011, S. 74.

100 Vgl. Midech, Jaouad: „Mariages sans actes. 5 ans en plus pour régulariser sa situation“, in: La vie éco (6.02.2009). 101 Vgl. Artikel 16, Code de la Famille 2004. 102 Laut einer Statiskik des Justizministeriums wurden zwischen den Jahren 2004 und 2007 insgesamt 76.717 Anträge eingereicht. Obwohl keine genauen Zahlen der unautorisier-

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scheinen wieder einmal dem gesellschaftlichen Tempo vorausgeeilt zu sein. Aus diesem Grund wurde im Juli 2015 im Parlament für eine Verlängerung der Anerkennungsfrist um weitere fünf Jahre (bis 2020) gestimmt. Einzig die sozialistische Partei „Parti du Progrès et du Socialisme“ (PPS) – unterstützt von verschiedenen Frauen-NRO – sprach sich gegen eine Verlängerung aus, weil sie durch die Verlängerung eine Förderung der Heirat von Minderjährigen und der Polygamie fürchtete. In der Tat werden gerade minderjährige Frauen häufig über die Fatiha verheiratet. Auch Malika Benradi und Nadia Yassine bestätigten mir dies in den Interviews und bezeichneten es als ein großes Problem in Marokko. Yassine bezeichnete es sogar als „eine Schande für das ganze Land“.103 Obwohl das reformierte Familiengesetz das Heiratsalter von Frauen auf 18 Jahre festgelegt hat und damit die Heirat von Minderjährigen bis auf wenige Ausnahmen verbot, ist sie weiterhin eine vorherrschende Tatsache in Marokko. Es bleibt häufig im Ermessen der Richter eine solche Trauung zu legitimieren oder abzulehnen. In den meisten Fällen wird einer Ehe mit einer minderjährigen Frau zugestimmt.104 Seit 2004, dem Jahr, in dem die Familienrechtsreform verabschiedet wurde, hat sich die Zahl minderjährig verheirateter Mädchen von 18.341 (7,75% aller Eheschließungen) auf 35.152 im Jahr 2013 nahezu verdoppelt. Solche Ehen machen 11,47% aller Eheschließungen in Marokko aus.105 Diese Angaben beziehen sich aber nur auf einen Bruchteil der Ehen mit Minderjährigen, denn viele solcher Eheschließungen werden gar nicht erst zur Bewilligung beim Gericht vorgelegt, sondern im Geheimen als ʿurfi-Ehen durchgeführt.

ten Ehen ermittelt werden können, wird davon ausgegangen, dass deren Zahl ungleich höher liegt. Vgl. Midech 2009. 103 Interview mit Nadia Yassine am 26.11.2009 in Rabat, anlässlich meiner Magisterarbeit über die marokkanische Familienrechtsreform. 104 Das marokkanische Justizministerium hat landesweit alle Richterbeschlüsse zur Heirat mit Minderjährigen von 2007 bis 2013 untersucht. Im Resultat wird ersichtlich, dass die Richter in den meisten Fällen Anträge zu einer solchen Eheschließung zustimmen. Im Jahr 2007 wurden 86,79% aller eingereichten Heiratsanträge von den Richtern bewilligt, 2008 wurden 88,48% und 2009 wurden 90,77% bewilligt. Im Jahr 2010 waren es sogar 92,21% und 2011 wurden 89,56% solcher Anträge bewilligt. 2012 nimmt die Prozentzahl mit 85,99% und 2013 mit 85,46% zwar wieder leicht ab, liegt aber immer noch sehr hoch. Vgl. Ministère de la Justice et les Libertés: „Droit de la famille. Réalité et perspectives, 10 ans après l’entrée en viguer de la Moudawanna“, Rabat 2014. 105 Vgl. UNICEF: „Des défis et des enjeux“, UNICEF-Bericht 2013.

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Die Ausmaße dieser Ehen auf das Leben der jungen Frauen sind häufig dramatisch. Abgesehen davon, dass ihre Kindheit dadurch schlagartig beendet ist und sie keine Möglichkeit auf Bildung haben, bleiben ihnen auch jegliche Rechte als Ehefrau verwehrt. Denn eine ʿurfi-Ehe bietet keinerlei rechtlichen Schutz für die Frau, weder in der Ehe noch danach. Laut der letzten Studien von UNICEF werden 80% aller Ehen mit Minderjährigen unmittelbar nach der Hochzeitsnacht wieder geschieden. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Mädchen und junge Frauen.106 Sie haben nicht nur durch die Entjungferung ihre Ehre verloren und deshalb praktisch keine Chancen mehr auf dem normalen Heiratsmarkt; sie haben darüber hinaus auch die Ehre ihrer Familie beschmutzt, denn häufig wird Frauen die Schuld für die Trennung gegeben. Viel schlimmere Folgen haben solche Vereinigungen, wenn die jungen Frauen schwanger werden, denn damit werden sie zu alleinstehenden Müttern mit einem illegitimen Kind, worüber in Kapitel 2.6.3 bereits ausführlich berichtet wurde. Das Kind hätte aufgrund seines vaterlosen Status keinerlei Rechte (z. B. kein Recht auf Staatsbürgerschaft) und generell Schwierigkeiten, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Dem oben genannten UNICEF-Bericht ist ferner zu entnehmen, dass die untersuchten verlassenen oder verstoßenen jungen Frauen sich in 40% der Fälle prostituieren, um den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind aufzubringen, da ihnen aufgrund der illegitimen Ehe und Mutterschaft in 98% der Fälle keine Alimente seitens des Kindesvaters zustehen.107 In den meisten Fällen sehen die Frauen davon ab, einen Vaterschaftstest zu fordern und dadurch den Erzeuger zur Zahlung des Unterhalts zu bewegen, aus Angst, selbst diskreditiert oder der Unzucht bezichtigt zu werden. In einem Bericht über unverheiratete Mütter berichten Nichtregierungsorganisationen darüber, dass einige Frauen, die einen Vaterschaftstest beantragen, kurz darauf von der Polizei aufgesucht und wegen unehelicher Sexualbeziehungen und wegen Verdachts auf Prostitution inhaftiert werden.108 Des Weiteren ist selbst bei einer nachgewiesenen Vaterschaft der Mann häufig nicht willens, Alimente zu zahlen. In einem anderen Bericht über ledige Mütter heißt es sogar, dass der Kindesvater und seine Familie, sich sogar weigern würden zuzugeben, sie zu kennen.109 Die Fatiha-Ehe ist v.a. in ländlichen Regionen Marokkos verbreitet, aber kein ausschließlich rurales Phänomen, da auch aus dem Kreis um Casablanca bereits

106 Vgl. UNICEF: Analyse de situation des enfants au Maroc, 2015, S. 107. 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 11. 109 Vgl. ebd., S. 10.

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viele Anträge auf eine Beglaubigung der Fatiha-Ehe bei den Familiengerichten eingegangen sind.110 5.5.2 Die ‚Genuss‘- oder ‚Zeitehe‘ Die nikah al mut’a – auch ‚Genussehe‘111 oder ‚Zeitehe‘112 genannt – ist eigentlich eine ausschließlich schiitische Praxis und war bis vor nicht allzu langer Zeit unter Sunniten nicht verbreitet, weil sie als ‚unislamisch‘ abgelehnt wurde. Heute würde sie jedoch zunehmend auch von Salafisten praktiziert, weil sie in ihr eine nach frühislamischer Tradition legitime und damit halale, d.h. von Gott erlaubte, Eheform ansähen.113 In Tunesien z. B. konnte ein Anstieg solcher Eheschließungen nach dem „Arabischen Frühling“ im salafistischen Milieu festgestellt werden. Dabei würde die mut’a-Ehe besonders unter Studentinnen, die den Niqab tragen, als Eheform akzeptiert, weil sie der Meinung seien, es handele sich um eine von der Shariʿa legitimierte Ehe.114 Man sähe darin also eine Form der Partnerschaft, die die islamischen Regeln respektiere und auch ohne finanzielle Mittel erlaube, eine ‚legale Sexualität‘ (sexualité halal) zu praktizieren.115 Sowohl die Fatiha- als auch die Mut’a-Ehe sind vom Gesetz seit der Reform des Familienrechts 2004 nicht anerkannt und enden häufig damit, dass der vermeintliche Ehemann sich von seiner Frau trennt. Von solchen Eheschließungen profitieren eigentlich nur die Männer, denn sie erlauben ihnen, ohne soziale und finanzielle Nachteile und moralisch schuldfrei die Befriedigung ihres sexuellen Verlangens. Manche dieser Ehen dauern nur wenige Stunden. Aus den Überlieferungen ist bekannt, dass der Prophet die Ehe auf Zeit zunächst befürwortete:

110 Vgl. Jaabouk, Mohammed: „Maroc. Un nouveau délai de 5 ans accordé pour la reconnaissance des mariages par la Fatiha“, in: Yabiladi.com (9.12.2015). 111 Mut’a bedeutet Genuss auf Arabisch. 112 Sie wurde so genannt, weil der Zeitraum vor der Eheschließung auf eine bestimmte Zeit – in der Regel drei Tage und drei Nächte – festgelegt wurde. Vgl. Dialmy 2012, S. 35. 113 Vgl. Ibnouzahir 2011. 114 Vgl. Arefi, Armin: „Tunisie. La révolution sexuelle des salafistes“, in: Le Point.fr (20.02.2012); vgl. Bensaied, Imad: „Le phénomène du mariage coutumier se répand dans les universités“, in: Slateafrique.com (30.01.2012). 115 Vgl. Breytenbach, Daphnée: „Le mariage coutumier, une histoire de culte“, in: Medinapart.com (15.03.2012).

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„ʿAbdulla berichtet: Wir waren mit dem Gesandten Gottes (S) auf einem Kriegszug und hatten keine Frauen dabei. Daher sagten wir zum Propheten (S): ‚Ist es nicht besser, wenn wir uns kastrieren lassen?‘ Er verbot uns das, erlaubte aber, Frauen für eine begrenzte Zeit zu ehelichen. In diesem Zusammenhang rezitierte er: ‚Ihr Gläubigen! Verwehrt euch nicht die guten Dinge, die Gott euch erlaubt hat. Und begeht keine Übertretung! Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen.‘“116

Anhand dieses Hadiths wird ersichtlich, dass es in einer Ausnahmesituation – Abwesenheit der eigenen Frauen auf Kriegszügen – gestattet war, eine Zeitehe einzugehen. Jedoch verweist der Prophet an dieser Stelle auch darauf, dass man keine Übertretungen begehen solle, also dieses Gebot außerhalb des erlaubten Kontextes nicht missbrauchen dürfe. Vermutlich bezieht sich Sure 4:24 auf genau diesen Zusammenhang: „Und (verboten sind euch) die ehrbaren (Ehe)frauen, außer was ihr (an Ehefrauen als Sklavinnen) besitzt. (Dies ist) euch von Gott vorgeschrieben. Was darüber hinausgeht, ist euch erlaubt, (nämlich) daß [sic!] ihr euch als ehrbare (Ehe)männer, nicht um Unzucht zu treiben, mit eurem Vermögen (sonstige Frauen zu verschaffen) sucht. Wenn ihr dann welche von ihnen (im ehelichen Verkehr) genossen habt, dann gebt ihnen ihren Lohn als Pflichtteil! Es liegt aber für euch keine Sünde darin, wenn ihr, nachdem der Pflichtteil festgelegt ist, (darüber hinausgehend) ein gegenseitiges Übereinkommen trefft. Gott weiß Bescheid und ist weise.“117

In einem späteren Hadith heißt es, Mohammed habe seinen Ausspruch revidiert: „ʿAli (R a) sagte zu Ibn ʿAbbas: ‚Der Prophet (S) verbot die Zeitehe […]‘“.118 Die Intensität des Diskurses um die Zeitehe deutet darauf hin, dass unter den Gefolgsleuten des Propheten ein Dissens bezüglich dieses Ausspruchs bestanden zu haben scheint, denn diese Thematik wird in einer ganzen Reihe anderer Hadithe von verschiedenen Überlieferern diskutiert: „Abu Gamra berichtet: ‚Ich war dabei, als jemand Ibn ʿAbbas nach der Zeitehe fragte. Ibn ʿAbbas erklärte sie für zulässig. Da sagte einer seiner Maulās zu ihm: ‚Die Zeitehe ist nur in

116 Al-Buhari 1991, S. 329. 117 Der Koran, Sure 4:24. 118 Al-Buhari 1991, S. 338.

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Ausnahmefällen erlaubt, zum Beispiel, wenn ein Mangel an Frauen herrscht, oder in vergleichbaren Situationen. Ibn ʿAbbas stimmte ihm zu.‘“119

Die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Zeitehe‘ wird bei Al-Buhari wie folgt weiter ausgeführt: „Gabir Ibn al-Akwaʿ und Salama Ibn al-Akwaʿ berichteten: Wir waren auf einem Feldzug, als der Gesandte Gottes (S) zu uns kam und sagte: ‚Es ist euch gestattet, eine Zeitehe einzugehen. Nehmt diese Möglichkeit wahr!‘ Salama Ibn al-Akwaʿ berichtet: Der Gesandte Gottes (S) sagte: ‚Wenn ein Mann und eine Frau sich darauf verständigen, miteinander eine Zeitehe einzugehen, so soll ihre eheliche Gemeinschaft auf drei Tage befristet sein. Wenn sie ihre Beziehung danach fortsetzen wollen, können sie es tun. Und wenn sie sich trennen wollen, können sie auseinandergehen.‘ Salama Ibn al-Akwaʿ ergänzte zu seinem Bericht: ‚Ich weiß nicht, ob diese Weisung nur für uns während des Feldzugs damals galt oder für alle Menschen Gültigkeit hat.‘“120

Schließlich verweist Al-Buhari im nächsten Hadith auf die Unzulässigkeit der Zeitehe: „ʿAli hat eindeutig darauf hingewiesen, daß [sic!] der Prophet (S) seine Genehmigung der Zeitehe zurückgenommen hat.“121 Imam Muslim beschreibt die Mut’a-Ehe folgendermaßen: „Mut’a war eine Ehe auf Zeit. Der Mann sagte zu der Frau: ‚Ich werde für einige Zeit im Austausch gegen eine gewisse Geldsumme Genuß [sic!] mit dir haben.‘ Diese Vereinigung nannte man Mut’a (Genuß [sic!]), aufgrund der Tatsache, daß [sic!] sie ausschließlich auf die Befriedigung sexueller Lust abzielte, d.h. keine Fortpflanzung oder was man sonst von einer Ehe erwartete, damit verband. Die Mut’a-Ehe wurde im Koran und in der Sunna verboten.“122

Anhand dieses Zitats wird deutlich, dass diese Form der Ehe allein der legitimen sexuellen Beziehung diente und deshalb verboten wurde. Sie kann als eine tradierte Form der Prostitution betrachtet werden. Heute hat sich eine weitere deviante Eheform herausgebildet: die nikah al misyar (‚Besuchehe‘). Eigentlich stellt sie eine Abwandlung der Mut’a-Ehe dar, da sie

119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd., S. 339. 122 Muslim: Al-Jami’ as-Sahih, S. 130f. Zit. n. Mernissi 1991, S. 77.

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ohne zeitliche Vereinbarung eingegangen wird. Sie wird vor allem in den Golfstaaten praktiziert, erhielt aber aufgrund der aus diesen Ländern stammenden Touristen auch in Marokko Einzug. Diese Ehe kann als ein Resultat der hohen Kosten der formalen Ehe gewertet werden.123 Denn diese Eheform verzichtet nicht nur auf die Zahlung des Brautgeldes und auf eine Zeremonie, sondern auch auf einen gemeinsamen Haushalt. Wie der Name ‚Besuchehe‘ schon verrät, stattet der Ehemann der Frau, die alleine oder bei ihren Eltern wohnt, in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen einen nächtlichen Besuch ab. Häufig handelt es sich um geschiedene, verwitwete Frauen oder solche, deren hohes Alter keine großen Aussichten auf eine normale Ehe mehr verspricht. Deshalb dulden die Eltern die misyar-Ehe ihrer Tochter, weil sie davon ausgehen, dass sie keine Chancen auf dem Heiratsmarkt habe, aber ihr Recht auf eine Sexualität anerkennen.124 In Saudi Arabien wird die misyarEhe als legale Eheform mittlerweile auch von den Behörden akzeptiert, da sie unter den Konditionen einer normalen Ehe, nämlich der Anwesenheit zweier Zeugen und der Ausstellung einer Heiratsurkunde, geschlossen wird. Mehrheitlich werden solche Ehen jedoch im Geheimen geführt, insbesondere dann, wenn ein Mann mehr als nur eine misyar-Ehefrau hat oder wenn die Familie nichts davon wissen soll.125 In Marokko entbehrt dieses Ehemodell jedoch jeglicher rechtlichen Grundlage. Nichtsdestotrotz gibt die misyar-Ehe Jugendlichen ein Gefühl der Alternative zu den ansonsten illegitimen Sexualbeziehungen, die sowohl aus religiöser als auch aus sozialer Perspektive als Unzucht (zina) gewertet werden. Sie sind zwar de jure illegal, aber aus religiöser Sicht stellen sie für die Praktizierenden eine islamische Alternative zu vorehelichen Beziehungen dar.126 Aus diesem Grund können solche Eheschließungen als eine Kompensationspraktik und als Alternative zu autorisierten Ehen, die sich die jungen Männer nicht leisten können, betrachtet werden. Im Grunde stellt es eine Begleiterscheinung der Verschiebung des Heiratsalters dar. Das Auftauchen dieser Eheformen ist als eine defensive und konservative Antwort auf die Verbreitung vorehelicher Sexualbeziehungen und dem Ruf nach sexueller Liberalisierung zu verstehen. Allerdings ist diese Entwicklung eine problematische, denn solche Beziehungsmodelle enden häufig zum Nachteil der Frauen, weil die Männer sich aller ehelichen Verpflichtungen entziehen.

123 Vgl. Dialmy 2005, S. 22. 124 Vgl. Jabarti, Somayya: „Misyar marriage – a marvel or misery?“, in: Arab News (5.06.2005). 125 Vgl. ebd. 126 Vgl. Ibnouzahir 2011.

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Mernissi arbeitete heraus, dass solche Ehen – die sie als eine „Komplizin der Prostitution“127 bezeichnet – der orthodox-islamischen Vorstellung von Ehe diametral entgegenläuft, da sie zum einen zeitlich begrenzt und zum anderen, weil durch solche Ehen die Sicherung der Abstammungslinie nicht gewährleistet und damit die hohe Bedeutung der Vaterschaft ad absurdum geführt wird.128

5.6 GEOGRAPHIEN DER SEXUALITÄT Wie bereits angeführt leben marokkanische Jugendliche auch im fortgeschrittenen Alter zum Großteil noch bei ihren Eltern. Die marokkanische Gesellschaft ist konservativ und nur in den seltensten Fällen gestatten die Eltern ihrem Sohn seine Freundin zu sich nach Hause einzuladen.129 Jedoch wäre es undenkbar für die Tochter.130 Aus diesen Gründen sind die Jugendlichen gezwungen, andere Orte für ein Tête-à-tête aufzusuchen. Die Anmietung eines eigenen Apartments ist aufgrund der gestiegenen Mietpreise nur noch den finanziell besser gestellten jungen Erwachsenen möglich. Sie müssen jedoch auf die Diskretion ihrer Nachbarn hoffen, wenn sie Besuch empfangen, da diese sie im schlimmsten Fall der Hurerei bezichtigen und die Polizei informieren können. In den meisten Fällen unternimmt die Polizei nichts, wenn die Jugendlichen bereit sind, eine gewisse Summe an sie abzutreten.131 Als junger Mensch ist man überall der Kontrolle von Sittenwächtern ausgesetzt, selbst in der eigenen Wohnung. Dabei ist die Toleranz gegenüber Männern, die weiblichen

127 Mernissi 1991, S. 77. 128 Vgl. ebd. 129 Ein junger Mann könnte seine Freundin zu sich einladen, bspw. zu einem gemeinsamen Essen mit seiner Familie. Würden sich die beiden jedoch auf sein Zimmer zurückziehen wollen, käme dies einem Tabubruch gleich. Dieses Tabu basiert auf der Verinnerlichung des Ausspruchs des Propheten: „Ein Mann und eine Frau können sich nicht zurückziehen, ohne daß [sic!] der Teufel sich ihnen als Partner anschließt und aus dem Paar ein Trio macht.“ Al-Tarmidi, Abu Issa: Sunam Al-Tarmidi, Medina o.J. (Bd. 2), S. 149, B: 16, H: 1181; Al-Buhari: Katab al-Jami’ al-Sahih, Leydon 1868, (Bd. 3) K: 67, B: 11. Zit. n. Mernissi 1991, S. 27. 130 Vgl. Terrab/ Saâdi 2009. 131 Vgl. Naâmane-Guessous, Soumaya: „Clandestins du sex“, in: Illi, Oktober 2012, S. 5759, S. 59.

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Besuch empfangen, größer als gegenüber alleinlebenden Frauen. Eine Frau, die alleine wohnt, wird von der Nachbarschaft ohnehin mit Misstrauen betrachtet.132 Das beginnt bereits bei der Wohnungssuche: Eine Marokkanerin wird in der Regel vom Makler oder dem Vermieter gefragt, warum sie alleine als Frau auf Wohnungssuche sei.133 Diese Frage wird erst recht gestellt, wenn die Eltern in derselben Stadt leben. Damit wird suggeriert, dass es sich für eine Frau aus gutem Hause nicht geziemt, alleine zu wohnen. Sollte man die Wohnung trotz allen Verdachts bekommen, wird man von dem Vermieter unterwiesen, keinen männlichen Besuch zu empfangen.134 Die Hausmeister (Concierge), die in Marokko nach französischem Vorbild rund um die Uhr am Hauseingang sitzen, wissen sehr genau, wann man das Haus verlässt und wen man zu sich einlädt. Es ist kein Geheimnis, dass die Jugendlichen die meisten von ihnen als Spione, sei es vom Vermieter oder der Geheimpolizei, betrachten.135 In der Tat können Hausmeister, Parkzuweiser und die Nachbarschaft Funktionen eines informellen Informationsdienstes übernehmen. In Form von mündlichen oder schriftlichen Berichten lassen sie der Polizei Informationen über Personen zukommen, die sich vermeintlich sittlich auffällig verhalten. „It is understood by the public that this stream of information renders all members of the community potential participants in ongoing reportage of the happenings in localized place. The observational activities of street workers, for example, are a formalized feature of their work – parking attendants, corner cigarette vendors sitting on milk crate, street sweepers, and building concierges report their observations to authorities as a matter of course.“136

132 Vgl. Hadni, Dounia: „Les Marocaines ont aussi le droit d’être ni putes ni soumises“, in: Huffington Post Maghreb (1.06.2015). Das ist auch einer meiner Interviewpartnerinnen passiert, die in Rabat in zentraler Lage eine Wohnung gesucht hatte und deren Eltern in einem Vorort von Rabat wohnen. 133 Vgl. Terrab/ Saâdi 2009. 134 Vgl. Attar, Qamar: „Célibataire recherche appartement à Casablanca“, in: Hyawhowa (23.11.2013). Selbst ich wurde bei der Schlüsselübergabe von meinem Vermieter ausdrücklich darum gebeten, keinen männlichen Besuch zu empfangen. 135 Vgl. ebd. 136 Maroon, Bahíyyih: „Mobile sociality in urban Morocco“, in: Kavoori, Anandam/ Arceneaux, Noah (Hg.): The cell phone reader. Essays in social transformation, New York [u. a.] 2006, S. 189-204, S. 197.

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Das latente Gefühl der ständigen Beobachtung ist häufig allgegenwärtig: „If one sense that there are ‚always eyes watching‘, this is because indeed there are.“137 Wenn man nicht einmal in seinen eigenen vier Wänden ein Privatleben haben und sich nicht sicher sein kann, ob die Polizei bald vor der Haustür steht und nach der Heiratsurkunde fragt, ist nachvollziehbar, mit welcher Angst sich Jugendliche und junge Erwachsene verabreden. In den meisten Fällen lassen die Beamten die Jugendlichen in Ruhe, nachdem diese ihnen Geld geben; wenn sie dazu nicht in der Lage sind, müssen sie mit auf die Wache kommen.138 Unverheiratete zahlen für eine Umarmung 5 bis 100 Dirhams (ca. 50 Cent bis 10 Euro), für sexuelle Handlungen würden höhere Geldbeträge verlangt, heißt es in der Zeitschrift „Illi“. Ein junger Mann berichtet darin, dass er im Auto von einem Polizisten in flagranti erwischt worden sei und ihm 500 Dirham (ca. 50 Euro) geben musste, um seine Freundin vor einem Skandal zu bewahren.139 Aber es geht auch über außereheliche Beziehungen hinaus: Auch verheiratete Paare umarmen oder küssen sich nicht in der Öffentlichkeit, denn seine Zuneigung öffentlich zu zeigen könnte als unzüchtig aufgefasst und eine Anschuldigung der Erregung öffentlichen Ärgernisses nach sich ziehen. Im selben Artikel findet sich eine weitere Passage, in der ein junger verheirateter Mann seinem Frust darüber Ausdruck verleiht: „Ich habe es satt, mich vor den Bullen ausweisen zu müssen am Strand, auf der Straße. Wenn ich meine Frau auf der Straße umarme, fühle ich mich schuldig.“140 Ein weiterer Fall sorgte im Jahr 2016 für Aufsehen, als ein Ehepaar, welches zu Besuch bei seiner Familie in Chichaoua, im ländlichen Süden Marokkos, war, von einem Mob angegriffen wurde, weil der Mann seiner Ehefrau einen Kuss auf die Wange gab. Dies verdeutlicht, dass besonders im ländlichen Gebiet,

137 Ebd. Diese Erfahrung habe auch ich machen müssen. Nachdem ich mich mit Nadia Yassine, der Tochter von Scheich Yassine und dem Begründer von „Al-ʿAdl wa-lIhsan“ zu einem Interview traf, wurde meine Gastfamilie von der Geheimpolizei (Direction de la Surveillance du Territoire (DST)) aufgesucht, die Informationen über mich einholen wollte. Als Konsequenz zog ich aus und kam für mehrere Tage bei einer amerikanischen Freundin unter, die mit mir ein Praktikum bei der Frauenrechtsorganisation „Association Démocratique des Femmes du Maroc“ absolvierte. Als sich die Lage beruhigte, bat mich meine Gastfamilie, zurückzukommen. 138 Vgl. Terrab/ Saâdi 2009. 139 Vgl. Naâmane-Guessous 2012, S. 59. 140 Ebd. Übers. d. Verfasserin.

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solche Gesten der Zuneigung zur Erregung öffentlichen Ärgernisses führen und die Anwohner dazu verleiten können, Selbstjustiz zu üben.141 Laut dem Koran bedarf es, wie in Kapitel 2.1 dargelegt wurde, in der Regel mehrerer Zeugen, um jemanden der Unzucht zu beschuldigen, oder eines Eingeständnisses der betreffenden Person.142 Doch immer wieder werden Jugendliche auch ohne Zeugen für Verstoße gegen Artikel 490 belangt und im schlimmsten Fall auch arretiert. Dabei wird stets angegeben, man habe sie in flagranti erwischt, was jedoch höchst zweifelhaft ist, denn so häufig wie derartige Fälle an die Öffentlichkeit kommen, müssten die Jugendlichen einen Hang zum Exhibitionismus haben, wenn man all dem Glauben schenken würde. In einem Artikel berichtet die marokkanische Journalistin, Nora Fakim, über Diskriminierungen, die jungen Menschen in Marokko tagtäglich widerfahren und thematisiert Konsequenzen der rigiden Sexualmoral, die sich in der permanenten sexuellen Belästigung von Frauen von sexuell frustrierten Männern äußere. Sie berichtet auch von einem Fall aus dem Jahr 2012, bei dem ein unverheiratetes Paar für sechs Monate inhaftiert wurde, weil es beim Sexualverkehr erwischt worden war.143 Aufgrund der Anonymität in den Städten lässt sich eine Beziehung zum anderen Geschlecht leichter herstellen, doch auch hier müssen die Jugendlichen auf die Sittenwächter Acht geben. Aus diesem Grund suchen sie nach nichtöffentlichen Plätzen, wo sie vor den Augen der Nachbarschaft geschützt sind. Es besteht z. B. die Möglichkeit, ins Hotel zu gehen, wo allerdings die Heiratsurkunde vorgelegt werden muss. Aus diesem Grund werden häufig getrennte Zimmer gebucht oder auf solche Hotels ausgewichen, in denen kein Heiratsnachweis verlangt wird. Aufgrund des Mangels an Örtlichkeiten für ein Stelldichein, ist mittlerweile ein eigenes Geschäftsmodell mit der stündlichen Vermietung von Privatwohnungen oder Zimmern entstanden. Viele Anwohner wissen darüber Bescheid, dulden es aber nur widerwillig, sodass immer wieder mit Razzien gerechnet werden muss. Die Vermietung solcher Wohnungen ist zu einem lukrativen Nebenverdienst, mit einer durchschnittlichen Einnahme von 500 bis 600 Dirhams (ca. 50 Euro), geworden.144

141 Vgl. Anonymus: „Chichaoua. Un couple marié lynché pour un baiser“, in: Sofapress.com (5.04.2016). 142 Vgl. Der Koran, Sure 24:4. 143 Vgl. Fakim, Nora: „Morocco. Should pre-marital sex be legal?“, in: BBC.com (09.08.2012). 144 Vgl. Naâmane-Guessous 2012, S. 58.

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Auch ein eigenes Auto kann nützlich sein, um sich in der Nacht Schutz an entlegenen Orten (bspw. im Wald, am Strand, in Parks oder an Parkplätzen) zu suchen.145 In Rabat ist eine etwas abgelegene Stelle am Strand, bei der Kasbah des Oudayas, als Treffpunkt für Verliebte unter den Jugendlichen bekannt. Seit einigen Jahren kann man auch in schickeren Cafés, Bars und Restaurants junge Paare sehen, die ihre Zuneigung durch Händchenhalten und andere Gesten der Zärtlichkeit zum Ausdruck bringen. Allerdings ist diese Freiheit nur Angehörigen höherer Gesellschaftsschichten vorbehalten, die sich solche Nischen der Intimität leisten können. Sie können nicht nur die Polizei bezahlen, sondern sich den Besuch von teuren Cafés oder Restaurants genauso leisten wie das Anmieten zweier Hotelzimmer. Solche Paare verfügen somit aufgrund ihres höheren Einkommens über größere Freiheiten und sind weniger von Restriktionen betroffen. Ohne Kapital sind die meisten Jugendlichen von solchen Zugängen jedoch ausgeschlossen und müssen sich an klandestine Orte begeben,146 weshalb voreheliche Intimität häufig mit Opportunismus, Schnelligkeit, Schuldgefühlen und der Angst, entdeckt zu werden, konnotiert ist.147 Die Schuldgefühle können aber auch auf die Internalisierung der islamischen Sexualethik, bei der Sexualität nur unter Eheleuten praktiziert werden darf, zurückgeführt werden, was bei den Jugendlichen das Gefühl hervorruft, sie begingen eine Sünde.148 Als weiterer Ort der außerehelichen Sexualität ist zuletzt auch das Internet zu nennen. In einer psychologischen Studie aus dem Jahr 2012 wurden 1.500 Jugendliche zu ihrem Internetverhalten und Cybersex interviewt. Es stellte sich heraus, dass 42,9% der befragten 12 bis 14-jährigen Jungen und 30,7% der 12 bis 14jährigen Mädchen sich vor der Webcam entblößt haben; bei den 15 bis 20-Jährigen sogar die Hälfte der Jungen und 37,5% der Mädchen. Die Anonymität des Internets mache den Reiz aus, so die Schlussfolgerung dieser Studie.149 Auch das Datingver-

145 Vgl. ebd., vgl. Cheikh/ Miller 2010, S. 198. 146 Zu solchen Orten zählen bisweilen auch Friedhöfe, leerstehende Häuser, Baustellen und Mülldeponien. Vgl. Naâmane-Guessous 2012, S. 58. 147 Vgl. Chabach 2010, S. 85; vgl. Naâmane-Guessous 2012, S. 57f. 148 Vgl. Dialmy, Abdessamad: „Moroccan youth, sex and Islam“, in: Middle East Research and Information Project (MERIP) (Hg.): Middle East Report: Power and sexuality in the Middle East, (206) 1998, S. 16-17, S. 16. 149 Vgl. Kadiri, Nadia/ Benjelloun, Roukaya/ Kendili, Imane/ Khoubila, Adil/ Moussaoui, Driss: „Internet and sexuality in Morocco, from cyber habits to psychopathology“, in: Sexologies, (22) 2012, S. 49-53, S. 51.

Deviante Praktiken als Rituale des Widerstands | 255

halten und die Intimität seien stark vom Internet beeinflusst.150 So würde man sich über das Internet auch zu Sex-Dates verabreden: 41,7% der Befragten gaben an, sich mit Unbekannten getroffen zu haben, mit denen man zuvor über intime Themen gesprochen habe.151 Die weitestgehende Anonymität des Internets kann zur Ausweitung von Räumen, in denen deviante Formen der Sexualität thematisiert und ausgelebt werden können, beitragen.152 Jedoch kann diese Anonymität auch Risiken bergen, bei denen insb. junge Mädchen und Frauen Opfer sexueller Gewalt werden können.153

5.7 ‚SOZIALE HYPOKRISIE‘ Gesellschaftliche Normen sind nicht statisch und verändern sich kontinuierlich. Bestehende soziale Normen werden von den Jugendlichen täglich überschritten, doch dies führt zu unterschiedlichen Konsequenzen für Männer und Frauen.154 Der Druck althergebrachter Genderkonzepte lastet auf beiden Geschlechtern und führt bei den Jugendlichen zu Unsicherheit, Frustration und persönlichen Dilemmata. Dialmy spricht in diesem Zusammenhang von einer „sexuellen Krise“155 der Jugend. Ihm zufolge habe Marokko in den letzten Jahren eine „sexuelle Explosion“156 erlebt.

150 Vgl. ebd., S. 52. 151 Vgl. ebd., S. 51. 152 Terrab/ Saâdi 2009. Auf Facebook existierten z. B. mehrere geheime Gruppen, die nur ausgewählten Gruppenmitgliedern zugänglich und nur auf Einladung von anderen Mitgliedern beitretbar seien, in denen man seine Phantasmen thematisieren und sie durch Verabredungen in der Realität ausleben könne. Dabei könnten gleichermaßen Singles, Verheiratete, Hetero-, Homo- oder Bi-Sexuelle ihren Fantasien freien Lauf lassen und Annoncen reinstellen, ohne Angst haben zu müssen, von den Gruppenmitgliedern verurteilt zu werden. Vgl. ebd. 153 Vgl. Kadiri et al. 2012, S. 53. 154 Vgl. Singerman 2011, S. 75. 155 Dialmy 1998, S. 17. 156 Das Land befinde sich in einer Phase der sexuellen Transition, von einer traditionellen zu einer modernen Sexualordnung. Diese Behauptung basiert auf seinen Beobachtungen in Bezug auf die Zunahme außerehelicher Sexualbeziehungen und dem Auftreten neuer

256 | Jugend und Gender in Marokko

Sexualität und Intimität spielen eine wesentliche Rolle im Alltag der Jugendlichen und können Chancen für die Umgestaltung von Geschlechterbeziehungen und für persönliche sowie kollektive Identitäten bergen.157 Wie der französische Soziologe Émile Durkheim in seinem „Anomie-Konzept“ aufzeigen konnte, werden in Gesellschaften, die Prozessen des sozialen Wandels unterliegen, gesellschaftliche Normen gerade von denjenigen, die von der Gesellschaft am meisten benachteiligt werden, überschritten. In diesem Zusammenhang stellt er fest: „Es genügt aber nicht, daß [sic!] es Regeln gibt, sie müssen auch gerecht sein.“158 Er betont dabei ausdrücklich, dass die Gesellschaft sich umformen müsse, wenn sie erhalten bleiben wolle.159 Normabweichungen und deviantem Verhalten kommt dabei eine Erhaltungsfunktion für die Gesellschaft zu, denn ein „gewisser Grad von Anomie“ sei notwendig, um der Gesellschaft ein „ausreichendes Innovationspotential zu sichern“.160 Da voreheliche Sexualität in Marokko streng verboten ist, sie aber zunehmend zum Bestandteil der täglichen Praxis der Jugendlichen wird, führt dieser Wandel zu einem Konflikt mit der bestehenden sozialen Ordnung und der patriarchalen Kontrolle der weiblichen Sexualität.161 Durch die devianten Formen sexuellen Verhaltens destabilisieren die Jugendlichen die Sexualmoral ihres Landes. Die in dieser Phase ablaufenden Vorgänge sind anarchischer Natur und können die Gesellschaftsordnung in Ungleichgewicht bringen und damit soziales Chaos (fitna) hervorrufen. Das normwidrige Verhalten der Jugendlichen wird aus diesem Grund vom Staat und der konservativen Bevölkerungsmehrheit als eine Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung betrachtet. Es kann aber auch Chancen für gesellschaftliche Veränderungen bergen, da es die Basis für die Aushandlung neuer Geschlechtermodelle bilden und die Etablierung neuer Gendernormen nach sich ziehen kann. Ganz im Sinne des bekannten Zitats von Durkheim: „Einzig die Zeiten, die moralisch gespalten sind, sind auf dem Gebiet der Moral kreativ“,162 kann dies

Formen der Prostitution (Sexarbeit, Cybersex, Sextourismus), so Dialmy in einem Interview. Vgl. Mesfioui 2015. 157 Vgl. Honwana 2012, S. 89. 158 Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt am Main 1992, S. 478. 159 Vgl. Durkheim, Émile: Der Selbstmord, Frankfurt am Main 1990, S. 431. 160 Vgl. ebd., S. 430ff. 161 Vgl. Illkaracan 2002, S. 769; vgl. Makhlouf Obermeyer 2000, S. 243. 162 Durkheim, Émile: „Einführung in die Moral“, in: Bertram, Hans (Hg.): Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt am Main 1986, S. 33-53, S. 35.

Deviante Praktiken als Rituale des Widerstands | 257

als ein Zeichen dafür betrachtet werden, dass sich die traditionell hierarchische Beziehung der Geschlechter in Marokko in einer Transition befindet. In diesem Unterkapitel wurden deviante Formen sexueller Praktiken beschrieben, die als eine Folge des späteren Eintritts in die Ehe, aber auch als eine Folge individueller Veränderungen in den Ansichten zur Sexualität von Seiten der Jugendlichen, zu betrachten ist. Die oben genannten Publikationen über voreheliche Sexualpraktiken verdeutlichen, dass der Diskurs über Sexualität in der Öffentlichkeit aufgrund bereits eingetretener Veränderungen im Leben junger Menschen in Marokko (längere Ausbildungszeiten, insb. der Frauen, hohe Jugendarbeitslosigkeit und gestiegenes Heiratsalter) bereits geführt wird und dass deviante Beziehungen außerhalb der Ehe als ein soziales Phänomen erkannt wurde. Die Thematisierung dieser Praktiken stellt einen Tabubruch dar, der für die Infragestellung sozialer Normen notwendig ist. Es ist ein erster Schritt für die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und deutet auf die Aushandlungsprozesse hin, die in der Gesellschaft stattfinden. Das folgende Kapitel widmet sich dem Diskurs über Sexualität in Marokko und den Akteuren, die sich an diesem Diskurs beteiligen. Dazu zählen Jugendliche, Medienproduzenten und Akteure der Zivilgesellschaft, die nicht selten Tabus brechen und damit gesellschaftliche Debatten entfachen. Es behandelt die Rolle der Medien in Bezug auf die Erschließung von Freiräumen und den von ihnen ausgehenden Impuls für eine Öffnung des Diskurses. Zunächst wird anhand klassischer Medien dargestellt, wie Frauenmagazine die Gleichstellungsdiskurse vorantreiben. Anschließend wird auf die Funktion, die neue Medien hinsichtlich der Kreierung von Freiräumen einnehmen können, eingegangen. Das Unterkapitel über das Cybercafé gibt Aufschluss darüber, wie der reale und virtuelle Freiraum eine Synthese bilden und das darauffolgende Unterkapitel verdeutlicht anhand des „Kiss-In“ die Überschneidung der „Online“- und „OfflineWelt“ und thematisiert die daraus entstehenden Konsequenzen für die Jugendlichen.

6. Die Rolle der Medien

Wie bereits dargelegt, nimmt der Wunsch nach alternativen Konzepten von Partnerschaft und Gendermodellen bei den Studierenden während der Studienzeit zu. Im post-universitären Leben, also sobald es um die Heirat und die Angliederung an die Gesellschaft geht, werden diese Konzepte zugunsten traditioneller Rollenmuster und Zukunftsentwürfe verworfen. Innerhalb der Schwellenphase (waithood), testen die Jugendlichen kontinuierlich ihre Grenzen aus, suchen nach Nischen, in denen sie deviante Beziehungsformen ausleben können. Unter den Augen der Nachbarschaft oder der Familie ist es für junge Erwachsene in Marokko nicht leicht voreheliche Beziehungen zu pflegen. Ein willkommenes Mittel, um der Wachsamkeit der Sittenwächter zu entgehen, stellt das Internet dar. Neben realen Freiräumen rund um das studentische Umfeld, werden alternative Lebenswelten also mit Hilfe des Internets kreiert, in dem, wie in einer Art virtueller Parallelwelt, Liebesbeziehungen entstehen und gelebt werden können. Es fungiert in diesem Kontext als ein Raum der Diskretion. Insbesondere soziale Medien, wie Facebook, bilden ‚Werkzeuge‘ der Kontaktaufnahme und der Kommunikation zum anderen Geschlecht und generell zu anderen Internetnutzern weltweit. Darüber hinaus dienen neue Medien den Jugendlichen dazu, den gesellschaftlichen und politischen Status quo zu kommentieren, infrage zu stellen und herauszufordern. „Young people are developing new and creative ways to create systemic change. […] They are addressing social inequality through […] the media as tools to educate and influence.“1 Im virtuellen Raum erhalten die Jugendlichen die Möglichkeit, soziale Ungleichheit zu thematisieren und zu kritisieren und auf diese Weise ihrer sozialen Marginalisierung zu entgehen. Das Internet dient ihnen dem-

1

Ginswright/ James 2002, S. 38.

260 | Jugend und Gender in Marokko

nach als eine Plattform für die Ausweitung ihrer Handlungsspielräume, welche mittel- und langfristig Einfluss auf gesellschaftliche Transformationen haben kann. Auch klassische Medien, wie Zeitungen und Zeitschriften, können sich formierend auf Identitätsprozesse auswirken. Durch ihre Möglichkeit Diskurse zu evozieren und damit Diskussionen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, können sie ganz entscheidend zur Meinungsbildung beitragen und die Partizipation der Bevölkerung am politischen und weltlichen Geschehen ermöglichen. Sie können Macht ausüben, indem sie den gesellschaftlichen und politischen Status quo hinterfragen, Kritik am System vornehmen und soziale Diskrepanzen aufzeigen. Sofern sie nicht in staatlicher Hand liegen, werden Medien deshalb als „vierte Gewalt“, die notwendig für die Etablierung von Demokratien sind, bezeichnet. Von Bedeutung ist die Frage, welche Rolle neue Medien, wie das Internet und Mobiltelefone, bei der Gestaltung von Freiräumen, insb. im Hinblick auf Liebesbeziehungen, spielen. Vor diesem Hintergrund wurde untersucht, ob und welchen Medien eine Diskursmacht hinsichtlich der Emanzipation von Frauen zugesprochen werden kann und ob sich aufgrund neuer Medienentwicklungen, etwa durch soziale Medien, neue feministische oder auf Parität gerichtete Diskurse eröffnen. Dabei wurden im Besonderen sowohl klassische Printmedien als auch neue Medien auf ihre Bedeutung für die Konstruktion von Gendernormen untersucht. Ebenso wurde nach der Medialität von Geschlecht bzw. seiner medialen Bedingtheit und Konstruktion gefragt. Der diskursanalytische Ansatz wurde durch medienethnographische Ansätze ergänzt. Dabei wurden Mediendiskurse und geschlechtsspezifische Stereotype, die von Seiten der Medien propagiert oder unterminiert werden, analysiert und hinterfragt. Die formale und inhaltliche Analyse der Gleichstellungsdiskurse ermöglicht Aussagen zur Repräsentation, Selektion und Produktion genderspezifischer Themen in der Region sowie Rückschlüsse auf die Positionierung der Jugend und die von ihnen ausgeübte Diskursmacht.2 Des Weiteren werden mediale Auftritte der Akteure und Akteurinnen im Internet im Hinblick auf ihre Selbst- und Fremddarstellung untersucht, insbesondere unter dem Aspekt, ob Impulse aus den Erfahrungen der „Online-Welt“ in die „Offline-Welt“3 einfließen.

2

Vgl. dazu Ginwright/ James 2002; vgl. Ginwright, Shawn/ Noguera, Pedro/ Cammarota, Julio (Hg.): Beyond resistance. Youth activism and community change. New democratic possibilities for practice and policy for America's youth (Critical youth studies), New York, N.Y. 2006.

