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German Pages 366 Year 2020
Lene Faust Neofaschismus in Italien
Kultur und soziale Praxis
Lene Faust, Ethnologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Sie promovierte an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Anthropologie, der Religionsethnologie sowie der Mittelmeerethnologie.
Lene Faust
Neofaschismus in Italien Politik, Familie und Religion in Rom. Eine Ethnographie
Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät I der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Erstgutachter: Prof. Dr. Thomas Hauschild Zweitgutachterin: Prof. Dr. Michaela Schäuble Datum der mündlichen Verteidigung: 12. Juni 2019
Diese Arbeit wurde von 2011 bis 2014 durch ein Promotionsstipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst gefördert. Die Übernahme der Druckkosten erfolgte durch die UniBern Forschungsstiftung. Ausgezeichnet mit dem Forschungsförderungspreis des Frobenius-Instituts 2020 für die beste Dissertation in der deutschsprachigen Ethnologie.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Monumento nazionale a Vittorio Emanuele II, auch Altare della Patria genannt, Rom 2014. Fotographie: Lene Faust. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5470-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5470-1 https://doi.org/10.14361/9783839454701 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Für Lasse.
Inhalt
Prolog: Schmerzgrenzen der europäischen Erinnerungskulturen | 11
1 EINLEITUNG | 21 2 DER ITALIENISCHE NACHKRIEGSFASCHISMUS | 33 2.1 Faschistische Identität nach 1945 in Rom | 33
2.1.1 Enge Grenzen: politisches Territorium des Nachkriegsfaschismus | 33 2.1.2 Die Generationen des Nachkriegsfaschismus | 46 2.1.3 Zugehörigkeiten und Selbstbilder | 49 Faschistisches Ethos und der 8. September 1943 | 50 Heldenmythos der Kriegsverlierer | 55 Netzwerke der RSI-Veteranen | 58 Faschisten oder Soldaten? | 61 II. und III. Generation: Lebensstil und Provokation | 69 2.1.4 Praktiken des Erinnerns und Vergessens | 75 Über den Krieg sprechen | 75 Schriftliches Erinnern | 80 2.2 Identitätskonstruktion am Rande der Legalität | 85
2.2.1 Grenzen innerhalb des Staates seit 1945 | 85 2.2.2 Exkurs: Grenzen der Forschung | 94 2.3 Nachkriegsfaschismus: soziale Außenseiterposition als Herausforderung und Potenzial | 100
2.3.1 Politisches Machtsystem und Klientelismus | 100 2.3.2 Eintritt in die Regierung 1994 und Fragmentierung | 105 2.4 Politik und Alltagspraxis in der faschistischen Kultur | 111
2.4.1 Politisches Territorium: zur Bedeutung von Räumen | 111 2.4.2 Politik an der Grenze zur Gewalt und das Erbe der anni di piombo | 116 2.4.3 Faschistische Erinnerungskultur als politische Praxis | 120 Das faschistische Erinnerungsjahr | 120 Il presente: Gedenken als körperliche und politische Praxis | 125
Gedenken an die Toten der I. Generation: Campo della Memoria | 129 Gedenken an die Toten der II. Generation: Acca Larentia | 133 Totenkult als Ritual im Angesicht von Tod und Krise | 136 2.5 Antifaschismus und Faschismus | 139
2.5.1 Ordnung und Unordnung in einer Gesellschaft | 139 2.5.2 Emotionale Dimensionen von Ordnung und Unordnung | 142 Antisemitismus | 143 2.6 Räume und Grenzen des Nachkriegsfaschismus | 144
3 DER ZWEITE WELTKRIEG IM SPIEGEL DER GENERATIONEN | 147 3.1 (Bürger-)Krieg, Traumatisierung, Täterschaft | 147
3.1.1 Bürgerkrieg und faschistische Täterschaft | 147 3.1.2 Kriegsneurosen | 152 3.1.3 Täterschaft im nationalen Diskurs | 156 3.2 Dimensionen im Umgang mit Täterschaft | 159
3.2.1 An den Grenzen des Sagbaren: wo Schuld beginnt | 159 Michele: Wir haben geschossen | 161 Ich bin schuldig | 164 Alessandro: Der Mensch ist ein Tier | 165 Manfredo: Es gab keine Unschuldigen mehr | 174 3.2.2 Täterschaft als Erfolgsgeschichte | 178 Fabio: Mit dem Rücken zur Wand | 178 3.2.3 Exkurs: Grenzgänge des Forschens, Gegenübertragung | 182 Träume: der Krieg | 182 3.3 Lange Schatten von Täterschaft | 184 3.4 Familiengeschichten des Nachkriegsfaschismus | 187
3.4.1 Familiäre Räume | 188 3.4.2 Familiendynamik I: Konfliktreiche Beziehungen und heimliche Loyalitäten | 193 RSI-Veteranen und ihre Kinder | 193
Eine Enkelin im Dienste des Vaters und des Großvaters | 201 Das familiäre Erbe der politischen Loyalität | 203 3.4.3 Familiendynamik II: Ein Familienportrait, die geheime Schuld | 205 Alessia: Geschichte einer Exekution | 205 Unschuld um jeden Preis | 208 Auch ich war beschmutzt | 210 Eine Pilgerfahrt: geheime Sühne | 212 Antonio: Papa, wie viele hast du umgebracht? | 217 Francesco: Er trug keine Waffen | 220 Die Last einer Entscheidung | 222 Gewalt | 225 Die Gewalt meiner Fragen | 227 Dilemmata der Enkel | 231 Familiengedächtnis und transgenerationale Weitergabe | 234 3.4.4 Familiendynamik III: Gefahr der Psychotherapie, wenn das Trauma ans Licht kommt | 241 Isabella: stille Rebellion | 242 3.4.5 Exkurs: Sohn eines Partisanen | 246 3.5 Verflechtung von familiärem und politischem Raum | 248
4 DIE TOTEN DES FASCHISMUS | 251 4.1 Topografie der Toten | 251
4.1.1 Die Toten als kulturelle Reserve | 251 4.1.2 Rom, das Latium und die Toten des Zweiten Weltkriegs | 259 Die Fosse Ardeatine | 260 Die Krypten der Faschisten | 261 Exkurs: Cimitero Maggiore di Milano | 263 Soldatenfriedhöfe | 265 Notbestattung in einem Familiengrab | 267 Der Campo della Memoria | 270 4.2 Die Kraft der Erde | 274 4.3 Die Macht der Toten | 279
4.3.1 Manifestation im Ritual | 281
4.3.2 Verschiebung auf den Narren | 286 4.3.3 Der geträumte Blick | 288 4.4 Im Namen der Toten | 293
5 ELEMENTE DES RELIGIÖSEN IM NACHKRIEGSFASCHISMUS | 295 5.1 Faschismus als Politische Religion | 295 5.2 Religiöse Praktiken im Nachkriegsfaschismus | 301
5.2.1 Faschistischer Märtyrerkult | 303 Predappio: Kultstätte und Heiligtum | 303 Der Duce als Märtyrer | 307 5.2.2 Madonna del Fascio | 316 5.3 Die sakrale Dimension im Nachkriegsfaschismus | 320
6 FAZIT | 323 6.1 Dimensionen des Nachkriegsfaschismus als politische Subkultur | 323 6.2 Faschismus als politische Bewegung der Krise | 329 6.3 Das Ende der Wut | 331
7 ANHANG | 333 7.1 Glossar | 333 7.2 Abbildungsverzeichnis | 341 7.3 Literaturverzeichnis | 343
Prolog: Schmerzgrenzen der europäischen Erinnerungskulturen
SPANNUNGSFELDER Sommer 2013. Meine Füße gehen über Berliner Straßen, grauer Stein und Asphalt unter blassem Himmel, unterbrochen von kleinen goldenen Vierecken, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Die kleinen Quadrate aus Messing markieren die Häuser, in denen Menschen lebten, bis sie verschleppt und in Konzentrationslagern ermordet wurden.1 Ich versuche, auf keines der fahl glänzenden Quadrate zu treten, meine Schritte daneben zu setzen, gehe um sie herum und spüre, wie sich mir jedes Mal die Kehle zuschnürt, voller Trauer und Entsetzen. Es sind vorsichtige Schritte in die deutsche Vergangenheit, die unmittelbar unter meinen Sohlen in Beton und Messing gegossen wurde. Auch in Rom bin ich auf Asphalt gegangen, habe metallene Stolpersteine der Erinnerung umgangen und der Opfer gedacht. Bisweilen verschwinden einige dieser Steine, werden von anonymer Hand ausgegraben und aus dem Stadtbild entfernt. Der Krieg um die Erinnerung hat den Boden zu meinen Füßen erreicht.2 Meine Füße liefen in Rom über Reste faschistischer Vergangenheit, das sogenannte fascio littorio [Liktorenbündel], welches noch heute auf vielen römischen Kanaldeckeln Zeugnis von einer schwerwiegenden Vergangenheit ablegt. Zu Zeiten der Römischen Republik waren die fasces lictorii (lat.) Symbol der höchsten Amtsträger,3 als Teil der faschistischen Ideologie, die im Rom-Mythos Vorbild
1
Vgl. NS-Dokumentationszentrum 2007.
2
http://roma.repubblica.it/cronaca/2014/02/07/news/rubata_la_pietra_di_don_pietro_pappagallo_memoria_d_inciampo_perse_le_tracce-77995831/ [15.8.2020].
3
Aus Gründen der Leserlichkeit werde ich in dieser Arbeit auf gesonderte Genderformen verzichten. Ich bin mir der allgemeinen Problematik der Diskussion bewusst und
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und Legitimation für eine imperialistische Außenpolitik fand, wurden sie zu einem zentralen Symbol des Regimes.4 Zwar haben sie ihren Glanz verloren neben den neueren messingfarbenen Stolpersteinen, die an die Deportation der Juden gemahnen, aber auch sie prägen den Boden der Hauptstadt – überall ist die Vergangenheit unter unseren Sohlen präsent. In Rom habe ich über diejenigen geforscht, für die der italienische Faschismus nicht negativ besetzt ist, ich habe Mitglieder der faschistischen Nachkriegsszene aus verschiedenen Generationen nach ihren Lebensgeschichten, nach ihrer Erinnerung, nach der Bedeutung der Vergangenheit und nach den Toten, nach ihren Wünschen und Sehnsüchten, ihren politischen Überzeugungen, ihrem Alltag, ihrer Wut, ihrer Liebe gefragt. Ich habe sie begleitet – zu Erinnerungszeremonien, politischen Veranstaltungen, in ihre Wohnungen, in ihre Familien. Ich habe die befragt, die auf der Seite der Täter stehen, wenn wir aus deutscher Sicht auf die Vergangenheit, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg schauen. Wer sind diese Menschen, die sich auf die ›andere‹ Seite der Geschichte und der Gesellschaft stellen, die den Faschismus nach wie vor gutheißen und in Ehren halten? Wie und was denken sie, wie funktioniert die faschistische Kultur, wie faschistische Erinnerung? Es sind Fragen, die mir hier, zurück auf deutschen Straßen wieder schwerer fallen, Fragen, die sich anfühlen wie ein schwerer Mantel auf meinen Schultern, wie Zündstoff angesichts des schmerzenden messingfarbenen Gedenkens. Das faschistische ambiente ist eine parallele Welt zur offiziellen antifaschistischen Nachkriegskultur, welche die breite Gesellschaft Italiens prägt. Ihre Vertreter gehören zu ›den Anderen‹, bewegen sich am Rande der Legalität. Diese Stimmen, die für den italienischen Faschismus sprechen, sind politisch und zugleich privat, sie verwalten die ›Geheimnisse‹ der faschistischen Szene, ihre Existenz nach 1945. Verrat wird bestraft, denn er kann die Gruppe gefährden. Das Wahren der Geheimnisse schützt den Raum – wer drinnen spricht, bleibt draußen stumm. Georg Simmel beschreibt das Geheimnis als eine Notwendigkeit innerhalb menschlicher Beziehungen, als Teil aller Gesellschaften, zeigt auf, wie es sich verändert zusammen mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt, und sich dabei immer mehr vom Öffentlichen ins Private verschiebt:
möchte betonen, dass trotz Verwendung der männlichen Form im Sinne der Gleichberechtigung immer beide Geschlechter gemeint sind. 4
Vgl. Schieder 2010: 60/ 61.
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»Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener aufs stärkste beeinflusst. Es charakterisiert jedes Verhältnis zwischen zwei Menschen oder zwischen zwei Gruppen, ob und wie viel Geheimnis in ihm ist.« (Simmel [1907] 1993: 317).
Worin besteht das Geheimnis der faschistischen Szene? Wie kann man die faschistische Kultur in Italien heutzutage verstehen?
GETEILTE ERINNERUNG? Immer wieder wird in Italien über eine memoria condivisa, eine geteilte Erinnerung, gestritten. Erinnerung ist Vergegenwärtigung der Vergangenheit, ritualisiertes Gedenken bereitet Vergangenes für die Gegenwart auf, stiftet Identität für die Zukunft durch den Blick auf Gewesenes. Es geht um den Umgang mit Erfahrung. In Italien fordern die Faschisten das Recht ein, öffentlich ihrer Toten zu gedenken, aber der kollektive Antifaschismus untersagt Zugeständnisse im Hinblick auf diese Toten. Und so gibt es aus faschistischer Sicht heute im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg mit seinem schrecklichen Ende in Form des Bürgerkrieges 1943-1945 morti di serie A e morti di serie B, Tote der Kategorie A (Antifaschisten) und Tote der Kategorie B (Faschisten). Der Konflikt zwischen Faschisten und Antifaschisten verschärfte sich in Zeiten des Kalten Krieges, während der als anni di piombo [bleierne Jahre] bezeichneten Phase zwischen 1968 bis zum Attentat von Bologna 1980, die geprägt waren von Guerillakämpfen zwischen rechten und linken Gruppierungen und Anschlägen. Die Kommunistische Partei (Partito Comunista Italiano) war Mitte der 1970er-Jahre zur größten kommunistischen Partei der westlichen Welt geworden, es konnte daher nur im Interesse der westlichen Mächte sowie auch der amtierenden italienischen Regierung der Demokratischen Partei (Partito Democratico) sein, die extremen politischen Randgruppen auf beiden Seiten zugunsten der geopolitischen Interessenlage zu kontrollieren. Aus USamerikanischer Perspektive diente Italien in dieser Zeit als Flugzeugträger und damit potenzieller militärischer Stützpunkt im Konflikt mit Russland. Sondergesetze wurden erlassen und der Staat reagierte mit aller Härte auf Gewalt und politisch motivierte Aktionen extremer Randgruppen. Aus Sicht der faschistischen Szene haben auch die Toten dieser Jahre bislang keinen Platz in der offiziellen Erinnerungskultur. Die in der gesellschaftlichen Ordnung manifestierten Unterschiede zwischen Antifaschisten und besiegten Faschisten setzten sich über den Tod hinaus fort.
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Was geschieht mit den Tätern, wenn alle Opfer gleich werden? Wird ihre Schuld zu einer gleichen Schuld? Täterschaft wird vor allem aus Sicht politischer Erinnerungsdiskurse unterschieden. Der 2013 gewählte, linke Bürgermeister Roms Enrico Marino (Partito Democratico) hat mit der Tradition seines rechten Vorgängers Gianni Alemanno (Il Popolo della Libertà) gebrochen und den 1978 ermordeten Opfern von Acca Larentia am Jahrestag des Attentats, dem 7. Januar 2014, nur wenige Zeilen auf Twitter gewidmet, statt einen Kranz nieder zu legen. Es handelt sich bei den Toten um zwei junge Mitglieder der Jugendorganisation der 1946 gegründeten faschistischen Partei Movimento Sociale Italiano, die von Mitgliedern einer kommunistischen Gruppierung erschossen wurden. Marino verurteilte in seiner Mitteilung Gewalt im allgemeinen; den Polizisten, der für den Tod eines dritten Opfers in den auf den Anschlag folgenden Unruhen verantwortlich war, nahm er als Repräsentanten der Staatsgewalt in Schutz und verteidigte damit in den Augen vieler einen Täter.5 Dies berichtet die italienische Tageszeitung Il Tempo, die auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Erinnerung an die Opfer der anni di piombo auf beiden politischen Seiten verweist. Der Bürgermeister von Rom hat sich auf eine antifaschistische Position zurückgezogen, von der aus er agiert – die Toten des gegnerischen Lagers hat er aus seinem Blickfeld ausgeschlossen und damit die Wut ihrer Fürsprecher im faschistischen Milieu auf sich gezogen. In Deutschland hat der Eklat von Bitburg, als Helmut Kohl versuchte, das Gedenken an Mitglieder der SS und damit an die Täter in den deutschen Erinnerungsdiskurs zu integrieren, um eine neue Möglichkeit der Aufarbeitung zu schaffen, klar gezeigt, wie heikel solche Bemühungen sind und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die Kranzniederlegung von US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl am 5. Mai 1985 an der Gedenkstätte des KZ BergenBelsen und den Kriegsgräbern Bitburg-Kolmeshöhe, ein Friedhof, auf dem auch SS-Offiziere begraben sind, führte zu heftigen Kontroversen und Diskussionen in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit. Es gibt heute ein kollektiv gesellschaftlich akzeptiertes Konzept mit Regeln für den Umgang mit der Vergangenheit, seitdem die Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkrieges über dieses Land gerichtet haben und viele, wenn auch längst nicht alle Täter zur nötigen Rechenschaft gezogen haben. Der kategorische Imperativ Theodor W. Adornos: »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung« (Adorno 1971: 88) hat uns bis ins neue Jahrtausend begleitet und ist deut-
5
www.iltempo.it/politica/2014/01/08/l-insulto-di-marino-ai-morti-di-acca-larenzia1.1205857 [15.8.2020].
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sche Staatsräson. Eine komplexe und nicht unproblematische Entwicklung – Leggewie (2009) beispielsweise spricht vom Holocaust als negativem Gründungsmythos für Europa. Erinnerung kann auch politisches Instrument und Aushängeschild sein und riskiert dadurch Stagnation sowie eine inflationäre Entwicklung als »Memorymania« (Welzer 2007: 7) im Sinne einer Praxis der Erinnerung, die im dritten Jahrtausend als normatives Regelwerk für die europäische Zukunft im Sinne einer Zivilreligion feste und z.T. auch starre Grenzen setzt. Die Erinnerung an den Krieg ist damit zugleich politische Richtlinie der Gegenwart und Maxime für die politischen Konzepte der Zukunftsgestaltung. Deutlich wird, dass (geteilte) Erinnerung äußerst problematisch ist. Im italienischen Erinnerungsdiskurs wird sichtbar, dass auch die Verlierer des Krieges, die Faschisten, trotz allem das Recht beanspruchen, ihrer Toten zu gedenken. Fronten verhärten sich, Konflikte bleiben bestehen und werden immer wieder genährt durch den Streit um die Toten. Könnte Aufarbeitung also bei den Toten beginnen? In Bezug auf den Krieg geht es in erster Linie um die Erinnerung an die toten Opfer, aber auch um die toten Täter: tote Faschisten, tote Nationalsozialisten, tote SS-Leute und viele andere mehr. Was passiert, wenn nicht alle Toten einen Platz bekommen im öffentlichen Gedenken? Wenn man die Täter nicht erinnern, ihrer nicht gedenken darf oder will? Die Lebenden, die sich mit ihnen verbunden fühlen, reagieren dann oft mit Wut und der Konflikt bleibt – im Namen der Toten.
SCHMERZGRENZEN Wo genau liegen die Schmerzgrenzen einer Gesellschaft? Sie liegen auf dem Weg zu den Tätern, bei der Auseinandersetzung mit ihnen. Kategorisierte Schuld erscheint oft leichter und führt zu Einteilung in schlimme und weniger schlimme Täter, Nationalsozialisten und Faschisten, bravi italiani und cattivi tedeschi – gute Italiener und böse Deutsche.6 Der Blick auf fremde Täter fällt leichter als auf die eigenen. Schmerzgrenzen sind dort, wo Grenzen überschritten werden, die in einer Kultur oder Gesellschaft errichtet wurden. Unsere deutschen Schmerzgrenzen beginnen mit dem Gedenken an den Holocaust, sie sind eindeutiger als die italienischen auf gewisse Weise, denn Deutschland muss die Verantwortung für die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus alleine tragen, es gibt keine Nation, die schlimmere Verbrechen begangen hat. Schmerzgrenzen tun weh. Der Blick auf die Opfer schmerzt, Schuld schmerzt, sie schmerzt in unserer ›deutschen Seele‹. Aber könnte nicht, wer die Täter in ihrer Menschlichkeit sieht,
6
Vgl. Focardi 1996 und 2013.
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ihre Verbrechen auch klarer sehen? Ein Opfergedenken, bei dem die Wut die Täter ausschließt und sie vor dem eigenen Gefühl verbirgt, ist einfacher als ein Gedenken, das die Täter als Menschen miteinschließt. Denn automatisch schließt sich beim Blick auf die Täter die Frage an: Könnte auch ich ein solcher Täter sein? Diesen Anteil in uns, den müssen wir dann bedenken, mit ihm umgehen lernen.7 Nach den Frankfurter Auschwitzprozessen 1967/ 68 haben viele Beobachter ihre Verwirrung bekundet bezüglich der Tatsache, dass denjenigen, die dort auf der Anklagebank saßen, ihre Täterschaft nicht anzusehen war. Hannah Arendt (1986) hat mit ihren Aufzeichnungen und Gedanken zum Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel 1961 viele Leser zutiefst verstört, als sie von der Banalität des Bösen sprach und die Menschlichkeit eines Täters zur Sprache brachte. Wie sieht ein Täter aus? Dies hat die Menschheit seit jeher beschäftigt. Die Kriminologie und andere Fachrichtungen treibt das Bedürfnis um, das Böse, das Potential zum Täter im Menschen zu kategorisieren und unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch, die Täter aus unserer nächsten Realität in die Vergangenheit zu verbannen, ihnen wird der Zutritt zur kollektiven Erinnerung verwehrt. Damit wird ihr Mensch-Sein in Frage gestellt, das anzuerkennen aber hilfreich sein könnte für eine kritische Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht. Wir könnten dann wieder einen kritischen Blick auf die Generation unserer Großväter und Urgroßväter wagen und auch ihnen ihre Menschlichkeit zurückgeben, wieder von ihnen abstammen, die Verbindung zwischen den Generationen wiederherstellen und uns anders mit diesem Erbe auseinandersetzen. Da solches Gedenken, das die Täterseite miteinschließt, gegen die etablierte kulturelle Praxis und damit eine Gefahr für die sichere ›Normalität‹ ist, flüchten sich Nachkommen, die solcherart gedenken wollen, oft in Erinnerungsräume, in denen eine positive Erinnerung möglich ist. Faschistische Kreise und Zirkel in Italien ermöglichen solche Räume. Oft können Kinder oder Jugendliche nicht erklären, warum es sie in bestimmte politische Kontexte zieht oder einst zog, aber es ist deutlich, dass hier die Suche nach der Kontinuität im Familiengedenken eine
7
Vgl. Forschung des amerikanischen Historikers Bergerson in Hildesheim mit Zeitzeugen des Nationalsozialismus, in der er sich u.a. mit der Forscherrolle und der Frage nach eigenen potenziellen Täteranteilen auseinandersetzt und den Wunsch thematisiert, »vor dem davon [zu] rennen, was da in mir lauerte: vor dem Faschisten in mir« (Bergerson 2002: 227). Als Reaktion auf einen Streit mit einer deutschen Kollegin, die ihn begleitet, verteidigt Bergerson seine Zurückhaltung in einem Interview mit einem überzeugten Nazi: der Versuch, in den Interviews die politische Haltung der Interviewpartner zu ändern, verhindere, das für die Interviews notwendige Vertrauen zu gewinnen, der Ort, um Kritik zu äußern, sei das Buch oder der Aufsatz, betont er (ebd. 2002: 233).
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maßgebliche Rolle spielt. Familiäre Bande bestehen sowohl zu den Lebenden als auch zu den Toten und politische Orientierung ist auch im Familiären verortet. Die Loyalität zur Familie spielt bei der Haltung zum gesellschaftlichen Geschichtsbewusstsein eine wichtige Rolle. Durch meine Forschung habe auch ich schmerzvoll Grenzen erfahren, bin den Faschisten, den Tätern unseres antifaschistischen Erinnerungsdiskurses nahegekommen. Dabei habe ich eine Schmerzgrenze überschritten, und zwar die, die in die Welt der Täter führt: habe mich in ihrer Welt bewegt, ihre Gedanken mitgedacht, habe mir erlaubt, zu verstehen und nachzufühlen. Am Anfang meiner Forschung war es sehr schmerzhaft für mich selbst, diese Grenze zu überschreiten, und ich habe es nur Schritt für Schritt vermocht, mich anzunähern. Wieder zurück in Deutschland ist es schmerzhaft für viele meiner Mitmenschen, meine Schritte jenseits dieser Grenze zu akzeptieren oder zu begreifen. Man will mich zurückholen aus der Welt der ›Täter‹, in die Welt der ›Guten‹, ich soll wieder zurückkommen über die Schmerzgrenze der Erinnerung. Mit einem Mal stehe ich zwischen beiden Welten, begreife deutlicher als je zuvor, dass es diese beiden Welten gibt. Das, was schmerzt, wird zum Tabu, zum kollektiven Sperrbezirk. Dieses Tabu schließt alles ein, was mit dem Schmerz über die deutsche Täterschaft verknüpft ist. Man darf diesen Bereich als ›guter‹ Deutscher nur von außen betrachten, muss ihn verdammen, sich distanzieren, aber man darf ihn nicht betreten. In 70 Jahren ist auch eine Sprache gewachsen, in der wir über diesen Erfahrungsraum der Schuld sprechen können, nur so halten wir ihn aus. Auf bestimmte Art und Weise muss er fern bleiben von uns, in Beton gegossen, in Büchern verwahrt, in Zeitzeugenberichten hinter der Scheibe eines Fernsehers sicher in mediale Archive verbannt. Was uns bleibt ist die gerechte Wut über die Schuldigen, die wir Nachkommen aus unserer Realität ausgelagert haben.8 Aber was wäre, würden wir den Tätern gegenüberstehen? Die meisten sind mittlerweile tot, und die wenigen, die noch leben, behandeln wir, als seien sie schon tot. Was würde sich verändern, wenn wir auch ihnen einen Platz geben würden in diesem unserem Raum, in dem die gerechte Wut herrscht? Wir müssten noch einmal den Schmerz darüber fühlen, über ihre Taten, die Gräuel, die möglich waren. Wir würden den Opfern dieser Täter vielleicht eine neue Würde zugestehen, indem wir das Ausmaß des Schreckens noch einmal anders begreifbar und real werden ließen. Wir müssten uns auch diesen Toten stellen, ihnen einen Platz in der Geschichte zugestehen. Die Frage ist, ob die Zeit dafür gekommen ist in der dritten und vierten Generation der Nachkommen, die sich mit dem Erbe von Krieg und Massenmord auseinandersetzen müssen – ob sie überhaupt jemals kommen wird.
8
Vgl. Welzer 2002.
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Mit dem Überschreiten dieser Schmerzgrenze habe ich die Faschisten, die auf die Seite der Täter gehören, von einem körperlosen Zustand in ein greifbares, physisches, menschliches Gegenüber zurückübersetzt. Es ist eine Herausforderung, das Potential des Abgelehnten in uns selbst zu spüren und leichter, diese Möglichkeit in einen künstlichen Raum zu veräußern, in den wir die faschistischen Täter und alle, die zu dieser Welt dazu gehören, kategorisieren können – weit weg von uns, so dass wir davor sicher sein können. Darf ich sprechen? Welche Sprache kann ich benutzen? Was darf ich schreiben, frage ich mich bang, während ich mein Material wieder und wieder durchgehe. Ich werde beschreiben und mein Versprechen als Forscherin halten, die Dinge beim Namen zu nennen, die ich beobachtet, gehört, gesehen und erlebt habe, ohne dass ich jemals zur Welt der Faschisten ›übergelaufen‹ bin. Auch, wenn man dazu auf der Schmerzgrenze balancieren muss. Es ist der Versuch, eine Sprache zu finden für eine Welt, die uns fern ist, oder geworden ist seit 1945, ein Dialog zwischen Forscher und Feld, zwischen mir als Deutscher und italienischen Faschisten und ihren Familien. Für eine Kultur, die wie jede andere ihre Geheimnisse birgt, die sich den Blicken des Außenseiters, des Fremden entziehen. Um zu verstehen, braucht es einen Perspektivwechsel, Nähe und möglichst Unvoreingenommenheit – zwei Grundvoraussetzungen für einen sinnvollen Dialog zwischen zwei Parteien. Der Ethnologe und Psychoanalytiker George Devereux hat Schwierigkeiten und Widerstände als zentrale Ausgangspunkte für den Erkenntnisgewinn bezeichnet. Nach Devereux soll Datenauswertung drei Dimensionen beinhalten: »1. Das Verhalten des Objekts. 2. Die ›Störungen‹, die durch die Existenz und die Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden. 3. Das Verhalten des Beobachters: seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine ›Entscheidungen‹ (d.h. die Bedeutung, die er seinen Beobachtungen zuschreibt).« (Devereux 1984: 20)9
Störung und Irritation selbst werden in dieser Perspektive zu einem entscheidenden Moment der Analyse: meine Schmerzgrenzen haben meine Rolle als Forscherin im Feld geprägt, sie haben meinen Blick auf das Feld beeinflusst und sind beständig in die Analyse der Daten eingeflossen. Ich selbst wurde antifaschistisch
9
Devereux’ methodologische Überlegungen bilden zusammen mit dem ethnopsychoanalytischen Ansatz von Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy die Grundlage für den ethnopsychoanalytischen Forschungsansatz von Nadig, Erdheim u.a., in dessen Mittelpunkt die affektive Involviertheit und Subjektivität des Forschers stehen, die selbst als Schlüssel zur Erkenntnis sowie zur Analyse des Datenmaterials betrachtet wird (vgl. Reichmayer 2003: 211).
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sozialisiert und fühlte mich den Opfern des Holocaust mein Leben lang nah. Meine beiden Großväter haben im Krieg gekämpft und sich kritisch zum Nationalsozialismus positioniert, väterlicherseits mit der 6. Armee in Frankreich und Russland. An der Ostfront wurde dieser Großvater schwer verwundet und überlebte nur knapp, nach seiner Genesung wurde er als Melder eingesetzt. Ich habe ihn als vom Krieg gezeichneten Mann erlebt. Im Alter verfasste er Memoiren, die er danach verbrannte. Niemand weiß, was er aufgeschrieben hat und was im Krieg geschehen ist. Mein Großvater mütterlicherseits war bei der Flugabwehr in Berlin im letzten Kriegsjahr, ein Abenteuer für einen 16-jährigen. Nach dem Krieg lebte er einige Monate in einem Sanatorium entfernter Verwandter in der Nähe von München, in dem nach Kriegsende Überlebende des Konzentrationslagers Dachau untergebracht wurden. Er hat seinen Schmerz über diese Erfahrung nie verwunden. Auch die Erlebnisse meiner Großväter und meine Fragen nach ihren Erfahrungen haben meine Schmerzgrenzen geprägt. Sie sind ein roter Faden in meiner Forschung, daher stelle ich sie auch immer wieder explizit in den Mittelpunkt meiner Analyse. Sich als antifaschistische, junge, blonde Frau in einer von Männern dominierten, faschistischen Welt zu bewegen, ist eine Herausforderung. Es ist notwendig, normative Grenzen zu überschreiten und zugleich die eigenen Grenzen zu kommunizieren und zu wahren. Viele meiner Informanten wollten gehört werden, andere mich der Spionage überführen, alle wollten mich von sich und ihrer Geschichte überzeugen, sie sahen in mir eine Fürsprecherin außerhalb der faschistischen Szene, in Italien, in Deutschland, in der Wissenschaft, in der antifaschistischen Welt – Erwartungen, die ich nicht einlösen kann. Ethnologische bzw. sozial- und kulturanthropologische Kulturschilderung kann zu einem Problem werden, wenn faschistische Kultur als ›normale‹ Kultur beschrieben wird, als eine Form der unreflektierten Zeugenschaft, ohne den historischen Gesamtrahmen und die Unmenschlichkeit autoritärer Regime wie des Faschismus im Blick zu haben und zu thematisieren. Wie kann man faschistische Kultur beschreiben, ohne durch die einfache Tatsache, dies zu tun, bereits zu provozieren oder zu bewerten? Die Herausforderung besteht darin, eine Kultur trotz der Schmerzgrenzen zu verstehen, die fremd bleibt, wenn man sie nur wütend und voller Abscheu betrachtet und sie kategorisch verurteilt. Während meiner Feldforschung war ich die Fremde unter den Faschisten: Es ist auch das Privileg des Forscherblickes, dass er die Schmerzgrenzen betrachten darf.
1
Einleitung
Der Auftrieb rechter Parteien in Europa seit den 2000er-Jahren sowie die weitere Verschärfung dieser Entwicklung im Zuge der Flüchtlings- und Migrationskrisen entlang des Mittelmeers, hat den Fokus der Öffentlichkeit verstärkt auf populistische und nationalistische Bewegungen gelenkt.1 Der Rechtsruck in Europa, die Bedrohung durch den IS und eine latente Bürgerkriegsgefährdung in vielen Ländern des (südlichen) Mittelmeerraums werfen nicht nur Fragen nach dem aktuellen Umgang mit rechtsextremen politischen Kräften auf,2 sondern auch nach den Strukturen, die solche politischen Phänomene langfristig hervorbringen. Italien steht in diesem komplexen Durcheinander im besonderen Fokus. Der italienischen Gesellschaft wird immer wieder eine revisionistische Haltung im Umgang mit der faschistischen Vergangenheit attestiert u.a. aufgrund fehlender oder wenig kritischer Diskurse in der italienischen Presse und Bevölkerung über den Erfolg neofaschistischer Bewegungen, die öffentliche Sichtbarkeit neofaschistischer Erinnerungskultur oder faschistischer Gesten seit Beginn der sogenannten Zweiten Republik bzw. dem Eintritt rechter Parteien in die Regierung Berlusconis im Jahr 1994.3 Im Zuge einer Erfolgsserie rechter Parteien im Jahr 2017, u.a. bei den Kommunalwahlen im römischen Stadtteil Ostia im November,4 war (vereinzelt) von einer »schwarze Welle« [onda nera] im Land die Rede; der ehemalige Bürgermeister Roms Walter Veltroni rief in einem Interview mit der Tageszeitung La Repubblica am 3. Dezember 2017 dazu auf, die »schwarze
1
Siehe u.a. Ivaldi 2017, Hentges et al. 2017.
2
Vgl. Holmes 2000.
3
Vgl. Mattioli 2010.
4
www.ilmessaggero.it/roma/campidoglio/ostia_risultati_elezioni_x_municipio3347821.html [15.8.2020]
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Welle« zu stoppen und verwies auf eine akute Gefährdung der Demokratie. 5 Weiter verschärft wurde die Debatte durch provokante Aktionen neofaschistischer Gruppierungen in der Öffentlichkeit, wie derjenigen einiger Mitglieder der neofaschistischen Partei Forza Nuova, die am 6. Dezember 2017 vor der Redaktion der Tageszeitung La Repubblica in Rom demonstrierten und Rauchbomben zündeten, wobei sie der Presse einseitige, antifaschistisch motivierte Berichterstattung vorwarfen und ihr den Kampf ansagten.6 Italien nimmt durch seine Geschichte und seine geographische wie politische Position als Mittelmeerstaat eine Sonderrolle in Europa ein. Aus sozialanthropologischer Perspektive ist Italien eine Gesellschaft, die seit den großen Brüchen und politischen Umwälzungen in der Nachkriegszeit sowie nach Ende des Kalten Krieges immer wieder um ihr (politisches) Zentrum ringt, zumal es sich in Europa um eines der wenigen Länder handelt, »in dem die tribalen Kräfte von Korruption, Dunkelmännern und organisiertem Verbrechen den Staat elementar herauszufordern in der Lage sind« (Hauschild 2008: 120). Die italienische Gesellschaft ist von Familismus und Klientelismus geprägt, gesellschaftliche und politische Entwicklungen reflektieren diese Strukturen. Die Frage nach dem Ursprung politischer Phänomene wie dem italienischen Neofaschismus bzw. Nachkriegsfaschismus und Strukturen, die diesen langfristig hervorbringen, muss das Fehlen eines Zentrums in der italienischen Gesellschaft berücksichtigen, welches mitverantwortlich für den Erfolg rechtsextremer und populistischer Parteien ist. Grund für die fehlende Mitte sind maßgeblich die beiden Weltkriege sowie das faschistische Regime und die daraus resultierenden Verwerfungen, die Quelle für Traumata, Täterschaft und politische Brüche sind. Diese werden im Rahmen von Familienstrukturen ausagiert und unter herrschenden Konzepten von Ehre und Moral verhandelt; Familien sind in Klientelnetzwerke und parallele Machtstrukturen innerhalb des italienischen Staates eingebettet und wirken in die Gesellschaft hinein. Traumata und Feindschaften werden systematisch vererbt, familiäre Strukturen und Dynamiken begünstigen die Wiederholung von Täterschaft und Verdrängung alter Opfer. Nach der großen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der ganz Europa erschütterte, kommt gesamteuropäischen Erinnerungsdebatten über Nationalsozialismus und Faschismus, den Holocaust, Täterschaft und Kollaboration im Kontext
5
www.ilgiornale.it/news/politica/veltroni-democrazia-rischio-fermare-londa-nera-1470068.html [15.8.2020]
6
www.repubblica.it/politica/2017/12/06/news/forza_nuova_mascherati_fumogeni_intimidazione_repubblica-183252738/ [15.8.2020]
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einer gemeinsamen Zukunftsgestaltung in Europa zentrale Bedeutung zu und damit auch der Aufarbeitung problematischer Vergangenheiten einzelner Länder.7 Die Erinnerungspolitik in Italien zeichnet sich in erster Linie durch das Gedenken an die Opfer aus. Einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus und der Frage nach faschistischer Täterschaft und italienischen Kriegsverbrechen, beispielsweise im Kontext der italienischen Expansionspolitik in Nordafrika, auf dem Balkan sowie als Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ging man lange weitestgehend aus dem Weg. Stattdessen stand die Verurteilung der 1943 gegründeten Norditalienischen Sozialrepublik, Repubblica Sociale Italiana, kurz RSI,8 im Mittelpunkt der Erinnerungsdiskurse. Der neue faschistische Staat konnte mit Hilfe der Deutschen gegründet werden, nachdem Benito Mussolini durch den faschistischen Großrat abgesetzt worden war und die italienische Regierung einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen hatte. In der Folge wurde bis Kriegsende im April 1945 auf dem Territorium der Norditalienischen Sozialrepublik ein blutiger Bürgerkrieg zwischen staatlichen militärischen Einheiten der RSI mit Unterstützung deutscher Truppen und italienischen Widerstandskämpfern gekämpft. Was als Kampf zwischen wenigen Truppen der RSI und kleinen Partisanenverbänden begann, wurde bald zu einem immer radikaleren und brutaleren Bürgerkrieg, der einen großen Teil der Truppen der RSI involvierte.9 Nachdem sich die Frontlinie, die sogenannte Gotenlinie [linea gotica], im Winter 1943 bei Cassino südlich von Rom festgefahren hatte, begann das Militär der RSI, unterstützt von der deutschen Wehrmacht, mit gezielten Razzien gegen die Widerstandsbewegung, die sich häufig auch gegen Zivilisten richteten wie beispielsweise im Falle der Massaker von Sant’Anna di Vinca und Marzabotto.10 Auch der zivile Boykott gegen die RSI wuchs daher beständig an und die Widerstandsbewegung [Resistenza] wurde bald zu einem Massenphänomen. Vor allem in den Städten erreichte die Brutalität der Repressionen in Folge verübter Attentate immer wieder neue Höhepunkte. In Rom wütete die sogenannte banda Koch [Gruppe Koch], eine nach ihrem Anführer Pietro Koch benannte
7
Zum italienischen Faschismus als Modell im europäischen Vergleich siehe Bauerkämper 2006: 47-69, siehe auch vergleichende Faschismus-Analyse von Nolte (1963).
8
Eine politische Einordnung der RSI findet sich bei Nolte (Nolte 1963: 300-307), eine detaillierte historische Beschreibung der RSI sowie des Kriegsverlaufs bei Osti Guerazzi (2012).
9
Vgl. Klinkhammer 1993: 422-488.
10 Für eine detaillierte Auflistung der Literatur über die von deutschen und italienischen Truppen der RSI begangenen Verbrechen seit 1943 bis Kriegsende siehe Galimi/ Duranti (2003) und Collotti et al. (2001: 366-401).
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Form der Geheimpolizei, die sich durch große Brutalität im Umgang mit Gefangenen auszeichnete. Trotz der harten Repressionen stieg die Anzahl der Partisanen auf dem Gebiet der RSI beständig an, für den Juni 1944 geht man von 70 000 bis 80 000 Partisanen aus, für den April 1945 sprechen Historiker sogar von 250 000 bis 300 000 Mann – von denen viele vermutlich erst im Angesicht des sich abzeichnenden Sieges der Alliierten zu den Partisanen übergelaufen waren.11 Das Narrativ der Selbstbefreiung vom Faschismus sowie von den deutschen Besatzern prägt die italienische Erinnerungskultur seit Kriegsende.12 Für die kollektive Sichtweise der Vergangenheit maßgeblich ist damit die Widersprüchlichkeit der fehlenden Auseinandersetzung mit den faschistischen Verbrechen in einer Gesellschaft, die sich bis heute (offiziell) als antifaschistisch definiert.13 Das Masternarrativ des Resistenza-Mythos wurde erstmals 1965 durch Renzo De Felice und seine Mussolini-Biographie14 sowie vor allem 1991 durch Claudio Pavone’s »Una guerra civile«15 [Ein Bürgerkrieg] in Frage gestellt.16 Als politisch links verorteter Historiker und ehemaliger Widerstandskämpfe wagte Pavone es als erster, die Kriegsjahre von 1943 bis 1945 und den Kampf zwischen Truppen der RSI und italienischen Widerstandskämpfern als Bürgerkrieg zu bezeichnen.17 Die Geschichtswissenschaft wandte sich dem Thema der faschistischen Täterschaft erst seit den 2000er-Jahren zu.18 Schieder spricht von einer »erinnerungspolitische[n] Vermeidungsstrategie« der politischen Linken und Rechten als Begründung für die späte wissenschaftliche Aufarbeitung; von einem »Krieg der Erinnerung« ist die Rede, in dem die Vergangenheit politisch instrumentalisiert und damit einem
11 Vgl. Woller 2010: 197; Battaglia/ Garritano 2007: 133; Majanlahti/ Guerazzi 2010: 237-243; Guerazzi 2012: 163-165. 12 Vgl. Focardi 1996, 2005, 2013. 13 Vgl. Berger/ Pezzetti 2009. 14 Vgl. Renzo De Felice 1965. 15 Vgl. Claudio Pavone 1991. 16 Zur Resistenza als Bürgerkrieg siehe auch den 1990 veröffentlichten Sammelband von Legnani sowie speziell zu nationaler Opferidentität und kollektiven Feindbildern in Italien Bidussa (1994) und Focardi (2005). 17 Vgl. Schieder 2010: 114/ 115. 18 Historische Forschungen über faschistische Täterschaft und deren Verdrängung im nationalen Diskurs in chronologischer Reihenfolge von Rodogno (2003, 2006), Capogreco (2004), Osti Guerrazzi (2004, 2006a, 2006b, 2010, 2011, 2012, 2015), Mattioli (2005), Schieder (2006), Asserate/ Mattioli (2006), Brogini Künzi (2006), Liermann (2007), Focardi (2008), Klinkhammer et al. (2010).
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historisch-kritischen Blick entzogen wurde.19 Vergangenheitspolitik in Italien lässt sich nach Kretschmann in drei Phasen einteilen: • die Erinnerungskultur der christdemokratischen Regierungszeit von 1948 bis
1963, die in erster Linie die Erinnerung an die Opfer des Krieges und nationalsozialistischer wie faschistischer Gewalt fokussierte • einen verstärkten Fokus auf die Resistenza als Akt der Selbstbefreiung Italiens von Faschismus und deutschen Besatzern während der Mitte-Links-Regierungen der 1960er- bis 1980er-Jahre • eine Öffnung der Erinnerungskultur seit Ende der Ersten Republik und dem Zusammenbruch des bisherigen politischen Systems Anfang der 1990er-Jahre in der Folge des Korruptionsskandals mani pulite sowie des weltpolitischen Wandels nach dem Ende des Sozialismus.20 Seit Beginn der so genannten Zweiten Republik Mitte der 1990er-Jahre verfolgten die im rechten Spektrum angesiedelten, von Silvio Berlusconi geführten Regierungen, die auch die 1946 gegründete, neofaschistische Nachkriegspartei Movimento Sociale Italiano (kurz MSI) erstmals an die Regierung brachten, eine revisionistische Erinnerungspolitik der Verharmlosung und Negierung faschistischer Täterschaft,21 die die italienische Erinnerungskultur stark geprägt hat. Aufgrund der Allianz mit dem rechten politischen Spektrum wurde eine Befriedung der sich entgegen stehenden politischen Pole notwendig, die eine Legitimierung des MSI, der sich aus diesem Grund in Alleanza Nazionale (kurz AN) umbenannte, als regierende Partei garantieren würde.22 Der damalige Parteichef Gianfranco Fini trieb die Entradikalisierung seiner Partei zur erinnerungspolitischen Aussöhnung stark voran und wurde daher von vielen Mitgliedern des Nachkriegsfaschismus als Verräter verachtet.23 Dies implizierte die öffentliche Distanzierung von der antisemitischen Gesinnung des faschistischen Regimes, ein Besuch in Auschwitz sowie später der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel; auch nahm Fini als erster Politiker
19 Vgl. Schieder 2010: 111/ 112; Woller 1996: 279; eine Literaturliste mit den wichtigsten Schriften zur kollektiven Erinnerung an den Faschismus in Italien findet sich bei Schieder (2010: 124): De Felice (1977), Pavone (1991), Picciotto (1991), Luzzatto (1998), Gallerano (1999), Collotti (2000), Staron (2002), Cornelißen et al. (2003), Focardi (2005), Mattioli (2010). 20 Vgl. Kretschmann 2011: 178. 21 Vgl. Mattioli 2010. 22 Vgl. Focardi 2005: 63, Mahner 2005. 23 www.zeit.de/2003/48/Fini_neu/komplettansicht [15.8.2020]
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seiner Partei an einer Feier zu Ehren aller Gefallener des Zweiten Weltkrieges am 25. April teil – dem antifaschistischen Nationalfeiertag zur Befreiung des Landes vom Faschismus und der Besatzung durch die Deutschen. Die Öffnung der Erinnerungspolitik nach rechts mobilisierte seit Ende der 1990er-Jahre eine Gegenreaktion in Gestalt der erneuten, vehementen Verteidigung der Resistenza im linken Lager.24 Erst seit dem Jahr 2000 kann durch die offizielle Einrichtung des Gedenktages zur Befreiung von Auschwitz am 27.1. [Giorno della Memoria] durch die Regierung »von einem neuen Erinnerungsraum ›Shoah‹ gesprochen werden« (Berger/ Pezzetti 2009: 191). 2004 setzte die Alleanza Nazionale jedoch einen neuen Gedenktag, den sogenannte Giorno del ricordo am 10. Februar durch,25 der die nationale Erinnerungslandschaft weiter nach rechts verschieben sollte. Erinnert werden an diesem Tag die in der Nähe von Triest begangenen Verbrechen der Truppen Titos an italienischen Soldaten nach Kriegsende sowie die Vertreibung von Italienern aus Istrien.26 Auch wenn in der italienischen Geschichtswissenschaft mittlerweile ein kritischer Diskurs über die Vergangenheit sowie die italienische Erinnerungskultur geführt wird,27 besteht in der Forschungslandschaft noch immer Bedarf an detaillierter und kritischer Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit. Diesem Forschungsdesiderat widmet sich die vorliegende Arbeit. Als erste sozialanthropologische Forschung über die faschistische Nachkriegsszene in Italien28 soll sie die Aspekte Kriegserfahrung und Täterschaft sowie die faschistische Erinnerungskultur in die Analyse der gegenwärtigen faschistischen Szene miteinbeziehen. Täterforschung im familiären Kontext unter Berücksichtigung der Auswirkungen im transgenerationalen Kontext über mehrere Generationen wie sie in
24 Vgl. Focardi 2005: 64 und 70,71,79. 25 Gesetz 92 vom 30. März 2004: »Istituzione del ›Giorno del ricordo‹ in memoria delle vittime delle foibe, dell’esodo giuliano-dalmata, delle vicende del confine orientale e concessione di un riconoscimento ai congiunti degli infoibati«. 26 Vgl. Focardi 2005: 75. 27 Vgl. Schieder 2010: 115. 28 Eine Ausnahme stellen fokussierte Forschungen über die neofaschistische Bewegung Casapound Italia dar (Di Nunzio/ Toscano 2011, Koch 2012, Cammelli 2015, 2017, 2018, Pasieka 2017, 2019).