3

Miller, Daniel/ Slater, Don: The internet. An ethnographic approach, Oxford 2003, S. 4.

Die Rolle der Medien | 261

In der Medienanalyse klassischer Medien wurden die Frauenzeitschriften „Femmes du Maroc“ (von Mai 2001 bis Juni 2013, nicht durchgängig) und alle „Illi“-Ausgaben der Jahre 2012 bis 2013 sowie nach thematischer Relevanz bis einschließlich 2015 genauer betrachtet.

6.1 DIE MAROKKANISCHE MEDIENLANDSCHAFT Während der Zugang zu neuen Medien noch einer Bildungselite vorbehalten bleibt, weil er mit einer Fertigkeit des Umgangs mit neuen Technogien und der Kenntnisse der lateinischen Schrift – bzw. der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben – und auch der Kenntnisse der englischen oder französischen Sprache einhergeht, greift die Bevölkerungsmehrheit weiterhin auf lokale Medien bzw. auf das Medium Satellitenfernsehen zurück.4 Die marokkanischen Printmedien können insgesamt als regierungstreu bezeichnet werden. Zwar genießen sie seit Beginn der Regierungszeit Mohammeds VI. (1999) eine relative Unabhängigkeit, dürfen aber die ‚rote Linie‘, womit die Unantastbarkeit der Tabuthemen „Gott, Vaterland und König“5 gemeint ist, nicht überschreiten. An dieser ‚roten Linie‘ entlang haben sich Journalisten zu orientieren, denn deren Überschreitung würde Strafen, wenn nicht sogar eine Inhaftierung, nach sich ziehen. Auf einer Konferenz zum Thema „Media and Freedom of Expression in Morocco“ wurde berichtet, dass viele Journalisten daher gezwungen seien, bei ihren Themen und Berichterstattungen eine Selbstzensur vorzunehmen.6 Wenn sie nicht gewillt seien, sich an diese Vorgaben zu halten, bliebe ihnen nur die Möglichkeit, ihre Beiträge in einem Online-Medium zu publizieren.7 Doch auch im Internet ist die Gefahr groß, für die Berichterstattung von tabuisierten Themen inhaftiert zu werden. Erst im September des Jahres 2013 wurde Ali 4

Vgl. Hafez 2009.

5

Diese Säulen der Gesellschaft werden durch die Verfassung (Art. 4), den Code la Presse (Pressegesetz) (Art. 38-41) und durch das Strafgesetz (Art. 179) geschützt. Im Strafgesetz wird die Überschreitung der ‚roten Linie‘ mit einem Bußgeld von 10.000 bis 100.000 Dirhams (ca. 1.000 bis 10.000 Euro) und/oder mit einer Freiheitsstrafe von drei bis fünf Jahren geahndet. Mit Vaterland ist auch die territoriale Integrität Marokkos, bezogen auf die Westsahara, gemeint.

6

„Media and Freedom of Expression in Morocco“, Konferenz am 15.11.2013 in Rabat.

7

Vgl. ebd.; vgl. auch Benchemsi 2004.

262 | Jugend und Gender in Marokko

Anouzla, der Herausgeber der liberalen Online-Zeitschrift „Lacôme.com“ inhaftiert. Sein Vergehen bestand in der Weiterleitung eines Propagandavideos von „Al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQIM), das zuvor von der spanischen Zeitung „El País“ online gestellt wurde, in der der marokkanische König bedroht und als dekadenter und korrupter Despot kritisiert wurde. Die Inhaftierung Anouzlas führte zu zahlreichen Solidaritätsdemonstrationen in der Landeshauptstadt Rabat und größeren Städten Marokkos und löste einen öffentlichen Diskurs über Pressefreiheit aus. Anouzla ist zwar nach einmonatiger Untersuchungshaft auf Bewährung wieder freigekommen, die Ermittlungen gegen ihn laufen jedoch weiter. Seine Zeitung unterstand anschließend lange Zeit staatlicher Zensur und war monatelang inaktiv. Mit der neuen Online-Zeitschrift „Lacôme 2“ führt Ali Anouzla seine Arbeit fort und testet aufs Neue die Grenzen des Sagbaren.8 Anouzlas Fall ist wohl der prominenteste, aber nur einer von vielen. Ein anderer, der nicht solch ein Aufsehen erregte, war der des Journalisten Mustapha El Hasnauoi, der aufgrund eines Verdachts, mit syrischen Regierungskämpfern in Kontakt getreten zu sein, seit Juli 2013 seine dreijährige Gefängnisstrafe absitzt. Beide Fälle werden unter Verweis auf das Anti-Terror-Gesetz begründet, welches im Jahre 2003 als Reaktion auf die islamistischen Terroranschläge von Casablanca erlassen wurde. Menschenrechtler kritisieren schon lange, dass dieses Gesetz lediglich ein Vorwand der Regierung sei, kritische Journalisten mundtot zu machen und die Rede- und Pressefreiheiten zu begrenzen. Unter Rückgriff auf dieses Gesetz werden auch zunehmend Akteure der Zivilgesellschaft eingeschüchtert oder angeklagt, wenn sie sich für individuelle Freiheiten und Bürgerrechte einsetzen. Auch ihre Aktivitäten werden unter dem Vorwand der Verbreitung terroristischen Gedankenguts bzw. staatsgefährdender Maßnahmen extrem beschnitten. Die säkulare Menschenrechtsorganisation „Association Marocaine des Droits Humains“ (AMDH), die bekannt für ihr reges zivilgesellschaftliches Engagement ist, insbesondere was die Forderungen nach individuellen Freiheiten anbelangt, wird bezichtigt, staatliche Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus zu defektieren. Der Innenminister verbot in weniger als sechs Monaten 25

8

Vgl. Anonymus: „Morocco. Stop using terrorism as a pretext to imprison journalists“, in: Amnesty International (20.05.2014); vgl. Masbah, Mohammed: „Taking advantage of Morocco’s security threat“, in: Carnegie Endowment for International Peace (10.10.2014).

Die Rolle der Medien | 263

Aktivitäten dieser Organisation. Des Weiteren wurde das Ansehen der NRO im Staatsfernsehen gezielt beschädigt.9 Klassische Printmedien finanzieren sich zudem weitestgehend aus Werbung und sind somit stark von Unternehmen der Privatwirtschaft abhängig. Die beiden regimekritischen Zeitungen „Nichane“ („Direkt“) und „Le Journal Hebdomadaire“ („Die Tageszeitung“) bspw. mussten, nach eigenen Angaben, im Jahre 2010 ihre Tätigkeit aufgrund eines wirtschaftlichen Boykotts seitens der wichtigsten Wirtschaftsunternehmen niederlegen.10 Nichtsdestotrotz lässt sich seit einigen Jahren innerhalb der marokkanischen Medienlandschaft eine Öffnung hinsichtlich sozial strittiger Themen feststellen. Es ist eine Tendenz dahingehen festzustellen, dass Themen, die vormals tabuisiert wurden, zunehmend Beachtung im medialen Diskurs finden. In liberal einzustufenden Zeitungen, wie „Tel Quel“ oder „L‘Economiste“, und in Zeitschriften, wie etwa „Femmes Du Maroc“, „Illi“ oder „Citadine“, wird bspw. der Stellenwert der Virginität innerhalb der Gesellschaft kritisch hinterfragt und die verbreitete Tatsache vorehelicher Beziehungen von Jugendlichen thematisiert.11

6.2 „MAROCK“ UND „MUCH LOVED“ Auch Filme gehören zu den Medien, die gesellschaftliche Tabus aufdecken und der Öffentlichkeit zugänglich machen.12 Sie können Diskurse in Gang setzen und gestaltend auf sie einwirken. Sie können Utopien erzeugen und Kritik an sozial prekären Themen üben. Dies kann auf subtile oder offensichtliche Art erfolgen.

9

Vgl. ebd.

10 Vgl. Hoffmann, Anja: „Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich. Über die Wirkung der Umbrüche in Nordafrika und Westasien auf das marokkanische Königreich“, in: Filter, Dagmar/ Reich, Jana/ Fuchs, Eva (Hg.): Arabischer Frühling? Alte und neue Geschlechterpolitiken in einer Region im Umbruch, Freiburg 2013, S. 205-226, S. 208. 11 Vgl. u. a. Lamlili, Nadia: „Virginité. Est-ce encore un tabou?“, in: TelQuel (28.07.2007); vgl. Midech, Jaouad: „Relations sexuelles avant le mariage, les jeunes en parlent“, in: La vie éco (27.04.2007). 12 Dabei „wagen“ marokkanische Filmemacher in ihren Filmen mehr als bspw. ägyptische. Vgl. Terrab/ Saâdi 2009.

264 | Jugend und Gender in Marokko

Im Folgenden werden exemplarisch anhand zweier sozialkritischer Filme aufgezeigt, wie der Diskurs über Sexualität und individuelle Freiheiten vorangetrieben wird, wenn gesellschaftliche Tabus gebrochen werden. Der erste Film „Marock“13 aus dem Jahr 2005 ist ein Plädoyer der marokkanischen Regisseurin Laïla Marrakchi für eine tolerantere Gesellschaft. Im Vordergrund steht die Liebesbeziehung der muslimischen marokkanischen Gymnasiastin Rita und des jüdischen Marokkaners Youri. Das Setting des Films ist in Casablanca im Ramadan des Jahres 1997. Über die Beziehungen der beiden Protagonisten hinaus, behandelt der Film auch das Dilemma der Jugend, die einen Spagat zwischen tradierten Werten und einem modernen, individuellen Leben machen. Die Clique, allesamt Gymnasiasten in ihrer Abiturphase, erlebt gemeinsam eine Zeit der Unsicherheit und der Neuorientierung am Ende der Schulzeit. Sie diskutieren ihre Zukunftsmodelle, wägen Vor- und Nachteile eines Studiums ab und setzen sich mit ihrer Identität auseinander. Der Film thematisiert auch voreheliche Sexualität: Rita und Youri erleben gemeinsam ihr erstes Mal. Ihre Liebesbeziehung bietet ihren Freunden immer wieder einen Anlass zur Diskussion. Des Weiteren werden in dem Freundeskreis Konzepte von ehrenhaften und unehrenhaften Verhalten sowie von Geschlechterverhältnissen in der marokkanischen Gesellschaft teils ernst, teils humoristisch ausgehandelt. Der Film thematisiert auch das Streben nach einem selbstbestimmten Leben, abseits des Kontrollradius der Familie, und somit das Aushandeln eigener Freiheiten. Ferner werden Tabuthemen, wie der Konsum von Alkohol und Haschisch, das Ausgehen in Bars und Diskotheken sowie sexuelle Erfahrungen im außerehelichen Kontext angesprochen. Jugendliche aus der urbanen marokkanischen Mittel- und Oberschicht erhalten durch diesen Film eine Stimme und werden sichtbar. Sie möchten von ihrer Jugend profitieren und suchen sich Freiräume in einer Gesellschaft, die ihnen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben nimmt und es ihnen verwehrt, ihre Beziehungen offen auszuleben. Verschwiegenheit und Geheimniskrämerei prägen die Beziehungen der Jugendlichen und ihrer Familien. Auf der anderen Seite zeichnet sich die Beziehung der Jugendlichen untereinander durch eine tiefe Verbundenheit und Toleranz aus.

13 Der Film wurde beim Festival von Cannes am 29. Mai 2005 zum ersten Mal ausgestrahlt. Er war dort für eine „Goldene Kamera“ in der Rubrik „Bester Film“ nominiert, ging jedoch leer aus. Am 10. Mai 2006 wurde er erstmals beim Filmfestival in Casablanca aufgeführt.

Die Rolle der Medien | 265

Der Film drückt in komödiantischer und gleichsam ernster Form die ‚soziale Hypokrisie‘ einer Gesellschaft aus, deren Jugend sich zwischen verschiedenen Norm- und Wertesystemen verliert. Des Weiteren wird die religiöse Radikalisierung junger Menschen thematisiert. Diese wird durch die Rolle von Mao, Ritas Bruder, verkörpert, der sich bei seinem Studienaufenthalt in Frankreich radikalisierte. Rita ist nicht nur irritiert von der äußeren Veränderung ihres Bruders – dem Ablegen europäischer Kleidung und dem Tragen eines langen Bartes – sondern auch von seiner inneren Veränderung, wie der Aggressivität ihr gegenüber, dem Rückzug von ihr und seinen Freunden, dem peniblen Einhalten islamischer Vorschriften, wie Gebetszeiten und dem Fasten im Ramadan. Er wiederum kritisiert seine Eltern und seine Schwestern bezüglich ihrer, in seinen Augen, mangelnden Religiosität und zieht sich auch von seiner Familie immer mehr zurück. Die Terroranschläge von 2003 in Casablanca haben die marokkanische Gesellschaft zutiefst erschüttert und der Film geht auf einfühlsame Art und Weise auf die schleichende religiöse Extremisierung von unzufriedenen, sich in Sinnsuche befindenden, jungen Menschen ein. Dieser Film bricht gleichzeitig mehrere Tabus: voreheliche sexuelle Beziehungen, die Liebe zweier Menschen unterschiedlicher Konfessionen sowie den Alkohol- und Drogenkonsum. Mit anderen Worten: Er behandelt ein von der Norm abweichendes Verhalten junger Marokkanerinnen und Marokkaner. Damit provozierte er eine gesellschaftliche Debatte herauf, bei der sich die Öffentlichkeit darüber echauffierte, dass die dort abgebildeten Jugendlichen eine „Karikatur der Dekadenz“ sei und die Themen, die im Film angesprochen werden, nichts mit der sozialen Realität zu tun hätten und die Gesellschaft spalten würden. Kein anderer Film hatte zuvor eine derart explosive Konfrontation des konservativen und des progressiven Lagers ausgelöst.14 Er wurde als „zionistisches Projekt“, das die marokkanische Gesellschaft unterwandere, tituliert, einzig aufgrund der Tatsache, dass Laïla Marrakchi mit einem Juden verheiratet ist. Die Polemik in Wort und Schrift richtete sich in aller Rohheit gegen die Regisseurin, der Islamophobie und die Befürwortung der Prostitution nachgesagt wurde. Die Gewerkschaft des marokkanischen Theaters sprach sich für einen Boykott der Filmaufführung in den marokkanischen Kinos aus. Darüber hinaus übten staatliche Medien, wie die PJDnahe Zeitung „At-Tajdid“, in einem vierteiligen Dossier massive Kritik an Marrak-

14 Vgl. Berrada, Rania: „La prostitution dans le cinéma marocain en quatre films“, in: Huffington Post Maroc (25.05.2015).

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chi, was zu Demonstrationen führte, in denen proklamiert wurde, dass die Regisseurin nichts über die Realität der marokkanischen Gesellschaft wisse.15 Der gemäßigte Teil der Bevölkerung lobte den Mut der Regisseurin, solch tabuisierte Inhalte, die nicht nur die Jugend beschäftigen, zu thematisieren. Die Jugendlichen, mit denen ich über den Film gesprochen habe, empfanden die Darstellungen darin als ein wirklichkeitsnahes Zeugnis einer gesamten Generation von Marokkanern und Marokkanerinnen. Viele junge Frauen berichteten mir, dass sie sich mit den Charakteren des Films identifizieren konnten. Eine von ihnen sagte mir sogar, dieser Film würde ihr damaliges Leben widerspiegeln, und sie fügte hinzu, dass nach der Filmausstrahlung alle Gymnasiastinnen (des „Lycée Déscartes“ in Rabat) von einem Teil der Bevölkerung als Huren betrachtet wurden.16 Der zweite Film, den ich vorstellen möchte, hat es gar nicht erst in die marokkanischen Kinosäle geschafft, weil er seit seiner Veröffentlichung bei den Filmfestspielen in Cannes im Mai 2015 von den marokkanischen Behörden verboten wurde. Es handelt sich um „Much Loved“,17 einen Film des marokkanischen Regisseurs Nabil Ayouch, in dem tabulos ein sensibles Thema behandelt wird: die Prostitution in Marokko. Der Film basiert auf einer anderthalbjährigen Feldstudie, bei der dreihundert marokkanische Prostituierte zu ihrem Alltag interviewt wurden. „Much Loved“ zeigt auf realitätsnahe und zum Teil humoristische Art und Weise das Leben dreier marokkanischer Prostituierten im Alter von Ende zwanzig, die gemeinsam in Marrakech leben, einen männlichen Fahrer haben, der die jungen Frauen zu ihren Terminen chauffiert, für sie kocht, stets ein offenes Ohr für deren Anliegen hat und teilweise als deren Aufpasser fungiert. Der Film geht kritisch mit dem Thema Sextourismus um, der in Marokko etwas seit den 1980er Jahren in der Form existiert.18 Dort werden insbesondere saudische Männer als besonders spendierfreudige, scheinheilige und misogyne Freier, die ganze Abende mit jungen Frauen in angemieteten Luxusvillen in Marrakech veranstalten, dargestellt. Dass Geschäftsmänner aus dem Golf nicht nur der Arbeit wegen nach Marokko kommen ist kein Geheimnis.19 Marokko stellt seit vielen Jahren eine beliebte Destination für Sextouristen dar. Diese stammen, laut Dialmy und meinen Informanten, in den letzten Jahrzehn-

15 Vgl. Roudaby, Youssef: „Il y a dix ans, Marock…“, in: TelQuel (12.05.2015). 16 Interview mit einer 32-jährigen verheirateten Frau am 18.06.2013 in Rabat. 17 Der arabische Filmtitel lautet „Zin li fik“ („Die Schönheit in dir“). 18 Vgl. Dialmy 2005, S. 23. 19 Vgl. Beaumont et al. 2010, S. 11.

Die Rolle der Medien | 267

ten auch zunehmend aus den Golfstaaten.20 Dabei sind insbesondere Städte, wie Tanger und Marrakesch bekannt dafür.21 Mir wurde von meinen Interviewpartnern und Freunden berichtet, dass es in Rabat eine Reihe von Cafés gebe, die als Umschlagplätze der Prostitution bekannt seien.22 Saudische Männer würden dort via der Bluetooth-Funktion ihrer Mobiltelefone Mädchen ausfindig machen, die ihnen durch anzügliche Namen signalisieren würden, dass sie willig seien, mit ihnen mitzugehen. Die Protagonistinnen lachen viel und setzen sich auf humoristische Weise mit ihrem Alltag auseinander. Sie spielen z. B. den saudischen Freiern vor, sie seien ihnen die liebsten Kunden, weil sie von ihnen besonders gut behandelt werden würden, womit sie eigentlich die besonders hohe Bezahlung meinen, und machen sich anschließend untereinander über sie lustig. Diese Art und Weise, mit ihrer Arbeit umzugehen, stellt im Grunde eine Schutzfunktion dar, ohne die sie ihre Lage vermutlich nicht ertragen würden. Sie betrachten sich, aufgrund ihrer finanziellen Autonomie, als freie Frauen, wissen aber auch, dass sie dafür einen hohen Preis zu zahlen haben: die soziale Degradierung und Marginalisierung. Nicht selten erfahren sie Demütigungen, psychische und physische Gewalt sowie Geldentzug, wenn sie nicht die Wünsche ihrer Klienten zu ihrer vollsten Zufriedenheit ausführen. Bei ihrer Berufsausübung schlägt den Frauen in aller Deutlichkeit nicht selten Menschenverachtung und Frauenhass entgegen. Die Niedertracht, die ihnen seitens ihrer eigenen Familien und der Gesellschaft entgegengebracht wird, hinterlässt Spuren bei den jungen Frauen. Obwohl sie mit ihrem Einkommen ihre Familien unterstützen, erfahren sie von ihnen nichts als Demütigungen und Verachtung. So empfindet bspw. die Mutter von Noha, der Hauptdarstellerin des Films, die von Loubna Abidar gespielt wird, nichts als Abscheu ihrer Tochter gegenüber, nimmt deren Geld aber wortlos wöchentlich entgegen. Dem Regisseur Nabil Ayouch ist es auf eindrucksvolle Art und Weise gelungen, ein realitätsnahes Bild des Alltags von drei Frauen zu zeichnen, die aufgrund ihrer Armut einem Beruf nachgehen, den sie hassen und manchmal zu lieben meinen. Er projiziert ihre Lebensfreude, aber auch ihre Angst und Verzweiflung in einer sen-

20 Darauf wird in Kapitel 6.2 näher eingegangen. Vgl. Beaumont et al. 2010, S. 11; vgl. Carey 2010, S. 177; vgl. Dialmy 2005, S. 23. 21 Vgl. Carey 2010, S. 181; vgl. Cheikh 2013. 22 Als ich meiner Gastschwester erzählte, ich hätte ein Café gefunden, wo es leckeres Gebäck gebe, meinte sie gleich, ich solle da nicht mehr hingehen, weil die Gäste des Cafés größtenteils Freier und Prostituierte seien.

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siblen und gleichzeitig ungeschminkten Art und Weise auf die Leinwand und ins Bewusstsein der Zuschauer. Der Film hatte schon nach der Erstausstrahlung beim Filmfestival in Cannes, sowohl in den sozialen Netzwerken als auch bei Demonstrationen auf der Straße, eine regelrechte Polemik und in der Folge eine gesellschaftliche Debatte in Marokko und in der gesamten arabischen Welt ausgelöst. Der Regisseur Nabil Ayouch und die Hauptdarstellerin Loubna Abidar wurden auf persönlichste Art attackiert. Er sei ein „zionistischer Jude“ (seine Mutter ist eine tunesische Jüdin, sein Vater ein muslimischer Marokkaner), der Marokko diskreditieren wolle, und sie sei eine „dreckige Hure“ sowie eine „Schande für alle marokkanischen Frauen“.23 Der Regisseur, der seit Jahren in Frankreich lebt, hatte in einem Interview berichtet, er habe nicht gedacht, dass sein Film verboten werden würde, denn seiner Meinung nach, existiere in Marokko seit ca. zehn bis fünfzehn Jahren eine Tendenz der Öffnung und der Redefreiheit.24 Der Film wurde in Marokko für verboten erklärt und zwar direkt nach seiner Premiere in Cannes, mit der Begründung, er stelle einen Angriff auf die Sitten des Landes dar und sei eine Beleidigung für marokkanische Frauen. Während der Film überall in Europa Erfolge verzeichnen konnte, blieb ihm eine Ausstrahlung in arabischen Ländern verwehrt. Mit der Ausnahme Tunesiens, wo er auf dem Filmfestival von Karthago, „Journées Cinématographiques de Carthage“, aufgeführt wurde und sogar den Hauptpreis gewann. Die Hauptdarstellerin Loubna Abidar gewann den Preis für die beste Darstellerin bei den Filmfestspielen im französischen Angoulême und im belgischen Namur. 25 Die Kontroverse, die der Film auslöste, verdeutlicht die Grenzen der Redefreiheit und der Toleranz in Marokko. Obwohl bekannt ist, dass das älteste Gewerbe der Welt in Marokko seit eh und je existiert, herrscht in der Öffentlichkeit eine Bigotterie ohnegleichen. Prostitution ist verboten, wird aber von den Obrigkeiten geduldet, weil es einen nicht zu vernachlässigenden Anteil im Tourismus darstellt

23 Vgl. Abidar, Loubna: „L’actrice Loubna Abidar: ‚Pourquoi j’ai décidé de quitter le Maroc‘“, in: Le Monde (12.11.2015). 24 Vgl. Ziraoui, Youssef: „Interview de Nabil Ayouch, réalisateur de „Much Loved“, une plongée sans tabous dans l’univers de la prostitution à Marrakech“, in: Huffington Post Maghreb (20.5.2015). 25 Vgl. Anonymus: „Tunisie. Interdit au Maroc, le film „Much Loved“ draine les foules aux Journées Cinématographiques de Carthage“, in: Huffington Post Tunisie (27.11.2015).

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und damit einen wichtigen Beitrag für die marokkanische Wirtschaft bildet.26 Der Skandal war voraussehbar. Was mich persönlich jedoch am meisten überraschte, war der Umgang mit der Hauptdarstellerin Loubna Abidar, die nach diffamierenden Beleidigungen im Netz und in der Öffentlichkeit, Morddrohungen und schließlich einem tätlichen Angriff am 5. November 2015 in Casablanca, inzwischen nach Frankreich ausgewandert ist.27 Sie meldete sich anschließend in „Le Monde“ mit einem Kommentar zu Wort, worin sie die Gründe nennt, weshalb sie ihr Heimatland verlassen musste: „Im Grunde wurde ich angegriffen, weil ich eine freie Frau bin. Es gibt einen Teil der Bevölkerung in Marokko, der sich von freien Frauen gestört fühlt, der sich von Homosexuellen gestört fühlt, der sich von dem Wunsch nach Veränderung gestört fühlt.“28

Sie spricht den Teil der Bevölkerung an, dessen Stimme am lautesten und dessen Proteste am wirkungsvollsten öffentlich inszeniert werden. Offenbar konnten diejenigen, die Abidar attackierten, nicht zwischen Fiktion und Realität, zwischen der Rolle und der realen Person, unterscheiden. Abidar schreibt weiter, dass ihr Name in den sozialen Netzwerken sogar als Beschimpfung missbraucht wird. Mädchen, die eine liberale Meinung vertreten, würden dort mit Kommentaren konfrontiert, wie z. B.: „Pass auf, sonst endest du noch wie Abidar.“29 In einem Zeitungsinterview unterstützt Ayouch, der selber Beleidigungen und Morddrohungen erleiden musste, seine Hauptdarstellerin und reflektiert: „Die Reaktionen haben mich zutiefst schockiert und mir die Augen geöffnet für die latente Gewalt, die verborgen da war und die nur einen Auslöser benötigte, um sich Luft zu

26 Vgl. Dialmy 2005, S. 23. 27 Bei dem Angriff wurde Abidar, nach eigener Aussage, auf offener Straße von drei betrunkenen jungen Männern in ein Auto gezogen und fast bis zur Unkenntlichkeit verprügelt. Auf der Polizeistation, so schreibt sie, hätten die Beamten sie ausgelacht und nur mit Glück habe sie einen plastischen Chirurgen gefunden, der gewillt war, ihr Gesicht wiederherzustellen. Vgl. Abidar 2015. 28 „Au fond, on m’insulte parce que je suis une femme libre. Et il y a une partie de la poplation, au Maroc, que les femmes libres dérangent, que les homosexuels dérangent, que les désirs de changement dérangent.“ Ebd. (Übers. d. Verfasserin). 29 Ebd.

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verschaffen.“30 Er bedauere es, dass die filmische Umsetzung eines Themas von solcher gesellschaftlicher Brisanz schlicht und einfach verboten werde. Ihm sei es unbegreiflich, dass diese notwendige Debatte derart eingedämmt wurde.31 Ich habe anhand dieser beiden Filme aufzuzeigen versucht, wie Regisseure und Kreative in Marokko die Grenzen des Möglichen austesten, sie anzweifeln und herausfordern. Die Reaktionen, die ihnen von dem Großteil der Bevölkerung entgegenschlagen, verdeutlichen, dass der Wertkonservatismus in der Bevölkerung überwiegt und dass solche Filme der Gesellschaft, in der sie zensiert oder verboten wird, ihre Scheinheiligkeit, Hypokrisie und Bigotterie den Spiegel vorsetzen.

6.3 KLASSISCHE MEDIEN IN MAROKKO Medien nehmen als Kulturvermittler eine leitende Rolle bzgl. der Transformation bestehender sozialer Ordnungen, darunter auch der Geschlechterverhältnisse, ein. Sie können zur Veränderungen von Geschlechtermodellen und zu sexueller Aufklärung beitragen, indem sie bestehende Genderverhältnisse infrage stellen, sie dekonstruieren und Beiträgen liefern, über die in der Öffentlichkeit normalerweise nicht diskutiert wird. Sie bieten eine (dynamische) Plattform, um neue Idee zu propagieren und können ganze Generationen beeinflussen. In der sogenannten „arabischen Welt“ sind drei Arten von Medien vorherrschend: erstens die sogenannte „Mobilization Press“, welche vom Regime vollkommen kontrolliert und mobilisiert wird. Sie ist v.a. in Ländern wie Ägypten, Syrien, im Irak und im Jemen vertreten.32 Zweitens gibt es die „Loyalist Press“, die zwar von privater Hand geführt wird, aber regimetreu ist und die offizielle Politik der Regierung unterstützt. Diese Medienform findet man z. B. in Saudi-Arabien und den Vereinten Arabischen Emiraten vor.33 Die dritte Medienform ist die „Diverse 30 Kürten, Jochen: „Sprengstoff für die arabische Filmwelt. Much Loved“, in: Deutsche Welle (14.04.2016). 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Rugh, William A.: „Do national political systems still influence Arab media?“ in: Arab Media & Society, (Mai) 2007, S. 1-20, S. 5f. 33 Vgl. ebd., S. 6. Der katarische Sender Al-Jazeera fällt m.E. in diese Kategorie. Er wurde zwar lange Zeit als durchaus kritisch und weitestgehend unabhängig eingestuft, wenn man davon absieht, dass der Sender Katars Politik nicht infrage gestellt. Al-Jazeera brach seit seiner Entstehung im Jahr 1996 zahlreiche Tabus in der arabischen Medienlandschaft

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Press“. Diese wird gewöhnlich von privatwirtschaftlichen Unternehmen geleitet und ist in der Regel kritischer gegenüber dem Regime als andere Medien. Sie ist in Kuwait, dem Libanon und in Marokko vertreten.34 Das Fernsehen, dessen Aufkommen in Marokko auf das Jahr 1963 zurückzuführen ist, wurde v.a. seit der Erfindung der Satellitenschüssel, mittels derer man, anstelle des vom Staat kontrollierten Kabelsenders „2M“, amerikanische, französische und arabische Sendungen, meist aus Ägypten, empfangen konnte, zu einem beliebten Zeitvertreib der Marokkaner.35 1990 besaßen schon 89% der Bevölkerung, unabhängig von der Gesellschaftsschicht, einen eigenen Fernseher.36 Die 1990er Jahre markierten, aufgrund der Zulassung privater Satellitenkanäle und der damit verbundenen Programmvielfalt, gravierende Veränderungen in der arabischen Medienwelt. Diese Entwicklung führte zu einer immensen Rezeption dieser Sender, die die Einschaltquoten staatlicher Fernsehsender verringerte. Heutzutage findet man auf jedem Dach eines marokkanischen Hauses mindestens eine, in der Regel jedoch mehrere Satellitenschüsseln. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass die exogene Kultur medial Einzug in den Alltag der Menschen erhielt. Zuvor tat sie dies über die Kolonisierung und mit ihr einhergehenden strukturellen und institutionellen Veränderungen. Dieser Einfluss verstärkte sich noch durch die Verbreitung des Internets seit den 1990er Jahren, worauf in Kapitel 6.4 dezidierter eingegangen wird. Obwohl Medien, v.a. das Fernsehen, einen positiven Einfluss auf gesellschaftliche Transformationsprozesse eines Großteils der Bevölkerung, ob analphabetisch

und trug, aufgrund seiner Interaktivität mit den Zuschauern, zu einer neuen arabischen Öffentlichkeit bei, worin der Austausch von Meinungen und Kritik an bestehenden Normen einen Raum fand. Vgl. Noueihed, Lin/ Warren, Alex: The battle for the Arab Spring. Revolution, counter-revolution and the making of a new era, New Haven 2012, S. 53. Dieser Eindruck änderte sich jedoch im Zuge seiner Berichterstattung über den „Arabischen Frühling“, in der insb. mit dem Ausbruch der Unruhen in Syrien vordergründig eine ideologisch geleitete Berichterstattung zu erkennen war. Die auffällige Zurückhaltung im Zusammenhang mit den Revolten in Syrien und die Ausblendung der Unterdrückung der Aufstände in Bahrain, deutete auf eine politisch motivierte Selektion der Berichterstattung hin. Vgl. El Difraoui, Asiem: „Die Rolle der neuen Medien im Arabischen Frühling“, in: Bundeszentrale für polischen Bildung (3.11.2011). 34 Vgl. Rugh 2007, S. 7. 35 Vgl. Pennell 2000, S. 384. 36 Vgl. ebd.

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oder nicht, haben können, dienen sie oftmals auch der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Stereotype. Die beliebteste Darstellung von Frauen in den Medien ist die der Mutter und gehorsamen Ehefrau, die sich um den Haushalt kümmert und sich für den beruflichen Erfolg des Ehemanns einsetzt bzw. ihn dabei unterstützt. Die Medien verbreiten durch die eindimensionale Darstellung traditioneller Genderrollen ein patriarchales Familien- und Frauenbild. Alleinstehende und unabhängige Frauen werden oftmals für Chaos und familiäre Unbeständigkeit verantwortlich gemacht.37 Das negative Image, das von den Medien über Frauen verbreitet wird, spielt ihre Errungenschaften und Leistungen in der Öffentlichkeit runter. Medien sind also mitverantwortlich für die Verbreitung und Aufrechterhaltung von Rollenklischees und diskriminierender Assoziationen innerhalb großer Teile der Gesellschaft.38 Dagegen begannen sich in den letzten Jahren zunehmend Akademikerinnen, Journalistinnen, Filmemacherinnen sowie Menschen- und Frauenrechtlerinnen zu wehren und diese Porträts zu widerlegen.39 Dies führte dazu, dass sich die Medienlandschaft allmählich veränderte. Kritische Berichterstattungen in den Medien über eine Vielzahl von Themen, u. a. Geschlechtergleichheit und Frauenrechte, aber auch frühere Tabuthemen, wie häusliche Gewalt, sind heute, auch infolge der politischen Öffnung, vielfach vorhanden.40 Am 13. Oktober 2010 wurde von der Frauenorganisation „Union de l’Action Féminine“ (UAF) ein nationales Observatorium für eine Verbesserung der Darstellung von Frauen in den Medien gegründet, um das einseitige Image von Frauen in den Medien zu korrigieren.41 In Marokko thematisieren Zeitschriften wie „Lamalif“, „8. Mars“ oder „Kalima“ bereits seit den 1970er Jahren die Diskriminierung von Frauen.42 Als die ersten Marokkanerinnen von den Bildungsmaßnahmen für Frauen profitieren konnten, begannen Wissenschaftlerinnen sich mit genderspezifischen Themen auseinanderzusetzen. In dieser Zeit entstand, zunächst unter dem Titel „Femmes 2000“, eine

37 Vgl. Sadiqi 2003, S. 75. 38 Vgl. Sadiqi 2010, S. 330. Die Mainstream-Medien reflektieren nicht die Fortschritte und Errungenschaften von Frauen und benutzen selten eine ‚gender-gerechte‘ Sprache. Vgl. ebd., S. 332. 39 Vgl. ebd., S. 331. 40 Mit Ausnahme von Themen, die die Religion und Monarchie betreffen, dürfen alle Themen kritisch hinterfragt und diskutiert werden. Vgl. ebd., S. 328. 41 Vgl. Belhaj, Imane: „Observatory created to improve image of Moroccan women in media“, in: Magharebia (19.10.2010). 42 Vgl. Moket 2007, S. 92; vgl. Sadiqi 2003, S. 23.

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Vielzahl an Publikationen, darunter auch Aufsätze und Bücher der Soziologin Fatima Mernissi.43 1987 gründete Laila Chaouni in Casablanca einen Frauenverlag mit dem Titel „Le Fennec“.44 Zwischen den Jahren 1987 und 1999 publizierte der Verlag Bücher eines aus Soziologen und Ethnologen bestehenden Forscherkollektivs, darunter Mernissi, Belarbi, Bourqia und El Harras, eine Vielzahl an Büchern, die in der Reihe Approches („Annäherungen“) erschienen. Mittels dieser Publikationen wurde ein feministisch-akademischer Diskurs vorangetrieben, der nach historischen und ideologischen Ursachen der Geschlechterungleichheit und der Diskriminierung von Frauen suchte. Zu den unzähligen Werken, die dieses Kollektiv hervorbrachte, gehören u. a.: Femmes et pouvoir („Frauen und Macht“),45 Femmes partagées, famille-travail („Geteilte Frauen, Familie-Arbeit“),46 Le corps au féminin („Der weibliche Körper“),47 Le salaire de madame („Das Gehalt der Frau“),48 Femmes rurales („Frauen auf dem Land“),49 Femmes et islam („Frauen und der Islam“)50 und Initiatives féminines („Weibliche Initiativen“).51 Auch heute unterstützt der Verlag „Le Fennec“ weiterhin marokkanische Autoren und Autorinnen, die sich vornehmlich emanzipativen bzw. feministischen Themen widmen. Diese Bücher sind am Puls der Zeit und sprechen durchaus auch Tabuthemen, wie die „Sexualität der Frau“ und „Gewalt gegen Frauen“, an. Seit 1995 erschienen in Marokko diverse feministische Zeitschriften, von denen „Citadine“ („Städterin“), „Femme Actuelle“ („Die zeitgemäße Frau“) und „Femmes du Maroc“ („Frauen aus Marokko“) zu den bekanntesten zählen. Diese Frauenmagazine eröffnen der breiten Gesellschaft die Partizipation an bisher tabuisierten Themen und an öffentlichen Diskursen. Dies gilt insbesondere für den Sexualitätsdiskurs. Während dieser zuvor nur im privaten Rahmen geführt wurde, wird er der

43 Mernissi gehört zu den Schlüsselakteuren, die entscheidend den Gleichstellungsdiskurs weit über Marokko hinaus geprägt und vorangebracht haben. 44 Vgl. Brand, Laurie A.: Women, the state, and political liberalization. Middle Eastern and North African experiences, New York 1998, S. 53. 45 Collectif: Femmes et pouvoir, Casablanca 1987. 46 Collectif: Femmes partagées, famille-travail, Casablanca 1989. 47 Collectif: Le corps au féminin, Casablanca 1991. 48 Collectif: Le salaire de madame, Casablanca 1991. 49 Collectif: Femmes rurales, Casablanca 1995. 50 Collectif: Femmes et islam, Casablanca 1998. 51 Collectif: Initiatives féminines, Casablanca 1999.

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Öffentlichkeit durch Medien, unter Rückgriff auf die Redefreiheit, zur Disposition gestellt.52 Diese Journale haben zwar die Aufmachung von „Hochglanz-Life-StyleMagazinen“, inhaltlich jedoch behandeln sie dezidiert gendersensible Themen, darunter auch die Sexualität der Frau. Ihre Leserschaft besteht vorrangig aus gebildeten frankophonen Frauen. Ein geringer Teil der Leserschaft besteht aber auch aus Männern. Der Staat betrachtet die französischsprachigen Printmedien generell als weniger gefährlich, da sie nur einer begrenzten Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Kontrolle der audio-visuellen Medien erscheint ihnen, aufgrund der hohen Analphabetenquote, weitaus wichtiger.53 In diesem Kapitel ist der Einfluss der Printmedien auf Rollenbilder und der Rezeption frauenspezifischer Themen im Fokus der Untersuchung. Dafür wurden die Zeitschrift „Femmes du Maroc“ und „Illi“ analysiert. Beide Zeitschriften erscheinen monatlich und behandeln in jeder Ausgabe jeweils ein Hauptthema, auf dem der Schwerpunkt der Beiträge, Interviews und LeserInnen-Kommentare liegt. Die Gemeinsamkeit der Zeitschriften bildet nicht nur die Themenwahl, sondern liegt auch darin, dass beide Zeitschriften von der marokkanischen Journalistin Aïcha Zaïmi Sakhri herausgegeben werden. 6.3.1 „Femmes du Maroc“ Die Zeitschrift „Femmes du Maroc“, was übersetzt soviel wie „Frauen aus Marokko“ bedeutet, gibt es seit 1995 für 20 Dirhams (ca. 2 Euro) zu kaufen. Sie wird auf französischer und arabischer Sprache publiziert. Die Zeitschrift wird unter dem Titel „Nissae Min Al-Maghrib“ („Frauen aus Marokko“) seit dem Jahr 2000 auch in arabischer Sprache angeboten. Mit knapp 14.000 verkauften Exemplaren pro Monat, zählt „Femmes du Maroc“ zu den meistgelesenen französischsprachigen Zeitschriften des Landes. Ihr arabisches Pendant erreicht doppelt so viele Verkaufszahlen und somit eine größere Leserschaft, d. h. nicht nur die frankophone Elite. Die Herausgeberin Aïcha Zaïmi Sakhri ist für ihr frauenrechtliches Engagement bekannt und betrachtet die Zeitschrift als eine feministische Publikation, die das Ziel verfolgt, die Situation der marokkanischen Frau in der Gesellschaft zu verän-

52 Vgl. Bourqia 2010, S. 109. 53 Vgl. Rugh, William A.: Arab mass media. Newspapers, radio, and television in Arab politics, Westport 2004, S. 181.

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dern.54 „Femmes du Maroc“ wird von Frauen für Frauen gemacht und vertritt einen Bildungsanspruch. Zaïmi Sakhri betont, dass in einem Land, in dem 70% der Frauen Analphabetinnen seien, eine Frauenzeitschrift einen starken Bildungsinhalt haben müsse.55 Die Zeitschrift greift aktuelle soziokulturelle Themen auf und setzt sich mit patriarchalen Aspekten der marokkanischen Gesellschaft kritisch auseinander. Sie enthält lange Interviews mit Politikern, Philosophen, Journalisten, Psychologen, Soziologen, Künstlern und Aktivisten. In der Novemberausgabe des Jahres 2002 ist sogar ein dreiseitiges Interview mit dem von 2011 bis 2016 amtierenden Premierminister Abdelillah Benkirane, mit der antizipierenden Überschrift „Herr Benkirane, wenn die PJD eines Tages an der Macht wäre“ abgedruckt, worin er den hohen Frauenanteil seiner Partei lobt.56 Die Zeitschrift macht außerdem auf zivilgesellschaftliche und staatliche Kampagnen aufmerksam, stellt die Arbeit von lokalen NRO vor und zeigt soziale und rechtliche Defizite in der Gesellschaft auf. Die Bildungs- bzw. EmpowermentIntention ist deutlich zu erkennen, aber auf eine subtile Art und Weise. Die Themenvielfalt der Artikel ist enorm: Neben Lifestyle- und Mode-Themen sowie Schminktipps, welche ca. ein Viertel des Inhalts ausmachen, gibt es Angebote, wie psychologische und rechtliche Beratung, und andere Ratgeber. Die Zeitschrift stellt in jeder Ausgabe eine Übersicht von Adressen lokaler NRO, die Hilfe suchenden Frauen eine Anlaufstelle bieten. Darüber hinaus werden die Leserinnen über Gesetzesänderungen aufgeklärt, die Frauen direkt betreffen. Im Oktober 2003 erschien z. B. eine bilinguale Spezialausgabe, die in aller Genauigkeit das neue Familienrecht, welches Anfang 2004 in Kraft trat, vorstellte.57 Dabei wurde nicht nur das alte dem neuen Recht gegenübergestellt, sondern auch die Meinung der Rechtsexperten sowie die gesamte königliche Rede, in der Mohammed VI. die Gesetzesnovelle vorstellt und begründet, abgedruckt. Darüber hinaus werden in der Rubrik „Et si on en parlait“ („Und wenn man darüber spräche“) Tabus gebrochen, da hier sensible Themen rund um die Sexualität, insbesondere der Frau, behandelt werden: z. B. „Der weibliche Orgasmus“, Mai

54 Vgl. Bouhrara, Imane: „Aïcha Zaïmi Sakhri, féministe mais tellement féminine“, in: Maghress.com (8.03.2007). 55 Vgl. Howe 2005, S. 154. 56 Vgl. Zaïmi Sakhri, Aïcha/ Dulat, Géraldine: „M. Benkirane, si le PJD était un jour au pouvoir“, in: Femmes du Maroc, (November) 2002, S. 42-44. 57 Femmes du Maroc 2003.