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Deutschland aus zahlreichen Studien über die Folgen des Nationalsozialismus bekannt ist,29 ist bisher ein Desiderat im italienischen Kontext. Ein Zusammenhang zwischen politischen Aktivitäten neofaschistischer Gruppierungen unter Berücksichtigung der Folgen von Kriegserfahrung und Täterschaft für Kinder und Enkel sowie die Frage nach dem Umgang mit faschistischer Identität von Vätern und Großvätern (vor allem Veteranen der RSI) sind bisher nicht erforscht. Meine Feldforschung in der faschistischen Szene in Rom dauerte von Januar 2012 bis einschließlich April 2013, bis 2015 folgten regelmäßige kürzere Aufenthalte. Leitende Fragen dieser Arbeit waren: Wer sind die italienischen Nachkriegsfaschisten, wie lässt sich die neofaschistische Szene charakterisieren und eingrenzen bzw. wie ist der kulturelle Raum strukturiert, in dem sie seit Kriegsende 1945 ihre Identität pflegen? Was heißt es, Faschist zu sein und wie wird faschistische Identität in verschiedenen Generationen vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen, (geo-)politischen und soziokulturellen Situation definiert? Wie prägen diese Identitätskonstruktionen den italienischen Nachkriegsfaschismus? Wie wird Alltagspraxis in familiären und politischen Netzwerken gestaltet, welche rituellen Praktiken sind von Bedeutung und welche Rolle spielt die religiöse Dimension? Wie gestaltet sich die faschistische Subkultur in Rom Anfang des 21. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung der faschistischen Veteranen, Kriegstraumatisierungen und Täterschaft und der Spätfolgen dieser Erfahrungen in transgenerationaler Perspektive der einzelnen Familien? Wie sind
29 Vgl. Sichrovsky (1987), Welzer (2002, 2007), Wrochem (2016), Rosenthal (1997, 1998), Bar-On (1993), Senfft (2016), Lebert/ Lebert (2000); die hier genannten Arbeiten setzen sich mit den Nachwirkungen von Täterschaft auseinander und thematisieren familiäre sowie individuelle Verarbeitungsmechanismen problematischer Kriegsvergangenheit und Täterschaft im transgenerationalen Kontext. Welzer beispielsweise untersucht in seiner Studie über die Erzählstrukturen in deutschen Familien innerfamiliäre Diskurse und Kommunikationsmuster über Vergangenheit und Täterschaft und setzt diese in Beziehung mit den Bemühungen des Bildungssystems um Aufklärung über die deutsche Vergangenheit und die Anerkennung von Schuld und Täterschaft. Sichtbar werden dabei die Diskrepanzen der Erinnerungsdiskurse sowie Mechanismen des sozialen Gedächtnisses. Es geht dabei nicht nur um den Blick auf die Zeitzeugen, sondern auch um die Auswirkungen unverarbeiteter Erfahrungen bis in die zweite und dritte Generation. Der gesamtgesellschaftlichen und politischen Ebene wird eine individuelle gegenübergestellt. Es geht um die Summe einzelner Schicksale, um die Vielfältigkeit individueller Bewältigungsstrategien, die zeigen, wie sehr sich diese von gesamtgesellschaftlichen Einschätzungen und politischen Richtlinien unterscheiden können.
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familiärer und politischer Raum miteinander verbunden und wie wirken beide jeweils wechselseitig aufeinander? Die vorliegende Arbeit setzt bei der Frage an, wie Kriegserfahrung und Täterschaft aus der Perspektive der faschistischen Veteranen (in erster Linie der RSIVeteranen) verhandelt werden und wie familiäre Dynamiken, Erinnerungsdiskurse und Narrationsstrukturen seit 1945 die politische Szene des Nachkriegsfaschismus in und über mehrere Generationen prägen und gestalten.30 Im Gegensatz zu historischen oder politikwissenschaftlichen Analysen des Nachkriegsfaschismus, die von historischen Ereignissen und politischen Positionierungen ausgehen würden, nimmt die sozialanthropologische Forschung einen umgekehrten Weg: Sie stellt unter Berücksichtigung der spezifischen historischen Gegebenheiten und Situationen die soziale Basis einer politischen Subkultur ins Zentrum und analysiert ausgehend vom Individuum aktuelle familiäre Strukturen und soziale Netzwerke sowie deren Positionierung in der Gesellschaft unter Berücksichtigung von Alltagspraktiken, persönlichem Erleben, Konstruktion von Identitäten, Familiendynamiken, rituellen und religiösen Praktiken. Spezifisch italienische, in mediterrane Kulturtraditionen eingebettete Familientraditionen und Netzwerkstrukturen innerhalb des Nachkriegsfaschismus sind essentielle Bestandteile einer Forschungsperspektive, die die Zusammenhänge von Mikro- und Makrostrukturen einer politischen Subkultur in den Blick nimmt und nach kulturell spezifischen sozialen und politischen (Gruppen-)Dynamiken und den Interferenzen und Wechselwirkungen zwischen dem Familiären und dem Politischen fragt. Seit 1945 ist Rom einer der zentralen Referenzpunkte der faschistischen Szene, Ende 1946 wurde dort die neofaschistische Partei Movimento Sociale Italiano (MSI) gegründet, über die Jahre folgten zahlreiche außerparlamentarische Gruppierungen. Rom als Hauptstadt des Landes mit Sitz der Regierung ist ein zentraler Knotenpunkt für alle politischen Parteien und Aktivitäten, so auch für die faschistische Szene. Gemeinsamer Nenner der Mitglieder der faschistischen Nachkriegsszene ist die Verteidigung der politischen Idee des Faschismus sowie ihrer Version der Vergangenheit, einer Erfolgsgeschichte der Modernisierung und Expansion Italiens, die 1945 mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg endete. Das
30 Unter dem Begriff Nachkriegsfaschismus werde ich im Folgenden die gesamte faschistische Szene in Italien seit Kriegsende 1945 zusammenfassen. Da der Fokus in dieser Arbeit auf der faschistischen Szene als Ganzes liegt, in der sich verschiedene Generationen und Orientierungen überlappen, verzichte ich auf eine weitere Ausdifferenzierung von Neo- und Postfaschismus u.a., die spezifische historische Kategorien neofaschistischer Strömungen bezeichnen (s.a. Kapitel 2.1.1).
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faschistische ambiente31, eigentlich l’ambiente nostro (fascista), übersetzbar mit unsere Szene, unser (faschistisches) Ambiente, wie sich die Mitglieder der neofaschistischen Szene in Rom selbst oft umgangssprachlich bezeichnen, ist ein politisches und soziales Netzwerk mit weit verzweigten Verbindungen in ganz Italien. Die zahlreichen Gruppierungen decken seit der Gründung des Movimento Sociale Italiano 1946 bis heute ein breites Spektrum von der legalen Partei bis hin zu illegalen, außerparlamentarischen Gruppierungen ab32 und vereinen mittlerweile mehrere Generationen:33 angefangen von der ersten Generation der RSIVeteranen, die sich als Verlierer des Krieges 1945 in politischen und sozialen Netzwerken zusammenschlossen, über die zweite Generation, die die Zeit des politischen Terrors seit den späten 1960er- bis Anfang der 1980er-Jahre, der sogenannten anni di piombo, als Protagonisten erlebte, bis hin zur dritten und vierten Generation der heutigen, in neofaschistischen Gruppierungen und Parteien organisierten Jugend. Seit 1945 haben sich die Organisationsstrukturen in der faschistischen Nachkriegsszene immer wieder stark gewandelt. Die unterschiedlichen Gruppierungen sind nicht selten untereinander verfeindet, oft gibt es starke Konkurrenz, Allianzen auf politischer Ebene scheitern, persönliche Zerwürfnisse und Meinungsverschiedenheiten führen zu Feindschaften. Es handelt sich jedoch um ein Gesamtnetzwerk mit starken Grenzen gegenüber der Außenwelt, das seit 1945 bis zum Ende der Ersten Republik Anfang der 1990er-Jahre eine Außenseiterposition bekleidete und sich seitdem zum größten Teil innerhalb des italienischen Staates noch immer am Rande der Legalität bewegt.34 Der Arbeit liegen drei Analysedimensionen (in vier Hauptkapiteln) zugrunde: • Nachkriegsfaschismus in Zeit und Raum, • Familien, Traumata, Täterschaft und • Totenkult und religiöse Elemente.
31 Italienisch für Raum, Umgebung, Umwelt, Milieu; ursprünglich aus dem Lateinischen ambiens, Partizip Präsens Aktiv von ambire, herumgehen, umschließen. Seit dem 20. Jahrhundert ist der Begriff Ambiente auch im Deutschen gebräuchlich. Ich werde diesen Begriff im gesamten Buch für die neofaschistische Szene übernehmen. Die Bandbreite der zugrundeliegenden Definition erschließt sich in Kapitel 2. 32 Ein Überblick über die wichtigsten neofaschistischen Parteien und außerparlamentarischen Gruppierungen findet sich im Glossar. 33 Zur Einteilung des Nachkriegsfaschismus in verschiedene Generationen siehe ausführlich Kapitel 2.1.2 und 2.1.3. 34 Vgl. Kapitel 2.2 und 2.3.
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Nachkriegsfaschismus in Zeit und Raum Das erste Hauptkapitel ist eine Analyse des Nachkriegsfaschismus seit 1945 und seiner Stellung in der italienischen Gesellschaft. Entscheidend für die faschistische Identität nach 1945 und die politische Subkultur des Nachkriegsfaschismus sind die Netzwerke der RSI-Veteranen und Faschisten, sowie ihre Erinnerungskultur.35 Der Nachkriegsfaschismus ist auch ein kultureller Raum, in dem die seit der Niederlage in einer antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft heimatlos gewordenen Faschisten faschistische und militärische Kultur und Erinnerung pflegen. Zentral ist dabei der faschistische Totenkult, der sogenannte presente, der als körperliche und politische Praxis und Aushandlungsprozess von Identität fester Bestandteil faschistischer Nachkriegskultur ist. Essentiell für die Identität der Nachkriegsfaschisten ist die Pflege eines Heldennarrativs und die Umdeutung der Niederlage mit Hilfe von Strategien der Selbstviktimisierung. Die schriftliche und mündliche Erinnerungskultur der RSI-Veteranen spielt dabei eine zentrale Rolle bis in die dritte und vierte Generation. Die Definition faschistischer Identität verändert sich in den nachfolgenden Generationen; während der anni di piombo, der Zeit des politischen Terrors, der in den Städten z.T. bürgerkriegsähnliche Zustände annahm, wird faschistische Identität und politische Aktivität als Provokation erlebt, die ein hohes Risiko mit sich bringen. Politisches Engagement wird in dieser Zeit verstärkt mit der Verteidigung des eigenen Lebens sowie territorialer Grenzen gleichgesetzt. Gewalt spielt auch in der zweiten Generation eine zentrale Rolle als Aspekt politischer Aktivität. Erst die dritte und vierte Generation grenzen sich von den vorherigen durch das Fehlen eines gewalttätigen Konflikts ab. Der kleinste gemeinsame Nenner für die Zugehörigkeit zur faschistischen Szene besteht in der positiven Haltung gegenüber dem historischen Faschismus und der Ablehnung antifaschistischer Überzeugungen der italienischen Mehrheitsgesellschaft. Entscheidend ist dabei die Identitätskonstruktion am Rande der Legalität seit 1945. Die soziale Außenseiterposition im Hinblick auf das politische Machtsystem und seine klientelären Netzwerke werden bis Anfang der 1990er-Jahre als Vorteil erlebt und bewusst gefördert. Seit dem Eintritt der Faschisten in die Regierung 1994 und dem Verlust der Außenseiterposition hat jedoch ein Fragmentierungsprozess eingesetzt, der die faschistische Szene stark verändert hat. Auf
35 Theoretische Ausgangspunkte sind die kulturgeschichtliche Erinnerungskulturforschung (vgl. Halbwachs 1925, Assmann 1992, Welzer 2001) sowie Theorien zum kulturellen Unbewussten aus ethnologischer Perspektive (vgl. Devereux 1967, Erdheim 1982). Mit eingeschlossen werden in dieser Perspektive auch unbewusste Anteile der kollektiven Erinnerung sowie spezifische Auswirkungen solcher Mechanismen auf den italienischen Vergangenheitsdiskurs bzw. die italienische Gesellschaft.
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einer makrosozialen Ebene schließlich lassen sich im Verhältnis zwischen einer politischen Subkultur und dem Staat Mechanismen der Exklusion beobachten, die auf Dynamiken des gesellschaftlichen Umgangs mit Ordnung und Unordnung basieren und sich in der Alltagspraxis sowie auf individueller und emotionaler Ebene widerspiegeln. Familien, Traumata, Täterschaft Im zweiten Hauptkapitel steht der individuelle Umgang der RSI-Veteranen mit (traumatischer) Kriegserfahrung, Täterschaft und Schuld im Mittelpunkt. Es geht in erster Linie um die Frage nach dem individuellen Umgang mit Täterschaft vor dem Hintergrund des nationalen antifaschistischen Täterdiskurses sowie dem kollektiven Heldennarrativ unter den RSI-Veteranen. Dimensionen im Umgang mit Täterschaft reichen von Erfolgsgeschichten über Verdrängung bzw. Verschweigen oder Verschütten von Täterschaft als unbewusste oder bewusste Mechanismen, bis hin zu einer problematischen, privaten Auseinandersetzung und Schuldgefühlen. Der Umgang mit Kriegserfahrung und Täterschaft ist ein stetiger Umgang mit Grenzen, die sich in Mechanismen der Gegenübertragung auch in Form persönlicher Grenzgänge des Forschens zeigen. Neben den individuellen Kriegserfahrungen der RSI-Veteranen und psychischen Spätfolgen und Dynamiken im Umgang mit der Täterschaft Einzelner geht es in diesem Kapitel um die Auswirkungen auf das nahe, familiäre Umfeld. Enge familiäre Strukturen und eine starke Bindung durch familiären Besitz, Wohnraum und Erbfolge bilden Abhängigkeiten, welche die Grundstruktur von Familien und familiäre Netzwerke maßgeblich prägen. Die faschistische Nachkriegsszene ist ein sozialer und zugleich familiär geprägter Raum mit engen Grenzen, dessen Beziehungen zum Außen stets insoweit reguliert werden, dass die eigene Identität nicht gefährdet wird. Familiendynamiken, die sich daraus ergeben und die faschistische Nachkriegsszene prägen, sind auch von transgenerationalen Mechanismen der Weitergabe (traumatischer) Kriegserfahrung und Täterschaft geprägt. Nachkommen von RSI-Veteranen entwickeln spezifische Strategien, mit der Identität, Kriegserfahrung, Täterschaft und Schuld der Väter umzugehen – diese ElternKind-Beziehungen sind häufig von Konflikten und heimlichen Loyalitäten geprägt. Das Portrait einer Familie zeigt beispielhaft und detailliert Dynamiken in der Kinder- und Enkelgeneration im Umgang mit der faschistischen Identität sowie der Täterschaft eines RSI-Veteranen, die sich als prägend für die gesamte Familie bis in die dritte Generation erweist. Die z.T. extreme Belastung von Kindern durch die Kriegsvergangenheit und Täterschaft ihrer Väter wird dort sichtbar, wo die Bewältigung der psychischen Belastung nicht mehr ohne Hilfe und in Form von Psychotherapie möglich ist – eine Gefahr aus der Perspektive der Veteranen,
32 | Neofaschismus in Italien
da Traumata, die ans Licht kommen, das Heldennarrativ des Kollektivs und damit die faschistische Gemeinschaft als solche gefährden. Anhand dieser detaillierten Analysen familiärer Dynamiken im Umgang mit Täterschaft und Kriegsvergangenheit wird deutlich, wie durch Trauma und Gewalt entstandene familiäre Strukturen die politischen Netzwerke des Nachkriegsfaschismus beeinflussen. Totenkult und religiöse Elemente Die letzten beiden Hauptkapitel analysieren die Dimension Religion und Magie in Form ritueller Praktiken und religiöser Elemente des Nachkriegsfaschismus. Das dritte Hauptkapitel fokussiert den Umgang mit den faschistischen Toten, die als kulturelle Reserve wirken. Sowohl die Lage der Friedhöfe und Gedenkstätten für die Toten als auch die Praxis der Zweitbestattung spielen im Umgang mit den Toten eine zentrale Rolle. Im faschistischen Totenkult zeigt sich ungelöste Vergangenheit: rituelle Praktiken erweisen sich als Folge sozialer Transformationsprozesse und zeigen Dimensionen von traumatischen Gehalten im Kollektiv auf. Der Nachkriegsfaschismus ist eine Gemeinschaft, die im Namen ihrer Toten agiert, die aus faschistischer Perspektive ungesühnt sind und aus denen die Lebenden Kraft für ihr politisches Handeln ziehen. Das letzte Hauptkapitel legt den Schwerpunkt auf die religiöse Dimension im Nachkriegsfaschismus und fragt ausgehend von Theorien über den historischen Faschismus als Politische Religion nach Elementen des Religiösen in einer politischen Subkultur sowie nach deren Bedeutung. Zu den religiösen Praktiken des Nachkriegsfaschismus gehören u.a. der faschistische Märtyrerkult, der die Wallfahrt zum Grab Mussolinis beinhaltet, sowie ein faschistischer Madonnenkult. In der sakralen Dimension des Nachkriegsfaschismus zeigt sich, wie Trauma und Rituale in politischen Strömungen wirken. Trauma und Trauer binden die Familienmitglieder unter sich, durch rituelle Praktiken der gemeinsamen Veräußerung emotionaler Gehalte und traumatischer Erfahrungen wiederum werden die Familien im sozialen Gefüge der politischen Subkultur eingebunden. Als emotionale Gehalte Einzelner werden Trauma und Trauer im (religiösen) Ritual ausgelagert und enthistorisiert als eine spezifische Variante der (therapeutischen) Bearbeitung dieser Erfahrungen im faschistischen Nachkriegsfaschismus.36
36 Daneben existieren andere, nicht faschistische Formen der Bearbeitung faschistischer Erfahrungen, Traumata und Traditionen, die hier jedoch nicht im Fokus stehen.
2
Der italienische Nachkriegsfaschismus
2.1 FASCHISTISCHE IDENTITÄT NACH 1945 IN ROM 2.1.1 Enge Grenzen: politisches Territorium des Nachkriegsfaschismus Rom hat heute knapp drei Millionen Einwohner und liegt in der Mitte des Landes, dort wo der Süden beginnt und der Norden endet. Meist wird Rom eher dem Süden zugerechnet, obwohl die Hauptstadt eine Sonderrolle zwischen beiden Sphären einnimmt. Ruinen aus der Zeit des römischen Reiches prägen das Bild der Innenstadt, Ruhm und Bedeutung des alten Rom sind noch heute in den steinernen Überresten sichtbar. Als der deutsche Historiker Ferdinand Gregorovius Mitte des 19. Jahrhunderts in Rom lebte, sah er in den Figuren der alten Kirchen und Kapellen Roms die Spuren antiker Abbildungen des Triumphes über den Tod, in der christlichen Kunst las er die Lust der Antike an der Grausamkeit und am Sterben.1 Den Katholizismus sah er in direkter Folge des paganen römischen Reichs – gleich einem roten Faden zogen sich für ihn Grausamkeit und Tod durch die Geschichte, sichtbar noch immer im Antlitz der Stadt. Seit den Beobachtungen von Gregorovius im 19. Jahrhundert hat sich das Stadtbild verändert. Zwar ist Rom als Sitz des Vatikans bis heute Zentrum des Katholizismus und die Präsenz der Kirche prägt die Stadt maßgeblich2, folgenschwere Ereignisse wie Faschismus und Zweiter Weltkrieg haben der Stadt jedoch ihren Stempel aufgedrückt. Während des ventennio fascista, den beiden Jahrzehnten der faschistischen Herrschaft, vergrößerte sich Rom stark, zahlreiche neue Häuserkomplexe wurden gebaut, ganze Viertel neu angelegt, um Wohnraum zu
1
Vgl. Gregorovius 1953: 82.
2
Vgl. Herzfeld 2009: 53.
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schaffen. Im Süden der Stadt entstand aus Anlass der für 1942 geplanten Weltausstellung zur 20-jährigen Feier des faschistischen Regimes das Viertel Esposizione Universale di Roma (EUR) im Stil der faschistischen Architektur, zwischen Neoklassizismus und Moderne. Nach Kriegsende 1945 dehnte sich Rom weiter aus und es entstanden zahlreiche Vororte; viele gleichen heute Betonwüsten und weisen eine hohe Kriminalitätsrate auf. Als Hauptstadt Italiens ist Rom seit 1945 zentraler Schauplatz für neofaschistische politische Parteien und außerparlamentarische Organisationen. Die faschistische Nachkriegsszene ist seit 1945 ein komplexes Netzwerk, das heute verschiedene Generationen und unterschiedliche Gruppierungen miteinander verbindet, welche in ganz Italien in engen, teilweise aber auch ambivalenten Beziehungsverhältnissen zueinanderstehen. Im Jahr 2009 wurden im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie alleine 150.000 Anhänger der rechtsextremen Szene in Italien unter 30 Jahren gezählt.3 Der Kern des Netzwerkes bestand bei Kriegsende 1945 aus den Veteranen der Norditalienischen Sozialrepublik (Repubblica Sociale Italiana, kurz RSI), viele davon gehörten der Oberschicht an, waren zu Offizieren ausgebildet worden und hatten während des Krieges verantwortungsvolle Positionen inne. Die Bedeutung Roms für den Nachkriegsfaschismus resultiert u.a. aus Verbindungen zum Staatsapparat. Viele Staatsbeamte waren ehemalige Faschisten bzw. vor 1943 Faschisten gewesen und seit Kriegsende Sympathisanten des Nachkriegsfaschismus. Solche Verbindungen garantierten Schutz und waren zugleich verantwortlich für die Erpressbarkeit ehemaliger faschistischer Funktionäre. Die faschistische Veteranenkultur ist somit stark an die römische Oberschicht gebunden. Bis heute reicht das faschistische Netzwerk bis in gutbürgerliche Kreise.4 Zur Veteranenkultur gehören weiter eine größere Menge traumatisierte einfache Soldaten und Soldatinnen, die sich an den Veteranen der Oberschicht orientieren. Die politische Szene der Nachkriegsfaschisten beinhaltet außerdem ein breites Netzwerk an Mitgliedern, die keine direkte Bindung an das Kern-Netz besitzen und der Oberschicht sowie der Welt der ehemaligen politischen Funktionäre fern sind. Über verschiedene Arten von Netzwerkbeziehungen sind sie mit dem Kern-Netz verbunden. Eine zentrale Rolle spielen dabei klientelistische Beziehungsstrukturen, innerhalb derer politische Loyalität als Gegenleistung für Zugehörigkeit und Schutz in Krisensituationen geleistet wird.5 Ihre Mitglieder bezeichnen Die faschistische Szene umgangssprachlich oft als ambiente.
3
Vgl. Berizzi 2009: 10.
4
Siehe auch Mattioli 2010: 122-124.
5
Vgl. Kapitel 2.3.1.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 35
›Ambiente‹ si usa nel linguaggio comune. Con ›ambiente‹ si intende tutto un gruppo di persone che la pensa, più o meno, nello stesso modo. In politica è tipico solo a destra, [›Ambiente‹ wird umgangssprachlich benutzt. Mit ›ambiente‹ ist eine Gruppe von Personen gemeint, die mehr oder weniger die gleiche (politische) Haltung haben. In der Politik wird der Ausdruck typischerweise nur in der rechten Szene benutzt,]
erklärte Pierluigi A., Sohn eines RSI-Veteranen. Auf der Makroebene der italienischen Gesellschaft stellt das faschistische ambiente eine Minderheit im Sinne einer Subkultur dar.6 Die indoeuropäischen Wurzeln des Begriffs ambiente liegen im Wortstamm *amb- mit der Bedeutung um herum, beiderseits, wovon sich das lateinische Adjektiv amplus mit der deutschen Bedeutung umfangreich, weit, geräumig, groß ableitet.7. Das italienische Wort ambiente bedeutet wortwörtlich übersetzt Raum, Umfeld, Lebensraum, Milieu und verweist auf den räumlichen Aspekt der Identität als soziokulturellem Raum innerhalb eines größeren gesellschaftlichen Gesamtgefüges. Auch Amplitude und Ausdehnung lassen sich von diesem Wortstamm ableiten. Deutlich wird dabei die Gestalt der faschistischen Subkultur als eines in der antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft begrenzten sozialen (Lebens-)Raumes. Unter dem Begriff Nachkriegsfaschismus bzw. Nachkriegsambiente, faschistisches ambiente oder faschistische Nachkriegsszene werde ich im Folgenden die neofaschistische Szene in Italien seit Kriegsende 1945 zusammenfassen. Da der Fokus in dieser Arbeit auf der faschistischen Szene als Ganzes liegt, in der sich verschiedene Generationen und Orientierungen überlappen, verzichte ich auf Differenzierungen wie Neofaschismus und Postfaschismus, die bestimmte historische Kategorien politischer Strömungen bezeichnen, und verwende die Begriffe faschistisch und neofaschistisch in derselben Bedeutung für den Faschismus nach 1945. Den Begriff des Netzwerks verwende ich in Anlehnung an die Definition von Schweizer: »Unter einem ›Netzwerk‹ ist eine Menge von Akteuren zu verstehen, die untereinander durch Beziehungen verbunden sind. Individuen, Haushalte, Familien, Zweckverbände, andere soziale Gruppen, lokale und regionale Einheiten bilden typischerweise die Akteure ethnologischer Netzwerkanalysen. Charakteristische Beziehungen in der Menge dieser Akteure sind u.a. Verwandtschaft, Freundschaft, Informationsaustausch, Arbeitsleistungen, Transaktionen materieller Ressourcen, politische Hilfeleistungen und Machtausübung, Unterstützung in Krisensituationen.« (Schweizer 1989: 1)
6
Zur hier verwendeten Definition von Subkultur vgl. Schwendter 1978: 9-59.
7
Vgl. Köbler 2006: 8.
36 | Neofaschismus in Italien
Die Bedeutung und der Umgang mit der historischen Vergangenheit sowie persönliche Erfahrungsräume und familiäre Bezüge gestalten den Nachkriegsfaschismus als soziales Feld. Es handelt sich daher nicht ausschließlich um eine politische Gemeinschaft, sondern auch um ein soziales Netzwerk, welches familiäre Gefüge mit einschließt. Seine Mitglieder teilen bestimmte historische Erfahrungen und pflegen in ihrer Gemeinschaft ihre faschistische Identität, die sich an den Knotenpunkten sozialer und politischer Aktivitäten, der gemeinsamen Trauer um die Toten, dem Organisieren der Zukunft, gegenseitiger Hilfeleistung sozialer und finanzieller Natur, sowie klientelistischer Strukturen festigt und im Laufe der Jahre immer mehr jüngere Generationen einbindet. Identität in der Gemeinschaft der Faschisten wird maßgeblich über die Positionierung der Subkultur im italienischen Staat und die Auseinandersetzung mit der antifaschistischen Erinnerungskultur gebildet. Im Nachkriegsfaschismus sind alle sozialen Schichten vertreten, dementsprechend vielfältig ist der Bildungsstand. Für Gespräche vermittelte man mir meist diejenigen Akteure, mit denen man sich gerne im Außen präsentieren wollte. Die Veteranen, mit denen ich sprach und die man mir für Interviews hauptsächlich empfahl, gehörten daher mehrheitlich dem Kern-Netz der RSI-Veteranen und damit der Mittel- und Oberschicht an. Dort traf ich meist auf ein hohes Bildungsniveau und wohlhabende Familien. Generell ist der Nachkriegsfaschismus durch große Heterogenität der Mitglieder geprägt. Arm und reich, gebildet und ungebildet treffen in verschiedenen Organisationen und Generationen aufeinander. Immer wieder wurden mir gegenüber die Bedeutungslosigkeit sozialer Unterschiede sowie die Selbstverständlichkeit einer loyalen Grundhaltung betont. Gehobene soziale Herkunft bedeutet in der Regel gute Bildung, die Kinder wohnen meist bis zum Ende des Studiums und z.T. auch darüber hinaus im Hause der Eltern. Familienbindungen sind in der Regel eng, dies zeigt sich u.a. im Umgang mit Wohnraum, da Wohnungen häufig in Familienbesitz bleiben und über Generationen weitervererbt werden.8 Der Zugang zu der sehr verschlossenen faschistischen Nachkriegsszene gestaltete sich sehr schwierig. Als Ausgangspunkt für meine Forschung hatte ich mir ein traditionell politisch rechts orientiertes Viertel ausgesucht: das Salario-Trieste im Nordosten der Stadt außerhalb der aurelianischen Stadtmauern. Das Viertel erstreckt sich im Osten bis zum Quartiere Africano, einem klassischen Arbeiterviertel, das ebenfalls zu den rechts orientierten Vierteln gerechnet wird. Im Norden liegt die Villengegend Prati, wo ehemals die Reichen und während des faschistischen Regimes viele Parteifunktionäre lebten. Im Süden wird sie von der
8
Vgl. Kapitel 3.4.1.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 37
Villa Torlonia an einer der großen Ausfallstraßen Roms begrenzt – einem herrschaftlichen Anwesen mit großem Park aus dem frühen 19. Jahrhundert, das während des ventennio fascista von der Familie Mussolinis bewohnt wurde. Südlich davon liegt das Quartiere Bologna, ebenfalls politisch rechts orientiert. Im Norden findet sich ein großer Park, die Villa Ada, ehemals Wohnsitz des Königs und Schauplatz der Verhaftung Mussolinis im Juni 1943. Das Salario-Trieste ist heute ein gutbürgerliches Viertel mit breiten, baumbepflanzten Straßen, alten Parkanlagen und hohen Palazzi, die meisten davon in den 1920er Jahren erbaut. Bis ins 19. Jahrhundert war die Gegend außerhalb der römischen Stadtmauern von Weinbergen und Villen geprägt. Geplant für 10.000 Einwohner, entstand das Viertel während der ersten Jahre des ventennio fascista nach einem bereits im Jahre 1909 angefertigten Plan zur Urbanisierung der Gegend, koordiniert durch das Istituto Nazionale per le Case degli Impiegati Statali (INCIS), nationales Institut für Wohnungen der Angestellten des Staates seit 1924.9 Der Architekt Dario Barbieri plante die Wohnhäuser als mehrstöckige, prunkvolle Palazzi mit geräumigen, begrünten Innenhöfen. Einige der alten Bewohner des Viertels erzählten mir von Kindheitserinnerungen, in denen der König auf dem Weg zu seiner Residenz in der Villa Ada in der königlichen Kutsche durch die Straßen fuhr. Bis heute wird das Salario-Trieste oft als Beispiel für den Erfolg des Faschismus herangezogen, da es die Volksnähe Mussolinis beweisen sollte. Heute wird häufig auf den Gegensatz zwischen dieser Vergangenheit und dem gegenwärtig überall sichtbaren Verfall Roms, den kaputten Straßen, dem Müllproblem, den verfallenden Gebäuden hingewiesen, die das Stadtbild auch im Salario-Triste prägen und als Zeichen für die Misswirtschaft vieler Regierungen gewertet werden. Die historischen Stadtviertel Roms haben aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung und Historie ihre jeweilige politische Tradition, die im Zweiten Weltkrieg sowie vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten begründet liegt. Im Zuge der spannungsreichen 1970er- und 1980er-Jahre, auch bleierne Jahre genannt [anni di piombo], und der politischen Radikalisierung der extremen linken und rechten Szene wurde die jeweilige politische Orientierung über das territoriale Aushandeln politischer Räume intensiviert, so dass man von rechten und linken Vierteln sprach.10 In diesen Jahren konnte es lebensgefährlich sein, ein ›verfeindetes‹ Viertel zu betreten, wenn man als Mitglied der anderen Seite erkannt werden konnte. Zur Zeit meiner Forschung war diese Gefahr längst gebannt, auch wenn einige
9
Vgl. Mandillo 2008: 18ff.
10 Vor allem in Rom, Mailand und Neapel (vgl. Weinberg 1995: 231), siehe auch Kapitel 2.4.1.
38 | Neofaschismus in Italien
Stadtviertel noch immer von bestimmten politischen Gruppen geprägt und besetzt wurden und die Stadt sich so in verfeindete politische Territorien unterteilen ließ. Zu Beginn meiner Forschung hatte ich gehofft, im Salario-Trieste, der mehrheitlich traditionell rechts wählte und während der bleiernen Jahre zum von rechten Organisationen kontrollierten Territorium gehörte, Familien faschistischer Veteranen zu finden. Der Stadtteil war ein Inbegriff neofaschistischer Jugendkultur, dort befanden sich u.a. der legendäre Piper Club, der vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren als Treffpunkt der neofaschistischen Jugend bekannt gewesen war, sowie Kneipen wie die Bar Tortuga11 oder der Pub Excalibur, ebenfalls bekannt als Treffpunkte neofaschistischer Jugendgruppen. Zwei der Gymnasien im Viertel, das Avogadro und das Giulio Cesare, standen in dem Ruf, traditionell politisch rechts orientierte Schulen zu sein. Während meiner Forschung tauchten immer wieder Schlagzeilen in der lokalen Presse auf, die von provokanten politischen Aktionen faschistischer Gruppierungen an diesen Schulen berichteten.12 Plakatierungen und Graffiti an den Hauswänden der Schulen durch neofaschistische Organisationen wie CasaPound Italia (CPI)13, die bis 2013 größte außerparlamentarische neofaschistische Organisation seit den 1990er-Jahren, und ihre Jugendorganisation Blocco Studentesco oder die rechtsextreme Partei Forza Nuova (FN) u.a. wurden regelmäßig von der städtischen Müllabfuhr entfernt.
11 »Tortuga« ist eine Kurzform von »tartaruga« (ital.) und bedeutet Schildkröte. Die Schildkröte hat auch eine besondere Bedeutung als Symbol für die neofaschistische Organisation CasaPound Italia. CPI selbst begründet die Wahl des Symbols mit unterschiedlichen Aspekten, zum einen den Eigenschaften des Tieres, seiner Langlebigkeit sowie seines Panzers, der als Symbol für das Recht eines jeden auf den Besitz einer Wohnung gesehen wird. Der Schild des Tieres verweist aber auch auf eine militärische Schlachtformation des römischen Heeres. Außerdem wird eine Verbindung gezogen zu der Symbolik der Zahl acht sowie der Form des Oktogons. Siehe dazu: www.casapounditalia.org/p/il-simbolo.html [15.8.2020]. 12 Vgl. http://roma.repubblica.it/cronaca/2012/02/23/news/scritte_neofascisti_antisemiti_licei_lotta_studentesca-30376952/ [15.8.2020] und http://roma.repubblica.it/cronaca/2012/02/02/news/studente_del_giulio_cesare_inno_alle_ss_su_facebook-29235001/index.html?ref=search [15.8.2020]. 13 Umfassende Analysen von CPI bei Di Nunzio/Toscano 2011, Koch 2013, Cammelli 2015, 2017, 2018 und Pasieka 2017, 2019.
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Abbildung 2.1: Schulgebäude Liceo Giulio Cesare im Stadtteil Trieste-Salario in Rom, Plakatierung anlässlich des Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs am 25. April 2012.
Quelle: Lene Faust Einige Organisationen der faschistischen Nachkriegsszene haben im Salario-Trieste ihre Vereinsräume: der Blocco Studentesco, der vor allem in Schulen und an den Universitäten organisiert ist, Raido, ein Kulturverein, dessen Mitglieder besonders die Veteranen der RSI verehren. Außerdem gibt es eine Sektion der streng katholischen Forza Nuova.14 In diesem Teil der Stadt werden auch zwei Tote aus dem faschistischen Milieu erinnert, die während der 1960er- und 1970er-Jahre im Rahmen der Spannungen zwischen dem extremen rechten und dem extremen linken politischen Spektrum getötet wurden: Francesco Maria Cecchin (†15.6.1979) an der Piazza Vescovio und Paolo di Nella (†10.2.1983) in der Nähe der Piazza Gondar.15
14 Im Jahr 2014 aufgelöst, vgl. https://www.ilmessaggero.it/roma/cronaca/vescovio_frutteria_forza_nuova_croci_celtiche-772942.html [15.8.2020]. 15 Vgl. Kapitel 2.4.3.
40 | Neofaschismus in Italien
In den ersten Monaten meiner Forschung schien sich das Stadtviertel vor mir zu verschließen und ich wanderte viele Tage und Wochen zwischen den prunkvollen Palazzi mit ihren hohen, hölzernen Türen und den begrünten Innenhöfen umher, ohne dass sich eine von ihnen mit Hilfe der Kontakte, die ich auf der Straße und in kleinen Geschäften knüpfen konnte, öffnen ließ. Die Präsenz der faschistischen Nachkriegsszene war im Straßenbild deutlich sichtbar: An der Piazza Vescovio zeugten beispielsweise Plakate und Graffitis an den Hauswänden von der jährlichen Erinnerungszeremonie an Francesco Maria Cecchin; das Gleiche galt für Paolo di Nella in den Straßen um die Piazza Gondar herum. Doch alle meine Fragen nach Bekannten in der neofaschistischen Szene oder Veteranen der RSI und deren Familien versandeten. Man versicherte mir jedoch immer wieder, dass dies das richtige Viertel sei, um nach diesen Personen zu suchen. * Einmal versuche ich, im Vereinshaus der Forza Nuova im Salario-Trieste an der Piazza Vescovio Kontakte zu knüpfen. Die als rechtsextrem und nationalistisch eingestufte Partei wurde 1997 von Roberto Fiore und Massimo Morsello gegründet. Sie begreift sich – wie die meisten neueren neofaschistischen Organisationen – als Nachfolgerin eines ›wahren‹ Faschismus und des Movimento Sociale Italiano (MSI), der von Veteranen der Norditalienischen Sozialrepublik nach Kriegsende 1946 in Rom gegründeten, ersten neofaschistischen Partei in direkter Nachfolge des faschistischen Regimes. Das politische Programm von Forza Nuova richtet sich u.a. gegen die Herrschaft der Banken – das Finanzkapital dem Italienischen Volk ist einer ihrer Slogans. Die Partei wirbt für den Austritt aus der EU, vertritt ein streng konservatives Familienbild und ist an einem sehr konservativen Katholizismus orientiert. Es ist der 28. Februar 2012, Todestag von Mikis Mantakas, einem griechischen Studenten, ehemals Mitglied im Fronte universitario d’azione nazionale (FUAN). Es handelt sich dabei um eine 1950 entstandene Studentenorganisation, die zum MSI gehörte. Bei Ausschreitungen im Zuge des Prozesses gegen die Angeklagten im Falle des Rogo di Primavalle [Feuer bzw. Attentat von Primavalle] wurde Mikis Mantakas vor der Sektion des MSI in der Via Ottaviano in der Nähe des Vatikans am 28. Februar 1975 wahrscheinlich von zwei Mitgliedern der außerparlamentarischen linksextremen Gruppe Potere Operaio erschossen. Ich komme aus Richtung der Villa Chigi auf die Piazza Vescovio. Das erste, was mir auffällt, ist ein neuer schwarzer Schriftzug, aufgesprayt auf eine kleine Mauer neben der Sektion: ENCLAVE FORZA NUOVA [Enklave von Forza Nuova]. Das Territorium ist markiert worden. Die Sektion der Partei befindet sich direkt neben dem Haus, in dessen Hinterhof Francesco M. Cecchin zu Tode gekommen ist. Offenbar folgten ihm zwei Unbekannte und man fand ihn später
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schwer verletzt in diesem Innenhof. Nach mehreren Tagen im Koma erlag er seinen Verletzungen am 16. Juni 1979. Forza Nuova hat diesen Ort gezielt als ihren Parteisitz gewählt. In dem kleinen Raum stehen zwei junge Männer um die 20 Jahre hinter einer Theke. Sie beobachten mich misstrauisch und wortkarg mit versteinerten Mienen. Beide sind auffallend ordentlich gekleidet mit Hemd und Pullover, ganz offensichtlich teure Marken, die Haare kurz geschnitten, der Bart rasiert. In der Wand hinter der Theke befindet sich eine Art Altar mit einer Gedenktafel für Francesco M. Cecchin, davor Blumen und brennende Kerzen. In den Regalen an den Wänden stehen zahlreiche Bücher extrem rechter Gesinnung, beispielsweise Schriften gegen Homosexuelle oder mit antisemitischem Inhalt, auch Fanartikel wie Buttons und T-Shirts mit dem Emblem der Partei werden verkauft. Materielle Kultur spielt eine wichtige Rolle in der faschistischen Nachkriegsszene: Vor allem unter den jüngeren Mitgliedern einiger politischer Organisationen scheinen Fanartikel und Kleidung mit Symbolen der jeweiligen Organisation als Erkennungsmerkmale der politischen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation wichtig zu sein. Generell sind in unterschiedlichen Generationen immer wieder auch Gegenstände relevant, die auf den historischen Faschismus verweisen. Dazu gehören beispielsweise Büsten oder Fotografien von Mussolini und anderen bedeutenden Generälen des italienischen Militärs vor und nach 1943, Fahnen, Embleme von Truppenverbänden oder Fotografien, die den Faschismus in Form von Kitschobjekten in die Wohnungen bringen und materiell greifbar werden lassen. Es sind Souvenirs, die an eine diktatorische Staatsform erinnern, analog zu Reisesouvenirs. Trotz der Kitschgestalt besitzen sie eine tiefere Bedeutung für ihre Besitzer. Es ist schwer, mit den beiden jungen Männern ein Gespräch zu beginnen, ihre Ablehnung mir gegenüber als einer offensichtlich Fremden ist deutlich. Aber auf meine Frage nach Mikis Mantakas erzählen sie mir dann doch von der Erinnerungszeremonie im Stadtteil Prati, die an diesem Abend stattfindet. Als ich dort ankomme, ist die Via Ottaviano an der Piazza del Risorgimento, die an die Mauern des Vatikans grenzt, voller Menschen. Hunderte stehen dort in kleinen Gruppen zusammen, hauptsächlich Männer. Die meisten tragen Jeans und Turnschuhe. Am Rand der Menge sehe ich einige Carabinieri und Polizisten. Ich bewege mich als Fremde durch diese Masse von Menschen, die alle einer geheimen Choreographie zu folgen scheinen. An der Ecke zur Piazza del Risorgimento lehnt ein großes Gemälde mit dem Gesicht von Mikis Mantakas in schwarz und weiß an der Hauswand, daneben stehen zwei junge Männer breitbeinig als Wachen in strenger militärischer Haltung, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, den Blick starr geradeaus. Vor dem Bildnis ist eine metallene Absperrung aufgebaut, circa zwei Meter breit, dahinter liegen zahlreiche Blumensträuße in Plastikfolien. Männer jeden Alters begrüßen sich mit dem römischen Legionärsgruß, bei
42 | Neofaschismus in Italien
dem man mit der jeweils rechten Hand an den rechten Unterarm des anderen greift. Dieser Gruß wird vor allem von den jüngeren Mitgliedern der faschistischen Szene benutzt und geht auf die römische Tradition des Grüßens zwischen Militärs gleichen Ranges oder Gladiatoren zurück. Er verweist auf das Selbstbild der Mitglieder der faschistischen Szene, die sich als Soldaten und Kämpfer begreifen. Die Kommunikation ist sehr körperlich, man sieht viele Umarmungen. Die neu Ankommenden treten vor das Bild von Mikis Mantakas, bekreuzigen sich, einige strecken den rechten Arm zum saluto romano, dem faschistischen Gruß. In regelmäßigen Abständen gibt es eine formvollendete Wachablösung. Nach einiger Zeit kommt einer der Männer von Forza Nuova aus der Sektion an der Piazza Vescovio auf mich zu, baut sich vor mir auf und sagt mit einem deutlich drohenden Unterton: Ti volevo dire solo qualcosa: non prendere foto o qualsiasi altra cosa. [Ich wollte Dir nur etwas sagen: nicht fotografieren oder irgendetwas anderes.]
Ich stelle mich daraufhin etwas entfernter auf die gegenüberliegende Straßenseite und warte. Irgendwann bemerke ich, dass hinter mir ein Mann in Jeans und Turnschuhen steht, der mich beobachtet. Nach einer Weile wechsle ich meinen Platz und stelle mich hinter einen Kiosk, wenige Minuten später folgt mir der Mann. Ich werde ganz offensichtlich beobachtet und bin unerwünscht. Nach einiger Zeit formiert sich die Menge, die Teilnehmenden stellen sich einer bekannten Choreographie folgend in Reih und Glied ordentlich vor dem Bildnis von Mikis Mantakas auf die Straße. Es entsteht ein Raum, der nur den Erinnernden und dem Toten gehört und von dem ich als Beobachterin auf der anderen Straßenseite ausgeschlossen bleibe. Mittlerweile haben die Teilnehmer die Kreuzung blockiert, der Verkehr liegt lahm. Carabinieri und Polizisten stoppen ankommende Autos und leiten sie um. Und dann sehe ich zum ersten Mal das Ritual des presente, bei dem der Tote drei Mal angerufen wird von den Lebenden.16 Danach zerstreut sich die Menge. Die Tür zur neofaschistischen Szene hat sich einen Spalt breit geöffnet, um sich sofort wieder zu schließen. Fremde werden äußerst misstrauisch betrachtet, der Nachkriegsfaschismus ist eine Gemeinschaft mit engen Grenzen. Fremden ist der Zutritt verwehrt. (Feldtagebuch, Februar 2012) * Die Suche nach Veteranen der RSI und ihren Familien gestaltete sich ebenso schwierig. 1943 waren diese Veteranen junge Männer gewesen, die als Soldaten
16 Vgl. Kapitel 2.4.3.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 43
bis 1945 im (Bürger-)Krieg gegen die Truppen der Alliierten und gegen italienische Partisanenverbände gekämpft hatten – ein im alltäglichen Straßenbild unsichtbares Netzwerk von Menschen, die doch die Stadt mitstrukturierten und mitgestalteten. Ich hatte entschieden, mich nicht offiziell an einen Veteranenverein oder eine politische Organisation zu wenden, da die Chancen gering waren, tatsächlich in die Szene eintauchen und die Familien kennenlernen zu können, wenn ich mich offiziell an eine Organisation wandte. Es bestand die Gefahr abgewiesen zu werden und damit offen zu einer persona non grata in der Szene zu werden. Daher entschloss ich mich dazu, den Einstieg über Einzelpersonen und den familiären Kontext zu suchen, um tiefere Einblicke in die familiären Strukturen und Netzwerke erhalten zu können. Auf vielerlei Art und Weise versuchte ich, Kontakte zu knüpfen. Ich streifte endlos durch die Straßen, lernte Inhaber kleiner Geschäfte kennen, die das Viertel und seine Bewohner über lange Zeit kannten, lernte beim Besuch von Messen Menschen über die Gemeinde kennen. Im einem Gymnasium begleitete ich eine Geschichtslehrerin der Oberstufe über vier Monate im Geschichtsunterricht. Doch auch dort behielten die Schüler ihre politische Gesinnung lange Zeit für sich und sprachen wenig mit mir. Erst am Ende des Schuljahres konnte ich mit einer Schülerin sprechen, deren Großvater in der RSI gedient hatte.17 Drei Monate lang besuchte ich die Veranstaltungen eines ehrenamtlichen Vereins, der alte Menschen unterstützte und ihnen ein Freizeitangebot, Gesprächskreise sowie individuelle Betreuung ermöglichte. Das faschistische Netzwerk schien sich vor mir zu verbergen und ich vermutete sogar, dass man mir Bekanntschaften mit Faschisten absichtlich verschwieg: Ich fürchtete sogar, meine Forschung abbrechen zu müssen. Im April wurden meine Mühen dann endlich belohnt: Bei einem Mitarbeitertreffen des ehrenamtlichen Vereins lernte ich Antonio D.18 kennen. Als Pensionär nach einer erfolgreichen Karriere als Anwalt gehörte er zu den eher wohlhabenden Römern. Die geräumige Wohnung, in der die Familie lebte, hatte er gekauft. Da seine Frau noch arbeitete und die Kinder bereits studierten und ausgezogen waren, füllte er die Tage mit sozialem Engagement wie der ehrenamtlichen Tätigkeit und kulturellen Aktivitäten. Sein Vater hatte auf dem Balkan gekämpft, 1943 war er nach Rom zurückgekehrt und hatte sich dem Militärdienst entziehen können. Ein Bruder des Vaters war im spanischen Bürgerkrieg gefallen, wo er auf der Seite Francos gekämpft hatte. Antonio selbst war zwar nicht Mitglied in einer Partei, wählte aber rechts und war ein überzeugter Anhänger Berlusconis. Er verteidigte
17 Vgl. Kapitel 3.4.2. 18 Die Namen aller in dieser Arbeit genannten Personen wurden geändert, um ihre Anonymität zu garantieren.
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den historischen Faschismus als gelungene Staats- und Gesellschaftsform – auch gegen den Widerstand seiner Frau und seiner beiden Söhne, die sich politisch links verorteten. Die Familie lebte in einer großen und sehr stilvoll eingerichteten Wohnung im Salario-Trieste in einem mehrstöckigen Palazzo. Antonio und ich kamen nach einer Teamsitzung der ehrenamtlichen Mitarbeiter des Krisendienstes ins Gespräch. Einige der Mitarbeiter standen oder saßen in dem kleinen Innenhof der Organisation, die Sonne brannte auf uns hinab. Antonio hatte meinem Gespräch mit einem Kollegen, dem ich von meiner Suche nach Veteranen der RSI erzählte, zugehört, und interessiert nachgefragt. Als ich ausführlicher von meinem Forschungsvorhaben und meiner Suche nach Veteranen der RSI und deren Familien erzählte, fing er unvermittelt an, laut und lange zu lachen, so dass einige der anderen Mitarbeiter irritiert zu uns hinüberschauten. Eine befremdliche Situation, wie mir schien. In der folgenden Woche brachte er mir ein Buch mit zur Teamsitzung. Darin geht es dem offensichtlich faschistischen Autor um die italienische Erinnerungskultur. Er fordert dazu auf, den Streit über die faschistische Vergangenheit auch im Gedenken an die Toten beizulegen und alle – auch die Gefallenen des faschistischen Regimes und später der RSI – zu ehren und ihnen einen Platz in der nationalen Erinnerungskultur zu geben. Die Frage des Gedenkens an die Toten der offiziellen Täterseite in einem kriegerischen Konflikt ist heikel und spaltet Politik und Gesellschaft, wie beispielsweise auch im Falle der BitburgKontroverse in Deutschland 1985 deutlich wurde.19 Ich las das Buch und brachte es zurück – daraufhin lud er mich zu einem Abendessen bei sich zu Hause ein und arrangierte ein Treffen mit einer Bekannten, Alessia B., Tochter eines Veteranen der RSI. Das Buch war ein Test und Türöffner für mich gewesen. Als geschriebener, publizierter Text war das Buch in Antonios Augen eine Form der offiziellen Garantie für die Wahrheit der politischen Seite der Faschisten und ihrer Sicht auf die Vergangenheit, der auch er sich durch seinen Vater bis zu einem gewissen Grad zugehörig fühlte. Dass er die Tochter eines Veteranen der RSI kannte, hatte er mir erst erzählt, als er meine interessierte Reaktion auf das Buch gesehen hatte. Ich hatte ihn nicht verurteilt oder seine Sicht der Dinge kritisiert, sondern weiterhin Interesse gezeigt. Ein Buch war der Beginn dieses Kontaktes gewesen, ein Zeichen dafür, wie zentral Bücher als geschriebene und damit offizielle Dokumente für ihn waren, als Wissen, das auf Papier gedruckt eine andere Bedeutungsdimension besitzt. Unser Kontakt basierte also auf einem Dokument, dessen Autor für die würdevolle Erinnerung an faschistische Soldaten plädierte, und indem ich es gelesen hatte und weder ihn noch den Autor offen kritisiert hatte, hatte er offenbar stillschweigend die Entscheidung getroffen, mir zu vertrauen.
19 Vgl. Prolog.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 45
Alessia B. war eine schlanke, elegante Frau Anfang 50. Sie lebte mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern zusammen, die beide in Rom studierten. Nach einem Geschichtsstudium hatte sie in der freien Wirtschaft gearbeitet. Als wir uns kennenlernten hatte sie im Zuge der Finanzkrise gerade ihren Job verloren. Wie Antonio wählte sie Parteien am rechten Rand, war jedoch selbst nie politisch aktiv gewesen. Antonio und Alessia legten beide großen Wert auf ihre Selbstdarstellung als gebildete Römer der Mittelschicht. Offen gezeigte, extreme politische Haltungen waren dafür nicht opportun, beide wahrten auch offiziell Distanz zur neofaschistischen Szene. Ihr Interesse an mir und meiner Forschung wuchs jedoch, je mehr ich in das faschistische ambiente eintauchte. Bei beiden nahm ich eine Faszination für den extremen Teil der politischen Szene wahr, zu dem sie durch mich über Erzählungen in Kontakt kamen, ohne die eigene Identität als moderate Bildungsbürger zu gefährden. Diese Dynamik bedingte und strukturierte mein Verhältnis zu beiden über die gesamte Dauer meiner Forschung: Informationen meinerseits und Befriedigung von Neugier sowie Nähe zur Welt ihrer Väter waren u.a. meine Gegengabe für Gastfreundlichkeit und Kontakte zu für meine Forschung wichtigen Personen. Vielleicht setzten sie meine bloße Präsenz mit einer Parteinahme für die Geschichte ihrer Väter gleich, vielleicht wurde meine neutrale Haltung als deutsche Forscherin wie eine Loyalitätsbekundung empfunden. Über Alessias Vater lernte ich später weitere Veteranen der RSI und deren Familien kennen.20 Dieser Kontakt wurde ein Türöffner zur faschistischen Nachkriegsszene und ich lernte in der Folge, wie sich dieses Netzwerk über die Stadt hinweg organisierte, wie seine spezifischen Beziehungen funktionierten, wie die Generationen und unterschiedlichen Organisationen interagierten und wie die Erinnerungsrituale das Jahr und die Szene strukturierten. Zunächst bewegte ich mich innerhalb der Veteranengeneration und als ich dort einige Kontakte stabilisiert hatte, wurde es möglich, Kontakte zu Mitgliedern jüngerer Generationen zu knüpfen. Die Tore der Palazzi öffneten sich, ich betrat Wohnungen und mit der Zeit auch die Räume neofaschistischer Organisationen und stellte fest, dass das Salario-Trieste tatsächlich Heimat vieler Veteranenfamilien war, obwohl sich das soziale Netzwerk der faschistischen Szene über die gesamte Stadt erstreckte – über Familien, Kameradschaften, Allianzen, ehemalige und aktuelle Mitgliedschaften sowie Freundschaften. Ich lernte, die unsichtbaren Zeichen seiner Präsenz besser zu erkennen. Der Neofaschismus war keineswegs nur politisches Territorium, das an Hauswänden sichtbar markiert und in Vereinsräumen und Parteistrukturen im Stadtbild erkennbar wurde. Das soziale Netzwerk des Nachkriegsfaschismus
20 Vgl. Kapitel 3.2.1.
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prägte die Stadt und vor allem die politisch rechts orientierten Viertel seit Generationen, von familiären und sozialen Netzwerken gelebt und belebt. Wie bei einem großen Puzzle fügte ich über eine lange Zeit Gespräche, Beobachtungen und Erfahrungen zusammen, bis sich daraus ein Gesamtbild ergab, das zeigte, wie sehr die Vergangenheit des Krieges und die Verortung in der faschistischen Nachkriegsszene die Familien über Generationen hinweg prägten. Dabei balancierte ich lange Zeit immer wieder an der Grenze entlang, die man in der neofaschistischen Szene um sich zog – immer in Gefahr, doch wieder Kontakte und damit vielleicht meinen Zugang zum Feld zu verlieren, doch nicht vertrauenswürdig genug zu sein. Die ersten Monate waren von starkem Misstrauen mir gegenüber geprägt. Immer wieder testete man mich, diskutierte meine Vertrauenswürdigkeit. Viele, die ich um ein Treffen bat, verweigerten dies. Einige ignorierten mich stetig oder legten einfach auf, wenn ich anrief. Es war ein mühsames Insistieren meinerseits über Monate, eine sehr lange Phase der Vertrauensbildung, und mein Stand als geduldeter Fremdkörper in der faschistischen Szene etablierte sich nur langsam und über den intensiven Kontakt zu mehreren zentralen Akteuren. 2.1.2 Die Generationen des Nachkriegsfaschismus Der Grundstock des Nachkriegsfaschismus besteht bei Kriegsende aus den Netzwerken der RSI-Veteranen, in der Folge erweitert um deren Familien und familiäre Netzwerke sowie um verschiedene politische Netzwerke, die über die Generationen weiter ausdifferenziert werden. Generationen sind fassbar als geteilte Erfahrungsräume, die sich in der individuellen Erfahrung und Wahrnehmung unterscheiden und sich teilweise überlappen. Im Hinblick auf den Umgang mit Krieg schreibt die Soziologin Angela Moré: »Werden Generationen in diesem historisch-soziokulturell konstruierten Erfahrungsbezug gedacht, geht es um die Erfassung dessen, was die Erfahrungen einer (als Einheit konstruierten) Generation an Bedeutung haben für die Interaktion derselben mit der nächsten (ebenfalls als eine Einheit konstruierten) Generation. Wenn wir z.B. von der Bedeutung der Erfahrungen der Kriegskinder für das Selbsterleben der Kriegsenkel sprechen, werden spezifische gemeinsame Kernerfahrungen für jede Generation herausdestilliert und ein gemeinsames Movens der Geschichte unterstellt, das sich aus dem Bezug der beiden Generationen zueinander ergibt.« (Moré 2013: 5)
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Geburtsjahrgang und Generationenzugehörigkeit spielen für bestimmte Erfahrungsbereiche eine entscheidende Rolle, beispielsweise im Hinblick auf Bildungshistorien und Erbschaften. In verschiedenen Generationen und sozialen Klassen sowie bezogen auf individuelle Lebensverläufe variieren diese Kategorien jedoch im Maße ihrer Bedeutung. Borneman plädiert daher dafür, Generationszugehörigkeit nicht auf Kohorten oder Familienzugehörigkeit einzugrenzen, da in dieser Perspektive geteilte Erfahrungsräume, in denen beide Kategorien variieren können, nicht genügend berücksichtigt werden.21 In seinem Generationenmodell zur Analyse von Lebenswelten in West- und Ostberlin während der Teilung der Stadt betont er die Bedeutung geteilter Lebenserfahrung und gemeinsamer Reaktionen auf spezifische Erfahrungen zur Bindung von Generationen untereinander, die jeweils individuell mit subjektiver Bedeutung aufgeladen werden: »For Mannheim, as for myself, a generation is determined not by the shared problems of the time, but by the responses to these shared problems and objective conditions (e.g. war, poverty, geographical resettlement, change in political regime). Objective processes become part of life constructions only through subjective interpretations. Meaning is not a thing that inheres in events, but always involves weaving those events into a story that is meaningful to us.« (Borneman 1992: 48, kursiv im Original)
Generationen definieren sich nach Borneman demnach nicht durch die einfache Tatsache der geteilten Erfahrung des Erlebens bestimmter Ereignisse in einer bestimmten Altersgruppe, sondern durch gemeinsame Antworten auf historische Erfahrungen, d.h. durch gemeinsame Aktion, die geteilte Erfahrungen generiert. Umgekehrt bieten Generationen als soziale Gruppen in dieser Perspektive einen Rahmen für die Verortung individueller Lebenswege in einen Gruppenkontext, innerhalb eines spezifischen historischen Rahmens. Sie ermöglichen Identitätsbildung durch geteilte Erfahrung in einer bestimmten Gruppe und bieten die Möglichkeit der Differenzierung zu anderen generationellen Gruppen, die anders auf historische Ereignisse reagieren.22 Ausgehend von diesem Generationenkonzept strukturierten zur Zeit meiner Forschung drei Generationen den Nachkriegsfaschismus, verbunden über gemeinsame Reaktionen auf historische bzw. politische Situationen: I. Generation: Die Generation der Veteranen, auf die ich mich hier beziehe, wurde zwischen 1920 und 1930 geboren. Ihre Eltern hatten sowohl den ersten Weltkrieg als auch die Machtergreifung Mussolinis erlebt, die Kinder gehörten
21 Vgl. Borneman 1992: 47. 22 Vgl. Borneman 1992: 49.
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damit sozusagen bereits zur zweiten Generation des Faschismus, die nur diese Staatsform kannte und in ihr sozialisiert wurde. Zahlreiche junge Männer dieser Generation meldeten sich 1943 freiwillig zum Militärdienst, Frauen zu den weiblichen Truppenverbänden. Einschneidende Ereignisse für diese Generation waren vor allem der nach der Absetzung Mussolinis durch die Regierung unter General Badoglio verhandelte Waffenstillstand mit den Alliierten am 8. September 1943 sowie die darauffolgende Gründung des zweiten faschistischen Staates im Norden des Landes, der Norditalienischen Sozialrepublik. Die Kriegserfahrung der damals (sehr) jungen Soldaten in den darauffolgenden, letzten beiden Kriegsjahren im Kampf gegen die Alliierten und im Bürgerkrieg gegen italienische Partisanenverbände prägte diejenigen, die für den faschistischen Staat kämpften, maßgeblich. Als Verlierer des Zweiten Weltkriegs organisierten sich die Veteranen der RSI nach Kriegsende in informellen Netzwerken und seit 1946 auch in der Nachfolgepartei des faschistischen Regimes, der ersten neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano (MSI). So schützten sie das Erbe sowohl ihrer faschistischen Sozialisation als auch ihrer Kriegserfahrung. Die Parteigründung markiert den Anfang der Identität der Faschisten im Nachkriegsitalien als politische Subkultur. Viele Mitglieder dieser Generation lebten zur Zeit meiner Forschung bereits nicht mehr, die noch lebenden Veteranen (Frauen wie Männer), besaßen als Augenzeugen des historischen Faschismus und Veteranen mit Kampferfahrung einen hohen Stellenwert für die nachfolgenden Generationen. II. Generation: Als zweite Generation gelten diejenigen Mitglieder des Nachkriegsfaschismus, die zu den politischen Aktivisten während der anni di piombo [bleierne Jahre] gehören. Mit den Geburtenjahrgängen von 1945 bis 1965 variiert das Alter, viele von ihnen sind tatsächlich Söhne und Töchter von Veteranen der RSI. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Erbe der Vätergeneration prägte ihre politischen Aktivitäten. Gemeinsam ist ihnen politisches Engagement in einer Zeit der extremen politischen Spannungen während der sogenannten bleiernen Jahre und/oder das nahe Erleben der politischen Spannungen dieser Jahre durch die politische Aktivität von Familienmitgliedern. Viele von ihnen organisierten sich in (häufig außerparlamentarischen) neofaschistischen Organisationen, wo sie sich u.a. an Gewaltaktionen und Straßenkämpfen beteiligten. Einige wurden Teil der rechten Terrorszene. Heute werden die Protagonisten dieser Jahre von vielen aus den jüngeren Generationen des faschistischen ambiente als ›Veteranen‹ bewundert, die für ihre Überzeugungen kämpften und ihr Leben riskierten. Die politischen Toten dieser Jahre werden bis in die dritte Generation als Märtyrer verehrt.
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III. Generation: Als dritte Generation bezeichne ich diejenigen, die sich seit dem Ende der bleiernen Jahre, vor allem aber seit den 1990er-Jahren in neofaschistischen Gruppierungen organisieren. Dazu gehören alle Geburtenjahrgänge, die zu jung für eine Teilnahme an politischen Aktivitäten der bleiernen Jahre sind bzw. danach geboren wurden. Gemeinsam ist ihnen die politische Aktivität in einer faschistischen Organisation oder Partei, in der sie die Erfahrung teilen, mit dem Erbe der faschistischen Veteranen des Zweiten Weltkrieges sowie der Protagonisten der bleiernen Jahre umzugehen. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Generationen engagieren sie sich politisch in einer Zeit ohne Krieg und ohne konkrete Terrorgefahr. Diese Generation zeichnet sich durch fehlende Kampferfahrung aus, es gibt keine politischen Toten mehr, die Märtyrer der faschistischen Subkultur gehören der ersten und zweiten Generation an. Insgesamt hatte ich während meiner Feldforschung regelmäßigen Kontakt mit 12 Veteranen und zwei Veteraninnen, die in weiblichen Truppeneinheiten gedient hatten. Aus der zweiten Generation pflegte ich Kontakt zu 29 Personen, davon 20 Männer und neun Frauen. Die Väter von insgesamt 18 dieser Personen hatten in der RSI gedient, zehn dieser Väter lebten noch während der Zeit meines Forschungsaufenthaltes. 16 dieser 29 Personen aus der zweiten Generation waren während der sogenannten bleiernen Jahre politisch aktiv gewesen und waren es z.T. während meiner Forschungszeit noch. Zwei der 29 definierten sich als politisch links eingestellt, drei als unpolitisch, alle anderen verorteten sich politisch rechts. Aus der dritten Generation hatte ich regelmäßigen Kontakt mit elf Personen. 2.1.3 Zugehörigkeiten und Selbstbilder Zugehörigkeit ist streng reglementiert im Nachkriegsfaschismus. Politisches Engagement seit jungen Jahren, das mit Risiko verbunden ist, ist ebenso ein Garant für Zugehörigkeit wie familiäre Verbindungen. Familientraditionen und -geschichte spielen eine zentrale Rolle. Junge Menschen können auch ohne familiären Hintergrund Mitglied in einer neofaschistischen Organisation werden, der Weg bis zu einer akzeptierten Position im faschistischen Netzwerk ist jedoch in der Regel weit. Ein Neuling muss in einem sozialen und politischen Netzwerk, in das man nur langsam hineinwächst, hierarchisch strukturierte Organisationen durchlaufen. Selbstbilder von Nachkriegsfaschisten beinhalten Fragen nach Lebenskonzeptionen sowie moralischen und ethischen Standards und variieren in den unterschiedlichen Generationen.
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Faschistisches Ethos und der 8. September 1943 Der 8. September 1943 ist der Wendepunkt für Italien im Zweiten Weltkrieg. Der faschistische Großrat hatte Mussolini am 26. Juli 1943 verhaften lassen und sich in einer bedingungslosen Niederlage den alliierten Streitkräften ergeben. Die italienische Monarchie und die von ihr neu eingesetzte Regierung stellte sich daraufhin auf die Seite der Alliierten und unterzeichnete am 3. September 1943 im Geheimen einen Vertrag über die bedingungslose Kapitulation Italiens, der am 8. September öffentlich gemacht wurde. Die Übergangsregierung unter General Badoglio war nach Brindisi im Süden des Landes geflohen, das italienische Heer war sich selbst überlassen und versank ohne klare Befehle im Chaos. Die italienische Regierung galt Vielen durch den Seitenwechsel als Verräter. Als Mussolini von einer deutschen Einheit befreit wurde, gründete er mit Hilfe der Deutschen im Norden des Landes die Norditalienische Sozialrepublik. Das Heer der RSI musste nach der Auflösung des italienischen Heeres in den Wirren nach der Kapitulation neu zusammengestellt werden. In dieser chaotischen Situation, in der eine Nation zerfallen und die RSI noch kein etablierter Staat und fester Referenzpunkt war, blieb die Wahl, auf wessen Seite weitergekämpft werden sollte, den einzelnen Soldaten überlassen. Vor allem junge Männer, die im ventennio fascista geboren und aufgewachsen waren, meldeten sich daraufhin freiwillig zum Militärdienst der RSI.23 Viele dieser Entscheidungen wurden aus persönlicher Motivation heraus getroffen, häufig auf Basis der politischen Traditionen der Familie, eigenen Erfahrungen oder emotionalen Präferenzen.24 Später wurden in der RSI zahlreiche Soldaten zwangsrekrutiert, da die Freiwilligen nicht ausreichten, um ein schlagkräftiges Heer aufzustellen und das für die kriegerischen Herausforderungen zu kleine Heer mit der Zeit in massive Schwierigkeiten geriet. Nach der Kapitulation 1943 von den Deutschen gefangen genommene Soldaten wurden nicht wieder freigegeben, sondern unterstanden deutschem Kommando oder blieben als Zwangsarbeiter in Deutschland interniert, da die Deutschen dem italienischen Heer gegenüber misstrauisch blieben.25 Das Masternarrativ der RSI-Veteranen stellt bei der Begründung der Entscheidung für eine militärische Beteiligung in der RSI nach dem 8. September 1943 die Scham für den schnellen Seitenwechsel Italiens sowie den Wortbruch gegenüber dem verbündeten Nazideutschland in den Vordergrund.26 Als zentrale, emotionale
23 Vgl. Cavaterra 1987. 24 Vgl. Osti Guerazzi 2012: 79. 25 Vgl. Schieder 2010: 104. 26 Eine antifaschistische Sicht auf den 8. September 1943 findet sich beispielsweise bei Levi (1944).
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Rechtfertigung für diese Entscheidung wird immer wieder die Wut über den Loyalitätsbruch der italienischen Regierung genannt. Das Narrativ sollte das Selbstverständnis der Faschisten im Nachkriegsitalien zementieren, nicht zum Verräter am eigenen Land und an der eigenen Vergangenheit geworden zu sein. Dieses Selbstbild der RSI-Veteranen als Männer bzw. Soldaten, die nach klaren Vorstellungen von Ehre und Moral handeln und sich auch nicht durch eine Niederlage korrumpieren lassen, dominiert die neofaschistische Nachkriegsszene. Es dient der Umdeutung bzw. Kontrastierung der sozialen Marginalisierung nach der Niederlage in Form der Abgrenzung durch moralische Überlegenheit. Blok verweist auf männerdominierte militärische Milieus als Orte in einer Gesellschaft, an denen der Ehrenkodex27 besonders eng mit der physischen Identität verbunden ist.28 Die Kriegserfahrung29 der Veteranen bildet die grundlegende Legitimation für ihre andauernde Sonderstellung in der faschistischen Nachkriegsszene seit 1945. Das Narrativ der faschistischen Veteranen der RSI beginnt mit dem Mythos von der Selbstaufopferung für die Ehre Italiens. Das Kollektiv wird dabei über das persönliche Glück gestellt – ein grundlegendes Paradigma der faschistischen Ideologie. Im Alltag wirkt die Betonung des Ehrenkodexes stabilisierend für die sich als sozial marginalisiert wahrnehmende politische Subkultur. Ehre als Verhaltenskodex erweist sich auch als eine soziale Ressource: »Thus, honor in this specific case stops being a static entity that the actor cannot escape and becomes a pliant and flexible phenomenon. It proves to be a cultural knowledge, and consequently an adequate action know-how. Therefore, honor is a social resource for individuals who will both put it to use to assess their own social situation and activate it in specific constellations in order to achieve what is regarded as an opportune goal.« (Giordano 2012: 20)
27 Zum geschlechterspezifisch definierten Konzept von honour and shame als Moralkodex in mediterranen Gesellschaften, welches mit dem sozialen Status des Einzelnen sowie sozialer Gruppen verknüpft und eng mit den Strukturen politischer Klientelnetzwerke verwoben ist, siehe u.a. Pitt-Rivers (1961 und 1965), Blok (1981), Gilmore (1987). Zur Kritik siehe Herzfeld (1987), Lindisfarne (1994). 28 Vgl. Blok 1981: 435. 29 Vgl. Theweleit, der in »Männerphantasien« die Bedeutung des Mannes als Soldat sowie des männlichen Körpers als Grundlage der faschistischen Politik sowie des faschistischen Weltbildes betont. Er beschreibt Faschismus aus psychoanalytischer Perspektive auch als Tätigkeit männlicher Körper, soldatisch gedrillt, die einen Rahmen für ein (oft) fragmentiertes Ich bilden, das Körper-Ich eingebettet in äußere, gesellschaftliche Organisationen wie Familie, Partei, Staat (vgl. Theweleit 1980: 222).
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Das faschistische Ethos unter den Veteranen der RSI ermöglicht trotz der Niederlage auch rückwirkend die Rechtfertigung ihres Kriegseinsatzes durch die Betonung der moralischen Unantastbarkeit. Krieg und Kriegsverbrechen werden nachträglich in einen übergeordneten Kontext gestellt, der das Ethos als moralisch korrekte Geisteshaltung über die Taten stellt und diese dadurch auch legitimiert. Viele Veteranen der RSI, die sich 1943 freiwillig zum Militärdienst meldeten, verkörperten mit dieser in ihren Augen moralisch korrekten Entscheidung die Standhaftigkeit des faschistischen Mannes, der sein Leben für das Vaterland riskiert und seine Ideale über das eigene Glück stellt. Euphorie prägte viele Erzählungen über den 8. September 1943, auch, wenn alle Veteranen, mit denen ich sprach, auf die ein oder andere Weise von der Erfahrung eines Zweifrontenkrieges gezeichnet waren: an der Seite deutscher Truppen verlustreich gegen die alliierten Streitkräfte und im Hinterland der RSI zeitgleich in Form eines Bürgerkrieges gegen italienische Partisanenverbände. Die Partisanen hatten aus Perspektive der faschistischen Soldaten ihr Land verraten, indem sie illegal organisiert in freien Verbänden außerhalb des Heeres der RSI ›gegen die eigenen Landsleute‹ kämpften – ungeachtet der Tatsache, dass auch die Truppen der RSI die italienischen Partisanen hart bekämpften und zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung verübten. Aus Sicht der Soldaten der RSI, die ihrem Land im Sinne des einmal auf das faschistische Italien geleisteten Eides treu geblieben waren, beruhte die neue italienische Republik nach 1945 auf Verrat.30 Indem Faschismus im neuen Staat mit Täterschaft gleichgesetzt wurde, war das während des faschistischen Regimes geltende Treueverständnis aus Sicht der Faschisten nach Kriegsende in sein Gegenteil verkehrt worden. Aus dieser Haltung heraus wurde der italienische Staat nach 1945 von den Faschisten grundlegend in Frage gestellt. Die Emotionalität, mit der die Entscheidung zum freiwilligen Militärdienst in der RSI häufig getroffen wurde, zeigen die Aussagen dreier Veteranen, die alle der oberen Mittelschicht angehörten. Giulio R. erzählte mir, er habe sich freiwillig zum Militär gemeldet, nachdem er damals als 18-Jähriger kurz nach der Ausrufung des Waffenstillstands mit den Alliierten die Ansprache von General Graziani in Rom vor dem Vaterlandsaltar an der Piazza Venezia gehört hatte. Combattiamo fino alla morte! [Wir kämpfen bis zum Tod!] seien dessen letzte Worte gewesen, die er nie vergessen habe. Er habe daraufhin bitterlich geweint und sich als Freiwilliger zur Decima Flottiglia Mas gemeldet, Spezialeinheit der italienischen Marine unter General Julio Valerio Borghese, die bis 1945 hauptsächlich im Kampf
30 Zur Konzeption von Nation und Bindung des Bürgers an den Staat durch Eid und die daraus resultierenden Kategorien von Verrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe Boveri (1956).
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gegen Partisanen eingesetzt wurde. Ugo S. erzählte mir von dieser euphorischen Stimmung unter den Freiwilligen, die in den Krieg ziehen wollten, um die Schmach des Wortbruchs dem Verbündeten Deutschland gegenüber wiedergutzumachen und dafür heldenhaft bis zum eigenen Tode zu kämpfen: Volevamo andare al fronte a cercar’ la bella morte, ma non morire per essere ucciso dagli italiani. [Wir wollten an die Front gehen, um den schönen (Helden-)Tod zu suchen, aber nicht, um durch die Hand von Italienern zu sterben.]
Er meldete sich nach dem 8. September freiwillig zum Militär der RSI und erhielt seine Grundausbildung in Rom. Danach diente er in einer Eliteeinheit der Battaglioni M [Battaillon Mussolini], die seit 1943 zum Heer der RSI gehörte. Zu den Aufgaben der Einheit gehörten der Kampf gegen Partisanen sowie Polizeiaufgaben und militärische Sicherungsaufgaben. Seine Truppeneinheit kämpfte seit 1944 bis Kriegsende in der Gegend um Triest gegen italienische Partisanen sowie die Jugoslawische Befreiungsarmee. Wie viele andere beklagte er die Tatsache, nie an der Front gegen die Alliierten gekämpft zu haben. Bei Kriegsende wurde er von italienischen Partisanen gefangen genommen und über Wochen festgehalten und misshandelt, wie er mir erzählte. Gabriele S., der sich freiwillig zur Decima Flottiglia Mas gemeldet hatte, erinnerte den 8. September folgendermaßen: In sostanza noi dalla sera alla mattina noi passavamo dagli alleati della Germania ai nemici della Germania. Insomma una cosa veramente turpe, di cui si dovrebbe vergognarsi di essere italiani. Tornavo a casa e mio padre piangeva. Caro Gabriele, è finito tutto. Questo erano i sentimenti di mio padre e quindi anche i sentimenti miei. Allora mi sono arruolato, quindi sono diventato un combattente della Repubblica Sociale e di tutto questo sono orgoglioso, va bene. [Im Wesentlichen waren wir über Nacht vom Verbündeten zum Feind Deutschlands geworden. Eine wirklich schmutzige Sache, für die man sich schämen sollte, Italiener zu sein. Als ich nach Hause kam, weinte mein Vater: Lieber Gabriele, sagte er, alles ist zu Ende. Das waren die Gefühle meines Vaters und daher auch meine. Also habe ich mich freiwillig gemeldet und bin ein Soldat der Repubblica Sociale geworden und auf all das bin ich stolz, okay.]
Sichtbar wird die starke emotionale Komponente der 1943 getroffenen Entscheidungen, welche den Ausgangspunkt dieser zweiten Kriegsphase in Italien für viele Soldaten der RSI kennzeichnet und grundlegend für das Selbstverständnis der faschistischen Veteranen ist. Die genannten Beispiele sind positive Erzählungen, die
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den in zahlreichen Familien existenten Generationenkonflikt zwischen der Generation, die im faschistischen Regime aufwuchs und der Generation ihrer Eltern, insbesondere ihrer Väter, die die Kriege des faschistischen Regimes bereits miterlebt oder gekämpft hatten, außen vorlassen. Die Kriegseuphorie der Freiwilligen für die RSI findet sich in erster Linie bei den jungen Männern, die zum ersten Mal in den Krieg zogen, wo sie an der Seite Deutschlands gegen die Alliierten kämpfen wollten. So unterschiedlich ihre Geschichten und Kriegserfahrungen waren, einte sie vor allem das Ethos, das sie als Veteranen der RSI verkörperten: Auf ihrer Erfahrung und ihren moralischen Grundsätzen, ihrem Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein gründet der Nachkriegsfaschismus aus Sicht seiner Mitglieder. Non ho tradito [ich habe nicht die Seiten gewechselt], per l’onore della patria [für die Ehre des Vaterlandes] das Leben riskiert im Krieg, waren Parolen, die mir in fast allen Gesprächen mit RSI-Veteranen begegneten. Wie ein Mantra wurden diese Überzeugungen ständig wiederholt, wie um sich der eigenen Identität zu versichern. Man hielt sich sozusagen am eigenen Ethos fest. Besonders verehrt wurde innerhalb des faschistischen ambiente Laura R., da sie das faschistische Ethos als Frau und ehemalige Soldatin besonders prägnant verkörperte. Sie hatte als sogenannte ausiliaria seit 1943 im Heer der RSI gedient. Damit war sie eine von circa 6000 Frauen, die in der RSI im Servizio Ausiliario Femminile organisiert waren.31 Sie besaßen den Status von Kriegsfreiwilligen, wurden aber meist mit administrativen Aufgaben betraut oder arbeiteten als Krankenschwestern.32 Im Zuge der sogenannten epurazione wurden Frauen wie Laura in zahlreichen Fällen gedemütigt, misshandelt, vergewaltigt und oft getötet. Laura hatte überlebt. Ihre Worte bei einer Erinnerungszeremonie im Jahr 2012 auf dem Campo della memoria, dem Friedhof für die toten Soldaten der Truppen der RSI in der Nähe Roms33 sagte sie: Ho soltanto fatto il mio dovere. [Ich habe nur meine Pflicht getan.]
Mit ihren Worten stellte sie die Pflichterfüllung über alles, auch über ihr persönliches Glück. Ihre Bescheidenheit und ihr Pflichtbewusstsein machten sie zu einer Ikone. Ihre Worte wurden oft zitiert als Essenz dessen, was die RSI-Veteranen verkörpern wollten, als Ideal des Nachkriegsfaschismus.
31 Vgl. Garibaldi 1995. 32 Vgl. Ministerialerlass/ -dekret der RSI: Nummer 447 vom 18. April 1944. 33 Vgl. Kapitel 4.1.2.
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Ehrenhaftigkeit und faschistisches Ethos bedeuten auch Kohärenz und Standhaftigkeit, mit denen man sich bewusst von der italienischen Gesellschaft mit ihren Klientelstrukturen voller Abhängigkeiten abheben und abgrenzen wollte. Dieser Diskurs der sauberen Identität reduziert über Rhetorik und sprachliche Manifestation Ambivalenzen und schafft über für sich selbst beanspruchte moralische Standards ein Idealbild. Redewendungen, die häufig wiederholt werden, wirken nach innen und nach außen als rhetorische Eckpfeiler der Identitätsstiftung. Diese Rhetorik der klaren Identität beeinflusst auch die jüngeren Generationen stark, wie auch die RSI-Veteranen selbst, die mehrheitlich als Helden, lebender Mythos eines idealen, kämpferischen Italiens gesehen werden. Ihre Kriegserfahrung und ihr Selbstverständnis sind Ausgangspunkte für die Nachkriegsgeschichte der faschistischen Szene, die sich bis heute auf diese Männer bezieht. Das Symbol der Marineeinheit Decima Flottiglia Mas, ein Totenkopf mit einer Rose im Mund ist beispielsweise bis heute ein beliebtes Tattoo-Motiv bei jungen Mitgliedern der dritten Generation einiger neofaschistischer Organisationen. Alessandro L. aus der zweiten Generation, der in den bleiernen Jahren in einer außerparlamentarischen Organisation aktiv war, beschrieb die RSI-Veteranen als zentralen Referenzpunkt seiner Generation: Erano un esempio vivente. [Sie waren ein lebendes Vorbild.]
Enzo O., der ebenfalls in den bleiernen Jahren in der Jugendorganisation des MSI aktiv Politik gemacht hatte, antwortete auf meine Frage, ob die RSI-Veteranen wichtig für seine Generation gewesen seien: Importantissimi, da uno a dieci: cento. [Sehr wichtig, auf einer Skala von eins bis zehn: hundert.]
Weder die Väter noch die Großväter von beiden Männern hatten in der RSI gekämpft – trotzdem hatten die Veteranen für beide eine besondere Bedeutung als Vorbilder für ihre eigene politische Verortung. Heldenmythos der Kriegsverlierer Die RSI-Veteranen nennen sich selbst reduci, was wortwörtlich ›Heimkehrer‹ bedeutet, oder ex combattenti [ehemalige Kämpfer bzw. Soldaten]. Sulla parte sbagliata [auf der falschen Seite], wird oft hinzugefügt. Außerhalb des ambiente
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werden sie häufig repubblichini34 genannt – ein Diminutiv für repubblicano [republikanisch], eine Bezeichnung, die sich auf die Repubblica Sociale Italiana bezieht und abwertend gemeint ist. Sie werden despektierlich auch vinti35 [Kriegsverlierer] genannt. Das ambiente gründet auf dieser Gemeinschaft der Verlierer, die sich selbst zu Helden stilisieren, basierend auf ihrer Erinnerung an den Krieg und ihrem Selbstverständnis als Kämpfer – eine Form des Rückbezugs auf die Vergangenheit, der bei den jüngeren Generationen häufig den Vorwurf einer nostalgischen Haltung sowie des Fehlens einer zukunftsorientierten Denkweise hervorruft.36 Nach Kriegsende waren zahlreiche Soldaten der RSI in Gefangenenlagern der Alliierten interniert, viele mussten sich einem Kriegsgericht stellen. Das Heer der RSI belief sich 1945 auf 43 000 Soldaten, 70 000 Soldaten dienten in Einheiten, die direkt dem deutschen Oberkommando unterstanden.37 Neben der ordnungsgemäßen Verurteilung vieler Soldaten, die Kriegsverbrechen begangen hatten, fanden im Norden des Landes auch Racheaktionen der Partisanen jenseits ordentlicher Prozessverfahren statt.38 Die ersten Nachkriegsjahre gestalteten sich für die meisten Faschisten und RSI-Veteranen daher schwierig in einem Land, das versuchte, sich des Faschismus zu entledigen. Die Niederlage im Krieg wurde durch den damit verbundenen Machtverlust häufig als einschneidendes Erlebnis mit traumatisierenden Zügen empfunden.39 In dieser Situation ging es für viele um das eigene Überleben im Hinblick auf Racheaktionen durch Partisanen und um den Aufbau einer neuen Existenz in einer mehrheitlich antifaschistisch orientierten Nachkriegsgesellschaft. Diese Situation trug zur Intensivierung der Bindungen innerhalb der Netzwerke der faschistischen Kriegsheimkehrer bei, die sich gegenseitig halfen und unterstützten. Im Hinblick auf eine mögliche kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit fungierte das faschistische ambiente als
34 Vgl. Mattioli 2010: 137. 35 I vinti, dt. die Verlierer, die Besiegten; im Italienischen wird der Terminus auch für die unterdrückten Massen im Süden verwendet, siehe beispielsweise auch den Roman von Nuto Revelli über die Welt der einfachen Bauern in Italien Il mondo dei vinti. Testimonianze di vita contadina (1977). 36 Vgl. Germinario 2005: 20. 37 Vgl. Schieder 2010: 104. 38 Zwischen 1943 und 1946 ließen circa 10 000 bis 12 000 Menschen im Rahmen der Abrechnung mit dem Faschismus ihr Leben, im Jahr 1945 alleine 5000 bis 8000 (vgl. Woller 1996: 279). 39 Vgl. Giesen 2004.
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Bollwerk gegen die als feindlich empfundene Haltung der antifaschistisch orientierten Nachkriegsgesellschaft und half bei der Vermeidung einer individuellen Auseinandersetzung mit Kriegsschuld: »Wenn Opfern, Selbstopfern, paradox am Ende bedeutet, ein Sakrileg zu begehen [...] werden Bünde im Anblick von ›Schuld‹, als Schuldgefühl und Schuldverschworenheit geschlossen.« (Lipp 1990: 39). Die eigene Würde trotz der Niederlage zu behalten war für die RSI-Veteranen nach Kriegsende zentral. Vito B., Sohn eines Veteranen der RSI, der seinen bereits verstorbenen Vater sehr verehrte, sagte einmal: La guerra persa è stata sofferenza enorme, i reduci della RSI sono stati praticamente cancellati dalla storia. [Die Niederlage hat enormes Leid gebracht, die Veteranen der RSI sind praktisch aus der Geschichte gelöscht worden.]
Aus der Sicht dieses Sohnes sprach die italienische Nachkriegsgesellschaft den Veteranen die Existenz ab, ignorierte sie und übergab sie dadurch dem Vergessen. Mit großem Eifer und voller Wut hatte er daher nach dessen Tod ein Buch über seinen Vater und dessen Truppe geschrieben. Um die Welt der Veteranen zu verstehen, müsse man ihre Scham verstehen, sagte er. Der Identität des Verliererdaseins im Außen wurde innerhalb des faschistischen Nachkriegsszene eine heldenhafte Vergangenheit entgegengesetzt. Der Position als Kriegsverlierer in der Gesellschaft wurde das Bild des gescheiterten Helden entgegengesetzt. Sichtbar wird hier, wie Opfernarrative die Freisetzung zukunftsgerichteter Kräfte ermöglichen können: »Bünde bestehen, so gesehen, aus Menschen, die sich – wie der Typus des ›Helden‹ es in der Mythologie vorgibt – vom Dasein selbstquälerisch abgetrennt haben, Männern, die ›Leid‹ auf sich nahmen und nun mitleidend, mitbetroffen, sympathisierend einander verbunden sind. Eben darin liegt aber ihr Charisma: durch jene so entschiedene wie paradoxe, schuldhafte wie befreiende, selbstopfernde Tat ein Tor aufgestoßen zu haben, das zu neuen Ufern führt und überstrahlt ist von neuem, kulturellen Glanz.« (Lipp 1990: 40)
In Form von mythischen Geschichten über die Vergangenheit und die Konstruktion heldenhafter Figuren wird kulturelle Erinnerung verfertigt, immer mit der Absicht, das Kollektiv zu stärken. Dazu gehört auch der Umgang mit Erinnerung an triumphale und traumatische Ereignisse, er ist der Rahmen für kollektive Verfertigung von Identität mit dem Ziel, diese zu schützen und zu stärken. Nachträgliche Modifizierung bzw. Umdeutung der Wirklichkeit sind notwendige Maßnahmen
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für eine Erinnerung im Namen der eigenen Identität. Der Täterdiskurs in der italienischen Nachkriegsgesellschaft führt bei den beschuldigten Soldaten reflexartig zu Mechanismen der Stärkung des eigenen Raumes.40 Die Schwierigkeit der Auseinandersetzung mit Schuld beruht auf dem Risiko des Verlustes der Selbstachtung, welche von der jeweiligen Gemeinschaft oder Gruppe befürchtet werden muss.41 Der nationale Diskurs über Täterschaft wurde im Nachkriegsfaschismus seit Kriegsende kontrastiert, die Erinnerungsdiskurse sind eine Form der Gegenreaktion zur gefühlten Kriminalisierung durch die antifaschistische Gesellschaft. Die Bilder des Täters und des tragischen Helden stehen sich in ein und denselben Personen gegenüber. Die Soldaten der RSI konstituieren ihre Identität innerhalb dieser Spannweite zweier extremer Gegenpole, auf persönlicher Ebene muss diese Diskrepanz immer wieder neu verhandelt und bewältigt werden. Der Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik der eigenen Schuld und Täterschaft ist im engen Rahmen des im faschistischen ambiente geführten Diskurses über die Vergangenheit daher gar nicht oder nur sehr schwer möglich. Stattdessen ist es von zentraler Bedeutung, keine Schwäche zu zeigen und das Image des starken Mannes und ruhmreichen Soldaten zu pflegen, den man der feindlich gesinnten Außenwelt entgegenhalten kann: ein Heldengemälde als Kontrapunkt zu den Helden der Resistenza. Die Kriegsvergangenheit wird im Kollektiv als glorreiche Vergangenheit verhandelt, denn ein Diskurs über persönliche Schuld birgt das Risiko, diese Heldenbilder in Frage zu stellen oder gar zu zerstören. Netzwerke der RSI-Veteranen Neben der Solidarität zwischen einzelnen RSI-Veteranen wurden nach Kriegsende 1945 speziell Beziehungen zwischen Kameraden einzelner Truppenverbände aufrechterhalten. Veteranenvereine stellten eine zentrale Kategorie der Strukturierung der faschistischen Nachkriegsszene dar. Der wichtigste und größte Verband war über Jahrzehnte die 1962 gegründete Unione nazionale combattenti della Repubblica Sociale Italiana, die aus der 1947 durch Benito Mussolinis Neffen, Vanni Teodorani, gegründeten Associazione dei combattenti della RSI (ACRSI) hervorging. Der Verein bot vor allem Kriegsgefangenen und deren Familien Hilfestellung, unterstützte Invaliden und Kriegswaisen. 1949 wurde er in Federazione nazionale combattenti della RSI umbenannt. Im Jahr 1951 wurde der während
40 Siehe auch Kapitel 3.1.1. und 3.1.3. 41 Vergleiche dazu Heer (2004), der die Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit eigener Täterschaft im Falle Deutschlands anhand der beiden Wehrmachtsausstellungen von 1995 und 2001 in Hamburg aufgezeigt hat.
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des Faschismus vor allem durch seine Afrikafeldzüge und später in seiner Funktion als Verteidigungsminister der RSI bekannte General Rodolfo Graziani auf Lebenszeit Präsident des Vereins. Im Jahr 1949 erfolgte die Gründung weiterer Vereine, wie die Associazione Paracadutisti Italiani (API) für die Veteranen der Fallschirmjäger, die Associazione Nazionale Arditi d’Italia (ANAI) für die Infanteristen, sowie das Movimento Italiano Femminile (MIF), ein Verband, der die Witwen der RSI-Veteranen unterstützte. 1950 gründete Arconvaldo Bonaccorsi die Associazione nazionale combattenti in Spagna (ANCIS) für die Veteranen, die im spanischen Bürgerkrieg für Francisco Franco kämpften. 1952 schlossen sich verschiedene dieser Verbände zur Unione combattentistica zusammen.42 Die Marineeinheit Decima Flottiglia MAS besitzt ihren eigenen Veteranenverband, Associazione Combattenti Decima Flottiglia MAS, gegründet 1952 durch den ehemaligen Kommandanten der Einheit Junio Valerio Borghese. Daneben gibt es zahlreiche kleinere Vereine, die lokal aktiv sind, einer davon ist die Associazione Campo della Memoria in Rom, die den Friedhof für die 1944 bei Anzio und Nettuno gefallenen Soldaten der RSI erbaute und diesen seitdem verwaltet und betreut.43 Seit 1986 existiert ein historisches Forschungsinstitut für die Geschichte der RSI und deren militärische Einheiten, die Fondazione della RSI – Istituto Storico. 2003 veröffentlichte das Institut erstmalig ein Register der gefallenen und verschollenen Soldaten der RSI (circa 100 000 Personen)44. Ziel des Institutes ist eine eigene Geschichtsforschung über die RSI sowie die Pflege einer faschistischen Erinnerungskultur. Vor allem in der Hauptstadt Rom spielten die Netzwerke der Veteranen eine zentrale Rolle, denn nach Rom kehrten nicht nur Römer zurück: Viele Faschisten und RSI-Veteranen begannen dort ein neues Leben, wenn dies aus politischen Gründen im Heimatort unmöglich geworden war. Die Basis des Nachkriegsfaschismus war somit ein Netzwerk, das von Soldaten geprägt wurde, die einen Krieg verloren hatten. Bis Kriegsende waren sie in streng hierarchisch geordneten und militärisch strukturierten Männerverbünden45 organisiert gewesen. Sie hatten das Schicksal als Soldaten geteilt, gemeinsam gekämpft, gemeinsam Kameraden verloren und gemeinsam überlebt. Theweleit betont die Bedeutung von Drill und Körper für die Psyche des faschistischen Soldaten als einen Rahmen, in dem sich das fragmentierte Ich verorten kann. Die Verbindung der Soldaten im Faschismus untereinander, aber auch die Verbindung zum Regime setzen Theweleit zufolge
42 Vgl. Bistarelli 2007: 183. 43 Vgl. Kapitel 4.1.2. 44 Vgl. Conti 2003. 45 Zur Kulturgeschichte und Entwicklung von Männerbünden siehe Lipp (1990).
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auf der körperlichen Ebene an; der Körper wird an die erste Stelle gesetzt, indem Wahrnehmungsperspektiven sowie Aspekte des individuellen Seins in der Überbetonung des Soldaten, das Ich des soldatischen Mannes zugunsten des Kollektivs der Truppe gebündelt werden: »Die Maschine Truppe produziert sich selbst; sich selbst als Ganzheit, die dem einzelnen Soldaten einen neuen Körperzusammenhang verleiht und sich selbst als Zusammengefügtes aus lauter gleichen geschliffenen Einzelteilen. Sie produziert einen Ausdruck; den von Geschlossenheit, Stärke, Exaktheit, den einer strengen Ordnung der Geraden und Rechtecke; den Ausdruck von Kampf und den einer bestimmten Männlichkeit.« (Theweleit 1980: 155)
Physische soldatische Erfahrung und die Verbindung der Soldaten untereinander als Kameraden liegen dem Netzwerk der RSI-Veteranen und dem Nachkriegsfaschismus zugrunde. Das soldatische Körper-Ich ist nach Theweleit eingebettet in äußere, gesellschaftliche oder Organisations-Ichs, in denen sich das unsichere Soldaten-Ich verorten kann.46 Das Fehlen eines sicheren Rahmens in Form von Staat und militärischen Organisationen für die RSI-Veteranen machten neue Netzwerke umso notwendiger. Die Verbindungen zwischen den RSI-Veteranen waren daher von zentraler Wichtigkeit in der italienischen Nachkriegsgesellschaft, in der sich viele RSI-Veteranen und Faschisten zunächst heimatlos fühlten. Diese männerbündischen Netzwerke zeichneten sich auch durch den Aspekt der Brüderlichkeit aus, verantwortlich für die Stärke solcher Bindungen: »Die Seele der ›Brüderlichkeit‹ bildet sich in diesem Schema aus und sucht darüber hinauszukommen. Sie produziert eine ›eigene‹ Verwandtschaft von ›Brüdern‹, quer zu den Familien-Banden, die durch das väterliche oder das mütterliche Prinzip festgelegt werden.« (Salber 1990: 44)
Offenbar wurden manche Beziehungen innerhalb des faschistischen Netzwerkes so stark empfunden, dass sie Ausmaße der Intensität familiärer Bindungen annahmen und in der individuellen Bedeutung mit dieser gleich gesetzt wurden: Siamo tutti una famiglia, [Wir sind alle eine Familie,]
hörte ich immer wieder. Nach Theweleit löst Faschismus als ideologisches Konzept die Familie ab, er steht ihr ambivalent gegenüber und bietet zugleich einen
46 Vgl. Theweleit 1980: 222/ 223.
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alternativen Rahmen: »Als Ordnungsfaktor Ich-Grenze braucht der faschistische Staat die Familie und stärkt sie; seinem Willen, die Welt zu unterwerfen, ist sie aber eher im Weg.« (Theweleit 1980: 249). Theweleits Beobachtungen gelten verschärft für die Zeit nach Kriegsende unter den Vorzeichen des Zerfalls der bisherigen staatlichen und militärischen Strukturen als Halt gebende, äußere Organisationen. In diesem Mechanismus findet sich auch eine Parallele zu Heiligenkulten, wenn der Heilige zugleich gegen den Einzelnen oder die Familie agiert, obwohl er Heilung und Rettung für Verehrung und Treue verspricht. Er kann Heilung und Schutz bringen, aber auch Zerstörung in gleichem Maße, indem er die Gläubigen bzw. die Familie an sich bindet.47 Rückbezogen auf Klientelbeziehungen und ihre Gesetzmäßigkeiten und Abhängigkeiten bedeutet diese Dynamik im Faschismus auch Geborgenheit und Zugehörigkeit um den Preis der Treue und politischen Loyalität. Die Zugehörigkeit zur faschistischen Nachkriegsszene ist in der Regel auf Dauer ausgerichtet, meist lebenslang. Im Gegenzug für Treue und politische Loyalität erhalten die Mitglieder Schutz und Loyalität in einer Gemeinschaft, die als Bollwerk und Schutz gegen die Abwertung in der antifaschistisch orientierten Nachkriegsgesellschaft fungiert. In dieser komplexen Situation wuchsen die Kinder der RSI-Veteranen auf, konfrontiert mit einer sozialen Realität in der italienischen Gesellschaft, die die Väter bzw. Eltern als Täter definierte, wohingegen sie innerhalb des faschistischen Netzwerks angesehene und in der Familie geliebte, nahestehende Personen waren. Viele dieser Kinder positionierten sich politisch innerhalb des Nachkriegsfaschismus oder im rechten politischen Spektrum und blieben so dem Netzwerk treu, in dem sie aufgewachsen waren. Wer Kind eines RSI-Veteranen war, besaß einen besonderen Stellenwert. Zugehörigkeit zur faschistischen Nachkriegsszene war dann meist selbstverständlich – gewissermaßen durch die Identität der Väter geerbt. Diese Form der familiären Zugehörigkeit kann bis in die Enkelgeneration generiert werden.48 Faschisten oder Soldaten? Vittorio B. meldete sich 1943 mit 18 Jahren freiwillig zum Militärdienst in der RSI, nachdem die Alliierten auf Sizilien gelandet waren und diente in der Guardia Nazionale Repubblicana. Er war ein einfacher Mann mit niedrigem Bildungsstand, der aus einer römischen Arbeiterfamilie stammte. Sein Vater sei überzeugter Kommunist, der Onkel Anarchist gewesen. Trotzdem sei er sich am 26. Juli 1943 nach der Verhaftung Mussolinis bewusst geworden, Faschist zu sein:
47 Vgl. Hauschild 2002: 72-75. 48 Vgl. Kapitel 3.4.
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La mattina del 26 luglio me ne sono accorto di essere fascista. [Am Morgen des 26. Juli habe ich festgestellt, dass ich Faschist bin.]