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2002; April 2006; „Die Lust beim Mann und bei der Frau: Fundamentale Unterschiede“, Mai 2002, „Sexuelle Vorlieben“, November 2002; „Die völlige Hingabe der Frau“, September 2000 und „Sind Sie sexuell kompatibel?“, November 2012. Diese Rubrik stellt eine Art Beziehungsratgeber dar. Dialmy zufolge ist es der Zeitschrift aus dem Grund möglich, solche Themen zu behandeln, weil sie dieses Tabu durch einen Experten, wie z. B. einen Sexologen oder Psychologen, umgehen.58 Die Leitartikel und Dossiers behandeln stets Themen von gesellschaftlicher Relevanz, z. B. Gewalt an Frauen (Mai 2001; September 2008; Oktober 2012), sexuelle Belästigung (September 2008; „Sexuelle Belästigung. Das Gesetz des Schweigens“, Oktober 2009; „Frauen unter großer Aufsicht“, Oktober 2012), der Körper der Frau („Gehört unser Körper wirklich uns selbst?“, Oktober 2006), geschiedene Frauen (Februar 2010), ledige Mütter (Leitthema der Dezemberausgabe 2009), Heirat von Minderjährigen (Juni 2011; August 2013), Pädophilie und Inzest (Januar 2004, April 2006), Analphabetismus (September 2000), Bildungs-Karawanen zur Alphabetisierung der Frauen in Dörfern (Mai 2001), die Verschleierung von Frauen (November 2006) etc. Die Oktoberausgabe von 2012 Hierbei enthält sogar einen Aufruf an die Frauen, sich zu erheben und ihre Rechte einzufordern. Auch Themen, wie die Ehe (Mai 2013), Probleme mit der Schwiegermutter („Wir leben immer noch bei seinen Eltern“ Mai 2001; „Er erzählt seiner Mutter alles“ April 2006), berufstätige Frauen („Machos in Sicht. Männer, die nicht wollen, dass ihre Frauen arbeiten“ April 2002) usw. werden darin behandelt. Es werden auch marokkanische Frauen vorgestellt, die ungewöhnliche Karrieren absolviert haben. So wurden in der Dezemberausgabe von 2007 anlässlich des 50-jährigen Bestehens der staatlichen Fluggesellschaft „Royal Air Maroc“ in einem achtseitigen Extraheft vier Kurzporträts von einer Pilotin, einer Chefstewardess, einer Verantwortlichen am Flughafen und der Chefin der Rechtsabteilung der Fluggesellschaft vorgestellt. Darüber hinaus erhielten interessierte Leserinnen Informationen über Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten der Firma.59 Des Weiteren wurde im Jahr 2004 der Inhalt um die Rubrik „Celibattante et fière de l’être“ („Alleinstehend und stolz darauf“) ergänzt. Darin wird frei über Sexualität gesprochen und mit der Thematisierung außerehelicher sexueller Beziehungen ein Tabu gebrochen. Adressiert werden insbesondere die gebildete und arbeitende

58 Vgl. Dialmy 2002-2003, S. 82. 59 Vgl. Anonymus: „Royal Air Maroc 1957-2007. L’envol des femmes“, in: Femmes du Maroc, (Dezember) 2007.

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Frau, der Ratschläge für ein zufriedeneres Sexualleben erteilt werden. „Femmes du Maroc“ sprach sich in einem Artikel im September 2011 sogar für die Legalisierung der Sexualität vor der Ehe aus.60 Die Zeitschrift ist wie folgt aufgebaut: Tabelle 4: Rubriken in „Femmes du Maroc“61 „Édito“ („Leitartikel“)

Leitartikel von Aïcha Zaïmi Sakhri

„Actualités“ („Aktualitäten“)

Aktuelle politische oder soziale Themen

„Livres“ („Bücher“)

Es werden vier Bücher nationaler und internationaler Autoren vorgestellt, die Frauenthemen behandeln

„Courrier Psy“ („psychologische Post“)

Fragen der LeserInnen an Psychologen

„Courrier Droit“: „Connaissez vos droits“ (rechtliche Post: „Kennt eure Rechte“)

Rechtsberatung: LeserInnen schicken ihre Fragen per Post an den Rechtsberater

FDM Forum (Kurzform f. „Femmes du Maroc“-Forum)

Zwei Experten debattieren über ein gesellschaftlich sensibles Thema. Ein Experte vertritt die ProMeinung, der andere die Contra-Meinung.

„Moi et les Autres“ („Ich und die anderen“)

Kolumne über den marokkanischen Alltag, meist humoristisch

„Couple“ („Paar“)

Beziehungsleben (Schwierigkeiten des Alltags, Vorteile des Lebens zu zweit)

„C’est mon histoire“ („Das ist meine Geschichte“)

Biographien von Leserinnen

„Et si on en parlait“ („Und wenn man darüber spräche?“)

Tabuthema rund um die Sexualität

„Portrait“

Porträt einer berühmten marokkanischen Person des öffentlichen Lebens

„Perso“ (Kurzform f. „Persönlich“)

Selbsttest (meist 5-7 Seiten lang), z. B. „Ist eure Beziehung für die Ewigkeit?“ (Dezember 2007)

60 Vgl. Ibnouzahir 2011. 61 Tabelle erstellt von der Verfasserin.

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„La vie mode d’emploie“ („Das Leben – Bedienungsanleitung“)

Ratgeber zu den Themen: Gesundheit, Kinder, Arbeit, Auto, Umwelt, Schule und Küche sowie ein Umstyling einer Leserin

„Ma vie de célibattante“ („Mein Leben als Single“)

Kolumne einer alleinstehenden Frau

Mode (S. 86-134 und S. 145156)

Hier geht es um internationale Modetrends, aber auch um Mode marokkanischer DesignerInnen (z. B. Kaftan-Mode)

„Beauty“ (S. 138-142)

Alles rund um die Schönheit, Schminktipps etc.

6.3.2 „Illi“ Die relativ junge Zeitschrift „Illi“ wurde am 1. November 2011 herausgebracht und bedeutet auf Tamazight „meine Tochter“. Trotz des Namens spricht die Zeitschrift weder dezidiert Imazighen an, noch ist sie nationalistisch geprägt. Der Titel der Zeitschrift soll vielmehr suggerieren, dass sie sich an die jüngere marokkanische Frau richtet. Darüber hinaus deutet der Untertitel „Femme libre et moderne“ darauf hin, dass die Adressatin die moderne und freie Frau ist. Die Zeitschrift erscheint auf Französisch und sowohl die Aufmachung als auch der Schreibsstil lassen erkennen, dass „Illi“ für ein jüngeres Publikum bestimmt ist. Aïcha Zaïmi Sakhri beschreibt ihre Zeitschrift als ein marokkanisches weltoffenes und feministisches Magazin, das eine Plattform für Reflexion und gesellschaftliche Debatten sowie einen Raum bietet, in dem „freudig-militant“ für ein egalitäres und generationenübergreifendes Marokko plädiert wird.62 In „Illi“ werde, laut der Herausgeberin, eine direkte und ehrliche Sprache gewählt, eine Sprache, die Frauen im Alltag sprächen. Wie bei „Femmes du Maroc“ auch, findet man in „Illi“, neben Mode- und LifeStyle-Artikeln, gesellschaftlich relevante Themen, die Frauen betreffen (z. B. „Jedes Kind ist legitim“ (Oktober 2012), „40 Seiten rund um die Liebe“ (Februar 2013), „Hochzeit und Ehe“ (April 2013), „Wo sind die Männer hin?“ (Juni 2013), „10 Jahre Familiengesetz – wann beginnt die Gleichstellung? (Okt. 2013), „Gewalt gegen Frauen“ (November 2013), „Sexistische Gesetze: wann werden sie geändert?“ (März 2014), „Hochzeit: Warum gibt man sich das ‚Ja-Wort‘?“ (April 2014), „Minderjährige Mütter“ (Mai 2014)).

62 Vgl. die Online-Ausgabe der Zeitschrift „Illionweb.com“.

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„Illi“ gibt es als klassische Printausgabe (für 25 Dirhams, ca. 2,50 Euro) und als Online-Ausgabe, sogar mit einer eigenen Facebook-Seite. Die Online-Ausgaben sind interaktiv und partizipativ gestaltet, z. B. werden häufig Umfragen zu verschiedenen Themen erstellt, deren vorläufige Resultate sich der Internetnutzer jederzeit anschauen kann. Ebenso erhält man stets kurze Berichterstattungen über aktuelle soziopolitische Debatten in Marokko, häufig mit einem genderspezifischen Fokus. Auch bei „Illi“ liegt der Fokus auf der Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft und im Rechtssystem. Neben psychologischen und rechtlichen Ratgebern, stehen Tabuthemen rund um die Sexualität im Vordergrund, wie Homosexualität (Juni 2013), Sex vor der Ehe (Oktober 2012), die Impotenz des Mannes (Juni 2013) usw. In der Rubrik „Schamlose Fragen“, beantworten Sexologen Fragen zu Themen, wie „Gibt es Geschlechtsverkehr im Alter?“ (Februar 2013) oder „Gibt es einen G-Punkt?“ (September 2012). Auch andere gesellschaftliche Tabus, wie die Pädophilie (Juni 2013) und die Jungfräulichkeit (April 2013), werden thematisiert. Ähnlich wie „Femmes du Maroc“ klärt „Illi“ über politische und zivilgesellschaftliche Kampagnen auf und hinterfragt kritisch den Fortschritt der Politik in Fragen rund um die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft. Häufig gerät dabei die islamistische Ministerin für Solidarität, Frauen, Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui (PJD), in den Fokus der Kritik. Eine Besonderheit ist die Rubrik „Illi du mois“ („Illi des Monats“), bei der in jeder Ausgabe eine junge Marokkanerin vorgestellt wird, die aufgrund ihres Talents oder ihrer Leistung etwas Besonderes erreicht hat und als Vorbild betrachtet werden könnte (z. B. eine herausragende Pianistin (April 2013) oder eine renommierte Wissenschaftlerin (Juni 2013)). Eine weitere Besonderheit stellt eine qualitative Umfrage zum jeweiligen Hauptthema dar, etwa: „Wie soll der ideale Heiratspartner sein?“ in der Hochzeit-Ausgabe. Ein weiteres Charakteristikum bildet die Kolumne der Soziologin und Autorin Soumaya Naâmane-Guessous. Sie führte Anfang der 1990er Jahre die einzige quantitative Studie über Sexualität der Frauen in Marokko durch, welche in der vorliegenden Arbeit zitiert wurde. In ihrer Kolumne mit dem Titel „L’œil de Soumaya“ („Soumayas Auge“), betrachtet die Autorin aus soziologischer und philosophischer Perspektive sensible gesellschaftliche Themen und gewährt dem Leser eine Sicht auf ein anderes Marokko, welches nicht jedem zugänglich ist. Sie berichtet zum Beispiel über die Verzweiflung der Eltern, deren Söhne sich dem Islamismus zugewandt haben (November 2013). Meistens jedoch behandelt sie Tabuthemen rund

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um die Sexualität, wie z. B. die voreheliche Sexualität (Oktober 2012) und die Homosexualität (Oktober 2015). Es folgt eine Zusammenstellung der Rubriken aus der Zeitschrift „Illi“: Tabelle 5: Rubriken in „Illi“63 Édito (Leitartikel)

Leitartikel von Aïcha Zaïmi Sakhri

Dossier

Dossier zum Hauptthema

„Illi du mois“ („Illi des Monats“)

Vorstellung einer erfolgreichen marokkanischen Frau (Biologin, Pianistin, Künstlerin etc.)

„Chiffre du mois“ („Zahl des Monats“)

Eine (schockierende) Zahl mit einer kurzen Erläuterung wird präsentiert (etwa: soundsoviele Mädchen arbeiten als Hausangestellte, Juni 2013, oder Anzahl der Eheschließungen von Minderjährigen, April 2013)

„News Société“ („Gesellschafts-News“)

Neuigkeiten aus dem gesellschaftlichen Leben

„@Illi“

Publizierte LeserInnenbriefe

„Livres“ („Bücher“)

Drei Bücher werden vorgestellt, welche im weitesten Sinne feministischen Inhalts sind

„Enquête“ („Umfrage“)

Quantitative Umfrage zum Hauptthema

„Portrait“

Porträt einer Person aus Politik, Kultur, Wissenschaft

„Interview“

Es wird ein Interview mit einer berühmten Person (aus den Medien, der Politik, Wirtschaft, o.ä.)

„L’œil de Soumaya“ („Soumayas Auge“)

Soumaya Naâmane-Guessous nimmt einen sozialen Aspekt unter die (soziologische) Lupe (häufig ein Tabuthema)

„Actu“ (Kurzform f. „aktuell“)

Aktuelle Themen

„Polémique“ (Polemik)

Auseinandersetzung zweier Experten (Ärzte, Psychologen, Politiker) zu einem tabuisierten Thema (z. B. zur Jungfräulichkeit, April 2013) oder einer Polemik

63 Tabelle erstellt von der Verfasserin.

Die Rolle der Medien | 281

„Psy“ (Kurzform f. „Psychologie“)

Psycho-Selbsttest für Leserinnen

„Questions Réponses“ („Fragen und Antworten“)

Rechtsexperten beantworten die Fragen der Leserinnen, aber auch der männlichen Leser

„Partie de plaisir“ („Vergnügen“)

Leserinnen berichten über ihre Beziehung

„Imposture“ („Betrug“)

Frauen berichten über Männer, die sie betrogen haben

„Illi wili“ (Wortspiel, basierend auf dem marokkanischen Ausruf „wili wili“, der Verwunderung oder Besorgnis ausdrückt)

Kolumne von Nouhad Fathi über das Leben einer ledigen Frau in Casablanca (z. B. über Diäten, sexuelle Belästigung auf der Straße, den Druck, heiraten zu müssen oder wie es ist, als Frau alleine zu wohnen)

Anhand dieser beiden Zeitschriften soll verdeutlicht werden, wie durch die Beteiligung von Frauen an der Medienproduktion stereotype Frauenbilder kritisch hinterfragt werden und die Rolle der Frau neu definiert wird, was langfristig die Transformation von Geschlechtermodellen begünstigen kann. In jedem Fall leisten feministische Frauenzeitschriften als Kulturprodukte einen wichtigen Beitrag zum Genderdiskurs. Indem sie lokale Belange und transnationale Entwicklungen und Tendenzen kontextualisieren, formen und reflektieren sie komplexe Wirklichkeiten genderspezifischer Themen.64

6.4 NEUE MEDIEN IN MAROKKO Das Internet ist die zweite Medienform, die in der vorliegenden Arbeit analysiert wurde. In diesem Kontext wurde Facebook als soziales Medium untersucht. Das Internet hat unsere Welt nachhaltig verändert und das traditionelle Bezugssystem vollkommen transformiert. Arabische Medienkonsumenten, insbesondere junge Mediennutzer, wenden sich vermehrt neuen Medien zu, weil sie den traditionellen Medien, die zumeist von

64 Vgl. Skalli, Loubna H.: Through a local prism. Gender, globalization, and identity in Moroccan women’s magazines, Lanham 2008, S. 9f.

282 | Jugend und Gender in Marokko

staatlicher Seite gelenkt, kontrolliert und zensiert werden, nicht mehr vertrauen. 65 Die Mehrheit der arabischen Medien transferiert keine unabhängigen Informationen, sondern wird als staatlich regulierte (Macht-)Apparate für Propaganda missbraucht.66 Die Tatsache, dass in Staaten, in denen Informationen einer staatlichen Kontrolle bzw. Zensur unterliegen, hat zur Folge, dass alternative Berichterstattungen, bspw. via Blogs und YouTube, an Kredibilität gewinnen.67 Demnach ist das Internet nicht nur ein Kommunikationsmedium, sondern auch zu einem Informationsmedium geworden, welches die Möglichkeit bietet, sich fernab von staatlicher Propaganda zu informieren und die staatlich gelenkten Berichterstattungen zu meiden und ggf. kritisch zu hinterfragen. Dies impliziert jedoch nicht, dass Informationen, die durch virtuelle Publikationsformen verbreitet werden, per se mehr Wahrheitsgehalt oder Neutralität besitzen, aber sie bieten die Möglichkeit, Nachrichten fernab vom Informationsmonopol konventioneller Medien zu erhalten und sich eine umfassendere, unabhängigere Meinung zu bilden.68 Somit werden alternative Berichterstattungen durch Twitter, Blogs usw. zu einer Art unverzichtbarem „Bürgerjournalismus“,69 die im Prinzip jedem Menschen ermöglichen, Informationen über verschiedene soziale Medienformen einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Da jeder Internetnutzer die Möglichkeit hat, Nachrichten zu verfassen und zu verbreiten, kann das Internet in Ländern mit staatlich zensierten Medien dazu verhelfen, das Informationsmonopol des Staates auszuhöhlen.70 Indem im Grunde jeder Einzelne via neuen Medien den Zugang erhält, sich an politischen und sozialen Diskursen zu beteiligen, wächst nicht nur die Interaktivität des Sender-

65 Vgl. Birringer, Thomas/ Stever, Inka: Die Rolle der Medien in der arabischen Welt. Regionalprogramm Golfstaaten, Veranstaltungsbeitrag der Konrad Adenauer Stiftung, 2011. 66 Vgl. Abu-Lughod 2006; vgl. Birringer/ Stever 2011; vgl. Ghareeb, Edmund: „New media and the information revolution in the Arab World. An assessment“, in: Middle East Journal, 54 (3) 2000, S. 395-418, S. 400. 67 Vgl. Hahn 2005, S. 31; vgl. Winter, Rainer: Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation, Bielefeld 2010, S. 23. 68 Vgl. Eickelman, Dale F./ Anderson, John W. (Hg.): New media in the Muslim World. The emerging public sphere, Bloomington [u. a.] ²2003, S. 8. 69 Vgl. Khamis, Sahar/ Vaughn, Katherine: „Cyberactivism in the Egyptian revolution. How civic engagement and citizen journalism tilted the balance“, in: Arab Media and Society, 14 (3) 2011, S. 1-25, S. 7. 70 Vgl. Ghareeb 2000, S. 398.

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Empfänger-Verhältnisses, sondern auch die Partizipation der Bevölkerung an gesellschaftlichen Diskursen per se. Langfristig kann dies zur Grenzverschiebung des Informationsflusses zwischen dem Zentrum und der Peripherie beitragen und die Asymmetrie zwischen Absender und Empfänger aufheben, wodurch letzterer an Bedeutung gewinnt.71 „Thus the newer small media give broader access to these messages and widen the base of their producers, and create new standards of public rhetoric. They create public space.“72 Neue Medien tragen demnach maßgeblich zu einer neuen Öffentlichkeit bei. Einige Wissenschaftler sprechen sogar von einer virtuellen „Gegenöffentlichkeit“.73 Nach Fraser existieren Gegenöffentlichkeiten parallel zur offiziellen Öffentlichkeit, in denen „members of subordinated social groups invent and circulate counter discourses to formulate oppositional interpretations of their identities, interests, and needs.“74 Die Gegenöffentlichkeit kreiert also Gegendiskurse und erhält dadurch die Möglichkeit, bestehende Diskurse zu hinterfragen und herauszufordern. Die Entwicklung neuer Medien hat nicht nur die Entstehung neuer transnationaler Netzwerke und eines „deterritorialized scape“75 gefördert, sondern auch zur Ausweitung der Öffentlichkeit sowie zur Bildung einer Zivilgesellschaft im arabischen Raum beigetragen.76 In diesem Zusammenhang ist von einer Informationsrevolution die Rede, welche – im Gegensatz zu den Jahren zuvor – von unten (bottom-up) stattfindet und eine Interaktion über Grenzen hinweg ermöglicht.77 Die virtuelle (Gegen-)Öffentlichkeit ist darüber hinaus in einen globalen Menschenrechtsdiskurs eingebettet,78 was den Nutzern in Ländern, in denen Menschenrechte

71 Vgl. Eickelman/ Anderson 2003, S. 3; Nouraie-Simone 2005, S. xv. 72 Eickelman/ Anderson 2003, S. 5. 73 Winter 2010, S. 95. 74 Fraser, Nancy: „Rethinking the public sphere. A contribution to the critique of actually existing democracy“, in: Calhoun, Craig J. (Hg.): Habermas and the public sphere, Cambridge [u. a.] 1992, S. 109-142, S. 123. 75 Appadurai, Arjun: Modernity at large. Cultural dimensions of globalization, Minneapolis [u. a.] 1996, S. 4. Dieser Begriff meint die Entterritorialisierung sozialer Räume. Der Raum sei nicht mehr territorial begrenzt, da er durch soziale Netzwerke einen Ausbruch aus der lokalen Determination erfahre. 76 Vgl. Eickelman/ Anderson 2003, S. 1, S. 4, S. 6 und S. 16. 77 Vgl. Ghareeb 2000, S. 397f. 78 Vgl. Boum 2013, S. 162.

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verletzt werden, nicht nur ermöglicht, daran zu partizipieren, sondern auch sich zu vernetzen, Kritik zu äußern und Agency-Strategien zu entwickeln. Folglich macht das Internet in seiner Funktion als Informations- und Kommunikationsmedium Wissen zugänglich, eröffnet neue Kommunikationswege und kreiert Räume zur Entwicklung von Utopien.79 Aufgrund seiner weitgehenden Anonymität bietet es den Nutzern ferner die Möglichkeit, auch im privaten Bereich gesellschaftliche Normen infrage zu stellen und gegebenenfalls herauszufordern.80 Es bietet einen Raum, soziale, politische und wirtschaftliche Missstände zu artikulieren und seinen Unmut mitzuteilen.81 Den marokkanischen Jugendlichen und insbesondere Frauen ermöglicht das Internet darüber hinaus ein temporäres Entkommen aus der sozialen Kontrolle der Verwandtschaftsgruppe. Sie können neue Netzwerke außerhalb ihres unmittelbaren Umfeldes erschließen und durch den Austausch untereinander neue Ideen sowie ein neues Selbstverständnis entwickeln. Das Internet kann somit zu einer Bewusstseinsbildung (consciousness-raising) beitragen, das zur Quelle für Inspiration und Affirmation im Leben der Frauen werden kann.82 Frauen können ihre geschlechtsspezifische Marginalisierung durch Grenzverschiebungen zumindest temporär überwinden. Darüber hinaus erhalten sie mit Hilfe von Medien die Chance, am öffentlichen Leben zu partizipieren und erhalten im Zusammenhang damit auch die Aufmerksamkeit der Rezipienten, da sie an Sichtbarkeit und Hörbarkeit gewinnen.83 Vor allem soziale Medien können dies ermöglichen, weil der Zugang sich einfach gestaltet und das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger nicht hierarchisch ist. Es genügt z. B. sich ein Profil bei dem jeweiligen Medien-Anbieter zu erstellen und Inhalte zu produzieren, sei es bei Interaktionen auf Facebook, in Form eines Blogs, eines Fotos auf Instagram, als Kurznachricht auf Twitter, als Video bei Snapchat oder YouTube. Dadurch wird das ehemalige statische Sender-EmpfängerVerhältnis aufgehoben: Frauen sind nicht mehr nur passive Zuschauer, sondern

79 Vgl. Eickelman/ Anderson 2003, S. 14; Ghareeb 2000, S. 396; Ginsburg 2008, S. 129. 80 Vgl. Eickelman/ Anderson 2003; Nouraie-Simone 2005. 81 Vgl. Boum, Aomar: „Youth, political activism and the festivalization of hip-hop music in Morocco“, in: Maddy-Weitzman, Bruce/ Zisenwine, Daniel (Hg.): Contemporary Morocco. State, politics and society under Mohammed VI, London [u. a.] 2013, S. 161-177, S. 162. 82 Vgl. Nouraie-Simone 2005, S. xv. 83 Vgl. ebd., S. xvii

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werden zunehmend zu aktiven Akteuren in der Medienlandschaft.84 Soziale Medien bergen demnach eine interaktive und performative Ebene,85 die im Grunde jedem Nutzer die Möglichkeit bietet, bestimmte Inhalte mit anderen Internetnutzern weltweit zu teilen und zu diskutieren und darüber hinaus auch sich selbst zu inszenieren. 6.4.1 Soziale Medien als virtuelle Freiräume Neben seiner Eigenschaft als alternatives Informationsmedium mit soziopolitischem Transformationspotential, wird das Internet in diesem Unterkapitel primär unter dem Gesichtspunkt seines kommunikativen Aspekts betrachtet. Im Fokus steht hierbei das transformative Potential neuer Medien hinsichtlich der Geschlechterordnung. Als Kommunikationsmittel eröffnet das Internet Menschen, die entweder räumlich, kulturell oder aufgrund des Geschlechts voneinander getrennt sind, neue Interaktionsmöglichkeiten.86 Allerdings wird der Zugang zum Internet und neuen Medien generell von Faktoren wie Wohnort, Klassenzugehörigkeit, Ehestand und Bildung bestimmt.87 Diejenigen, die sich keinen Computer und keinen Internetanschluss leisten können, haben die Möglichkeit in ein Internetcafé zu gehen.88 Soziale Medien bergen eine interaktive und performative Ebene und ermöglichen Individuen durch die Erstellung von Profilen oder Avataren in sozialen Netzwerken eine Selbstinszenierung, die frei von gesellschaftlich oktroyierten Geschlechterzuschreibungen oder Geschlechteridentitäten sind. Dies kann sogar zu einer Ausbildung neuer Identitäten oder von Teil-Identitäten beitragen, da die Jugendlichen im Kontext der „Online-Welt“ anders agieren können als in der „Offline-Welt“.89 In der Anonymität des Internets können die Jugendlichen weitestgehend frei kommunizieren und ihre Handlungen haben weder auf sie als Individuum

84 Vgl. ebd., S. xvi; vgl. Westlake, Jane E.: „Friend me if you Facebook. Generation Y and performative surveillance“, in: The Drama Review, 52 (4) 2008, S. 21-40, S. 34 85 Vgl. Carey 2010, S. 181; vgl. Eickelman/ Anderson 2003, S. 2. 86 Vgl. ebd., S. 3, S. 14; Ghareeb 2000, S. 399; Nouraie-Simone 2005, S. xvii. 87 Vgl. Braune 2008, 65f; vgl. Ghareeb 2000, S. 396. 88 Dort wird die Zeit, die man im Internet verbringt, stündlich berechnet. Auf das Internetcafé wird in Kapitel 6.5.1 genauer eingegangen. 89 Vgl. Deterding, Sebastian: „Virtual communities“, in: Hitzler, Ronald et al. (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Wiesbaden 2008, S. 115-131, S. 124.

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noch auf das Kollektiv, also die Familie, negative Auswirkungen. Ihr Verhalten in sozialen Medien unterliegt somit keiner familiären oder nachbarschaftlichen Kontrolle und hat entsprechend keine oder kaum negative Auswirkungen auf die Familienehre. Gerade für die Kommunikation mit dem anderen Geschlecht bietet das Internet Möglichkeiten der Kontaktaufnahme ohne gesellschaftliche Folgen. In diesem Zusammenhang könnte man von einer vermeintlich sicheren Anonymität sprechen. Die sozialen Netzwerke ermöglichen die unbefangene Kommunikation mit dem anderen Geschlecht und die Ausweitung der neu geknüpften Beziehungen. Junge Frauen können hier unbefangen und unverbindlich mit jungen Männern chatten, flirten und sich ggf. zu einem Treffen verabreden. Sie können aus dem Schatten der oktroyierten Passivität heraustreten, gleichberechtigt agieren und sich aktiv mitteilen. Im Falle von Grenzüberschreitungen können sie den Kontakt zum anderen Geschlecht ebenso unverbindlich abbrechen, ohne physischen Aggressionen oder realen Gefahren ausgesetzt zu sein. Das Internet fungiert in dieser Hinsicht als ein ‚geschützter Raum‘ – ein Freiraum –, in dem man gesellschaftlichen Konventionen zumindest temporär entkommen kann. Häufig legen Marokkanerinnen bei Facebook zwei verschiedene Profile an: ein offizielles für ihre Familie und eins für Freunde. Die Anonymität kann also durch das Anlegen falscher Profile verstärkt werden und erlaubt den ungezwungenen Kontakt zum anderen Geschlecht, ohne gesellschaftliche oder gar rufschädigende Konsequenzen.90 Darüber hinaus bietet dieses Medium die Möglichkeit, seine Freundesliste nach bestimmten Kategorien, wie z. B. „enge Freunde“, „Bekannte“, „Arbeitskollegen“, „Unbekannte“ etc., zu verwalten. Das Internet kann Grenzen verschieben und zur Herausbildung neuer sozialer Normen beitragen, wenn diese von der virtuellen Gemeinschaft mehrheitlich geteilt wird.91 Tradierte Normen können dadurch unterminiert werden. Indessen kann die Anonymität natürlich auch missbraucht werden, sodass es häufig vorkommt, dass Männer oder Frauen, mehrere Profile oder falsche Profile (sogenannte „Fake-Profile“) erstellen und dadurch ihren Chatpartner täuschen, wie dieses Zitat einer von mir interviewten jungen Frau zeigt: „Ich war auf Facebook mehr als ein Jahr lang mit einem Mann in Kontakt. Wir waren schon so weit, dass wir uns treffen wollten, um uns besser kennenzulernen… Er wollte bei meinem

90 Vgl. Carey 2010, S. 180. 91 Vgl. Westlake 2008, S. 38.

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Vater sogar um meine Hand anhalten… Ein paar Tage später war sein Profil gelöscht und er verschwunden. Ich habe sehr gelitten.“92

Eine andere junge Frau erzählte mir, sie habe ein Profil, das sie für ihren Freund in Rabat angelegt habe und ein anderes, mit dem sie mit ihrem Freund in Casablanca interagiere. Durch das Erstellen zweier getrennter Profile wolle sie vermeiden, mit den Chatpartnern aus Versehen durcheinander zu kommen und dass ihre Partner etwa durch Zufall voneinander mitbekämen.93 Trotz der Täuschungsversuche und erlebten Enttäuschungen, gaben die interviewten Personen mehrheitlich positive Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht im Internet an. Junge Marokkaner haben die Angewohnheit, zwecks des Ausbaus sozialer Netzwerke auch unbekannten Menschen Freundschaftsanfragen zu schicken oder diese von fremden Personen anzunehmen.94 Häufig werden auch ausländische Chatpartner gesucht. Dies kann aus Neugierde und dem Interesse an Unterhaltungen bzw. dem Meinungsaustausch mit Menschen aus anderen Kulturkreisen geschehen. Andere Motive können etwa das Praktizieren einer Fremdsprache, aber auch das Flirten sein. Vielerlei Gründe können dafür von Bedeutung sein. Zum Beispiel erzählten mir junge Männer, dass sie eine Ausländerin als Freundin bevorzugen würden, weil Marokkanerinnen materialistisch und oberflächlich seien. Andere führten als Gründe an, dass marokkanische Frauen langweilig oder zu kompliziert seien. Junge Frauen gaben die offene Mentalität der ausländischen Männer als Hauptgrund an. Marokkanische Männer seien, ihrer Meinung nach, Machos oder unreif für eine Beziehung. Viele von ihnen hätten keine ernsthaften Absichten, sondern würden lediglich Spaß suchen. Oft gehen Beziehungen zu Ausländern nicht über den Online-Kontakt hinaus. Manchmal laufen sie als lose Beziehungen parallel zu lokalen Beziehungen. Es gibt aber auch Fälle, in denen der Online-Raum verlassen wird und Kontakt im realen Raum gesucht wird. Diese Kontaktaufnahmen können – müssen aber nicht – auch mit dem Ziel konnotiert sein, ins Ausland zu emigrieren.95 Diese Kontakte werden häufig mit dem Wunsch geknüpft, über Heirat zu einem Ausländer ein Bleiberecht im Ausland zu erhalten.96

92 Interview am 22.04.2013 in Rabat. 93 Interview am 3.05.2013 in Rabat. 94 Vgl. Carey 2010, S. 180. 95 Vgl. Braune 2011, S. 9. 96 Vgl. Bennani-Chraïbi 2000, S. 148.

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Die Internetsprache vieler Marokkaner, zumindest derer, die ich interviewt habe, ist in der Regel Französisch. Wenn es um den Kontakt zu Ausländern geht oder Fotos kommentiert werden, die allen verständlich sein sollen, wird auf Englisch zurückgegriffen. Diejenigen, die kein Französisch sprechen, schreiben im marokkanischen Dialekt (darija) entweder in lateinischen oder in arabischen Buchstaben. Hocharabisch ist wie Französisch für die meisten Jugendlichen, je nach der Schulform, die besucht wurde, eine zweite oder dritte Fremdsprache. Französisch ist in weiterführenden Bildungseinrichtungen und in Behörden weiterhin die dominierende Sprache. Einige meiner Interviewpartner, wie Ibtissame Lachgar oder ein NRO-Mitarbeiter, ziehen es vor, sich auch mit Marokkanern auf Französisch zu unterhalten. Der marokkanische Dialekt hat für sie einen provinziellen Beigeschmack. Facebook dient, den Aussagen der interviewten Personen zufolge, der alternativen Informationssuche und primär dem Chatten, d.h. dem Pflegen alter und der Ausweitung neuer Kontakte. Häufig wird Facebook dazu genutzt, seinen Freundeskreis zu erweitern, ersten Kontakt mit einem Mädchen aus dem entfernten Freundeskreis oder aus der Uni aufzubauen, häufig mit dem Ziel diese Person anschließend zu treffen. Oft folgen aus solchen Bekanntschaften Liebesbeziehungen, die in manchen Fällen in einer Heirat resultieren. Ich habe eine junge Frau kennengelernt, bei der das der Fall war. Das Paar (sie war zum Interviewzeitpunkt 32 und er 35 Jahre alt) war seit fünf Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder. Diese Form des Kennenlernens potentieller Heiratspartner ist deshalb so verbreitet, weil eine Frau sich durch das intensive Chatten, aus der Distanz und über einen längeren Zeitraum hinweg, der wahren Absichten des Mannes vergewissern und sich eine Meinung über ihn bilden kann. Sie kann daran anschließend selbst bestimmen, ob und wann sie sich mit dem Chatpartner in der „Offline-Welt“ verabreden möchte. Er kann sich mit Geduld und Einfühlsamkeit zu ihr vortasten und wenn es ihm daran mangelt, kann die Frau den Kontakt zu ihm abbrechen, ehe sie ihren guten Ruf in der realen Welt aufs Spiel setzt. Ich habe mit jungen Männern und Frauen Bekanntschaft gemacht, die entweder selbst über Facebook eine Beziehung eingegangen sind oder zumindest jemanden kannten, bei dem oder bei der dies der Fall war. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Internet den Individuen eine Plattform zur Ausweitung der eigenen Freiheiten bietet, die sie in der realen Welt so nicht vorfinden, sei es hinsichtlich der freien Meinungsäußerung oder der Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht. „The Internet has given young people […] a

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space that does not exist in the ‚real world‘“.97 Die sozialen Medien haben darüber hinaus dazu beigetragen, dass junge Menschen in Kontakt zueinander treten, ungeachtet der sozialen Grenzen und abseits der gesellschaftlichen Kontrolle. Die Liebesbeziehungen, die im Internet entstanden sind, können in der Folge sogar zur Heirat führen,98 wodurch die Anbindung an tradierte soziale Normen wieder gewährleistet ist. Dies haben auch Anbieter von Dating-Seiten erkannt und Kennerlern-Portale für muslimische Klientel entwickelt, um die Kontaktaufnahmen zum anderen Geschlecht zu erleichtern und zwar in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen, d.h. ohne physische Nähe, und mit dem Ziel der Eheschließung. 6.4.2 Mobiltelefone Noch vor dem Internet hat ein anderes Medium die Kommunikationsform derart revolutioniert, dass viele Menschen sich ihr Leben ohne es nur schwer vorstellen können: das Mobiltelefon. Die marokkanische Regierung unternahm in den 1990er Jahren den Versuch, den nationalen Telekommunikationssektor, der staatlich geregelt war, zu liberalisieren, mit dem Ziel, die Wirtschaft anzukurbeln. Mit dem im Jahr 1997 verabschiedeten Post- und Telekommunikations-Gesetz (24-96) wurden die Voraussetzungen für die Zulassung von Telekommunikationsdienstleistern detailliert erläutert und damit die Prozeduren für die Privatisierung des Sektors eingeleitet. Das Gesetz ordnete dafür die Gründung einer Aufsichtsbehörde an, welche 1998 mit der nationalen Telekommunikationsagentur „Agence Regulataire des Telecommunications“ (ANRT) umgesetzt wurde. Die Lizenz wurde für 1,1 Milliarden US-Dollar an das Konsortium Medi Télécom (Méditel) vergeben. Der Verkauf stellte die größte Zuteilung für einen Mobildienstanbieter überhaupt in einem Entwicklungsland dar. Die Vergabe an einen multinationalen Konzern war ein eindeutiger Schritt in Richtung Privatisierung des Mobilfunksektors.99 Während Festnetzanschlüsse seit Jahren stagnieren, wächst die Mobiltelefonie rasend schnell in Marokko, mit einer jährlichen Wachstumsrate von mehr als 45% und einer Penetrationsrate von 42,75% im Jahr 2015.100 Der Ausbau der Breitband-

97

Eltahawy, Mona: „The Middle East’s generation Facebook“, in: World Policy Journal,

98

Vgl. Miller/ Slater 2002, S. 208.

99

Vgl. Maroon 2006, S. 190.

25 (39) 2008, S. 69-77, S. 77.

100 Vgl. ANRT: Rapport d’activités de l’Agence nationale de réglementation des télécommunications pour l’année 2015, (2016).

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verbindung nach neuesten Mobilfunkstandards,101 hat dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen über ihr Mobiltelefon mobilen Zugang zum Internet haben. Heute gibt es in jeder Stadt zahlreiche sogenannte „Teleboutiquen“ – kleine kioskähnliche Geschäfte –, in denen Produkte wie Handys und Prepaid-Karten102 der drei größten Mobildienstanbieter Méditel, Maroc Telecom und Inwi103 für jedermann erhältlich sind. Heute besitzt ein Großteil der Bevölkerung ein, häufig auch zwei Mobiltelefone. Dieses Medium hat durch seine Unmittelbarkeit die bisherigen Kommunikationsformen revolutioniert. „As a tool of everyday communication in urban Morocco, mobiles are active catalysts in reordering the conditions of possibility for sociability.“104 Die Mobiltelefonie hat maßgeblich zur Ausdehnung sozialer Umgangsformen und zur Spontaneität im Verabredungsverhalten beigetragen. Dieses neue Medium hat auch die Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht anonymisiert und liberalisiert, wodurch Liebesbeziehungen nachhaltig verändert wurden.105 Insbesondere in Großstädten trug es maßgeblich zur Ausweitung anonymer Kontakte bei.106 Die Anonymität erlaubt den Jugendlichen, insb. den jungen Frauen, sich außerhalb der Reichweite ihrer Eltern oder ihrer Nachbarschaft107 über das Handy zu verabreden und somit der familiären Kontrolle zu entgehen. Würde eine junge Frau sich mit Männern in einem Café in ihrer Nachbarschaft treffen oder mit einem Mann auf der Straße, könnte sie als ‚leichtes Mädchen‘ in Verruf geraten und die Familienehre aufs Spiel setzen.108 Es ist also eine Mischung aus Anonymität und größerer Mobilität, die zu einer Ausdehnung des sozialen Raums beigetragen hat und den Jugendlichen zunehmend sexuelle Freiheiten ermöglicht. Die Kombination aus urbanem Raum und dem Beherrschen von Technologien fördert die Mobilität von Jugendlichen und erlaubt ihnen, soziale Grenzen zu verschieben. Es bestehen Möglichkei-

101 In Großstädten sogar mit der Schrittgeschwindigkeit 4G. Vgl. ebd. 102 95% der Mobilfunknutzer verwenden diese Aufladekarten. Vgl. Maroon 2006, S. 200. 103 Laut der ANRT hat Maroc Télécom mit 41,80% die meisten Abonnenten, gefolgt von Méditel mit 31,72% und dem im Jahr 2009 gegründeten. Telekommunikationsunternehmen Inwi mit 26,48%. Vgl. Aït Akdim, Youssef: „Télécoms. Le marocain Inwi peine à devenir grand“, in: Jeune Afrique (1.12.2015). 104 Maroon 2006, S. 194. 105 Vgl. ebd., S. 189. 106 Vgl. Carey 2010, S. 181. 107 Vgl. ebd., S. 180. 108 Vgl. Maroon 2006, S. 197.

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ten, Frauen an öffentlichen Plätzen nach ihren Handynummern zu fragen und sich anschließend mit ihnen zu verabreden.109 Dadurch können individuelle Freiheiten erschlossen werden und neue Liebesbeziehungen entstehen. Die Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht, ohne die zwangsläufige physische Begegnung im öffentlichen Raum, ermöglichte die Überschreitung traditionell festgelegter sozialer Rollen.110 An dieser Stelle möchte ich kurz auf ein soziologisch interessantes Phänomen eingehen, dass die Ausweitung von Kontakten mit Unbekannten noch mehr unterstreicht und eine ganze Generation von Marokkanern geprägt hat: das sogenannte Bayn-Phänomen. Das Bayn-Phänomen entstand durch Angebote marokkanischer Mobildienstanbieter, wie sechsmonatige Gratisanrufe oder Gratis-SMS. Die Jugendlichen tippen dabei per Zufall irgendwelche Nummern ins Telefon und wenn sie Glück haben, lässt sich der oder diejenige am anderen Ende in eine Kommunikation verwickeln, woraus sogenannte „Bayn-Beziehungen“ resultieren können.111 In einem Artikel über dieses Phänomen, wird z. B. von Männern berichtet, die, in der Hoffnung, ein interessiertes Gegenüber am anderen Ende zu finden, vielfach eine SMS mit dem gleichen Inhalt an unbekannte Rufnummern verschickten, etwa: „Mein Name ist Hicham, 26, ich würde dich gerne kennenlernen“.112 Durch den mobilen Internetzugang kann der Zugriff auf das Internet laufend gewährleistet werden, wodurch man praktisch ständig mit der „Online-Welt“ vernetzt bleibt. Dadurch kann die Interaktivität mit anderen Internetnutzern erweitert und in den Alltag integriert werden.

109 Vgl. Carey 2010, S. 182. Ich habe in Marokko oft die Beobachtung gemacht, dass junge Frauen häufig gewillt sind, ihre Mobilnummer leichtfertig an Fremde herauszugeben, von denen sie auf der Straße oder in Cafés angesprochen wurden. 110 Vgl. Maroon 2006, S. 189. 111 Vgl. L’Economiste 2011, S. 16. 112 Dies wird, je nach dem Bildungsniveau des Absenders entweder auf Französisch oder auf marokkanischem Dialekt (darija) verfasst. Vgl. Carey 2010, S. 179. Übers. d. Verfasserin.

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6.5 SCHNITTSTELLEN ZWISCHEN DER „ONLINE“- UND „OFFLINE-WELT“ Seit dem Einzug des Internets in die marokkanische Medienlandschaft im Jahr 1995, hat die Nutzerzahl – nicht zuletzt aufgrund der öffentlich zugänglichen Internetcafés und der Möglichkeit relativ kostengünstig im Netz zu surfen – stetig zugenommen.113 Im Jahr 2014 gab es pro 100 Einwohner 56,8 Internetnutzer. Deutschland hat im Vergleich dazu 86,7 Internetnutzer pro 100 Einwohner.114 Die marokkanische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, das Land zu einer Informationsgesellschaft auszubauen, weshalb die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien oberste Priorität besitzen. Anders als viele andere arabische Staaten, ist die Internetnutzung als relativ frei einzustufen, da es offiziell keine Zensur via Verboten bestimmter Internetseiten oder Filtersoftware gibt.115 Die landesweit ca. 2.000 Internetcafés (in Marokko Cybercafés genannt) haben maßgeblich zum Anstieg der Internetnutzung beigetragen und einen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung des Internetmarktes gehabt. Seit dem Jahr 2000 bis 2009 hat sich die Nutzerzahl von 200.000 auf 10.300.000 um über das Fünfzigfache erhöht.116 Allein zwischen den Jahren 2000 bis 2003 hat sich die Zahl der Internetnutzer, dank der geteilten Internetnutzung, die die Internetcafés zur Verfügung stellen, um den Faktor 5 erhöht, während die Zahl der Abonnenten sich nicht einmal verdoppelte.117 Heute geht man von ca. einem Drittel weiblicher und zwei Drittel männlicher Internetnutzer aus.118 Bei meinen Interviewpartnern war die Internetnutzung nach der Geschlechterzugehörigkeit weitestgehend ausgeglichen, jedoch ließ sich ein Unterschied in der Dauer der Internetnutzung feststellen. Während junge Frauen sich bspw. im Durchschnitt bis zu zwei Stunden am Tag in sozialen Netzwerken, meist Facebook, seltener auch YouTube, aufhielten, waren Männer dort durchschnittlich zwei bis drei Stunden länger aktiv. Ein junger Mann gab sogar an, acht Stunden täglich im Internet zu sein.

113 Vgl. ANRT 2004, S. 2. 114 Vgl. Statistisches Bundesamt 2015. 115 Vgl. Braune 2008, S. 121. 116 Vgl. Dies. 2012, S. 345, Tab. 18-1. 117 Vgl. ANRT 2004, S. 2. 118 Vgl. Braune 2008, S. 19.