Der weißhaarige Mann lachte trocken und blickte lange aus dem Fenster, ohne etwas zu sagen. Wir hatten uns im Haus eines Bekannten im Zentrum Roms getroffen. Vittorio bewegte sich schwerfällig und sprach langsam, dabei hielt er einen Hut in den Händen, der normalerweise sein noch volles Haar bedeckte. Er hatte weder Frau noch Kinder und lebte mit einer unverheirateten Cousine zusammen, die ihm den Haushalt führte. In seiner Erinnerung war er über Nacht zum Faschisten geworden, eine emotionale Reaktion auf die Schmach der Absetzung Mussolinis und die Kapitulation der italienischen Regierung. Daraufhin hatte er sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet – gegen den Willen des Vaters, wie er betonte. Vittorio beschrieb eine Form der inneren Wandlung, der er sich nicht hatte entziehen können und relativierte damit auch die Verantwortung für seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen. Seine politische Identität stellte er damit in einen persönlichen Rahmen – als sei sie seinem Wesen bereits immanent gewesen. Politische Identität wurde in seiner Erzählung zu einem Charakter- und Wesenszug, fern aller durch den eigenen Willen beeinflussbaren Entscheidungen über politische Zugehörigkeit. In seiner Wahrnehmung wurde man als Faschist geboren, auch wenn die Familie andere politische Überzeugungen vertrat. Für Vittorio resultierte daraus die freiwillige Meldung zum Militärdienst der RSI sowie die lebenslange Zugehörigkeit zum faschistischen Netzwerk. Er konnte seinen faschistischen Charakterzug in dieser Perspektive nur erfüllen und den Anforderungen des faschistischen Mannes gerecht werden – seinem Wesen ausgeliefert. Bedient wird in diesem Narrativ die Idee vom neuen Menschen im Faschismus als »Wiedergeburtsphantasie«: Ein Mensch mit starkem Ich, der sich von der eigenen Geschichte, den Eltern, der Familie, seiner Herkunft löst, indem er zu etwas wird, das er bereits auf eine Art gewesen ist.49 Die Beziehung zu seinem Vater sei seitdem extrem schwierig gewesen, bis zu dessen Tod seien sie zerstritten gewesen, erzählte er mit Bitterkeit in der Stimme. Offenbar zerbrach seine Familie an den Entscheidungen des Jahres 1943 dauerhaft. Bis heute ist die Versöhnung oder Vermeidung von Konflikten zur Erhaltung der Familie als Erbengemeinschaft ein zentrales Moment in der italienischen Politik. Kinder wählen häufig, was ihre Eltern ihnen sagen und bleiben so Teil der Erbengemeinschaft bzw. verspielen diese nicht durch einen Bruch. Politische Positionierung ist deshalb auch durch Notwen-
49 Vgl. Theweleit 1980: 236.
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digkeiten des Erbens des familiären Kapitals (meist Wohnraum) im Kern der Familie verortet und wird durch familiäre Abhängigkeitsverhältnisse geprägt.50 Veränderungen in den Familienstrukturen und Brüche althergebrachter Dynamiken werden beispielsweise durch die verzweifelte Aussage eines Mannes verdeutlicht, der sich bei einem öffentlichen Auftritt von Anna Finocchiario von der Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD) im März 2017 darüber beklagte, dass er seine Kinder nicht mehr überreden könne, PD zu wählen, da sie Grillini geworden seien (Movimento 5 Stelle, Partei des Komikers Beppe Grillo).51 Einige RSI-Veteranen distanzierten sich hingegen vom politischen Aspekt des Faschismus, obwohl die meisten ebendieser Veteranen Mitglieder im MSI gewesen waren. Dies stand u.a. in starkem Gegensatz zu der Tatsache, dass sie als Generation der RSI-Veteranen insgesamt für die nachfolgenden Generationen eine Vorbildfunktion im Hinblick auf ihre faschistische Identität darstellten. Mit Manfredo V.52 diskutierte ich immer wieder über diese faschistische Identität. 1943 meldete er sich freiwillig zur Armee der RSI und kämpfte in der Decima Flottiglia MAS. Er wurde in erster Linie im Kampf gegen Partisanenverbände eingesetzt. Nach dem Krieg baute er sich mühsam ein ziviles Leben in Rom auf und engagierte sich kontinuierlich im MSI. Vor allem unter den RSI-Veteranen aber auch in den jüngeren Generationen wurde ihm aufgrund seiner Persönlichkeit viel Respekt entgegengebracht. Über mich ließ er sich während meiner Forschungszeit regelmäßig von verschiedenen Personen berichten, so dass er immer genauestens unterrichtet war, wen ich traf und was ich tat. Manfredos Netzwerk innerhalb der faschistischen Nachkriegsszene war weitläufig und erstreckte sich über mehrere Generationen. Im Alter war es zu einem Unterstützernetzwerk geworden. Da er aufgrund einer Kriegsverletzung gesundheitliche Probleme hatte, wurde er regelmäßig von Personen verschiedener Generationen aus der faschistischen Nachkriegsszene besucht. Zu Erinnerungszeremonien und anderen wichtigen Ereignissen begleitete ihn sein Sohn, der im Alter auch finanziell für ihn sorgte. Er sei nie Faschist gewesen, betonte er immer wieder, während wir an einem kalten Wintertag bei Tee zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen und auf eine römische Vorstadt blickten, deren triste Wohnblöcke die Sicht auf die Ferne verstellten. Sie seien damals in den Krieg gezogen, um für die Ehre ihres Vaterlandes zu kämpfen – aus Liebe zu diesem Vaterland, in dem sie aufgewachsen seien und das eben ein
50 Vgl. Kapitel 3.4. 51 www.ilfattoquotidiano.it/2017/03/18/pd-militante-disperato-alla-finocchiaro-miei-figli-votano-m5s-lei-feroce-contro-i-grillini-ma-su-minzolini-fa-scena-muta/3459585/ [15.8.2020] 52 Vgl. Kapitel 3.2.1.
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faschistisches gewesen sei. Die Soldaten der RSI seien nicht generell und per se überzeugte Faschisten gewesen – im Gegensatz zu den Verbänden der Brigate nere, einer paramilitärischen faschistischen Vereinigung in der RSI, die hauptsächlich aus Mitgliedern der Faschistischen Republikanischen Partei (PFR) bestand. Zu ihren Aufgaben gehörte neben dem Kampf an der Front und gegen italienische Partisanen auch das militärische Vorgehen gegen politische Gegner. Der Grad der ideologischen Überzeugung war für viele RSI-Veteranen demnach entscheidend. Manfredo differenzierte zwischen überzeugten Faschisten und Soldaten, die seit 1943 für den faschistischen Staat, die RSI, kämpften. Die Differenzierung zwischen dem Grad der ideologischen Motivation und dem Motiv der Vaterlandsliebe sowie der daraus resultierenden Verpflichtung dem eigenen Land gegenüber bzw. zwischen Faschisten und vaterlandstreuen Italienern stellte letztere im Nachhinein in einen unpolitischen Raum. Indem er einen Teil der Veteranen entpolitisierte, nahm er sie aus dem Täterdiskurs der italienischen Nachkriegsgesellschaft heraus. Stattdessen wurde die Treue zur eigenen Herkunft, zum italienischen Staat und die daraus folgende Entscheidung zur Verteidigung des eigenen Vaterlandes in den Vordergrund gerückt und diese auf die Treue zur eigenen Nationalität reduziert. Der Soldat als Ehrenmann, der zu seiner Verantwortung und Verpflichtung als Bürger eines Staates stand, war in Manfredos Augen nicht gleichzusetzen mit dem überzeugten Faschisten. Eine solche Differenzierung stärkte das positive Selbstbild vieler Veteranen der RSI, die sich in erster Linie als Soldaten mit klaren Vorstellungen von Ehre und Moral begriffen, bezogen auf einen im Krieg gescheiterten Staat. Es stärkte ihre selbst definierte Position als Außenseiter im Nachkriegsitalien als einem Staat, auf den sie sich nicht beziehen wollten. An dieser Stelle tut sich ein Spannungsfeld zwischen Soldaten als einfachen Kriegsteilnehmern und Faschisten auf, das auch Ambivalenzen beinhaltet und die Frage nach dem Grad der ideologischen Überzeugung auch innerhalb des Nachkriegsfaschismus zu einem wichtigen Kriterium macht. Herbert Marcuse spricht 1941 in seinen Feindanalysen53 über die deutsche Mentalität im Nationalsozialismus als von einer zweischichtigen oder auch doppelten Mentalität, basierend auf
53 Herbert Marcuses »Feindanalysen über die Deutschen«, herausgegeben von Peter-Erwin Jansen 1998, entstanden im Rahmen seiner Tätigkeit für den US-amerikanischen Geheimdienst, für den er zwischen 1942 und 1951 arbeitete, nachdem der jüdische Linksintellektuelle in die USA emigriert war. Ziel der Analysen über die psychischen und ideologischen Aspekte des Nationalsozialismus und seiner Anhänger war die Schaffung einer Grundlage für die Entnazifizierung und Umerziehung nach einem
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der grundlegenden Veränderung der Denk- und Verhaltensmuster der Deutschen durch Werte und Maßstäbe sowie eine andere Sprache, die der Nationalsozialismus eingeführt habe.54 Mit der Unterteilung und Ausdifferenzierung der nationalsozialistischen deutschen Mentalität in zwei Schichten versucht Marcuse, die Ambivalenzen nationalsozialistischer Identität und Überzeugung als Massenphänomen zu fassen und das Ausmaß individueller Distanz zum Regime zu greifen. Er unterscheidet zwischen einer sogenannten pragmatischen Schicht im Sinne von Sachlichkeit, Denken in Kategorien von Effizienz und Erfolg, von Mechanisierung und Rationalisierung und einer mythologischen Schicht, die Heidentum, Rassismus und Sozialdarwinismus beinhaltet. Die beiden Schichten sieht er als zwei Ausprägungen ein und desselben Phänomens. Im Kern seiner Analyse steht damit die doppelte Mentalität der Deutschen, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen ökonomischen Interessen im Sinne persönlicher Bereicherung sowie Identifizierung mit dem nationalsozialistischen Staat und einer inneren Distanz bzw. Beobachterrolle im Sinne einer zynischen, fatalistischen Haltung gegenüber dem Regime zeigt. Die Gleichzeitigkeit dieser beiden Extreme ist nach Marcuse ein Merkmal der Funktionsweise der nationalsozialistischen Mentalität, welche sich vor allem durch uneingeschränkte Politisierung, Desillusionierung, zynische Sachlichkeit sowie Fatalismus auszeichnet.55 Nach Marcuse hat der Nationalsozialismus die Bevölkerung mit Pragmatismus ausgestattet: »Er [der deutsche Idealist] betrachtet das totalitäre Regime einzig unter dem Gesichtspunkt des eigenen direkten materiellen Vorteils. […] Er denkt in quantitativen Verhältnissen: in den Kategorien von Geschwindigkeit, Geschicklichkeit, Energie, Organisation, Masse. Der Terror, der ihn unablässig bedroht, befördert diese Mentalität: Er hat gelernt, misstrauisch und gewitzt zu sein, jeden Schritt sofort und blitzschnell abzuwägen, seine Gedanken und Ziele zu verbergen, seine Handlungen und Reaktionen zu automatisieren und dem Rhythmus der alles durchdringenden Reglementierung anzupassen. – Diese Sachlichkeit bildet das eigentliche Zentrum der nationalsozialistischen Mentalität und das psychologische Ferment des Nazisystems.« (Marcuse 1998: 25)
durch die Alliierten errungenen Sieg. Ein umfassendes Verständnis der Mentalität der Deutschen hielt er für unumgänglich. 54 Vgl. Marcuse 1998: 23. 55 Vgl. Marcuse 1998: 24-27.
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Kapitalistische Interessen und Individualismus, die eine Identifikation mit dem Regime nahe legen, können durch eine Form der Distanz, eine innere Beobachtung oder innere Emigration56 Spannungsfelder hervorrufen. Es geht also nicht mehr um den reinen Grad der ideologischen Überzeugung, sondern um Mischformen und Ambivalenzen, um Dopplung von Identität durch innere Instanzen der (zynischen) Beobachtung oder der Emigration. Was Marcuse den Deutschen attestiert hat, ist in vielen Bereichen auf den italienischen Faschismus und die Faschisten übertragbar. In den Diskursen der Veteranen der RSI über den Grad des »Faschist-Seins« wird das Erbe solcher doppelten Identitäten oder Mentalitäten als Spannungsfelder sichtbar. Die Kriegsteilnehmer eint die Erfahrung des Krieges, aber die Soldaten waren unterschiedlich stark involviert. Das differierende Ausmaß der Identifikation mit dem Land Italien, für das man in den Krieg zog und dem Regime, für das man kämpfte, erzeugt ein ambivalentes Erbe innerhalb des italienischen Nachkriegsfaschismus. Unter den Veteranen der RSI wird das einende Moment des Krieges bzw. der Kriegserfahrung betont trotz unterschiedlicher ideologischer Überzeugungen, Gesellschaftsschichten und Interessen57. Zentral sind der Grad der Identifikation mit dem Faschismus sowie Ambivalenzen vor und nach dem Krieg. Dieses Erbe, das aus der Erfahrung im Umgang mit Ambivalenzen während des ventennio fascista resultiert, ermöglicht auch eine Vielfalt von ideologischen Überzeugungen und Ambivalenzen innerhalb des Nachkriegsfaschismus. Der jüdische Maler, Schriftsteller und bekennende Antifaschist Carlo Levi58 hat sich in seinem Essay Paura della libertà [Angst vor der Freiheit], den er während eines Exilaufenthaltes in Frankreich 1939 verfasste und der 1946 veröffentlicht wurde, bereits während des ventennio fascista theoretisch mit dem Faschismus auseinandergesetzt.59 Ausgehend von einer Analyse der aktuellen Situation
56 Siehe dazu auch Beispiel der inneren Emigration im Hinblick auf Geselligkeit im Dritten Reich bei Bergerson (Bergerson 2002: 239). 57 Über die Deutschen schreibt Marcuse: »Die Macht des Naziregimes über das deutsche Volk beruht auf seiner effektiven und erfolgreichen Kriegsführung.« (Marcuse 1998: 29). 58 Vgl. auch Levis Romane Cristo si è fermato a Eboli (1945) und L’Orologio (1950), beides poetische Auseinandersetzungen mit dem Faschismus. 59 Vgl. dazu auch Kapitel 4.1; im Hinblick auf Literatur und Forschung zum faschistischen Regime aus italienischer Perspektive während des ventennio fascista ist in diesem Kontext die antifaschistische Widerstandsbewegung »Giustizia e libertà« zu nennen (ausführlich zu Entstehung und Geschichte siehe Di Palma (2010), eine Gruppe von Journalisten, Politikern und Intellektuellen wie Carlo Roselli, Pietro Nenni und Gaetano
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in Italien beabsichtigte er, eine Theorie des Faschismus und des Staates zu entwickeln, stellte jedoch nur die einleitenden Kapitel fertig, unterbrochen durch seine politischen Aktivitäten im Kontext der Resistenza. Im Gegensatz zu Marcuse geht Levi weder auf die ökonomische Situation vor und während des Faschismus ein, noch beschäftigt er sich mit dem Grad der ideologischen Überzeugung der Anhänger des Regimes bzw. der Mitläufer oder Phänomenen der inneren Emigration. Stattdessen verknüpft er eine Angst vor Freiheit mit dem Aufstieg des Faschismus, die er als charakteristisch für Massenkultur identifiziert, als eine Reaktion auf die Sorgen und Hoffnungen einer undifferenzierten Massengesellschaft.60 Die Massen, die Mussolini blind folgen, beschimpft er als Sklaven und Feiglinge. Er spricht von angeborener Feigheit, die eine grundlegende Wandlung des Einzelnen erfordert, der sich selbst aufgeben muss, um sich ändern zu können: [Die Angst vor der Freiheit ist das Gefühl, das den Faschismus hervor gebracht hat. Wer das Wesen eines Sklaven besitzt, findet alleinigen Frieden alleiniges Glück in der Tatsache, einen Herrn zu haben: nichts ist anstrengender, nichts erschreckender als die Ausübung der Freiheit. Dies erklärt die Liebe vieler Sklaven zu Mussolini: die vergöttlichte Mittelmäßigkeit, die nötig ist, um die Leere der Seele zu füllen und die Unruhe mit einem Gefühl entspannender Sicherheit zu beruhigen. Wer zum Sklaven geboren ist, für den ist es eine Seligkeit versprechende Notwendigkeit, sich selbst aufzugeben.]61 (Levi 1944 [2004]: 75)
Levi beschuldigt die Anhänger des Faschismus, ihr Glück in einem Herrn zu suchen, der ihr Leben bestimmt. In der Kritik steht dabei auch das Klientel- und
Salvemini, die 1929 in Paris gegründet wurde. Als zentrale Figur und Mitbegründer von ›Giustizia e libertà‹ ist neben Carlo Roselli Gaetano Salvemini zu nennen, seine wichtigsten Schriften sind The Fascist Dictatorship in Italy (1927) und Under the Axe of Fascism (1936). In seinen Augen war der Faschismus eine »logische Konsequenz des korrupten liberalen Staates unter Giolitti« sowie der »Verfall des allgemeinen politischen Bewusstseins« (Di Palma 2010: 97). Das Verdienst der Gruppe (liberal-sozialistischer Gesinnung) ist der (erste) ernsthafte Versuch, auf die Gefahren des Faschismus außerhalb Italiens hinzuweisen und den Erfolg des Faschismus zu analysieren und theoretisch zu fassen. Ergänzt werden müssen an dieser Stelle zwei unbekanntere Werke italienischer Autoren im Exil, die in England und Frankreich erschienen und den Faschismus analysieren: Italia e fascismo von Luigi Sturzo (1926) und Le régime fasciste italien von F. Luigi Ferrari (1928), zu ihrer Bedeutung siehe Traniello 1982: 88. 60 Vgl. auch Ward 2002: 41. 61 Übersetzung der Autorin.
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Patronagewesen in Italien. Levi greift die Patrone an62, die denen, die von ihnen abhängig sind, die politische Haltung diktieren und unterstellt den Massen blindes Einverständnis mit der eigenen Unmündigkeit zugunsten von Sicherheit in Form der Fremdstrukturierung des eigenen Lebens. Damit verortet Levi Ursprung und Erfolg des Faschismus vor allem in den indifferenten Massen. Er sieht den Faschismus als Folge einer Massengesellschaft, die sich in der Krise befindet.63 Die Massen hungern gewissermaßen nach allem, was die Leere füllen und strukturieren kann, auch nach einer starken Führerfigur wie Mussolini oder Hitler, die es verstehen, auf die Ängste der Massen zu reagieren.64 Im Zentrum von Levis Menschenbild stehen angeborenes Sklaventum und individuelle Kreativität, die ebenfalls angeboren ist und als Schlüssel zum persönlichen Glück und zur Freiheit wiederentdeckt werden muss. In der grundsätzlichen Möglichkeit des Individuums zum autonomen Handeln liegt nach Levi die Grundlage für eine Erziehung zur Freiheit.65 Im Spannungsfeld der beiden Analysen von Marcuse, der auf Ambivalenzen und Schichtungen nationalsozialistischer Mentalität verweist, und Levi, der den Faschismus als Konsequenz angeborener Mentalität und Angst vor Freiheit begreift, lassen sich verschiedene Erklärungsansätze für die unterschiedlichen Selbstbilder und Kategorisierungen als Faschisten unter den RSI-Veteranen finden. Sowohl Differenzierungen des eigenen Faschist-Seins im Sinne von Beobachterpositionen und innerer Emigration sowie der Verweis auf das FaschistSein als angeborenen Wesenszug treffen aufeinander und bilden eine nicht kohärente Gesamtstruktur innerhalb des Nachkriegsfaschismus. Gemeinsamer Nenner der RSI-Veteranen bleibt die Kriegserfahrung, das Selbstbild des Helden, der zum Verlierer wurde. Das inkohärente Selbstbild der RSI-Veteranen zeigt nur bedingt Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen des Nachkriegsfaschismus. Obwohl sich RSI-Veteranen immer wieder von überzeugten Faschisten distanzierten, waren sie
62 Vgl. Levi La crisi dei galantuomini In: »Italia libera«, III novembre 1945, 265: In diesem Text rechnet er mit den Großgrundbesitzern des Südens ab, die die Bauern wie Sklaven behandeln und für die Politik ein Mittel zum Zweck ist, die eigene Machtstellung aufrechtzuerhalten. Levi beschuldigt das Patronage- und Klientelwesen, die Demokratie zu unterminieren. 63 Vgl. auch Ward 2002: 16. 64 Levi beschränkt sich nicht nur auf faschistische Bewegungen, er schließt vielmehr jede politische Bewegung mit ähnlichen Mechanismen in seine Überlegungen mit ein, vgl. dazu auch Ward 2002: 18. 65 Vgl. auch Ward 2002: 23.
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Vorbild für viele jüngere Mitglieder, die sich selbst explizit als Faschisten definierten. Im Rahmen transgenerationaler Zuschreibungsprozesse wurden die RSIVeteranen von den jüngeren Generationen mehrheitlich als Faschisten betrachtet, die einen hohen moralischen Standard verkörperten. Eine Generation, die den Faschismus verkörperte und an der sich die jüngeren Generationen wie in jedem Mehrgenerationenverhältnis zugleich auch abarbeiten musste, um eigene Identitäten zu entwickeln. Umgekehrt wurde dieser Mechanismus häufig kritisch gesehen. Manfredo sagte einmal über die jüngeren Generationen des ambiente: Si sentono nostri eredi, lo capisco, però non hanno partecipato. [Sie fühlen sich als unsere Erben, das verstehe ich, aber sie waren nicht dabei.]
Sein Ärger über die Anmaßung dieser in seinen Augen unberechtigten Erben war deutlich spürbar. Die Generation der RSI-Veteranen grenzte sich hart gegen die jüngeren Generationen ab, die nicht im Krieg gekämpft hatten. Vor allem die gemeinsame Kriegserfahrung einte die Veteranen und war Legitimation für ihre exklusive Sonderposition innerhalb des Nachkriegsfaschismus. Ein alter Mann, der regelmäßig faschistische Erinnerungszeremonien besuchte, fingierte sogar seine Kriegsteilnahme, um in der faschistischen Nachkriegsszene akzeptiert zu werden. Er versuchte über viele Jahre, seine erfundene Mitgliedschaft in den Fiamme bianche, einer Truppeneinheit der RSI für damals minderjährige Soldaten, nachzuweisen. Dazu hatte er sich einen alten Ausweis besorgt und diesen gefälscht, was allgemein bekannt war. Daher war die Aussicht auf tatsächliche Zugehörigkeit für ihn hoffnungslos, er wurde belächelt und ausgeschlossen. II. und III. Generation: faschistische Identität als Lebensstil und Provokation Die Mitglieder der zweiten und dritten Generation des Nachkriegsfaschismus bezeichnen sich häufig als camerata. In Abgrenzung zur Sonderstellung der Veteranen und ihrer Kampferfahrung im Zweiten Weltkrieg musste Zugehörigkeit in den darauffolgenden Generationen anders definiert werden. Camerata hat seine Ursprünge im lateinischen Wort camera, im Deutschen mit Stubengenossenschaft, Gefährten- oder Kameradschaft übersetzbar. Das italienische Wort camerata wird hauptsächlich im militärischen Kontext verwendet. Kameradschaft wird mit der Vereidigung eines Soldaten zur Pflichterfüllung gleichgesetzt, die über persönliche Beziehungen hinausgeht und diese zugunsten der geleisteten Treue gegenüber
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dem Vaterland als Gehorsam und soldatische Pflicht definiert.66 Ein camerata ist damit auch ein compagno d’armi [Waffenbruder]. Bis heute ist der Terminus camerata aufgrund seiner Begriffsgeschichte und historischen Verwendung in Italien explizit in der neofaschistischen Szene verortet. Benito Mussolini verwendet die Bezeichnung camerati [Kameraden] in seinen Reden seit den frühen 1930erJahren.67 Linke Aktivisten in Italien bezeichnen sich in Abgrenzung dazu als compagni [Genossen]. Die Bezeichnungen erhalten auf einer sprachlichen Ebene das dualistische Weltbild politischer Gegner aufrecht und pflegen es. E’ un camerata o un compagno? [Ist er ein Kamerad oder ein Genosse?] fragt man im faschistischen ambiente oft, wenn es um die politische Einstellung einer Person geht. Enrico D. war Ende 40 und gehörte zur zweiten Generation. Er arbeitete in einer Bank, war verheiratet und hatte einen Sohn. Da er als Sohn eines wichtigen Politikers der neofaschistischen Partei MSI aus einer einflussreichen Familie der faschistischen Nachkriegsszene stammte, stand seine Zugehörigkeit nie in Frage, obwohl er sich in seiner Jugend nicht politisch engagiert hatte. Als Jugendlicher während der Zeit der anni di piombo sei er nicht mutig genug gewesen, sich einer der neofaschistischen außerparlamentarischen Organisationen anzuschließen, erzählte er mir. Erst als Erwachsener nach dem Tod seines Vaters habe er begonnen, sich für Politik zu interessieren und den Kontakt zu Bekannten aus dem faschistischen ambiente zu intensivieren. Er habe begonnen, zu den Erinnerungszeremonien für RSI-Veteranen und die politischen Toten der anni di piombo zu gehen und das Ritual des faschistischen Totenkultes68 mitzumachen. Zu meiner Forschungszeit wurde er erstmals politisch aktiv und ließ sich einige Jahre später bei den Kommunalwahlen auch als Stadtteilabgeordneter für eine neofaschistische Partei aufstellen. Einmal holten wir gemeinsam seinen 8-jährigen Sohn von der Schule ab. Im Auto sagte er zu ihm, die Pfadfinder seien alle compagni, ob er das wisse? Oder zumindest würden sie das einmal werden, versicherte er ihm. Daher dürfe er auf keinen Fall zu den Pfadfindern gehen. Normalerweise sei er genervt,
66 Diese Richtlinien werden durch das jeweilige Soldatengesetz festgeschrieben und institutionalisiert. Siehe auch das aktuelle deutsche Soldatengesetz, §12: www.gesetze-iminternet.de/sg/index.html [15.8.2020]. 67 www.mussolinibenito.net/discorso-di-monza-1932/ [15.8.2020] www.mussolinibenito.net/discorso-di-roma-ai-mutilati-1932/ www.mussolinibenito.net/discorso-alla-fiat/ www.mussolinibenito.net/discorso-di-torino-del-decennale/ www.mussolinibenito.net/lultimo-discorso-del-dvce-dal-teatro-lirico-di-milano/ 68 Vgl. Kapitel 2.4.3.
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wenn er so etwas sage, und beschwere sich, ergänzte er, aber in Gesellschaft ertrage er ihn ohne Widerworte. Sein Sohn saß auf der Rückbank und schwieg. Matteo P. gehörte ebenfalls zur zweiten Generation. Er war sehr belesen, verheiratet und hatte einen 15jährigen Sohn. Während der bleiernen Jahre war er Mitglied in der außerparlamentarischen Organisation Terza Posizione gewesen. Bei der Beerdigung eines von linken Extremisten getöteten Kameraden Ende der 1970er-Jahre war er angeschossen worden. Die faschistische Nachkriegsszene sah er kritisch, trotzdem zelebrierte er seine Zugehörigkeit öffentlich. Im ambiente war er gut vernetzt, obwohl er phasenweise immer wieder auf Distanz ging, Treffen und Veranstaltungen blieb er dann über Monate fern. Er sagte einmal: Per un fascista, per un neofascista, per un postfascista – normalmente parlare di politica è parlare di se stessi perché non esiste un manifesto del fascista moderno. Sono soltanto movimenti che si rifanno. [Für einen Faschisten, für einen Neofaschisten, für einen Postfaschisten bedeutet über Politik zu sprechen eigentlich, über sich selbst zu sprechen, da es kein Manifest für den modernen Faschisten gibt. Das sind nur (politische) Bewegungen, die immer wieder aufs Neue gegründet werden.]
Damit betonte er die Suche nach Identität der Mitglieder und unterschied zwischen Mitgliedschaft in politischen Gruppierungen und persönlicher Identität. Er kritisierte, dass sich neofaschistische Identität häufig auf formale Zugehörigkeit beschränkte und in solchen Fällen inhalts- und ideenlos blieb. Selbstüberschätzung und mangelnde Eigenkritik sorgten in seinen Augen für eine Stagnation des Nachkriegsfaschismus, denn neofaschistische Parteien hatten in den vorangegangenen Jahren immer weniger politische Erfolge für sich verbuchen können. Essere un fascista [Faschist sein] bedeutete in seiner Perspektive zunächst einmal, eine Gegenhaltung zur antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft einzunehmen und damit zu provozieren: Per far arrabbiare gli altri dico di essere fascista ma intimamente non me ne frega niente, [Um die anderen zu verärgern, sage ich, dass ich Faschist bin, aber insgeheim ist es mir völlig egal,]
sagte er einmal zu mir, nachdem er mich in einem Restaurant laut und deutlich mit den Worten Sieg, Heil! begrüßt hatte. Eine provokante Aktion, die zwar jeder Ernsthaftigkeit entbehrte, aber doch faschistische Identität im Außen herstellte. Sono nazista [ich bin Nazi], hörte ich ebenso von einigen Mitgliedern der zweiten Generation, die sich an der Ideologie des Nationalsozialismus orientierten. Oft
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galten solche Provokationen auch mir als deutscher Forscherin und man wartete ab, was ich wohl dazu sagen, wie ich mich zur Vergangenheit meines eigenen Landes sowie politisch positionieren würde. Der Aspekt der Provokation ist ein wichtiger Anteil faschistischer Selbstkonzeption in dieser Generation, daher bezeichnen sich einige auch gerne als anarchisch. Über Gesten wie den saluto romano, den faschistischen Gruß, hörte ich von verschiedenen Informanten immer wieder, es handle sich dabei um Folklore. Gesten werden damit häufig als zweitrangig bezeichnet, obwohl sie zum Repertoire der faschistischen Körpersprache gehören. Stattdessen werden Alltagspraxis und Handlungsebene als wahre Dimension faschistischer Identität benannt. Das ›innere Sein‹ als ein Leben nach bestimmten Werten wird so in den Vordergrund gestellt, um zu vermeiden, auf Äußerlichkeiten reduziert zu werden. Es zählen konkrete Taten, die auf Wert- und Moralvorstellungen basieren, die sich an den Vorstellungen von Ehre und Authentizität der RSI-Veteranen orientieren. Auch Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Pünktlichkeit gehören zu den oft benannten Standards und zeigen, dass sich Zugehörigkeit nicht auf politische Überzeugungen beschränkt. Meine Fragen nach der Definition von Faschismus und Faschist-Sein wurden immer wieder mit dem Diskurs um die richtige innere Haltung beantwortet.69 Definitionen von Faschismus und Faschisten blieben häufig vage. Journalisten aus der faschistischen Nachkriegsszene prangerten immer wieder die inflationäre Verwendung des Begriffs fascista [Faschist] sowie vor allem seine verunglimpfende Verwendung in politischen Debatten an.70 Die innere Haltung eines Mitglieds der faschistischen Nachkriegsszene wurde vor allem in sozialen Interaktionen sichtbar und innerhalb der Gemeinschaft verhandelt, um das ›innere Sein‹ im Gegensatz zu oberflächlichen Begriffskategorien zu betonen in einem Netzwerk, in dem gegenseitige Unterstützung von zentraler Bedeutung war. Diese Diskurse stehen jedoch nicht im Widerspruch zu ideologischen Überzeugungen. Gianluca M. aus der zweiten Generation erzählte mir, seine Entscheidung für politisches Engagement in der Jugendorganisation des MSI sei eine rein ideologische gewesen:
69 Vgl. dazu Marcuse und seine Beobachtung der doppelten Mentalität während des Nationalsozialismus in Form umfassender Politisierung und gleichzeitiger innerer Distanz in Gestalt von Desillusionierung und zynischer Sachlichkeit (Marcuse 1998: 23ff.). 70 www.secoloditalia.it/2014/01/alla-camera-torna-di-moda-il-dagli-al-fascista-ma-glieredi-della-rsi-cioe-i-missini-avevano-un-altro-stile/ [15.8.2020]
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La mia fu una scelta ideologica. Sono una persona che probabilmente propende più per una società ordinata perché le cose funzionino in una certa maniera, siano rispettati certi valori, piuttosto che altri. [Meine Entscheidung war eine rein ideologische. Ich bin jemand, der wahrscheinlich eher zu einer geordneten Gesellschaft tendiert, damit die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise funktionieren, bestimmte Werte respektiert werden und nicht andere.]
Gianluca lernte ich über einen Kulturverein ehemaliger Aktivisten aus den anni di piombo kennen. Er war unverheiratet, hatte keine Kinder und arbeitete im Einzelhandel. Der auf den ersten Blick unscheinbare Mann war mir durch seine wiederholten rassistischen und antisemitischen Aussagen in den sozialen Medien aufgefallen, die im Widerspruch zu seinem moderaten Auftreten zu stehen schienen. Er unterstütze die Vision einer geordneten Gesellschaft, Faschist zu sein war für ihn gleichbedeutend mit einer Form der Gesellschaftskritik, wie er sagte. Das Bild des Faschismus als soziale Ordnung herstellendes Regime, das im Nachkriegsfaschismus gepflegt wird, ist nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Situation im Nachkriegsitalien, sie basiert auch auf dem faschistischen Konzept einer Gesellschaft, die auf Arbeit beruht und die Arbeit an einer sozialen Ordnung voranstellt.71 Die faschistische Nachkriegsszene ist auch ein kultureller Raum, in dem spezifische Wertvorstellungen, ein spezifischer Verhaltenskodex gelebt werden sollen, auch, wenn die Umsetzung nicht immer den eigenen hohen moralischen Ansprüchen entspricht. Die zweite und dritte Generation haben das Erbe der Generation der RSI-Veteranen übernommen, die nach in ihrer Wahrnehmung hohen moralischen Standards handelten. Sie müssen sich der ersten Generation gegenüber positionieren und mit diesem Erbe umgehen. Roberto S., Sohn eines RSIVeteranen, der während der anni di piombo in einer außerparlamentarischen Organisation Politik gemacht hatte, formulierte dies so: I nostri padri ce l’hanno trasmessi. Cioè vedere come loro si sono comportati per noi è stato un esempio. Ecco perché non riusciamo a uscire di un’idea, e purtroppo è anche una prigione questa idea. Non sono tantissimi che riescono a proiettare il fascismo in un futuro. Molti pensano che il fascismo sia la camicia nera, il passo dell’oca, il saluto, ma non è quello, è un modo di vivere, un modo di pensare! [Unsere Väter haben es an uns weitergegeben. Ich will damit sagen, zu sehen, wie sie sich verhalten haben, war für uns ein Vorbild. Das ist der Grund, warum wir es nicht schaffen, uns von einer Idee zu lösen, und leider ist diese Idee auch ein Gefängnis. Es gibt nur wenige,
71 Vgl. Theweleit 1980: 230.
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die es schaffen, den Faschismus in eine Zukunft zu projizieren. Viele denken, der Faschismus sei das schwarze Hemd, der Stechschritt, der Gruß, aber das ist es nicht, es ist eine Art und Weise, zu leben, eine Art zu denken!]
Faschist zu sein bzw. zur faschistischen Nachkriegsszene zu gehören, geht in der Beschreibung Robertos über politische Positionierung hinaus. Der gemeinsame Nenner der Mitglieder des Nachkriegsfaschismus besteht in erster Linie in der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die einen kulturellen Raum mit spezifischen Wertvorstellungen verkörpert. Die dritte Generation des Nachkriegsfaschismus nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie die einzige ist, die keine direkte Kriegs- bzw. Gewalt- oder auch Terrorerfahrung besitzt. Zugehörigkeit kann hier keine unmittelbare Konsequenz aus Kampf- und Gewalterfahrung mehr sein. Vito B., Sohn eines RSIVeteranen, der sich jedoch an der Schnittstelle zwischen zweiter und dritter Generation befand und zu jung für ein politisches Engagement während der bleiernen Jahre gewesen war, sagte einmal voll unterdrückter Wut und Enttäuschung: C’è stato una guerra per mio nonno, c’é stata una per mio padre, ho sempre pensato: ci sarà anche una guerra per me. [Für meinen Großvater gab es einen Krieg, für meinen Vater gab es einen Krieg. Ich habe immer gedacht: es wird auch einen Krieg für mich geben.]
Viele derjenigen, die wie Vito weder im Zweiten Weltkrieg noch während der bleiernen Jahre Kampferfahrung gesammelt hatten, bemühten sich, dies mit Hilfe von Eifer und Enthusiasmus im politischen oder anderweitigen Engagement zu kompensieren. Aus der zentralen Bedeutung der Kriegs- und Kampferfahrung resultiert die Tatsache, dass in der dritten Generation in Ermangelung eigener politischer Toter teilweise Tote verehrt werden, die bei einem Unglück oder durch Krankheit zu starben. Ein Beispiel dafür ist Gabriele Sandri, ein Fan des römischen Fußballklubs Lazio, der am 11. November 2007 auf einer Autobahnraststätte bei Arezzo ohne konkrete Gefahrenlage von einem Polizisten erschossen wurde.72 Wie Francesco Cecchin wird auch er an der Piazza Vescovio mit Graffiti und Plakaten sowie mit einer Erinnerungszeremonie an seinem Todestag erinnert. Die Gier nach Toten ist auch eine Gier nach Reliquien.73
72 www.repubblica.it/2007/11/sezioni/cronaca/tifosi-morto/tifosi-morto/tifosi-morto.html [15.8.2020] 73 Vgl. Kapitel 4.
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2.1.4 Praktiken des Erinnerns und Vergessens Über den Krieg sprechen Erzählungen über den Krieg stehen im Dienst eines positiven Narrativs über die RSI-Veteranen und sollen Zuschreibungen von außen als Täter und Kriegsverlierer kontrastieren. Daher kommt der Erinnerungskultur der faschistischen Nachkriegsszene auch eine fundamentale Rolle zu. Nach Aleida Assmann, die die deutsche Erinnerungskultur im Hinblick auf den Umgang mit Nationalsozialismus und Täterschaft analysiert hat, beinhalten Mechanismen der Rechtfertigung im Kontext von Täterschaft und Krieg Strategien des Aufrechnens, Externalisierens, Ausblendens, Schweigens und Umfälschens.74 Indem sich die RSI-Veteranen als eine Gemeinschaft begreifen, die die offizielle antifaschistische Erinnerungskultur kontrastiert und ein politisches und soziales Statement gegen die antifaschistische Mehrheitsgesellschaft setzt, kann Erinnerung nicht unpolitisch sein. Erinnerungspraktiken und Erzählungen über einen Krieg beziehen sich immer auf eine spezifische Öffentlichkeit, in der sich der Erzähler verortet bzw. die er adressiert. Erinnern und Vergessen sind daher maßgeblich von Selektivität geprägt, Universalität und Objektivität spielen bei der Konstruktion individueller Narrative eine untergeordnete Rolle.75 Als deutsche Forscherin war auch ich Teil dieser Öffentlichkeit. Durch meine Nationalität verkörperte ich den ehemaligen Bündnispartner. Zugleich war ich als antifaschistisch sozialisierte Deutsche Vertreterin eines Landes, das in den Augen vieler RSI-Veteranen eine zu rigide antifaschistische Erinnerungspolitik verfolgte. Bergerson bemerkt zu narrativen Interviews, die er in den 1990er-Jahren mit Nazis in Hildesheim führte, sie böten »ein Fenster (von vielen) mit Blick in die Vergangenheit an, das sehr kritisch gesehen werden muss. […] Wie alle historischen und ethnographischen Quellen entstehen Interviews aus einem Zusammenspiel der Intersubjektivität der Forscher und der Erforschten.« (Bergerson 2002: 224)
Auch die RSI-Veteranen bezogen sich in ihren Erzählungen mir gegenüber immer auf Aspekte innerhalb des genannten Spannungsfeldes und interagierten mit mir als antifaschistisch orientierter, deutscher Forscherin, was ihre Erzählungen über den Krieg auf unterschiedliche Weise prägte.
74 Vgl. Assmann 2007: 169ff. 75 Vgl. Borneman 1992: 38.
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Als ich 2012 mit meiner Feldforschung begann, waren die RSI-Veteranen bereits alte Männer. Viele waren in den Jahren zuvor verstorben und diejenigen, die noch lebten, waren 1943 sehr jung in den Krieg gezogen. Erinnerungen verändern sich über die Jahre, die Veteranen erinnerten sich an ihre Jugend im Krieg mittlerweile aus der Perspektive alter Männer, die sich auch mit dem nahenden Tod und einer vergangenen Jugend auseinandersetzten. Man sagte mir zu Beginn meiner Forschung oft, noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Forschung unmöglich gewesen, denn kein Mitglied des ambiente hätte jemals mit einer Person von außen gesprochen. Dies kann auch als ein Resultat der Aufweichung von Grundsätzen der antifaschistischen Erinnerungskultur seit der im rechten Spektrum angesiedelten Regierung Berlusconi76 und dem Ende der sogenannten Ersten Republik bzw. den damit einhergehenden sozialen und politischen Veränderungen gesehen werden.77 Innerhalb der engen Grenzen der faschistischen Nachkriegsszene, die die RSI-Veteranen, ihr Selbstbild sowie ihr Erinnerungsnarrativ schützten, musste auch ich mich bewegen, wenn ich Erzählungen über den Krieg hören wollte. Das Erinnern im Rahmen der Gespräche, die ich mit den RSI-Veteranen führte, erschütterte anfangs meine eigenen Kategorien von Gut und Böse, von Täter und Opfer. Ich hatte klare Vorstellungen von diesen Kategorien gehabt und stellte in meinen Gesprächen fest, dass sich die Realität sehr viel komplexer darstellte – Bergerson spricht in diesem Zusammenhang auch von der »Nebligkeit der Alltagsgeschichte«.78 Die Erzählungen der RSI-Veteranen und die Begleitung meiner Informanten im alltäglichen Leben erforderten von mir als Forscherin, alte Kategorien über Bord zu werfen, um in der Lage zu sein, auch das, was ich nicht erwartet hatte, zu hören und wahrzunehmen.79 Einige der RSI-Veteranen bauten nur langsam und über viele Monate ein Vertrauensverhältnis zu mir auf und waren erst nach einer sehr langen Phase der Vertrauensbildung bereit, mit mir zu sprechen. Andere blieben misstrauisch und versuchten, mich und mein Buch über kontrollierte Erzählungen sowie die Kontrolle meiner Person zu beeinflussen. Einer davon war Gustavo T. Er meldete sich 1943 freiwillig Decima Flottiglia MAS. Als ich ihn im Herbst 2012 kennenlernte, war er Mitte achtzig und verwitwet, seine Tochter lebte in Norditalien. Gustavo war ein Mann, der sein Temperament schlecht unter Kontrolle hatte. Er war streitsüchtig und in der Regel schimpfte er über neofaschistische Parteien und Organisationen, über angeblich missgünstige
76 Zur Erinnerungspolitik der Regierung Berlusconi und der Aufwertung des Faschismus siehe Mattioli (2010). 77 Vgl. Kapitel 2.5.1. 78 Vgl. Bergerson 2002: 224. 79 Vgl. Prolog.
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Kameraden oder die jüngeren Generationen, die er bezichtigte, das Erbe der RSIVeteranen an sich reißen zu wollen. Als RSI-Veteran fühlte er sich durch die Jüngeren zudem nicht ausreichend gewürdigt und respektiert. Mit vielen anderen Veteranen war er zerstritten und immer wieder warnte er mich vor unterschiedlichen Personen aus den jüngeren Generationen des Nachkriegsfaschismus, mit denen ich mich auf gar keinen Fall treffen solle, da sie nicht vertrauenswürdig seien. Enge Kontakte pflegte er ausschließlich zu einem sehr kleinen Kreis von RSIVeteranen. Einem Gespräch mit mir stimmte er erst nach einigen Monaten zu; wir trafen uns ausschließlich im Büro eines Bekannten, niemals bei ihm zu Hause. Bei unseren wenigen Treffen erzählte Gustavo nur wenig über seine eigenen Kriegserfahrungen. Stattdessen belehrte er mich über die in seinen Augen wahre Version der Kriegsvergangenheit, die die kollektive Sicht der RSI-Veteranen spiegelte. Fragte ich nach Täterschaft im Krieg, wies er mich barsch zurecht. Entbehrungen im Krieg und die Gewalttaten der italienischen Partisanen standen im Vordergrund seiner Erzählungen, die dem Opfernarrativ der RSI-Veteranen entsprach. Seine Erzählungen waren sehr einseitig, ich war hier an eine Grenze gestoßen, ein Bollwerk der Inszenierung der eigenen Kriegsvergangenheit als Heldenepos. Nach wenigen Treffen beendete er unsere Gespräche. In regelmäßigen Abständen rief er mich jedoch an, um den Fortschritt meiner Arbeit zu erfahren und fragte nach fertigen Kapiteln, die er korrigieren wollte, was ich kategorisch und verärgert ablehnte. Mehrere Personen müsse er über mich auf dem Laufenden halten, jammerte er jedes Mal, er trage doch die Verantwortung für meine Präsenz im faschistischen ambiente. Io mi fido di te! [Ich vertraue dir!]
sagte er am Ende jedes dieser Gespräche, in meinen Ohren klang es jedoch eher wie eine Drohung. Dieses Beispiel zeigt, wie Erzählungen von RSI-Veteranen über den Krieg das Opfernarrativ als Gegenreaktion auf den über sie geführten Täterdiskurs im Außen untermauern. Erzählen über den Krieg wird hier zum politischen Kalkül und ist ein Mittel, der Abwertung durch die antifaschistisch orientierte italienische Nachkriegsgesellschaft entgegenzutreten. Die Betonung der eigenen Heldenhaftigkeit und die gegenseitige Versicherung der eigenen Unschuld wirkt stärkend auf die Gemeinschaft der RSI-Veteranen. Lucia G., Witwe eines ehemaligen Offiziers der Decima Flottiglia MAS, beschrieb die Veteranentreffen, die sie häufig zusammen mit ihrem Mann organisiert und ausgerichtet hatte, als interaktive Verstetigung des Heldennarrativs, bei denen die RSI-Veteranen sich gegenseitig immer wieder
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dieselben Heldengeschichten erzählt hätten. Als Ehefrau habe sie vergeblich versucht, mehr über das zu erfahren, was ihr Mann im Krieg erlebt und getan habe und auch seine Kameraden hätten trotz ihrer häufigen Fragen nie etwas erzählt. Die Barriere dieser Heldengeschichten hatte sie nie überwinden können. Manche RSI-Veteranen versuchten, ihre Erzählungen mit Hilfe sogenannter Experten zu untermauern. Gustavo T. beispielsweise organisierte zu diesem Zweck einmal ein Mittagessen. Eingeladen waren zu diesem Mittagessen außerdem zwei weitere Gäste: eine Freundin, um die sechzig Jahre alt, die der rechten Szene angehörte, aber während des gesamten Essens schwieg, sowie einen Hobbyhistoriker, ebenfalls in den frühen Sechzigern und ehemals Mitglied des MSI. Zunächst berichtete er uns stolz, dass die neofaschistische Organisation Casapound Italia (CPI) ihn seit ihrer Umwandlung zur Partei im Jahr 2013 mehrmals um eine Kandidatur gebeten habe, die er jedoch abgelehnt habe. Mich ermahnte er, ich solle die Mitglieder von CPI zwar kennenlernen, aber Abstand halten, denn einige seien gewalttätig, obwohl er ihnen immer wieder sage, dass dieses Verhalten unklug sei. Während der weiteren Konversation entpuppte sich der Historiker als Fanatiker, der uns historische Vorträge über den Kriegsverlauf nach 1943 hielt, ein Nostalgiker des ventennio fascista, der seine Verehrung u.a. durch eine große Armbanduhr mit dem Emblem der Decima Flottiglia MAS zur Schau stellte. Es sei die nachgebaute Originaluhr der Decima MAS, belehrte er mich, unterwassergeeignet und daher zu schwer, um sie täglich zu tragen. Gustavo sonnte sich in der Bewunderung des Mannes und versuchte, das Gespräch zu dirigieren. Ich solle den Historiker nach »den Fakten« fragen, sagte er immer wieder und dieser erklärte mir wortreich, eine sozialanthropologische Forschung habe überhaupt keinen Sinn. Ich solle eine historische Forschung daraus machen, dann sei er gerne bereit, sich mit mir zu treffen, könne mir Bücher nennen, mir helfen. Die Absicherung und Autorisierung der eigenen Version der Kriegsvergangenheit durch einen Historiker, auch wenn es sich um einen Hobbyhistoriker handelte, war ein zentrales Mittel für RSI-Veteranen wie Gustavo, um sich Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Der Auftrag an mich, die »Wahrheit« über die Kriegsvergangenheit der RSI-Veteranen in einer historischen Forschung darzulegen, zeigte auch das Bemühen, außerhalb der faschistischen Nachkriegsszene ernst genommen zu werden. Erinnerungen sind subjektiv und daher vage, sie werden in das jeweils aktuelle Weltbild integriert und instrumentalisiert, erhalten nachträglich Bedeutung im Angesicht eines Zuhörers, werden zu Botschaften. Erinnerungen sind auch ein Erbe an die Nachkommen, sie können zu Rechtfertigungsstrategien werden, um Taten und Entscheidungen nachträglich zu rechtfertigen. Ein Publikum generiert und be-
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einflusst Erzählungen und auch meine Anwesenheit als Forscherin regte zum Erzählen an: Ugo S.80 sagte mir einmal, erst unsere zahlreichen Gespräche hätten ihn auf die Idee gebracht, seine Kriegserlebnisse doch noch aufzuschreiben. Zuvor habe er kein Bedürfnis danach verspürt, obwohl seine Frau ihn immer wieder dazu ermuntert habe. Seit er mit mir über den Krieg spreche, begänne er wieder, intensiv an diese Zeit zu denken und sich zu erinnern. Er empfinde das als bewegend und überlege nun, einzelne Erlebnisse seines Lebens doch noch festzuhalten. Ob er je etwas aufgeschrieben hat, weiß ich jedoch nicht, da seine Tochter später den Kontakt zwischen uns verhinderte, ohne dies näher zu begründen. Nicht-Erzählen bzw. Verschweigen ist ebenso bedeutungsvoll wie das Erzählen selbst. Im Hinblick auf Erzählen und Nicht-Erzählen von Kriegserlebnissen stellt sich eine Frage, die Renato Rosaldo im Rahmen seiner Forschung bei den Ilongot auf den Philippinen bzgl. ihrer Tradition des Headhunting aufwirft: »Do people always in fact describe most thickly what matters most to them?« (Rosaldo 1993: 167). Hinter den Erzählungen der RSI-Veteranen verbergen sich auch Kriegserfahrungen, die nicht erzählt werden können oder sollen. Das (Ver-) Schweigen spezifischer Erfahrungen liegt nicht nur im Narrativ der RSIVeteranen oder im Misstrauen mir als Forscherin gegenüber begründet, sondern auch in Schuld, erlebtem Leid oder schmerzhaften Erinnerungen, die von meinen Fragen nach der Kriegsvergangenheit und deren Folgen ans Licht geholt wurden. Krieg ist eine Erfahrung, die die Grenzen des Erzählbaren berührt. Ich versuchte immer wieder, diese unsichtbare Grenze zu überwinden, aber nur vereinzelt nahmen mich die RSI-Veteranen mit in schmerzhafte oder verborgene Bereiche ihrer Erinnerung, wo Gewalt, Schrecken und Täterschaft dominierten. Nur in seltenen Fällen wurden Erzählungen zu Bewältigungsversuchen oder Schuldbekenntnissen.81 Viele Veteranen fühlten sich als Überlebende, die die Grenze zum Tod gestreift hatten, während Kameraden gestorben waren. Nicht-Erinnern und tabuisierte Erfahrung sind ein Teil von Erinnerungskulturen, die ein spezifisches Gedankenfeld abbilden. Das kulturelle Gedächtnis einer Erinnerungsgemeinschaft – und damit auch das Verschweigen – dient der Pflege des Selbstbildes: »Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, Bildern und Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes
80 Vgl. Kapitel 2.1.3. 81 Vgl. Kapitel 3.2.1.
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Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.« (Assmann 1988: 15)
Aktives Vergessen ist Teil des Erinnerns – zugunsten der (zielgerichteten) Konsolidierung der eigenen Identität. Das Kriegsnarrativ der RSI-Veteranen, das sie als tragische Helden eines verlorenen Krieges und Opfer eines Bürgerkrieges stilisiert, rahmt die Schrecken des Krieges, überformt das Trauma des Tötens und Getötet-Werdens, so wie das lamento funebre, die Klagelieder Süditaliens, als Trauerritual den Tod des Verstorbenen und die Trauer der Hinterbliebenen rahmt bzw. umformt und in rituelle Techniken bzw. Kulturtechniken übersetzt.82 Ziel der Kulturtechnik des Klagens ist die Kontrolle des Leidens und der Trauer. Es handelt sich bei diesen traditionell von Frauen vorgetragenen Gesängen und rezitierten Passagen, die sich von der gemeinen Sprache unterscheiden, um Texte mit epischem Charakter, die den Verstorbenen glorifizieren und seine Taten verherrlichen, ungeachtet der Realität.83 Der Tote wird als Idealperson dargestellt, seine Taten werden besungen. Es ist die ewige Arbeit am Mythos, die in der religiösen Kultur Süditaliens sichtbar wird, und die sich auch in der politischen Kultur des Nachkriegsfaschismus wiederfindet. Auch hier rahmen Ehre und nachträgliche Glorifizierung bzw. Heroisierung von Soldaten den Schrecken und überdecken mittels der Kulturtechnik der spezifischen Erinnerungs- und Erzähltraditionen eine abweichende Realität. Schriftliches Erinnern Vor allem das schriftliche Erinnern der RSI-Veteranen nimmt als Stimme in der Öffentlichkeit einen hohen Stellenwert ein. Als gedruckter Text wird ihm besondere Relevanz beigemessen in dem Versuch, den antifaschistischen Täterdiskurs in der Gesellschaft und die damit verbundenen negativen Zuschreibungen zu kontrastieren. Es existieren daher eine Vielzahl von Erfahrungsberichten, Tagebüchern und Autobiographien von RSI-Veteranen (und anderen Mitgliedern der faschistischen Nachkriegsszene). Die faschistische Erinnerungsliteratur weist grundsätzliche gemeinsame Linien auf, die dem Muster des faschistischen Opfer-
82 Vgl. De Martino 1975: 55. 83 Vgl. De Martino 1975: 84.
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narrativs der Nachkriegszeit entsprechen, welches die eigene Niederlage in Märtyrertum und Geschichten kriegerischer Heldentaten umdeutet84 und der antifaschistischen Resistenza-Erzählung den Mythos der RSI entgegensetzt85. Borneman beschreibt in seiner Analyse von Lebenswelten in Ost- und Westberlin während der deutschen Teilung, wie Rekonstruktion von Erfahrung im Erzählen bewusst oder unbewusst zu gemeinsamen Narrativen wird. Individuelle Erzählungen weisen gleiche Gestaltungsmerkmale auf, wenn sie im Rahmen derselben Erfahrungsräume konstruiert sind. Dabei steht nicht die Chronologie historischer Ereignisse im Vordergrund, sondern die Einbettung von Erfahrungen in ein geteiltes Masternarrativ, was wiederum einend auf eine Gemeinschaft zurückwirkt: »The coherence of the life reconstruction lies not in the plot produced by the chronology of experiences, but instead in the emplotment of those experiences in a story made coherent by appeals to common master narratives. […] To the extent that the same master narratives are appealed to by different subjects, they become instruments for producing social and possibly national cohesion; subjects then unite as a generation, and they demarcate themselves from other groups.« (Borneman 1992: 46)
Die faschistische Erinnerungsliteratur hat nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der erlittenen Niederlage darüber hinaus das strategische politische Ziel, die Partei der Nachkriegsfaschisten Movimento Sociale Italiano zu stärken und politisch wieder an Boden zu gewinnen.86 Zu den strategischen Mitteln in der Literatur zählen die Rechtfertigung der Entscheidung für die RSI nach dem 8. September 1943, die Betonung der Stellung der Soldaten der RSI als legitime Soldaten eines Staates im Gegensatz zu den italienischen Partisanen, die als Guerillakämpfer dargestellt werden, sowie die Distanzierung vom ersten (monarchischen) faschistischen Regime als überholtem Faschismus, der in der RSI erneuert und modernisiert wurde und auf den sich der MSI politisch bezieht. Des Weiteren ist für eine positive Selbstdarstellung entscheidend, den italienischen Antisemitismus, die Rassengesetze sowie die Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland bei der Deportation von Juden und Regimegegnern zu verschweigen.87 Die erzieherische Intention färbt und strukturiert auch die autobiographische Erinnerungsliteratur, die sich in erster Linie am Ideal des Autors, nicht an abstrakten Wahrheiten orientiert. Heldengeschichten besitzen pädagogische Bedeutung
84 Vgl. Tarchi 2005: 45/46. 85 Vgl. Focardi 2005: 19. 86 Vgl. Bistarelli 1990: 394. 87 Vgl. Tarchi 2005: 46, 49.
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als strategische Narrationen, die Legitimität für eine Gemeinschaft herstellen können. Beispiele dafür sind u.a. die Kriegstagebücher Ernst Jüngers aus dem Ersten Weltkrieg,88 der vor allem für die zweite und dritte Generation der faschistischen Nachkriegsszene zentralen Vorbildcharakter besitzt. Auch in der faschistischen Erinnerungsliteratur wird die Legitimationsfunktion von Heldenepen als Grundstock einer Gemeinschaft sichtbar: Die RSI-Veteranen beschreiben sich als tragische Helden, die bei Kriegsende in Verlierer verwandelt wurden, als tapfere Soldaten, die zwar den Krieg, jedoch nicht ihre Würde verloren haben. Dieser Umgang mit dem Verliererdasein erschafft den tragischen, gefallenen Helden. Die eigene Geschichte wird durch den positiven Rückbezug als Erfolgsgeschichte mit tragischem Ende erzählbar. Metamorfosi di un eroe [Metamorphose eines Helden], lautet beispielsweise der Titel des Vorworts89 einer solchen autobiographischen Erzählung des RSI-Veteranen Enzo Erra. Bereits der Titel verweist auf den mythischen Aspekt der Verwandlung des Helden, der zur tragischen Figur wird. Die banale Niederlage im Krieg wird so bildlich in die Hände übermenschlicher Kräfte, einer unbezähmbaren Schicksalsmacht gelegt. Der gefallene, tragische Held ist in dieser Perspektive immerhin ein ehemaliger Held, dessen Glanz auf seine Nachkommen ausstrahlt. Bislang fehlt eine fundierte historische Forschung, die sich mit der Erinnerungsliteratur über die RSI auseinandersetzt.90 Im Gegensatz zur Erinnerungsliteratur über die Resistenza wird sie bisher nicht als eigenständiges literarisches Genre anerkannt.91 Die sogenannte memorialistica92 über die RSI, wie die literarische Gattung bisweilen bezeichnet wird, zirkulierte über Jahrzehnte hauptsächlich innerhalb der faschistischen Nachkriegsszene. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Autobiographie von Rodolfo Graziani, Befehlshaber der Truppen der RSI, der später u.a. wegen Kriegsverbrechen in Äthiopien angeklagt wurde. 1947 veröffentlichte er seine Autobiographie Ho difeso la patria [Ich habe das Vaterland verteidigt], die über die Grenzen des Nachkriegsfaschismus hinaus ein Bestseller wurde. Der italienische Historiker Focardi erklärt diesen Erfolg damit, dass einige
88 Vgl. Kriegstagebücher von Ernst Jünger, insbesondere In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stroßtruppführers (1920), Das abenteuerliche Herz: Aufzeichnungen bei Tag und Nacht (1929). 89 Vgl. Grazioli 2002: 5. 90 Vgl. Bartolini 2005: 53. 91 Vgl. Bartolini 2005: 66. 92 Der Begriff memoralistica bezeichnet eine Literaturgattung, die autobiografische Schriften, Erinnerungsliteratur, Denkschriften etc. beinhaltet.
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der faschistischen Thematiken auch nach 1945 noch ein breites Echo in der Bevölkerung fanden, vor allem im Kleinbürgertum und Mittelstand des Südens, der keinen Bürgerkrieg erlebt hatte und wo der Faschismus daher noch positiv besetzt war. Zum anderen fühlten sich viele ehemalige Kriegsgefangene, die in Russland oder Afrika unter den harten Bedingungen ihrer Gefangenschaft gelitten hatten, durch die Verherrlichung des kriegerischen Heldentums, die Erinnerung an die einstige Vormachtstellung Italiens sowie die Kritik der Resistenza angesprochen.93 Weitere Bücher über die RSI von Autoren aus dem faschistischen ambiente, die in Verlagen ohne Nähe zur faschistischen Szene gedruckt wurden, sind: Quattromila Studenti alla Guerra [Viertausend Studenten für den Krieg] von Emilio Cavaterra, erschienen 1987, oder I racconti della parte sbagliata [Erzählungen von der falschen Seite] von Renzo Lodoli, erschienen 1979. Der autobiographische Roman A cercar la bella morte [Auf der Suche nach dem süßen Tod] von Carlo Mazzantini, ebenfalls RSI-Veteran, wurde 1986 sogar bei Mondadori, einem anerkannten Verlag außerhalb der faschistischen Szene, verlegt. 1993 folgte Bandiera Proibita [Verbotene Flagge] von Augusto Ceracchini. Der bedeutendste Teil der neofaschistischen Erinnerungsliteratur entstand in der Zeit nach dem Ende der sogenannten Ersten Republik, geprägt durch den Zerfall der großen Parteien und einen grundsätzlichen politischen Wandel, der erstmalig ein rechtes Parteienbündnis unter Berlusconi an die Regierung brachte.94 Diese Entwicklung ist der revisionistischen Erinnerungspolitik der Berlusconi-Regierung geschuldet, die ihrem neofaschistischen Koalitionspartner Alleanza Nazionale, dem ehemaligen MSI, in diesem Punkt entgegenkam.95 Die meisten Autobiographien von Veteranen der RSI wurden in dem kleinen Verlag settimo sigillo [siebtes Siegel] verlegt. Das Verlagshaus entstand Anfang der 1980er-Jahre in Brescia und wurde später nach Rom verlegt. Unter dem Stichwort »RSI« erhält man auf der Homepage des Verlages über 300 Treffer,96 bei den meisten handelt es sich um autobiographische Erzählungen von RSI-Veteranen. Bis heute ist der Verlag die wichtigste Publikationsplattform der faschistischen Szene. Vereinzelt lagern autobiographische Berichte auch in privaten Wohnzimmern und wurden nie veröffentlicht, beispielsweise die Kriegsautobiographie Renzo Moreras, dem Sohn eines italienischen Diplomaten, der bis 1945 in Berlin stationiert war: Dentro la Missione Militare in Germania della R.S.I. Storia di un
93 Vgl. Focardi 2005: 19/20. 94 Vgl. Kapitel 2.3.2. 95 Vgl. Mattioli 2010: 119ff. 96 www.libreriaeuropa.it/ricerca.asp?argomentoid=30 [15.8.2020]
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soldato dell’ultimo Mussolini [In der militärischen Mission der Norditalienischen Sozialrepublik in Deutschland. Die Geschichte eines Soldaten des späten Mussolini] (2010). Buchpräsentationen neu erschienener Werke in verschiedenen Sektionen von Parteien oder Kulturvereinen sind wichtige kulturelle Veranstaltungen, die meist gut besucht sind. Vorgestellt wurden dort während meiner Forschung beispielsweise die Autobiographie des RSI-Veteranen Franco Grazioli: Dalla Decima MAS alla Rivolta di Algerie [Von der Decima MAS bis zur Revolte von Algerien] oder Atmosfere in nero [Stimmungen in schwarz], eine Sammlung von Kurzgeschichten über RSI-Veteranen von Mario Merlino, einem politischen Aktivisten während der anni di piombo. Immer wieder wurden mir Bücher empfohlen, gewissermaßen als gedruckte Beweise für das, was im faschistischen ambiente als die wahre Geschichte des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges galt. Nicht nur autobiographische Berichte, sondern auch historische Studien über den Kriegsverlauf wurden mir vorgelegt, und ich war bald angestrengt von den zahlreichen Büchern, die sich in meinem viel zu kleinen Zimmer stapelten. Bücher schienen für viele meiner Informanten eine notwendige Basis zu sein, um im Gespräch glaubwürdig zu erscheinen. Ständig wurde ich gefragt, ob ich die Bücher, die man mir gab, gelesen hätte; so wurden diese Bücher bisweilen zu einer Hürde, die ich überwinden musste, um ins Gespräch zu kommen. Die schriftliche Erinnerungskultur ist in diesem Sinne auch eine Form der Beweisführung, um der eigenen Version der Vergangenheit im antifaschistischen Nachkriegsitalien Gültigkeit zu verleihen – ein Versuch, über das gedruckte Wort Faktizität zu schaffen. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, wie wichtig einigen RSIVeteranen mein Buch war. Ich verkörperte mit meiner Forschung die Hoffnung vieler, über die Grenzen Italiens hinweg für ihre Version der Vergangenheit Gehör zu finden. Für viele war ich ein potenzielles Sprachrohr in der Welt – im antifaschistischen Deutschland, der Welt der Geheimdienste einer fremden Regierung, oder auch in der rechten Szene in Deutschland – je nachdem, wie mein Interesse an den Faschisten interpretiert wurde und wo man mich verortete. Dass ich diese Hoffnungen mit keiner Silbe nährte, spielte für die Veteranen keine Rolle.
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2.2 IDENTITÄTSKONSTRUKTION AM RANDE DER LEGALITÄT 2.2.1 Grenzen innerhalb des Staates seit 1945 Die Geschichte des Nachkriegsfaschismus seit 1945 ist auch die Geschichte einer Identitätskonstruktion am Rande der Legalität durch das Verbot der faschistischen Partei nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Kriegsende zog die Kriminalisierung und juristische Verfolgung von Faschisten sowie der Veteranen der RSI nach sich. Neben der juristischen Verfolgung durch Kriegsgerichte fanden auch illegale Lynchaktionen durch italienische Partisanen statt.97 Die Nachwehen des Bürgerkrieges dauerten bis circa zwei Jahre nach Kriegsende an und die damit verbundenen Unsicherheiten für viele Faschisten und Veteranen der RSI stärkten die neu entstehenden Netzwerke. Rom als Hauptstadt bot vielen Kriegsheimkehrern die Chance auf einen Neuanfang, der in kleineren Städten u.U. schwerer möglich gewesen wäre.98 Veteranen der RSI, unter ihnen Giorgio Almirante, Arturo Michelini und Biagio Pace, sowie Führungsmitglieder der Republikanischen Faschistischen Partei wie Pino Romualdi gründeten dort am 26.12. 1946 die Partei Movimento Sociale Italiano, kurz MSI.99 Bis zu ihrer Verschmelzung mit Berlusconis Forza Italia 1994 blieb sie die offizielle politische Heimat der Nachkriegsfaschisten. Neben den Veteranen der RSI und den Kriegsheimkehrern aus der Gefangenschaft stammte ein großer Teil der ersten Mitglieder des MSI aus den Städten Süditaliens.100 Netzwerke der Kriegsheimkehrer, die häufig auf Truppenverbänden und Kameradschaft im Krieg basierten, wurden um familiäre Netzwerke erweitert sowie durch politisches Engagement im MSI oder in außerparlamentarischen Organisationen konsolidiert.101 Die Partei war nicht nur politische Bühne, sondern vor allem auch ein Raum zur Pflege der Identität und kulturelle Heimat für die Veteranen. In diesem Raum konnten Erinnerungen, Werte und faschistischer Lebensstil gepflegt werden. In erster Linie war das historische und ideologische Erbe der RSI Referenzpunkt für den Nachkriegsfaschismus;102 die zwanzig Monate der
97
Vgl. Pansa 2003.
98
Vgl. Weinberg 1995: 227.
99
Das beste Wahlergebnis erzielte der MSI im Jahr 1972 als viertstärkste Partei, vgl. http://elezionistorico.interno.it/index.php?tpel=C&dtel=07/05/1972&tpa=I& tpe=A&lev0=0&levsut0=0&es0=S&ms=S [15.8.2020].
100
Vgl. Germinario 2005: 19.
101
Vgl. Ferraresi 1995: 12.
102
Vgl. Tassone 2008: 5.
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RSI hatten damit für den Nachkriegsfaschismus ein größeres Gewicht als das vorangegangene, knapp zwanzig Jahre dauernde faschistische Regime.103 Der MSI benutzte weiterhin Symbole der RSI, wie beispielsweise die Flamme auf der Fahne. In der Wahl dieses Symbols wird auch die Bedeutung der Niederlage für den Nachkriegsfaschismus deutlich: Die ›Flamme der Ehre‹ brennt in den Farben der Tricolore und steigt aus einem Trapez auf, welches den Sarg Mussolinis repräsentiert. Die Initialen MSI stehen neben der Abkürzung für den Namen der Partei auch für Mussolini Sempre Immortale [Mussolini, für immer unsterblich].104 Der MSI selbst wurde zwar nie verboten, die Partei blieb jedoch ausgeschlossen vom sogenannten arco costituzionale, dem Zusammenschluss der großen Parteien nach 1945, die gemeinsam bis 1948 die neue Verfassung der Italienischen Republik ausarbeiteten. Verboten wurden darin die Neugründung der faschistischen Partei sowie die Nutzung faschistischer Symbolik.105 Damit bekleidete der MSI eine Außenseiterposition am Rande der Legalität innerhalb des politischen Spektrums. Auch im Hinblick auf die Ausprägungen klientelistischer Strukturen des politischen Systems und seiner spezifischen Machtstrukturen blieb der MSI somit außen vor.106 Der soziale und politische Außenseiterstatus der Faschisten durch das Verbot faschistischer Symbolik und Gestik verstärkte die Schließung der faschistischen Nachkriegsszene gegenüber dem Außen. 1952 wurde das Gesetz legge Scelba107 erlassen, welches das Verbot der Neugründung der faschistischen Partei verschärfte; die Glorifizierung des Faschismus wurde darin explizit als Straftatbestand erfasst. 1993 folgte das Gesetz legge Mancino108, in dem nun auch Gesten, Slogans und umfassend jegliche Symbolik, die sich auf die faschistische oder nationalsozialistische Ideologie bezog, sowie die Diskriminierung aus
103
Zur Entstehungsgeschichte neofaschistischer Bewegungen siehe auch Carioti (2008).
104
Vgl. Tassone 2008: 26 und Weinberg/ Pedahzur 2003: 55.
105
Vgl. offizielle Version der italienischen Verfassung von 1947, in Kraft getreten am 1.1.1948:
www.normattiva.it/uri-res/N2Ls?urn:nir:stato:costituzione:1947-12-27
[15.8.2020] 106
Detaillierte Analyse der klientelistischen Strukturen im sozialen und politischen System Italiens bei Zuckerman (1977), Silverman (1977) und Wolf (1966).
107
Legge 20 giugno 1952, n. 645: Norme di attuazione della XII disposizione transitoria e finale (comma primo) della Costituzione, benannt nach dem damaligen Innenminister Mario Scelba.
108
Legge 25 giugno 1993, n. 205: Conversione in legge, con modificazioni, del decretolegge 26 aprile 1993, n. 122, recante misure urgenti in materia di discriminazione razziale, etnica e religiosa, benannt nach dem damaligen Innenminister Nicola Mancino.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 87
rassistischen, ethnischen, religiösen Gründen oder aufgrund der nationalen Identität unter Strafe gestellt wurden. Im Jahr 2014 beispielsweise wurden zwei Mitglieder von CasaPound Italia auf dieser Grundlage verurteilt, da sie öffentlich den faschistischen Gruß gezeigt hatten.109 Faschistische Symbolik, Gestik und Erinnerungskultur auf der körperlichen Ebene waren damit seit 1945 offiziell verboten. Das Ausagieren faschistischer Kultur und Rituale bedeutete, sich am Rande der Legalität bzw. in der Illegalität zu bewegen. Vor allem die prekäre Situation aufgrund der Gesetzeslage führte zur Abschottung, man pflegte die marginalisierte Identität einer Subkultur, die sich auf ihre Außenseiterposition zurückzog und versuchte, in einer Gegenreaktion diesen Status als einen moralisch überlegenen zu konzipieren. Die Auseinandersetzung mit den legalen Grenzen forderte eine aktive Gestaltung des begrenzten eigenen Raumes und stärkte die Subkultur daher auch von innen heraus. Neben dem MSI entstanden außerparlamentarische faschistische und oft gewaltbereite Gruppierungen. Rechte Gewalt sowie rechter Terrorismus110 sind seit Kriegsende in Italien beständig präsent und als Konsequenz und Weiterführung des Bürgerkriegs zwischen 1943 und 1945 interpretierbar.111 Rechter Terrorismus in Italien unterscheidet sich von terroristischen Aktivitäten von rechts in anderen westlichen Demokratien vor allem durch seine Ziele.112 Von einigen Ausnahmen113 abgesehen richtete sich rechter Terror in Italien nicht gegen Minderheiten wie Ausländer u.a., sondern in erster Linie gegen linke Aktivisten. Rechte Gewalt wurde umso präsenter, je größer bzw. einflussreicher die kommunistische Partei PCI wurde und ging mit der Radikalisierung des extremen linken politischen Spektrums einher.
109
www.lastampa.it/2014/09/12/italia/cronache/la-cassazione-il-saluto-romano-restivietato-jHYIYqGpt7T694AvrZbEpJ/pagina.html [15.8.2020]
110
Zur Perspektive der faschistischen Aktivisten dieser Jahre sowie politischen Praktiken und Gewaltanwendung siehe Kapitel 2.4.2.
111
Auch der Historiker Weinberg spricht im Falle der neofaschistischen Gewalt von einer Weiterführung des Bürgerkrieges seit Gründung der RSI 1943, die in der Phase der sogenannten anni di piombo gipfelte (vgl. Weinberg 1995: 223/ 224) und mit dem Niedergang der marxistischen Partei PCI (Partito Comunista Italiano), die sich 1991 in Partito Democratico della Sinistra umbenannte, abebbte. Eine ausführliche historische Darstellung der verschiedenen Phasen der neofaschistischen Organisationsund Aktionsformen seit 1945 findet sich bei Weinberg (Weinberg 1995: 226-235), Ferraresi (1995) und Rao (2008).
112
Vgl. Weinberg 1995: 221-223.
113
Auflistung bei Weinberg 1995: 222.
88 | Neofaschismus in Italien
Kleinere terroristische Anschläge wie Bombenexplosionen wurden zunächst vor allem von den Fasci d’Azione Rivoluzionaria (FAR) verübt, die Organisation wurde 1951 verboten. Zwischen 1953 und 1961 verübten die Jugendorganisation des MSI Fronte della Gioventù und Organisationen wie Giovane Italia oder Fronte Universitario di Azione Nazionale 73 Aktionen von Vandalismus bis hin zu politischer Gewalt gegen politische Gegner.114 Ordine Nuovo, eine 1956 von Pino Rauti und anderen ehemaligen MSI-Mitgliedern gegründete außerparlamentarische Organisation, sowie die daraus hervorgegangene Avanguardia Nazionale Giovanile,115 gegründet 1960 von Stefano delle Chiaie, waren hauptsächlich verantwortlich für die faschistische Gewalt der 1960er-Jahre. Als anni di piombo [bleierne Jahre] wird in Italien die Phase der politischen Radikalisierung und des Terrors von den Unruhen der 1968er-Bewegung bis hin zu den frühen 1980er-Jahren bezeichnet. Die Ermordung des ehemaligen Premierministers Aldo Moro 1978 sowie das Attentat im Bahnhof von Bologna zählen zu den Höhepunkten der Gewalt dieser Jahre.116 In der Folge der Studentenrevolten von 1968, die mit dem Zusammenstoß rechter und linker Aktivisten mit der Polizei in Rom am 1. März mit der Battaglia di Valle Giulia [Kampf von Valle Giulia], ihren Anfang nahm, verschärften sich die politischen Spannungen. Die Studentenbewegung von 1968117 zeichnete wie in anderen europäischen Ländern den Beginn einer konflikthaften Auseinandersetzung zwischen der Kriegsgeneration und ihren Kindern in der italienischen Gesellschaft. Die Generation der Kinder stellte die traditionellen Familien-Beziehungen in Frage und kämpfte für mehr Autonomie und Freiheit: »A series of dramatic events, from the student rebellion of 1968 through the Red Brigades of a decade later, have put the issue of parent-child conflict in sharp public relief. While many adults lament the disintegration of what is nostalgically remembered as a secure, well-
114
Vgl. Weinberg 1995: 228.
115
Nach dem Verbot der Organisation 1966 neu gegründet als Avanguardia Nazionale (AN).
116
Eine detaillierte Beschreibung des historischen Ablaufes der anni di piombo findet sich bei Weinberg (1987), für den Zeitraum zwischen 1965-1978 siehe Cervi (1992). Zur Formierung radikaler neofaschistischer Organisationen durch Mitglieder aus den Reihen des Movimento Sociale Italiano wie beispielsweise Ordine Nuovo, Avanguardia Nazionale, Fronte Nazionale, Nuclei Armati Rivoluzionari u.a., die an terroristischen Aktivitäten beteiligt waren (Weinberg 2003: 55ff.).
117
Vgl. Hilwig 2009.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 89
integrated family system, many young people have branded traditional norms governing family life as repressive.« (Kertzer 1983: 61)
Arbeiterstreiks in Genua, Mailand und Turin heizten das politische Klima zusätzlich auf. In direkter Reaktion auf die Ereignisse kam es zur Gründung radikaler linker außerparlamentarischer und z.T. terroristischer Organisationen wie Potere Operaio, Autonomia, Gruppi d’Azione Partigana (GAP), Nuclei Armati Proletari (NAP), Lotta Continua, Movimento Studentesco, Comitati Comunisti Rivoluzionari (Co.Co.Ri), Prima Linea und Brigate Rosse (BR).118 Italien war (wie auch die Bundesrepublik Deutschland durch die Rote Armee Fraktion, RAF) unter den europäischen Staaten in den 1970er-Jahren aufgrund der Aktivitäten der Brigate Rosse (BR) mit am stärksten von linksterroristischer Gewalt betroffen.119 Unter den neu gegründeten außerparlamentarischen faschistischen, radikalen und z.T. terroristischen Organisationen dieser Jahre sind der Fronte Nazionale (FN), Ordine Nuovo, Ordine Nero, Avanguardia Nazionale sowie Terza Posizione (TP)120. Die Mitglieder der terroristischen Vereinigung Nuclei Armati Rivoluzionari (NAR) verschrieben sich explizit dem spontanen, bewaffneten Kampf.121 Seit Ende der 1970er- bis Anfang der 1980er-Jahre richtete sich der rechte Terror nicht mehr ausschließlich gegen linke Organisationen, sondern vermehrt auch gegen den Staat.122 Der rechte Terror gipfelte in zwei großen Anschlägen: dem Attentat in einer Bank an der Piazza Fontana in Mailand am 12. Dezember 1969, bei dem 17 Menschen starben und 88 verletzt wurden, sowie dem Attentat am 2. August 1980 im Bahnhof von Bologna mit 85 Toten und 200 Verletzten. Beide Attentate wurden Mitgliedern der neofaschistischen Szene zur Last gelegt. Nach dem Terroranschlag von Bologna, für den einige Mitglieder der Nuclei Armati Revoluzio-
118
Zum Terrorismus der extremen Linken in Italien siehe Serneri (2012).
119
Vgl. Hürter/ Rusconi 2010: 7.
120
Vgl. Adinolfi/ Fiore (2000).
121
Neofaschistische Terrorgruppe, gegründet 1977 durch die ehemaligen MSIMitglieder Valerio Fioravanti, Cristiano Fioravanti, Dario Pedretti, Francesca Mambro und Alessandro Alibrandi, aktiv bis 1981. Mitglieder der Organisation verübten 136 terroristische Aktionen (vgl. Azzellini 1997: 38), vielen Mitgliedern wurden Verbindungen zur sogenannten Banda della Magliana, einer mafiösen Organisation in Rom, nachgesagt.
122
Eine ausführliche chronologische Beschreibung rechter Terroraktionen findet sich bei Weinberg (1987), eine detaillierte Darstellung rechter Terroristen bei Caprara/Semprini (2007).
90 | Neofaschismus in Italien
nari (NAR) verantwortlich gemacht wurden, wurden alle existenten außerparlamentarischen neofaschistischen Organisationen durch den Staat zerschlagen und zahlreiche ihrer Mitglieder verhaftet, viele von ihnen flohen ins Ausland. Im Zuge der stetig steigenden Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion während des Kalten Krieges nahm Italien durch seine geographische Lage als ›Flugzeugträger‹ der Amerikaner sowie durch die im westlichen Europa einmalige Stärke einer kommunistischen Partei, des Partito Comunista Italiano (PCI), eine besonders heikle Position ein. Ziel der USA war es, eine Machtübernahme der Kommunisten in Italien zu verhindern.123 Daher unterstützte man antikommunistisch orientierte politische Kräfte wie die katholische Volkspartei Democrazia Cristiana (DC), die bis 1992 fast durchgehend die Regierung stellte, sowie das weitere rechte Parteienlager bis hin zu paramilitärischen Vereinigungen wie dem klandestinen Nato-Netzwerk Gladio124. Die paramilitärische Vereinigungen sollte »in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten sowie reaktionären und faschistischen Kreisen Italiens die politische Entwicklung des Landes« (Azzellini 1997: 23) steuern.125 Ziel war die Schwächung des Kommunismus und die Stärkung der Westmächte. Weitere Verbindungen zwischen italienischen Geheimdiensten und dem politischen Nachkriegsfaschismus werden vermutet.126 Carlo Levi, italienischer Jude und Antifaschist, bemühte sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren vergeblich, die amerikanische Interessenspolitik in Italien offenzulegen. In seinem 1951 für die amerikanische Zeitschrift The Reporter127 verfassten Artikel La serpe in seno. Un saggio sul neofascismo [Die Schlange am Busen. Eine Abhandlung über den Neofaschismus] wollte Levi die
123
Vgl. Kertzer 1980, 1996 und Shore 1990.
124
Gladio war eine antikommunistische Nato-Untergrundstruktur und paramilitärischnachrichtendienstliche Organisation, ein seit den ersten Nachkriegsjahren über ganz Europa verteiltes Netzwerk, deren Mitglieder im Partisanenkampf ausgebildet waren. In Italien handelte es sich dabei vor allem um ehemalige faschistische Soldaten, welche im Kriegsfall Sabotage- und Terrorakte verüben sollten. Ob die Hauptverantwortung für Gladio bei der Nato oder der CIA liegt, ist bis heute ungeklärt (Azzellini 1997).
125
Siehe auch Weinberg 1995: 222/ 223.
126
Vgl. auch Netzwerk der 1980 öffentlich bekannt gewordenen Geheimloge Propaganda Due (P2) (Weinberg 1995: 235).
127
Herausgegeben u.a. von Max Ascoli, Professor für politische Philosophie an der New School for Social Research Mazzini Society in New York, einem Antifaschisten und ehemaligen Freund Levis, der als Jude vor dem Faschismus geflohen und ins amerikanische Exil emigriert war.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 91
amerikanischen Leser mit der politischen Realität in Italien konfrontieren und auf die Gefahr hinweisen, die in seinen Augen von den Neofaschisten ausging. Dabei fokussierte er im Besonderen den Widerspruch zwischen der antiamerikanischen Haltung des MSI und der Tatsache, dass unter den finanziellen Förderern der Partei dieselben Industriellen waren, die von finanziellen Hilfen des Marshallplans profitiert hatten.128 Da Levi damit offen einige italienische Großindustrielle beschuldigte, den MSI zu finanzieren, wurde der Artikel jedoch nicht veröffentlicht. Im Rahmen der sogenannten strategia della tensione [Strategie der Spannung]129, die der italienische Staat verfolgte, schreckte man auch vor Staatsterrorismus nicht zurück, die historische Forschung geht hier von einer staatlichen Infiltration und zusätzlichen Radikalisierung außerparlamentarischer Organisationen durch Geheimdienste aus.130 Man förderte gewissermaßen ein ›Gleichgewicht‹ der Gewalt zwischen den extremen politischen Kräften im Land, was die Radikalisierung der politischen Gegenpole am rechten und linken Rand des politischen Spektrums verstärkte und einen Konflikt schürte, der in bewaffnetem Kampf und Terrorismus mündete. Die Radikalisierung der extremen politischen Pole und die damit einhergehende Gefährdung der Gesellschaft ermöglichten es dem Staat, seine Machtstrukturen weiter auszubauen. In Reaktion auf die eskalierende Gewalt erließ die italienische Regierung ab 1974 Gesetze, die generell alle Staatsorgane, vor allem aber die Polizei stärkten und die Freiheit des Einzelnen beschnitten. Das Gesetz Legge Bartolomei von 1974 ermöglichte beispielsweise Verhöre in Abwesenheit eines Verteidigers, das Gesetz Legge Reale von 1975 erweiterte die Bedingungen für den legitimen Gebrauch der Schusswaffe durch Sicherheitskräfte, führte die polizeiliche Festnahme bei Tatverdacht ein und schränkte die Möglichkeit einer Freilassung auf Kaution ein. Seit 1976/77 verfolgte die Regierung zudem gezielt eine Antiterrorismuspolitik, die die Erhöhung von Finanzmitteln für Polizeikräfte sowie die Umstrukturierung der Geheimdienste zur Folge hatte. Außerdem wurden das Waffen- und Demonstrationsrecht drastisch verschärft, Hochsicherheitsgefängnisse errichtet und Änderungen in der Strafprozessordnung vorgenommen.131 Nach der Entführung Aldo Moros im Jahr 1979 wurde das Gesetz Legge Cossiga erlassen, welches ermöglichte, Straftatbestände wie »Bildung einer terroristischen Vereinigung« und »Verbrechen zu terroristischen Zwecken« mit hohem Strafmaß zu ahnden; die Untersuchungshaft
128
Vgl. Ward 2002: 19/20.
129
Vgl. Dondi 2015.
130
Vgl. Weinberg 1995: 230.
131
Vgl. Hof 2010: 22-24.
92 | Neofaschismus in Italien
konnte auf bis zu zehn Jahre verlängert werden, präventive Festnahmen für den Zeitraum von 48 Stunden waren auch ohne richterlichen Haftbefehl möglich. Aufgrund der doppelten Aggression von links und rechts verzeichnete Italien im Gegensatz zu Deutschland eine fast zehn Mal höhere Zahl von Anschlägen in diesen Jahren. Während der anni di piombo kam es vor allem in den größeren Städten Italiens z.T. zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die zahlreiche Todesopfer auf beiden Seiten forderten.132 Zwischen 1969 und 1982 wurden insgesamt 8800 Anschläge mit 351 Toten und 768 Verletzten gezählt,133 italienische Terroristen verübten insgesamt mehr als 12 000 Akte politischer Gewalt. Historiker sprechen von der größten terroristischen Bedrohung aller westlichen Demokratien in dieser Zeit.134 Danilo D. war während der anni di piombo Mitglied in der außerparlamentarischen Organisation Terza Posizione. Nach den Ereignissen des Jahres 1980 hatte er Rom verlassen und sich in der Folge ein Leben in einer norditalienischen Stadt aufgebaut. Sie hätten sich in dieser Zeit weniger illegal gefühlt, beschrieb er die Stimmung dieser Jahre. Die damals viel benutzte Parole der antifaschistischen Gegner uccidere un fascista non è reato [einen Faschisten umbringen ist kein Verbrechen] habe die eigene Gewalt legitimiert. Das eigene Leben zu verteidigen, habe das Gefühl verstärkt, richtig zu handeln und viele Methoden des Kampfes gerechtfertigt. Die neofaschistischen Aktivisten hatten laut Danilo das Gefühl gehabt, eine Minderheit zu verteidigen. Sie hätten nicht nur für die eigene Existenz, sondern auch im Namen der besiegten RSI-Veteranen gekämpft, erzählte er. Die Illegalität der linken, antifaschistischen Organisationen führte somit zu einer Relativierung der Gewalt der extremen Rechten im Sinne eines gegenseitigen Hochschaukelns zweier extremer Pole. Dadurch, dass viele politische Gewalttäter auf beiden Seiten straffrei ausgingen, wurde das Gefühl der Marginalisierung unter den Aktivisten des faschistischen ambiente verstärkt; in der subjektiven Wahrnehmung wurde man auch hier besonders benachteiligt.135 Die Erfahrungen dieser Jahre verstärkten die Grenzen des Nachkriegsfaschismus nach außen zusätzlich
132
Vgl. Hürter/ Rusconi 2010: 7 und Weinberg 1995: 231.
133
Eine detaillierte Auflistung der Opfer der anni di piombo findet sich bei Agasso/ Agasso (2008).
134
Vgl. Hof 2010: 22.
135
Vgl. den Anschlag von Primavalle, bei dem die beiden Kinder Mario Matteis, Leiter des MSI in der Sektion Primavalle, in der Wohnung der Familie verbrannten. Die Täter wurden in letzter Instanz freigesprochen (vgl. Baldoni/ Provvisionato 2009:12126).
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 93
und untermauerten die Eigenwahrnehmung, eine marginalisierte Position innerhalb der italienischen Gesellschaft einzunehmen. Man sah auch die Protagonisten der anni di piombo letztendlich als Verlierer eines gewalttätigen Konflikts, wie bereits die Generation der RSI-Veteranen vor ihnen. Auch das ritualisierte Gedenken an die politischen Toten der anni di piombo prägt seitdem die faschistische Erinnerungskultur.136 Die Position des faschistischen ambiente als Subkultur wurde in der Phase der anni di piombo zusätzlich gestärkt. Mit Foucault kann man von Erinnerungspraktiken als Performanz des politischen Status in einem Machtsystem sprechen. Im herrschenden politischen System ist Erinnerungskultur durch das Bewahren der eigenen Version der Vergangenheit als unterdrücktem Wissen auch eine Form des Widerstandes in einer Mehrheitsgesellschaft, die Wissen monopolisiert.137 Die Positionierung und Aushandlung der eigenen Identität als faschistische Subkultur im sozialen und politischen System Italiens ist verbunden mit der Positionierung im Staat als geltendem rechtlichen System und Rahmen für die Gesellschaft. Die Frage nach dem Umgang mit Illegalität berührt daher zugleich Fragen nach Zugehörigkeit in einem Rechtsstaat, nationaler Identität und dem Umgang mit historischer Erfahrung.138 Obwohl sich die Situation der faschistischen Nachkriegsszene nach der Beteiligung der Neofaschisten an der Regierung Berlusconi seit 1994 stark veränderte,139 ist das Misstrauen innerhalb der faschistischen Nachkriegsszene bis heute groß. Außenstehende, die nicht durch Familienzugehörigkeit oder politische Überzeugungen für eine Mitgliedschaft qualifiziert sind, werden in der Regel skeptisch betrachtet und ausgegrenzt. Zugrunde liegt noch immer die Angst, zum eigenen Nachteil bzgl. der eigenen politischen Überzeugungen, Aktivitäten oder Bekanntschaften mit zum Teil als kriminell ausgewiesenen Mitgliedern der faschistischen Szene ausspioniert zu werden. Die lange Tradition der Infiltration durch Geheimdienste140 und das daraus resultierende, große Misstrauen erschwerte auch mir als Forscherin den Zugang sehr.
136
Vgl. Kapitel 2.4.3.
137
Vgl. Foucault 1978.
138
Zugehörigkeit im Sinne von Bornemans Konzept von Zugehörigkeit in Nationalstaaten (vgl. Broneman 1992: 28ff.).
139
Vgl. Kapitel 2.3.2.
140
Vgl. Weinberg 1995: 230.
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2.2.2 Exkurs: Grenzen der Forschung Als junge, deutsche Frau war ich eine auffällige Fremde im Feld des Nachkriegsfaschismus, das von Männern dominiert wurde. Man misstraute mir stark, immer wieder wurde von unterschiedlichen Personen die Frage verhandelt, ob ich tatsächlich vertrauenswürdig sei oder ob man den Kontakt zu mir lieber abbrechen sollte. Meine Präsenz als Forscherin und Fremde bot Gelegenheit für zahlreiche Spekulationen über meine Identität. In einem Feld, das seine Legitimation aus einer spezifischen Interpretation der historischen Vergangenheit zog, hielten mich viele für eine Historikerin bzw. wollten mich als solche sehen. Für die Skeptiker war ich hingegen häufig eine Spionin, die für unterschiedliche Auftraggeber arbeitete: mal für den BND, mal für deutsche Nazis oder Geheimdienste anderer europäischer Länder, wie ich bisweilen in Andeutungen aus zweiter Hand erfuhr. Für andere wiederum war ich vielleicht einfach eine Verrückte, weil ich mich als Antifaschistin für Faschisten interessierte. Das Spannungsfeld, das sich daraus ergab, strukturierte meine Bewegungen und Kontakte im Feld und bot bisweilen auch eine Projektionsfläche für Ängste und tiefsitzende Unsicherheiten, die sich in Vermutungen über meine Identität äußerten. Mehrmals geriet ich in heikle Situationen, nur einmal wurde ich jedoch offen der Spionage beschuldigt. Zum Zeitpunkt meines Treffens mit Tommaso E. war ich bereits elf Monate im Feld. Obwohl er als Chef einer wichtigen faschistischen Organisation141 mit Sitz in einer Stadt in Norditalien nicht in Rom lebte, rieten mir unterschiedliche Informanten immer wieder, mit ihm zu sprechen. Wie andere Mitglieder seiner Organisation war er bereits angeklagt worden, u.a. wegen Gewaltdelikten und verbotenen faschistischen Äußerungen. Seine Organisation sei von zentraler Bedeutung für den Nachkriegsfaschismus und mit einigen Organisationen in Rom eng vernetzt, ein Treffen mit ihm würde meinen Horizont im Hinblick auf die faschistische Szene in ganz Italien daher gewinnbringend erweitern, wurde mir gesagt. Zwei meiner Informanten vermitteln schließlich ein Treffen. * Eigentlich sind wir um 20 Uhr verabredet, aber gegen 19 Uhr klingelt mein Handy. Es ist Tommaso, der unseren Treffpunkt ändert. Neuer Ort ist eine belebte Kreuzung in einem anderen Stadtteil. Da ich die Stadt nicht gut kenne, habe ich zunächst Mühe, mich zu orientieren. Während ich am Treffpunkt warte, suche ich den Gehsteig nach ihm ab. Es sind viele Menschen unterwegs, aber an der Ecke
141
Aus Gründen der Gewährleistung der Anonymität verzichte ich an dieser Stelle auf weitere Details.
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gegenüber fallen mir zwei junge Männer ins Auge: unbeweglich stehen sie da, fixe Punkte inmitten all der abendlichen Hektik, und beobachten. Vielleicht ist Tommaso nicht alleine gekommen, denke ich bei mir. Kurze Zeit später kommt er mit einem einfachen Motorroller langsam um die Ecke gefahren. Tommaso schlägt vor, etwas zu essen und fragt, ob es für mich in Ordnung sei, mit dem motorino dorthin zu fahren. Ich bejahe das und er gibt mir einen Helm und sagt: sei troppo brava [Du bist zu gut] – ein merkwürdiger Kommentar. Auf meine Nachfrage lacht er nur. Dann fahren wir Richtung Süden und ich verliere irgendwann die Orientierung in dieser mir unbekannten Stadt. Unser Ziel ist eine kleine Trattoria in einem Wohngebiet außerhalb des Zentrums, weder Bars noch Geschäfte gibt es dort, nur dieses eine Restaurant, dahinter Wohnhäuser. Tommaso führt mich zielstrebig zu einem Tisch im hinteren Raum. An den Wänden hängen große Flachbildschirme, auf denen ein Fußballspiel übertragen wird, eine ständige Lärmkulisse. Wir bestellen etwas zu essen, der Kellner bringt Wein. Allora? [Also?] fragt er provokativ. Allora, ti spiego che cosa faccio? [Also erkläre ich dir, was ich tue?] frage ich zurück und beginne: also, ich bin Ethnologin, wie du weißt... Antropologa? echot er höhnisch. Wieder Augenbrauenheben und dieser merkwürdige Ton in der Stimme, den ich weiter ignoriere, weil ich hoffe, dass es ein freundliches, wenn auch vielleicht nicht sehr informatives Gespräch werden kann. Meine Fragen nach seiner persönlichen Lebensgeschichte und nach Politik beantwortet er nicht, stattdessen wird er sofort aggressiv. Ich sei nicht Deutsch, das wisse er, sagt er drohend. Und ich solle ihm sagen, was ich wirklich von ihm wolle. Da ich Misstrauen gewohnt bin, bemühe ich mich, die Wogen zu glätten und erkläre, dass ich mich für seine persönliche Geschichte interessiere, seine Weltsicht, seine politischen Überzeugungen. Aufgrund seiner Kontakte zu einflussreichen Personen in der römischen Szene könnte er mir sehr schaden und meine Forschung behindern, daher gebe ich mir große Mühe, seine Zweifel zu zerstreuen. Tommaso lächelt für einen Moment und geht dann wieder zum Angriff über: Ma che vuoi da me? Falla finito questo gioco. Che vuoi da me? [Was willst du von mir? Hör auf mit diesem Spiel. Was willst du von mir?]
Trotzdem antworte ich in ruhigem Ton, dass es kein Problem sei, wenn er doch nicht mit mir sprechen wolle. Daraufhin nuschelt er irgendetwas Unzusammenhängendes vor sich hin, unterbricht sich aber sofort wieder. Warum er denn das Treffen zugesagt habe, frage ich? Perché voglio essere qui per te, tutta la serata [Weil ich hier sein will für dich, den ganzen Abend], antwortet er wieder mit ei-
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nem Lächeln. Die Themen- und Stimmungswechsel scheinen geplant zu sein. Immer wieder stellt er eine freundliche Atmosphäre her und wechselt dann abrupt die Haltung, beleidigt mich und versucht, mich unter Druck zu setzen – vielleicht eine billige Verhörmethode, um mich aus dem Konzept zu bringen. Ma sai, quante volte mi hanno aspettato sotto casa per menarmi? [Weißt du, wie oft sie vor dem Haus auf mich gewartet haben, um mich zu verprügeln?]
Er scheint sich wieder auf ein Gespräch einzulassen: Che insegno ai miei figli? Che si devono difendere o no? Chi insegneresti tu? [Was bringe ich meinen Kindern bei? Dass sie sich verteidigen sollen oder nicht? Was würdest du sie lehren?]
Offenbar macht er sich Gedanken über die Erziehung seiner Kinder. Dann folgt wieder ein plötzlicher Themenwechsel, als er erneut wütend fragt: E perché sei qui? Che vuoi da me? Dimmi la verità! [Warum bist du hier? Was willst du von mir? Sag mir die Wahrheit!]
Das Essen bringen wir mehr schlecht als recht hinter uns, dann geht es von vorne los. Chi sei? [Wer bist du?] fragte er wieder, tu non sei tedesca, tu sei albanese o serba! Sei bella, sei bellissima, sei bionda! [Du bist nicht Deutsch! Du bist Albanerin oder Serbin! Du bist schön, sehr schön, du bist blond.] Ich blicke ihn fragend an, aber offensichtlich ist es ihm ernst damit. Es ist aussichtslos, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, Tommaso versucht, mich immer mehr unter Druck zu setzen: Tu sei cattiva. Ho un istinto molto buono, al 90 % è giusto. Non mi sbaglio. E tu stai facendo un lavoro sporco. [Du bist böse. Ich habe einen sehr guten Instinkt, er ist zu 90 % richtig. Ich irre mich nicht. Du machst einen schmutzigen Job.]
Später würde ich schlecht über sie alle sprechen in meinem Buch und erzählen, was für schlechte und schlimme Menschen sie Faschisten seien, wirft er mir weiter vor. Dabei schaut er mich mit verächtlichem Gesichtsausdruck an. Er habe mich offenbar als einziger durchschaut und lasse sich nicht auf mein Spiel ein. Auf meinen erneuten Versuch der Richtigstellung fordert er: Fammi vedere un documento [zeig mir einen Ausweis]. Also hole ich in einem letzten Versuch mein Portemon-
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naie aus der Handtasche und zeige ihm einige Ausweise. Er betrachtet sie eingehend. Da wir ganz hinten im Restaurant sitzen, hört und sieht uns keiner der anderen Gäste. Doch auch meine Ausweise können seine Meinung nicht ändern. Sei albanese tu. Falla finita e dimmi per che governo lavori! Per quale esercito lavori? [Du bist Albanerin. Hör auf und sag mir, für welche Regierung du arbeitest! Für welche Armee arbeitest du?]
Dann beginnt er, sich in einer Art Selbstgespräch zu rechtfertigen. Er sei nicht antisemitisch, seine Organisation sei nicht antisemitisch. Es gebe viele faschistische Juden, auch in seiner Organisation. Seine Kinder hätten jüdische Freunde, die gingen bei ihm ein und aus. Nur Gewalt, die dulde er nicht. Aber solange alle sich ordentlich benähmen und nichts passiere, seien ihm alle willkommen. Da dies ein Dialog mit dem eigenen Gewissen zu sein scheint, schweige ich bis er mit den Worten schließt: Mi sento molto più vicino ai morti, molto di più…da sempre… [Ich fühle mich den Toten viel näher…schon immer…]
Endlich zahlen wir, wir nehmen unsere Sachen und gehen nach draußen. Dort zündet er sich eine Zigarette an und versucht noch einmal, mich zu verunsichern: Tu sei stata seguita da tre uomini quando ci siamo incontrati. Chi erano? [Du wurdest von drei Männern verfolgt, als wir uns getroffen haben. Wer waren sie?]