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6.5.1 Das Cybercafé als realer Freiraum Internetcafés prägen seit den 1990er Jahren das Stadtbild in den marokkanischen Städten119 und werden insb. von Jugendlichen stark frequentiert. Sie sind für sie und zum Teil von ihnen mitgestaltet worden.120 Die langen Öffnungszeiten – von acht Uhr morgens bis teilweise nach Mitternacht; manche haben sogar durchgängig geöffnet – machen die Cafés zu einem beliebten Treffpunkt für Jugendliche. Die Kosten für eine Stunde Internetnutzung beginnen, je nach Café und Standort, bei zwei Dirham (ca. 20 Cent). Einige Internetcafés nehmen keine Gebühren, wenn die Besucher ihre eigenen Laptops nutzen, und finanzieren sich über die Gastronomie. Viele Internetcafés sind gleichzeitig auch ein Imbiss und verkaufen neben Kaffee auch Sandwiches oder größere Gerichte. Häufig sind sie auch an einen Kiosk angegliedert, bei dem sich die Jugendlichen Getränke, Zigaretten, Pre-paid-Karten für das Mobiltelefon und Süßigkeiten kaufen können. Gerade im urbanen Raum sind die infrastrukturellen Voraussetzungen für einen Internetzugang gegeben und werden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch umfänglich genutzt. Es ist festzuhalten, dass das Internet in Marokko ein urbanes Phänomen ist. In ländlichen Gebieten mangelt es sowohl an der technischen Infrastruktur als auch an den finanziellen Voraussetzungen der potentiellen Nutzer. Außerdem schließt die hohe Analphabetenquote die Landbevölkerung von der Internetnutzung weitestgehend aus.121 Jedoch haben auch in den Städten nicht alle Jugendlichen gleichermaßen unbegrenzten Internetzugang. Es bestehen nicht nur Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Studierenden und Jugendlichen ohne Ausbildung, sondern auch zwischen Berufstätigen und Arbeitslosen. Cybercafés sind Schnittstellen zwischen der realen und der virtuellen Welt. Sie werden fast ausschließlich von Jugendlichen genutzt und bieten ihnen beliebte Treffpunkte, um z. B. im Internet zu surfen, einander bei den Prüfungsvorbereitungen zu helfen oder sich einfach in einer gelösten Atmosphäre zu unterhalten, zu flirten etc. Da nur ein Fünftel der Marokkaner (22,2%) zu Hause über eine Interverbindung verfügt, verbringen die Jugendlichen hier einen großen Teil ihrer Freizeit.122

119 Vgl. Braune 2011, S. 5. 120 Vgl. Dies. 2008, S. 16. 121 Vgl. ebd., S. 121. 122 Vgl. Kadiri 2016, S. 25.

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Das Cybercafé „Zerrad“, im Viertel Agdal in Rabat gelegen, ist ein beliebter Treffpunkt für Studierende. Viele Studenten und Studentinnen verbringen hier den Großteil ihrer Freizeit und zwar nicht nur diejenigen, die zuhause über keinen Internetanschluss verfügen. Die meisten Studenten bringen ihre eigenen Laptops oder Tablets mit, um über die Highspeed-Verbindung des Cybercafés zu surfen. Der Besuch der Internetcafés gehört zum festen Bestandteil der täglichen Freizeitgestaltung marokkanischer Jugendlicher. Da sie nicht nur in den Stadtzentren, sondern seit den 2000er Jahren auch in den Wohnvierteln zu finden sind,123 müssen die Jugendlichen keine weiten Wege zurücklegen, um sie aufzusuchen. In der Regel werden die Besuche des Internetcafés in den Tagesablauf integriert. Sie werden auf dem Weg zur oder von der Schule oder der Universität eingebaut. Meistens jedoch werden sie in den frühen Abendstunden besucht. Die Anwesenheit in den Cybercafés würde ich als eine Ausweitung von Freiräumen bezeichnen, wobei ich mit diesem Begriff diejenigen Orte bezeichne, die außerhalb des Kontrollradius der Familie liegen. Ein Freiraum kann allerdings auch neben dem örtlichen Aspekt, auch unter dem zeitlichen Aspekt, im Sinne eines ‚Zeitgewinns‘ oder einer ‚Freizeit‘ im wahrsten Sinne des Wortes, betrachtet werden. Meine Gastschwester schuf sich ihre Freiräume indem sie z. B. nach der Uni den Rest des Tages mit ihren Freundinnen im Cybercafé, und anschließend – je nach Wochentag – in Cafés oder beim Shoppen verbrachte. Dabei diente der Aufenthalt im Cybercafé häufig einfach nur dem Zeitvertreib und dem Aufschub des Heimwegs. Einige Internetcafés bieten sogar zusätzliche Freizeitangebote an, wie zum Beispiel einen Billardtisch. Obwohl meine Gastfamilie eine Interverbindung besaß, besuchte meine Gastschwester täglich das Cybercafé und das meist bis in die Abendstunden. Auf diese Weise konnte sie sich der elterlichen Kontrolle entziehen und ihren individuellen Interessen nachgehen. Sie musste auch keine Auskunft erteilen, darüber wo sie war oder mit wem sie ihre Zeit verbrachte. Die Bewegungsfreiheit meiner Gastschwester und ihrer Freundinnen war von einer hohen individuellen Autonomie geprägt. Ines Braune fasst in ihrer Dissertation über marokkanische Internetnutzung treffend zusammen: „[D]ie Internetcafés [haben sich] zu einem neuen Ort jugendlicher Alltagskultur entwickelt. Da die Internetcafés einen ähnlich positiven Ruf wie das Internet an sich haben, wird der

123 Vgl. Braune 2011, S. 5.

Die Rolle der Medien | 295

Gang ins Netz nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern sogar unterstützt und empfohlen.“124

Während der öffentliche Raum stark geschlechtersegregiert ist, entstehen hier reale Freiräume, in denen spielerisch „heterosoziale“ Beziehungen entstehen und gepflegt werden können. Da es sich um einen Ort handelt, an dem sich Peers treffen, die liberaler eingestellt sind, können Frauen hier problemlos eine Zigarette rauchen, ohne dass es verurteilt oder mit einer losen Moral gleichgesetzt wird.125 In dieser liberalen Atmosphäre verwischen auch die Grenzen zum anderen Geschlecht. Das Internetcafé bietet daher insbesondere den Frauen eine außerhäusliche Freizeitaktivität. Deswegen wird es so dankbar angenommen und als Ort zwischen dem Zuhause und der Universität bzw. Schule genutzt. Es ist eine willkommene Alternative und für diejenigen, die sich daheim eingeengt fühlen bietet es darüber hinaus eine Fluchtmöglichkeit.126 6.5.2 Neue Öffentlichkeit? – Synthese der „Online“- und „Offline-Welt“ Dieses Kapitel widmet sich der Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen der „Online“- und der „Offline-Welt“. Die Frage dabei ist, ob eine gegenseitige Beeinflussung zwischen beiden Welten besteht, das heißt ob Impulse oder Erlebtes aus der virtuellen Welt in die reale Lebenswelt einfließen. Meine Analyse ergab, dass sich beide Welten gegenseitig beeinflussen und durchdringen. Diese gegenseitige Beeinflussung fällt allerdings nicht immer zugunsten der Jugendlichen aus. Im nächsten Kapitel wird deutlich, wie sich diese Interdependenz negativ auf die reale Welt der Internetnutzer auswirken kann. Dies möchte ich anhand des Fallbeispiels „Kiss-Gate“ veranschaulichen, welches eine große mediale Aufmerksamkeit, auch außerhalb Marokkos, erlangte und zu einer gesellschaftlichen Debatte heranwuchs. Dieses Beispiel veranschaulicht in aller Deutlichkeit, wie im vermeintlichen Schutz des virtuellen Raums und der vermeintlich sicheren Anonymität schnell in Vergessenheit geraten kann, dass man durch die Exhibition nach außen Inhalte

124 Braune 2011, S. 6f. 125 In Marokko werden Frauen, die in der Öffentlichkeit rauchen, mit Prostituierten assoziiert. 126 Vgl. ebd., S. 8.

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preisgibt, die man in der realen Welt nicht ohne Weiteres der Öffentlichkeit zugänglich machen würde. Das Internet bildet keinen „privat-geschützten Innenraum [, sondern vielmehr eine neue] Form von Privatöffentlichkeit mit unklarem Adressatenkreis“.127 Allzu leicht verkennt man die Gefahren der unsichtbaren Überwachung und allgegenwärtigen gesellschaftlichen Zensur, nicht etwa von einen „Big Brother“ im Orwellschen Sinne, sondern von den Nutzern selbst. In diesem Fall von selbsternannten Sittenwächtern, die vorgeben, die Ehre der Nation zu beschützen, indem sie das Recht des Individuums verletzen. Für den einzelnen Internetnutzer ist nicht ersichtlich, wer sein Facebook-Profil besucht, es sei denn er beschränkt die Sichtbarkeit seines Profils. In jedem Fall speichert Facebook alle hochgeladenen Inhalte, was bedeutet, dass wenn sie einmal im Netz sind, sie kaum oder nur unter großem zeitlichen und/oder finanziellen Aufwand gelöscht werden können.128 6.5.3 Das Fallbeispiel „Kiss-Gate“ Im Oktober 2013 wurden drei Jugendliche wegen eines Fotos auf Facebook festgenommen. Darauf waren eine 14-jährige Gymnasiastin und ihr 15-jähriger Freund beim Küssen abgebildet. Das Mädchen hatte das Bild einige Tage zuvor auf ihrem Profil veröffentlicht, welches vor der Schule von einem gleichaltrigen Freund der beiden aufgenommen wurde. Die Jugendlichen stammen aus Nador, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im konservativen Nordosten des Landes. Das Foto wurde von Faical Al Morsi, dem Präsidenten der royalistischen „Organisation pour les droits de l’homme et les libertés publiques“ („Organisation für Menschenrechte und öffentliche Freiheiten“) auf Facebook entdeckt, woraufhin er sogleich zwei Anzeigen gegen sie einreichte. Die Anklage lautete „schwerer Angriff auf die marokkanische Erziehung und Kultur“ und „Angriff auf die Gefühle der Bürger“, welche als „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ (Art. 483) zusammengefasst werden.129 In einem Interview mit der Zeitschrift „Illi“ rechtfertigte Al

127 Deterding 2008, S. 125. 128 Indem man den Betreiber der jeweiligen Seite oder Suchmachine zur Löschung auffordert. Vgl. Anonymus: „Datenschutz. So verwische ich meine Spuren im Netz“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.05.2014). 129 Im Strafgesetz (Art. 483) erstreckt sich die Strafe für die „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ von einem Bußgeld von 200 bis 500 Dirhams (ca. 20 bis 50 Euro) und/ oder mit einer Freiheitsstrafe von einem halben Jahr bis zu zwei Jahren. Vgl. Code Pénal, Artikel 483.

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Morsi sein Vorgehen damit, dass es dem Schutze der Kinder diene und dass er es allen marokkanischen Eltern schuldig sei, denn sie würden ihre Kinder schließlich zur Schule schicken, um zu lernen und nicht, um Küsse auszutauschen und Unzucht zu treiben.130 Die Jugendlichen kamen am 3. Oktober 2013 ins Jugendgefängnis von Nador und wurden nach drei Tagen Untersuchungshaft wieder freigelassen. Die Anklage wurde letzten Endes am 22. November 2013 fallen gelassen. Doch die Jugendlichen mussten mit weitreichenden Konsequenzen zurechtkommen, u. a. einem Schulverweis und der landesweiten Ächtung. Youssef Chehbi, Mitglied der „Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte“ (AMDH), übernahm die Verteidigung der drei Jugendlichen. Seiner Meinung nach könnten die Jugendlichen Gegenanzeige erstatten, wegen Missbrauchs der Privatsphäre, weil das veröffentlichte Foto immer noch dem privaten Raum zugehörig sei und die Benutzung dieses Inhalts von einem Dritten, einen voyeuristischen Akt darstelle. Außerdem sei der Anklagepunkt „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ nicht klar genug definiert. Der Gesetzesartikel sei zu vage und würde die virtuelle Öffentlichkeit nicht einschließen, da die marokkanische Gesetzgebung noch nicht auf solche Fälle vorbereitet sei.131 6.5.3.1 Mediale Aufmerksamkeit und öffentliche Debatte Der Fall machte nationale und internationale Schlagzeilen. In internationalen Medien wurde darüber diskutiert, ob Marokko, das zuvor, aufgrund der neuen Verfassung von 2011 und des reformierten Familienrechts, stets als besonders fortschrittlich im Vergleich zu seinen Nachbarländern eingestuft wurde, die Rechte seiner Bürger beschneide.132 Die Rezeption auf nationaler Ebene spaltete die Bürger in zwei Lager. Die Konservativen und Traditionalisten, insb. die aus der Region um Nador, waren erzürnt über das schamlose Verhalten der Jugendlichen. Man lebe schließlich in einem

130 Vgl. Da Costa, Sabel: „Le baiser gate“, in: Illi (23) November 2013b, S. 26-27, S. 26. 131 Vgl. Da Costa 2013b, S. 27. 132 Vgl. Anonymus: „Ein Kuss, der hinter Gitter brachte“, in: Der Tagespiegel (5.10.2013); vgl. Anonymus: „Obama must press king Mohammed VI over ‚rape and kissing‘ laws“, in: Amnesty International (21.11.2013); vgl. Anonymus: „Freispruch für marokkanische Jugendliche“, in: Süddeutsche.de (6.12.2013); Anonymus: „Baiser de Nador. Les trois adolescents marocains poursuivis ont été acquittés“, in: France 24.com (7.12.2013).

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muslimischen Land und sollte die islamischen Werte der Bürger respektieren. Ganz ähnlich argumentierten auch einige meiner Interviewpartner. Auf die Frage hin, wie sie die „Kuss-Affäre“ betrachten würden, erhielt ich Antworten wie „Ich bin dagegen“, „Was denkst du? Wir sind immer noch in einem muslimischen Land“ und „Das berührt die Gefühle der Menschen“.133 Liberale Stimmen verstanden die ganze Aufregung nicht, es seien schließlich Kinder und es handele sich außerdem nur um einen unschuldigen Kuss. Darüber hinaus wurde das Foto auf Facebook publiziert, einem Raum, der der großen Öffentlichkeit in Marokko unzugänglich sei. Der Ärger über das Vorgehen der marokkanischen Obrigkeiten war zum Teil so groß, dass sogar eine Mahnwache vor dem Gefängnis abgehalten wurde, bei der man die Freilassung der Jugendlichen forderte. Auch einige Akteure aus der Zivilgesellschaft meldeten sich zu Wort und setzten sich für die Freilassung ein, wie z. B. die AMDH, die den Rechtsanwalt der Jugendlichen stellte. Auch Driss Ksikès, Schriftsteller, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung „TelQuel“, Forscher, Präsident des Forschungszentrums für Soziales, Wirtschaft und Verwaltung („Centre d’Etudes Sociales, Economiques et Managériales“) (CESEM) und Herausgeber des marokkanischen Wirtschaftsmagazins „Economia“ sprach sich in einem Artikel für die Jugendlichen aus und kritisierte die Überwachung im realen sowie im virtuellen Raum. Es sei schockierend, wie solch eine Sache in Sekundenschnelle von Facebook bis zur Justiz vorgedrungen sei, gibt er in dem Artikel zu bedenken, als existierten die Familie oder die Schule nicht mehr als Orte der Debatte. Diese Debatte sei für ihn nichts anderes als ein Ausdruck „kranker Strukturen“, die den gesellschaftlichen Fortschritt und juristischen Anachronismus infrage stellen.134 6.5.3.2 „Kiss-In“ – Solidaritätsbewegung in der „Online“- und „Offline-Welt“ Dieser Fall war Thema vieler Diskussionen sowohl in der „Online“- als auch in der „Offline-Welt“. Die Facebook-Community reagierte auf den Fall mit Bezeugungen der Anteilnahme und Solidarität. Auf Facebook ging eine ganze Welle von Kussfotos um, die marokkanische Jugendliche aus Solidaritätsbezeugung auf ihren Profi-

133 Diese Interviews und Gespräche wurden im November 2013, also ein Monat nach dem Skandal, geführt. Im November 2013 führte ich auch die Interviews mit Driss Ksikès, Naima Zitan und Amine Baroudi. 134 Vgl. Ksikès, Driss: „E-baiser révélateur“, in: Economia.ma (19.11.2013).

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len veröffentlichten. Fast zeitgleich wurde eine Facebook-Gruppe gegründet, in der die Freilassung der Jugendlichen gefordert wurde. Die Gruppe heißt „Solidarité avec les jeunes de Nador – Un baiser n’est pas un crime“ („Solidarität mit den Jugendlichen aus Nador – Ein Kuss ist kein Verbrechen“), und hatte im November 2013 nahezu 9.000 Mitglieder.135 Ibtissame Lachgar, Aktivistin und Mitgründerin der marokkanischen Bewegung für individuelle Freiheiten, „Mouvement Alternatif pour les Libertés Individuelles“ (MALI), rief auf Facebook zu einem „Kiss-In“ auf. Auch sie lud auf ihrem Facebook-Profil ein Kuss-Foto von sich und ihrem Freund, ebenfalls ein MALIMitglied, hoch. Die MALI-Bewegung ist in Marokko bekannt für ihre mediale Inszenierung und tabubrechenden Aktionen, wie z. B. die Organisation eines öffentlichen Picknicks am hellichten Tag im Fastenmonat Ramadan. Da es in Marokko für Muslime gesetzlich verboten ist, während des Ramadans tagsüber zu essen,136 brachen sie mit dieser Aktion ein Tabu und zogen die Anklage der „Erregung öffentlichen Ärgernisses auf sich“, was sie für kurze Zeit ins Gefängnis brachte. MALI, heißt auf marokkanischem Dialekt so viel wie: „Was ist anders mit mir?“ und auf Französisch steht es als Akronym für „Mouvement Alternatif pour les Libertés Individuelles“. Die Bewegung wurde von Ibtissame Lachgar, Kriminalpsychologin, und Zineb El-Rhazoui, Journalistin bei der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, im Jahr 2009 als eine Facebook-Gruppe ins Leben gerufen. MALI setzt sich für individuelle Freiheiten, Menschenrechte, LGBTI-Rechte, das Recht auf Abtreibung und für die Meinungsfreiheit ein. Die Mitglieder von MALI gehören zu den wenigen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich öffentlich für die Abschaffung des Artikels 490 einsetzen. Die Bewegung bedient sich der Methode des zivilen Ungehorsams und weist immer wieder mit Hilfe aufrüttelnder Kampagnen auf die Konsequenzen der rigiden gesellschaftlichen Normen hin.137 Ibtissame Lachgar reist häufig nach Frankreich und weist in Vorträgen oder Fernseh- und Radiosendungen auf die Menschenrechtssituation in Marokko hin. Im Interview teilte sie mir mit, dass der Aufruf zum „Kiss-In“ nicht nur der Unterstützung der Jugendlichen diente, sondern vor allem

135 Diese Seite ist abrufbar unter: https://www.facebook.com/Solidarit%C3%A9-avec-lesjeunes-de-Nador-Un-baiser-nest-pas-un-crime-1423731941179238/ (27.11.2013). 136 Art. 222 des Strafgesetzbuchs (Code Pénal). 137 Wie z. B. wie viele Frauen eigenhändig einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen und dabei sterben.

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demonstrieren sollte, dass ein Kuss ein natürlicher Akt, insbesondere bei Teenagern, sei. Es sei an der Zeit, der ‚sozialen Hypokrisie‘ ein Ende zu setzen.138 Am 12. Oktober 2013 fand das aus Solidaritätsbezeugung ausgerufene „KissIn“ auf der Terrasse eines Cafés direkt gegenüber von dem Parlament in Rabat statt. Neben Ibtissame Lachgar waren ihr Freund Soufiane, zwei andere MALIMitglieder und zehn weitere Paare anwesend. Eine Woche zuvor organisierte Lachgar ein „Kiss-In“ vor der marokkanischen Botschaft in Paris, um die Aufmerksamkeit im Ausland auf den Fall zu lenken. Das hat sie geschafft, denn die internationale Presse wurde auf den Fall aufmerksam, auch wenn die Aktion selbst nicht sehr erfolgreich war, da auch dort nur etwa zehn Paare daran teilnahmen. Das „Kiss-In“ war ein mediales Großereignis, bei dem die Partizipanten nicht gefeit vor verbalen und auch körperlichen Angriffen blieben. Dabei ist Amine El Baroudi, der, wie der Ankläger al-Morsi Mitglied der „Organisation für Menschenrechte und öffentliche Freiheiten“ ist, handgreiflich gegen Ibtissame und ihrem Freund geworden und pöbelte: „Nous sommes dans un pays musulman, bande de fils de putes!“.139 Mit diesem Mann, der, laut Lachgar und anderen Aktivisten, „royalistischer als der König“ sei, führte ich im November 2013 auch ein Interview durch und fragte ihn nach seinen Motiven, die Teilnehmer der Protestaktion derlei verbal und körperlich anzugreifen. Baroudi stellte sich mir als Präsident der „Marokkanischen Royalistenvereinigung“ („Royalistes Marocains“) und Präsident der „Union Jeunes Marocains Royalistes et Reformistes“ („Union junger marokkanischer Royalisten und Reformisten“) vor. Er ist ein selbsternannter Pazifist und gegen die „Bewegung des 20. Februar“140 sowie gegen jede Form öffentlicher Demonstrationen. „Seit drei Jahren sind wir auf der Straße, haben mehrere Sensibilisierungskampagnen gemacht, um den Menschen zu erklären, wie es funktioniert... wie ein Wandel vonstattengeht. Und zwar geschieht es nicht wie in Ägypten, nein... Wir sind für die Evolution, nicht für die Revolution. Und natürlich sind wir auch für den König“, erklärte er mir. Er ist außerdem der Meinung, in einem muslimischen Land wie Marokko sei „unanständiges Verhalten“ in der Öffentlichkeit zu unterlassen. Diejenigen, denen es in Marokko nicht gefiele, sollten, seiner Meinung nach, in den Westen gehen. Er

138 Zweites Interview mit Ibtissame Lachgar am 17. November 2013 in Rabat. 139 „Wir sind in einem muslimischen Land, Bande von Hurensöhnen!“, Übers. d. Verfasserin. Vgl. Da Costa 2013b, S. 26. 140 Marokkanische Protestbewegung, die sich im Zuge des „Arabischen Frühlings“ formierte.

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empörte sich über die Anschuldigungen einiger Medien und Aktivisten, er sei ein bezahlter Schläger oder gar Mitarbeiter des staatlichen Überwachungsdienstes DST („Direction de la Surveillance du Territoire“), und distanzierte sich im Interview mehrere Male davon. Im Übrigen, äußerte er seinen Verdacht, dass das „Kiss-In“ und die ganze mediale Aufmerksamkeit von westlichen Kräften, wie der „FemenBewegung“, initiiert und finanziert worden sei.141 Einige Tage später entschuldigte Baroudi sich für sein Verhalten in einem „YouTube“-Video, rechtfertigte es aber gleichzeitig mit der Anschuldigung, dieses Ereignis stelle eine Einflussnahme äußerer Kräfte auf den nationalen Frieden und die Erniedrigung des Königreichs durch internationale Umsturz-Bewegungen, wie „Femen“, dar.142 Al-Morsi hat nach dem „Kiss-In“ auch gegen Lachgar, ihren Freund und ein weiteres MALI-Mitglied Anzeige erstattet. Diesmal lautete die Anklage: „Angriff auf die Moral“, „Destabilisierung des muslimischen Glaubens“ und „Anstiftung zur Unzucht“.143 Sie wiederum reichten eine Anzeige gegen ihn und Baroudi wegen „Rufschädigung“, „Beleidigung“ und „körperlichen Angriffs“ ein. Die Justiz hat dazu bis dato noch keine Stellung bezogen.144 Dieser Fall veranschaulicht wie wertkonservativ die marokkanische Bevölkerung ist und dass man sich auch in dem vermeintlich sicheren und freien „Online-Raum“ vor Denunzianten und selbsterklärten Sittenwächtern in Acht nehmen muss. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Internet kein völlig abgeschnittener Raum ist, sondern in soziale Räume der „Offline-Welt“ eingebettet ist. „Online“- und „Offline-Welten“ stehen in Interdependenz zueinander und durchdringen sich gegenseitig.145 Trotz seiner Anonymität, ist das Internet ein neuer translokaler öffentlicher Raum, der neben Chancen und positiven Erneuerungen, insb. hinsichtlich der freiheitlichen Gestaltung und der Bildung neuer Identitäten, auch Gefahren, wie etwa Voyeurismus, und eine neue Form der Kontrolle hervorbringt. Dieses Kapitel hatte die Rolle der Medien hinsichtlich der Entfaltung des Diskurses um Sexualität und der Gestaltung alternativer Freiräume zum Thema. Es wurde aufgezeigt, wie klassische und neue Medien den Sexualitätsdiskurs in Gang bringen und Räume für die Aushandlung von alternativen Genderordnungen kreieren. Es wurde die Funktion des Internets als alternatives Informations- und Kom-

141 Interview am 15.11.2013 in Rabat. 142 Vgl. Da Costa 2013b, S. 27. 143 Vgl. ebd. 144 Diese Information erhielt ich über Lachgars Facebook-Profil. 145 Vgl. Miller/ Slater 2003, S. 4.

302 | Jugend und Gender in Marokko

munikationsmedium sowie als Freiraum eruiert. Das Internet hat der jungen Generation nicht nur die (globale) Vernetzung mit Jugendlichen ermöglicht, sondern eine Plattform geboten, auf der sie ihre Meinungen und Erfahrungen austauschen und diskutieren sowie Kontakt zum anderen Geschlecht aufbauen können. Doch die Anonymität des Internets kann auch Gefahren bergen und Reaktionen seitens der konservativen Öffentlichkeit in der realen Welt nach sich ziehen, die die physische Freiheit der Jugendlichen ernsthaft gefährden kann. Die „Kussaffäre“ verdeutlicht, wie das an sich harmlose Verhalten von Teenagern aufgrund des rigiden gesetzlichen Rahmens weitreichende Konsequenzen für Individuen haben kann, ungeachtet der Tatsache, dass sie noch Kinder sind. Im folgenden Kapitel werden soziale Transformationsprozesse in Marokko hinsichtlich der Gleichstellung von Männern und Frauen beschrieben. Zunächst wird das Reformprojekt des Strafgesetzbuchs vorgestellt und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und daraus resultierende Konflikte aufgezeigt. Anschließend wird auf die Reformpolitik des marokkanischen Königs und die Rolle der marokkanischen Zivilgesellschaft beim Reformprozess des Familienrechts eingegangen. Abschließend wird die Familienrechtsreform im Genauen betrachtet und auf ihre Vorbildfunktion hinsichtlich einer Reformierung des Strafgesetzbuchs untersucht.

7. Tradierte Normen und juristische Rahmenbedingungen

Die letzten beiden Jahrzehnte waren in Marokko von tiefgreifenden politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen geprägt. In der vorliegenden Arbeit wurde bereits aufgeführt, wie sich aufgrund des besseren Bildungszugangs und der Erwerbstätigkeit der Frau bzw. ihrer Präsenz im öffentlichen Raum als traditionell erachtete Wertvorstellungen einem kontinuierlichen Wandel ausgesetzt sind. Insbesondere die Rolle der Frau in der Gesellschaft transformiert sich von dem klassischen Rollenmodel der Hausfrau und Mutter zur emanzipierten gebildeten Frau, die berufsstätig ist und ihre Belange artikulieren kann. In den letzten zwanzig Jahren wurden rechtliche Grundvoraussetzungen für eine Verbesserung der Stellung der Frau in der Gesellschaft geschaffen, z. B. das Recht auf Selbstbestimmung ohne Vormundschaft, das Recht auf Scheidung und das Recht auf Arbeit. Es wurden moderne Gesetzesreformen verabschiedet, um sie an die Bestimmungen der allgemeinen Menschenrechte anzupassen. Marokko unterzeichnete verschiedene internationale Konventionen, die die Umsetzung einer egalitären Genderpolitik gewährleisten sollen. Es herrscht jedoch eine Diskrepanz zwischen den ratifizierten Dokumenten und ihrer gesellschaftlichen Implementierung. Pragmatische und zielorientierte Lösungsansätze werden häufig von einer ideologisch aufgeladenen Debatte um Frauenrechte und der Rolle der Frau erschwert. Dennerlein und Farag weisen auf „den hohen Grad der Politisierung und Ideologisierung sowohl von Religion als auch von Geschlechternormen in der Region“1 hin. 1

Vgl. Dennerlein, Bettina/ Farag, Sarah: „Geschlechterpolitik in der arabischen Welt. Frauenrechte und politischer Wandel in Ägypten und Marokko“, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.): Der Arabische Frühling. Hintergründe und Analysen, Wiesbaden 2013, S. 139-161, S. 159.

304 | Jugend und Gender in Marokko

Der Fokus dieses Kapitels liegt auf der Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die zu Veränderungen der Geschlechterverhältnisse geführt haben. Um diese Entwicklungen nachvollziehen zu können, gilt es herauszufinden, was auf der Makroebene zur Etablierung von Frauenrechten in Marokko beigetragen hat und welche Diskurse heute vorherrschen.

7.1 DER CODE PÉNAL Seit seiner Implementierung im Jahr 1962 wurde das marokkanische Strafgesetzbuch (Code Pénal) keiner Reform unterzogen. Es gehört nach der Verfassung zu dem zweitwichtigsten Gesetzestext des Landes. Das Strafgesetzbuch enthält eine Reihe anachronistischer Artikel, die nicht nur mit der Lebenswirklichkeit der MarokkanerInnen kollidieren, sondern auch in direktem Widerspruch zu der reformierten Verfassung stehen. Die marokkanische Verfassung wurde 2011 im Zuge des sogenannten „Arabischen Frühlings“ einer umfassenden Reform unterzogen. Diese enthält Änderungen in Bezug auf individuelle Freiheiten und die Geschlechtergleichheit. Da die Verfassung die höchste rechtliche Instanz darstellt, wurde der damalige Justizminister Mustapha al-Ramid2 damit beauftragt, das Strafgesetzbuch mit den Bestimmungen der Verfassungsreform in Einklang zu bringen. Dieser stellte dem Parlament im April 2015 einen Reformentwurf vor. Darin sollten 40 Artikel abgeschafft, 187 hinzugefügt und 567 Artikel modifiziert werden. Der Justizminister präsentierte sein Reformprojekt dem Parlament als eine bedeutende Entwicklung im Sinne der Freiheit und des Respekts vor den Menschenrechten, zu denen sich Marokko bekenne.3 Jedoch bediente sich das vorgestellte Reformprojekt des Justizministers weniger eines verfassungsrechtlichen, sondern vielmehr eines religiösen Bezugssystems. Mustapha al-Ramid erklärte in seiner Ansprache, dass eine Infragestellung des Staatsislam nicht geduldet werde.4 So sieht der Reformvor2

Mustapha al-Ramid gehört der islamistischen „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (PJD) an und war der Präsident der PJD-nahestehenden Menschenrechtsorganisation, „Muntada al-Karama“, die sich für die Freilassung von salafistischen Gefangenen einsetzte. Vgl. Karim, Sanaa: „Party politics for Morocco’s salafis?“, in: Carnegie Endowment for International Peace (2.10.2012).

3

Vgl. Senna, Fadel: „Sexualité, religion. Une réforme du code penal suscite de vifs débats au Maroc“, in: L’Express (23.04.2015).

4

Vgl. ebd.

Tradierte Normen und juristische Rahmenbedingungen | 305

schlag für den „Angriff auf Religionen“ (Art. 219) eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren vor.5 Das Missionieren bleibt ein Strafbestand und die Konversion zu einer anderen Religion wird in Marokko mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.6 Das öffentliche Nicht-Fasten während des Fastenmonats Ramadan (Art. 222) bleibt als eine Straftat im Strafgesetzbuch nicht nur erhalten, das Strafmaß soll sogar erhöht werden: sechs Monate Gefängnis und ein Bußgeld von 10.000 Dirhams (ca. 1.000 Euro) würden denjenigen bevorstehen, die in der Öffentlichkeit trinken oder essen.7 Bisher ist die Höhe der Strafe auf ein bis sechs Monate Freiheitsentzug und eine Geldstrafe in Höhe von 100 bis 500 Dirhams (ca. 10 bis 50 Euro) festgelegt. Damit würde sich das Bußgeld um den Faktor zwanzig erhöhen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu der in der neuen Verfassung enthaltenen Glaubensfreiheit.8 Auch die Todesstrafe9 ist unverändert geblieben, trotz einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung für deren Beseitigung. Damit wurde dem in der neuen Verfassung postulierten „Recht auf Leben“ (Art. 20) im Reformprojekt nicht Rechnung getragen.10 Die Kriminalisierung der Homosexualität (Art. 489) und der außerehelichen Sexualität (Art. 490) steht ebenso in einem klaren Widerspruch zu der Verfassung, die die Freiheit des Individuums als ein Menschenrecht versteht (Art. 161). Diese Artikel werden im Reformprojekt weitestgehend unbehandelt gelassen. Die einzige Modifikation, die das Reformprojekt für Artikel 490 vorsah, lag in der Höhe der Haftstrafe, welche von einem Jahr auf ein bis drei Monate reduziert wurde. Allerdings wurde für ein Vergehen gegen diesen Artikel ein zusätzliches Bußgeld von

5

Vgl. Boucetta 2015.

6

Vgl. Brouksy, Omar: „Maroc. Un projet de réforme du code pénal divise la société“, in: Le Monde (14.04.2015).

7

Vgl. Senna 2015.

8

Artikel 3 der neuen Verfassung besagt: „L’Islam est la religion de l’État, qui garantit à tous le libre exercice des cultes.“ („Der Islam ist die Staatsreligion, die allen die Freiheit der Religionsausübung garantiert“. Übers. d. Verfasserin).

9

Die Todesstrafe wird in Artikel 163, 165, 167, 181, 182, 185, 190, 201, 202, 218-3, 392, 398, 410, 412, 423, 474, 580, 584, 588, 590 und 590 des Strafgesetzbuchs festgeschrieben.

10 Vgl. Lamlili, Nadia: „Maroc. L’avant-projet de réforme du code pénal est-il rétrograde?“, in: Jeune Afrique (16.04.2015). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass ihre letzte Ausführung auf das Jahr 1993 datiert ist. Vgl. Senna 2015.

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2.000 bis 20.000 Dirhams (ca. 200 bis 2.000 Euro) festgelegt.11 Dabei bedürften gerade diese Gesetzesartikel einer umfassenden Reformierung, da sie der Lebenswirklichkeit der größten Bevölkerungsgruppe nicht gerecht werden. Artikel 489, in welchem Homosexualität als Straftat mit bis zu drei Jahren Gefängnis sanktioniert wird, bleibt in seiner ursprünglichen Form bestehen. Die Zivilgesellschaft kritisierte die Ausklammerungen gerade dieser Gesetzespassagen, da sie den in der Verfassung postulierten individuellen Freiheiten (Art. 161) zuwiderlaufen, und bezeichnete es als rückständig. Das NRO-Netzwerk „Printemps de la Dignité“ kritisierte das vorgestellte Projekt für die Priorisierung der öffentlichen Ordnung und Moral gegenüber den Rechten und Freiheiten des Individuums.12 Außerdem wies es darauf hin, dass der Anstieg sexueller Belästigung auf Frauen in Marokko den rigiden Gesetzen geschuldet sei.13 Mounir Bensalah, Koordinator der NRO „Anfass“ („Hauch“), bezeichnete das Projekt als einen rückständigen Text, der inkompatibel mit der sozialen Realität Marokkos sei. Ähnliche Kritik ging auch vom Präsidenten der Menschenrechtsorganisation „Organisation Marocaine des Droits de l‘Homme“ (OMDH), Mohammed Neshnash, aus, der den Gesetzesentwurf des Justizministers als widersprüchlich gegenüber der Verfassung bezeichnete.14 Ein weiterer Kritiker ist der Anwalt und Koordinator einer NRO gegen die Todesstrafe „Coalition Marocaine contre la peine de mort“, Abderrahim Jamaï, welcher in dem Reformprojekt einen Rückschritt auf dem Gebiet der Freiheiten sieht.15 Nach der Veröffentlichung des Reformvorschlags auf der Webseite des Justizministers wurde in sozialen Netzwerken Kritik an dem Reformprojekt laut und eine Opposition des Reformprojektes unter dem Hashtag #Code_Penal_No_Pasaran („Das Strafgesetz wird nicht durchkommen“) begann sich zu formieren.16 Auch in Politikerkreisen meldeten sich oppositionelle Stimmen zu Wort, wie z. B. die ehemalige Familienministerin Nouzha Skalli von der „Parti du Progrès et

11 Vgl. ebd; vgl. Boucetta, Fadel: „Du nouveau code pénal marocain“, in: La vie éco (25.05.2015). 12 Vgl. Alaoui, Khadija: „Nouveau projet du code pénal. La coalition ‚Printemps de la dignité’ monte au creneau“, in: Illionweb (17.05.2015). 13 Vgl. Fakim 2012. 14 Vgl. Lamlili 2015. 15 Vgl. Senna 2015. 16 Vgl. ebd.

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du Socialisme“ (PPS). Ihrer Meinung nach sei es unrealistisch, Beziehungen außerhalb der Ehe zu kriminalisieren. Man könne, so Skalli, nicht jeden Jugendlichen ins Gefängnis werfen.17 Als die Parlamentsabgeordnete der PPS, Charafat Afilal, am 8. Mai 2013 vor dem Parlament auf die soziale Notwendigkeit einer Gesetzesänderung aufmerksam machte, stieß sie auf Empörung und Ablehnung seitens der Regierungspartei PJD. Der Justizminister al-Ramid betonte, dass der religiöse Charakter der Jungfräulichkeit im Islam einen hohen Stellenwert in der marokkanischen Gesellschaft besäße und die Legislative aus diesem Grund keine Gesetze erlassen könne, die im Widerspruch zur marokkanischen Gesellschaft stünden.18 Er äußerte sich in der Tageszeitung „Maroc-Hebdo“ dahingehend, dass die oben erwähnten Bestimmungen im Reformentwurf nicht zur Diskussion stünden, weil sie die öffentliche Ordnung aufrechterhalten und auf den „Fundamenten des Islam“ basieren würden.19 Al-Ramid machte bereits im Jahr 2012 deutlich, dass das Gesetz nicht geändert werden würde: „Legalising sex outside the marriage is an initiative to promote debauchery.“20 Gestützt wurde er von konservativen Imamen, die damit argumentierten, dass die Beseitigung des Artikels 490 ein Desaster für die Gesellschaft bedeuten würde.21 Andere Vertreter der ʿulamāʾ (islamische Rechtsgelehrte) sehen in der Beseitigung des Verbots und der Etablierung einer Sexualerziehung einen Freifahrtschein für Unzucht (zina). Stattdessen geben sie die Anweisung des Propheten weiter, man solle fasten, wenn man sich keine Hochzeit leisten könne. Dies sei auch eine Präventionsmaßnahme gegen sexuelle Erkrankungen und uneheliche Schwangerschaften.22 Das Reformprojekt entfachte eine große Kontroverse innerhalb der Gesellschaft. Die PJD-nahe Zeitung „At-Tajdid“ prangerte die Opposition des Reformvorschlags als „Extremisten“ an, die die Sitten des Landes liberalisieren wollten und nicht akzeptieren könnten, dass ihre Ideen, die bereits in der Vergangenheit abgelehnt worden sind, unter dem Deckmantel des Universalismus der Bevölkerung nicht auferlegt werden würden.23

17 Vgl. ebd. 18 Anonymus: „Parlament. La virginité en question“, in: Illionweb (9.05.2013). 19 Sehimi, Mustapha: „Présentation du projet de nouveau code pénal“, in: Maroc-Hebdo (24.04.2015). 20 Fakim 2012. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. Sabib 2013. 23 Vgl. Senna 2015.

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Ohne eine Aufhebung des Sexualitätsverbots außerhalb der Ehe bewegen sich die Jugendlichen in einem kriminellen Rahmen. Es bedarf einer Reform des Strafgesetzbuchs, weil die darin enthaltenen Gesetze anachronistisch zur sozialen Entwicklung sind, die individuellen Freiheiten der Bevölkerung beschränken und der Lebensrealität der Bevölkerung, insb. der jungen Generation, nicht gerecht werden. Da die genannten Artikel das tabuisierte Thema Sexualität betreffen, haben die Jugendlichen nur Unterstützung von einem kleinen Teil der Zivilgesellschaft. Dies liegt daran, dass nur wenige Akteure es wagen, dieses prekäre Thema öffentlich zu kritisieren. Die etablierten Frauenrechtsorganisationen sind zurückhaltend bei der Thematisierung sexueller Freiheiten.24 Zu ihren Prioritäten zählen das Recht der Frau auf Bildung, auf Erwerbstätigkeit, auf Gesundheit sowie der Personenstatus der Frau. Die Menschenrechtsaktivistin Ibtissame Lachgar teilte mir im Interview mit, dass es daran läge, dass die Frauenrechtlerinnen vom Staat kooptiert wurden und es nicht wagen würden, ihre Errungenschaften und ihre Stellung zu gefährden. Deshalb bezeichnete sie sie als „féministes d’état“ (Staatsfeministinnen).25 Auch Dialmy argumentiert in diese Richtung. Seiner Meinung nach befänden sich die Frauenrechtlerinnen in einem Widerspruch zwischen ihrer individuellen sexuell liberalen Einstellung und einer konservativen kollektiven Position ihrer Organisation.26 Die Mitarbeiterinnen der Frauenrechtsorganisation, bei der ich im Rahmen meiner Feldforschung arbeitete, machten mir auf die Frage, warum sie sich nicht explizit mit der Dekriminalisierung der vorehelichen Sexualität im Strafrecht beschäftigten, deutlich, dass es ihnen vordergründig um basale Rechte der Frau und die Stärkung ihrer wirtschaftlichen Rechte gehe. Sie hoffen, dass auf die finanzielle Autonomie der Frau auch die sexuelle folgen wird. Dialmy erklärt die Zurückhaltung der NRO folgendermaßen: „The strategic goal of the feminist movement, namely, to share in political authority, explains to a large degree its avoidance of sexuality as a demand and a topic of research. Seeking political authority imposes upon the movement the acceptance of the patriarchal rules of the game of sexuality rules that turn sexuality into a means of controlling the feminine body.“27

24 Vgl. Dialmy 2005, S. 29; vgl. Ibnouzahir 2011; vgl. Singerman 2011, S. 77. 25 Interview am 28.06.2013 in Rabat. 26 Vgl. Dialmy 2005, S. 24. 27 Ebd., S. 30.

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Er empfiehlt den Feministen bei der Forderung nach sexueller Liberalisierung darauf hinzuweisen, dass die „Säkularisierung der Sexualität“ nicht notwendig mit der Zurückweisung religiöser Werte einhergehen muss.28 Trotz der Zurückhaltung von Seiten der Frauen-NRO, gibt es in Marokko eine anhaltende Debatte über die Aushandlung individueller Freiheiten.29 Die Akteure, die im öffentlichen Raum ihre Freiheiten aushandeln, sind diejenigen, die die Diskussion um eine Freiheit auf kultureller und politischer Ebene initiieren. Sie fordern die sexuelle Freiheit im gleichen Maße, wie sie die individuellen Freiheiten als universelle Freiheiten artikulieren.30 Zu diesen Akteuren gehören im Allgemeinen Jugendliche aus der sozialen Mittelschicht, deren Aktivisten, welche zum Großteil gebildete polyglotte und urbane Jugendliche sind, sich neuer Kommunikationsmedien, insb. Facebook, bedienen, in denen sie ihre Forderungen kundtun.31 Die Bewegung MALI ist ein Hauptakteur im Kampf für individuelle und sexuelle Freiheiten in Marokko. Zu weiteren „Agenten des Wandels“ kann Samir Bergachi, Präsident der in Spanien ansässigen Vereinigung für marokkanische Homosexuelle „Kifkif“ – was auf Tamazight „ähnlich“ bzw. „gleich“ bedeutet – gezählt werden. Die Organisation besteht seit 2004 und hat im Jahr 2010 das erste arabische GayMagazin „Mithly“ herausgebracht, welches mit einer Auflage von nur 200 Exemplaren in Großstädten wie Casablanca, Marrakesch und Rabat an bestimmten Kiosken unter der Hand verkauft wird.32 Auch der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekennende, in Frankreich lebende, marokkanische Schriftsteller, Abdellah Taïa, gehört zu den Stimmen, die gleichgeschlechtliche Sexualität thematisieren und für die Abschaffung ihrer Kriminalisierung plädieren.33

28 Vgl. ebd. 29 Interview mit Driss Ksikès am 21.11.2013 in Rabat. 30 Vgl. Fakim 2012. 31 Vgl. Slimani 2010. 32 Vgl. Bangré, Habibou: „‘Mithly‘, le premier magazine gay arabe“, in: Jeune Afrique (20.04.2010). Der Begriff „Mithly“ ist ein Wortspiel, dessen Bedeutung sowohl auf die umgangssprachliche Bezeichnung für „homosexuell“ als auch auf den Ausdruck „wie ich“ anspielt. 33 Der Schriftsteller lebt nicht ohne Grund in Frankreich. Wie viele andere arabische bzw. muslimische Homosexuelle lebt auch er im selbstgewählten Exil in Europa (Paris). Zu seinem Œuvre zählt u. a.: Mon Maroc („Mein Marokko“), L’Armée du salut („Die Heilsarmee“; dieser Roman wurde im Jahr 2014 verfilmt), Une mélancolie arabe („Eine arabische Melancholie“), Le Jour du roi („Der Tag des Königs“) und Infidèles („Untreue“).