Ich bin perplex und fange nun tatsächlich an, mich zu sorgen. Er sei mit zehn Männern zu unserem Treffpunkt gekommen, sagt er. Mir wird immer mehr klar, wie groß sein Misstrauen mir gegenüber tatsächlich sein muss. Er starrt er mich an und kommt näher, bis er wenige Zentimeter vor meinem Gesicht verharrt. Aber ich gebe nicht klein bei, obwohl mittlerweile Angst in mir aufsteigt, denn er scheint tatsächlich überzeugt von meiner Identität als Spionin. Das macht meine Lage vielleicht sogar gefährlich. Offenbar hat er Angst, für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das deutet vielleicht darauf hin, dass er tatsächlich Dinge getan hat, für die man ihn verurteilen könnte. Ich scheine ihn mit dem zu konfrontieren, was sein Gewissen belastet. Die Angst von Geheimdiensten aufgespürt zu werden, zeigt, dass er um seine Sicherheit besorgt ist und sich bedroht fühlt. Ganz plötzlich fasst er an die obere Tasche meiner Lederjacke, greift dann an meinen Knöchel, hält Jeans und Stiefel fest in der Hand und tastet. Ich entziehe
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ihm mein Bein und fühle mich nun wirklich bedroht. Anscheinend vermutet er Waffen oder Mikrofone an meinem Körper. Dann trete ich einen Schritt zurück und herrsche ihn an. Offenbar diente das Treffen nur dazu, mich zu entlarven. Und nun sind wir alleine dort draußen vor einem Restaurant in einer mir fremden Stadt. Diejenigen meiner Informanten, die mir empfohlen haben, ein Interview mit ihm zu führen, haben mir versichert, dass ich mich beruhigt treffen könne, doch nun finde ich mich in einer verzwickten Lage wieder. Tommaso bedroht mich nun ganz offen: Ho pensato e non voglio che tu stia ancora nel mio mondo. Fai un lavoro sporco. Non posso garantire niente. [Ich habe nachgedacht und ich will nicht, dass du weiter in meiner Welt bleibst. Du machst einen schmutzigen Job. Ich kann für nichts garantieren.]
Ich begreife, dass ich in dieser Situation gefangen bin: Er ist mir körperlich weit überlegen, so dass ich mich nicht wehren könnte, sollte er gewalttätig werden. Würde mir jemand folgen, wenn ich jetzt alleine zurück ins Hotel ginge? Tommaso könnte durchaus Klarheit haben wollen über mich, den Inhalt meiner Tasche, oder jemanden beauftragen, mich nach versteckten Abhörutensilien abzusuchen oder mich einzuschüchtern. Ich fasse den Entschluss, dass es am sichersten ist, wenn er selbst mich zurückbringt und appelliere gezielt an sein faschistisches Ethos als Ehrenmann. Es wird eine anstrengende Heimfahrt. Zwei Mal hält er mitten auf der dunklen Straße an und weigert sich, weiter zu fahren, da er argwöhnt, verfolgt zu werden von einem Auto, in dem meine Spionage-Freunde säßen. Als er mich in der endlich absetzt und ich die Tür eines Taxis öffnen kann, um zu meinem Hotel zu fahren, beugt er sich noch einmal nah zu mir und sagt: Noi siamo nemici e non ci vedremmo mai più. [Wir sind Feinde und werden uns nie wiedersehen.]
Als ich im Hotel ankomme, ist es weit nach Mitternacht und ich merke, wie sehr meine Nerven gelitten haben an diesem Abend. Die faschistische Nachkriegsszene ist ein diffiziles Machtsystem, in dem (hierarchische) Beziehungen zwischen Einzelnen, Generationen und Gruppierungen unterschiedlich strukturiert sind. Meine Begegnung mit Tommaso hat mir deutlich meine Grenzen aufgezeigt und ich bespreche sie mit einigen meiner Informanten. Federico S. reagiert wütend. Er ist einer meiner wichtigsten Gesprächspartner. Zur Zeit meiner Forschung ist er nach seiner beruflichen Laufbahn in einem aka-
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demischen Beruf gerade in Rente gegangen. Damit gehörte er zur zweiten Generation des Nachkriegsfaschismus, ist jedoch zu alt, um sich an politischen Aktivitäten der Jüngeren während der anni di piombo beteiligt zu haben. Er bezeichnete sich offen als Faschist, pflegt enge Kontakte zu einigen RSI-Veteranen und wird von vielen hoch angesehen. Über Tommaso sagt er: Non lo vedi più. Nel nostro ambiente ci sono i psicopatici! Mi aspettavo che incontrassi già prima uno pazzo…prima o poi doveva succedere. Perché ci sono! E dillo nel tuo libro che c’è una parte di psicopatici nel nostro ambiente. [Du wirst ihn nicht wiedersehen. In unserem ambiente gibt es Psychopathen! Ich habe eigentlich erwartet, dass du schon früher auf einen triffst…früher oder später musste das passieren. Denn die gibt es! Und sag das in deinem Buch, dass es eine psychopathische Seite in unserem ambiente gibt.]
Seit diesem Tag macht sich Federico ein Vergnügen daraus, mich mit dieser Geschichte aufzuziehen: A noi lo puoi dire, Lene – per chi lavori? Per il Mossad? [Uns kannst du es sagen, Lene – für wen arbeitest du? Für den Mossad?] Andere meiner Kontakte aus der zweiten Generation wollen sich auf meine Frage, ob Tommaso gefährlich für mich oder meine Forschung werden kann, nicht wirklich äußern, geben aber zu bedenken, dass sie nicht ausschließen können, dass er u.U. gewalttätig wird. Bei Erinnerungszeremonien oder Demonstrationen, die Gruppierungen veranstalten, welche eng mit seiner Organisation vernetzt sind oder bei der seine Organisation sogar teilnimmt, achte ich darauf, in Begleitung einflussreicher Personen aus dem ambiente zu sein, denen ich vertraue und unter deren Schutz ich stehe. (Feldtagebuch, Dezember 2012) * Die Grenzen meiner Forschung wurden vor allem bei Begegnungen mit den jüngeren Generationen des Nachkriegsfaschismus spürbar, die fürchteten, durch Unachtsamkeit in Misskredit zu geraten und dadurch u. U. politisches Terrain zu verlieren. Die jahrzehntelange Position einer politischen Subkultur am Rand der Legalität, zahlreiche Infiltrationen durch Geheimdienste sowie Prozesse und Verurteilungen von Mitgliedern, die die Grenzen des Gesetzes überschritten hatten, hatten Misstrauen zu einer institutionalisierten Haltung werden lassen. Die Bandbreite reichte von vagem Misstrauen, das sich zerstreuen ließ, bis hin zu paranoiden Reaktionen und Anschuldigungen. Die Begegnung mit Tommaso ist auch lesbar als eine Verdichtung des Spannungsfeldes um meine Person, als Zuspitzung einer emotionalen Dimension der Angst in der faschistischen Szene: der Angst davor, entdeckt zu werden, verraten, strafrechtlich verfolgt oder ausgeliefert zu werden, Geheimnisse preisgeben zu
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müssen und die eigenen Grenzen nicht schützen zu können. Tommasos Reaktion, mir als einer Fremden den Zutritt zu seiner Welt zu verwehren, zeigt u.a., wie groß solche Ängste sein können und dass die Wahrnehmung der eigenen Situation in diesem Fall als unsicher analysiert werden kann. Das Bild von der faschistischen Nachkriegsszene als konstant bedrohter Raum, den es zu verteidigen gilt, zeigt sich in Tommasos Reaktion mir gegenüber in einer sehr zugespitzten Ausprägung, als eine Bündelung von Misstrauen. In der Dimension der (paranoiden) Furcht vor einer unbekannten fremden Macht, die Einzelne zur Rechenschaft ziehen kann, schien auch der im Nachkriegsfaschismus vermiedene Umgang mit Schuld aus dem Zweiten Weltkrieg sowie aus den anni di piombo symbolisch Gestalt anzunehmen – verschoben in die Gestalt des Extremen, des Unbeherrschbaren, des Fremden. Im Kern geht es dabei um die existentielle Frage nach der eigenen Daseinsberechtigung, eine Grundfrage seit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg.
2.3 NACHKRIEGSFASCHISMUS: SOZIALE AUSSENSEITERPOSITION ALS HERAUSFORDERUNG UND POTENZIAL 2.3.1 Politisches Machtsystem und Klientelismus Die Politik in Italien ist (bis heute) stark von Klientelismus und Patronage geprägt.142 Sozialanthropologische Forschung zu Klientelismus in Italien fand aller-
142 Klientelismus beschreibt das soziale Phänomen asymmetrischer Beziehungsstrukturen zwischen zwei sozial ungleichen Partnern, die in einem persönlichen Beziehungsverhältnis zueinanderstehen und miteinander Güter und Dienste austauschen (vgl. Weber-Pazmino 1991: 9) – eine hierarchische Variante von Freundschaftsbeziehungen bzw. ein Machtverhältnis, das auf gegenseitigen Vorteil ausgerichtet ist. Die Verpflichtungen auf Seiten des Klienten bestehen u.a. in Informationsbeschaffung, politischer Unterstützung und Loyalität (vgl. Wolf 1966: 17). Eric Wolf beschreibt die Patron-Klient Beziehung wie folgt: »He [the patron] provides economic aid and protection against both the legal and illegal exactions of authority. The client, in turn, pays back in more intangible assets.« (Wolf 1966: 16/ 17). Klientelistische Netzwerke sind veränderbare soziale Systeme, die von informellen Zusammenschlüssen bis hin zu festen Netzwerken reichen und daher auch von unterschiedlicher Dauer sind. Klientelismus ist ein »komplexes gesellschaftliches Phänomen, das nicht nur als Charakterisierung einer besonderen Art von Handlungsserien begriffen werden darf, sondern auch weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen hat und bestimmten Weltbildern verpflichtet ist.« (Weber-Pazmino 1991: 11, kursiv im Original).
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dings hauptsächlich zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren statt.143 Seitdem wird das Forschungsfeld von den Politikwissenschaften dominiert, die in ihren Analysen vor allem (theoriegeleitete) Makroperspektiven auf politische Netzwerkstrukturen in den Vordergrund stellen.144 Das Ende des faschistischen Regimes sowie das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 veränderten die soziale, wirtschaftliche und politische Situation in Italien stark, die klientelistischen Netzwerke blieben jedoch in ihrer Grundstruktur bestehen145: »The clientele chains that had sprung up during the pre-fascist period and stayed alive under Fascism were re-created after World-War II with a partisan overlay« (Tarrow 1977: 69). Unter den neuen politischen und sozialen Gegebenheiten nach Kriegsende wurden die traditionellen klientelistischen Strukturen jedoch modifiziert: »Fundamental change in the role of the local elite and in the patterns of patronage came only after World War II. The mezzadria system began to break down; new forms of articulation with the national system developed; labour organisations, political parties, and intermediaries from within the bureaucracy and the Church replaced the traditional patrons. In this situation, the idiom of patronage has come to be restricted to specifically political contexts.« (Silverman 1977: 16)
Beschaffenheit der Netzwerke, Art und Intensität der klientelistischen Beziehungen, ihre Dauer sowie die zugehörige Rhetorik146 veränderten sich. Netzwerke wurden flexibler und komplexer. Vor allem im sogenannten mezzogiorno147 war die Veränderung deutlich sichtbar. Alte Strukturen aus dem 19. Jahrhundert transformierten sich zugunsten neuer Formen des Klientelismus.148 Diese Veränderungen sind auch im Kontext der sich ausbauenden Machtstellung der bis 1992 überwiegend an der Regierung beteiligten Partei Democrazia Cristiana und deren Po-
143
Vgl. dazu vor allem Boissevain 1974, Eisenstadt/ Roniger 1984, Gellner/ Waterbury 1977, Gribaudi 1980/ 1995, Silverman 1965 und Zuckerman 1977/ 1979.
144
Vgl. Piattoni 2005:15.
145
Vgl. Eisenstadt/ Roniger 1984: 28.
146
Zur Problematik der Datenauswertung durch die sich verändernde Rhetorik über Patronage und reale klientelistische Beziehungen, die oft den Mythos über Patronage bedienen vgl. Silverman 1977.
147
Italienische Bezeichnung für Süditalien, beginnend mit der Region Abbruzzen, das wirtschaftlich konstant schwächer ist als der Norden des Landes.
148
Vgl. Gribaudi 1980: 70-72.
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litik im mezzogiorno zu sehen. Durch die jahrzehntelange ungebrochene Machtstellung der Democrazia Cristiana (DC) konnten sich seit 1945 gewachsene, neue klientelistische Strukturen manifestieren.149 Der Nachkriegsfaschismus als politisches und soziales Netzwerk blieb durch seine marginalisierte politische Position von diesem politischen Machtsystem im antifaschistischen Nachkriegsitalien zunächst ausgeschlossen. Unter der Prämisse der Erhaltung der eigenen Identität als ›bessere‹ Italiener, die ›rein‹ bleiben wollten, schottete man sich bewusst von einem als korrupt verachteten, klientelistischen politischen Machtsystem ab, das die italienische Gesellschaft bis in mikrosoziale Strukturen hinein beeinflusste. Neben den legalen Restriktionen begünstigten die klientelistischen Netzwerkstrukturen der Herrschaft der DC damit über eine lange Zeit die Dynamik des sozialen Ausschlusses und stärkten die neofaschistische Subkultur intern. Das Ende des Sozialismus markiert eine entscheidende Zäsur, welche die bisherigen klientelistischen Netzwerkstrukturen zum Einstürzen brachte und die juristische Dekonstruktion des korrupten, politischen Machtsystems zur Folge hatte.150 Als das bisherige weltpolitische Kräfteverhältnis zerbrach, fehlte ein wichtiger äußerer Druckfaktor in Form einer äußeren Krisen- und Notsituation durch die weltpolitische Situation des Kalten Krieges, der das System zusammengehalten hatte. Die Strukturen des westlichen Machtsystems, das sich maßgeblich über Maßnahmen zum Schutz vor den Feinden Sowjetunion und Kommunismus legitimierte und auf einer bipolaren Weltsicht beruhte, wurden erschüttert. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Mailand unter dem Namen mani pulite151 Anfang der 1990er-Jahre führten in Italien zum Sturz der Regierung der Democrazia
149
Siehe dazu Zuckerman 1979.
150
Damit einher bzw. dem voran geht eine Veränderung der Familienstrukturen bzw. ein Verfall seit den Studentenbewegungen 1968, der Modernisierung der Familie in Form sinkender Geburtenraten seit den 1980er-Jahren, einem Anstieg der Scheidungsquoten seit dem Referendum zur Scheidung im Jahr 1974, späterer Eheschließung, Verkleinerung der Haushalte sowie zunehmender Erwerbstätigkeit der Frauen. Sichtbar werden diese Entwicklungen auch in den Bemühungen der einzelnen Regionen Italiens im Jahr 1989, die Förderung und Unterstützung der Familie durch neue Gesetzgebung voranzutreiben (vgl. Donati 2012: 23).
151
Als mani pulite (dt. saubere Hände) werden die juristischen Untersuchungen bezeichnet, die Anfang der 1990er-Jahre zur Aufdeckung der kriminellen Verflechtungen eines korrupten politischen Systems führten. Korruption, illegale Parteienfinanzierung und Amtsmissbrauch führten nicht nur zum Ende der sogenannten Ersten Republik im Nachkriegsitalien, sondern auch zur Zerstörung der großen Volksparteien
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Cristiana. Die Korruption des gesamten politischen Systems wurde aufgedeckt, was letztlich auch zum Ende der sogenannten Ersten Republik führte: Mit der Auflösung der DC als größter und mächtigster Partei Italiens nach 1945 war das bisherige politische System an sein Ende gekommen. Im faschistischen ambiente machte man aus der Not eine Tugend: Der MSI bot als Partei, die nie Teil der Regierung gewesen war und außerhalb des regierenden politischen Machtsystems stand, eine Alternative zum korrupten politischen System, von dem man sich zugunsten einer Propagierung der eigenen moralischen Unantastbarkeit bewusst distanzierte. Der Faschismus wurde so von seinen Anhängern zu einem stilisierten Gegenbild zur (korrupten) Gesellschaft des dopoguerra [Nachkriegszeit] erhöht. Der historische Faschismus sowie der Duce wurden als Vorbilder einer nicht korrupten, durch moralische Grundsätze der Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit geprägten Lebensweise glorifiziert und einer hauptsächlich von der Democrazia Cristiana kontrollierten sozialpolitischen Realität nach 1945 gegenübergestellt. Innerhalb der faschistischen Nachkriegsszene wurden eigene Formen der Netzwerkbeziehungen entwickelt bzw. tradiert, die sich von den klientelistischen Strukturen der übrigen Parteien aufgrund der Außenseiterposition unterschieden. Auch das faschistische Regime, auf das man sich berief, hatte sich in den über 20 Jahren seiner Herrschaft der Gesetzmäßigkeiten solcher Tauschbeziehungen bedient. Dabei ist grundlegend der Führerkult mit asymmetrischen Beziehungsstrukturen zu nennen, der den Duce als Patron inszenierte. Das zentrale Motto des Faschismus: credere, obbeddire, combattere [glauben, gehorchen, kämpfen] verdeutlicht nicht nur das militärische, sondern auch ein klientelistisches Beziehungsverhältnis: unbedingte Treue dem Patron gegenüber als Garantie für Schutz, Sieg und Zukunftsvisionen, Erfolg und Gewinn, zu dem auch der Sieg in Schlachten zählte. Außerdem war der Nachkriegsfaschismus stark durch die RSI-Veteranen mit ihrer Erfahrung militärischer Alltagskultur sowie militärischer Netzwerkstrukturen geprägt. Als Gemeinschaft, die sich am Rande der Legalität bewegte, waren Tauschbeziehungen basierend auf Treue einem Anführer gegenüber fester Bestandteil der faschistischen Nachkriegskultur. Im Hinblick auf die prekäre legale Position vieler Faschisten nach 1945 und vor allem politischer Aktivisten während der anni di piombo der bleiernen Jahre entstand über die Jahrzehnte ein komplexes Unterstützernetzwerk, vor allem auf finanzieller Basis (z.B. für die Familien, de-
Democrazia Cristiana und Partito Socialista Italiano. Die politische Landschaft formierte sich daraufhin vollkommen neu und man spricht in der Folge von der Zweiten Republik.
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ren Männer im Gefängnis saßen) und rechtlicher Basis (ausgehend von Anwaltskanzleien, die Rechtsberatung, Beistand und Verteidigung boten). Im Tausch wurde politische Loyalität gefordert. Diese Beziehungen und Bindungen verstärkten die Netzwerke über die Jahre zusätzlich. Zugehörigkeit konnte, musste aber nicht lebenslang bestehen bleiben; sie implizierte nicht lebenslange Treue zu einer bestimmten politischen Gruppierung. Ein Wechsel der Parteien oder politischen Gruppierungen war in dem Maße üblich, wie die politische Landschaft des Nachkriegsfaschismus selbst ihre Gestalt veränderte. Der Katholizismus pflegt im Gegensatz zum realen (be-)trügerische Patron, der enttäuschen kann, den externalisierten Kult der reinen Heiligen, der heiligen Patrone. Die Ähnlichkeit weltlicher Patrone mit heiligen Figuren ist kein Zufall152, der Heiligenkult ist die Quelle für den italienischen Klientelismus153. Hauschild benennt die Parallelen zwischen weltlichen und religiösen asymmetrischen Netzwerken bzw. Klientelbeziehungen wie folgt: »Freundschaft, als horizontale Beziehung, und das feudal-patronale Don-Verhältnis, als Asymmetrie von Geben und Nehmen, schließlich das spirituelle Band der fiktiven Verwandtschaft – auf diesen drei Achsen beruhen in popular-katholischen Netzwerken der italienischen Gesellschaft heute noch die Beziehungen zu den kirchlichen Heiligen wie zu den weltlichen Knotenpunkten der Macht.« (Hauschild 2008: 124/ 125)
Die Treue der Nachkriegsfaschisten zu Mussolini ist vergleichbar mit der Treue zu einem heiligen Patron.154 Als Märtyrer und ehemaliger Führer des Faschismus bewegt sich die Figur Mussolini an der Schnittstelle zwischen weltlichem Patron und Heiligem, was ihn zu einem gewissen Maß aus aller weltlichen Beurteilung herausnimmt: »Oft können sie [italienische Politiker] ihre Versprechungen […] nicht halten. Der katholische Heilige ist ein Don oder Pate, der nie enttäuscht, und wenn er doch enttäuscht, hat man ihm seine Freundschaft nicht richtig demonstriert. Der Heilige ist zugleich gutwilliger und unberechenbarer als der weltliche Pate.« (Hauschild 2008: 125)
Als toter Märtyrer strukturiert er das Netzwerk der Nachkriegsfaschisten und verkörpert dabei die reine Figur des faschistischen Soldatenideals. Die Tatsache, dass ein ›idealer Soldat‹ auch tötet, zeigt, dass im Töten Beschmutzung und Reinigung
152
Vgl. Eisenstadt/ Roniger 1984: 66.
153
Vgl. Gower 1928.
154
Vgl. Duce-Kult und seine Ähnlichkeit zu anderen Heiligenkulten in Kapitel 5.2.1.
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eng beieinanderliegen – ähnlich den Heiligen des Katholizismus, bei denen Grausamkeit und heilbringende Wirkung nah beieinander liegen bzw. in ihnen vereint sind als zwei Seiten einer Medaille.155 Die Sonderstellung Mussolinis verweist auf die Externalisierung seiner Figur als eine Art ›reiner Heiliger‹, der im Gegensatz zu den betrügerischen patronalen Paten der realen Welt steht. Mussolini kommt der Figur eines ›reinen‹ Patrons im Nachkriegsfaschismus sehr nahe – einer der Gründe für die Tatsache, dass nach 1945 nie ein vergleichbarer politischer Führer in der faschistischen Szene gefunden werden konnte. Die Position des ›idealen‹ Führers und Patrons war bereits besetzt. 2.3.2 Eintritt in die Regierung 1994 und Fragmentierung Nach Ende der Ersten Republik und der Auflösung der großen Parteien Anfang der 1990er-Jahre formierte sich die politische Landschaft in Italien gezwungenermaßen neu. Im Zuge dieses Machtvakuums und der Erneuerung der politischen Kräfte verlor der Nachkriegsfaschismus seinen bisherigen Außenseiterstatus. Der MSI schnitt als Partei, die nicht in den Korruptionsskandal mani pulite verwickelt war, daraufhin bei vielen Wahlen nach 1992 sehr erfolgreich ab. 1993 kam Gianfranco Fini als Spitzenkandidat des MSI bei den Bürgermeisterwahlen in Rom mit 35,8 % in die Stichwahl; Alessandra Mussolini, Enkelin des Duce, erreichte als Spitzenkandidatin des MSI in Neapel mit 31,05 % ebenfalls die Stichwahl um das Bürgermeisteramt. Bei den Parlamentswahlen 1994 fuhr der MSI mit 13,4 % ein sehr hohes Wahlergebnis ein und wurde drittstärkste Partei.156 In einer Koalition mit der Partei Forza Italia von Silvio Berlusconi wurde sie erstmalig an der Regierung beteiligt (Regierungsdauer 1994 bis 1995). Eine Erneuerung schien der Führung der ersten faschistischen Nachkriegspartei in dieser Situation notwendig, um die Chance auf eine dauerhafte Beteiligung an der Regierung nicht zu verspielen. Unter der Führung des Parteivorsitzenden Gianfranco Fini entschied sich die Mehrheit des MSI auf dem Parteitag in Fiuggi am 27. Januar 1995 für eine Entradikalisierung der Partei, als svolta di Fiuggi [Wende von Fiuggi] bezeichnet. Die Umbenennung der Partei in Alleanza Nazionale (AN)157 sollte die Distanzierung
155
Vgl. Hauschild (2002): San Donato, der Heilige, der schlägt.
156
Wahlergebnisse der Parlamentswahlen 1994: http://elezionistorico.interno.it/index.php?tpel=C&dtel=27/03/1994&tpa=I&tpe=A&lev0=0&levsut0=0&es0=S&ms =S [15.8.2020].
157
Zur Geschichte der Alleanza Nazionale vgl. u.a. Reiter-Mayer (2006).
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von der faschistischen Vergangenheit symbolisieren und die Partei als Regierungspartei legitimieren.158 Fini propagierte eine deutliche Abkehr von den Grundlinien des MSI, der sich auf den historischen Faschismus bezogen hatte, verurteilte Totalitarismus und vor allem Rassismus und bezeichnete den Faschismus im Hinblick auf den Holocaust bei einem Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel im Jahr 2003 als male assoluto [schrecklichstes aller Übel].159 Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Italiens wurde eine neofaschistische Partei Teil der Regierungskoalition und damit politisch »hoffähig«. Zahlreiche neofaschistische Gruppierungen werteten die Wende der Partei jedoch als Verrat und distanzierten sich in der Folge vom MSI; der Grundstein für eine tiefgreifende interne Spaltung war gelegt.160 Pino Rauti gründete 1995 die Partei Fiamma Tricolore,161 um den extremen Kurs des MSI weiter zu verfolgen; auch Alessandra Mussolini trat 2003 aus der AN aus, da ihr der politische Kurs Gianfranco Finis zu gemäßigt war und gründete die Partei Azione Sociale,162 2004 wurde sie ins Europaparlament gewählt. Im Jahr 2007 verließ Francesco Storace die Alleanza Nazionale aus demselben Grund und gründete die Partei La Destra.163 Auch bei der zweiten (2001 bis 2005) und der dritten (2005 bis 2006) Regierung Berlusconi war die Alleanza Nazionale an der Regierungskoalition beteiligt. Da alle Regierungszeiten Berlusconis von zahlreichen Skandalen geprägt waren, verlor die Alleanza Nazionale ihr Image einer unkorrumpierbaren Partei, die bisher außerhalb des korrupten italienischen Parteiensystems gestanden hatte. Es war nicht mehr möglich, sich aus dem klientelistisch strukturierten Machtapparat des Landes heraus- und die bisherige moralische Integrität aufrechtzuerhalten. Berlusconi mobilisierte ein klientelistisches Netzwerk, das auf antikommunistischen Positionen gründete, er schuf politische Abhängigkeiten und inszenierte sich über sein mediales Imperium als Patron, der der Bevölkerung Heil und Erlösung in
158
Vgl. Mattioli 2010: 44/45.
159
www.repubblica.it/2003/k/sezioni/politica/finisr/leggi/leggi.html [15.8.2020]
160
Z. B. durch Gegenmaßnahmen auf lokaler Ebene in Form von Erinnerungskultur (Monumente, Denkmäler, Straßennamen etc.), vgl. auch Mattioli 2010: 126-133.
161
www.fiammatricolore.com [15.8.2020]
162
Im Jahr 2009 in Berlusconis Partei Il Popolo della Libertà aufgegangen.
163
www.ladestra.com [15.8.2020]
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 107
Form von Konsum versprach. Seine Verbindungen reichten bis ins kriminelle Milieu,164 2011 musste er als Ministerpräsident zurücktreten. Die Außenseiterposition hatte die Integrität der Partei und das Bewahren einer faschistischen Identität, eines Lebensstils nach eigenen moralischen und ethischen Vorstellungen in einem korrupten politischen System garantiert. Nach dem Eintritt des MSI in das italienische Machtsystem wurde es unmöglich, die traditionellen Werte wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit sowie das Leitbild Dio, Patria e Famiglia [Gott, Vaterland, Familie] glaubhaft aufrecht zu erhalten.165 2009 entschied man sich auf Betreiben des Parteivorsitzenden Gianfranco Fini schließlich sogar dafür, mit Berlusconis Forza Italia zum Parteienbündnis Il Popolo della Libertà (PdL) zu verschmelzen, um die Chancen zu erhöhen, weiterhin an der Regierung beteiligt zu bleiben, obwohl die Partei bereits angeschlagen war. Parallel zur Zersplitterung der neofaschistischen Parteien wurden die außerparlamentarischen Organisationen gestärkt, vor allem, da sie sich gegen die Aufgabe ihrer bisherigen Identität wehrten. Dieser Mechanismus setzte einen Prozess der Fragmentierung in Gang, der von Konkurrenzkämpfen und Streitereien zwischen verschiedenen politischen Organisationen geprägt war. Kleinere Parteien wie Forza Nuova, Fiamma Tricolore oder La Destra versuchten über die Jahre immer wieder, Alternativen zu den großen Parteien zu bieten und stellten sich zur Wahl. Sie konnten jedoch keine erwähnenswerten Wahlerfolge verbuchen. Weitere außerparlamentarische Organisationen entstanden, wie beispielsweise CasaPound Italia (CPI) im Jahr 2003. Als sich CasaPound Italia im Jahr 2013 für die Parlamentswahlen aufstellen ließ und sich von einer außerparlamentarischen Organisation in eine legale Partei wandelte, war die Gruppe mit großem Protest zahlreicher Mitglieder konfrontiert. Die Führung der Gruppe wurde u.a. dafür kritisiert, die besondere Position als Außenseiter innerhalb des politischen Systems und als bisher sehr erfolgreiches Zentrum für alternative politische und kulturelle Aktivitäten leichtfertig aufgegeben zu haben. Zahlreiche Mitglieder seien daraufhin ausgetreten wurde mir berichtet. Aufgrund der vielen Misserfolge suchten die politischen Gruppierungen des Nachkriegsfaschismus kontinuierlich nach neuen, tragfähigen politischen Konzepten und Möglichkeiten zur Erneuerung der eigenen Identität. Der schnelle und für viele überraschende Erfolg der Antikorruptionspar-
164
www.ilfattoquotidiano.it/2012/03/13/relazioni-invito-cena-ndrangheta/197072/ [15.8.2020]
165
Vgl. Analyse des rechten Intellektuellen Marcello Veneziani (2012).
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tei MoVimento5Stelle, gegründet durch den Komiker Beppe Grillo, bei den nationalen Wahlen 2013166 führte zu einer noch größeren Verunsicherung. Es gab keinen Konsens mehr darüber, wie mit dieser Situation umzugehen sei. Unterschiedliche Reaktionen reichten von der Forderung nach radikaler Modernisierung bis hin zum Vorschlag des Rückbezugs auf die Werte des historischen Faschismus sowie den ursprünglichen MSI und erhöhten die Spannungen zwischen einzelnen politischen Gruppierungen der faschistischen Szene. Zu beobachten war der Zerfall der faschistischen Nachkriegsszene als politische Kraft während meiner Forschungszeit in der römischen Lokalpolitik. Mit Gianni Alemanno, einem Politiker mit Wurzeln im Nachkriegsambiente Roms, stellte die Partei Il Popolo della Libertà seit 2008 zum ersten Mal den Bürgermeister Roms.167 Alemanno war in der Jugendorganisation des MSI Fronte della Gioventù groß geworden. Verheiratet war er mit Isabella Rauti, Tochter von Pino Rauti168, ehemaligem Vorsitzenden des MSI und späterem Mitbegründer und Vorsitzenden der Partei Fiamma Tricolore. Alemanno war fest verankert in der faschistischen Nachkriegsszene Roms. Während seiner Amtszeit wurde die Presse immer wieder auf seinen Sohn aufmerksam, der durch die offene Zurschaustellung seiner faschistischen Gesinnung, beispielsweise das Zeigen des römischen Grußes in der Öffentlichkeit, negative Schlagzeilen verursachte.169 Alemanno hatte zudem ehemaligen Mitgliedern außerparlamentarischer Organisationen der bleiernen Jahre wie Terza Posizione oder krimineller Vereinigungen wie den Nuclei Armati Rivoluzionari Positionen in der Administration verschafft.170 Damit wollte er wohl auch die Unterstützung des römischen ambiente für seine Amtszeit sicherstellen. Als guter Patron hatte er seinen Klienten Vorteile – in diesem Fall Arbeitsplätze – verschafft und sich dadurch ihre Loyalität gesichert. Wie tief Alemanno in den korrupten Netzwerken der Stadt verankert war, wurde nach Ende seiner Amtszeit
166
www.repubblica.it/speciali/politica/elezioni2013/2013/02/25/news/elezioni_grillo_m5s_risultati_reazioni-53396877/ [15.8.2020]
167
www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,druck-550268,00.html [15.8.2020]
168
Von 1990 bis 1991 Vorsitzender des MSI, Gründer von Ordine Nuovo, 1995 – 2002 Vorsitzender der Partei Fiamma Tricolore, die aus dem MSI hervorging.
169
http://roma.repubblica.it/cronaca/2013/04/13/news/raid_figlio_alemanno_poliziotti_indagati-56525823/?ref=HREC1-4 [15.8.2020]
170
www.repubblica.it/cronaca/2012/07/29/news/roma_ex_della_ban…magliana_consulente_per_le_politiche_sociali-39941538/?ref=search [15.8.2020] www.ilgiornale.it/news/interni/lex-nar-campidoglio-e-lipocrisia-sinistra826548.html [15.8.2020]
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u.a. durch einige ans Licht kommende Korruptionsfälle deutlich, die ihm und seiner Partei sehr schadeten. Unter anderem warf man ihm die Zusammenarbeit mit einem mafiösen Netzwerk in Rom vor, das unter der Bezeichnung mafia capitale171 aufgedeckt wurde. Kritische Stimmen sprachen allerdings von kriminellen, klientelistischen Machenschaften quer durch die politischen Parteien – von links nach rechts – und auch der nachfolgende Bürgermeister Roms Ignazio Marino des Partito Democratico wurde beschuldigt, Mitglied in diesem korrupten Netzwerk zu sein.172 Die Enttäuschung über die Korrumpierung Alemannos war bei vielen im faschistischen ambiente groß. Vielen galt er als Verräter, der versucht hatte, sich persönlich sowie einige spezielle Freunde durch seine Machtposition zu bereichern. Sich an der politischen Macht zu beteiligen, bedeutete auch im Falle Alemannos und seiner Regierung, Teil des bestehenden korrupten politischen Netzwerkes zu werden und führte auch hier zum Verlust einer (moralisch überhöhten) Außenseiterposition. Die Folge waren weitere interne Zerwürfnisse. Daraus resultierende Abspaltungen politischer Gruppierungen und interne Machtkämpfe führten u.a. zur weiteren Fragmentierung des Nachkriegsfaschismus. In einem Brief vom Februar 2016 beschrieb mir Pierluigi A. den fortschreitenden Zerfall der faschistischen Nachkriegsszene aus der internen Sicht eines Rentners, der sein Leben lang in verschiedenen faschistischen Organisationen und Parteien politisch aktiv gewesen war. Sein Vater hatte während des Zweiten Weltkriegs in El Alamein gekämpft und war überzeugter Anhänger des faschistischen Regimes gewesen. Pierluigi war im römischen ambiente groß geworden und seit seinem 13. Lebensjahr Mitglied im Fronte della Giuventù gewesen. Nach einer beruflichen Laufbahn im journalistischen Bereich war er im Ruhestand, als ich ihn kennenlernte, verheiratet und hatte zwei Söhne, die sich nicht für Politik interessierten, wie er mit Bedauern erzählte. Er pflegte Kontakte zu verschiedenen faschistischen Organisationen und Generationen. Regelmäßig beteiligte er sich an der Organisation kultureller Veranstaltungen wie Lesungen und besuchte alle Erinnerungszeremonien. Seine Analyse der politischen Situation 2016 lautete folgendermaßen:
171
Zusammenstellung aller Artikel zum Thema mafia capitale auf La Repubblica: www.repubblica.it/argomenti/mafia_capitale [15.8.2020].
172
www.secoloditalia.it/2014/12/parla-blogger-tassinari-cupola-fasciomafiosa-tesi-faridere/ [15.8.2020] www.liberoquotidiano.it/news/politica/11729349/Inchiesta-Mafia-Capitale--tremail.html [15.8.2020]
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Manca il supporto di due categorie fondamentali: gli uomini che diano vita ad una piattaforma di idee sulle quali confrontarsi e l’entusiasmo dei giovani. Tranne rarissime eccezioni, il mondo politico che dovrebbe rappresentare la destra è il figlio di mille scissioni perpetuate esclusivamente nel nome dell’interesse personale. Un mondo di vecchi che non ha saputo costruire nulla per il futuro. Divisi su tutto riescono a cambiare bandiera sempre più velocemente pur di difendere una poltrona. Nella loro ingordigia e sete di potere non riescono neanche a capire che questo sarà il metodo migliore per abbandonare qualsiasi illusione e velleità. Ho perso quasi del tutto le speranze di poter assistere ad una ›primavera‹ della destra. [Es fehlt die Unterstützung in zwei fundamentalen Kategorien: Männer, die eine Plattform von Ideen generieren, an denen man sich abarbeiten kann, und der Enthusiasmus der Jüngeren. Bis auf sehr wenige Ausnahmen ist die politische Welt, die die Rechte repräsentieren sollte, Resultat von tausend Spaltungen, die ausschließlich im Namen des persönlichen Interesses weitergeführt werden. Eine Welt von Alten, die es nicht geschafft hat, etwas für die Zukunft aufzubauen. Über alles geteilter Meinung schaffen sie es immer schneller, die Seiten zu wechseln, nur um eine Position der Macht zu verteidigen. In ihrer Gier und in ihrem Machthunger verstehen sie nicht einmal, dass dies der sicherste Weg ist, alle Illusionen und Ambitionen aufzugeben. Ich habe quasi ganz und gar die Hoffnung verloren, noch einmal einen ›Frühling‹ der Rechten zu erleben.]
In seinen Augen war der Versuch der neofaschistischen Parteien, auf der makropolitischen Bühne eine Rolle zu spielen, gescheitert. Machthunger und Korruption hatten die Werte zerstört, die ihm wichtig waren. Die erstrebte moralische Integrität und ›Reinheit‹ des Nachkriegsfaschismus waren für viele zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch bei den wenigen noch lebenden, unkorrumpierbaren Veteranen der RSI zu verorten, deren Teilnahme am Krieg sie moralisch überhöhte. Aber auch aus ihren Reihen hatte niemand das faschistische Lager politisch einen können, seit 1945 war es ohne einen neuen, großen politischen Anführer geblieben. Man konnte sich ausschließlich auf eine glorifizierte Vergangenheit beziehen – eine Situation, die die Gemeinschaft mit den Jahren auch auf eine Weise zermürbt hatte. Vor allem das Scheitern der Regierung Berlusconi 2011 sowie das unrühmliche Ende der Regierung Alemanno in Rom 2013 führten zu Resignation. Der Zerfall der faschistischen Nachkriegsszene stellt also auch ein klientelistisches Phänomen dar, wenn tatsächliche politische Macht den Eintritt in neue Netzwerkstrukturen bzw. das Arrangement mit hergebrachten Netzwerken der Macht bedeutet, die zu korrupten klientelistischen Abhängigkeitsverhältnissen führen.
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2.4 POLITIK UND ALLTAGSPRAXIS IN DER FASCHISTISCHEN KULTUR Politische Praktiken des Nachkriegsfaschismus sind seit 1945 gewachsen, haben sich über mehrere Generationen und spezifische historische Entwicklungen verändert und den Nachkriegsfaschismus als Subkultur geformt. Einschneidend waren nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges vor allem die anni di piombo mit der Gründung terroristischer Organisationen, die die Strategie des politischen Widerstandes durch Gewalt verfolgten (vgl. Organisationen wie Nuclei Armati Rivoluzionari, NAR).173 Fare politica [Politik machen], wie man im Italienischen sagt, meint Engagement innerhalb politischer Organisationen und beinhaltet politische und kulturelle Aktionen mit Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit. Diese reichen von politischen Veranstaltungen und Demonstrationen, der Eroberung politischen Territoriums bzw. seiner Verteidigung bis hin zu rituellen Praktiken der Erinnerungskultur und kulturellen Veranstaltungen. Im faschistischen ambiente spricht man von militanza politica [politisches Engagement] und militare in un gruppo politico [in einer politischen Gruppe aktiv sein]. Politische Aktivität bedeutet dabei oft Anwendung von Gewalt, die u.a. als strategisches Handeln im Sinne der Selbstverteidigung gegen politische Feinde legitimiert wird. Politik ist nicht nur ideologische Überzeugung, sondern beinhaltet körperliche Praktiken. Darauf verweist auch das entsprechende Vokabular: Militare/militanza in der Bedeutung Soldat sein, Wehrdienst leisten ist aus dem militärischen Vokabular entlehnt. Auf verschiedenen Ebenen kann politische Aktivität als Auseinandersetzung mit und Verteidigung von Territorium definiert werden – Territorium im Sinne des geistigen Territoriums, welches die eigene Identität ausmacht, des physischen Territoriums, also der Sektionen und Stadtteile, die die jeweilige Organisation kontrolliert, sowie eines historischen Territoriums im Sinne des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit und der Toten in Form politischer Erinnerungskultur. 2.4.1 Politisches Territorium: zur Bedeutung von Räumen Auf einer Fahrt zu einer Erinnerungszeremonie auf dem Friedhof für gefallene Soldaten der RSI, dem Campo della Memoria in der Nähe von Rom,174 diskutierten Federico S. und Stefano D. über den besten alternativen Weg nach der Sperrung einer der großen römischen Ausfallstraßen. Auch Stefano war in den ersten
173
Vgl. Kapitel 2.2.1.
174
Vgl. Kapitel 4.1.2 und 2.4.3.
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Nachkriegsjahren geboren und gehörte damit zur zweiten Generation. Er half immer wieder bei der Organisation von Erinnerungszeremonien auf dem Campo della Memoria. Als Fahrer des Wagens entschied sich nach einer kurzen Debatte gegen die schnellste Route und echauffierte sich über den Vorschlag, eine kürzere Route über die Via Togliatti zu nehmen: Via Togliatti non la prendo. Per principio. [Via Togliatti nehme ich nicht. Aus Prinzip.]
Der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei Partito Comunista Italiano Palmiro Togliatti, nach dem die Straße benannt ist, war ihm ein Dorn im Auge, und er wollte jede Nähe zum politischen Feind vermeiden. Also fuhren wir einen Umweg und kamen zu spät. Die physische Wahrnehmung der Gegner sowie der Grenzen des eigenen Territoriums zeigen, wie wichtig politisches Territorium ist, politischer Raum wird auch körperlich erfahren. Ideologisches Territorium wird in örtliches Territorium übersetzt, die Verteidigung des politischen Raumes in der Stadt ist grundlegend für die eigene Existenz und beinhaltet die Dominanz in oder Kontrolle bestimmter Stadtviertel, in denen die Parteien oder Organisationen ihre Sektionen haben und besonders präsent sind. Zur Markierung politischen Territoriums gehören strategisches Plakatieren175 und Graffiti an Hauswänden. Das Plakatieren geschieht meist in der Nacht, um von Gegnern und Ordnungskräften unentdeckt zu bleiben. Immer wieder kommt es dabei zu Zwischenfällen. Ein Mitglied von CasaPound Italia wurde beispielsweise wegen eines gewalttätigen Zusammenstoßes mit Mitgliedern der Demokratischen Partei während einer Plakatierungsaktion im November 2011 verurteilt.176 Zu den politischen Praktiken gehört auch die Besetzung leerstehender Gebäude, vor allem in der dritten Generation. Diese Praxis der sichtbaren Zeichensetzung im öffentlichen Raum ist von zentraler Bedeutung. Die großen italienischen Städte waren, verschärft durch die Situation während der anni di piombo, in Bereiche bzw. Viertel unterteilt, die entweder von linken oder rechten Gruppen kontrolliert wurden:177
175
Zur politischen Praxis des Plakatierens vgl. Shore (1999) und seine Feldforschung in Italien zur Kommunistischen Partei (PCI) in den frühen 1980er-Jahren.
176
http://roma.repubblica.it/cronaca/2012/07/09/news/aggressione_ai_militanti_pd_palladino_condannato_a_2_anni_e_8_mesi-38797310/ [15.8.2020]
177
Vgl. Baldoni 2009: 163-173.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 113
[In einigen Stadtvierteln der großen Städte (vor allem Rom und Mailand) kam es zu Situationen, vergleichbar mit tatsächlichen Bandenkriegen, im Rahmen derer es täglich zu Zusammenstößen und Schlägereien aus den unbedeutendsten Gründen kam wie beispielsweise der Eroberung einer Mauer, an der Plakate angebracht werden konnten. Die Kontrolle von Territorium wurde entscheidend.]178 (Ferraresi 1995: 286)
Abbildung 2.2: Politische Aufteilung der Stadtviertel Roms während der anni di piombo.
Quelle: eigene Zeichnung Politische Zugehörigkeit wurde in jenen Jahren auch durch Kleidungsstile oder Utensilien wie Zeitungen erkennbar; das Überschreiten von territorialen, politischen Grenzen konnte lebensgefährlich werden. In abgeschwächter Form war dies auch während meiner Forschungszeit noch sichtbar: Einige wenige meiner Informanten, die während der anni di piombo Politik gemacht hatten, trafen sich beispielsweise nicht gerne mit mir im römischen Viertel San Lorenzo– einem traditionellen Arbeiterviertel und Hochburg der linken Szene Roms. Die physische Wahrnehmung der Grenzen des eigenen Territoriums und des Gegners stärkt bis heute das Selbstverständnis der politischen Akteure des Nachkriegsfaschismus als ›Kämpfer‹. Die Verteidigung politischen Territoriums führt häufig zu Gewalt und
178
Übersetzung der Autorin.
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erleichtert den Schritt in die Illegalität. Konflikte mit dem Gesetz stärken wiederum die Gemeinschaft u.a. über finanzielle und rechtliche Unterstützer-Netzwerke. Wanderte ein Mitglied der faschistischen Nachkriegsszene ins Gefängnis, wurde die Familie meist finanziell unterstützt. Anwälte garantierte Rechtsbeistand für die Angeklagten oder Verurteilten, auch zu vergünstigten Preisen oder gratis – im Tausch gegen kleinere Gefälligkeiten, was politische Loyalität und Treue zur faschistischen Nachkriegsszene verstärkte.179 Auch privater Wohnraum wurde während der anni di piombo vermehrt zum politischen Raum. Die politische Identität einer Familie war in den meisten Fällen bindend für alle Mitglieder. Ein Schlüsselereignis ist in diesem Zusammenhang ein Anschlag, der als Rogo di Primavalle [Feuer von Primavalle] erinnert wird. Im nördlichen Stadtteil Roms Primavalle kamen bei einem Brandanschlag auf die Wohnung der Familie Mattei am 16. April 1973 die beiden Söhne Virgilio (22 Jahre) und Stefano (10 Jahre) ums Leben.180 Nachdem in der Nacht Benzin unter der Tür hindurch in die Wohnung geschüttet und in Brand gesetzt worden war, brannte die Wohnung vollkommen aus. Retten konnten sich nur die Eltern zusammen mit vier ihrer Kinder. Mario und Stefano verbrannten in der Wohnung. Der Vater Mario Mattei war als Sekretär der Sektion Primavalle einer der Führungskräfte des MSI, sein Sohn Virgilio Mitglied der Volontari Nazionali, einer MSInahen paramilitärischen Schutz- und Ordnungseinheit der Partei. Verübt wurde der Anschlag von Mitgliedern der außerparlamentarischen linksextremen Organisation Potere Operaio.181 Nach dem Anschlag verließ die Familie Mattei aus Angst die Stadt und verlor damit nicht nur den Wohnraum sondern auch die soziale Verortung in der Stadt. Die politische Aktivität einzelner Familienmitglieder hatte in diesem Fall zwei Tote gefordert. Das Rogo di Primavalle war der erste Anschlag seiner Art, der eine neue Phase des Terrorismus in Form der Gewaltanwendung gegen einzelne Personen bzw. Familien in den Stadtvierteln Roms einläutete. Nach den Brigate Rosse (BR) war Potere Operaio mit diesem Anschlag die erste linke Organisation, die sich in der Illegalität bewegte. Das Attentat von Primavalle zeigt das Ausmaß der potentiellen Konsequenzen politischer Positionierung und radikaler politischer Aktivität während der anni di piombo, die ein ernsthaftes, lebensgefährliches Risiko für die ganze Familie darstellen konnten.
179
Vgl. Wolf 1966.
180
Vgl. Tat- und Prozesshergang in Baldoni/ Provvisionato 2009: 102-126.
181
Zur Entstehung und Geschichte von Potere Operaio vgl. Calogero et al. 2010: 9-27.
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Am 16. April jeden Jahres treffen sich Mitglieder des faschistischen ambiente unterschiedlicher Generationen und Gruppierungen, um gemeinsam und schweigend durch das Viertel bis zur ehemaligen Wohnung der Familie Mattei zu gehen. Vor dem Haus werden Blumen abgelegt und der presente zelebriert.182 Im Jahr 2015 lernte ich bei dieser Erinnerungszeremonie Antonella, eine Schwester der Toten kennen. Ihr 16-jähriger Sohn ging dem Zug der Erinnernden voran und legte die ersten Blumen an der Gedenkstelle vor dem Haus nieder. Abbildung 2.3: 16. April 2015, Plakatierung in der Nähe der ehemaligen Wohnung der Familie Mattei
Quelle: Lene Faust Der familiäre Raum und damit auch die familiäre politische Identität waren existenziell prägend für die meisten Kinder, die zwingend mit dem politischen Erbe der Eltern umgehen mussten. Es lässt sich daher von einer engen Verflechtung des familiären mit dem sozialen und politischen Raum sprechen und von überlappenden Grenzen dieser Räume. Vor dem Hintergrund der Verflechtung dieser Räume stellt sich die Frage, wie frei die politische Positionierung vieler Jugendlicher war. Vor allem in der stark politisierten Zeit der anni di piombo war politische Zugehörigkeit entscheidend für die Entwicklung einer sozialen Identität, für tatsächliche Chancen und Möglichkeiten der heranwachsenden Generation.
182
Vgl. Kapitel 2.4.3.
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2.4.2 Politik an der Grenze zur Gewalt und das Erbe der anni di piombo Das von vielen Nachkriegsfaschisten geteilte Gefühl einer ungerechten Stigmatisierung durch die Gesellschaft, das seinen Ursprung in der Erfahrung der Generation der RSI-Veteranen als Kriegsverlierer und in deren Selbstverständnis als marginalisierte Gruppe in der antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft hat, wurde während der anni di piombo intensiviert. In der Wahrnehmung vieler neofaschistischer Aktivisten dieser Zeit verlor der italienische Staat als ordnende Institution in diesen Jahren drastisch an Glaubwürdigkeit. Das aus ihrer Perspektive mangelnde Engagement von Staat und Justizapparat hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung der von linken Gruppierungen verübten Gewalttaten gegen Faschisten vermehrte die Wut und förderte Initiativen, sich selbst mit (Waffen-)Gewalt zu verteidigen. In der aufgeheizten politischen Situation dieser Jahre wurde die Lage durch zahlreiche (Rache-)Aktionen gegen politische Gegner sowie Gewalt gegen die Ordnungskräfte des Staates weiter verschärft. Vor allem Rom als Hauptstadt war einer der Brennpunkte im Land, da dort die Wellen der Gewalt besonders hoch schlugen.183 Es sei während der anni di piombo um nicht weniger als das eigene Überleben gegangen, erzählten ehemalige Aktivisten der zweiten Generation immer wieder. Gianluca M. beschrieb die 1970er-Jahre als anni brutti [schlimme Jahre]. Am gefährlichsten sei der Eintritt in außerparlamentarische Gruppierungen gewesen, daher habe er dies vermieden, obwohl die Versuchung groß gewesen sei. Stattdessen sei er in die Jugendorganisation des MSI Fronte della Gioventù eingetreten: La tentazione ogni tanto è stata forte perché vedevi ragazzi ammazzati, vedevi che questi uccisioni non solo non venivano condannate ma addirittura questi uccisi venivano denigrati. Veniva detto che quasi quasi la morte se lo erano cercati perché erano violenti...cose che non erano assolutamente vero in molti casi perché proprio gente uccisa al freddo. Si avvicinavano con la macchina e gli sparavano, poi andavano via. [Die Versuchung war manchmal wirklich groß, weil du ermordete Jugendliche sahst, du sahst, dass diese Tötungen nicht nur nicht verurteilt wurden, sondern stattdessen die Getöteten sogar erniedrigt wurden. Es wurde sogar gesagt, dass sie ihren Tod selbst provoziert hätten, weil sie gewalttätig gewesen seien…Dinge, die überhaupt nicht stimmten in vielen Fällen, da diese Personen einfach kaltblütig ermordet wurden. Sie kamen mit dem Auto und erschossen sie, dann fuhren sie weg.]