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Der Redakteur der liberalen marokkanischen Zeitung „Al-Ahdath AlMaghribia“, Mokhtar Laghzioui, spricht sich auch offen für die sexuelle Liberalisierung aus. In einem Fernsehinterview gab er an, dass er seiner Mutter und seiner Schwester einräume, selbst über ihren Körper verfügen zu können. Diese Äußerung führte dazu, dass ein Imam aus der Stadt Oujda nach der Ausstrahlung des Interviews zum Mord am Journalisten aufrief.34 Eine Kontroverse entfachte und teilte die Gesellschaft in zwei Lager: eines, das dem Imam beipflichtete und eines, das auf der Seite des Journalisten stand. Als Dialmy sich für die Notwendigkeit einer Sexualerziehung aussprach, reagierte der salafistische Imam Abd el-Bazi al-Zamzami mit der Veröffentlichung eines Artikel in der Zeitung „Al-Ahdath Al-Maghribiyya“ am 13. März 1999, in dem er die religiöse Integrität Dialmys in Frage stellte und ihn mit dem Teufel verglich. Er beschwöre das Laster der Verderbtheit herauf und sei deshalb als ein Feind des Islam zu betrachten, hieß es darin.35 Dabei weisen Studien darauf hin, dass je früher Kinder oder Jugendliche eine Sexualerziehung erhalten, desto später gehen sie erste sexuelle Kontakte ein.36 Eine befreundete Journalistin der arabophonen Zeitung „Hespress“, Zhor Baki, sprach sich in einer marokkanischen Fernsehsendung im Frühjahr 2014 für eine Gleichberechtigung der Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen aus. Für ihren Mut und ihr Engagement wurde sie am folgenden Tag in einer belebten Einkaufsstraße in Rabats gehobenem Viertel Agdal am helllichten Tag mit einem Schlag auf den Hinterkopf attackiert. Niemand von den umstehenden Menschen versuchte, den Angreifer aufzuhalten oder zurechtzuweisen. Die Attacke auf die junge Frau zeigt, wie gefährlich es in Marokko werden kann, über Frauenrechte zu sprechen und die patriarchale Tradition zu kritisieren. Nichtsdestotrotz fährt sie mit ihrem emanzipativen Diskurs fort, ungeachtet der Tatsache, dass sie von konservativen Akteuren kritisiert und bedroht wird. Ähnliche Einschüchterungen erhielt auch Naima Zitan, Dramaturgin und Leiterin des Theaters „Théâtre Aquarium“ in Rabat. Im Jahr 2012 wagte sie es, trotz anfänglicher Bedenken, wie sie mir im Interview mitteilte, das Theaterstück „Dialy“ („Meins“), welches von den „Vagina-Monologen“ der amerikanischen Theater-

34 Vgl. Fakim 2012. 35 Vgl. Kleinhaus, Michaela: „Einmischung in innere Angelegenheiten. Islam und Sexualität in Marokko Der Sexualsoziologe Dialmy und die Geistlichkeit“, in: INAMO, 19 (Herbst) 1999, S. 4-8, S. 7f. 36 Vgl. Terrab/ Saâdi 2009.

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autorin Eve Ensler inspiriert war, aufzuführen. Bei dem Projekt, das vom Institut Français und UNIFEM unterstützt wurde, handelte es sich um eine einjährige Arbeit, an der neben Zitan drei Theaterschauspielerinnen beteiligt waren. Eigens für das Stück interviewten die Mitarbeiter des Theaters 250 marokkanische Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Gesellschaftsschichten und arbeiteten ihre Einstellungen zur weiblichen Sexualität (darunter auch zu den Themen: Körper der Frau und Vergewaltigung) in das Theaterstück ein. Es wurde nicht nur im eigenen Theater, sondern auch im Institut Français und im Goethe-Institut in Rabat aufgeführt und auch von der internationalen Presse gelobt. Auf meine Frage, wie das Publikum auf das Theaterstück reagierte, sagte Zitan, es wäre von der Mehrheit der Zuschauer gut aufgenommen worden. Nur einige wenige Male seien einige Männer aus der Vorstellung rausgegangen. Aber es wurde auch einer starken Kritik unterzogen, und zwar von denjenigen, die „es sich nicht einmal angeschaut haben“, so Zitan. Sie hätten einen Skandal heraufbeschworen: Man forderte, dass Zitan und die Schauspielerinnen des Landes verwiesen werden sollten und ihnen die marokkanische Staatsbürgerschaft entzogen werden sollte. Einige riefen sogar zu ihrer Ermordung auf.37 Die Hassnachrichten und Drohungen, die Zitan auf Facebook und auf ihre E-Mail-Adresse erhalten hatte, hatte sie fotokopiert. Das Resultat, ein mehrere hundert Seiten umfassendes Dossier, zeigte sie mir im Anschluss an das Interview. Zitan teilte mir mit, dass sie mit solchen Reaktionen gerechnet hatte. Theater müsse provozieren, sagte sie, damit die Zuschauer zu Reflektieren beginnen. Am meisten jedoch habe sie die Kritik von namhaften marokkanischen Dramaturgen getroffen, die sie in der PJD-nahen Zeitung „At-Tajdid“ als eine Angreiferin auf die Religion und die Sitten des Landes attackierten. „Ich habe nichts gegen Kritik“, sagte sie mir „aber ich bin für eine sachliche Kritik, die sich auf meine Arbeit bezieht, eine dramaturgische Kritik, eine Kritik der Regieführung, des Stücks, der Bühnenbilder, der Texte etc. Diese Beschimpfungen hatten nichts mit Kritik zu tun. Sie sind ein Ausdruck der Einschüchterungsversuche und des Hasses, der uns entgegenschlug.“ Die oben aufgeführten Auseinandersetzungen zeigen, wie konfliktgeladen das Themenfeld Sexualität in der marokkanischen Gesellschaft ist. Liberale Akteure, die sich für eine Liberalisierung dieses Themas einsetzen werden systematisch eingeschüchtert und als Angreifer der sozialen Ordnung denunziert. Unterstützung erhalten diese Akteure, wie bereits erwähnt, nur von wenigen Organisationen, namentlich von der Menschenrechtsorganisation „Association Marocain des Droits Humains“ (AMDH). Ihre ehemalige Präsidentin, Khadija Riyadi, setzt sich seit

37 Interview am 13.11.2013 in Rabat.

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Jahren für eine Modifizierung des Strafgesetzbuches ein und wurde für ihr Engagement bezüglich der Gleichstellung von Männern und Frauen und für die Redefreiheit am 10. Dezember 2013 sogar mit einen Preis der Vereinten Nationen ausgezeichnet.38 Die AMDH fordert, trotz täglicher Drohungen und Einschüchterungen, die Aufhebung von Artikel 490, der die voreheliche Sexualität unter Strafe stellt.39 Laut Riyadi handelt es sich jedoch in erster Linie nicht um die Forderung nach sexueller Liberalisierung, sondern um alle individuellen Freiheiten. Gesellschaftliche Probleme, die aus der Tabuisierung der Sexualität resultieren, wie bspw. die hohe Zahl alleinstehender Mütter, Vergewaltigungen und Inzest, könnten, ihrer Meinung nach, einzig über deren Enttabuisierung und durch eine öffentliche und sachlich geführte Debatte gemindert werden. Es müsse eine Anpassung der Gesetzestexte an die soziale Realität vorgenommen werden.40 Dank ihres Engagements und der Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit im Jahr 2013 ist bereits ein Gesetzesartikel des Strafgesetzbuchs (Artikel 475) revidiert worden, der einen Vergewaltiger vor einer Freiheitsstrafe bewahrte, wenn er sein (minderjähriges) Opfer ehelichte. Anlass für die Revision dieses Gesetzesartikels war der Suizid eines sechzehnjährigen Mädchens, der eine große gesellschaftliche Debatte entfachte, die diesen Artikel und die mit ihm tabuisierte soziale Praktik zum öffentlichen Thema machte.41 Da außereheliche Sexualität gesellschaftlich stark tabuisiert wird, trauen sich Opfer einer Vergewaltigung nur in seltenen Fällen ins Polizeirevier zu gehen, wo sie bei fehlenden Beweisen selbst dafür beschuldigt werden, in sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe verwickelt worden zu sein – also der Unzucht bezichtigt

38 Vgl. De Saint Perier, Laurent: „Les 50 qui font le Maroc. Droits toute!“, in: Jeune Afrique (14.01.2014). 39 Vgl. Ibnouzahir 2011. 40 Inteview 23.03.2013, in Rabat. 41 Es handelt sich um Amina Filali aus der nördlichen Kleinstadt Larache, die mit ihrem Vergewaltiger verheiratet wurde und nach einer achtmonatigen ehelichen Tortur Rattengift einnahm und starb. Die Eltern des Opfers gaben ihre Einwilligung zur Eheschließung, weil unter der ländlichen Bevölkerung die Annahme verbreitet ist, dass das Opfer nach seiner Vergewaltigung ‚entehrt‘ sei und ohnehin keine Chance auf dem Heiratsmarkt habe. Ebenso stellt die Vergewaltigung einen Ehrverlust für die Familie des Opfers dar. Vgl. Anonymus: „Le gouvernement marocain fait un pas vers l’abrogation d’une loi décriée sur le viol“, in: Le Monde (21.01.2013); vgl. El Yaakabi, Mouaad: „Affaire Amina Filali. Le bras de fer est engagé au Maroc“, in: Jeune Afrique (27.03.2012).

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werden – und dafür die Konsequenzen (Geld- oder Haftstrafe) tragen müssen.42 Bei der Bemessung des Strafmaßes würde außerdem unterschieden, ob es sich beim Vergewaltigungsopfer um eine Jungfrau oder um eine bereits entjungferte Frau handele. Dabei würde die Vergewaltigung einer Jungfrau mit bis zu zwanzig Jahren Haft geahndet, während die Strafe bei der Vergewaltigung einer Nicht-Jungfrau mit fünf bis zehn Jahren wesentlich milder ausfalle.43 Der Verlust der Jungfräulichkeit wird also in die Schwere der Strafe miteinbezogen. Die rigide Sexualmoral trifft also hauptsächlich diejenigen, die eigentlich vor sexueller Gewalt geschützt werden müssten. Es ist an dieser Stelle wichtig zu unterstreichen, dass es ohne die Mobilmachung großer Teile der Gesellschaft und der großen medialen Aufmerksamkeit im In- und Ausland um den Selbstmord Amina Filalis, insb. die emotionalen Bilder von demonstrierenden besorgten Müttern in den Großstädten des Landes, kaum eine Chance auf eine Gesetzesänderung gegeben hätte. Einzig aufgrund der Sichtbarmachung von Opfern und ihren Angehörigen erlangte dieses Thema solch eine Dynamik.44 Während sich der Kommunikationsminister Mustapha el-Khalfi für eine gesellschaftliche Debatte über eine grundlegende Reform des Strafrechts einsetzte, unterstellte der Justizminister Mustafa al-Ramid dem Mädchen freiwillige sexuelle Beziehung mit seinem Vergewaltiger und leugnete damit die Vergewaltigung. Des Weiteren äußerte sich die Familienministerin Bassima Hakkaou, die bis heute dieses Amt innehat und wie el-Khalfi und al-Ramid der islamistischen Partei PJD angehört, zunächst verhalten auf die Forderung der Demonstranten. Mit ihrer Behauptung, eine Ehe, die aus einer Vergewaltigung resultiere, sei nicht zwangsläufig schlecht,45 trieb sie die Debatte noch auf die Spitze. Wenn sich diejenige, die auf politischer Ebene verantwortlich für die Belange der Frauen ist, auf eine solche Weise äußert und eine islamistische Ideologie vertritt, die Frauen keine Gleichstellung zugesteht, weil die göttliche Ordnung Männer und Frauen als komplementär

42 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 3; vgl. Muslim Women’s League 1995. 43 Vgl. Eltahawy 2015, S. 184. 44 Dieser Fall wurde sogar zweifach verfilmt. In den 2013 erschienenen Dokumentarfilmen „475: Break the Silence“ von der Marokkanerin Hind Bensari und „475“ von Nadir Bouchmouch, der mit seiner Dokumentation „My Makhzen and Me“ auch über die Aufstände des „Arabischen Frühlings“ in Marokko berichtete. 45 Vgl. Ghelli, Fabio: „Der Selbstmord von Amina Filali erschüttert Marokko“, in: Zeit Online (05.04.2012).

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zueinander betrachtet, wird deutlich, in welcher Sackgasse sich die Forderung der Zivilgesellschaft nach umfassender Gleichberechtigung der Geschlechter befindet. Die Argumentation der islamistischen Regierungspartei, eine Reformierung des Strafgesetzbuches entspreche nicht den islamischen Normen der Gesellschaft, drohte ins Wanken zu geraten, als im August letzten Jahres, zwei Monate vor den Parlamentswahlen, ein Fall aus den eigenen Reihen für einen Skandal sorgte. Die beiden Vizepräsidenten der islamistischen NRO „Mouvement de l'unicité et de la réforme“ (MUR), des religiösen Flügels der PJD, wurden von der Polizei in flagranti beim außerehelichen Geschlechtsverkehr im Auto erwischt. Es handelte sich um den 63jährigen Ehemann und siebenfachen Familienvater, Omar Benhammad, und Fatima Nejjar, eine 62-jährige Witwe und Mutter von sechs Kindern. Die PJD äußerte sich nicht zu dem Vorfall und die MUR gab lediglich in einer Pressemitteilung den Rücktritt Benhammads und Nejjars bekannt. Der Versuch einer Rechtfertigung seitens des Präsidenten der Organisation, Abderrahim Chikhi, der behauptete, die beiden Vizepräsidenten seien nach der Fatiha-Ehe getraut worden und wären lediglich etwas ungeduldig bei der formellen Autorisierung ihrer Ehe, sowie seine Unterstellung, es handele sich um einen Komplott kurz vor den Wahlen, verdeutlicht die Bigotterie im Umgang mit diesem Thema in den höchsten Rängen der Islamisten.46 Die Auseinandersetzungen über das Reformprojekt deuten darauf hin, dass das Thema außereheliche Sexualität eine Enttabuisierung erfährt und dass der Diskurs um eine Liberalisierung der Sexualität in Marokko von Seiten der Medien und der Gesellschaft bereits geführt wird. Das Strafgesetz bedarf einer umfassenden Überarbeitung, damit es in Übereinstimmung mit der Verfassung und den internationalen Konventionen, die Marokko in den vergangenen Jahren unterzeichnete, gebracht werden kann.47 Da die Passagen des Code Pénal, die die Sexualität betreffen, auf der Shariʿa basieren, erhält das Verbot der vorehelichen Sexualität eine religiöse Legitimierung und dient den Gesetzgebern als Rechtfertigung für die Unantastbarkeit dieser Artikel. Damit wird positives Recht, also von Menschen gemachte Gesetze, als sakral deklariert und somit vor jeglicher Kritik und Modifikation unantastbar gemacht. Die religiöse Grundlage galt bisher als das größte Hindernis, eine Reform der die Sexualität betreffenden Artikel des Strafgesetzbuchs zu erwirken. Nichtsdestotrotz beweist die jüngere marokkanische Geschichte, dass auch als sakrosankt gel-

46 Vgl. Hachlaf, Hamza: „Affaire des ‚amants du MUR’: Fatima Nejjar et Moulay Omar Benhammad quittent le mouvement “, in: TelQuel (23.08.2016). 47 Vgl. Lamlili 2015.

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tende Gesetzestexte modifiziert werden können. Dies geschah mit dem Familienrecht (Moudawanna) im Jahre 2004. Ähnlich wie die Debatte um eine Reform des Code Pénal und die Liberalisierung der Sexualität heute von intensiven gesellschaftlichen Debatten und durch den Konflikt zwischen dem religiösen bzw. islamistischen und dem säkularen Lager begleitet wird, war auch der Reformprozess des Familienrechts im Jahr 2004 von langen und intensiven gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen geprägt, bei denen der König als Mediator eingriff. Mit Hilfe des Königs, Mohammed VI., der in seiner Instanz als „Befehlshaber der Gläubigen“ (ʿamir al-mou’minine) eine zentrale Gewalt in Glaubensfragen darstellt und den Vorsitz der Religionsgelehrten (ʿulamāʾ) innehat, ist es den Frauenrechtsorganisationen gelungen, eine mit dem Islam kompatible Gesetzesreform zu implementieren, die mit der tunesischen Familiengesetzgebung zu den fortschrittlichsten in der arabischen Welt zählt. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass ohne das Eingreifen des Königs, aufgrund des massiven Widerstands des konservativen und islamistischen Lagers, eine Reformierung des Familienrechts in der Form nicht umzusetzen gewesen wäre. Die Reform des Familienrechts soll exemplarisch als Fallbeispiel herangezogen werden, um aufzuzeigen, wie das Strafgesetzbuch modifiziert werden könnte. Zunächst wird auf die Reformpolitik des marokkanischen Königs eingegangen und anschließend ein kurzer Exkurs in die Geschichte der marokkanischen Zivilgesellschaft und in die Arbeit der Frauenrechtsorganisationen vorgenommen.

7.2 DIE REFORMPOLITIK MOHAMMEDS VI. Das Königreich Marokko ist eine konstitutionelle Monarchie mit absolutistischen Zügen, in der König Mohammed VI. weitreichende Machtbefugnisse hat und auf verschiedenen Ebenen die wichtigste Entscheidungsinstanz darstellt. Er ist nicht nur politisches Oberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, sondern als „Befehlshaber der Gläubigen“ (ʿamir al-mou’minine) auch die höchste religiöse Autorität des Landes. Der König steht de facto über der Verfassung und unterliegt keiner parlamentarischen Kontrolle oder Rechenschaftspflicht. Die Monarchie oder der Makhzen48, wie das marokkanische Herrschaftssystem auch genannt wird, ist die 48 Makhzen heißt wörtlich übersetzt „Geschäft“ bzw. „Warenlager“, im übertragenen Sinne „Schatzmeister“, und dient als Bezeichnung für traditionelle, präkoloniale politische Autoritäten. Im traditionellen marokkanischen Sprachgebrauch bezeichnet es die Verwaltung des Sultanats. Historisch betrachtet, wurden mit Makhzen die der Zentralgewalt un-

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wichtigste Komponente des politischen Systems in Marokko und zugleich das Zentrum, um das sich die politischen Akteure gruppieren. Das Königshaus stützt sich auf die außerordentliche Stellung des Königs, der durch seine religiöse und traditionell legitimierte Stellung nicht nur profane, sondern auch sakrale Gesetze modifizieren kann. Die Regentschaft des Königs ist sakrosankt und es gilt als Tabu die drei Säulen der marokkanischen Gesellschaft „Gott, Vaterland und König“ zu kritisieren. Dies ist sogar in der Verfassung (Art. 4) verankert und wird bei dessen Verstoß strafrechtlich verfolgt. Das Königshaus erfährt einen großen Zuspruch von Seiten der Bevölkerung und legitimiert die nunmehr seit dem 17. Jahrhundert währende Regentschaft durch seine scherifische Abstammung49 und den identitätsstiftenden Charakter Sultans Mohammed V. im Unabhängigkeitskampf.50 Während Hassan II., der Vorgänger des jetzigen Königs, für seinen despotischen Führungsstil, nach dem machiavellistischen Prinzip „Teile und herrsche“, und für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen bekannt war, erfährt sein Nachfolger Mohammed VI. für seine Reformpolitik und Modernisierungsbestrebungen internationale Anerkennung. Dem König ist es in

terworfenen Gebiete bezeichnet (arab.: bilad al-makhzan, „Land der Regierung“), im Gegensatz zu den abgelegenen Stammesgebieten, die der direkten Herrschaft des Sultanats entzogen waren (arab.: bilad as-siba, „Land der Ungehorsamen“). Vgl. Axtmann 2007, S. 117f; vgl. Cavatorta, Francesco/ Dalmasso, Emanuela: „The emerging power of civil society?“, in: Maddy-Weitzmann, Bruce/ Zisenwine, Daniel (Hg.): Contemporary Morocco. State, politics and society under Mohammed VI, London [u. a.] 2013, S. 120-135, S. 123; vgl. Geertz 1991, S. 117. 49 Die Monarchie stärkt ihre Herrschaftslegitimation durch die scherifische Abstammung des Königs. Der derzeitige Monarch wird als direkter Nachfahre des Propheten Mohammed in der 36. Generation betrachtet und zwar sowohl von den Rechtsgelehrten als auch von der Mehrheit der Bevölkerung Marokkos. Bis zur Verfassungsreform 2011 schrieb die Verfassung seine Unantastbarkeit und Heiligkeit vor (Art. 23, Verfassung von 1996). Die Heiligkeit ist tief in der marokkanischen religiösen Tradition des sogenannten „Volksislam“ (Marabutismus) verankert. Im Marabutismus fließen die volkstümliche Heiligenverehrung, sufitische Traditionen und das scherifische Prinzip ineinander. Vgl. Geertz 1991, S. 85. 50 Die marokkanische Nationalbewegung nutzte die einheitsstiftende Rolle Sultans Mohammeds V., durch seine religiöse und weltliche Autorität, zur Mobilisierung der Massen für den Unabhängigkeitskampf. Er avancierte zur Symbolfigur des Widerstands gegen das spanische und französische Protektorat. Vgl. Munson 1993, S. 126.

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seiner relativ kurzen Amtszeit gelungen, einen Prozess sozialer und ökonomischer Reformen zu initiieren, die entscheidend für einen gesellschaftlichen Wandel sind. Von Beginn an setzte er soziale Themen, wie Armut, soziale Benachteiligung und den geringen Rechtstatus der Frau auf die politische Tagesordnung.51 Dabei schenkte er den Jahrzehnte währenden zivilgesellschaftlichen Forderungen und leitete durch eine Vielzahl von Reformen einen politischen Richtungswechsel ein. Zu den wichtigsten Errungenschaften seiner Amtszeit gehört die Reform des Familienrechts, die für die gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern von entscheidender Bedeutung ist.52 Des Weiteren wurde eine Reihe relevanter Reformen und Modifikationen durchgeführt, die soziale Transformationen signalisieren und als richtungsweisend für muslimische Gesellschaften betrachtet werden können.53

51 Vgl. Howe 2000, S. 68; Zerhouni 2002, S. 21. 52 Auf diese Reform wird in Kapitel 7.4.2 im Einzelnen eingegangen. 53 Vgl. Hegasy 2009. Bei der Reform des Wahlsystems 2002 ging es vor allem darum, die Organisationsschwäche sowie die schwache gesellschaftliche Verankerung der Parteien zu verringern und das aktive Wahlalter von 21 auf 19 Jahre zu senken, um der jungen Generation eine bessere politische Teilhabe zu gewähren. Vgl. Axtmann 2007, S. 221, 270f. Darüber hinaus sollte die Partizipation von Frauen an der Politik durch eine Art Quotenregelung, im Genaueren durch die Einführung einer nationalen Zusatzliste verbessert werden. Dadurch stieg die Zahl der weiblichen Parlamentarierinnen mit 35 Mandaten – und damit einem Frauenanteil von 10,8% – deutlich im Vergleich zu 1993, als lediglich zwei Frauen und 1997 vier Frauen in der Repräsentanten-Kammer vertreten waren. Vgl. Axtmann 2007, S. 275f. Davon besetzten drei Frauen Ministerposten (von insgesamt 39 Ministerposten). Vgl. Moket 2007, S. 96. Des Weiteren ermöglichte das im Jahre 2007 revidierte Nationalitätsgesetz Code de la nationalité Frauen die Übertragung ihrer Staatsangehörigkeit auf ihre Kinder (Art. 6). Dies ist als weiteres Gleichstellungsmittel und als Stärkung der Rechte von Frauen und Kindern zu betrachten, da Frauen früher bei der Heirat eines Ausländers diese Möglichkeit nicht gewährt wurde und ihre Kinder, selbst wenn sie auf marokkanischem Territorium geboren wurden und aufwuchsen, nicht als Staatsbürger betrachtet wurden. Allerdings gilt dies nur, wenn der Ehemann ein Muslim ist und die Ehe in Marokko geschlossen wurde. Andernfalls hat dieses Recht keine Geltung. Hingegen kann ein Mann nach wie vor seine Staatsangehörigkeit, unabhängig der Nationalität und Konfession seiner Ehefrau, an die Kinder weitergeben. Vgl. Sadiqi 2010, S. 314f.

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Die Verbesserung der Infrastruktur, insb. in dem unter Hassan II. vernachlässigten Rif-Gebiet im Norden des Landes, die Beseitigung der sogenannten bidon-villes („Elendsviertel“) in den Großstädten und staatliche Alphabetisierungskurse in Moscheen sollen die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern und verhindern, dass ungebildete bzw. gesellschaftlich marginalisierte Bevölkerungsschichten von der islamistischen Opposition beeinflusst werden.54 Zu den wichtigsten Prioritäten Mohammeds VI. seit Beginn seiner Amtszeit zählen die Definition eines neuen Status für Frauen und der Kampf gegen Armut und Korruption.55 Alle Reformen oder Reformwellen in Marokko wurden von oben initiiert (trickle-down-effect) und sind der Kategorie „verhandelte Transformationen“56 zuzuordnen. Hegasy konstatiert, dass diese Legitimationsstrategie typisch für „neo-patrimoniale“57 Staaten sei. Auf der einen Seite würden sie versuchen, die Herausbildung autonomer Interessengruppen zu verhindern, während sie sie auf der anderen Seite als Input-Struktur benützten, und sich zugleich einer überbesetzten Staatsbürokratie und ausgiebiger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen bedienten.58 Auch Axtmann verweist in seiner Gegenüberstellung der Reformbemühungen autoritärer Regime im Maghreb darauf, dass Wahlen und Reformen autoritärer Herrschaft im Kern dem Machterhalt der jeweiligen Staatsführung dienen würden.59 Somit sind die seit den 1980er Jahren vorgenommenen institutionellen Modifikationen der Maghrebstaaten nicht als demokratische Transitionsprozesse, sondern vielmehr als Phasen der Liberalisierung zu werten. Der zielgerichtete Wandel, den die Regimeeliten über politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen zu betreiben versuchten, müsse deshalb als ein Instrument politischer Herrschaft zur Wahrung der Regimeeliten und des autoritären Systemcharakters verstanden werden.60 Wahlen seien dabei

54 Vgl. Werenfels 2005, S. 15. Salafistische Gruppen rekrutieren Anhänger mehrheitlich aus den Vororten bzw. den „Elendsvierteln“ der großen Städte. Auch die Attentäter von Casablanca 2003 und von Marrakesch 2011 kamen aus solchen Vierteln, um genau zu sein aus Sidi Moumen, einem „Armenviertel“ aus Casablanca. 55 Vgl. Zerhouni 2002, S. 22. 56 Baaklini, Abdo/ Denoeux, Guilain/ Springborg, Robert: Legislative politics in the Arab world. The resurgence of democratic institutions, Boulder 1999, S. 30. 57 Hegasy 2005, S. 138. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Axtmann 2007, S. 170. 60 Vgl. ebd., S. 281.

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nichts anderes als ein Anlass und Instrument zur Erneuerung und Pflege klientelistischer Strukturen oder auch zur Kooptierung neuer Eliten.61 Vor diesem Hintergrund, so Axtmann, führe auch die Liberalisierung des politischen Systems in den 1990er Jahren zu keiner politischen Mitbestimmung der Opposition, sondern sei eine erfolgreiche Erweiterung der soziologischen Basis des Makhzen, was zur Folge hatte, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Parteien und die Politik an sich geschwunden ist.62 Trotzdem sehen Baaklini et al. in diesen „verhandelten Transformationen“ Entwicklungen, welche langfristig das Potential hätten, Demokratisierungsprozesse einzuleiten: „Although they are frequently derided as face-lifts for authoritarian regimes, the negotiated transitions currently under way in much of the Arab world have the potential to eventuate in genuine democracies.“63

Diese These kann anhand des sogenannten „Arabischen Frühlings“ gestützt werden, denn die Monarchien Marokko und Jordanien erfuhren, nicht zuletzt aufgrund der Dialog- und Reformbereitschaft der Regenten, keine vergleichbaren politischen Umbrüche wie die Nachbarregionen. Als Ben Ali aus Tunesien floh, Gaddafi per NATO-Intervention und Mubarak durch die Unterstützung des ägyptischen Militärs abgesetzt wurde, reagierte der marokkanische Monarch Anfang März 2011, zwei Wochen nach Ausbruch der Proteste in Marokko, in einer seltenen Fernsehansprache mit der Ankündigung von Neuwahlen und einer umfassenden Verfassungsreform.64 Dadurch gelang es ihm, eine Eskalation der Proteste zu vermeiden und die Stabilität des Landes zu wahren.65

61 Vgl. ebd., S. 183. 62 Vgl. ebd., S. 206. 63 Baaklini et al. 1999, S. 44. 64 Nach der neuen Verfassung muss der König einen Premierminister aus der Partei ernennen, die bei Wahlen die meisten Parlamentssitze erhalten hat; bislang konnte er den Regierungschef nach Gutdünken bestimmen. Der Premier erhält das Recht, Minister zu entlassen oder das Parlament aufzulösen. Letzteres war bisher dem Monarchen vorbehalten. Zu den weiteren Neuerungen zählen die Trennung von Judikative und Exekutive und die Anerkennung der Imazighensprache Tamazight als offizielle Landessprache, neben dem Arabischen. Die ‚Heiligkeit‘ des Königs wurde durch seine ‚Unantastbarkeit‘ ersetzt. Die

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Das Regime reagierte entweder mit der Kooptation oder mit systematischer Einschüchterung der Protestler; es wurden Subventionen erhöht, mehrere neue Stellen im öffentlichen Sektor geschaffen und politische Gefangene – darunter auch viele Islamisten und Sahraouis – begnadigt.66 Kritische Stimmen vertreten allerdings die Meinung, der König habe dadurch die Protestbewegung mit der Ankündigung der Verfasssungsreform besänftigen wollen und durch seine vorschnelle Reaktion, nämlich mit der Thronrede Anfang März 2011, den Protestverlauf diskursiv vereinnahmt.67 Zwar sind die von der Regierung in die Wege geleiteten Reformen vom König bestimmt und kontrolliert worden, weshalb sie als Resultat eines von oben diktierten und kontrollierten Reformprozesses einzuordnen sind, aber diese Tatsache negiert nicht das Ergebnis, welches zu entscheidenden Reformen geführt hat, die die Belange und Forderungen der Opposition und der Zivilgesellschaft aufgriffen. Dazu gehört allen voran das reformierte Familienrecht, das Frauen nunmehr einen besseren Status in der Familie und der Gesellschaft verleiht. Als die höchste religiöse Instanz in Marokko, besitzt der König die Möglichkeit, „regulierend in das politische und gleichzeitig religiöse Feld“68 einzugreifen. Durch seine Kompromissbereitschaft zu Beginn seiner Amtszeit wurde eine Basis für zivilgesellschaftliche Arbeit und freie Berichterstattung ermöglicht und eine fruchtbare Dialogebene zwischen Regierung und zivilgesellschaftlichen Akteuren geschaffen, die essentiell für die Formierung demokratischer Strukturen ist.69

Kritik gegenüber seiner Person wird jedoch weiterhin geahndet und unter Strafe gestellt. Vgl. La Constitution Marocaine 2011. 65 Ähnlich wie in Tunesien und Ägypten verabredeten sich v.a. junge Menschen über Facebook und Twitter zu Demonstrationen für mehr Demokratie, weniger Korruption und für die Einschränkung der königlichen Befugnisse in den Großstädten, wie Tanger, Marrakesch, Casablanca und Rabat. Zu keinem Zeitpunkt stellte die marokkanische Protestbewegung die Legitimität der Monarchie infrage oder forderte gar den Sturz des Königs. Die Kritik der Protestler richtete sich gegen die politische und wirtschaftliche Elite. 66 Vgl. Hoffmann 2013, S. 212. 67 Vgl. Bank, André: „Marokko und Jordanien. Soziale Proteste und monarchischer Autoritarismus“, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier „Arabischer Frühling“ (13.10.2011). 68 Dennerlein/ Farag 2013, S. 153. 69 Vgl. Maghraoui, Abdeslam: „Morocco in transition. Political authority in crisis. Mohammed VI’s Morocco“, in: Middle East Report (218) 2001, S. 12-17, S. 12.

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7.3 ZIVILGESELLSCHAFT IN MAROKKO Die liberale Atmosphäre seit dem Amtsantritt Mohammeds VI. im Juli 1999 verstärkte die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und führte zu vermehrten öffentlichen Diskursen um Menschenrechte, bei denen das Hinterfragen der benachteiligten Stellung der Frau zunehmend in den Mittelpunkt rückte. Zur Einbettung des Diskurses um Sexualität und individuelle Freiheiten in Marokko, ist es notwendig einen Blick auf die für arabische Verhältnisse lange Geschichte und das rege Engagement der Zivilgesellschaft, insb. der Frauenbewegung, zu werfen. Die positive Rolle, die der Zivilgesellschaft in Demokratisierungsprozessen zukommt, wird in der politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur seit den 1990er Jahren hervorgehoben. Dabei wurde viel Wert auf das Konzept der Zivilgesellschaft70 und ihrer Fähigkeit zur Förderung und Erhaltung von Demokratisierungsprozessen gelegt.71 Die Leitidee dabei ist, dass die Demokratie ohne Zivilgesellschaft, d.h. einer autonomen gesellschaftlichen Sphäre zwischen Staat und Markt einerseits und Staat und Individuum andererseits, nicht existieren könne und dass deshalb die Stabilität von Staaten umso größer werde, je ausgeprägter die Institutionalisierung und die Achtung der Bürgerrechte seien.72 In der Vergangenheit hat sich die Zivilgesellschaft als bevorzugtes Instrument externer Geber und interner Opposition erwiesen, um politische Veränderung zu erwirken. Das Bestehen einer aktiven Zivilgesellschaft wird insofern als unterstützend für die Entwicklung demokratischer Strukturen betrachtet, als sie die Interaktion von Menschen auf einer freiwilligen Basis fördert, wobei unterschiedliche Interessen und Meinungsverschiedenheiten berücksichtigt werden müssen, und

70 In dieser Arbeit wende ich den Begriff „Zivilgesellschaft“ nach Habermas’ Definition an, womit alle nichtstaatlichen wie nichtökonomischen Akteure als „das Substrat jenes allgemeinen, aus der Privatsphäre gleichsam hervortretenden Publikums von Bürgern, die für ihre gesellschaftlichen Interessen und Erfahrungen öffentliche Interpretationen suchen und auf die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung Einfluß nehmen“ gemeint sind. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S. 444. Dabei gliedert sich das politische System in ein Zentrum (Regierung, Parlament, Gerichtswesen) und eine Peripherie, zu der die Zivilgesellschaft und mit ihr Interessengruppen und Verbände zählen. Vgl. ebd., S. 429ff. 71 Vgl. Albrecht 2005, S. 118f; vgl. Cavatorta 2006, S. 203. 72 Vgl. Albrecht 2005, S. 119f; vgl. Kocher 2005, S. 37.

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Forderungen gegenüber dem Staat, der sich in diesen autonomen Bereich nicht einmischen darf, erhoben werden können.73 Somit wird die Fähigkeit dieser unabhängigen gesellschaftlichen Akteure, in einem autonomen Wirkungsbereich zwischen Staat und Individuum zu handeln, als Chance angesehen, die zu einer Schwächung autoritärer Regime beitragen, die politische und soziale Beziehungen prägen und zu Wandlungsprozessen führen kann.74 In der Tat lässt sich ein Zusammenhang zwischen einer wachsenden Zivilgesellschaft und der Demokratisierung in der arabischen Welt feststellen, aber Zivilgesellschaft ist nicht per se als ein positiver Indikator für demokratische Prozesse, sondern vielmehr kontextabhängig zu betrachten.75 Während ältere Studien das Fehlen einer Zivilgesellschaft in arabischen Staaten konstatieren, weisen jüngere Studien darauf hin, dass sich in den letzten Jahren zwar zivile Interessenverbände formiert hätten, man jedoch aufgrund ihrer Defizite nur bedingt von Zivilgesellschaft sprechen könne.76 Zahlreiche wissenschaftliche Studien verweisen darauf, dass die Zivilgesellschaft im arabischen Raum gegenüber den autoritären Regimen zu schwach sei, um ein Gegengewicht zum Staat darzustellen und einen positiven Einfluss auf demokratische Reformen zu verüben.77 „The dominant position of the state in the Middle East has meant the domination of politics by powerful families, elites, and military and bureaucratic officers. The slow emergence and growth of independent groups and associations has been significant. [...] But in any case, labor unions, a primary agent of civil society, in the Middle East remain either non-existent or are repressed by the state.“78

Viele NRO werden darüber hinaus als nicht autonom vom Staat und somit nicht als Zivilgesellschaft rezipiert, da sie meist von Vertretern der politischen Elite selbst ins Leben gerufen worden sind, mit dem Ziel „soziales Engagement vorzuspiegeln und staatliche Zuschüsse oder Entwicklungsgelder abzuschöpfen“.79 Außerdem weist Suad Joseph darauf hin, dass in arabischen Ländern die Grenzen zwischen

73 Vgl. Albrecht 2005, S. 120. 74 Vgl. ebd., S. 131; vgl. Cavatorta 2006, S. 206. 75 Vgl. ebd., S. 204f. 76 Vgl. Sajoo 2004, S. 14, vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 12; vgl. Joseph 2002, S. 19. 77 Vgl. Albrecht 2005, S. 121; vgl. Cavatorta 2006, S. 203. 78 Abootalebi 1998, S. 46. 79 Albrecht 2005, S. 134.

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Staat, Nichtregierungsorganisationen und verwandtschaftlichen Beziehungen fließend seien, da Positionen in zivilgesellschaftlichen Organisationen häufig von Familienmitgliedern der Politiker besetzt würden.80 Das bedeutet, dass der Begriff Zivilgesellschaft in diesem Kontext ad absurdum geführt wird, da es sich bei den Vertretern der Zivilgesellschaft um nicht vom Staat unabhängige Akteure handelt. Am Beispiel Marokkos kann jedoch veranschaulicht werden, dass die Zivilgesellschaft eine unverzichtbare mobilisierende Kraft des Landes hinsichtlich der Gleichstellung von Männern und Frauen bildet.81 Anhand der folgenden Kapitel wird ersichtlich, dass sie als ‚Katalysator‘ in Bezug auf demokratischen Reformund Transformationsprozesse fungiert. 7.3.1 Die Entstehung erster Menschenrechtsorganisationen In Marokko gibt es seit den 1970er Jahren eine Vielzahl von Menschenrechts-NRO, die im Zuge der Prozesse gegen linke Oppositionelle entstanden sind.82 Mitglieder der Unabhängigkeits-Partei „Istiqlal“ gründeten bereits 1972 die Menschenrechtsorganisation „Ligue Démocratique pour la Défense des Droits de l’Homme“ (LMDDH) („Demokratische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte“). Gleichzeitig begannen sich linksliberale, von Studenten angeführte Gruppen illegal in den „Comités de Lutte Contre la Répression au Maroc“ (CLCRM) („Kampfkomitees gegen die Repression in Marokko“) zusammenzuschließen, die in engem Kontakt zu französischen Unterstützergruppen standen und die europäische Öffentlichkeit gezielt über Menschenrechtsverletzungen informierten. Die „Association Marocaine des Droits de l’Homme“ (AMDH) („Marokkanischer Verein für Menschenrechte“) wurde 1979 angesichts der Unterzeichnung der UN-Menschenrechtscharta durch Marokko von linken Oppositionellen gegründet.83 1988 wurde die „Organisation Marocaine des Droits de l’Homme“ (OMDH) („Marokkanische Organisation

80 Vgl. Joseph 2002, S. 10, S. 19. 81 Vgl. Hegasy 2007b, S. 20. 82 Vgl. Risse, Thomas/ Jetschke, Anja/ Schmitz, Hans Peter: Die Macht der Menschenrechte. Internationale Normen, kommunikatives Handeln und politischer Wandel in den Ländern des Südens, Baden-Baden 2002, S. 149; vgl. Schneider 2011, S. 197. 83 Sie waren zuvor meist Opfer von politisch motivierten Verhaftungen und sahen in der Charta die Chance, gegen Menschenrechtsverletzungen zu agieren. Vgl. Brand 1998, S. 37. Die Organisation hat sich später in „Association Marocaine des Droits Humains“ umbenannt.

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für Menschenrechte“) von einer Gruppe Intellektueller gegründet, die enge Beziehungen zur Regierung hatten oder dem König nahestehenden Parteien angehörten.84 Aufgrund der Regierungsnähe war die Gründung der OMDH für die älteren Organisationen ein Anlass dazu, ihre Arbeit von nun an zu intensivieren und das Thema Menschenrechte in den Vordergrund zu rücken.85 Wenngleich die marokkanischen NRO unterschiedliche strategische Konzepte verfolgten, die einen eher auf Kooperation (z. B. OMDH), die anderen auf Konfrontation mit dem Regime setzten (z. B. AMDH), bemühten sie sich doch um eine gemeinsame Formulierung von Zielvorstellungen. Am 24. Februar 1990 präsentierten die AMDH, LMDDH und OMDH, in Zusammenarbeit mit nationalen Anwaltsund Juristenverbänden, einen ersten Entwurf für eine marokkanische Menschenrechtscharta.86 Zwischen 1990 und 1994 zwang der wachsenden Druck von Seiten des internationalen NRO-Netzwerks, mit denen die lokalen NRO in Verbindung standen, König Hassan II. dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um das negative Image Marokkos in den sogenannten années de plomb („Bleijahre“) zu verbessern.87 Erste Zugeständnisse des Königs schufen eine Gesprächsbasis zwischen der Regierung und den NRO und sind v.a. mit den außenpolitischen Bemühungen um den Anschluss an die EU zu erklären.88 Durch die Gründung eines Menschenrechtsrats, des „Conseil Consultatif des Droits de l’Homme“ (CCDH), im April 1990 versuchte der König den Diskurs um Menschenrechte zunächst zu nationalisieren und zu kontrollieren, womit er die Forderungen der nationalen und internationalen NRO, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten, umging. Ein Jahr später jedoch brach der Rat mit dem vom König diktierten Diskurs und zeigte dies deutlich auf einer Pressekonferenz, bei der über schwere Menschenrechtsverletzungen, Beschränkungen der Reisefreiheit und von Folterungen politischer Gefangener berichtet wurde, weshalb eine Untersuchung der Haftbedingungen angekündigt wurde.89 Aufgrund des wachsenden Drucks auf die Regierung und kontinuierlicher negativer Reporte, insb. auch von internationaler Seite, wie z. B. von „Amnesty Interna-

84 Vgl. Brand 1998, S. 37. 85 Vgl. Risse et al. 2002, S. 152. 86 Vgl. ebd. Die endgültige Fassung wurde am 12.12.1991 verabschiedet. 87 Vgl. Brand 1998, S. 32. 88 Vgl. ebd., S. 35. 89 Vgl. Risse et al. 2002, S. 154.

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tional“, wurde der Menschenrechtsdiskurs zu einem zentralen Thema. Fortan zeigte Hassan II. seine Bereitschaft, den Forderungen der Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. der Begnadigung politischer Gefangener, nachzukommen, gleichwohl er sich zu den Menschenrechtsverletzungen weiterhin nicht bekannte.90 Im Zuge dessen wurde in der Verfassungsreform von 199291 die Verbindlichkeit Marokkos an die Unterzeichnung und Einhaltung der Bestimmungen der UN-Menschenrechtskonvention hervorgehoben. 1993 wurde ein Menschenrechtsministerium gegründet, welches mit dem OMDH-Mitglied, Omar Azziman, als Minister besetzt wurde.92 Darüber hinaus ratifizierte Marokko 1993 die bereits 1986 unterzeichnete Konvention gegen Folter sowie die Kinderrechtskonvention und die Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen (CEDAW),93 was zur Folge hatte, dass das Familienrecht 1993 zum ersten Mal reformiert wurde und 1997 erstmalig eine weibliche Ministerin ernannte wurde.94 Dies zeugt von der zunehmenden Bereitschaft der marokkanischen Regierung, sich an den Richtlinien der Konventionen zu halten und sich an globalen Diskursen und Prozessen zu beteiligen. In Anbetracht dessen entschieden sich UN-Menschenrechtsorgane 1998 für die Gründung eines „UNMenschenrechtszentrums für den Nahen Osten und Nordafrika“ in Rabat.95 Es lässt sich zusammenfassen, dass die 1990er Jahre von einer zunehmenden politischen Liberalisierung und Redefreiheit, einer Verbesserung der Menschenrechtssituation sowie der Gründung von zahlreichen Organisationen, die den öffentlichen Raum zwischen Staat und Individuum für sich beanspruchen konnten, ge-

90 Vgl. ebd., S. 155f. 91 Marokko hat seit seiner Unabhängigkeit sechs Verfassungsänderungen in den Jahren 1962, 1970, 1972, 1992, 1996 und 2011 durchgeführt. 92 Vgl. Mayer 1995, S. 445; vgl. Lemrini 2005, S. 160. 93 Die Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW) ist eine 1979 verfasste UN-Menschenrechtskonventionen. Darauf wird in Kapitel 7.4 näher eingegangen. 94 Vgl. Lemrini El Quahabi, Amina: „The women’s movement in Morocco and the project of reforming the code for personal status law (Moudawana – Islamic law)“, in: Norani, Othman (Hg.): Muslim women and the challenge of Islamic extremism, Selangor 2005, S. 157-177, S. 176. 95 Vgl. Risse et al. 2002, S. 158.