183
Vgl. Kapitel 2.2.1.
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Die Gefahr, der man sich als politischer Aktivist während der anni di piombo aussetzte, wurde immer wieder thematisiert. Auch Roberto S. war Mitglied im Fronte della Gioventù gewesen, jedoch nach kurzer Zeit in eine außerparlamentarische Organisation gewechselt. Straßenkämpfe und gewalttätige Zusammenstöße mit politischen Gegnern hätten zum Alltag gehört. Er selbst sei bei einem Zusammenstoß mit linken Aktivisten schwer verletzt worden und habe nur knapp überlebt. Seine Jugend in diesen Jahren beschrieb er als eine Zeit der totalen Unsicherheit und Gewalt, Selbstverteidigung als Notwendigkeit: Da un punto di vista formale c’era un governo, uno stato che funzionava, uno stato democratico che aveva le sue leggi. Poi in realtà avvenivano episodi di sangue, uccisioni…gente…ragazzi che erano costretti di abbandonare la scuola, perché venivano cacciati perché erano di destra. E nessuno provvedeva. Le istituzioni erano solidali con i violenti, con i persecutori piuttosto che con il perseguitato…polizia, giornali…tu capisci che una situazione del genere è paradossale perché non c’era una guerra aperta. Poi si faceva la vita di tutti i giorni. Poi in realtà tu uscivi di casa e se trovavi cinque che ti aggredivano con colpi di chiave inglese e ti spaccavano la testa eri morto…andava avanti così. Poi ci stanno delle forme di reazione. Ti scatta dentro un meccanismo, se questo è il sistema, a questo punto allora mi armo anch’io e vediamo. [Formal gab es eine Regierung, einen funktionierenden Staat, einen demokratischen Staat, der seine Gesetze hatte. Aber in Wahrheit gab es blutige Zwischenfälle, Morde…Personen…Jugendliche, die die Schule verlassen mussten, die hinausgeworfen wurden, weil sie rechts waren. Und niemand hat sich um sie gekümmert. Die Institutionen waren solidarisch mit den Gewalttätigen, mit den Verfolgern statt mit den Verfolgten…Polizei, Zeitungen…du verstehst, dass eine solche Situation paradox ist, weil es keinen offenen Krieg gab. Und dann lebt man den täglichen Alltag. Aber in Wahrheit gingst du aus dem Haus und wenn du dann auf fünf Personen trafst, die dich mit Schraubenschlüsseln angriffen und dir den Kopf zertrümmerten, dann warst du tot…so ging es immer weiter. Und dann gibt es Reaktionsformen. In dir gibt es einen Mechanismus: wenn das das System ist, an diesem Punkt bewaffne ich mich auch und dann sehen wir weiter.]
In den außerparlamentarischen neofaschistischen Organisationen verstand man sich als politische Kämpfer, gewalttätige Auseinandersetzung mit politischen Gegnern und Ordnungskräften waren an der Tagesordnung. Das gemeinsame Aufbegehren gegen einen als schwach wahrgenommenen Staat führte zu starken Bindungen innerhalb des faschistischen Netzwerkes. Gemeinsame Gewaltausübung, aber auch gemeinsam begangene Straftaten verstärkten diese. Das Narrativ von der Minderheit, die heroisch gegen einen Feind kämpft, zeigt sich auch in neofa-
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schistischen Slogans dieser Jahre, wie beispielsweise dieci contro cento [zehn gegen hundert]. Der Slogan bezog sich auf die Situation im Kampf gegen einen aus der Perspektive der Faschisten zahlenmäßig überlegenen politischen Gegner. Verteidigung, Sicherung und im besten Falle Erweiterung des jeweils kontrollierten politischen Territoriums erforderte strategische Verteidigungstaktiken unter Gewaltanwendung, da sich die Faschisten meist in der Minderheit befanden, wie mir ein ehemaliges Mitglied der außerparlamentarischen Organisation Terza Posizione berichtete: Nel Trieste-Salario l’equilibrio di forze era quantomeno alla pari. Questo è importante, normalmente non era così. Il rapporto di forze a noi favorevole era uno a quattro, quindi essere alla pari significava dominare fondamentalmente. [Im Trieste-Salario war das Gleichgewicht der Kräfte ungefähr ausgewogen. Das ist wichtig, normalerweise war das nicht so. Das für uns günstige Kräfteverhältnis war eins zu vier, gleichauf zu sein bedeutete daher, die Lage im Wesentlichen zu dominieren.]
Wer politisch aktiv war, begab sich in Gefahr und nicht nur die Mitglieder dezidiert terroristischer Organisationen wie der Nuclei Armati Rivoluzionari (NAR) trugen Waffen. Einer meiner Informanten erzählte mir, er habe seine Pistole Anfang der 1980er-Jahre im Tiber versenkt, nachdem sich die Situation in Italien nach dem Anschlag von Bologna und der Auflösung der meisten neofaschistischen Organisationen entspannt habe. Das Selbstbild vieler politischer Aktivisten während der anni di piombo ist das des politischen Kämpfers. Der Mythos des Kriegers, der den Tod nicht fürchtet, sondern diesen zu seinem Begleiter macht und mutig gegen den Gegner kämpft, auch wenn es das eigene Leben kosten sollte, ist sinnstiftend für viele. Das Individuum tritt in der Philosophie des selbstlosen Kriegers vor dem Kollektiv in den Hintergrund. Trotz der kritischen Auseinandersetzung mit der Generation ihrer Väter bzw. der RSI-Veteranen und dem gleichzeitigen Versuch, sich von ihnen zu distanzieren und abzugrenzen, entspricht dieses Selbstbild im Kern dem der RSIVeteranen. Ein ehrenvoller Mann im Sinne des faschistischen Ethos ist ein Mann der kämpft. Vorbilder sind beispielsweise Ernst Jünger184 oder Samurai Kämpfer. Ein ehemaliges Mitglied der außerparlamentarischen Organisation Terza Posizione berichtete mir von der Orientierung vieler faschistischer Aktivisten an der japanischen Kriegerkultur der Samurai. Ihr Selbstbild als Krieger beschrieb er als:
184
Siehe auch Kapitel 2.1.4.
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anarchico-zen, una specie di samurai senza padrone, un guerriero. Ci ispirava la cultura giapponese: tutta la parte del guerriero che ti abitua a considerare alla morte una compagna del viaggio. [Zen-Anarchist, eine Art Samurai ohne Herrn, ein Krieger. Uns inspirierte die japanische Kultur: der Wesenszug des Kriegers, der dich daran gewöhnt, den Tod als einen Begleiter auf der Reise zu betrachten.]
Das Bild eines Kriegers ohne Herrn sagt viel aus über das Selbstverständnis dieser jungen Männer, die auch versuchten, ihre Unsicherheiten und ihre Heimatlosigkeit im Staat mit politischem Engagement zu kompensieren. Die Orientierung an der japanischen Kultur in der zweiten Generation des Nachkriegsfaschismus geht maßgeblich auf das militärische Achsenbündnis zwischen Deutschland, Italien und Japan zurück.185 Die verstärkte Ausrichtung dieser Generation auf den deutschen Nationalsozialismus sowie die Bewunderung für die deutsche SS in der zweiten Generation impliziert ebenfalls einen starken Rückbezug auf die japanische Kriegerkultur.186 Das Krieger-Dasein, die Verbrüderung sowie die ständige Gefahr machten den politischen Aktivismus für viele, die sich nach 1945 zum faschistischen Lager hingezogen fühlten, zusätzlich attraktiv. Die Aktivisten der anni di piombo sahen sich, wie schon die Generation ihrer Väter, als Helden im Kampf gegen Antifaschismus und Kommunismus. Die politischen Toten der anni di piombo wurden zu Märtyrern stilisiert, der Mythos des Märtyrers von einer Generation zur anderen weitergereicht. Kampferfahrung wurde so zu einem Kriterium für Zugehörigkeit, Kampf- bzw. Gewalterfahrung eine Form des Initiationsritus.
185
Zu den Deutsch-japanische Kulturbeziehungen in den Jahren 1933-1945 sowie den Gemeinsamkeiten zwischen SS und Samurai vgl. Bieber (2014).
186
Ein Beispiel für eine zentrale Figur ist im Kontext des Bezugs auf die japanische Kriegerkultur ist Harukichi Shimoi, ein japanischer Dichter und Schriftsteller, der nach Italien kam, um sich mit italienischer Literatur zu beschäftigen. Während des Ersten Weltkrieges kämpfte er freiwillig im italienischen Heer, später vermittelte er Botschaften zwischen Gabriele D’Annunzio, den er in den Schützengräben des Ersten Weltkrieg kennengelernt hatte, und Benito Mussolini. Er war bei der Eroberung der Stadt Fiume dabei und D’Annunzio verlieh ihm den Namen camerata Samurai. Noch heute ist er eine zentrale Figur für den Nachkriegsfaschismus. Siehe dazu auch den Artikel auf der Homepage von Raido, einem faschistischen Kulturverein: www.azionetradizionale.com/2014/05/13/camerata-e-samurai/ [15.8.2020].
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Nach dem Ende der anni di piombo, als der Staat nach dem Anschlag von Bologna 1980 mit einer großen Verhaftungswelle die meisten außerparlamentarischen Gruppierungen auflöste, nahm die politische Gewalt stark ab. Trotzdem gab es bis in die 1990er-Jahre hinein immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Gruppierungen in Rom.187 Zur Zeit meiner Feldforschung hatte sich die Anzahl solcher Konflikte bereits stark reduziert und tendenziell in die peripheren Bezirke der Stadt verlagert.188 Am 23. März 2012 beispielsweise kam es im Stadtteil Tiburtina zu einem gewaltsamen Zusammenstoß, als sich Mitglieder des linken Zentrums Centro Sociale Maggazzini Popolari mit Mitgliedern des Circolo futurista, einer Sektion der neofaschistischen Organisation CasaPound Italia, Straßenkämpfe lieferten, die die Polizei gewaltsam beendete und die in der Folge vor allem in diesem Stadtteil zu starken Spannungen führten.189 2.4.3 Faschistische Erinnerungskultur als politische Praxis Das faschistische Erinnerungsjahr Fester Bestandteil der politischen Praxis des Nachkriegsfaschismus ist die Erinnerungskultur und das Gedenken an die Toten. Das ganze Jahr über treffen sich verschiedene politische Gruppierungen und Parteien, Veteranenverbände und Kulturvereine verschiedener Generationen, Familien und Freundesgruppen zu Erinnerungszeremonien. Dies geschieht in der Regel im öffentlichen Raum und ist daher immer auch ein politisches Statement und Aushandlungsprozess der Grenzen in der Gesellschaft, da bei all diesen Gelegenheiten auch verbotene faschistische Gesten und Symbolik benutzt werden. Der Erinnerungsakt selbst wird damit zu einer räumlichen und körperlichen Performance190 der eigenen (politischen) Identität, die die Grenzen der Legalität häufig übertritt.
187
Siehe dazu auch Herzfeld über »Fascist gang fighters, brigatisti neri« (Herzfeld 2009: 20) im römischen Stadtteil Monti.
188
Zum Prozess der Gentrifizierung der Stadt Rom, der auch die politische Landschaft der Stadt veränderte, siehe Herzfeld (2009).
189
http://roma.repubblica.it/cronaca/2012/03/24/news/scontri_a_casal_bertone_immagini_al_vaglio_della_digos-32128202/ [15.8.2020]
190
Körperpraktiken sind ein zentraler Bestandteil von Erinnerungskultur (vgl. Climo/ Teski 1995: 17-19).
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 121
Einige Zeremonien im faschistischen Erinnerungsjahr erinnern an bedeutende Ereignisse des ventennio fascista. Die wichtigsten historischen Gedenktage,191 an denen die faschistische Nachkriegsszene generationenübergreifend teilnimmt, sind: 28. Oktober (1922): Marcia su Roma [Marsch auf Rom] Der sogenannte Marsch auf Rom steht sinnbildlich für die Machtübernahme Mussolinis. Er wird mit verschiedenen großen Zusammenkünften und gemeinsamem Essen gefeiert. 10. Januar: giorno del ricordo [Tag der Erinnerung] (seit 2004) Am Tag des Gedenkens an die Foibe192 wird der Massaker an italienischen Faschisten nach Kriegsende in den norditalienischen Karsthöhlen durch Jugoslawische Partisanen gedacht sowie der Vertreibung der italienischen Bevölkerung aus Istrien, Dalmatien und Fiume. Die Einrichtung des nationalen Gedenktages geht auf eine Initiative der an der Regierung Berlusconi beteiligten rechtsextremen Partei Alleanza Nazionale (AN) zurück; im Zuge der revisionistischen Erinnerungspolitik sollte ein Gegengewicht zum 25. April als Nationalfeiertag der Befreiung vom faschistischen Regime sowie der deutschen Besatzer geschaffen werden.193 Der 10. Januar ist der jüngste Gedenktag in der italienischen Geschichte, seine gesetzliche Verankerung194 wurde von den rechtsextremen Parteien als großer Erfolg gewertet. 19. Januar (1944): Schlacht bei Anzio/Nettuno Landung der Alliierten Truppen südlich von Rom bei Anzio/Nettuno, Erinnerungszeremonie für die Gefallenen der RSI auf dem Friedhof Campo della Memoria, wo in erster Linie die dort gefallenen Soldaten der RSI bestattet sind.195
191
Die Gedenktage, die von Herbst bis zum Frühjahr stattfinden und den Sommer auslassen, wirken wie ein Gegenprogramm zum Sommer, der Hitze und den religiösen Festen im Juli und August.
192
Als foibe werden die Karsthöhlen in Istrien bezeichnet, in denen während und nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Opfer der Massaker geworfen wurden, welche von jugoslawischen Partisanen an der italienischen Bevölkerung verübt wurden, vgl. Cristin (2007).
193
Vgl. Mattioli 2010: 134/ 135.
194
Gesetz
vom
30.
[15.8.2020]. 195
Vgl. Kapitel 4.1.2.
März
2004,
vgl.
www.camera.it/parlam/leggi/04092l.htm
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25. April (1945): Ende des Zweiten Weltkriegs Das Kriegsende wird mit einer Messe für die Toten begangen. In Rom trifft sich das faschistische ambiente bereits seit Kriegsende zu diesem Anlass. 28. April (1945): Tod Mussolinis Der Tod Mussolinis wird in ganz Italien mit Totenmessen erinnert. Neben den großen Erinnerungszeremonien gedenken einzelne Veteranenverbände ihrer gefallenen Kameraden. Gabriele S., RSI-Veteran der Eliteeinheit der Marine Decima Flottiglia Mas, der auch eine der Totenmessen für Mussolini in Rom organisierte, sagte über die Bedeutung des Gedenkens an die gefallenen Soldaten aus seiner eigenen Truppe: Noi reduci di questo reparto siamo rimasti sempre molto uniti. Quindi nel dopoguerra. Il 25 giugno del 1944 fu il primo scontro, agguato, dove morirono i primi nove. I primi nove morti, tanti, tanti feriti, anche il nostro tenente, poi sono morti tanti altri in Piemonte, in Liguria, va bene. Ma i primi morti sono stati quelli. E da allora, dal dopoguerra, ogni 25 giugno le sette della mattina ci si riuniva in una chiesa. Si andava alla messa in memoria dei nostri morti. Questo l’abbiamo sempre fatto. Ormai siamo rimasti in 15, dei 170 che eravamo. [Wir Veteranen dieser Abteilung sind immer sehr miteinander verbunden geblieben. Also in der Nachkriegszeit. Am 25. Juni 1944 hatten wir das erste Gefecht, es war ein Hinterhalt, bei dem die ersten neun starben. Die ersten neun Toten, viele, viele Verletzte, auch unser Oberstleutnant, danach starben viele andere im Piemont, in Ligurien, okay. Aber die ersten Toten waren diese. Und seitdem, seit Ende des Krieges, trafen wir uns immer am 25. Juni um sieben Uhr morgens in einer Kirche. Wir gingen zur Messe in Erinnerung an unsere Toten. Das haben wir immer getan. Mittlerweile sind es noch 15 von den 170, die wir einmal waren.]
Das Gedenken an die gefallenen Kameraden verband viele Truppeneinheiten über das Kriegsende hinaus. Diese Veteranen generierten und pflegten gemeinsame Erinnerung an den Krieg und die Toten als (politischen) Kult und hüteten ihre (Kriegs-)Geheimnisse in männerbündischen Netzwerken.196 Die Erinnerungsgemeinschaften der Veteranen sind Grundlage der faschistischen Erinnerungskultur und tragend für die neofaschistische Politik seit 1945.197
196
Vgl. Lipp 1990: 38.
197
Männerbünde wurden häufig zum Motor revolutionärer politischer Bewegungen: »Erst Opferbereitschaft, die Bereitschaft zum Selbstopfer führt dazu, die Trägheit der
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Im Jahr 2003 wurde von der an der Regierung unter Berlusconi beteiligten Alleanza Nazionale ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Soldaten der RSI den Kämpfern der italienischen Widerstandsbewegung [Resistenza] formal gleichstellen sollte, um das Gedenken an die RSI-Veteranen gesetzlich zu legitimieren.198 Begründet wurde der Entwurf mit dem Ziel der nationalen Befriedung und Aussöhnung Italiens. Kurz vor den Parlamentswahlen im Jahr 2006 wurde er jedoch unter großem Protest wieder zurückgezogen.199 Der Totenkult der ersten Generation der Nachkriegsfaschisten wurde von den nachfolgenden Generationen übernommen, was eine Kontinuität der Erinnerungskultur bis heute garantiert – auch, wenn sich die Zeremonien und die Teilnehmer über die Jahre verändert haben. Der politische Raum als Erinnerungsraum hat seit den anni di piombo mit den politischen Toten jener Jahre eine weitere Bedeutungsebene erhalten. Weitere Orte innerhalb des neofaschistischen Territoriums sind zu Erinnerungsorten für politische Märtyrer geworden, der eigene Raum als Erinnerungsraum hat weiter an Bedeutung gewonnen. Dies zeigt sich auch in der Neu- oder Wiedereinrichtung von Sektionen und außerparlamentarischen Gruppierungen in der dritten Generation der faschistischen Nachkriegsszene, die vermehrt an die Orte der Ermordung der politischen Toten der anni di piombo geknüpft sind. Für die zweite Generation wird das Jahr daher zusätzlich durch die Gedenktage für diese Toten strukturiert. Die wichtigsten Toten der anni di piombo in Rom, die bis heute alljährlich erinnert werden, sind: 28. Dezember 1977: Angelo Pistolesi Angelo Pistolesi (*1946), Mitglied im Movimento Sociale Italiano. Vor der Tür zu seiner Wohnung im Stadtteil Portuense erschossen.
Verhältnisse zu durchbrechen, das Publikum zu ›fraternisieren‹ – radikal zu ›verschwestern‹ also – und anstehenden sozialen Projekten den nötigen, revolutionären Schwung zu geben.« (Lipp 1990: 40). 198
Vgl. dazu Giorgio Bocca in der Tageszeitung La Repubblica: http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/2005/02/18/salo-la-riabilitazione-impossibile.html [15.8.2020].
199
Ein zweiter Versuch fand 2008 statt, wurde jedoch 2009 ebenfalls zurückgezogen. Grund dafür waren Proteste der Zivilbevölkerung und der Partisanenverbände (vgl. Mattioli 2010: 136/ 137).
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7. Januar 1978: Strage di Acca Larentia [Attentat von Acca Larentia] Franco Bigonzetti (*1958) und Francesco Ciavatta (*1959), Mitglieder des Fronte della Gioventù, erschossen bei einem Anschlag auf die Sektion des MSI Acca Larentia im Stadtteil Tuscolano. Bei den spontanen Demonstrationen gegen die Morde am selben Abend erschoss der Carabiniere Eduardo Sivori, laut seiner eigenen Aussage aus Notwehr, Stefano Ricchioni (*1958), ebenfalls Mitglied der Sektion. 9. Februar 1983: Paolo di Nella Paolo di Nella (*1963), Mitglied im Fronte della Gioventù im Stadtteil SalarioTrieste. Tödlich verletzt, als er im Stadtteil Salario-Trieste Plakate anbrachte. 28. Februar 1975: Mikis Mantakas Mikis Mantakas (*1952), Student aus Griechenland, Mitglied des Fronte universitario d’azione nazionale. Erschossen vor der Sektion des MSI in der Via Ottaviano, Stadtteil Prati. 12. März 1980: Angelo Mancia Angelo Mancia (*1953), Sekretär der Sektion des Movimento Sociale Italiano im Stadtteil Talenti. Erschossen, als er morgens seine Wohnung verließ. 16. April 1973: Rogo di Primavalle, Virgilio e Stefano Mattei Virgilio Mattei (*1951) und Stefano Mattei (*1963), Söhne von Mario Mattei, Leiter des Movimento Sociale Italiano der Sektion Primavalle. Bei einem Brandanschlag auf die Wohnung der Familie im Stadtteil Primavalle verbrannt. 16. Juni 1979: Francesco Maria Cecchin Francesco M. Cecchin (*1961), Mitglied im Fronte della Gioventù, Stadtteil Salario-Trieste. In einem Hinterhof an der Piazza Vescovio angegriffen und tödlich verletzt. 29. Oktober 1975: Mario Zicchieri Mario Zicchieri (*1958), Mitglied im Fronte della Gioventù, Stadtteil Prenestino. Vor der Sektion des MSI im Stadtteil Prenestino erschossen. Im Gegensatz zu den RSI-Veteranen, die ihrer toten Kameraden gemeinsam mit der jeweiligen Truppeneinheit gedenken, gedenkt der Toten der anni di piombo eine ganze Generation politischer Aktivisten. Dis liegt vor allem darin begründet, dass die politischen Gruppierungen dieser Jahre seit ihrer Auflösung 1980 nicht
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mehr existieren.200 Die nachfolgende dritte Generation, die keine eigenen Toten zu betrauern hat, hat sich der bestehenden Gedenkkultur angeschlossen. Einige politische Gruppierungen fühlen sich dabei bestimmten Toten des Nachkriegsfaschismus mehr verbunden als anderen, wie beispielsweise Forza Nuova, die bis 2014 in ihrer Sektion an der Piazza Vescovio das Gedenken an Francesco Maria Cecchin koordinierte, oder das Movimento Sociale Europeo, das in ihrer Sektion in der Via Ottaviano das Andenken an Mikis Mantakas verwaltet. Il presente: Gedenken als körperliche und politische Praxis Der Ritus des Totenkultes im Nachkriegsfaschismus wird il presente genannt. Es handelt sich dabei ursprünglich um ein militärisches Ritual aus dem Ersten Weltkrieg. Beim Appell nach der Schlacht, dem sogenannten rito d’appello [Anwesenheitsritus], wurden die Soldaten einzeln bei ihren Namen gerufen, um zu sehen, wer am Leben geblieben war. Sie antworteten jeweils mit presente [anwesend]. War ein Soldat in der Schlacht gefallen, antworteten alle gemeinsam an seiner Stelle. Dieses Militärritual steht in Zusammenhang mit der Veränderung der Kriegsführung und dem Einsatz neu entwickelter, schwerer Feuerwaffen im Ersten Weltkrieg. Die Ausbildung von Kriegern und Soldaten beinhaltet seit jeher Techniken der körperlichen Disziplin. Die mechanisierte Kriegsführung erforderte nun auch eine Mechanisierung der soldatischen Ordnung in Form körperlicher Disziplin und Techniken der Erstarrung – nicht zuletzt, um die Soldaten vor dem Hintergrund eines erhöhten Maßes an Traumatisierungen in einem immer stärker mechanisierten Krieg unter Kontrolle zu halten. Sichtbar wird eine Übersetzung dieser soldatischen Praktiken der Erstarrung auch in Kriegsdenkmälern und Monumenten, die nach dem Ersten Weltkrieg überall in Italien entstanden und die in ihrer monumentalen Architektur mit ihrer systematisch linearen Anordnung der Gräber auch Ordnung, Disziplin und Erstarrung widerspiegeln, wie beispielsweise die Militärgedenkstätten Monte Grappa oder Redipuglia.201 Die ersten faschistischen Zusammenschlüsse mit Kampfbundcharakter nach Ende des Ersten Weltkrieges, die sogenannten squadristi, übernahmen den Ritus des presente aus dem militärischen Alltag. Während des faschistischen Regimes gewann das Appell-Ritual im Kontext der intensiv propagierten Helden- und Märtyrerverehrung an Bedeutung und wurde zum faschistischen Ritual par excellence.202 Es symbolisierte als fester Bestandteil der faschistischen Liturgie
200
Siehe Kapitel 2.2.1.
201
Eine ausführlichere Beschreibung der Gedenkstätten für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Italien findet sich in Kapitel 4.1.1.
202
Vgl. Gentile 1993: 48.
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das als heilig erachtete Band zwischen den Lebenden und den Toten.203 Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist der presente fester Bestandteil des neofaschistischen Totenkultes. Als ursprünglich militärisches Appellritual beinhaltet das presente-Ritual Elemente militärischer Praktiken wie Durchzählen, Namensaufrufen, Präsentiert-dasGewehr – die Soldaten stellen sich darin im wahren Sinne des Wortes dem Feind, den Waffen, dem Schrecken des Krieges und dem Tod. Das Ritual folgt einer festen Choreographie: Der Leiter der Zeremonie ruft sugli attenti! [Achtung!], die Anwesenden formieren sich daraufhin und nehmen eine strenge militärische Haltung ein, die Hände werden in der Regel auf dem Rücken gefasst, die Brust herausund die Beine durchgestreckt. Der Leiter, der dem Kollektiv gegenübersteht, ruft drei Mal nacheinander die Namen der Toten, die es zu erinnern gilt. Die Anwesenden antworten dann jedes Mal mit presente! [anwesend!] und strecken dabei den rechten Arm zum faschistischen Gruß, dem saluto romano, steil nach oben. Aus dem Kriegsalltag entlehnt, verwandelt der presente seine Teilnehmer in Soldaten: Der Körper nimmt militärische Haltung ein, man steht stramm, es herrscht militärische Disziplin. Mit dem Einnehmen dieser soldatischen Haltung geht eine Verwandlung des Kollektivs einher – eine unordentliche piazza [Platz] voller Menschen formiert sich zu einer Truppe, körperliche Einheit verwischt die Grenzen zwischen den Individuen. Es entsteht gewissermaßen ein einziger Körper, der sich in der gemeinsamen Erinnerung an die Toten kampfbereit aufstellt. McNeill betont die Bedeutung rhythmischer, körperlicher Praktiken für Mechanismen der Konsolidierung von Zugehörigkeit in Gruppen. Gemeinsame körperliche Bewegung ist nach McNeill in der Lage, auch über bestehende Differenzen zwischen Personen hinweg Zugehörigkeit zu generieren: »An important feature of emotional bonding through rhythmic muscular movement is that it affects those who take part in it more or less independently of how they may have been connected (or divided) by prior experience.« (McNeill 1995: 52) In dieser körperlich praktizierten, spannungsvollen Gemeinsamkeit, die Identität schafft und Zugehörigkeit garantiert, werden die Toten erinnert; zugleich kanalisiert das Ritual Emotionen und ist ein Ventil für Trauer um die Toten. Der presente ist Bestandteil jeder Beerdigung, Gedenkfeier oder Erinnerungszeremonie, Höhepunkt bei den Totenmessen zu Ehren der gefallenen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg sowie der politischen Toten der anni di piombo. Das Gedenken ist als körperliche und politische Praxis rituelle Grundlage der Gemeinschaft, die Teilnahme am presente kleinster gemeinsamer Nenner von Identität und Zugehö-
203
Vgl. Gentile 1993: 47/ 48 und 117/ 118.
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rigkeit. Im jährlichen Rhythmus des Totengedenkens bezieht man sich auf die Toten, die als Märtyrer verehrt werden, wodurch sich unterschiedliche Generationen und teilweise konträr orientierte Gruppierungen des Nachkriegsfaschismus immer wieder miteinander verbinden. Ciro D. aus der zweiten Generation betonte, dass ihm der presente als Sohn eines RSI-Veteranen seit seiner Kindheit vertraut gewesen sei. Mit 13 Jahren habe er begonnen, sich für Politik zu interessieren, die anni di piombo habe er aus der Perspektive eines Mitglieds einer außerparlamentarischen Organisation erlebt. Als besonders eindrücklich sei ihm die Beerdigung seines Vaters in Erinnerung geblieben. Zu dieser seien zahlreiche ehemalige Kameraden seines Vaters sowie andere Mitglieder des faschistischen ambiente gekommen. Der presente zu Ehren seines Vaters sei groß, gewaltig und laut gewesen, erinnerte er sich. Die Verbundenheit zwischen den RSI-Veteranen und die Achtung für seinen Vater seien in diesem Augenblick deutlich spürbar gewesen. Den presente bezeichnete er als einzig religiöse Zeremonie des Nachkriegsfaschismus: Noi abbiamo sempre avuto una cerimonia che è l’unica vera cerimonia religiosa del nostro ambiente, il presente. Chiaramente tutti gli altri dicono sono riti lugubri, funebri, sono riti tristi, che non è così invece. Perché il presente è qualcosa che è nata nella Prima guerra mondiale. Al ritorno dell’assalto l’ufficiale faceva l’appello per vedere quelli del battaglione che erano tornati, chiamava e si rispondeva presente, presente. Quando non rispondeva uno perché era morto, tutti insieme gli davano il presente, caricandosi sulle spalle pure la vita sua. E questo è. Quindi è tutt’altro che un semplice ricordare oppure pensare al passato. È invece un perpetuare cioè un continuare la vita e l’impegno di quel ragazzo. [Wir haben immer eine Zeremonie gehabt, die die einzig wahre religiöse Zeremonie unseres ambiente ist, den presente. Natürlich sagen die anderen, dass es schaurige, düstere Riten sind, traurige Riten, aber das stimmt nicht. Denn der presente ist etwas, das am Ende des Ersten Weltkrieges entstanden ist. Nach einem Angriff machte der Offizier den Appell, um zu sehen, wer aus dem Bataillon zurückgekehrt war, er rief und man antwortete anwesend, anwesend. Wenn einer nicht antwortete, weil er tot war, erwiesen ihm die anderen gemeinsam die Ehre des presente, indem sie sich auch sein Leben auf die Schultern luden. Und das ist alles. Es ist also alles andere als ein einfaches Erinnern oder Denken an die Vergangenheit. Stattdessen ist es ein Verewigen, d.h. ein Weiterführen des Lebens und des Engagements dieses (toten) Jungen.]
Die politische Praxis des Totengedenkens wird als zentraler, sakraler Akt empfunden, der die Gemeinschaft der Nachkriegsfaschisten im Kern zusammenhält und
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eine Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten schafft. Einer meiner Informanten, der während der anni di piombo in der außerparlamentarischen Gruppierung Terza Posizione aktiv gewesen war, sagte einmal über seine Bedeutung: È un momento sacro, non è un momento politico, non è un momento memoriale, il presente. [Es ist ein heiliger Moment, der presente, kein politischer Moment, kein Moment des Gedenkens.]
Von den Mitgliedern des faschistischen ambiente wird der presente damit gewissermaßen über die Politik erhoben. Die Verbindung mit den Toten im Ritual wird als sinnstiftend empfunden, man lädt sich das Leben der Toten, der Märtyrer auf die Schultern, die Sinn geben für die Zukunft und zugleich eine Verbindung ins Jenseits ermöglichen. Der sakrale Moment legitimiert politische Aktion und politische Zukunftsvisionen auch durch die Verbindung mit dem Transzendenten. Auf der körperlichen Ebene vereint das Ritual militärischen Drill und faschistische, politische Körperpraktiken, es entsteht ein Totenkult mit politischer Aussage. Die Faschisten haben nach 1945 so die Militärgeschichte des Landes und die zugehörigen Rituale für sich reklamiert, so, wie es bereits Mussolini nach dem Ersten Weltkrieg getan hat. Im Gegensatz zur deutschen SS, die als militärische Parallelstruktur zur Wehrmacht konzipiert war, schuf Mussolini nie eine Konkurrenz zum Militär, das aufgrund seiner realistischen Einschätzung der Kriegslage für die italienischen Truppen 1943 maßgeblich für seine Absetzung verantwortlich war. Indem durch das presente-Ritual ein positiver Rückbezug auf das Militär zelebriert wird, wird auch das militärische Scheitern Mussolinis überdeckt. Die Nachkriegsfaschisten versuchen seit 1945, die militärische Erinnerungskultur der Nation zu besetzen, was auch als eine Form der eigenen Rehabilitierung im Zuge der Niederlage verstanden werden kann. In einer Subkultur, die nach Erfolgsgeschichten hungert, haben die Toten zentrale Bedeutung. Den Lebenden wird dadurch die Anbindung an einen jenseitigen Referenzrahmen gefallener Helden ermöglicht, die den irdischen Misserfolg durch Heldentum und Vorstellungen von einer glorreichen Vergangenheit ausgleichen. Der Kern des presente beinhaltet auch die Bitte um den Segen dieser Toten, der essentiell ist: Der Segen für die Gemeinschaft kommt im Ritual des Totenkults von den Toten auf die Lebenden, er trifft auf die unruhige Mitte der Lebenden, die die Toten beständig suchen bzw. sich auf sie beziehen und daher nicht zur Ruhe kommen.204
204
Vgl. Kapitel 4.3.1.
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Gedenken an die Toten der I. Generation: Campo della Memoria * Bei der jährlichen Gedenkfeier für die gefallenen Soldaten der RSI auf dem Campo della Memoria am 19. Januar, wird an die Kämpfe erinnert, die nach der Landung der alliierten Truppen am 19. Januar 1944 bei Anzio und Nettuno im Süden Roms gegen die Truppen der RSI geführt wurden. Der kleine Friedhof hinter den Betonmauern liegt im Regen, als ich im Januar 2013 mit Stefano D. und zwei jüngeren Männern einer neofaschistischen Organisation am Campo della memoria eintreffe. Stefano D. hilft immer wieder bei der Organisation von Gedenkzeremonien, die hier stattfinden. Der Friedhof und die Toten bedeuten ihm viel. Die Anwesenden stehen bereits in kleinen Grüppchen unter Regenschirmen zusammen. Die wenigen Polizisten, Carabinieri und auch Vertreter des Militärs (als offizielle Abordnung vom militärischen Kommando in Anzio zu repräsentativen und Sicherheitszwecken, wie man mir erklärt) wirken in ihren Uniformen seltsam fremd zwischen den Teilnehmern, einer bunten Mischung unterschiedlicher Generationen und Gruppierungen. Im Hintergrund schallt das Lied Facetta nera, italienisch für »schwarzes Gesichtchen«, aus den Lautsprechern. Es handelt sich dabei um ein 1935 anlässlich des Kolonialkrieges in Äthiopien komponiertes Marschlied, das oft bei Erinnerungszeremonien gespielt oder in den Restaurants beim anschließenden, traditionellen Essen gesungen wird. Das Lied ist einem äthiopischen Waisenmädchen gewidmet, der Komponist soll durch eine Begebenheit im italienischen Äthiopienkrieg zu dieser Komposition inspiriert worden sein. Angeblich wurde nach der Schlacht bei Amba Aradam, in der die italienische Armee u.a. Giftgas gegen die Zivilbevölkerung einsetzte und Massenerschießungen durchführte,206 ein Mädchen von italienischen Soldaten gerettet. Es wurde daraufhin in die Stadt Asmara zu Nonnen gebracht. Man taufte sie auf den Namen Maria Vittoria Aradam, um an den Sieg der Italiener in dieser Schlacht zu erinnern. Das Lied beschreibt das Mädchen als schöne Äthiopierin mit einem schwarzen Gesichtchen [facetta nera]. Die italienischen Soldaten erzählen ihr, dass sie ihr Freiheit, einen neuen König und ein neues Gesetz bringen und sie somit aus der Sklaverei erlösen werden. Gerettet wird sie von den faschistischen Schwarzhemden [camicie nere] und sobald man sie zur Italienerin gemacht haben wird, soll sie selbst ein schwarzes Hemd tragen. Versprechungen, die nie in die Tat umgesetzt wurden. 2007 erschien in der politisch rechts orientierten 205
205
Ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Campo della memoria siehe Kapitel 4.1.2.
206
Vgl. Dominioni 2008 und Palmieri 2015.
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Tageszeitung Il Giornale ein offener Brief desjenigen Journalisten, der Maria Vittoria Aradam 2003 ausfindig machte und interviewte. Er forderte die italienische Staatsbürgerschaft für sie, die ihr bisher verwehrt geblieben war.207 Das Lied verherrlicht die aggressive Expansionspolitik und Kriegsführung des faschistischen Italien und verweist auf die rassistischen Züge des Regimes, welches die Afrikaner bekämpft und das »schwarze Gesichtchen«, die Äthiopierin, italianisieren muss, um sie zu retten. Rassismus wird durch das rührselige Bild, das die italienischen Soldaten als Helden zeigt, nivelliert. Die Helden sind eigentlich Täter, die die Verantwortung für die verzweifelte Situation des Mädchens tragen, da sie für das Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich sind. Die Stellung des Liedes im Nachkriegsfaschismus verweist auf die Verharmlosung von Rassismus und Kriegsverbrechen der italienischen Armee. Eine weitere Lesart für die Popularität des Liedes liegt in der Identifikation der Nachkriegsfaschisten mit einer in diesem Fall afrikanischen und paradoxerweise von Italien unterdrückten Minderheit der Äthiopier. Auch in der faschistischen Nachkriegsszene empfindet man sich als abgewertete, stigmatisierte Gemeinschaft – sichtbar wird an diesem Beispiel eine unreflektierte Doppelmoral: das Selbstbild der eigenen Stigmatisierung während man sich auf den Faschismus als ein totalitäres Regime bezieht, das im Rahmen der imperialistischen Eroberungspolitik selbst fremde Völker bekämpfte und unterwarf. Die Ambivalenz des Liedes und seine verschiedenen widersprüchlichen Facetten und Bedeutungsebenen spiegeln auch die Dopplung der faschistischen Identität im Sinne der inneren Distanz (vgl. Marcuse 1998.). In dieser Gleichzeitigkeit einer rassistischen Provokation und der zugleich stattfindenden Eigenwahrnehmung als stigmatisierte Subkultur wird eine sehr ambivalente Identitätskonstruktion im Nachkriegsfaschismus sichtbar. Die Verteidigung eines ›positiven Kolonialismus‹ wird auch von Politikern immer wieder öffentlich verteidigt. Nachdem Libyen von Italien 2006 eine Entschuldigung für die begangenen Kriegsverbrechen des faschistischen Regimes gefordert hatte, äußerte Alessandra Mussolini beispielsweise die Forderung nach einer Entschädigung Italiens durch Libyen mit der Begründung, dass der italienische ein ›positiver Kolonialismus‹ gewesen sei, der Demokratie, Straßen, Häuser und Schulen exportiert habe.208
207
www.ilgiornale.it/news/diamo-cittadinanza-italiana-faccetta-nera.html [15.8.2020]
208
http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/2006/03/04/alessandramussolini.html [15.8.2020]
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Abbildung 2.4: Grabsteine auf dem Campo della memoria, Zeremonie zum Gedenken der gefallenen Soldaten der RSI am 25. April 2015
Quelle: Lene Faust Innerhalb des Friedhofs haben die Fahnenträger Aufstellung bezogen, zu sehen sind Fahnen der RSI mit dem Adler und dem fascio littorio, dazu die bordeauxrote Fahne des Battaillon Barbarigo, der Truppeneinheit der Decima Flottiglia MAS, die hier bei Anzio/Nettuno an der Front kämpfte. Die circa hundert Teilnehmer formieren sich auf dem ordentlich kurz gemähten Rasen gegenüber dem steinernen Altar trotz des Regens. Für die Zeremonie wurde in diesem Jahr auch eine neue Gruppe eingeladen: circa 30 Männer, die zu einer außerparlamentarischen Organisation im Umland Roms gehören. Alle zwischen 20 und 40 Jahren alt, stehen die meisten von ihnen in Jeans, Turnschuhen und dunklen Jacken stehen geschlossen in den hinteren Reihen der Teilnehmer. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen, breitbeinig und in Reih und Glied aufgestellt strahlen sie Verbundenheit und aggressive Männlichkeit aus. Auch der Bürgermeister ist gekommen. Der Priester predigt unter einem Regenschirm und die Messe fällt dem Wetter entsprechend kürzer aus als sonst. In nome del padre, del figlio e dello spirito santo, Amen [Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen], man bekreuzigt sich. Adesso è finita la cerimonia [nun ist die Zeremonie beendet], sagt
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der Priester und es folgen weitere, durch den Regen weitestgehend unverständliche Reden zu Ehren der Gefallenen. Auch der RSI-Veteran Gustavo T. spricht einige Worte. Er geht langsam nach vorne und nimmt zitternd das Mikrofon, etwas unsicher auf den Beinen mit seinen fast 90 Jahren. Es tue ihm leid, dass er nicht hier in Anzio an der Front habe kämpfen können, im Gedenken an all die Toten aber stehe er nun hier, sagt er mit ernstem Blick und einer Stimme, die vor zurückgehaltener Emotion rau klingt. Der Bürgermeister spricht das letzte Grußwort. Er freue sich, dabei zu sein, und wie jedes Jahr an die zu erinnern, die für das Vaterland hier ihr Leben gelassen hätten. Nach der offiziellen Zeremonie verlassen die staatlichen Autoritäten das Gelände, die Menge zerstreut sich. Danach ist Zeit für den presente, die Erinnerungszeremonie mit dem illegalen faschistischen Gruß. Die Teilnehmer formieren sich in Reih und Glied und es entstehen ordentliche Reihen aus unbeweglichen Mienen. Die Jüngeren haben die Hände soldatisch auf dem Rücken verschränkt oder zur Faust geballt, die Beine schulterbreit und durchgedrückt. Gegenüber der schweigenden Menge steht einer der Organisatoren. Er versucht, schreiend den Regen zu übertönen: Sugli attenti!
[Achtung!
A tutti i caduti della RSI!
Allen Gefallenen der RSI!
A tutti i caduti!
Allen Gefallenen!
Presente!
Anwesend!]