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kennzeichnet waren.96 Im nächsten Abschnitt wird der Fokus auf feministische Organisationen und ihre Entstehungsgeschichte gelegt, um anschließend auf die Errungenschaften der Frauenbewegung hinsichtlich der Veränderungen des Rechtsstatus von Frauen eingehen zu können. 7.3.2 Die marokkanische Frauenbewegung Allal Al-Fassi, der Gründer der Unabhängigkeitspartei „Istiqlal“, sprach sich bereits vor der Unabhängigkeit Marokkos für die Gleichberechtigung der Frau aus. Ihm ging es in erster Linie darum, das islamische Recht an die Anforderungen des 20. Jahrhunderts anzupassen. Er erachtete vor allen Dingen den Status der Frau in der Ehe als hinderlich in Bezug auf die Prinzipien der Moderne und schlug konkrete Schritte zur Verbesserung der Stellung der Frau in der Familie vor.97 1927 verfasste er eine Petition an den Gemeinderat, in der er die Abschaffung von aufwendigen Hochzeiten – insbesondere die hohe Summe der Mitgift – und der Polygamie forderte.98 Darüber hinaus kritisierte er den Gemeinderat für die Duldung von, in seinen Augen, fragwürdigen Bräuchen – etwa der Zurschaustellung blutiger Kleider der Braut oder des Bettlakens in der Hochzeitsnacht – sowie alle anderen Riten, die seiner Meinung nach, Frauen und die gesamte muslimische Gesellschaft degradierten.99 In den Jahren 1949 bis 1952 stellte er erneut, und diesmal radikaler, die Frauenfrage. In seinem 1953 erschienenen Werk Autocritique („Selbstkritik“)100 sprach er sich für eine tiefgreifende Reform des Rechtsstatus von Frauen aus und vertrat darin die Ansicht, dass die verbesserte Rechtsstellung der Frau nicht nur für sie notwendig, sondern grundlegend für die gesamte Gesellschaft sei.101 Darüber hinaus kritisierte er die Vernachlässigung der Bildung von Frauen und sprach sich für ihren

96

Heute gibt es über 17.000 NRO in Marokko, viele davon beschäftigen sich mit dem Kampf gegen Armut und Korruption. Vgl. Howe 2000, S. 69.

97

Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 408.

98

Vgl. ebd., S. 399.

99

Vgl. Dialmy 2008, S. 75.

100 Zur Vertiefung siehe Al-Fassi, Allal: Autocritique, Rabat 1953 (Originaltitel: „An-Naqd ath-Thati“). 101 Vgl. Dialmy 2008, S. 76. Darüber hinaus kritisierte Al-Fassi die polymorphen Ausprägungen des Islam, wie z. B. den Sufismus, in der marokkanischen Gesellschaft. Vgl. ebd., S. 76ff.

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Zugang zu allen Bereichen des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Lebens aus.102 Al-Fassis relativ moderne Einstellung hinsichtlich der Geschlechterfrage, spiegelte die Ansicht einer ganzen Generation marokkanischer Nationalisten wider.103 Allerdings wurden, trotz oder gerade wegen aller Weitsicht, seine Vorschläge bei der Implementierung des Familienrechts (Moudawanna) nicht berücksichtigt.104 Dies verdeutlicht, wie revolutionär seine Ideen zur damaligen Zeit waren. Knapp ein halbes Jahrhundert später, sollten seine Forderungen von Frauenrechtsaktivistinnen wiederaufgenommen werden, wie es im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit ersichtlich sein wird. Bis heute wird Al-Fassi von der marokkanischen Frauenbewegung sehr geschätzt.105 Zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes konnten erste Fortschritte hinsichtlich der Partizipation von Frauen in Politik und Gesellschaft errungen werden. Die Enttäuschung über das Familienrecht, bewegte Al-Fassi 1944 zur Gründung eines Frauenrates in seiner Partei „Istiqlal“, dem seine Cousine Malika Al-Fassi vorstand.106 1947 gründete eine weitere Unabhängigkeitspartei, die „Parti Démocratique et de lʼIndépendance“ (PDI), ebenso einen Frauenrat. Dadurch wurde Frauen die Möglichkeit gegeben, sich für die Unabhängigkeit zu engagieren und eigene Zielsetzungen im politischen Rahmen zu formulieren.107 Aus der Frauensektion der „Istiqlal“ ging 1948 die Frauenorganisation „Akhouat as-safa“ („Schwestern der Reinheit“) hervor, die als erste Frauenorganisation Marokkos betrachtet werden kann und das Verbot der Polygamie und der Heirat von Minderjährigen sowie gleiche Rechte für Frauen forderte. Die Organisation verfasste Berichte über die benachteiligte Stel-

102 Vgl. Moket 2007, S. 147. 103 Seine Cousine Malika Al-Fassi war die einzige Frau, die 1944 das nationalistische Manifest unterzeichnete, welches die Forderung nach der Unabhängigkeit Marokkos und die Wiederherstellung der territorialen Einheit unter der Herrschaft von Sultan Mohammed V. enthielt. Vgl. ebd., S. 124. Sie war in der Unabhängigkeitsbewegung involviert und avancierte zu einem Vorbild der Nachahmung und zur Schirmherrin der nachfolgenden Generationen von Frauenrechtlerinnen. Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 399. 104 Vgl. Sadiqi 2003, S. 27. 105 Vgl. Moket 2007, S. 153. 106 Vgl. ebd. 107 Vgl. ebd., S. 145f.

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lung von Frauen und sandte sie dem Justizminister in regelmäßigen Abständen zu.108 Während der Protektoratszeit (1912-1956) und der Formierung einer Nationalbewegung wurde die Bedeutung der Beteiligung von Frauen am gesellschaftlichen und politischen Leben zunehmend als Grundvoraussetzung für die Unabhängigkeit und die Gründung eines (modernen) Nationalstaates erkannt. In der Nationalbewegung und in den Unabhängigkeitskämpfen, insb. in den Jahren 1912 bis 1930, nahmen Frauen eine wichtige Rolle ein. Sie leisteten nicht nur moralischen Beistand für die männlichen Widerstandskämpfer, sondern auch logistische Arbeit als Waffenschmugglerinnen und als Überbringerinnen von Nachrichten und Dokumenten, weil sie seltener von den französischen oder spanischen Truppen durchsucht wurden. Darüber hinaus nahmen sie aktiv am bewaffneten Kampf teil.109 Neben ihrer Beteiligung am Unabhängigkeitskampf vernachlässigten sie keineswegs ihre traditionelle Rolle, das heißt sie kümmerten sich zusätzlich um die Verpflegung der Widerstandskämpfer sowie die Kindererziehung und Krankenpflege. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit fand hingegen ein Rückzug der Frauen aus der Öffentlichkeit statt. Ähnlich wie in anderen arabischen Nationalbewegungen, an denen Frauen aktiv beteiligt waren, ging mit der Erreichung der nationalen Unabhängigkeit ein Rückgang der erkämpften Gleichberechtigung und ein Rückzug der Frauen aus der Politik und der Öffentlichkeit einher. Dies geht zurück auf die Ambivalenz der nationalistischen Ideologie, die auf der einen Seite v.a. Frauen aus der Mittel- und Oberschicht erlaubte, am sozialen und politischen Leben zu partizipieren, was zu einem Bruch der traditionellen Genderrollen führte, und auf der anderen Seiten ihre Rolle als Mütter und als ‚Trägerinnen der Nation‘ redefinierte110 Sie kehrten – ganz im Sinne der nationalistischen Ideologie – zu ihrer traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter zurück.111 Die Gleichberechtigung, die Frauen innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung erfahren hatten, wurde nach der Unabhängigkeit nicht institutionalisiert oder anderweitig gefördert. Die Frauenorganisa-

108 Vgl. Daoud 1996, S. 247f. 109 Vgl. Moket 2007, S. 107f. Unter all diesen Frauen erlangten zwei Kämpferinnen Berühmtheit: Ito, die Tochter des Anführers Moha Ohamo, die 1934 neben ihrem Vater an der Front starb und Faidda Hassan, die als Geheimagentin die spanische Armee ausspionierte. 110 Vgl. Joseph 2002, S. 3; vgl. Ilkkaracan 2002, S. 762, 771. 111 Vgl. Sadiqi 2003, S. 30.

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tion „Akhouat as-Safa“, die noch während des Unabhängigkeitskampfes vor allem in der Mobilisierung der Unterstützerinnen und Kämpferinnen sehr aktiv war, wurde in den 1960er Jahren aufgelöst, da ihre Mutterpartei „Istiqlal“ immer mehr an Einfluss in der politischen Sphäre verlor und die Organisation nicht mehr mit Geldern unterstützen konnte.112 Seit der Erlangung der Unabhängigkeit war das marokkanische Königshaus bemüht, die Repräsentation von Frauen in der Öffentlichkeit zu stärken. Öffentliche Ämter wurden mit weiblichen Angehörigen des Königshauses besetzt. 113 Die älteste Tochter Sultans Mohammeds V., Lalla Aischa, war die erste marokkanische Frau, die 1947 unverschleiert in der Öffentlichkeit auftrat.114 Sie war in den 1960er und 1970er Jahren als Botschafterin tätig und wurde zum Vorbild vieler marokkanischer Frauen und zum Symbol der Emanzipationsbewegung.115 Lalla Meriem, die älteste Tochter Hassans II., übernahm in den 1990er Jahren überdies die Rolle der First Lady. Sie setzte sich für die Verbesserung der allgemeinen Lebenssituation von Frauen und Kindern ein.116 Mit Ausnahme der königlichen Repräsentantinnen ging die Präsenz von Frauen im öffentlichen Leben nach der Unabhängigkeit nahezu vollständig zurück.117 Dies änderte sich jedoch seit den 1960er Jahren durch die zunehmende Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt. Allerdings ist es nicht als ein Akt der Emanzipation, sondern als eine Notwendigkeit zu werten, denn es handelte sich in der Regel um Frauen aus der unteren Gesellschaftsschicht sowie um geschiedene oder verwitwete Frauen, die angesichts ihrer finanziellen Notlage einer Arbeit nachgehen mussten.118

112 Vgl. Moket 2007, S. 150. 113 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 396. 114 Vgl. Brand 1998, S. 46. Ihre jüngeren Schwestern waren ebenso unverschleiert. Vgl. Daoud 1996, S. 245. 115 Vgl. ebd.; vgl. Pennel 2000, S. 348. 116 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 396. 117 Ebenso begann Lalla Aischas Rolle, als Förderin und Symbol der Emanzipationsbewegung, mit der Zeit an Bedeutung zu verlieren. Zwar fungierte sie auch weiterhin als Leiterin zahlreicher karitativer Organisationen und Repräsentantin marokkanischer Frauen bei diversen Anlässen, doch ihre Rolle beschränkte sich zunehmend auf die der Königsschwester. Vgl. Brand 1998, S. 47. 118 Statistiken von 1971 besagen, dass 45% der Arbeiterinnen entweder Witwen oder geschiedene Frauen waren. Vgl. Pennell 2000, S. 349. Viele von ihnen arbeiteten als

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7.3.3 Marokkanischer Feminismus Die marokkanische Frauenrechtsbewegung entsprang der Nationalbewegung in den 1950er Jahren und setzte sich aus der gebildeten und gehobenen Mittelschicht Marokkos zusammen.119 Ursprünglich war es eine Bewegung der urbanen Elite, die sich aus der gebildeten und gehobenen Mittelschicht Marokkos zusammensetze und in erster Linie des Prestiges wegen in Organisationen versammelte.120 Dies änderte sich ab Mitte der 1970er Jahre, als Anhänger der Studentenbewegung, der ersten Generation, die vom Zugang zur Bildung profitierten, sich zunehmend am Gleichstellungsdiskurs beteiligten.121 Die Frauenbewegung wurde von Anbeginn durch den Staat unterstützt und seit den 1990er Jahren durch die Errichtung von Recherchezentren sowie Graduiertenprogrammen für Frauen- und Genderforschung in Rabat, Fès und Ifrane gefördert.122 Seit den 1980er Jahren unterstützte die Regierung die Frauenbewegung und setzte in ihrer offiziellen politischen Agenda vermehrt auf die Verbesserung der Frauenrechte in der Familie und am Arbeitsplatz.123 Die marokkanischen Frauenrechtlerinnen vertreten entweder eine laizistische Position, die mit der Forderung nach einer Säkularisierung von Staat und Recht

Hausangestellte oder als ungelernte Arbeitskräfte in Fabriken und der Landwirtschaft. Vgl. Ennaji 2008, S. 346. 119 Der Begriff „Feminismus“ bezeichnet eine Ideologie und eine globale Bewegung, die die Gleichstellung und Entscheidungsfreiheit von Frauen und ihrer Selbstbestimmung verfolgt. Es ist jedoch keine homogene Bewegung. Der arabische Raum hat zum Teil eigene, an den lokalen Gegebenheiten orientierte, Feminismen hervorgebracht, was sowohl unter Berufung auf indigene Traditionen als auch unter Berufung auf die Religion legitimiert wurde. Unter diesen Voraussetzungen haben sich verschiedene Strömungen des Feminismus, mit vielfältigen Strategien und Praktiken, die sich teilweise ergänzen, aber auch widersprechen können, jedoch dessen ungeachtet, einen Wandel der Geschlechterverhältnisse bewirken sollen, entwickelt. Vgl. Sadiqi 2003, S. 19. 120 Vgl. ebd., S. 20. 121 Vgl. Kreile 2007, S. 21ff. Auch heute ist es, dass viele marokkanische NRO von gebildeten Frauen aus der Oberschicht oder aus der gehobenen Mittelschicht gelei¬tet werden. Vgl. Sadiqi 2003, S. 25. 122 Der liberale Feminismus wurde auch von den politischen Parteien gefördert, jedoch primär, um ihre Parteilinie zu festigen und Frauenstimmen zu gewinnen. Vgl. ebd., S. 25. 123 Vgl. ebd., S. 29ff.

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einhergeht und sich an einem Rechtsansatz orientiert, der auf der Basis der Menschen- und Frauenrechtskonvention beruht, oder einen moderaten islamischen Feminismus,124 der ebenfalls für eine Entkopplung von Recht, Politik und Religion eintritt, aber Gleichberechtigung mit der Religion zu verbinden sucht.125 Sie bemühen sich den Beweis zu erbringen, dass Frauenrechte und die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Koran verankert seien und nur die Tradition der Auslegung den Frauen eine benachteiligte Stellung eingebracht habe: „Islamic feminists have come to insist that gender discrimination has a social rather than a natural (or divine) basis and how this could open the door to new possibilities for gender equality. Moreover, […] similar women, well versed in the Qur’an and who refer directly to the Qur’an in their writings, have raised the issue of the right to ijtehad (independent reasoning, religious interpretation) and the right of women to reinterpret Islamic law.“126

Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi bediente sich bereits in den 1980er Jahren der Instrumente klassischer islamischer Methodologie, um religiöse Texte aus der Gender-Perspektive zu analysieren. Darin gelang es ihr überzeugend nachzuweisen, dass viele Hadithe zweifelhaft, gefälscht oder aus ihrem Zusammenhang gerissen seien und v.a. der Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen dienen würden.127

124 Der Begriff „Islamischer Feminismus“ tauchte in den 1990er Jahren auf, als Beobachter das Aufkommen eines neuen feministischen Diskurses in Teilen des Nahen Ostens feststellten. Dieser Diskurs wurde von säkular, aber auch religiös orientierten Frauen eröffnet, die zunehmend durch die Verbreitung einer konservativen Auslegung des Islam betroffen waren. V.a. in Regionen, in denen im Zuge des Post-Kolonialismus der politische Islam erstarkte, wie etwa in Ägypten, ist bereits in den 1970er Jahren das Auftauchen eines „islamischen Feminismus“ zu verzeichnen. Vgl. Badran 2005, S. 8f. 125 Beide Bewegungen haben gemeinsam, dass sie die Frau nicht über die Familie, sondern als autonomes Subjekt definieren und dass sie die Monarchie, als einheitsstiftende Institution, nicht infrage stellen. Vgl. Heintz [u. a.] 2006, S. 437; vgl. Holenstein 2008, S. 10. 126 Moghadam, Valentine M.: „Islamic feminism and its discontents. Toward a resolution“, in: Signs. Chicago Journals, 27 (4) 2002, S. 1135-1171, S. 1144. 127 Vgl. u. a.: Mernissi 1993, vgl. S. 147, S. 152-158; vgl. Dies. 2002, S. 180f. Allerdings stoßen Mernissis Ausarbeitungen auf wenig Resonanz bei den Rechtsgelehrten im arabischen Raum. Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 409.

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Aus diesem Grund wenden sich viele islamische Feministinnen gegen die religiöse Deutungskraft der Rechtsgelehrten und versuchen die islamische Tradition, im Sinne einer feministischen Theologie zu re-interpretieren.128 Die Verbreitung einer konservativen Auslegung des Islam und die zunehmende Forderung islamistischer Gruppierungen, nach der Rückkehr von Frauen aus dem öffentlichen in den privaten Raum, waren entscheidend für die Entstehung des „islamischen Feminismus“.129 Mit dem Versuch, eine Verbindung zwischen Menschenrechten und der Religion herzustellen, ist die islamische Frauenbewegung bemüht, eine Argumentationsbasis zu schaffen, mit welcher sich die Modernisierung vorantreiben lässt, ohne gegen die religiöse Tradition zu verstoßen. „Die Besonderheit Marokkos besteht aus dieser Sicht in einer islamischen Variante von Modernisierung, die sowohl der Universalität der Menschenrechte und modernen Rechtsprinzipien wie auch der religiösen Tradition des Landes Rechnung trägt.“130

Dem iğtihād (Anstrengung),131 der Methode der eigenständigen vernunftbegründeten Rechtsfindung, kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu. Durch ihn wird ein Versuch unternommen, die international verankerten Frauenrechte in die lokale Umgebung zu integrieren.132 Den islamischen Feministinnen zufolge ist die An-

128 Vgl. Kreile 2007, S. 20. Auf ihrer Suche nach authentischen Emanzipationskonzepten, dienen ihnen Frauen aus der islamischen Frühgeschichte als emanzipierte Vorbilder, die in ihrer Gesellschaft Mitspracherecht besaßen. Die erste Ehefrau des Propheten, Khadija, war eine erfolgreiche Händlerin und 15 Jahre älter als er. Bis zu ihrem Tod lebte Mohammed mit ihr in einer monogamen Beziehung. Erst danach heiratete er weitere Frauen, wie z. B. A’ischa, seine Lieblingsfrau. Sie gilt als eine gelehrte, politisch aktive und mutige Frau und überlieferte darüber hinaus mehr als 1.200 authentische Hadithe. In der Entstehungsphase des Islam übten die Frauen Mohammeds nicht nur großen Einfluss auf ihn aus, sondern spielten auch eine wichtige Rolle in den Überlieferungen. Vgl. ebd; vgl. Mernissi 1993, S. 148f. 129 Vgl. Badran 2005, S. 8f. 130 Heintz et al. 2006, S. 441. 131 In der islamischen Rechtskultur bezeichnet iğtihād die Methode der eigenständigen vernunftbegründeten Rechtsfindung. Mit Hilfe des iğtihād wird versucht, das islamische Recht an die Erfordernisse der Gegenwart anzupassen. Vgl. Elger 2006, S. 34. 132 Vgl. Sadiqi 2003, S. 36.

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wendung des iğtihād nicht das alleinige Recht der Rechtsgelehrten (ʿulamāʾ), sondern das eines jeden Muslims. Seit den 1980er Jahren gibt es angeregte Bemühungen, den iğtihād im Sinne einer kritischen und an moderne Lebensumstände angepassten Auslegung der heiligen Schriften wiederzubeleben.133 „Ausgestattet mit der Gewissheit, dass es nicht der Islam sei, der Schuld an den frauenfeindlichen Ideologien hatte, sondern die falschen Auslegungen des Koran und der Sunna, entwickelten die Frauen eine feministische Agenda auf Grundlage ihrer Neuinterpretation der religiösen Texte.“134

Während islamische Feministinnen nachzuweisen versuchen, dass das Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau im Einklang mit dem Islam steht, verteidigen Frauen aus dem islamistischen Lager die „gottgegebenen wesensmäßigen Verschiedenheiten und Komplementarität der Geschlechter“.135 Die Frauenrechtskonvention (CEDAW) wird von ihnen als ein Ausdruck einer kulturellen Dominanz des Westens betrachtet.136 Für sie ist der Begriff „Feminismus“ ohnehin negativ geprägt, weil er für sie mit einer westlichen Ideologie konnotiert ist.137 Die islamistische Bewegung fordert einen durchgängigen Primat der Religion und stellt sich gegen die Differenzierung von Recht, Politik und Religion. Durch ihr stetig wachsendes Engagement erschwert sie den Handlungsspielraum säkular orientierter oder islamischer Frauenrechtlerinnen, die sich mühsam Freiheiten innerhalb der Gesellschaft erkämpft haben, und wertet sie als weniger moralisch und ‚vom Westen beeinflusst‘ ab.138 Die entgegengesetzte Position islamistischer Organisationen und der säkularen oder islamischen Frauenorganisationen führt zu einem

133 Vgl. Badran 2005, S. 7. Auf der anderen Seite wiederum kann der iğtihād von konservativen bzw. islamistischen Kräften zur Interpretation und Durchsetzung ihrer Ziele missbraucht werden. Oftmals haben gerade diese Kräfte in der arabischen Welt die Interpretationsgewalt inne. Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 409. 134 Schröter, Susanne: „Herausbildungen moderner Geschlechterordnungen in der islamischen Welt“, in: Fahrmeir, Andreas/ Imhausen, Annette (Hg.): Die Vielfalt normativer Ordnungen. Konflikte und Dynamik in historischer und ethnologischer Perspektive, Frankfurt am Main 2013, S. 275-306, S. 296. 135 Kreile 2007, S. 20. 136 Vgl. ebd., S. 20f. 137 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2001, S. 19. 138 Vgl. Joseph/ Slyomovics 2010, S. 16; vgl. Kreile 2007, S. 24.

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Konflikt, der sich insb. durch die Auseinandersetzung über die Stellung der Frau in der Gesellschaft reproduziert.139 Ein Zeichen dafür ist die Vehemenz, mit der die Debatte um die Reform des Familienrechts geführt wurde und die aktuell den Diskurs um eine Reform des Strafgesetzbuches bestimmt. Während erstere versuchen den Status quo zu wahren, versuchen liberale Akteure, als Reaktion darauf, vermehrt durch Einbeziehung der Religion und durch eine zeitgemäße Auslegung der religiösen Quellen, die Lage der Frauen zu verbessern.140

7.4 DIE FRAUENRECHTSKONVENTION CEDAW Das „Übereinkommen zur Abschaffung aller Formen von Diskriminierung von Frauen“ (CEDAW)141 wurde 1979 verfasst und gehört zu den UN-Menschenrechtskonventionen, die am häufigsten ratifiziert worden sind – darunter von 18 der insg. 22 Staaten der Arabischen Liga –, allerdings mit den meisten Vorbehalten, die sich vor allem gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 2) und gegen die Gleichstellung in Ehe und Familie (Art. 16) richten. Mit der Erklärung von Vorbehalten entziehen sich die Staaten der Verpflichtung, die entsprechenden Bestimmungen der CEDAW umzusetzen und stellen somit das islamische Recht über internationales Recht. In Marokko wurden bei der Ratifizierung der CEDAW im Jahr 1993 Vorbehalte gegen Artikel 16 (Gleichheit in der Ehe und Scheidung), 9 (2) (Gewährleistung gleicher Rechte hinsichtlich der Nationalität der Kinder, d.h. die Übertragung der Nationalität der Mutter auf die Kinder) formuliert, mit Begründung der Inkompatibilität mit der Shariʿa. Des Weiteren gab die Regierung in einer Erklärung bekannt, dass Artikel 2 (Diskriminierungsverbot) und 15 (4) (freie Wahl des Wohnsitzes) nur bis zu dem Maße Geltung hätten an, solange sie im Einklang mit der Shariʿa und dem Familienrecht stünden. Diese Vorbehalte werden also in einem Differenzmodell

139 Vgl. Heintz et al. 2006, S. 437. 140 Vgl. Sadiqi 2010, S. 312. 141 The Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women. Neben CEDAW wird auch auf den „Beijing Plan of Action“, der auf der vierten Frauenkonferenz 1995 in Peking präsentiert wurde, und die „UNO Res 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit“ (2000) Bezug genommen, wobei CEDAW eindeutig die Hauptreferenz darstellt. Vgl. Holenstein 2008, S. 11.

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formuliert, das über den Islam begründet wird und auf der Vorstellung einer Verschiedenartigkeit und Komplementarität der Geschlechter beruht.142 Am 8. April 2011, zog die Regierung ihre Vorbehalte zurück, während die oben aufgeführten Deklarationen bestehen blieben.143 Malika Benradi erläuterte mir im Interview, es läge daran, dass in der neuen Verfassung (Präambel) festgeschrieben wurde, dass internationale Bestimmungen über den lokalen stünden.144 Da es in Marokko keine gleichstellungspolitische Tradition gibt, mussten sich die Gleichberechtigungsforderungen der Frauenorganisationen gegenüber einem religiös verankerten, traditionellen Geschlechtermodell durchsetzen. Die Ratifizierung der CEDAW von Seiten der marokkanischen Regierung im Jahr 1993 erfüllte in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion, da es den NRO einen Rechtsansatz (rights-based approach) bot, um ihre Zielsetzungen voranzubringen.145 Obwohl die Ratifizierung für die Regierung eine vorwiegend symbolische Geste darstellte, erhielten die Frauenorganisationen dadurch von nun an die Möglichkeit, ihre Forderungen unter Berufung auf das Völkerrecht zu legitimieren und damit Druck auf den Staat auszuüben. Die Kontrolle der Umsetzung der Konvention erfolgt durch sogenannte „Schattenberichte“ von lokalen NRO, die auf Dialog und Kooperation mit dem Staat angelegt sind, welcher seinerseits einen Staatsbericht verfasst. Dadurch soll eine relativ objektive Berichterstattung über den Status der Frauenrechte gewährleistet werden.146 CEDAW diente den Frauenorganisationen somit als zentrales Instrument für die Durchsetzung ihrer Forderungen nach der Gleichstellung von Männern und Frauen und wurde zu einem wichtigen politischen Referenzrahmen, durch den der heutige moderne Gender-Diskurs vorangetrieben wird. Nach dem Amtsantritt Mohammeds VI. und seiner Ankündigung, die Menschen- und Frauenrechtslage zu verbessern, wurde dieser Diskurs auf eine höhere politische Ebene gehoben.147 Darüber hinaus konnte unter Berufung auf die Frauenrechtskonvention ein Prozess in die Wege geleitet werden, der in der Folge zu weiterreichenden Reformen führte, die darauf abzielten, die Diskriminierung von Frauen zu beseitigen. Dazu gehört an erster Stelle die bereits erwähnte grundlegende Reform des Familienrechts im Jahr 2004, auf die

142 Vgl. Heintz et al. 2006, S. 434; vgl. Barakat et al. 2007, S. 6. 143 Vgl. FIDH 2012, S. 73f. 144 Interview am 3.07.2013 in Rabat. 145 Vgl. Heintz et al. 2006, S. 441. 146 Vgl. ebd., S. 428. 147 Vgl. Cavatorta 2006, S. 211.

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im Kapitel 7.4.2 eingegangen wird, aber auch andere Rechtsreformen und der Aufbau institutioneller Strukturen: Im Jahr 1998 wurde im Sozialministerium ein Staatssekretariat eingerichtet, das die Belange der Frauen wahrnehmen soll.148 Im Jahr 2003 wurde das Arbeits- und Strafrecht revidiert und stellt nun auch häusliche Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz unter Strafe.149 Allerdings bietet das Strafgesetzbuch keine Vorkehrungen zum Schutz der Frauen vor Vergewaltigungen in der Ehe.150 2004 wurde mit der Unterstützung der EU ein Informationsund Dokumentationszentrum gegründet, das über geschlechtsspezifische Indikatoren die Geschlechterungleichheit in Marokko laufend und international sichtbar dokumentiert.151 Das Legitimationspotential, das die Frauenrechtskonvention besitzt, spiegelt sich auch in der Argumentationsstrategie der marokkanischen Frauenbewegung wider. Die in der Frauenrechtskonvention formulierten Ziele werden nicht als soziale Ansprüche, sondern als individuelle Menschenrechte interpretiert.152 Die Orientierung an der globalen Ebene wird auch an der verwendeten Rhetorik deutlich, die dem globalen Gleichberechtigungsdiskurs angepasst wird.153 So wird beispielsweise die Benachteiligung der Frauen, insb. auf dem Land, nicht als Entwicklungsproblem, sondern als ein internes Problem wahrgenommen und mit der mangelnden Demokratisierung des Landes in Zusammenhang gebracht. Auch diese Deutung entspricht dem globalen Diskurs, der seit den späten 1980er Jahren in der Entwicklungspolitik auf Weltmarktöffnung, Menschenrechtspolitik und den Aufbau leis-

148 Vgl. UNIFEM 2008/2009, S. 139. 149 Vgl. Zuber 2006. 150 Vgl. FIDH 2012, S. 76. 151 Vgl. Heintz et al. 2006, S. 436. 152 Dies gilt nicht nur für die Forderung nach Rechtsgleichheit oder Schutz vor Gewalt, sondern auch für klassische gleichstellungspolitische Forderungen, wie etwa Alphabetisierung oder Zugang zum Arbeitsmarkt. Dies zeugt von der Variabilität von CEDAW, die als Programm zur Geschlechtergleichstellung aber auch als Menschenrechtsinstrument, als politische Deklaration oder als Rechtstext verwendet werden kann. Vgl. Heintz et al. 2006, S. 437f. 153 Ein Beispiel dafür ist der Gewaltbegriff, der ähnlich wie in der Kampagne „Frauenrechte sind Menschenrechte“ in einem sehr breiten Sinne verwendet wird. Dazu gehören nicht nur physische Gewalt, Verstoßung und sexuelle Belästigung, sondern auch Vernachlässigung, Arbeitsverbote und Lohnkürzungen. Vgl. ebd., S. 438.

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tungsfähiger politischer Institutionen hinsichtlich einer good governance (gute Regierungsführung) setzt.154 Auch die Rolle externer Geber, die seit den 1990er Jahren in Marokko zu den Hauptunterstützern der NRO zählen, ist für die Aktivitäten der Frauenrechtsorganisationen maßgebend.155 Heutzutage gehört es zu den minimalen Standards der Geberorganisationen, eine Gleichstellungspolitik in den jeweiligen Länderprogrammen zu fördern, womit die Hoffnung auf weiterführende gesellschaftliche Veränderungen verknüpft ist. Dabei ist es nahezu eine Tatsache, dass Projekten für „Gender und Frauenrechte“ oft nur ausländische Gelder zur Verfügung stehen und kaum lokale Eigenleistungen eingefordert werden können.156 Der Staat wird durch die Geberorganisationen dadurch gewissermaßen aus der Verantwortung entlassen, sich für die Unterstützung von NRO und die Umsetzung internationaler Kodizes einzusetzen.157 Projekten in diesem Bereich haftet aus diesem Grund der Vorwurf der „Verwestlichung“ und des Kulturimperialismus an.158 Auch Nadia Yassine äußerte sich dahingehend im Interview, dass die Forderungen marokkanischer Frauenrechtlerinnen aus dem Westen importiert seien und die Reform des Familienrechts ein

154 Vgl. ebd. Good governance ist ein „im Rahmen der entwicklungspolitischen Debatte der 1990er Jahre entwickelter Sammelbegriff für Best Practices im Bereich des Regierungshandelns […]. Darunter versteht man u. a. die effiziente Gestaltung der öffentlichen Verwaltung und die Einbeziehung wichtiger gesellschaftlicher Gruppen und Minderheiten in die demokratische Entscheidungsfindung. Zunehmend wird darunter auch die Eindämmung von Korruption und Vetternwirtschaft verstanden, sowie die Errichtung rechtsstaatlicher und transparenter Beziehungen zwischen öffentlichem und privatem Sektor.“ Gabler Wirtschaftslexikon: „Good governance“. Im Kern geht es um das Zusammenspiel von Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit. 155 Internationale Geber wie das UNDP, UNICEF, aber auch deutsche Stiftungen und die „Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) sind in Marokko sehr aktiv. Bspw. werden durch die finanzielle Hilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung oder der Friedrich-Naumann-Stiftung Seminare zur Frauenfrage von lokalen NRO angeboten und Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Die Friedrich-Ebert-Stiftung half den Frauen-NRO auch bei der Vorbereitung der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking und wurde zum größten Finanzierer des Frauen-NRO-Netzwerks „Collectif 95 Maghreb Egalité“. Vgl. Brand 1998, S. 63ff; vgl. Moket 2007, S. 93f. 156 Vgl. Sadiqi 2003, S. 25. 157 Vgl. Brand 1998, S. 66. 158 Vgl. Holenstein 2008, S. 12.

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vom Westen diktiertes Projekt darstelle.159 Daher fehlen den internationalen Konventionen und Rechtsinstrumenten, die zweifelsohne wichtige Referenzen für die Strategiebildung, das Lobbying und das Agenda-Setting der lokalen Partnerorganisationen darstellen, in der Regel die lokale Verankerung und damit auch die gesellschaftliche Legitimation. Das Engagement von Frauenrechtlerinnen, ihre Forderung nach international verankerten Frauenrechten und das Hinterfragen lokaler Traditionen und Genderrollen birgt deshalb die Gefahr, der Zunahme bestehender gesellschaftlicher Polarisierung und Konflikte.160 Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es deshalb wichtig, dass Frauenrechte lokal gut verankert werden, sowohl auf politischer als auch auf kulturell-religiöser Ebene. Darüber hinaus gibt es auch zwischen den Gebern und den Empfängern finanzieller Fördermittel selbst einige Probleme, da nicht immer ein Konsens hinsichtlich der Umsetzung der gemeinsamen Ziele besteht. Während erstere sich über den Mangel an Koordination unter den Frauenorganisationen und ihren Mitarbeitern sowie über die zum Teil schwierige Zusammenarbeit mit Aktivistinnen beschweren, fordern letztere eine Unterstützung ein, die über rein projekt-spezifische Hilfsmittel hinausgeht und sich mehr auf die Hilfe und Betreuung in der Verwaltung und Führung der NRO konzentriert.161 Auch in der Verbreitung von Programmen und der Sichtbarkeit von NRO in der Gesellschaft gibt es einige Defizite, die auf fehlende Mittel für entsprechende Kampagnen hindeuten. Eine Umfrage der „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) von 1998 weist z. B. darauf hin, dass ein Großteil der befragten Frauen (ca. 70%) in den Städten nicht genügend über die zahlreichen Frauen-NRO und ihre Angebote informiert ist. Der Bekanntheitsgrad auf dem Land ist noch wesentlich geringer, zumal in ländlichen Gebieten nahezu keine NRO präsent sind.162

159 Interview am 26.11.2009 in Rabat. 160 Immer wieder kommt es vor, dass prominente Vertreterinnen von Frauenorganisationen in den Moscheen wegen ihres Engagements verleumdet werden, so etwa Aicha EchChenna von „Solidarité Féminine“. Mit solchen Angriffen wird der gesellschaftliche Rückhalt von Frauenorganisationen infrage gestellt, was letztlich auch die Sicherheit von Projekten und ihren Vertreterinnen gefährden kann. Vgl. Holenstein 2008, S. 11. 161 Vgl. Brand 1998, S. 66f. 162 Vgl. Freitag, Katrin/ Schneider, Katrin: Länderkurzprofil aus Gender-Sicht: Marokko. Informationen und Ansatzpunkte für eine kohärente Gender-Orientierung der Technischen Zusammenarbeit, Eschborn 2001, S. 9.

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7.4.1 Frauenrechtsorganisationen zwischen lokalen und globalen Kontexten Die marokkanischen Frauenrechtsorganisationen gehören zu den stärksten zivilgesellschaftlichen Akteuren Marokkos und setzen sich vornehmlich für die Rechte, Bildung und Alphabetisierung von Frauen sowie für die Verbesserung ihres Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen ein. Die Bandbreite ihrer Aktivitäten reicht von politischer Lobby- und Kampagnenarbeit über juristischen Beistand bis hin zur Ausbildung von Multiplikatorinnen.163 Seit den 1960er Jahren verbesserte sich im Zuge der Modernisierung des Landes der Lebensstandard von Frauen durch den Bildungszugang und der Verbesserung des Gesundheitswesens.164 Diese Rahmenbedingungen waren wichtig für die Mobilisierung von Frauen und die Entstehung unabhängiger Frauenorganisationen.165 Die heutige Frauenbewegung versteht sich selbst als Teil einer breiteren Bewegung der Zivilgesellschaft, die unter Berufung auf universale Menschenrechte für Demokratisierung und eine Differenzierung von Politik, Religion und Recht eintritt. Dabei werden Frauenrechte als konstitutives Element des Modernisierungsprozesses angesehen.166 Die Frauenrechtsorganisationen entstanden in den 1980er Jahren und gingen aus der marokkanischen Menschenrechtsbewegung, linken Parteien sowie der Studentenbewegung der 1970er Jahre hervor. Für die Gründung der Frauen-NRO war die „UN-Dekade für Frauen“ (1975-1985), zu deren Anliegen die Verbesserung der rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung von Frauen zählte, von großer Bedeutung. Sie förderte nicht nur die Formierung, sondern auch die Wiederbelebung der Frauen-NRO, die heute unabhängig von Parteien arbeiten.167 Zu den ersten und den aktivsten Frauenrechtsorganisationen gehören die „Association Démocratique des Femmes du Maroc“ (ADFM),168 die 1985 gegrün-

163 Vgl. ebd. Um ihre Mitglieder mit dem Völkerrecht und den rechtlichen Implikationen der CEDAW vertraut zu machen, bieten viele Frauen-NRO Schulungen an und in sogenannten caravanes civiques („Zivilkarawanen“) werden Frauen aus peripheren Regionen juristische Grundkenntnisse vermittelt. Vgl. Heintz [u. a.] 2006, S. 437. 164 Vgl. Lemrini El Quahabi 2005, S. 158ff. 165 Vgl. Moket 2007, S. 149. 166 Vgl. Dialmy 2008, S. 41. 167 Vgl. Sadiqi 2010, S. 327. 168 Mit dieser Frauenorganisation arbeitete ich während meiner Feldforschungen im Jahr 2009 und 2012 bis 2013 zusammen.

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det wurde und der sozialistischen Partei „Parti du Progrès et du Socialisme“ (PPS) nahestand, und die „Union de l’Action Féminine“ (UAF), die 1987 aus der „Organisation de l’Action Démocratique et Populaire“ (OADP) hervorging.169 Die ADFM war die erste offizielle Frauen-NRO und trat mit einem konkreten Programm des consciousness-raising auf, d.h. der Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen und ihre Integration in den Arbeitsmarkt, Alphabetisierungsprogramme, rechtliche und gesundheitliche Unterstützung, Seminare und Tagungen zu Themen wie rechtliche Bildung und Prostitution. Für eine Weile veröffentlichte sie die Zeitschrift „Nisa‘ al Maghrib“ („Marokkos Frauen“).170 Nachdem die ADFM entscheidend an der Familienrechtsreform mitgearbeitet hatte, gehört zu ihren Aktivitäten heute v.a. der Kampf gegen häusliche Gewalt, indem sie sie öffentlich thematisiert und aufzuweisen versucht, dass Gewalt gegenüber Frauen ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt. In sogenannten „Centres d’écoutes“ („Anhörungszentren“) bietet die ADFM Opfern häuslicher Gewalt eine Anlaufstelle an und berät sie bei Rechtsfragen. Darüber hinaus hat die Organisation bereits 1997 das „Centre Nejma“ gegründet, ein Zentrum für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, das ihnen rechtliche Betreuung bietet und die Implementierung von institutionellen Verfahren zum Schutz von Frauen fördert.171 Die 1987 gegründete UAF unterstützte ebenso Alphabetisierungskurse, rechtliche und medizinische Versorgung, aber auch die Gründung von Jugendzentren und Vereinen.172 Diese Organisation gründete 1983 auch die arabisch-sprachige feministische Zeitschrift „8. Mars“ („8. März“), die es heute noch gibt. Darüber hinaus gründete die UAF 15 regionale Zweigstellen und vier weitere in Frankreich.173 Seit den 1990er Jahren gibt es ein breites Spektrum von Frauen-NRO, die international wie national stark vernetzt sind. Viele Frauenorganisationen haben sich internationalen arabischen Netzwerken angeschlossen, wie etwa dem „Arab Women’s

169 Vgl. Freitag/ Schneider 2001, S. 10; vgl. Lemrini El Quahabi 2005, S. 162. 170 Vgl. Brand 1998, S. 51. 171 Eine Datenbank soll Verbrechen an Frauen protokollieren und als Instrument dienen, die Regierung zur Reform des Strafgesetzbuchs zu bewegen. Vgl. Homepage der ADFM, abrufbar unter: http://adfm.ma/spip.php?article429&lang=en (12.10.2011). 172 Die Schlüsselfigur stellte Latifa Jbabdi dar, eine Frauenrechtlerin, die auf eine lange rechtsaktivistische Vergangenheit zurückblickt und deswegen sogar zweieinhalb Jahre im Gefängnis verbrachte. Vgl. Brand 1998, S. 52. 173 Vgl. ebd.

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Court“‚ „Women Living Under Muslim Laws“ (WLUML), „Femmes Maghreb 2002“ oder „Collectif 95 Maghreb Egalité“.174 Erwähnenswert im Kontext der vorliegenden Arbeit ist die Organisation „Solidarité Féminine“ („Weibliche Solidarität“), die sich um ledige Mütter kümmert.175 Wie bereits beschrieben, werden außerehelich gezeugte Kinder gesellschaftlich marginalisiert und ihre Mütter als Prostituierte stigmatisiert. Die von Aicha EchChenna geleitete Organisation bietet alleinerziehenden Frauen Alphabetisierungskurse, Ausbildungsplätze und eine Kinderbetreuung an. Zwei Garküchen, mehrere Kioske und ein Hammam wird von „Solidarité Féminine“ geleitet und gewährleistet den Müttern Beschäftigung sowie ein eigenes Einkommen.176 Ihr Engagement begründet Ech-Chenna primär mit der Sorge um die Kinder, die als vaterlose einen ungeklärten Zivilstatus haben. Würde man ihre Mütter nicht unterstützen, so EchChenna, würden sie sie aus Verzweiflung und Perspektivlosigkeit wahrscheinlich aussetzen. Schuld tragen dabei ihrer Meinung nach nicht die Frauen, sondern die Gesellschaft und ihre Doppelmoral. Die gelernte Krankenschwester und Sozialarbeiterin hat für ihre Arbeit, wofür sie anfangs von Geistlichen beschimpft und als Unterstützerin der Prostitution diffamiert wurde, inzwischen mehrere Auszeichnungen erhalten – auch von König Mohammed VI. persönlich.177 Nichtsdestoweniger erhält die Organisation auch heute noch Drohungen und Anschuldigungen, sie würde sich gegen gesellschaftliche Traditionen stellen und die Prostitution rechtfertigen.178 „Solidarité Féminine“ hat keinen politischen Anspruch, sondern setzt eher auf die individuelle Stärkung von Frauen, mit der Hoffnung, gesellschaftliche Wandlungsprozesse voranzubringen.179 Aicha Ech-Chennas Initiative zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie durch Sensibilisierung und unermüdlichen Einsatz einer charismatischen Führungsfigur selbst tabuisierte Themen in Marokko als Bestandteil der Gesellschaft akzeptiert und im besten Fall sogar als notwendig erachtet werden. Ihre NRO leistet einen wichtigen Beitrag für die sexuelle Aufklärung und fungiert als ‚Katalysator‘ eines neuen Sexualdiskurses.

174 Vgl. Maghraoui 2001, S. 19. 175 Die NRO „INSAF“ ist eine weitere Organisation, die ebenfalls in Casablanca ansässig ist und seit 1999 ledigen Müttern als Anlaufstelle dient. 176 Vgl. Scheider 2011, S. 200. 177 Vgl. ebd. 178 Vgl. Dialmy 2005, S. 26. 179 Vgl. Holenstein 2008, S. 13.

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Die „Ligue Démocratique pour les Droits des Femmes“ (LDDF) („Demokratische Liga für Frauenrechte“) ist eine laizistische NRO, die – wie ADFM – maßgebend an der Reform des Familienrechts mitgearbeitet hat. Ihre Mitglieder gehörten zu den führenden Vertreterinnen im NRO-Netzwerk „Printemps de l’Egalité“ („Frühling der Gleichheit“), das sich mit fundierten Kenntnissen der geltenden Gesetze und religiöser Texte profilieren konnte und sich gleichzeitig mit viel Erfahrung aus der Basisarbeit einbrachte.180 Die LDDF leitet ein Projekt namens „Bayti“ („Mein Haus“) zur Unterstützung von Straßenkindern in Casablanca. Ziel des Projekts ist es, Kinder von der Straße zu holen und ihnen eine Perspektive zu geben.181 Zu Beginn des „Arabischen Frühlings,“ der in Marokko auf den 20. Februar 2011 datiert ist, waren die Frauenrechtsorganisation noch auf den Straßen präsent und boten der „Bewegung des 20. Februar“ („Mouvement du 20. Février“)182 logistische Unterstützung und ihr Know-how an. Sie organisierten Protestmärsche in Casablanca und Rabat, bei denen sie die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen und die Verankerung einer absoluten Geschlechtergleichheit in der Verfassung forderten. Sie gründeten eigens für das von der Regierung angekündigte Referendum für eine Verfassungsreform das Bündnis „Printemps de la Dignité“ („Frühling der Würde“), die in Analogie zum „Printemps de l‘Égalité“ („Frühling der Gleichheit“) steht, welches maßgeblich die Reformvorschläge des Familienrechts im Jahr 2004 erarbeitet hatte. Das Bündnis reichte unter der Leitung der ADFM, der Reformkommission in Form eines umfassenden Memorandums Vorschläge ein, die den Schutz von Frauenrechten gewährleisten sollten und die zum Großteil in der neuen Verfassung inkludiert worden sind.183 In der Präambel der neuen marokkanischen Verfassung wurde festgeschrieben, dass unterzeichnete internationale Verträge Vorrang vor inländischem Recht haben.184 Artikel 19 schließt die Gleichheit zwischen Männern und Frauen hinsicht-

180 Vgl. ebd., S. 17. 181 Vgl. ebd., S. 16. Dieses Projekt ist einmalig in Marokko und besonders in Casablanca vonnöten, wo ca. 10.000 Straßenkinder leben und Gefahr laufen, Opfer von Prostitutionsringen und/oder der Drogenmafia zu werden. Vgl. Maghraoui 2001, S. 16. 182 Die Namensgebung der Bewegung verweist auf das Datum der ersten Großdemonstration im Zuge des sogenannten „Arabischen Frühlings“ in Marokko. 183 Printemps de la Dignité: Memorandum. Pour une législation pénale qui protège les femmes contre la violence et prohibe la discrimination, Juli 2011. 184 Dies war ein Vorschlag, den das CEDAW-Komitee bereits in 2008 abgegeben hat. Vgl. FIDH 2012, S. 74.

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lich ihrer zivilen, politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Rechte ein. Im gleichen Artikel wird auch festgehalten, dass der Staat verpflichtet ist, die Gleichstellung zwischen Mann und Frau zu forcieren. Aus diesem Anlass soll die Gründung einer Institution, die die Gleichstellung von Männern und Frauen und die Beseitigung von geschlechtsspezifischer Diskriminierung gewährleisten soll, etabliert werden. In Artikel 30 der neuen Verfassung wird explizit das Wahlrecht und das Recht auf eine Kandidatur für ein politisches Amt für Männer und Frauen formuliert. Artikel 115 schreibt eine Frauenquote im Obersten Justizrat aus den zehn gewählten Mitgliedern vor. In Artikel 146 wird die Gewährleistung einer stärkeren Partizipation von Frauen im Regierungspräsidium vorgeschrieben. Die wichtigste Gesetzesänderung für die Frauenrechts-NRO war Artikel 19. Seit seiner Verkündung in der neuen Verfassung am 1. Juli 2011, war ein sichtbarer Rückgang ihres Engagements in der Protestbewegung „Mouvement du 20. Février“ zu verzeichnen. Vereinzelt traten einige Aktivisten bei den Demonstrationen auf, aber nicht als Mitglieder der Frauen-NRO, sondern als Privatpersonen. Dies ist der Kritikpunkt, den die jugendlichen Demonstranten und unabhängige Frauen- und Menschenrechtler an ihnen äußerten. Die Menschenrechtsorganisation AMDH war eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen, die die „Bewegung des 20. Februar“ aktiv bei der Protestorganisation und -Koordination unterstützte. Die restlichen offiziellen Vertreter der marokkanischen Zivilgesellschaft hielten sich auffallend zurück, sowohl bei den Demonstrationen selbst, als auch bei der Unterstützung der Protestbewegung. Das kann an der Kooptierung der Mitglieder seitens der Regierung gelegen haben, oder auch daran, dass man die eigenen Ziele aufgrund des unsicheren Ausgangs der Proteste nicht gefährden wollte, v.a. dann nicht, wenn man sich nach jahrelanger Arbeit auf Kompromisse mit der Regierung eingelassen hatte. Unterstützung fanden die Demonstranten durch linke Parteien wie dem „Congrès National Ittihadi“ (CNI), der „Parti Socialiste Unifié“ (PSU) und der radikale Linken „Parti de l’Avant-garde Démocratique et Socialiste“ (PADS).185 Zu den Gruppen, die kontinuierlich am Protestverlauf partizipierten, zählte die kleine Bewegung „Mouvement Alternatif pour les Libertés Individuelles“ (MALI), die „Chômeurs Diplômés“ (arbeitslose Akademiker), „Attac Maroc“, die Amazigh-Bewegung und zu einem großen Teil die islamistische Bewegung „Al-ʿAdl wa-l-Ihsan“.

185 Die Jugend(sektion) der traditionsreichen sozialistischen Oppositionspartei „Union Socialiste des Forces Populaires“ (USFP) war nur zu Beginn der Proteste dabei.

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Die Beteiligung von „Al-ʿAdl wa-l-Ihsan“ wurde von einigen der von interviewten Jugendlichen und säkularen Intellektuellen als Grund aufgeführt, weshalb sie nicht an den Protesten partizipierten. So teilte mir z. B. Naima Zitan mit: „Ich möchte nicht Seite an Seite mit radikalen Islamisten laufen“.186 Diese ideologische Diversität hat letztendlich zu einer Schwächung der Protestbewegung beitragen. Bereits zu Beginn der Proteste konnten sich die unterschiedlichen Gruppierungen in vielen Punkten nicht mit den Islamisten einig werden, insb. was das Thema Gleichberechtigung der Geschlechter anbetraf. Auch bei den Demonstrationen selbst löste das Verhalten der Islamisten Befremden bei den säkularen Demonstranten aus, denn „Al-ʿAdl wa-l-Ihsan“ demonstrierte getrennt nach Geschlechtern: die Männer liefen vorne und die Frauen hinten. Ein weiterer Grund für das Scheitern der Bewegung bestand darin, dass z. B. die Mehrheit meiner Interviewpartner sich nicht mit den anderen Mitgliedern der Bewegung – ob mit der politischen Linken oder den islamistischen Akteuren – identifizieren konnte. Einige meiner Interviewpartner äußerten sich wie folgt dazu: „Es sind doch laizistische Jugendliche aus der oberen Gesellschaftsschicht“ oder „Marokko ist ein muslimisches Land und wir teilen ihre Forderungen nicht.“ Außerdem stammen viele meiner Interviewpartner selbst aus der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht und sahen aufgrund ihres Lebensstandards keinen Grund zum Demonstrieren. Während sie Verständnis für die Demonstranten in Tunesien oder Ägypten zeigten, waren viele der Meinung, dass es ihnen in Marokko aufgrund des Königs sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht gut ginge. Von vielen meiner Interviewpartner wurden die Institution der Monarchie und insbesondere der König häufig als Stabilitätsgarant betrachtet. Auch das Fehlen eines klaren Programms der Protestbewegung wurde vielfach als Grund für die Abwesenheit der von mir befragten Jugendlichen und generell für das Scheitern der Bewegung genannt. 7.4.2 Der Moudawanna-Reformprozess Die Arbeit der Frauen-NRO ist eng mit dem Familienrecht verknüpft, weil in ihm der Ursprung aller Diskriminierungen gegenüber Frauen gesehen wurde.187 Entsprechend reichen ihre Bemühungen hinsichtlich einer Reform des Familienrechts bis zu den Anfängen ihrer Entstehung zurück.

186 Interview am 13.11.2013 in Rabat. 187 Interview mit Fatima Sadiqi am 22.06.2013 in Fès.

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In nahezu allen arabischen Staaten schreibt die Familiengesetzgebung in unterschiedlich starker Ausprägung die Ungleichheit von Frauen und Männern fest. Auf diesem Modell der Komplementarität basierte das marokkanische Familienrecht, das bis 2004 in Kraft war und Frauen ein Leben lang zu Unmündigen machte. In der marokkanischen Verfassung hingegen sind bereits seit 1962 die gleichen Rechte von Männern und Frauen verankert.188 Demnach waren Männer und Frauen politisch gleichberechtigt und besaßen das aktive Wahlrecht. Ebenso hatten sie das gleiche Recht auf Bildung und Arbeit sowie Zugang zu öffentlichen Ämtern. Allerdings bestand eine Diskrepanz zwischen den in der Verfassung postulierten Rechten und den Vorschriften des Familienrechts sowie des Strafrechts. Die Frauen lebten folglich unter zwei verschiedenen Rechtssystemen: dem öffentlichen, das auf internationalen Standards, also auf der Verfassung und internationalen Abkommen beruhte, und dem privaten, das auf islamischem Recht basierte. Das Familienrecht gilt als das „‘Herzstück‘ des Geschlechterdiskurses“.189 Änderungen des Familienrechts gelten generell als problematisch, da es auf islamischem Recht basiert und als sakral definiert wird: „The existing religious codes are considered to be divine, and their source is God, not society.“190 Weil das religiöse Gesetz als absolut und ewig gültig aufgefasst wird, führt seine Infragestellung meist zu ideologisch geführten Debatten, v.a. um die Punkte Polygamie, Scheidung, Vormundschaft, Heiratsalter und das Sorgerecht der Kinder, die ein beträchtliches Konfliktpotential entfalten können. Nach verschiedenen Reformabläufen, die am Widerstand konservativ-religiöser Kräfte und der islamistischen Bewegung scheiterten, ist seit 2004 ein neues, egalitär ausgerichtetes Familienrecht in Kraft. Im Folgenden wird der Reformprozess skizziert und anschließend werden die wichtigsten Reformpunkte aufgezeigt. Seit 1991 wurden von Seiten der Frauenrechtsorganisationen Forderungen nach einer Reform des Familienrechts, insb. hinsichtlich der Verbesserung des Frauenstatus, erhoben, welche sich zunehmend zu einer ausgedehnten Debatte entwickelten.191 Vor diesem Hintergrund starteten sie im Frühjahr 1992 eine Aktion, bei der sie eine Million Unterschriften für eine Petition für die Änderung des Gesetzestextes sammelten. Die von der Frauenbewegung geforderte radikale Reform des Familienrechts scheiterte am Widerstand der islamistischen Bewegung und konser-

188 Vgl. La Constitution Marocaine 1962, Artikel 8. 189 Schneider 2011, S. 10. 190 Barakat 1993, S. 113. 191 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 393.

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vativer Rechtsgelehrter, die die Kampagne als ein vom Westen importiertes Projekt und als einen Angriff gegen den Islam werteten. Dies führte sogar dazu, dass gegen die Initiatorinnen eine Fatwa (islamisches Rechtsgutachten) ausgesprochen wurde, die ihren Tod forderte.192 Die Regierung sah sich aufgrund der islamistischen Opposition gezwungen, das Reformprojekt vorerst zu unterbrechen, reformierte das Familienrecht aber ein Jahr später 1993.193 Allerdings handelte es sich hierbei nur um kosmetische Korrekturen, denn das Gesetz enthielt keine nennenswerten rechtlichen Neuerungen194 und behielt das Prinzip der geschlechterbezogenen Diskriminierung bei. Die Frauenrechtsorganisationen gaben sich mit dieser Reform nicht zufrieden und übten weiterhin Druck auf die Regierung aus. Als König Mohammed VI. 1999 an die Macht kam, erhob er durch seine Ankündigung, die Menschen- und Frauenrechtslage zu verbessern, den Gleichstellungsdiskurs auf eine höhere politische Ebene. Ein erneuter Anlauf, das Familienrecht zu reformieren, wurde im Jahr 2000 im Rahmen eines „Aktionsplans für die Integration der Frau in die Entwicklung“ (PANIFD)195 von der Regierung initiiert. Dieser Plan wurde unter der Zusammenarbeit mit Frauenrechtsorganisationen in die Wege geleitet, musste jedoch im März 2000, aufgrund erneuten Widerstands des konservativ-religiösen Lagers, abgebrochen werden.196 Um dem Konflikt über den Frauenintegrationsplan entgehen zu können, verschob die Regierung die Angelegenheit in den Bereich des Religiösen und damit in

192 Vgl. Brand 1998, S. 71; vgl. Lemrini El Quahabi 2005, S. 161f. 193 Die Unterzeichnung der UN-Frauenrechtskonvention durch Hassan II. im Jahre 1993 begünstigte die Reform. 194 Außer der Einschränkung der Verstoßung der Frau, dem Verbot der Zwangsheirat und der Erlaubnis für Frauen, einen Pass zu beantragen. 195 Im „Plan d’action nationale pour l’intégration des femmes au développement“ werden die Verbesserung in der Grund- und Berufsausbildung, der Gesundheitsversorgung, im Rechtsbereich sowie der Repräsentanz von Frauen in der Politik, Wirtschaft und öffentlichen Institutionen vorgeschrieben. 196 Den Höhepunkt des Widerstands bildete eine von Islamisten organisierte Gegendemonstration in Casablanca, die mit ca. 500.000 bis 700.000 Demonstranten weit mehr Menschen mobilisieren konnte als die Reformbefürworter bei ihrer zuvor stattgefundenen Großdemonstration in Rabat, bei der lediglich 40.000 bis 50.000 Demonstranten teilnahmen. Vgl. Cavatorta 2006, S. 216. Dies verdeutlicht die Interessenskonflikte in der marokkanischen Gesellschaft und zeigte vorerst die Grenzen politischer Handlungsspielräume der Reformbefürworter auf.

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den Aufgabenbereich des Königs als „Befehlshaber der Gläubigen“ (ʿamir almou’minine). Er berief im Jahre 2001 eine Kommission zur Reform des Familienrechts ein, bestehend aus Juristen, religiösen Rechtsgelehrten, dem Minister für islamische Angelegenheiten und drei Vertreterinnen des Frauenrechtsnetzwerks „Printemps de l’Egalité“, die ihm bis Ende 2002 Reformvorschläge unterbreiten sollte. Das Bündnis „Printemps de l’Egalité“, dem ursprünglich neun197 und mittlerweile dreißig Frauenorganisationen angehören,198 wurde im Jahre 2001 eigens für die Familienrechtsreform gegründet. Durch fundierte Kenntnisse der geltenden Gesetze sowie der religiösen Texte und mit Hilfe verschiedener Strategien, darunter Öffentlichkeitsarbeit, Beeinflussung von Entscheidungsträgern, Sensibilisierungskampagnen, Demonstrationen und einem umfangreichen Memorandum,199 wurde versucht, im Namen der Zivilgesellschaft Einfluss auf die „Königliche Reformkommission“ zu nehmen.200 Das Memorandum enthielt die Forderung nach einer radikalen Reform des Familienrechts, der Loslösung von seiner sakralen Aura und der Einhaltung globaler Kodizes, die auf der Gleichheit zwischen Männern und Frauen basieren. Des Weiteren stand das Netzwerk während des gesamten Reformprozesses in engem Kontakt zur Reform-Kommission und suchte nach Unterstützung bei politischen Parteien.201 Darüber hinaus wurde die UN-Anti-Gewalt-Kampagne „16 Days of Activism Against Gender Violence“ als weiteres Druckmittel eingesetzt, um die Reform voranzubringen. In diesem Rahmen demonstrierten Menschen- und Frauenrechtsaktivisten landesweit vor Gerichten, die symbolisch für die Unterdrückung von Frauen, als „legal institution that discriminates women“202 angehen wurden. Das Netzwerk „Collectif 95 Maghreb Egalité“ gab außerdem Handbücher heraus, die als

197 Diese bestanden u. a. aus den größten Frauenrechtsorganisationen ADFM, „Association Marocaine des Droits des Femmes“ (AMDF), UAF, LDDF und Mitgliedern des Netzwerks „Collectif 95 Maghreb Egalité“. Vgl. Lemrini El Quahabi 2005, S. 176. 198 Vgl. ebd., S. 168. 199 Die Frauenrechtlerinnen forderten darin u. a. die Gleichsetzung des Heiratsalters für beide Geschlechter auf 18 Jahre, freie Wahl der Ehepartner, Verbot der Polygamie, das Recht geschiedener Frauen auf erneute Heirat und Gleichheit in der Erbschaft. Vgl. ebd., S. 172. 200 Vgl. Rhiwi, Leila: „La réforme du code marocain de la famille“, in: Ceras-Revue, Projet n°282, (September) 2004. 201 Vgl. Lemrini El Quahabi 2005, S. 173. 202 Ebd., S. 174.

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Leitfaden eigens für die Durchsetzung der Reform konzipiert wurden, worin religiöse Argumente mit den Bestimmungen der UN-Menschenrechtskonvention kombiniert wurden und auf die in der Verfassung verankerte Gleichberechtigung der Geschlechter verwiesen. Somit stellte die Frauenbewegung eine der Hauptkräfte dar, die die Reform des Familiengesetzes in die Wege geleitet haben. Nachdem die Reform verabschiedet wurde, boten Frauenorganisationen Aufklärungskurse, um die Bestimmungen der Reform der Bevölkerung nahezubringen, und Rechtsbeistand an, wie z. B. die LDDF, die eigens dafür das Netzwerk „LDDF Assistance“ gegründet hatte.203 Um erneute Konflikte und Proteste von konservativer oder islamistischer Seite zu vermeiden und die Bevölkerung für die nachfolgenden Prozesse zu sensibilisieren, stellten die „Printemps de l’Egalité“-Kampagnen der Reformbewegung auch konkrete Frauenschicksale in den Vordergrund, 204 die von den Medien aufgegriffen wurden und auf diese Weise den öffentlichen Diskurs zusätzlich intensivierten. Anhand akribischer Dokumentation der schwierigen Lebensumstände und alltäglicher Probleme vieler Frauen, konnten die Frauenrechtlerinnen überzeugend aufzeigen, dass das frühere Familienrecht auf viele Probleme nur ungenügende oder diskriminierende Antworten zu geben vermochte und dass die religiösen Quellen durchaus auch andere Interpretationen zuließen. Durch die Anwendung des iğtihād, welches den Frauenrechtlerinnen zufolge nicht das alleinige Recht der ʿulamāʾ (islamischer Rechtsgelehrter), sondern das eines jeden Muslims sei, und die Unterstützung des Königs, schufen sie sich eine Argumentationsebene, die religiös legitimiert war und sie vor Angriffen und Beschuldigung der Apostasie und ‚Verwestlichung‘ schützte.205 Dadurch haben sie sich eine Legitimationsgrundlage geschaffen, gewisse Regeln, Bräuche und Werte

203 Frauen werden hierbei in Rechtsfragen beraten, z. B. bzgl. Scheidung und, nach Wunsch, vor Gericht begleitet. Vgl. Faath 2005, S. 134. 204 So z. B. Gewalt in der Ehe, Polygamie, die einseitige Verstoßung der Frau durch den Mann ohne Unterhaltsrechte, die Verheiratung von Mädchen mit 15 Jahren und andere Probleme, mit denen Frauen konfrontiert waren. Durch die Darstellung dieser Schicksale sollte die gesellschaftliche Dysfunktionalität des rechtlichen Basisgedankens der Moudawanna (Familienrecht) herausgestellt werden. Vgl. Rhiwi 2004. 205 Vgl. Buskens 2003, S. 119f.

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ihrer Gesellschaft kritisch zu hinterfragen.206 Damit gelang es ihnen, die Debatte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und aus einem religiösen, ein soziales Thema zu machen. Das reformierte Familienrecht wurde durch moderne Rechtsfindung (iğtihād) an die lokale Kultur angepasst, indem man nachzuweisen versuchte, dass die Idee der Menschenrechte bereits im Koran enthalten sei. Dadurch versuchte man den ursprünglichen Antagonismus zwischen Menschenrechten und Islam aufzulösen und in die Frage zu übersetzen, wie sich der globale Menschenrechtsdiskurs an unterschiedliche kulturelle Traditionen anschließen ließe.207 Dies war auch im Sinne der säkularen Frauenrechtsorganisationen, für die das neue Gesetz zwar weiterhin einen Kompromiss darstellte, mit dem sie aber weitestgehend zufrieden waren, weil ihnen bewusst war, dass eine Reform des Familienrechts in einem Land mit islamischer Staatsreligion und einer derart einflussreichen Opposition nur mit religiösen Argumenten politisch umsetzbar war.208 Ein nicht unwesentlicher Faktor bei der Umsetzung der Reform war das politische Klima nach den Attentaten von Casablanca im Mai 2003. Nach den Anschlägen herrschten in Marokko ein Klima der Angst und der Repression sowie ein Generalverdacht gegenüber allen islamistischen Gruppierungen. Deshalb waren die größten Reformkritiker – wie die Partei PJD und die Organisation „Al-ʿAdl wa-lIhsan“ – zur Zurückhaltung gezwungen, um Repressionen von Staatsseite zu vermeiden.209 Darüber hinaus wurde ihnen auch aufgrund des Prinzips der religiösen Textauslegung (iğtihād), auf dem die Reform basiert, und dem Ausspruch des Königs bei der Gesetzesverkündigung: „Ich kann, in meiner Funktion als Befehlshaber der Gläubigen, weder erlauben, was Gott verboten hat, noch verbieten, was der Allmächtige erlaubt hat“210 kein Anlass zu Protesten geboten. Dieser Ausspruch und die Anpassung an die Forderungen konservativer Kreise, das Gesetz islamisch zu

206 Diese Fragen wurden anschließend mit den Frauen diskutiert. In diesen Sitzungen wurden sie von den Frauenrechtlerinnen auch über ihre Rechte aufgeklärt, während u. a. traditionelle Geschlechterrollen beleuchtet wurden. Vgl. Holenstein 2008, S. 14. 207 Vgl. Heintz et al. 2006, S. 438. 208 Vgl. Blumenthal 2003, S. 12. 209 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 404. 210 „Je ne peux, en Ma qualité d’Amir Al Mouminine, autoriser ce que Dieu a prohibé, ni interdire ce que le Très-Haut a autorisé.“ Femmes du Maroc. Edition spéciale, (Oktober) 2003, S. 8. Übers. d. Verfasserin.

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fundieren, und ihr somit religiöse Legitimität zu verleihen, zeugen von der Strategie des Königs, erneuten Widerstand seitens konservativer Kreise zu vermeiden. In seiner Rede zur Einführung des Familienrechts am 10. Oktober 2003 zitierte der König außerdem Koranstellen und Aussprüche des Propheten Mohammed (Hadithe) und verwies explizit auf die „Heiligkeit der Bestimmungen“211 des neuen Rechtstextes. Das neue Familienrecht wurde zwar formal vom Parlament verabschiedet, seine Legitimation erhielt es aber im Wesentlichen durch die aktive Unterstützung des Königs. Des Weiteren unterstreicht die Tatsache, dass er die Reform nicht einfach per Dekret erließ, sondern dem Parlament zur Ratifikation vorlegte, seine Bereitschaft für gesellschaftlichen Dialog.212 7.4.3 Das neue Familienrecht Die neue Moudawanna, die zur Unterstreichung ihres neuen Charakters den französischen Beinamen „Code de la Famille“ erhielt, ist seit Januar 2004 in Kraft. In der Präambel verweist der König auf die Verankerung und den Zusammenhang des Gesetzes mit den „toleranten Zielen des Islam“, der die Menschenwürde, Gleichheit und harmonischen Beziehungen befürworte und auf die malikitische Rechtsschule sowie den iğtihād, auf dem das neue Recht basiert.213 Mit dem oben erwähnten

211 „Nous attendons de vous d’être à la hauteur de cette responsabilité historique, tant par le respect de la sacralité des dispositions du projet, qui s’inspirent des desseins de notre religion généreuse et tolérante, qu’à l’occasion de l’adoption d’autres dispositions.“ Übers. d. Verfasserin: „Wir erwarten von Ihnen, den Anforderungen dieser historischen Verantwortung gewachsen zu sein, indem Sie die Heiligkeit der Bestimmungen des Projekts, der durch die Absichten unserer großzügigen und toleranten Religion sowie durch die Veranlassung zur Verabschiedung der übrigen Bestimmungen [UNMenschenrechtskonvention, UN-Frauenrechtskonvention etc.] inspiriert ist, anerkennen.“ Femmes du Maroc 2003, S. 9. 212 Vgl. Zuber 2006. 213 „Il est nécessaire de s’inspirer des desseins de l’Islam tolérant qui honore l’Homme et prône la justice, l’égalité et la cohabitation harmonieuse, et de s’appuyer sur l’homogénéité du rite malékite, ainsi que sur l’Ijtihad qui fait de l’Islam une religion adaptée à tous les liens et toutes les époques, en vue d’élaborer un Code moderne de la Famille, en parfaite adéquation avec l’esprit de notre religion tolérante.“ Übers. d. Verfasserin:

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Ausspruch, er könne nicht verbieten, was Gott erlaubt habe und gestatten, was Gott verboten habe, verwies Mohammed VI. einerseits auf die religiöse Legitimität und andererseits auch auf die Grenzen der Reform. Um erneute Widerstände konservativer Kräfte zu vermeiden, merkte er in seiner Rede an, dass die Reform nicht als Sieg einer Gruppe über die andere, sondern als eine Entwicklung zum Wohle aller Marokkaner verstanden werden sollte. Ferner solle das Familienrecht nicht als Gesetz für die Frau allein missverstanden werden, sondern vielmehr als ein Gesetz für die ganze Familie betrachtet werden, mit dem gewährleistet werden solle, dass die Diskriminierung der Frau unterbunden, die Rechte der Kinder geschützt und die Würde des Menschen bewahrt würden.214 Seine Rede verdeutlicht seine Funktion als Mediator zwischen konservativen Kräften einerseits, also der ʿulamāʾ und den Islamisten, und den Reformbefürwortern andererseits, also den säkularen Frauenund Menschenrechtsorganisationen sowie sozialistischen politischen Parteien im gesamten Reformprozess, und welch wichtigen Stellenwert das Anliegen für ihn hinsichtlich der Modernisierung des Landes hatte: „How can we talk about the progress and development of society when women, who constitute half of this society, are denied rights? Our true religion, Islam, grants them rights which are not respected. They are equal to men.“215

Nach den alten Bestimmungen des Familienrechts war der Mann für die Frau verantwortlich und zum Unterhalt der Frau verpflichtet. Im ersten Artikel des neuen Familienrechts (Art.1, „Mitverantwortung“) blieb das Prinzip der Komplementarität der Geschlechter zwar weiterhin erhalten, aber die absolute Gehorsamspflicht der

„Es ist notwendig, sich von der Absicht des toleranten Islam inspirieren zu lassen, der den Menschen würdigt und die Gerechtigkeit, Gleichheit und ein harmonisches Zusammenleben fördert, und sich auf den malikitischen Ritus und den Ijtihad zu verlassen, der den Islam zu einer gerechten Religion macht, für alle Bindungen und alle Epochen [soll heißen: verbindlich für alle Zeit], im Hinblick auf die Erarbeitung eines modernen Familienrechts, das in perfekter Harmonie zu unserer Zeit und unserer toleranten Religion steht.“ Anonymus: Recueil des textes législatifs. Code de la famille et ses textes d’application, B.O. Nr. 5358, o. O. (6.10.2005), S. 12. 214 Vgl. Anonymus: „Discours Royal du 10 octobre“, in: Femmes du Maroc. Edition spéciale (Oktober) 2003, S. 8; vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 406. 215 Ebd., S. 409. Damit bedient er sich im Grunde der Rhetorik islamischer Feministinnen. Vgl. Daoud 1996, S. 342.

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Frau gegenüber ihrem Ehemann wurde abgeschafft.216 Die Ehe bleibt weiterhin eine Art „Vertragsverhältnis“, aber es wird im Gesetzestext auf ein gleichberechtigtes und reziprokes Ehe- und Familienmodell hingewiesen und von einer nach den Geschlechtern kategorisierten Aufgabenzuschreibung abgesehen. Darüber hinaus wird die Ehe von nun an nur dann als legitim betrachtet, wenn sie vom Richter vollzogen wird und ein Notar zugegen ist. Sogenannte ‚religiöse Ehen‘ (Fatiha-Ehen), die von einem Imam vollzogen worden sind, werden nicht anerkannt. Wie bereits hingewiesen wurde, werden solche Hochzeiten insb. auf dem Land immer noch v.a. mit minderjährigen Mädchen praktiziert. Diese Hochzeiten ergeben sich aus der Angst um die Jungfräulichkeit der ledigen Tochter und aus finanziellen Gründen.217 Im Falle einer Verstoßung der Frau seitens des Mannes bleibt sie mittellos zurück, wenn aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind, gelten sie als illegitim und der Frau bleibt im besten Fall einzig die Möglichkeit, ins Elternhaus zurückzukehren.218 Die Vormundschaft der Frau wurde abgeschafft. Artikel 24 (wilaya, „Vormundschaft“) des reformierten Familiengesetztes besagt, dass Frauen ohne Zustimmung eines männlichen Familienmitglieds heiraten, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder eine Scheidung beantragen können. Ihr steht es offen, ob sie sich für oder wider einen Vormund entscheidet.219 Mit dieser Gesetzesnovelle sollte auch die Praxis der Zwangsheirat eingedämmt werden, bei der es häufig genügte, wenn der Vormund (wāli) der Frau an ihrer statt sein Einverständnis für eine Hochzeit gab. Das Heiratsalter (Art. 19), welches vor der Reform für Mädchen 15 Jahre und für Jungen 18 Jahre betrug, wurde für beide Geschlechter auf 18 Jahre heraufgesetzt.220 Mit dieser Bestimmung wurde die Verheiratung Minderjähriger explizit verboten. Ausnahmen sind fortan nur mit richterlicher Genehmigung möglich (Art. 20). Für das Jahr 2012 konnte ermittelt werden, dass etwa 12,8% der 15 bis 18 Jahre alten Mädchen verheiratet worden sind.221

216 Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 21; vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 404f. 217 Vgl. Daoud 1996, S. 257. 218 Vgl. Vogel, Wolf-Dieter: „Marokkanischer Feminismus. Emanzipation mit dem Koran?“, in: Qantara.de – Dialog mit der islamischen Welt (7.02.2011). 219 Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 20; vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 404. 220 Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 20. Dadurch soll der Brauch der Heirat von Minderjährigen eingedämmt werden und Mädchen die Möglichkeit eingeräumt werden, einen Schulabschluss zu erreichen. 221 Vgl. FIDH 2012, S. 75.

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Obgleich die Polygynie in Marokko kein weit verbreitetes Phänomen ist, ist sie stark eingeschränkt worden und nur in äußersten Ausnahmefällen möglich, da sie nur auf richterlichen Beschluss erfolgen darf (Art. 40).222 Im Allgemeinen erlaubt das Gericht die Polygynie nicht, wenn zum einen die Notwendigkeit einer Mehrehe seitens des Mannes nicht belegt werden kann – z. B. im Falle einer Unfruchtbarkeit der ersten Ehefrau – und zum anderen wenn dieser außerstande ist, eine Gleichbehandlung beider Ehefrauen zu gewährleisten und wenn er nicht über die finanziellen Ressourcen verfügt, die benötigt werden, um beide Familien zu unterhalten. Darüber hinaus verwies Mohammed VI. in der königlichen Verkündung der Familienrechtsreform am 10. Oktober 2003 auf die bereits im Koran festgelegte Einschränkung der Polygamie,223 die sie „almost impossible, from the Islamic legal point of view“224 macht. Außerdem kann die erste Ehefrau im Ehevertrag ausdrücklich festzulegen, dass sie eine Zweitehefrau nicht akzeptiert. Auch ohne Ehevertrag muss die erste Ehefrau vom Ehemann über das Vorhaben, eine zweite Frau zu ehelichen, unterrichtet werden.225 Nach klassischem islamischem Recht sah die alte Moudawanna drei Möglichkeiten der Scheidung vor: ṭalāq, khul‘ und taṭlīq.226 Nach dem neuen Familienrecht (Art. 78-102; 114; 120) ist der Zugang für Frauen zu einer gerichtlichen Scheidung erleichtert worden.227 Die Verstoßung (ṭalāq) (Art. 79-89), welche ausschließlich von männlicher Seite ausgesprochen wurde und bisher ohne jegliche gerichtliche Legitimität auskam, wurde für rechtswidrig erklärt, ist aber unter Einschränkungen gestattet.228 Der ‚Loskauf‘ der Frau aus der Ehe (khul’) (Art. 120) ist nur in dem

222 Die Mehrehe ist im Jahr 2007 auf 0,29% der gesamten Eheschließungen gesunken. Vgl. Jadraoui 2008. 223 Siehe dazu Kapitel 3.5.3.1 der vorliegenden Arbeit. 224 Maddy-Weitzmann 2005, S. 405. 225 Darüber hinaus hat sie die Möglichkeit, so sie nicht mit der Zweitehefrau einverstanden ist, die Scheidung einzureichen (Art. 56, „Scheidung aufgrund erduldeten Schadens“). Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 24. 226 Vgl. Rohe, Mathias: Das Islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 2009, S. 215ff. 227 Vgl. Barakat et al. 2007, S. 22. 228 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 405. Es liegt nunmehr im Ermessen der Richter, diese diskriminierende und einseitige Art der Scheidung zu genehmigen, allerdings nur nachdem ein Versöhnungsversuch unternommen worden ist und nach dessen Scheitern der Ehemann seiner geschiedenen Ehefrau und den vorhandenen Kindern ein Unterhalt ga-

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Fall gültig, wenn die Frau beim Gericht Gründe angibt, auf die sie keinen Einfluss hat, wie etwa die sexuelle Vernachlässigung seitens des Ehegatten, dessen langwierige Abwesenheit oder bei mangelndem oder gar fehlendem Unterhalt. Dies führte in der Vergangenheit zu einem finanziellen Ruin der Frau, da sie ihr Brautgeld (mahr) an den Mann zurückgeben musste und nach der Scheidung völlig mittellos zurückblieb. Das neue Recht schiebt dieser Praxis einen Riegel vor, da nunmehr das Gericht zu entscheiden hat, wenn sich die Eheleute über die Höhe der Kompensation nicht einigen können.229 Die „Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen“ (taṭlīq) (Art. 114) kann vom Mann und von der Frau aufgrund unüberbrückbarer Differenzen vor Gericht eingereicht werden.230 Somit sind khul’ und taṭlīq als einzige Formen der Scheidung zugelassen, wobei letztere nach höchstens einem Monat vom Gericht anerkannt werden muss.231 Der Mann ist darüber hinaus verpflichtet, an seine geschiedene Frau und die Kinder Alimente zu zahlen. Das neue Familiengesetz verbietet häusliche Gewalt (Art. 101) und eröffnet der geschädigten Ehefrau in einem solchen Fall den Weg zu einer Scheidung.232 Allerdings muss sie in der Lage sein, Zeugen zu benennen, die ihre Aussage stützen (Art. 100). Geschiedene Frauen müssen vier Monate warten bis sie wieder heiraten können. Artikel 49, der die Gütertrennung vorschreibt, stellt eine gänzliche Innovation im Familienrecht dar. Es schreibt vor, dass der Frau im Falle einer Scheidung die Hälfte des während der Ehe erwirtschafteten Vermögens zusteht, ungeachtet dessen, ob sie während der Ehe erwerbstätig war oder nicht.233

rantieren kann. Es ist als eine Übergangsphase anzusehen, bei der die Praxis idealiter den theoretischen Bestimmungen folgen wird. Vgl. Barakat et al. 2007, S. 14. 229 Vgl. Heintz et al. 2006, S. 435. 230 Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 25. 231 Dies ist als ein enormer Fortschritt anzusehen, da sich die Bearbeitungszeit in der Vergangenheit über mehrere Jahre erstrecken konnte. Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 25. 232 Vgl. Rohe 2009, S. 364f. 233 Diese Neuerung soll den Forderungen der Frauen-NRO nach der Anerkennung häuslicher Arbeit und der Kindererziehung als zu honorierende Arbeit Rechnung tragen. Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 21; vgl. Buskens 2003, S. 86.

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Das Sorgerecht (hadana) (Art. 166-175) wird im Interesse des Kindes vergeben.234 Dabei wird den Kindern, unabhängig ihres Geschlechts, mit Vollendung des 15. Lebensjahres die Möglichkeit eingeräumt, selbst zu entscheiden, zu welchem Elternteil sie gehen möchten (Art. 166; 170).235 Generell ist das Sorgerecht so geregelt, dass das Kind nach der Scheidung der Eltern an erster Stelle zur Mutter und an zweiter Stelle zum Vater kommt (Art. 171). Frauen, die das Sorgerecht für die Kinder erhalten, haben das Recht, in der ehelichen Wohnung zu bleiben. Wenn der Ehemann die Wohnung beansprucht, muss er seiner Frau eine adäquate Unterkunft zur Verfügung stellen.236 Dessen ungeachtet liegt das Sorgerecht nun bei der- oder demjenigen, der für das Wohl des Kindes, sei es auf finanzieller und/oder emotionaler Ebene, am besten sorgen kann. Damit wird dem internationalen Abkommen zum Schutz des Kindes Rechnung getragen.237 Diese Bestimmung klingt sehr vernünftig, wäre da nicht ein diskriminierender Passus, nämlich dass im Falle einer Wiederverheiratung oder eines Wohnsitzwechsels der Frau, diese das Sorgerecht für ihre über siebenjährigen Kinder automatisch an ihren Ex-Ehemann verliert (Art. 175). Das Recht auf Vaterschaftsanerkennung bei illegitimen Kindern stellt in der gesamten arabischen Welt eine Ausnahme dar, weil außerehelicher Geschlechtsverkehr verboten ist und unter Haftstrafe steht. Von dem Recht kann aber nur Gebrauch gemacht werden, wenn die Eltern des Kindes zum Zeugungszeitpunkt verlobt waren (Art. 156)238 und wenn der Vater seine Einwilligung gibt.239 Nur in diesem Fall wird von einer legitimen Vaterschaft gesprochen und nur dann bekommen uneheliche Kinder das Recht, den Familiennamen des Vaters zu erhalten, wodurch sie der oben beschriebenen gesellschaftlichen Diskriminierung entgehen können.240

234 Grundsätzlich – d.h. bei nicht geschiedenen Eltern – besitzt der Vater das Sorgerecht für die Kinder (Art. 236). 235 Vorher sah das Gesetz vor, dass sich der Junge im Alter von zwölf und das Mädchen im Alter von fünfzehn Jahren entscheidet (Art. 102, alter Gesetzestext). Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 25. 236 Die meisten Frauen kennen diese Bestimmungen jedoch nicht und ziehen aus diesem Grund zumeist wieder zu ihren Eltern. Diejenigen, die das Sorgerecht verlieren, haben kein Anrecht auf den ehelichen Wohnsitz. Vgl. Barakat et al. 2007, S. 27f. 237 Vgl. Femmes du Maroc 2003, S. 13. 238 Vgl. ebd., S. 25; vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 405. 239 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 4. 240 Vgl. Barakat et al. 2007, S. 17. Es ist jedoch nicht statistisch erfasst, wie häufig Frauen versuchen, die Vaterschaft ihrer Kinder gerichtlich anerkennen zu lassen.

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Im Rahmen des iğtihād wurde die Erbfolge (Art. 369) in der Hinsicht verändert, dass die Enkel mütterlicherseits vom Großvater genauso viel erben, wie die Enkel väterlicherseits.241 Dies ist als eine deutliche Abweichungen vom traditionellen Recht zugunsten der Frauen zu bewerten.242 Im Bereich des Erbrechts, bei dem Kinder von ihren Eltern erben, ist die Moudawanna hingegen unverändert geblieben. Nach den traditionellen Regelungen steht der Tochter nur die Hälfte dessen zu, was der Sohn erbt. Das lässt sich damit erklären, dass, abgesehen vom Fortbestand patriarchaler Gesellschaftsstrukturen, sich entsprechende Regelungen im Koran als der hochrangigsten Rechtsquelle finden und vor diesem Hintergrund das Erbrecht zu den unveränderlichen Regeln des Islam zählt.243 Frauen würden diese Ungleichverteilung (unhinterfragt) akzeptieren, da sie für sie eine Art Sicherheit darstelle, sollten sie, im Falle einer Scheidung oder Verwitwung, in den Haushalt des Vaters oder Bruders zurückkehren.244 Dabei verweisen reformorientierte Intellektuelle der sogenannten „islamischen Welt“ darauf, dass die Erbregelung eine Notwendigkeit im 7. Jahrhundert war, da Männer für den Unterhalt ihrer weiblichen Familienmitglieder verantwortlich waren. Aus heutiger Sicht ist diese Erbregelung diskriminierend gegenüber Frauen, nicht nur deshalb, weil aufgrund der gestiegenen Scheidungsrate, Frauen häufig alleine für ihren Haushalt zuständig sind.245 Unmittelbar nach Bekanntmachung des neuen Familienrechts wurden säkulare Familiengerichte etabliert.246 Um eine entsprechende Rechtspraxis der neuen Familiengesetzgebung zu gewährleisten, erhielten die Richter und Anwälte zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen. Dadurch konnte der strukturelle Dualismus im Rechts-

241 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 405. Zuvor konnten nur die Enkel väterlicherseits erben. Damit wurde die tribale Tradition, bei der nur männliche Nachkommen ein Land erben konnten, eingestellt. 242 Vgl. Rohe 2009, S. 207. 243 Vgl. ebd., S. 230. 244 Vgl. Joseph 1996, S. 15. 245 In Marokko stellen Haushalte, die von alleinstehenden Frauen geführt werden 18% der Gesamthaushalte des Landes dar. Vgl. Berrahou, Mohammed: „Asmaa Lambaret: ‚Il faut décoloniser le code pénal marocain‘“, in: Medias24 (30.06.2016). 246 Damit die siebzig neu eingerichteten Familiengerichte das Gesetz adäquat anwenden konnten, wurden entsprechende Leitfäden für die ca. 500 Richter erarbeitet. Vgl. Faath 2005, S. 134.

Tradierte Normen und juristische Rahmenbedingungen | 357

system,247 der das Land seit der Kolonialzeit prägte, zumindest zum Teil überwunden werden und gewann säkulare, zivilrechtliche Konturen.248 Darüber hinaus wurde von der Regierung ein „Informationszentrum zur Dokumentation und für Studien über die Situation von Frauen“, das „Centre Marocain d’Information, de Documentation et d’Etudes sur la Femme“ (CMIDEF), eröffnet, dessen Gründung von der EU unterstützt wurde, und eine Kampagne zur Bekämpfung von Gewalt in der Familie eingeleitet.249 Mit der Aufhebung aller CEDAW-Vorbehalte, welche in enger Relation zur Moudawanna-Reform steht und von der Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten forciert wurde, gehört Marokkos Gesetzestext heute zu einem der fortschrittlichsten Rechtstexte in der arabischen Welt.250 Die ADFM und andere NRO, wie z. B. die Menschenrechtsorganisation AMDH, leisteten daraufhin Aufklärungsarbeit durch eine große nationale Kampagne, um der Bevölkerung die neuen Bestimmungen nahezubringen.251 Die Umsetzung der Familienrechtsreform ist ein gutes Beispiel dafür, wie Frauenrechtlerinnen mit breiter Vernetzung, fachlicher Kompetenz und konstruktiver Mitarbeit Einfluss auf politische Entscheidungen erlangen konnten. Durch die Intervention des Königs, als „Befehlshaber der Gläubigen“, und durch die Bezugnahme des iğtihād zur Rechtsauslegung der Shariʿa, erhielt das reformierte Familienrecht seine doppelte religiöse Legitimität. Trotzdem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass durch die Intervention des Königs in den Reformprozess, aus einer öffentlichen Debatte eine royale Zuständigkeit wurde. Das neue Familienrecht wurde zwar formal vom Parlament verabschiedet, seine Legitimation erhielt es aber im Wesentlichen durch die aktive Unterstützung des Königs. Somit wurde die Familienrechtsreform weitestgehend von oben durchgesetzt (Top-Down-Ansatz) und ist in den Rahmen eines „controlled change“252 einzuordnen. Das neue Familienrecht bietet zwar eine rechtliche Grundlage für eine Verbesserung der Situation von Frauen, trifft bei seiner Umsetzung jedoch auf enorme

247 Damit ist gemeint, dass das Familienrecht auf der Shariʿa basierte, während alle anderen Gesetzestexte auf positivem Recht gründen, mit Ausnahme der die Sexualität betreffenden Artikel im Code Pénal. 248 Vgl. El Guennouni 2010, S. 33; vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 406. 249 Vgl. Faath 2005, S. 134. 250 Vgl. Sadiqi 2010, S. 314. 251 Vgl. ebd., S. 317. 252 Maddy-Weitzman 2005, S. 409.

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Schwierigkeiten. Das liegt zum einen daran, dass die Lebensrealitäten von Frauen immer noch stark durch lokale Traditionen geprägt sind, die nicht zwingend mit der Rechtssituation korrespondieren. Zum anderen sind die Inhalte des neuen Familienrechts unter der Bevölkerungsmehrheit kaum bekannt, was v.a. auf den Analphabetismus und die mangelnde Aufklärung zurückzuführen ist.253 Der Gesetzestext lässt überdies einen großen Ermessensspielraum bei seiner Umsetzung zu und stößt bei konservativen Richtern und Notaren, die jahrzehntelang mit Bezug auf das alte Gesetz gearbeitet haben, auf Akzeptanzprobleme.254 Die Präsidentin von ADFM, Khadija Errebah, berichtete mir im Interview, die Richter würden ihre Urteile immer noch nach den alten Prinzipien fällen, z. B. im Bereich der Gütertrennung. Obwohl das Gesetz eine gleichwertige Teilung vorschreibt, richte sich das Gericht nach dem geleisteten Beitrag jedes Ehepartners, was zur Folge hat, dass Frauen nach der Scheidung fast mittellos sind, sofern sie nicht berufstätig sind. Des Weiteren führte Errebah an, dass die Reform der Moudawanna im Vergleich zum alten Gesetzestext zwar einen großen Fortschritt darstelle, aber nicht allen Forderungen der Frauenorganisationen, v.a. nach der Abschaffung der Polygynie, gerecht werde.255 Laut geteilter Auffassung der Frauenrechtsaktivistinnen bedürfe das Gesetz weiterer Reformen, insbesondere bzgl. der Polygynie, der Verstoßung, der Khul‘-Scheidung und der ungleichen Erbbestimmungen, damit die geschlechterbasierende Ungleichheit und Diskriminierung wirklich beseitigt werden könnten.256 Ferner konzentriert sich das Gesetz nur auf verheiratete Frauen und bietet unverheirateten Frauen im Allgemeinen, und alleinstehenden Müttern im Besonderen, nicht genügend Schutz.257 Die vorherrschenden patriarchal geprägten Einstellungen der Richter und Justizbeamten, aber v.a. das Fehlen einer unabhängigen Justiz, die die Einhaltung zumindest grundlegender Rechte gewährleisten kann, sind weitere Faktoren, die eine adäquate Anwendung des Familienrechts erschweren. Die traditionellen Einstellungen in großen Teilen der Gesellschaft stehen also konträr zu den Gesetzesbestimmungen. So tauchen z. B. große Probleme bei der Implementierung der Vaterschaftsanerkennung auf, da unverheiratete Mütter von

253 Vgl. Willman Bordat/ Kouzzi 2009, S. 2. 254 Interview mit Zahia Ammoummou am 16.12.2009 in Casablanca. 255 Interview am 5.11.2012 in Rabat. 256 Vgl. Sadiqi 2010, S. 320. Diese Mängel wurden von Reformbefürwortern vorerst hingenommen, um den Reformprozess nicht zu gefährden. 257 Vgl. ebd.

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der Gesellschaft weiterhin größtenteils als Prostituierte angesehen werden.258 Im Übrigen wird das Erscheinen von Frauen vor Gericht häufig gesellschaftlich stigmatisiert und oft fallen Scheidungsprozesse zugunsten der Männer aus, da sie die Richter nicht selten korrumpieren.259 In den Interviews erhielt ich in der Regel die Antwort, dass eine Scheidung von den Familien oder der sozialen Umgebung als eine Schande (h’chouma) für die Frauen betrachtet werde. Aus meinen Interviews ging außerdem hervor, dass häufig den Frauen die Schuld für die Scheidung gegeben wird, weil von einem Fehlverhalten der Frau ausgegangen wird. Aus diesem Grund würden geschiedene Frauen nicht offen über ihren Familienstand sprechen. Auch die Rechtsprofessorin Malika Benradi bestätigte mir im Interview, dass das Ansehen geschiedener Frauen in der Gesellschaft sehr niedrig sei.260 Das marokkanische Sprichwort „Wir haben keine geschiedene Frau in unserer Familie“261 verdeutlicht, wie sehr die Familienehre vom Verhalten der Tochter abhängt und wie die Schamkultur sich im gesellschaftlichen Bewusstsein manifestiert hat. Die Anwältin Zahia Ammoumou lieferte jedoch auch Beispiele, die eine langsame Veränderung im Bewusstsein der Bevölkerung signalisieren. So würden Frauen heutzutage von Seiten ihrer Väter, Brüder oder Söhne zu einer Scheidung ermutigt und vor Gericht begleitet, insbesondere wenn sie Opfer familiärer Gewalt wurden.262 Bei meinen Interviewpartnern waren auch keine Vorurteile gegenüber geschiedenen Frauen festzustellen. Viele der Befragten antworteten auf die Frage, wie sie eine geschiedene Frau betrachten würden, sie sei „einfach eine Frau“ oder sie sei eine „freie Frau“. Das verdeutlicht, dass sich die Sicht der Bevölkerung, insb. der jungen Generation, auf geschiedene Frauen zu ändern beginnt und ihnen seitens ihrer Familien mehr Verständnis entgegengebracht wird. Die neue Rechtsprechung hat sich darüber hinaus in ländlichen Gebieten weder bei den Richtern noch bei der Bevölkerung durchgesetzt. Mit Blick auf die Kampagnen der Frauenrechtsorganisationen, stellt man fest, dass sie nicht genügen und oft nur schwer oder gar nicht verstanden werden, zuweilen sogar auf Widerstand seitens der ländlichen – aber auch der städtischen – Bevölkerung stoßen.263 So beschwert sich zum Beispiel die konservative ländliche Bevölkerung über die im

258 Vgl. Maddy-Weitzman 2005, S. 406 259 Vgl. Sadiqi 2010, S. 319. 260 Interview am 3.07.2013 in Rabat. 261 Interview am 17.10.2009 in Rabat. 262 Interview am 16.12.2009 in Casablanca. 263 Vgl. Sadiqi 2010, S. 313.

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Gesetz verordnete Einschränkung der Polygynie, weil es Männern auf diese Weise schwer fallen würde, mit einer älteren Frau zusammenzubleiben.264 Viele Frauenrechtsaktivistinnen plädieren dafür, dass das Familienrecht nur in einem demokratischen Kontext umgesetzt werden könne; ein Teil von ihnen spricht sich völlig für ein säkulares Regierungssystem aus.265 Auch wenn die Rechtsreform in der Praxis weit hinter den Erwartungen der Frauen-NRO und Reformbefürwortern liegen, herrschen im Allgemeinen für Frauen im gegenwärtigen Marokko bessere Bedingungen bzgl. ihrer Partizipation am politischen und gesellschaftlichen Leben als noch vor fünfzehn Jahren. Während den marokkanischen Frauen vor der Reform fundamentale Rechte verwehrt blieben – in Fragen wie z. B. Eheschließung, Scheidung, Arbeit, Mobilität, Sorgerecht für Kinder sowie das eigenständige Treffen von Entscheidungen – entspricht die neue Moudawanna den Anforderungen einer modernen Interpretation des Islam und der veränderten sozioökonomischen und demographischen Realität der marokkanischen Gesellschaft. Die Partizipation von Frauen in weiten Teilen der Gesellschaft, Politik und Bildung wurde durch einen rechtlichen Rahmen begünstigt und kann als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels gedeutet werden. Mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß sich die Realität der Frauen an die rechtlichen Bestimmungen anpassen wird, hängt von der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung ab, insb. von der Einstellung der Bevölkerung, der Stabilität von gesellschaftlichen Hierarchien und vom Einfluss der Tradition auf die junge Generation. Die Reform des Familienrechts ist ein Beweis dafür, dass Differenzierungsvorgänge sich auch in zuvor als sakral definierten Bereichen abspielen können. Die Reform hat gezeigt, dass Regelungen der Shariʿa und universelle Menschenrechte mit Hilfe des iğtihād miteinander zu vereinbaren sind und dass die soziale und rechtliche Diskriminierung von Frauen vielmehr mit patriarchalen Strukturen, die bestimmte Auslegungen der heiligen Texte artikulieren, erklärt werden können. Die Familienrechtsreform kann eine Vorbildfunktion für das Reformprojekt des Strafgesetzbuches (Code Pénal) einnehmen. Die Diskurse, die im Zusammenhang mit dem Reformprojekt des Strafrechts geführt werden, ähneln den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Familienrechtsreform. Dabei stellt sich die Frage, ob der König in seiner Rolle als weltliches und religiöses Oberhaupt auch eine Reform des Strafgesetzbuchs bewirken kann. Da die voreheliche Sexualität an

264 Vgl. Anonymus: „Morocco boosts women’s rights“, in: The Guardian (1.11.2004). 265 Vgl. Sadiqi 2010, S. 313.

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einen gesellschaftlichen Werte- und Normenkatalog gebunden ist, besteht die Schwierigkeit dabei vordergründig in der Sensibilisierung der wertkonservativen Gesellschaft. Der Verweis in der Präambel der neuen Verfassung, dass internationale Bestimmungen Vorrang vor nationalem Recht haben, hat den Grundstein für die Reform des Strafgesetzbuchs gelegt. Das bisher vorgelegte Reformprojekt des ehemaligen Justizministers al-Ramid zog zahlreiche Proteste der Zivilgesellschaft und der politischen Opposition nach sich. Anhand des Reformprozesses des Familienrechts wurde aufgezeigt, dass gesellschaftliche Transformationsprozesse nicht konfliktfrei verlaufen. Auch hier gab es zunächst einen großen Widerstand seitens des konservativen und islamistischen Lagers. Die Auseinandersetzung um das Reformprojekt des Strafgesetzbuchs deutet auf eine Öffnung des Sexualitätsdiskurses hin und ist als ein Zeichen der beginnenden Enttabuisierung dieses Themas in der Gesellschaft zu verstehen. Nun muss der Staat seinen Willen zeigen, dieses Instrument der Unterdrückung individueller Freiheiten zu reformieren und die gesetzliche Lage zugunsten der sozialen Realität anzupassen. Solange das Strafgesetzbuch keiner grundlegenden Reform unterzogen wird, erhalten junge Menschen keine soziale Teilhabe und bleiben für den größten Teil ihres Lebens gesellschaftlich marginalisiert.

8. Fazit

Die vorliegende Arbeit fasst die Ergebnisse einer Forschung zu urbanen und gebildeten Jugendlichen auf der Mikroebene zusammen und beschreibt, mit welchen Problemen marokkanische Jugendliche und junge Erwachsene in ihrem Alltag aufgrund ihrer sozialen Marginalisierung und rigider sozialer Normen konfrontiert sind und wie sie diese bewältigen. Aufgrund fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten stellen Jugendliche in Marokko eine der größten marginalisierten sozialen Gruppen dar und das in allen gesellschaftlichen Bereichen. Der Fokus der Arbeit liegt auf gegenwärtigen sozialen Transformationsprozessen hinsichtlich der Geschlechterordnung und der Stellung der Frau in Marokko am Beispiel der Institution der Ehe. Die Leitfrage lautete, welche Diskurse das Überschreiten tradierter Geschlechtergrenzen begleiten, welche Konflikte dadurch entstehen und wie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse verlaufen. Die Lebenswelt der Jugendlichen ist von prekären sozioökonomischen Verhältnissen und Exklusion geprägt. In Marokko sind 60% der Bevölkerung unter 30 Jahren alt. Diese demographisch größte Gruppe ist am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Arbeitslosenquote ist in den Städten am höchsten und betrifft insbesondere Jugendliche mit einem Universitätsabschluss. Für die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur der Mangel an Arbeitsplätzen, sondern auch die schlechte Qualität der Ausbildung und dadurch bedingte mangelnde Kompetenzen für den Arbeitsmarkt verantwortlich. Des Weiteren ist der Zugang zu (attraktiven) Arbeitsplätzen begrenzt und von Korruption und Klientelismus geprägt. Frauen sind in einem noch höheren Maße von der Arbeitslosigkeit betroffen und erfahren darüber hinaus geschlechtsspezifische Diskriminierungen am Arbeitsplatz. In nahezu allen Demonstrationen des sogenannten „Arabischen Frühlings“ war die soziale, wirtschaftliche und politische Marginalisierung junger Menschen mit

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hohen Bildungsabschlüssen einer der zentralen Beweggründe, der diese Generation zu Tausenden länderübergreifend mobilisierte. In Marokko gehörten arbeitslose Akademiker (chômeurs diplômés) zu der Gruppe, die aktiv an der Protestbewegung „Mouvement du 20 Février“ teilnahm. Sie zählen bis heute zu den Akteuren, die in wöchentlichen Demonstrationen vor dem Parlament in der Landeshauptstadt Rabat auf ihre prekäre soziale Lage hinweisen. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass die Lebenswirklichkeit dieser demographisch größten Gesellschaftsgruppe einen wichtigen Gradmesser für gesellschaftliche Transformationsprozesse darstellt. Da gerade die Jugendlichen mit hohen Bildungsabschlüssen die zukünftige Elite des Landes bilden werden, gibt ihr Verhalten Aufschluss über gerade stattfindende gesellschaftliche Transformationsprozesse und ihre Einstellungen sagen wiederum viel über das Transformationspotential der Gesellschaft aus. Die Gesellschafts- und Geschlechterordnung Marokkos ist geprägt von religiösen Normen und patriarchalen Konzepten. Dabei bildet die Institution der Ehe das zentrale Element der Gesellschaft, weil sie die Reproduktion der Gesellschaftsordnung sichert. Sexualität ist einzig im ehelichen Rahmen gestattet und wird darin als eheliche Pflicht angesehen. Außerhalb dieses Rahmens herrscht jedoch ein striktes Sexualverbot, welches im Artikel 490 des marokkanischen Strafgesetzbuchs (Code Pénal) rechtlich reglementiert ist. Dieses Verbot beschränkt die individuellen Freiheiten der Bevölkerung, insb. die der jungen Generation, die aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit finanziell und materiell häufig außerstande ist, den Bund der Ehe einzugehen. Obwohl das marokkanische Strafgesetzbuch eigentlich ein positives Recht darstellt, basieren die Sexualität betreffenden Gesetzespassagen auf der Shariʿa. Die repressive Sexualmoral und die rigiden Gesetze als Ausdruck einer islamischpatriarchalen Tradition, die nicht zuletzt eine Folge des in den 1970er Jahren importierten wahhabitischen Islamverständnisses ist, stehen in einem Spannungsverhältnis zur sozialen Entwicklung, alltäglichen Praxis und Lebensrealität der Jugendlichen. Da junge Menschen in Marokko erst durch den Eintritt in den Bund der Ehe als Erwachsene gelten, verlängert sich die Jugendphase und der Eintritt in das Erwachsenenalter verschiebt sich auf unbestimmte Zeit. Längere Ausbildungszeiten, hohe Heiratskosten und sozioökonomische Veränderungen, die eine Folge unzureichender Qualifikationen für den Arbeitsmarkt und des Mangels an Arbeitsplätzen sind, haben zu einer Verschiebung des Heiratsalters beigetragen. Die Zeitspanne zwischen Schul- bzw. Studienzeit und der Heirat kann nunmehr viele Jahre umfassen und hat zur Folge, dass junge Menschen keine Transition zu Erwachsenen voll-

Fazit | 365

ziehen können. Sie befinden sich bis zur Ehe in einer verlängerten Adoleszenzphase, der waithood, in der sie auf den Einritt in die Welt der Erwachsenen warten. Diese waithood führt bei den Jugendlichen zu Frustrationen und Konflikten zwischen tradierten gesellschaftlichen Normen und ihrem Lebensstil. Ungeachtet der sozialen Realität stellen tradierte soziale Normen Ansprüche an die junge Generation, die zu erfüllen sie nicht in der Lage sind. Sollen impliziert Können. Aufgrund der Arbeitslosigkeit fehlt den Jugendlichen die finanzielle Grundlage für eine Eheschließung. Dies betrifft insbesondere die jungen Männer, denn für sie bildet die Berufstätigkeit den ersten notwendigen Schritt für den Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Sie stellt die Voraussetzung für die Heirat und die Familiengründung dar, die sie zu einem vollwertigen Gesellschaftsmitglied werden lässt. Für Frauen erfolgt die Transition zu einer Erwachsenen traditionsgemäß primär über die Heirat und die Geburt eines Kindes. Sie sind also in einem höheren Maße von ihrem Familienstand abhängig und damit von der Erwerbstätigkeit ihres potentiellen Ehemannes, um als mündige Mitglieder der Gesellschaft angesehen zu werden. Deshalb birgt die Verschiebung des Heiratsalters gerade für Frauen die Gefahr, diesen Anschluss nicht zu erhalten, denn mit fortschreitendem Alter schwinden ihre Chancen auf eine Heirat. Wie im Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wurde, ist die Angst der Frauen, eine Bayra (‚alte Jungfer‘) zu werden, omnipräsent und übt auf sie einen enormen sozialen Druck aus. Tradierte gesellschaftliche Normen, wie z. B. das Versorgerkonzept, setzen auch junge Männer einer psychischen Belastung aus, weil sie aufgrund schwieriger sozioökonomischer Verhältnisse nicht in der Lage sind, diesen gerecht zu werden. Die jungen Erwachsenen sind aufgrund der Erwerbslosigkeit gezwungen, in ihrem Elternhaus wohnen zu bleiben und sind dadurch in hohem Maße von ihren Familien abhängig. Insbesondere für junge Frauen bedeutet dies eine Kontrolle seitens der Familie und eine Einschränkung in ihrer Bewegungsfreiheit und Autonomie. Denn obwohl das religiöse Gebot der vorehelichen sexuellen Enthaltsamkeit an beide Geschlechter gerichtet ist, betrifft die repressive Sexualmoral im Wesentlichen nur die Frauen. Das auf diesem Verständnis basierende Jungfräulichkeitsgebot bildet einen Grundbestandteil der marokkanischen Schamkultur und legt den Frauen ein Diktat bezüglich ihres sittlichen Verhaltens auf, weil es mit dem Erhalt der Familienehre verbunden ist. Das Konzept der Familienehre impliziert, dass das Verhalten, die Identität und das soziale Ansehen des Einzelnen stets in Relation zu dem Ansehen und der Würde der Familie stehen. Da das Verhalten der Frau Auswirkungen auf den Ruf der gesamten Familie haben kann, unterliegt ihr Verhalten einer Kontrolle seitens der Familienmitglieder. Die patriarchale Gesellschaftsordnung Marokkos

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beruht auf diesem Scham- und Ehrkonzept, welches die Gehorsamspflicht der Frau gegenüber dem Mann impliziert und die Geschlechterordnung definiert. Die Tabuisierung der Sexualität ist verantwortlich für die fehlende Sexualerziehung und dem daraus resultierenden ‚sexuellen Analphabetismus‘ in der Bevölkerung. Der Bildungszugang, der demographische Jugendüberhang und die Verschiebung des Heiratsalters haben zu Veränderungen bezüglich der kulturellen Vorstellungen und Werte sowie im Lebensstil der jungen Generation beitragen. Traditionelle Rollenmodelle und die tradierte Geschlechterordnung werden von den Jugendlichen zunehmend als obsolet erachtet. Der Bildung kommt eine Schlüsselfunktion im Hinblick auf die Transformation bestehender Genderordnungen und die Emanzipation von Frauen zu. Sie befähigt sie nicht nur zur Wahrnehmung ihrer Rechte, sondern ermöglicht ihnen durch die Partizipation am Arbeitsmarkt finanzielle und soziale Unabhängigkeit. Durch den Zugang zu Bildungseinrichtungen und zum Arbeitsmarkt betreten Frauen seit der marokkanischen Unabhängigkeit zunehmend den traditionell als männlich definierten öffentlichen Raum und fordern durch ihre zunehmende Präsenz die tradierte Geschlechterordnung und das patriarchale Gesellschaftsmodell heraus. Insofern stellen Bildung und Berufstätigkeit die Grundpfeiler der weiblichen Emanzipation dar und sind maßgebend für die gesellschaftliche Modernisierung. Die Institution der Ehe ist heute einem Wandel unterworfen, der auf die längeren Ausbildungszeiten der jungen Menschen und ihrer prekären wirtschaftlichen Situation, aber auch auf Veränderungen in den individuellen Wertvorstellungen der jungen Generation, zurückzuführen ist. Die repressive Sexualmoral der Gesellschaft und die Kriminalisierung der Sexualität außerhalb der Ehe stellt für junge Marokkaner und Marokkanerinnen eine starke Belastung in psychischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht dar. Insbesondere Frauen erfahren, aufgrund des Diktats der Jungfräulichkeit, in der Zeit bis zur Hochzeit viele Benachteiligungen in ihrer Bewegungsfreiheit und generell in ihrer Autonomie. Die sexuelle Belästigung, die den Alltag von Frauen – ungeachtet dessen, ob sie verschleiert sind oder nicht – prägt, stellt eine weitere Folge der rigiden Sexualmoral und der traditionellen Geschlechtertrennung dar, die den privaten Raum den Frauen und den öffentlichen Raum den Männern zuordnete. Die Mehrheit der Jugendlichen fühlt sich gesellschaftlich marginalisiert und bevormundet. Die Marginalisierung erstreckt sich von ihrer finanziellen Abhängigkeit von der Familie bis hin zum Ausschluss am gesellschaftlichen Leben, womit eine Einschränkung ihrer Rechte verbunden ist. Sie erfahren im Alltag eine Vielzahl von

Fazit | 367

Grenzen, Verboten und Diskriminierungen. Trotz des vorehelichen Sexualverbots erschließen sich Jugendliche Freiräume, sowohl im realen als auch im virtuellen Raum. Sie pflegen von der sozialen Norm abweichende Praktiken und Beziehungen zueinander. Dadurch befinden sie sich in der Peripherie dessen, was als sozial adäquat gilt, und suchen daher nach Freiräumen, in denen sie Kontakt zum anderen Geschlecht aufnehmen und eine Beziehung etablieren können. Diese Freiräume bieten ihnen u. a. die Studienzeit und der Zugang zu modernen Medien. Das Studium stellt ein temporäres Entkommen von sozialen Normen, Erwartungen und Verantwortung dar. Die Studienzeit ist eine Zäsur im Leben der Jugendlichen, in der sie sich in einer Art ‚gesellschaftlicher Auszeit‘ befinden. Sie bildet eine Lebensphase, in der das Hinterfragen von politischen und gesellschaftlichen Themen und subversive Lebensstile sowie alternative Vorstellungen von Gesellschaft dominieren. Jugendliche stellen während der Studienzeit bestehende Gesellschaftsnormen in Frage, üben Kritik an rigiden Geschlechtermodellen und führen teils deviante Lebensstile. Dies liegt zum einen daran, dass die Studenten in dieser Zeit entweder aus dem elterlichen Umfeld ausziehen, um in den Großstädten zu studieren, und zum anderen daran, dass sie sich vornehmlich im studentischen Umfeld (Campus) bewegen und sich dadurch der unmittelbaren Beobachtung ihrer Familien entziehen. Dieser vorübergehende Freiheitsgewinn bietet den Studierenden, insbesondere den Studentinnen, eine Phase der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Der temporäre Freiheitsgewinn in der Studienzeit und die längere Jugendphase bieten somit auch positive Aspekte, da sie nicht nur die Entfaltung neuer Ideen und individuelle Freiheiten ermöglichen, sondern auch den Erfahrungshorizont erweitern, der langfristig einen großen Einfluss auf die zukünftigen Gendermodelle und eine egalitäre Rollenverteilung bergen kann. Da die Werte und das Verhalten der Jugend richtungsweisend für die zukünftige Gesellschaftsordnung sind, werden sich auch die Rollenverteilung innerhalb der Familie und die Frage bezüglich der Sexualität außerhalb der Ehe verändern. Dies wird mittel- oder langfristig zur Folge haben, dass sich Geschlechterordnungen nachhaltig transformieren werden. Tradierte Genderrollen sind bereits heute in einem Wandel begriffen, denn der Umgang zwischen den Geschlechtern ist bei der jungen Generation unbefangener als er noch bei der Elterngeneration war. Die Jugendlichen haben eine liberale Sicht auf die Beziehung zwischen Männern und Frauen: Die Antworten meiner Interviewpartner deuten auf einen Wertewandel hin, der sich in ihren Einstellungen zur Partnerwahl, Rollenverteilung in der Familie, Berufstätigkeit von Frauen und Sexualität äußert. Die voreheliche Sexualität ist zu einem Bestandteil der täglichen Er-

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fahrung von Jugendlichen geworden und wird zunehmend unter Berufung auf die allgemeinen Menschenrechte eingefordert. Sexualität und Intimität spielt eine wesentliche Rolle im Alltag der Jugendlichen, was Chancen für die Umgestaltung von Geschlechterbeziehungen und -modellen sowie für persönliche und kollektive Identitäten bergen kann. Das verdeutlicht, dass die Erlangung individueller Freiheiten in ihrem Leben an Bedeutung gewinnt. Die Sexualmoral und insbesondere die Norm der vorehelichen sexuellen Enthaltung werden von den Jugendlichen als anachronistisch betrachtet. Liebesbeziehungen und Liebesheiraten haben zunehmend einen höheren Stellenwert als noch bei der älteren Generation und häufig fördert das universitäre Umfeld deren Entstehung. Die Verschiebung des Heiratsalters geht somit nicht nur auf sozioökonomische Ursachen zurück, sondern kann auch mit den sich wandelnden Wertvorstellungen und Lebensentwürfen der jungen Generation, die u. a. auch ein Resultat der Urbanisierung und Modernisierung sind, begründet werden. Die jungen Männer und Frauen möchten von ihrer Jugend profitieren, ihre Freiheiten genießen und sich nicht früh binden. Dies gilt umso mehr für Frauen, die – als Trägerinnen der Familienehre – im familiären Rahmen einer strengen Kontrolle unterworfen sind. Eine Ehe kann ihnen aber auch als ein Mittel dienen, der familiären Kontrolle zu entkommen, auch wenn die Gefahr besteht, dass die väterliche Kontrolle durch den Ehemann übernommen wird. Neben den realen Freiräumen im studentischen Umfeld werden alternative Lebenswelten auch mit Hilfe des Internets kreiert. Soziale Medien, wie z. B. Facebook, bieten den Jugendlichen Freiheiten für ihre individuelle Entfaltung und den Kontakt zum anderen Geschlecht. Abseits der familiären Kontrolle können im virtuellen Freiraum Liebesbeziehungen entstehen, während die reale Lebenswelt lediglich Beziehungen erlaubt, die gesellschaftlich tradierten Normen entsprechen. Er fungiert in diesem Kontext als ein Raum der Anonymität und der Diskretion. Soziale Medien wie Facebook bilden ‚Werkzeuge‘ der Kontaktaufnahme und der Kommunikation zum anderen Geschlecht und generell zu anderen Internetnutzern weltweit. Über das Internet und die Mobiltelefone können Jugendliche sich fernab der Kontrolle ihrer Verwandtschaft und ihrer Nachbarschaft verabreden und in Beziehung zueinander treten. Es ermöglicht ihnen darüber hinaus die Diskussion und das Hinterfragen bestehender gesellschaftlicher Werte und Normen. Durch ihren fundierten Umgang mit neuen Technologien erhalten die Jugendlichen Anschluss an globale Prozesse und verstehen sich als Teil der globalen Jugendkultur, an der sie partizipieren möchten.

Fazit | 369

Sowohl in der „Offline“- als auch in der „Online-Welt“ bieten diese Räume den Jugendlichen, v.a. den jungen Frauen, eine größere Bewegungsfreiheit und fördern ihre Emanzipation. Außerhalb dieser Freiräume jedoch sind die Jugendlichen zahlreichen Einschränkungen in Bezug auf ihre individuellen Freiheiten unterworfen, was insbesondere von den jungen Frauen als belastend empfunden wird. Die sozialen Normen bürden ihnen die Erhaltung der Familienehre auf, welche sie aufgrund des späteren Eintritts in die Ehe vor große Herausforderungen stellt. Die prekäre Lebenslage und die Verschiebung des Heiratsalters sind miteinander verflochten und haben Auswirkungen auf die Bewältigungsstrategien der jungen Menschen. Die Rekonstruktion des Hymens vor der Ehe ist als eine solche Bewältigungsstrategie zu verstehen. Sie stellt für Frauen – neben der sexuellen Enthaltung – die einzige Möglichkeit dar, sich auf sexuellen Beziehungen vor der Ehe einzulassen, ohne später rechtliche und gesellschaftliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um eine Notlösung, die kostenintensiv ist und die Hypokrisie einer Gesellschaft aufzeigt, die sich darüber im Klaren ist, dass die junge Generation sexuelle Erfahrungen macht, obwohl ihnen der Zugang zum legalen sexuellen Rahmen der Ehe verwehrt bleibt. Basierend auf der Diskrepanz zwischen dem Diktat der Ehe und der Unmöglichkeit sie einzugehen, sind eine Reihe devianter Beziehungsmodelle entstanden, die als Substitute zur Ehe fungieren. Die „Fatiha“-, die „Misyar“- und die „ZeitEhe“ werden zunehmend populärer, bieten den Frauen aber aufgrund der Tatsache, dass sie illegal sind, keinen rechtlichen Schutz. Solche Ehen sind von temporärer Natur und werden mehrheitlich mit minderjährigen Frauen in ländlichen Gebieten geschlossen. Nach der Trennung werden sie mitsamt ihrem Nachwuchs allein gelassen und erfahren das Stigma der ledigen Mütter seitens ihrer Familien und der Gesellschaft. Vielen von ihnen bleibt keine andere Wahl als sich in die Prostitution zu begeben, um für sich und ihre Kinder sorgen zu können. Als awlad al-haram („Kinder der Sünde“) ist auch ihren Kindern nur ein Leben am Rande der Gesellschaft vorbehalten, weil sie weder einen Familiennamen noch Ausweispapiere erhalten. Weil die Frauen sich und ihrem Kind ein solches Schicksal ersparen möchten, versuchen einige von ihnen diese eigenhändig abzutreiben, was nicht selten dazu führt, dass sie dabei sterben. Da Abtreibungen in Marokko verboten sind, können auch Opfer von Vergewaltigungen auf keinerlei Unterstützung seitens der Ärzte hoffen, da diesen in einem solchen Fall hohe Gefängnisstrafen drohen. Häufig führt die Marginalisierung unverheirateter Mütter dazu, dass sie ihr uneheli-

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ches Kind aussetzen. Dies verdeutlicht, welche negativen Konsequenzen die rigide Sexualmoral und Gendernormen auf Frauen und die Gesellschaft haben können. Aufgrund der statischen, tradierten und oktroyierten Vorstellungen von Geschlechterrollen und der Kriminalisierung der vorehelichen Sexualität bewegen sich Jugendliche in einer gesellschaftlichen Grauzone, die von einer Ambivalenz gekennzeichnet ist. Ein Großteil der von mir interviewten Männer gesteht den Frauen ein Sexualleben zu, dennoch wünscht sich die Mehrheit der jungen Männer eine jungfräuliche Braut, auch wenn sie selbst vorehelichen Geschlechtsverkehr praktizieren. Diese gesellschaftliche Doppelmoral wird von den Jugendlichen selbst als ‚soziale Schizophrenie‘ oder ‚soziale Hypokrisie‘ bezeichnet, was verdeutlicht, dass die Jugendlichen sich sehr wohl der Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen, aber auch des eigenen Wertesystems bewusst sind. Dies kann zum einen mit dem marokkanischen Konzept der Ehre erklärt werden, dem die Kultur der Reputation zugrunde liegt und wonach das Ehrverständnis des Mannes sich über die Unberührtheit seiner Frau definiert. Zum anderen impliziert die Kultur der Reputation, dass die Freiheiten des Individuums gegenüber dem Wohl der Gemeinschaft bzw. dem familiären Frieden nachrangig sind. Der Einfluss von Seiten der Familie und der Gesellschaft übt weiterhin einen derartigen Druck auf die Jugendlichen aus, dass sie sich, um familiäre Konflikte zu vermeiden, eher dem gängigen traditionellen Lebensmodell fügen, als ein selbstbestimmtes, auf individuellen Wünschen ausgerichtetes Leben zu führen, welches den familiären Ausschluss zur Folge haben könnte. Die Hypokrisie erstreckt sich auf viele gesellschaftliche und politische Bereiche: Marokko repräsentiert sich nach außen als ein modernes und tolerantes Land, ist Hauptpartner der EU und der USA im Kampf gegen den Terrorismus und wünscht sich weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit, doch im Inneren des Landes herrschen Menschenrechtsverletzungen, die Diskriminierung von Frauen und Jugendlichen und die Beschneidung individueller Freiheiten, wie der Rede- und Meinungsfreiheit und des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. Die ‚soziale Hypokrisie‘ äußert sich auf verschiedenen Ebenen: voreheliche sexuelle Abstinenz wird bspw. vom religiösen Standpunkt von beiden Geschlechtern erwartet, betrifft auf der sozialen Ebene jedoch nur die Frau, weil das Männlichkeitskonzept die Virilität des Mannes, die sich in sexueller Aktivität manifestiert, impliziert. Des Weiteren ist die Sexualität außerhalb des ehelichen Rahmens verboten, aber die Prostitution wird aus wirtschaftlichen Gründen geduldet. Es bestehen darüber hinaus juristische Widersprüche zwischen den Rechtstexten, insbesondere zwischen dem antiquierten Strafgesetzbuch und der neuen Verfassung sowie dem neuen Familienrecht. Ferner

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wird der Alkoholkonsum de jure nur Nicht-Marokkanern gestattet, dessen Produktion und Verkauf hingegen wird erlaubt. Dies illustriert nur beispielhaft die normative Ambivalenz eines Landes, das der Moderne zugewandt ist, aber seine konservative Gesellschaft nicht überfordern und die politische Stabilität nicht gefährden möchte. In Marokko herrscht heute ein Klima, in dem sich eine buchstabengetreue Auslegung des Islam, gepaart mit einem Obskurantismus, etabliert hat. Die Allianz mit dem saudischen Königshaus, welche von König Hassan II. in den 1970er Jahren zum Zwecke des Machterhalts und als Gegenkraft zur linksorientierten Opposition initiiert wurde, trug maßgeblich zur Islamisierung der Gesellschaft bei. Davon zeugen auch die letzten Parlamentswahlen, aus denen die islamistische Partei „Parti de la Justice et du Développement“ (PJD) erneut als Sieger hervorgegangen ist. Sie hat die meisten Sitze im Parlament, stellt den Regierungschef und bestimmt die Politik des Landes. Diese Entwicklung erschwert es Menschen- und Frauenrechtlern, sich für die Rechte von Frauen und Jugendlichen im Allgemeinen sowie von marginalisierten Gruppen, wie Homosexuellen, alleinstehenden Müttern und ihren Kindern, im Besonderen einzusetzen. Die Jugend steht in einem Spannungsverhältnis zur konservativen Bevölkerung und befindet sich in einem Dilemma, weil sie an modernen Entwicklungen teilhaben und gleichzeitig ihre kulturellen Werte wahren möchte. Das Spannungsverhältnis zwischen der patriarchalen Tradition und der eigentlichen Lebensrealität der jungen Menschen – die nicht zuletzt von Inhalten westlicher Filme, dem Austausch mit anderen Jugendlichen über das Internet und dem Kontakt zu Touristen beeinflusst sind – führt zu einem Paradoxon unterschiedlicher Lebenskonzepte, die miteinander kollidieren können. Viele Jugendliche orientieren sich an westlicher Mode und Musik und haben eine andere Weltanschauung als die Generation ihrer Eltern und die konservative Bevölkerungsmehrheit. Die Jugendlichen versuchen die beiden antithetischen Welten in Einklang zu bringen und wünschen sich eine Vereinbarkeit von traditionellen und modernen Lebenskonzepten. Dies kann zu einem Werte- und Identitätskonflikt führen, aber auch Chancen bergen, positive Eigenschaften beider Welten miteinander zu verbinden und daraus etwas Neues entstehen zu lassen. Die Krise der Institution der Ehe und alle daraus entstehenden Konsequenzen, der demographische Jugendüberhang sowie die gelebte Realität der Jugendlichen und deren Diskriminierung verdeutlichen, dass eine Enttabuisierung des Themenfelds Sexualität und die Revision der sie betreffenden Artikel im Strafgesetzbuch eine Notwendigkeit darstellt. Das erste Reformprojekt, welches im Jahr 2015 vom

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ehemaligen marokkanischen Justizminister vorgestellt wurde, ist von Seiten der Zivilgesellschaft mit Recht einer scharfen Kritik unterzogen worden, da es sich nicht nur um kosmetische Veränderungen handelte, sondern weil sexuelle Regelverstöße in einem noch höheren Maße sanktioniert werden sollten. Der Justizminister begründete die Unantastbarkeit des Sexualverbots damit, dass Marokko ein islamisch geprägtes Land sei und diese Artikel dem islamischen Recht unterliegen würden. Das Verbot der vorehelichen Sexualität und die Unterdrückung der weiblichen Sexualität wird zwar mit der Religion legitimiert, basiert jedoch letztlich auf einer Kombination soziohistorischer, soziopolitischer und ökonomischer Faktoren. Dass ein normativer Wandel und damit gesellschaftliche Transformation auch im mehrheitlich islamischen Marokko möglich sind, hat die Familienrechtsreform im Jahr 2004 gezeigt. Anhand der Familienrechtsreform wird erkennbar, wie die Zivilgesellschaft trotz des Widerstands konservativer Bevölkerungsgruppen die politische und gesellschaftliche Mitbestimmung von Frauen durchsetzen konnte. Dabei war die Unterstützung des Königs Mohammed VI., der in seiner Funktion als religiöse und weltliche Autorität den Widerstand der Reformgegner unterbinden und mit Nachdruck die Umsetzung der Reform forcieren konnte, von großer Bedeutung. Die Reform des Familienrechts ist ein Beweis dafür, dass Differenzierungsvorgänge auch in zuvor als sakral definierten Bereichen einsetzen können. Ihre Durchsetzung hat gezeigt, dass Regelungen der Shariʿa und universelle Menschenrechte mit Hilfe des iğtihād, als methodisches Werkzeug der vernunftbasierten Koraninterpretation, miteinander zu vereinbaren sind und dass die soziale und rechtliche Diskriminierung von Frauen vielmehr mit patriarchalen Strukturen, die bestimmte Auslegungen der heiligen Texte favorisieren, erklärt werden können. Die sexuelle Selbstbestimmung ist eine Frage sozialer Gerechtigkeit und ein Menschenrecht. Die Kriminalisierung der vorehelichen Sexualität stellt somit einen Angriff auf die individuellen Freiheiten des Einzelnen dar, weshalb die Gesetzespassagen des Strafgesetzbuchs, die die Sexualität betreffen, einer Reform unterzogen werden müssen. Es muss eine Anpassung der Gesetze an die Komplexität der gelebten Erfahrungen von Jugendlichen und an die universalen Menschenrechte, auf denen auch die neue Verfassung basiert, erfolgen. Die Verfassung postuliert in Artikel 19 individuelle Freiheiten und die Gleichstellung von Männern und Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und da sie die höchste rechtliche Instanz eines Landes darstellt, müssen die genderdiskriminierenden Artikel des Strafgesetzbuchs revidiert werden. Andernfalls wird geltendes Recht nicht adäquat umgesetzt.

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Zukünftig wird sich zeigen, ob die Zivilgesellschaft mit Hilfe des Königs, in seiner Funktion als „Befehlshaber der Gläubigen“, in Zusammenarbeit mit der ʿulamāʾ und unter Zuhilfenahme des iğtihād die Umsetzung einer Strafrechtsreform forcieren kann. Es lässt sich feststellen, dass sich der Diskurs um Sexualität in den letzten Jahren geöffnet und intensiviert hat. Dazu trugen nicht nur Journalisten oder Kunstschaffende, sondern auch die rege Aktivität der Zivilgesellschaft und nicht zuletzt die Jugendlichen selbst bei, die deviante Beziehungsformen praktizieren, an bestimmten öffentlichen Plätzen und auf sozialen Medien ihre Zuneigung zueinander zeigen und ohne Trauschein zusammenwohnen. Dadurch verschieben sie (direkt oder indirekt) oktroyierte bestehende gesellschaftliche Grenzen zwangsläufig und stellen ihre Gesellschaft vor die Herausforderung, dieses soziale Phänomen zu akzeptieren und sich zu modernisieren. Jugendliche fungieren dabei als ‚Agenten des sozialen Wandels‘ (agents of change), weil sie von ihren zivilen Freiheiten zunehmend Gebrauch machen, die bestehenden Gesellschaftsnormen in Frage stellen und Kritik an der tradierten Geschlechterordnung üben. Der bestehende Diskurs rund um die Sexualität ist ein Zeichen dafür, dass dieses Thema von seiner Tabuisierung befreit ist und in der Gesellschaft Beachtung findet. Der Diskurs spiegelt die Intensität gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse wider, die sich zwischen der Jugend und der konservativen Bevölkerung abspielen. Durch ihre direkte (öffentliche) oder indirekte (private) Herausforderung bestehender sozialer Normen signalisieren die Jugendlichen ihrer Gesellschaft, dass es an der Zeit ist, die rechtlichen Bestimmungen an ihre Lebensrealität anzupassen. Die Debatte um das Reformprojekt verdeutlicht die Dynamik des Sexualitätsdiskurses und die Diversität der Akteure, die sich für oder gegen die sexuelle Liberalisierung aussprechen und ist ein Indiz dafür, dass der Diskurs und der Aushandlungsprozess rund um die voreheliche Sexualität sich auf dem Höhepunkt befinden. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob und wie das Land sich diesen Herausforderungen stellen, also der in der Verfassung verankerten Gültigkeit der universellen Menschenrechte auch rechtspraktische Taten folgen lassen wird. Die marokkanische Gesellschaft befindet sich heute, trotz des Erstarkens einer wahhabitisch geprägten Ideologie, in einer Transition von einer traditionell patriarchalen geschlechter-hierarchischen zu einer geschlechter-egalitären Gesellschaft, die sich in den Einstellungen der Bevölkerung, insb. der jungen Generation, bezüglich der gesellschaftlichen Rezeption von Frauen in der Öffentlichkeit und ihrer Stellung in der Gesellschaft, der Befürwortung von Konzepten der Moderne und der Demokratisierung widerspiegelt. Dieser Übergang kann bisweilen zu einem Di-

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lemma innerhalb der Bevölkerung führen, die nach der Unabhängigkeit des Landes von verschiedenen Ideologien und Lebenskonzepten beeinflusst wurde. Seit dem Amtswechsel im Jahr 1999 hat sich die marokkanische Herrschaftsform sukzessive von einem repressiven und autoritären Regime hin zu einem auf Dialog basierenden System transformiert, bei dem König Mohammed VI. seine Verpflichtung gegenüber den Prinzipien der konstitutionellen Monarchie und dem Mehrparteiensystem sowie seinen Respekt für die Menschenrechte und individuelle Freiheiten hervorhob. Die Aufhebung der CEDAW-Vorbehalte und die Reform des Familienrechts und der Verfassung verdeutlichen erste Annäherungen an eine Gleichstellungspolitik und eine Modernisierung der Gesellschaft. Mit der Ernennung eines neuen Ministers für islamische Angelegenheiten sowie einer Frau als Mitglied des „Höchsten Rats der Religionsgelehrten“ und der Etablierung eines Studiengangs für sogenannte „weibliche Imame“ (mourchidat) leitete der König überdies eine Umstrukturierung der religiösen Institutionen ein, die der Durchsetzung einer moderaten und auf Toleranz basierenden Religionspolitik dienen und radikalen islamistischen Ideologien und Strömungen Einhalt gebieten sollen. Globale Veränderungen zwangen ihn, seinen Führungsstil zum Zwecke seiner politischen Legitimation anzugleichen. So ist in Marokko in den letzten Jahren ein moderner Emanzipationsdiskurs entstanden, der weibliche Bildung und Berufstätigkeit sowie die Partizipation von Frauen in der Politik und der Gesellschaft betont und sich an den Vorgaben internationaler Konventionen orientiert. Die Reformpolitik des Königs hat die Grundvoraussetzung für sozialen Wandel in der marokkanischen Gesellschaft geschaffen. Die Loyalität, die ihm von der Bevölkerungsmehrheit entgegengebracht wird, zeugt von der Befürwortung seiner Reformpolitik und seines Demokratisierungswillens. Die Monarchie bildet zwar auch nach der Verfassungsreform weiterhin das institutionelle und politische Zentrum des Systems, in dem die Mehrzahl der politischen Entscheidungen getroffen und Reformen angestoßen werden. Unter dem aktuellen König wirkt sich dies jedoch bisher positiv auf demokratische Entwicklungen und Reformprozesse aus. Strukturelle Veränderungen im Hinblick auf wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Modernisierung sichern bislang die Legitimation der marokkanischen Monarchie. In Zukunft wird vieles davon abhängen, ob der König sich auf Verhandlungen einlassen und bereit sein wird, seinen Machtbereich einzuschränken und eine Reform der Justiz und des Strafrechts sowie weitere Maßnahmen einzuleiten, die für den Demokratisierungsprozess Marokkos notwendig sind. Die Zukunft des Landes hängt somit vom Reformwillen des Königs ab und davon, ob er der demographisch größten Bevölkerungsgruppe das Recht auf individu-

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elle Freiheiten und gesellschaftliche Partizipation zugesteht. Die junge Generation wird in Zukunft einen entscheidenden Einfluss auf Prozesse der Modernisierung und Demokratisierung der Gesellschaft haben, von denen Frauenrechte nur eine, wenn doch entscheidende, Komponente darstellen. Als Entscheidungsträger von morgen sind ihre Wertevorstellungen, ihre Aushandlungen mit der Gesellschaft und ihre Handlungsmacht entscheidend für die Etablierung einer egalitären Geschlechterordnung, den Anschluss an globale Entwicklungen und soziale Transformationsprozesse.

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Ethnologie und Kulturanthropologie Stefan Wellgraf

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