Drei Mal werden die Toten angerufen, drei Mal antwortet die Menge und hebt die Arme zum faschistischen Gruß. Die Teilnehmer scheinen zu einem einzigen, militärischen Körper zu verschmelzen, die Gruppe bewegt sich in einer koordinierten Bewegung mit eigener Rhythmik. Danach wird der Leiter der außerparlamentarischen Organisation nach vorne gerufen. Er gehört zur Generation derer, die die Ausläufer der anni di piombo noch miterlebt hat, für politische Aktivität jedoch zu jung war. Den zweiten presente darf er anleiten, eine Form der Initiation im Rahmen des Totengedenkens an einem Ort, der besondere Bedeutung hat für den Totenkult, denn der Campo della Memoria ist der einzige offizielle Friedhof für die Gefallenen der RSI. Den Blick starr geradeaus, steht er im Regen, ernst und angespannt. Mit seiner klaren und tiefen Stimme übertönt er mühelos den Regen. Später erklärt man mir, dass die Abordnung staatlicher Autoritäten das Gelände mit Absicht vorher verlassen hat, denn allgemein bekannt ist, was auf die offizielle Zeremonie folgt. Um nicht in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten, verlassen die Gesetzeshüter den Ort des Geschehens rechtzeitig. Eine Art der stillen Duldung oder aber: un paese ridicolo [ein lächerliches Land], wie sich einige
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meiner Informanten mir gegenüber häufig über diese Praxis der Scheinheiligkeit beschwerten. (Feldtagebuch, Januar 2013) * Gedenken an die Toten der II. Generation: Acca Larentia Das wichtigste Datum im Kalender der Erinnerung an die Gewalt während der anni di piombo ist der 7. Januar. Im Jahr 1978 erschossen mutmaßlich linke Terroristen vor der Sektion Acca Larentia des Movimento Sociale Italiano mit Maschinengewehren Franco Bigonzetti und Francesco Ciavatta. Beide waren Mitglieder des Fronte della Gioventù. Bei den spontanen Demonstrationen gegen die Morde am selben Abend erschoss der Carabiniere Eduardo Sivori, laut seiner eigenen Aussage aus Notwehr, ein weiteres Mitglied der Sektion, Stefano Ricchioni. Im darauffolgenden Jahr wurden einige Mitglieder der linken außerparlamentarischen Gruppierung Lotta continua für den Anschlag verantwortlich gemacht und festgenommen. Aus Mangel an Beweisen wurden alle Angeklagten jedoch freigesprochen. Auch der für den dritten Toten verantwortliche Carabiniere wurde nicht verurteilt. Das Attentat von Acca Larentia gilt als Auftakt einer weiteren Verschärfung und Eskalation der Gewalt zwischen rechten und linken politischen Gruppierungen während der anni di piombo. Verschiedene politische Organisationen der faschistischen Nachkriegsszene zelebrieren jedes Jahr am 7. Januar dort den presente im Gedenken an die Toten, die wichtigste und größte Gedenkzeremonie für politische Tote der anni di piombo. Die Sektion selbst wird schon lange nicht mehr aktiv genutzt, sie ist nur noch ein Raum der Erinnerung. * Es ist bereits dunkel, als ich zusammen mit einigen meiner Informanten aus der zweiten Generation am 7. Januar 2013 an der Sektion ankomme. Überall stehen Menschen, vor allem Männer, in kleinen Gruppen zusammen. Es sind bereits einige hundert. Man redet und gestikuliert gedämpft, aus Respekt vor den Toten. Die Winterluft ist empfindlich kühl und die Kälte kriecht durch die Füße langsam in meine Knochen. Der Eingang zur Sektion befindet sich im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses in einem Innenhof zwischen zwei großen Häuserblocks. Der Platz davor liegt im Halbdunkel, trübe Straßenlaternen spenden wenig Licht. Auf der einen Seite führt eine kleine Treppe zur höher gelegenen Straße dahinter, auf der anderen Seite wird der Platz durch eine baumbepflanzte Straße begrenzt. Die Sektion selbst besteht aus einem hohen, leeren Raum, mit einem kleinen Tisch, an dem gegen Spende Poster verschenkt werden, die an die Toten erinnern. Zwei Männer sitzen dort und bewachen den Raum mit unbewegten Gesichtern. Die Wände im Inneren sind voller Fahnen und Graffiti. Außen neben der Tür zeigt ein Graffiti einen überlebensgroßen Krieger, daneben hängt das neue Gedenkschild,
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um das es so viel Streit und Diskussionen gegeben hat. Der bis Sommer 2013 amtierende Bürgermeister Gianni Alemanno von der Partei Il Popolo della Libertà (seit Dezember 2013 umbenannt in Forza Italia), der selbst aus dem ambiente stammt, plädierte für die Aufschrift vittime della violenza politica [Opfer der politischen Gewalt]. Im faschistischen ambiente jedoch, vor allem in der zweiten Generation der ehemaligen Aktivisten der anni di piombo, favorisierte man vittime della violenza communista e dei servi dello Stato [Opfer kommunistischer Gewalt sowie der Gewalt der Sklaven des Staates] und konnte diese Version durchsetzen. Darunter stehen die Namen der drei Toten. Mit dem Ziel, den Streit über die offizielle Erinnerung an die Opfer der anni di piombo in der Hauptstadt zu entschärfen, hatte Alemanno für die unverfänglichere Version des Schildes plädiert. Damit wollte er den Streit, der zwischen der Regierung und antifaschistischen Organisationen von der jüdischen Gemeinde über Organisationen der antifaschistischen Linken, dem Partisanenverband Associazione Nazionale Partigiani d’Italia bis hin zur Demokratischen Partei tobte, entschärfen. Dadurch zog er sich die Wut des faschistischen ambiente zu, wo man seine Entscheidung als Verrat an den eigenen Leuten wertete. Auf dem Boden neben dem Eingang der Sektion liegt ein Meer von Blumen, ganze Sträuße und einzelne Rosen, wie auf einem frischen Grab. Daneben lehnt ein großer grüner Kranz an der Hauswand, ein Komitee des Bürgermeisters hat ihn sehr früh morgens unbeobachtet dort abgelegt. Alemanno bringt jedes Jahr mit maximaler Diskretion sehr früh am Morgen einen solchen Kranz in dem Bemühen, den Spagat zwischen der Befriedung seiner radikalen rechten Wählerschaft und der Selbstdarstellung als gemäßigtem rechten Politiker in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Der Innenhof selbst ist nur spärlich erleuchtet. Ein paar Straßenzüge weiter auf der Via Tuscolana versammeln sich zeitgleich wie in jedem Jahr wütende antifaschistische Gegendemonstranten. Auf dem Weg hierher sind wir daran vorbeigefahren und haben die Gruppe von circa zweihundert Personen mit Fahnen und Plakaten gesehen. Compagni [Genossen]…wenn sie in der Minderheit sind, kommen sie nie, kommentierten meine Informanten verächtlich. Die Stimmung im Auto schlug sofort um in feindliche Kampfhaltung – Kriegsgeschrei, das im Auto ungehört verhallte. Nach regelmäßigen Zusammenstößen mit gegnerischen Demonstrationszügen in den vergangenen Jahren war den Demonstranten in diesem Jahr verboten worden, sich der Sektion Acca Larentia zu nähern. Unterschiedliche Organisationen des faschistischen ambiente organisieren den presente jeweils eigenständig, so dass nacheinander verschiedene Erinnerungszeremonien stattfinden. Diese Aufsplittung eines ursprünglich einheitlichen
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Erinnerungsrituals liegt u.a. darin begründet, dass sich einige Gruppierungen untereinander zerstritten haben. 2012 beispielsweise überwarfen sich Forza Nuova und CasaPound Italia wegen Differenzen bezüglich des Ablaufs und beendeten das gemeinsame Ritual zugunsten einer jeweils eigenen Zeremonie.209 Einigkeit besteht jedoch bei allen darüber, dass dies der wichtigste Tag der Erinnerung an die Gewalt der anni di piombo ist. Wir bewegen uns durch die Anwesenden, Freunde und Bekannte werden begrüßt. Man macht mich auf eine kleine Gruppe Männer aufmerksam, die etwas abseits auf der Straße steht, das seien Polizisten in Zivil. An den Seiten des Platzes stehen mehrere Wachen aus der neofaschistischen Szene, die für Ruhe und Ordnung sorgen. Mit strengem Blick beobachten sie den Platz, in der Nacht zuvor haben sie vor der Sektion zu Ehren der Toten Wache gehalten. Einige Informanten haben mit abgeraten, an der Erinnerungszeremonie teilzunehmen. Offenbar gab es nach einem Jahr im Feld noch immer Gelegenheiten, bei denen man mich nicht dabeihaben wollte. Es sei eine ziemlich spezielle Atmosphäre dort, wurde mir mitgeteilt. Als Beobachterin könne ich dieses Mal nicht dort sein, die Teilnehmenden könnten wütend werden, dort jemanden zu sehen, der nicht am presente teilnehme. Es sei eine ganz andere Situation als bei anderen Zeremonien, der emotionale Gehalt sei ein anderer, viel konzentrierter. Man käme nur in den Innenhof, wenn man dazugehöre. Auch die Beschaffenheit des Ortes an sich, der abgeschnittene Innenhof, sei ungeeignet, um dort als ungebetener Gast zu verweilen. Außerdem hätten die Streitereien zwischen einzelnen verfeindeten Gruppen im letzten Jahr u.a. zu einer Schießerei geführt, bei der ein Mann schwer verletzt worden sei, warnte man mich: Am 3. Januar 2012 wurde Francesco Bianco, ehemaliges Mitglied der Terrorgruppe Nuclei Armati Rivoluzionari (NAR), von Unbekannten in Arm und Bein geschossen, nachdem es im Vorfeld eine heftige Auseinandersetzung um die Erinnerungszeremonie am 7. Januar gegeben hatte.210 Dass man Bedenken gegen meine Anwesenheit bei dieser Zeremonie hat, ist ein Zeichen dafür, dass ich mich hier an der unsichtbaren Grenze zum innersten Kern des faschistischen ambiente und des Totenkultes als sakralem Zentrum des Nachkriegsfaschismus bewege. Der Platz vor der Sektion füllt sich und die Teilnehmer nehmen eine stramme, militärische Haltung an: dunkle Gestalten im Dämmerlicht, die im Bannkreis des erleuchteten Eingangs der Sektion stehen. Sugli attenti! Achtung! hallt es durch
209
www.ilfattoquotidiano.it/2012/01/03/destra-romana-spaccata-rottura-forza-nuovacasa-pound-lanniversario-acca-larentia/181318/ [15.8.2020]
210
www.ilfattoquotidiano.it/2012/01/03/sparatoria-tivoli-gambizzato-coinvolto-nelloscandalo-parentopoli-allatac/181254/ [15.8.2020]
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den Innenhof. Ein Ruck geht durch einige hundert Teilnehmer und der presente beginnt. Die Stimmen scheinen immer lauter und wütender zu werden und die Teilnehmer näher zusammenzurücken. Danach folgt Stille, eine Stille, die nach der aufgeheizten Stimmung kaum zu ertragen ist, so lautlos erscheint sie nach den Schreien. (Feldtagebuch, Januar 2013) * Totenkult als Ritual im Angesicht von Tod und Krise Fare politica [Politik machen] beinhaltet körperliche und rituelle Praktiken, zu denen auch die Erinnerungskultur gehört. Es handelt sich dabei auch um eine Form der körperlichen Provokation in der antifaschistischen Gesellschaft, die den internen Zusammenhalt stärkt, einen Mechanismus, den McNeill mit »muscular manifestation of group solidarity« (Mc Neill 1995:10) beschreibt: »Human beings desperately need to belong to communities that give guidance and meaning to their lives; and moving rhythmically while giving voice together is the surest, most speedy and efficacious way of creating and sustaining such communities that our species has ever hit upon. Words and ideals matter and are always invoked; but keeping together in time arouses warm emotions of collective solidarity and erases personal frustrations as words by themselves cannot do. […] Ideas and ideals are not enough. Feelings matter too, and feelings are inseparable from their gestural and muscular expression.« (McNeill 1995: 152)
Auch im presente-Ritual wird die zentrale Bedeutung körperlicher Bewegung im Rahmen ritueller Praktiken für gruppendynamische Prozesse sichtbar. Sie lassen sich auch auf die muskuläre Massenpolitik von Faschismus (und Nationalsozialismus) rückbeziehen, die einen wesentlichen Beitrag zur Mobilisierung der Bevölkerung in beiden Regimen leistete und deren Erbe in der politischen Kultur des Nachkriegsfaschismus eine zentrale Rolle spielt. Das presente-Ritual findet in der Öffentlichkeit statt, das eigene politische Territorium wird dabei provokativ unter Verwendung illegaler Gesten und Symbolik vergegenständlicht und verteidigt. Bei den größeren Zeremonien sind meist staatliche Ordnungskräfte anwesend wie Polizei oder Carabinieri, die die Zeremonien beaufsichtigen, illegale Gesten wie den faschistischen Gruß jedoch meist ignorieren. Anklagen oder Festnahmen gebe es insgesamt eher selten, wurde mir immer wieder berichtet. Indem man sich aktiv an der Grenze der Legalität entlang bewegt bzw. diese überschreitet, schafft man Handlungsmacht in einer Subkultur, die sich eingeschränkt fühlt aufgrund der gesetzlichen Restriktionen seit der Nie-
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derlage des faschistischen Regimes. Die Erinnerungskultur wird vom Außenseiterstatus des faschistischen ambiente im sozialen und politischen Gefüge geformt. Sie ist zugleich eine Form des aktiven Umgangs mit dieser Situation und auch eine Demonstration der eigenen Stärke. Rituelle Praktiken des Totenkultes sind auch ein Statement politischer Identität im Sinne eines aktiven, körperlich praktizierten Widerstandes gegen die antifaschistische Mehrheitsgesellschaft. 211 Das Dilemma der Illegalität einer Gemeinschaft, die doch an der Gesellschaft teilhaben will und politischen Einfluss anstrebt, während sie sich auf eine als illegal und verbrecherisch bezeichnete Staatsform beruft, kann in der Erinnerungskultur kanalisiert und ausagiert werden. Der presente als Erinnerungskultur und Form des Totenkultes ist daher politische Aktion und zentraler Aspekt für Identitätskonstruktion im Nachkriegsfaschismus. Presente bedeutet im Deutschen anwesend, gegenwärtig; der Ethnologe und Religionswissenschaftler Ernesto De Martino beschreibt mit dem Begriff la presenza das »Dasein« als Fähigkeit einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, mit einer spezifischen krisenhaften Situation umzugehen, die das Individuum oder die Gemeinschaft in existenzieller Weise herausfordert.212 Eine Krise dieser Präsenz [crisi della presenza] tritt dann ein, wenn das Individuum sich durch eine bestimmte Situation bzw. spezifische Ereignisse fundamental verunsichert fühlt. Daraus resultiert die Unfähigkeit, in einer Situation der Ohnmacht zu agieren. In einem Prozess der destorificazione del negativo [Enthistorisierung des Negativen] wird im Moment des Verlustes der Präsenz durch die Krise eine Verallgemeinerung der eigenen Existenzbedingungen und der erlebten Krise erreicht, indem diese in eine mythisch symbolische Dimension ausgelagert wird, die sich im Ritus manifestiert. Damit wird der Kern der Krise aus dem historischen Zusammenhang gelöst, mythisch verfremdet und abstrahiert: »Mit Hilfe der metahistorischen Ebene als Horizont der Krise und als Topos der Enthistorisierung wird eine geschützte Lebensweise geschaffen, die einerseits gegen die chaotischen Einbrüche des Unbewussten abschirmt, und andererseits einen Schleier über das historische Geschehen legt, so dass man »innerhalb der Geschichte leben kann, als stünde man außerhalb«. (De Martino 1982:111, kursiv im Original)
211
Zur Bedeutung von Ritualen in politischen Systemen siehe Cohen (1974); Kertzer (1998) betont die Tatsache, dass politische Identität vor allem über Rituale definiert wird.
212
Vgl. De Martino 1982: 112.
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Rituelle Praktiken nehmen dabei eine stabilisierende und schützende Funktion ein. Die Funktion des Rituals besteht im Schutz der »Präsenz«, die das Negative auslagert und in einen anderen Kontext stellt, ohne es zu unterdrücken.213 Was De Martino hier beschreibt, kann auch auf das Ritual des presente übertragen werden. In seiner jährlichen Wiederkehr am Todestag der Verstorbenen handelt es sich um ein Instrument des Umgangs mit dem Tod. Tod als Verlust einer Person kann aufgrund der Ohnmacht im Angesicht des Todes als Krisensituation gewertet werden, die unausweichlich und unveränderbar ist. Kann Trauerarbeit nicht durchlebt und abgeschossen werden, kann der Verlustes die Trauernden gefangen nehmen: [Wer eine kritische Situation nicht überwinden kann, bleibt in ihr gefangen und wird davon heimgesucht: bleibt die Präsenz ohne Abgrenzung gegenüber einer Situation des Verlustes, verliert sie ihre Beweglichkeit, ihre Handlungs- und Planungsfähigkeit in der Welt, was zu einem fortwährenden Wiedererleben der Verlustsituation führt, dazu, sich mit dem Toten zu identifizieren, mit unserer Verzweiflung oder unserem Schrecken.] 214 (De Martino 1977: 263/ 264)
Durch die Wiederholung im Ritual des Totenkultes erscheint das Ausgeliefertsein des Menschen der Natur bzw. dem Tod gegenüber auch relativierbar zu werden.215 Die faschistischen Toten – die gefallenen Soldaten des Zeiten Weltkriegs, aber vor allem auch die politischen Toten nach 1945 – sind Tote, mit deren Tod sich viele im ambiente nicht abfinden können und wollen. Sie sind in dieser Perspektive auch Gefangene eines nicht abgeschlossenen Trauerprozesses und damit einer ständigen Wiederkehr der ›untoten‹ Toten ausgeliefert. Tote, die durch das presente-Ritual gebändigt oder kontrolliert werden sollen, werden gerade dadurch immer wieder zum Leben erweckt. Der Kern des presente stellt eine neue Ebene der Verbindung mit diesen Toten her und fungiert damit als symbolische Metaebene: Der Ruf presente manifestiert die eigene Präsenz im Angesicht der Toten, die auf magische Weise im Ritual anwesend sind. Der magische Moment verwischt die Grenzen zwischen Lebenden und Toten auf der symbolischen Metaebene des Rituals. Krisen und Unsicherheiten der faschistischen Nachkriegsidentität wie die erlebte Krise der Niederlage im Krieg, die zentral verbunden ist mit der Trauer um gefallene Kameraden – einer Erfahrung des Verlustes, die sich später in den Jahren des Terrors auf ähnliche Weise wiederholt – werden enthistorisiert. (Magische) Kulturtechniken des Totenkultes helfen, diese krisenhaften
213
Vgl. De Martino 1982: 108/ 109.
214
Übersetzung der Autorin.
215
Vgl. De Martino 1977: 222.
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historischen Erfahrungen rituell zu verarbeiten. Präsenz bezieht sich dabei auch auf das eigene Dasein als politische Subkultur, auf die individuelle, als prekär empfundene Situation der faschistischen Nachkriegsszene. Presente! betont auf einer Metaebene das ›Dasein‹ trotz der Niederlage, es geht nicht nur um das Dasein im Gedenken an und für die Toten, es ist auch ein ›trotzdem Da-Sein‹ im Angesicht der Toten. In einer Situation, in der die Faschisten als Verlierer des Zweiten Weltkrieges die Legitimation durch den faschistischen Staat verloren haben, die faschistische Partei verboten wurde und sich die Machtverhältnisse veränderten, ist der presente im Sinne De Martinos eine rituelle Praktik der Enthistorisierung der Krise im Sinne der subjektiv empfundenen Einschränkung der eigenen Existenz. Der Ruf presente! als magischer Kern des Rituals wirkt wie ein Mantra der Versicherung des eigenen Daseins im Angesicht der Toten, die die Erfahrung existenzieller Krisensituationen verkörpern. Die in den Augen der Teilnehmer ungesühnten, nicht gerächten Toten werden zur pulsierenden Mitte der erinnernden Gemeinschaft und zur Legitimation der eigenen Identität. Der presente kann als Essenz der körperlichen Performanz politischer Identität im Nachkriegsfaschismus gesehen werden, durch ihn wird die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Diesseits und Jenseits, Lebenden und Toten vermittelt und immer wieder neu hergestellt. Die Vermittlerfunktion des Rituals bezieht darüber hinaus auch auf seine verbindende Wirkung innerhalb der fragmentierten und in Gruppen und Grüppchen zersplitterten Szene, in der die Toten über Generationen hinweg der kleinste gemeinsame Nenner sind.
2.5 ANTIFASCHISMUS UND FASCHISMUS 2.5.1 Ordnung und Unordnung in einer Gesellschaft Kultur meint nach Mary Douglas die jeweilige Funktionsweise einer Gesamtheit von miteinander verbundenen Strukturen, ihren sozialen Formen und Werten, des gesamten Wissens, sowie der Vermittlung von Erfahrung.216 Dazu gehören auch Umgang mit der Vergangenheit, deren Reinszenierung in Gestalt von Erinnerungspraktiken sowie Geschichts-, Erinnerungs- und Bildungspolitik als Formen kultureller Praxis. In ihrer Untersuchung über Un- bzw. Reinheitsvorstellungen in sogenannten »primitiven Kulturen« definiert Mary Douglas »Schmutz« als Unordnung innerhalb einer Ordnung. Ihr Ausgangspunkt für Überlegungen zu Ver-
216
Vgl. Douglas 1985: 169.
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unreinigung ist die jeweilige Ordnung in einer Kultur oder einem bestimmten kulturellen Bereich, durch die grundlegende Wertkategorien und deren Fortbestand garantiert werden. Unreinheitsvorstellungen sind Ausdruck spezifischer Symbolsysteme: »Unsauberes und Schmutz ist das, was nicht dazu gehören darf, wenn ein Muster Bestand haben soll.« (Douglas 1985: 59) Douglas stellt fest, dass diese Mechanismen in »primitiven Kulturen« umfassender und damit intensiver auf ihre Mitglieder wirken als in industrialisierten Gesellschaften, in denen sie innerhalb spezifischer und voneinander getrennter Daseinsbereiche Geltung haben.217 Das Herstellen von Ordnung braucht eine klare Definition von Gegensätzen, die dem Einzelnen Kategorien für Beurteilungen und Zuordnungen ermöglicht. Unreinheitsvorstellungen geben Aufschluss über Funktionsweisen von soziokulturellen Systemen und die Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen innerhalb von Gesellschaften. Im sozialpolitischen Gefüge Italiens besetzt die faschistische Subkultur einen kulturellen ›Zwischenraum‹, der das alte, besiegte Regime verkörpert und der antifaschistischen Neuordnung Italiens nach Ende des Zweiten Weltkriegs entgegensteht. Ein zentraler Aspekt der Neustrukturierung der italienischen Nachkriegsgesellschaft nach 1945 ist die Vorstellung einer zum Faschismus abgegrenzten Gemeinschaft.218 Die antifaschistische Grundhaltung wird zur standardisierten Wertkategorie des neuen demokratischen Staates. Der Antifaschismus wird damit zu einer kulturellen Kategorie mit öffentlichem Charakter, deren Fortbestand und Aufrechterhaltung auch die Autorität von Staat und Mehrheitsgesellschaft garantiert. Aus einer makrostrukturellen Perspektive prägt das Nebeneinander von mehrheitlichem Antifaschismus und dem eine Minderheit darstellenden Nachkriegsfaschismus als gegensätzliche Daseinsbereiche die italienische Gesellschaft. Indem der Nachkriegsfaschismus nach 1945 einen von der antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft abgegrenzten soziokulturellen Raum bildet, der es ermöglicht, die Grundwerte der Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen, ist er Urheber einer Unordnung. Die Stellung der Italienischen Republik zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs im europäischen Nachkriegseuropa, die von der Auseinandersetzung mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs vor allem im Hinblick auf den Holocaust geprägt ist, basiert nach Kriegsende auf dem antifaschistischen Grundkonsens des neuen Staates. Die Erzählung von der Selbstbefreiung von
217
Vgl. Douglas 1985: 59, siehe dazu auch Miner Body Ritual among the Nacirema (1956).
218
Vgl. Konzept der vorgestellten Gemeinschaft bei Anderson (1983).
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 141
deutscher Besatzung und Faschismus ist Legitimation für die Nation.219 Zentral für die Neuordnung der Gesellschaft aber auch für die Positionierung Italiens im internationalen Kontext nach Kriegsende ist daher die Abgrenzung vom faschistischen Regime bis 1945 – die Faschisten werden zum »Schmutz« in der Gesellschaft. Die Säuberungsaktionen der Partisanen gegen Faschisten in den Nachkriegsjahren, welche als epurazione [Säuberung] (von ital. epurare, dt. säubern) bezeichnet werden, entsprechen diesem Mechanismus auf der Handlungs- und auch auf der Sprachebene. Was Unordnung bringt, bedroht eine Gemeinschaft und wird daher häufig auch tabuisiert. Auch aus diesem Grund ist die Auseinandersetzung mit dem italienischen Bürgerkrieg zwischen 1943 und 1945 im Norden des Landes bis heute schwierig. Die von Historikern oft kritisierte Wahrnehmung der Kriegsvergangenheit als Meistererzählung des guten Italieners, italiani brava gente220 [Italiener, die guten Menschen] zu Lasten einer fundiert kritischen Auseinandersetzung mit den faschistischen Kriegsverbrechen vor 1943 sowie der Aufarbeitung des italienischen Bürgerkrieges ab 1943, dient auch einer spezifischen Wissensvermittlung bzw. Tabuisierung im Interesse der bestehenden Ordnung. Auch am Beispiel der als mani pulite [saubere Hände] bezeichneten juristischen Untersuchungen, die Anfang der 1990er-Jahre zur Aufdeckung der kriminellen Verflechtungen des korrupten politischen Systems und zum Ende der sogenannten Ersten Republik sowie der großen Volksparteien führten,221 werden Reinheitsvorstellungen im Rahmen von Veränderungsprozessen bzw. Umwälzungen sozialer und politischer Systeme sichtbar. Die »sauberen Hände« verdeutlichen auf der Sprachebene die Kategorisierung der alten Missstände der Korruption als ›Schmutz‹; die juristische Aufklärung und Zerschlagung des alten korrupten Politiksystems zur Herstellung einer neuen Ordnung wird als ›Reinigung‹ bezeichnet. Für das Herstellen einer neuen Ordnung nach einem Zusammenbruch von solchem Ausmaß, der das bis dato herrschende politische und soziokulturelle System tiefgreifend veränderte, wurde eine klare Unterscheidung notwendig: Unordnung und Schmutz als Zustand vor der juristischen Aufarbeitung, Sauberkeit und Ordnung danach. Sichtbar wird an diesem Beispiel der Mechanismus, in dem eine bestehende Ordnung im Moment ihres Zusammenbruchs zur Unordnung wird sowie die darauffolgende Herstellung einer neuen Ordnung durch juristische Prozesse.
219
Zur Bedeutung von Gründungsmythen für die Identität von Großgruppen als Verbindung einer Gruppe zur Vergangenheit (Volkan 2005: 39).
220
Vgl. Focardi 2013.
221
Vgl. Kapitel 2.3.1.
142 | Neofaschismus in Italien
2.5.2 Emotionale Dimensionen von Ordnung und Unordnung Diese Dynamiken auf der politischen Makroebene werden auch in der Alltagspraxis sichtbar. Häufig wurde mir Abscheu entgegengebracht, wenn ich von meiner Forschung unter römischen Neofaschisten erzählte. Die Erwähnung meiner physischen Nähe zu den Personen im Feld, mit denen ich Interviews führte und die ich zu Erinnerungszeremonien begleitete, genügte häufig, um großes Unbehagen hervorzurufen. Körperliche Nähe zu den Protagonisten meiner Forschung wurde bisweilen sogar mit politischem Konsens meinerseits gleichgesetzt und als Vorwurf formuliert. Enzo B., Psychotherapeut, lernte ich zu Beginn meiner Forschung kennen. Über vier Monate hatte ich an den ehrenamtlich organisierten wöchentlichen Treffen für alte Menschen aus dem Salario-Trieste teilgenommen, bei denen er zu dieser Zeit einen Kollegen vertrat. Sie dienten dazu, einen Raum für den Austausch über Problematiken des Alterns zu schaffen. Er bezeichnete sich als linken, fortschrittlichen Italiener und aufgrund seiner frühen Selbständigkeit vom Elternhaus – er war während des Studiums bereits ausgezogen – sogar eher als europäisch denn italienisch. Einige Monate nach dem Ende seiner Vertretung kontaktierte ich ihn erneut, um mit ihm über meine Forschung zu sprechen. Wir trafen uns in seiner Praxis in einer kleinen Stadt in der Nähe von Rom. Meine Frage an ihn, ob in seiner Erfahrung als Familientherapeut politische Thematiken oder die Vergangenheit des Faschismus bzw. Krieg jemals eine Rolle gespielt hätten, hatte ich ihm bereits am Telefon mitgeteilt. Was er nicht wusste, war, dass meine Forschung sich mittlerweile sehr verändert hatte und ich viele RSI-Veteranen sowie deren Familien kennengelernt hatte. Meine (physische) Nähe zum faschistischen ambiente schien ihn aus dem Konzept zu bringen und es wurde deutlich, dass er das Übertreten dieser Schwelle meinerseits als Bedrohung empfand. Von einem zum anderen Moment zog er sich vor mir zurück, lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten, verschränkte die Arme und brachte damit auch physischen Abstand zwischen uns. Terra bruciata, [verbrannte Erde], kommentierte er und verwendete damit einen Begriff aus dem Kriegsvokabular. Meine Frage nach Familien von RSI-Veteranen und dem Aspekt der Aufarbeitung möglicher, mit diesem Erfahrungskomplex verbundener Problematiken in der Familientherapie, war offenbar problematisch. Dann begann er, mich genau auszufragen, an welcher Universität ich promovierte, bei welchem Professor, zu welchem Thema genau etc. und machte sich Notizen. Dann ermahnte er mich, vorsichtig zu sein: Questo è importante! Perché questo tema in Italia va ancora sul piede piombato…e se ti metti dentro tu, vai sul piede piombato anche tu! In Italia ancora non è possibile parlarci.
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Perché non fai un lavoro sui partigiani e i loro figli? Perché questa parte dai fascisti? Chi te lo fa fare? [Das ist wichtig! Denn dieses Thema ist noch immer sehr aufgeladen in Italien…und wenn du dich da einmischst, wird es auch für dich sehr schwierig! In Italien kann man darüber noch nicht (offen) sprechen. Warum forschst du nicht über die Partisanen und ihre Kinder? Warum die Seite der Faschisten? Wer hat dich beauftragt?]
Unser Gespräch würde ihn beunruhigen, betonte er immer wieder und beeilte sich, unser Treffen zu beenden. Er schien plötzlich Angst zu haben, mit mir zu sprechen, vielleicht dadurch seinen Ruf zu riskieren, und komplimentierte mich hinaus. Meine Versuche, ihn telefonisch oder per Mail zu erreichen und ihn an sein beim Abschied geäußertes Versprechen zu erinnern, mich mit Kollegen in Kontakt zu bringen, die in ihren Therapien mit dieser Thematik konfrontiert waren, liefen ins Leere. Das Thema war ihm offenbar zu riskant, er hatte mir durch sein Verhalten deutlich sein Unwohlsein gezeigt. Mein offensichtlich wissenschaftliches Interesse an der Thematik konnte ihm nicht über sein Unbehagen hinweghelfen und er reagierte mit totalem Kontaktabbruch. Offensichtlich hatte ich die Regeln, nach denen dieses Thema im antifaschistischen Kontext verhandelt wurde, gebrochen und dadurch bei Enzo das Bedürfnis geweckt, sich vollständig von mir zu distanzieren, um ›die Ordnung wiederherzustellen‹. Antisemitismus Bei Themen, die für mich als Deutsche mit antifaschistischer Sozialisierung emotional stark besetzt waren, wie beispielsweise Antisemitismus, war ich mit Gefühlen von Ekel konfrontiert. Antisemitismus ist keine generelle Haltung unter Nachkriegsfaschisten, aber häufig anzutreffen. Immer wieder begegneten mir Holocaust-Leugner, einige davon bekannten sich zu Verschwörungstheorien im Sinne jüdischer Weltherrschaftsbestrebungen u. ä. In solchen Momenten verspürte ich jedes Mal den starken Wunsch, mich zu distanzieren und meinem Ärger über diese Behauptungen und absurden Theorien Luft zu machen. Manchmal fing ich dann Streit an, denn es war sehr viel schwieriger, einfach nur zuzuhören, um die Hintergründe solcher Äußerungen zu verstehen. Jedes Mal spürte ich in diesen Situationen Ekel in mir aufsteigen und wollte mich von diesen Personen distanzieren. Einen alten Mann, weißhaarig und schlecht zu Fuß, traf ich immer wieder bei verschiedenen Gedenkfeiern. Er war von einfachem Gemüt, besaß einen geringen Bildungsstand und bezeichnete sich als überzeugten Faschisten. Eine Zeit lang
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war er Mitglied der außerparlamentarischen Vereinigung Ordine Nuovo222 gewesen. Wir sahen uns regelmäßig, sprachen aber nur selten miteinander. Nach einer Erinnerungszeremonie auf dem Friedhof Campo della Memoria223 gab er mir einmal wortlos eine Papiertüte mit Büchern und Filmen, die belegen sollten, dass weder die Gaskammern noch der Holocaust je existiert hatten, sondern vielmehr nachträglich erfunden worden seien. Ich nahm die Tüte mit zu mir nach Hause und ließ sie voller Ekel über Wochen im Gang vor meinem Zimmer stehen; erst nach einiger Zeit konnte ich mich mit ihrem Inhalt beschäftigen. Die persönliche Erfahrungsebene spiegelt die Makroebene einer Gesellschaft und umgekehrt. Indem der Nachkriegsfaschismus in einer makrosozialen Perspektive als ein soziokultureller Raum verstanden wird, der in einem spezifischen Verhältnis zur antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft steht und umgekehrt, wird deutlich, dass hier auch gruppendynamische Prozesse wie beispielsweise Dynamiken der Exklusion stattfinden. Die Dynamik einer Subkultur in einer Gesellschaft hat mit ihrer Position im Machtgefüge zu tun, jede politische Auseinandersetzung und Verhandlung faschistischer Erinnerungskultur ist auch ein Machtdiskurs.
2.6 RÄUME UND GRENZEN DES NACHKRIEGS-FASCHISMUS Der Nachkriegsfaschismus lässt sich in drei Generationen aufteilen: die Generation der RSI-Veteranen und Faschisten der RSI, die zweite Generation, die in erster Linie aus den politischen Aktivisten der anni di piombo besteht, sowie eine dritte Generation, die als einzige keine Kriegs- oder Kampferfahrung besitzt und nach den anni di piombo aktiv wurde. Der Grundstock des Nachkriegsfaschismus sind die RSI-Veteranen. Das faschistische Ethos ermöglicht trotz der Niederlage auch rückwirkend die Rechtfertigung ihres Kriegseinsatzes durch die Betonung der moralischen Unantastbarkeit. Auf ihrer Erfahrung und ihren moralischen Grundsätzen, ihrem Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein gründet der Nachkriegsfaschismus aus Sicht seiner Mitglieder. Krieg und Kriegsverbrechen werden nachträglich relativiert bzw. negiert, indem das Ethos zugunsten einer Kontrastierung des antifaschistischen Er-
222
Außerparlamentarische neofaschistische Organisation von 1969 – 1973.
223
Vgl. Kapitel 4.1.2.
Der italienische Nachkriegsfaschismus | 145
innerungsdiskurses aus der Sicht einer sich als marginalisiert empfindenden politischen Subkultur als moralisch korrekte Geisteshaltung über die Taten gestellt wird. Seit den anni di piombo impliziert politisches Engagement auf verschärfte Weise Gewaltanwendung und die Verteidigung politischen Territoriums, was auf den privaten und familiären Raum übergeht. Alle diese Räume überschneiden sich und sind über unterschiedliche Netzwerkstrukturen miteinander verknüpft. Die kämpferische Erfahrung nimmt einen besonderen Platz in der faschistischen Szene ein: Sie ist ein Garant für Zugehörigkeit nicht nur in der Generation der RSIVeteranen, sondern auch in der zweiten Generation. Die Zugehörigkeit zur faschistischen Nachkriegsszene ist seit 1945 streng reglementiert. Der gemeinsame Nenner der Mitglieder besteht in erster Linie in der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die einen kulturellen Raum mit spezifischen Wertvorstellungen verkörpert und geht damit über eine rein politische Positionierung hinaus. Identität in der Gemeinschaft der Faschisten wird maßgeblich über die Positionierung der Subkultur im italienischen Staat und die Auseinandersetzung mit der antifaschistischen Erinnerungskultur gebildet. Die prekäre Situation des Nachkriegsfaschismus aufgrund der Gesetzeslage seit 1945 führte zur Abschottung, in einer Gegenreaktion wurde versucht, den Status der marginalisierten Subkultur als einen moralisch überlegenen zu konzipieren. Die Auseinandersetzung mit den legalen Grenzen forderte eine aktive Gestaltung des eigenen Raumes und stärkte die Subkultur von innen heraus. Seinen Außenseiterstatus verlor der Nachkriegsfaschismus mit dem Eintritt des MSI in die Regierung 1994 und als Koalitionspartner während der verschiedenen Regierungen Berlusconis. Seitdem lässt sich von einer vermehrten Fragmentierung des faschistischen ambiente sprechen. Im Kontext der spezifischen Beschaffenheit des politischen Macht- und Parteiensystems in Italien stellt dieser Zerfall auch ein klientelistisches Phänomen dar: Politische Macht bedeutet den Eintritt bzw. das Arrangement mit hergebrachten Netzwerken der Macht, die zu korrupten klientelistischen Abhängigkeitsverhältnissen führen. Die verschiedenen Generationen des Nachkriegsfaschismus sind über die familiären und politischen Netzwerke miteinander verbunden. Dies garantiert den Austausch zwischen ihnen über den familiären Rahmen hinaus in einem Netzwerk, das Mitglieder unterschiedlicher sozialer Herkunft und Bildung miteinander verbindet. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Erinnerungskultur und im Besonderen der faschistische Totenkult, das presente-Ritual. Das Gedenken an die Toten des Zweiten Weltkriegs sowie an die politischen Toten der anni di piombo strukturiert das faschistische Erinnerungsjahr. Die Toten sind Motor für die Lebenden in einer Subkultur, deren Identität auf einer Niederlage im Krieg und auf dem Verlust von Kameraden in unterschiedlichen historischen Kontexten basiert. Indem
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die Faschisten als politische Subkultur nach 1945 einen von der antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft abgegrenzten soziokulturellen Raum bilden, der es ihnen ermöglicht, die Grundwerte der Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen, verursachen sie Unordnung im Sinne von Mary Douglas und ihrem Konzept von Unreinheitsvorstellungen. Der Nachkriegsfaschismus als negatives Pendant zum Antifaschismus gefährdet potenziell die bestehende Ordnung der antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft. Hier werden Dynamiken der Exklusion sichtbar, die auch auf die Struktur von Machtgefügen verweisen.
3
Der Zweite Weltkrieg im Spiegel der Generationen
3.1 (BÜRGER-)KRIEG, TRAUMATISIERUNG, TÄTERSCHAFT 3.1.1 Bürgerkrieg und faschistische Täterschaft La guerra non è mai pulita. (Alessandro F., RSI-Veteran) [Der Krieg ist niemals eine saubere Angelegenheit.]
Verschiedene Mächte kämpften in den letzten zwei Kriegsjahren im geteilten Italien um die Vorherrschaft: der König und die Regierung Badoglio, die alliierten Besatzer im Süden des Landes, Mussolini in der Norditalienischen Sozialrepublik (RSI) als Neuauflage des faschistischen Regimes in Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht, die wachsende Widerstandsbewegung auf dem Territorium der RSI und die Kirche. Damit wurden in diesen beiden Jahren auf italienischem Boden zwei Kriege gekämpft: der Zweite Weltkrieg gegen die Alliierten an der südlichen Front und ein Bürgerkrieg1 zwischen Faschisten und Antifaschisten bzw. unterschiedlichen Partisanengruppen, der sich vor allem gegen Ende zum Teil zu einem dritten Konflikt, einem Klassenkrieg der Armen gegen Besitzbürger- und Großagrariertum ausweitete.2 Die Widerstandsbewegung war zu Beginn der RSI noch ein Minderheitenphänomen, gewann aber schnell an Größe und Bedeutung. Am 9.9.1943 wurde in Rom das Komitee für die nationale Befreiung (Comitato
1
Vgl. dazu Pavone (1991), der den militärischen Konflikt zwischen Truppen der RSI und italienischen Widerstandskämpfern von 1943-1945 erstmalig offen als Bürgerkrieg beschreibt und damit das Narrativ der Resistenza dekonstruiert.
2
Vgl. Woller 1996: 166, zu internen Konflikten innerhalb von Partisanengruppierungen siehe Pansa (2017).
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Centrale di Liberazione Nazionale, CLN), durch die antifaschistischen Parteien gegründet, am 7.2.1944 folgte in Mailand die Gründung des Pendants für den Norden des Landes (Comitato Liberazione Nazionale Alta Italia, CLNAI). Der zunächst unkoordinierte Kampf unterschiedlicher Partisanengruppen sollte dadurch geeint werden.3 Insgesamt wurden seit Entstehung der militärischen Widerstandsbewegung gegen die RSI4 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im April 1945 circa 30 000 bis 40 000 Partisanen im Kampf getötet, etwa 10 000 kamen bei Vergeltungsaktionen zu Tode.5 Die Zahl der Opfer verweist auf die Brutalität des Bürgerkrieges.6 Aktionen der Widerstandsbewegung wurden sowohl von den deutschen Besatzern sowie von Militär und Polizei der RSI oft mit Massakern an der Zivilbevölkerung geahndet.7 Ausgehend von der Region Piemont als Hauptsitz der Partisanen wurden seit Sommer 1944 verschärfte Aktionen gegen die Widerstandsbewegung angeordnet. Die neue Order Mussolinis für den Umgang mit Partisanen lautete seit Juli 1944: [I° Während oder nach dem Kampf gefangengenommene Partisanen werden sofort erschossen; 2° die Versprengten, die bewaffnet aufgegriffen werden, werden nach den Richtlinien der ministerialen Verordnung erschossen; 3° die unbewaffneten Versprengten, die aufgegriffen werden, werden nach Deutschland geschickt; 4° die unbewaffneten Versprengten, die sich unaufgefordert stellen, können zwischen Arbeits- oder Militärdienst in Italien wählen.]8 Osti Guerazzi (2012: 181).
Im ›Lexikon des Widerstandes‹ [Dizionario della Resistenza] findet sich unter dem Schlagwort »Bassano del Grappa«, Name einer Kleinstadt in der Region Veneto, ein Eintrag, der die fortschreitende Verschärfung des Bürgerkriegs beschreibt und verdeutlicht, welche Gräueltaten von faschistischen Truppen begangen wurden:9
3
Vgl. Schieder 2010: 106f.
4
Forschungen zur RSI fokussieren vermehrt den Aufbau der Truppen unter deutscher Aufsicht und militärische Operationen (vgl. Tarchi 2005: 38, Parlato 2006: 89).
5
Vgl. Woller 2010: 197.
6
Vgl. Treskow 2005: 19.
7
Vgl. Schieder 2010: 108f.
8
Übersetzung der Autorin.
9
Übersetzung der Autorin.
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Bassano del Grappa. Stadt an den Ausläufern des Monte Grappa, 35 Kilometer von Vicenza entfernt, Durchgangsstation von und in Richtung des Brenners, war eines der glorreichsten Zentren des Widerstandes, ausgezeichnet mit der goldenen Tapferkeitsmedaille. Dafür zahlte sie einen hohen und blutigen Preis: 171 von Nazifaschisten erhängte Partisanen, 603 Erschießungen von kämpfenden Soldaten, 808 Deportierte, 285 in Brand gesetzte Häuser. An den Hängen des Grappa operierten drei Brigaden: der autonome Verband Freies Italien, ein Teil der Formation Garibaldi und einer der Formation Matteotti. Am 20. September 1944 umstellte eine riesige Anzahl deutscher Truppen zusammen mit den Faschisten der Legion Tagliamento das Gebirgsmassiv des Grappa. Die Aktion wurde bis in die Umgebung von Bassano und auf den umliegenden Anhöhen weitergeführt, wo die Angreifer jedoch auf den harten Widerstand der Partisanen stießen, unter denen sich auch eine Abteilung aus ehemaligen englischen Kriegsgefangenen befand, deren Kommandant Oberleutnant Hilary sein Leben in den ersten Gefechten verlor. Zunächst zurückgedrängt, kehrten die Nazifaschisten mit einem Manöver zum Angriff zurück, das sich auf die Brigade Freies Italien bezog, während eine andere Kolonne, von Solanga kommend, sämtliche Häuser auf ihrem Weg in Brand steckte, das Kommando der Partisanen in Campo di Croce besetzte und die Partisanen zwang, sich auf die Bergspitze zurückzuziehen. Dabei fiel Hauptmann Girogi, Kommandant der autonomen Brigade; viele andere wurden gefangen genommen (sie sollten später zusammen mit anderen Partisanen aufgehängt werden, unter denen sich auch sieben nicht identifizierte britische Militärs befanden). Andere Patrioten wurden direkt nach ihrer Gefangennahme noch am selben Ort erschossen; unter ihnen die beiden südafrikanischen Soldaten David Baillie und George Furie, des weiteren ein anderer Engländer und ein Inder, deren Namen unbekannt sind. Weitere 13 italienische Partisanen, die zuvor misshandelt worden waren, wurden an den Bäumen von Cavaso del Tomba aufgehängt, zwei von ihnen (Leo Menegozzo und Cino Ceccato) vor ihren eigenen Häusern in Possagno. Die Tötungen dauerten bis zum 26. September an: sechsundzwanzig in Carpané (unter den Ermordeten der Oberleutnant Vangelo Valle und seine Frau Anna Giglioli in sichtbar schwangerem Zustand); sechs Erschossene in Crespano del Grappa wo auch der Oberleutnant Giarnieri aufgehängt wurde; dreizehn in Semonzo und Santa Eulalia; sechs in Mussolente, davon vier Carabinieri. Bei der Erhängung von einunddreißig Partisanen an den Bäumen der Allee von Bassano am 26. September, die heute »Allee der Märtyrer« genannt wird, wurde die Bevölkerung zur Teilnahme gezwungen. Am Hals der Ermordeten war ein Schild mit der Aufschrift ›Verbrecher‹ befestigt. (Rendina 1995: 24)
Im Krieg werden die Regelungen des zivilen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt, Töten im Kampf gehört zur Aufgabe eines Soldaten: »Die Legitimation des Tötens im Krieg durch staatliche Macht muss eine grundsätzliche Umkehr leisten: Sie muss sowohl die Tötungshemmung, die wir aus der Ethnologie kennen,
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abbauen, als auch ein verinnerlichtes kulturelles Gebot zeitweise und für viele Menschen außer Kraft setzen.« (Hüppauf 2011: 237)
Aus Sicht der historischen Anthropologie existieren vier Grundstrategien der Mobilisierung zum Krieg, die eine Legitimierung des Tötens beinhalten: das Erlangen von Heldentum als Zugang zur Unsterblichkeit, potentielle Beute, Entmenschlichung des Feindes und die Furcht zu versagen10 – Motivationen, die innerhalb des spezifischen soldatischen Existenzrahmens ihre Sinnhaftigkeit entfalten. Über all dem steht das Ziel eines jeden Krieges: diesen zu gewinnen, möglichst viele Feinde zu töten und selbst zu überleben.11 In das Militär einzutreten bedeutet dementsprechend den Eintritt in eine neue soziale Ordnung aus der Zivilgesellschaft heraus in eine Gemeinschaft mit spezifischen Regeln. Für einen Soldaten bedeutet Zugehörigkeit zum Militär nicht nur militärische Ausbildung und Umgang mit Waffen, sondern auch absoluten Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten innerhalb der hierarchischen Strukturen des Militärs als Institution.12 Das Selbstverständnis von Soldaten ist vor allem durch die Bindung innerhalb der Gruppe der Kameraden als Kampfgemeinschaft geprägt, für die es im Krieg um Leben und Tod geht. Das soldatische Wertesystem schützt in der Gemeinschaft davor, sich während der Dauer des Krieges schuldig zu fühlen.13 Nach Neitzel/ Welzer zeichnet sich der Referenzrahmen »Krieg« durch spezifische Rollenmodelle im Rahmen des militärischen Werte- und Moralkodexes, kriegsspezifische Deutungsmuster aus der Sicht der Soldaten, bestimmte soziale Verpflichtungen gegenüber den Kameraden und schließlich die Unwissenheit über den Ausgang des Krieges aus.14 Jeder Soldat durchläuft im Krieg einen Prozess der Brutalisierung:15 All’inizio la guerra è abbastanza da Gentleman, più che va avanti peggio diventa. [Am Anfang ist der Krieg einigermaßen anständig, je weiter er fortschreitet, desto schlimmer wird er.]
So beschrieb der RSI-Veteran Alessandro F. die Brutalisierung der Soldaten. Er berichtete von einem Prozess des emotionalen Abstumpfens mit Fortschreiten des Krieges:
10 Vgl. Stietencron 2008: 43. 11 Vgl. Hüppauf 2011: 233. 12 Vgl. Neitzel/ Welzer 2011: 31. 13 Vgl. Neitzel/ Welzer 2011: 37. 14 Vgl. Neitzel/ Welzer 2011: 390-394. 15 Vgl. Neitzel/ Welzer 2011: 83, Hüppauf 2011: 230.
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Salta fuori la…come potrei dire, il sentimento di delinquenza che purtroppo alberga in ognuno di noi. Al fronte specialmente si creano amicizie. Però se il tuo amico del cuore in un’azione muore, al momento ti dispiace ma dopo un giorno già non ci pensi più. Si diventa insensibile – meglio lui che io. [Es kommt zum Vorschein…wie soll ich sagen, das kriminelle Potenzial, das leider in jedem von uns steckt. Vor allem an der Front bilden sich Freundschaften. Aber wenn dein bester Freund bei einer Aktion stirbt, tut es dir zwar in diesem Moment leid, einen Tag später jedoch denkst du schon nicht mehr daran. Man wird gefühllos – lieber er als ich.]
Alessandro, der mit einer Einheit der Decima Flottiglia MAS hauptsächlich gegen Partisanenverbände gekämpft hatte, erinnerte den Krieg als eine Zeit, in der sie als Soldaten die Menschlichkeit eines zivilen Daseins verloren hatten. Von einem Besuch in Mailand Ende des Jahres 1944 zusammen mit einem Kameraden erinnerte er vor allem die ständige Furcht: Di sera siamo ritornati in albergo, c’era la nebbia, ci siamo persi e abbiamo sentito dei passi. Non si era mai sicuri di niente. Subito io mi sono messo da una parte della strada, lui si è messo dall’altra parte, abbiamo tirato fuori la pistola. …Chi va là?16 Sempre con la paura che fossero pronti a sparare. Non era più un vivere civile, sempre stare con l’idea che alle spalle qualcuno ti sparasse. [Abends sind wir ins Hotel zurückgegangen, es war neblig, wir haben uns verlaufen und dann haben wir Schritte gehört. Man konnte sich niemals sicher sein. Ich bin sofort auf die eine Seite der Straße gegangen, er auf die andere, wir haben die Pistolen gezogen…Wer ist da? Immer mit der Angst, dass sie gleich schießen würden. Das war kein ziviles Leben mehr, immer davon auszugehen, dass jemand aus dem Hinterhalt auf dich schießt.]
Die Erfahrungen des Krieges veränderten einen Mann, sagte Manfredo V., ebenfalls Veteran der Marineeinheit Decima Flottiglia MAS.17 Die Brutalisierung der Soldaten gehe mit dem Verlust eines Teils des Selbst einher: Si perde qualcosa di sacro, di molto intimo. Perché c’è qualcosa che viene inserito da un evento straordinario, un evento drammatico, un evento di morte, di difesa. L’uomo cambia, diventa…ho visto degli uomini diventare perfettamente crudeli, cattivi…dipende dall’indole. Anziché darti il colpo di grazia ti danno un calcio in culo – è difficile, sono momenti irripetibili nella vita civile.
16 Erkennungsruf der Truppen der RSI. 17 Vgl. Kapitel 2.1.3 und 3.2.1.
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[Man verliert etwas Heiliges, etwas sehr Intimes. Denn es gibt etwas, das nach einem außergewöhnlichen Ereignis zurückbleibt, einem dramatischen Ereignis, einem Ereignis, das mit dem Tod zu tun hat, mit Verteidigung. Der Mensch verändert sich, er wird…ich habe Menschen extrem grausam werden sehen, gemein…das hängt vom inneren Wesen ab. Statt dir den Gnadenschuss zu geben, geben sie dir einen Tritt in den Hintern – das ist schwierig, es sind Momente, die nicht wiederholbar sind im zivilen Leben.]
Krieg ist eine Extremsituation, Töten und Überleben sind innerhalb dieses Erfahrungskomplexes eng miteinander verzahnt, Täter- und Opfererfahrung liegen nah beieinander. Ugo S., RSI-Veteran, der in der Einheit Battaglioni M, gedient hatte,18 sprach von emotionaler Abstumpfung, denn im Krieg gewöhne man sich an den Tod. Von den Spice Girls gebe es einen Song, »Born to die« [Geboren werden, um zu sterben], der erinnere ihn immer an den Krieg: der Tod sei in dieser Zeit ständig präsent und damit der beste Freund der Soldaten gewesen. 3.1.2 Kriegsneurosen Als Trauma bezeichneten die alten Griechen eine Wunde oder Verletzung, also einen Schaden am menschlichen Körper, der verheilen, aber auch Narben und andere Folgebeschwerden hinterlassen kann. Das Wort erscheint seit dem 19. Jahrhundert immer häufiger im deutschen Sprachraum, bald in einer erweiterten Bedeutung als Bezeichnung für seelische Verletzungen in Extremsituationen, die bleibende Spuren im Seelenleben hinterlassen. Über die Dauerhaftigkeit der Nachwirkungen seelischer Traumatisierungen wird in der psychologischen und medizinischen Literatur diskutiert. Die Definition eines psychischen Traumas19 und seiner Spätfolgen ist an den jeweiligen sozialen und historischen Kontext gebunden sowie an Debatten über materielle Entschädigung der Opfer von Katastrophen, Naturkatastrophen, Unfällen oder Krieg gekoppelt. Seit den ersten Traumakonzeptionen Ende des 19. Jahrhunderts existieren zwei Erklärungsmodelle: der somatische Ansatz, welcher das Trauma mit körperlichen Veränderungen erklärt, sowie der psychologische, der in Zusammenhang mit der Entwicklung der Psychoanalyse steht und ausgehend von der traumatischen Neurose den psychischen
18 Vgl. Kapitel 2.1.3. 19 Unterschieden wird generell zwischen zwei Ursachen eines Traumas: (Natur-)Katastrophen und durch Menschen verursachtes traumatisches Erleben (sogenannte man-madedesaster).
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Zustand des Betroffenen zentral miteinbezieht. In den 1892 vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Studien über Hysterie unterscheidet Freud20 zwischen körperlichen und seelischen Verletzungen, die er in den meisten Fällen als Ursache für hysterische Symptome ansieht. Als Trauma kann nach Freud »jedes Ereignis wirken, welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft, und es hängt begreiflicherweise von der Empfindsamkeit des betroffenen Menschen […] ab, ob das Erlebnis als Trauma zur Geltung kommt.« (Freud 1952[1892]: 84)
Nach seinen Erfahrungen mit traumatisierten Veteranen des Ersten Weltkrieges erweiterte er seine Definition des psychischen Traumas.21 Anlass für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Trauma sind damit in erster Linie die Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Kriegsneurosen sind das Ergebnis einer komplexen Kriegsrealität. Noch im Ersten Weltkrieg wurden stark traumatisierte Soldaten als »Kriegszitterer«22 denunziert. Die vorherrschende Ansicht, der Mensch müsse großen Belastungen ohne seelische Beeinträchtigung und Spätfolgen jeglicher Art generell standhalten, wird in der Arbeit mit Überlebenden der Konzentrationslager des Zweiten Weltkrieges umfassend revidiert. Zeitgleich führten Untersuchungen über Veteranen des Vietnamkriegs in den USA in den 1980er-Jahren23 zu einer ernsthaften und vertieften Auseinandersetzung mit posttraumatischen Belastungsstörungen bei Soldaten (kurz PTB bzw. post-traumatic stress disorder, PTSD).24
20 Zur Traumatheorie Freuds siehe auch: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916-1917), und: »Aus den Anfängen der Psychoanalyse« (Briefsammlung aus den Jahren 1878-1902). Eine gute Definition des Phänomens sowie ein guter Überblick über die Begriffsgeschichte finden sich bei Laplanche/ Pontalis (1973) und bei Mertens/ Waldvogel (2000). 21 Freud bezieht sich dabei auf die 1919 erschienene Schrift Psychoanalyse der Kriegsneurosen von Abraham, Ferenczi, Simmel und Jones, zu der er das Vorwort verfasste. 1920 stellte er in Jenseits des Lustprinzips fest: »Ein volles Verständnis ist bisher weder für Kriegsneurosen noch für die traumatischen Neurosen des Friedens erzielt worden.« (Freud 1972[1920]: 9). 22 Vgl. Hermes 2012. 23 Vgl. National Vietnam Veterans Readjustment Study (NVVRS), erste Studie zur Untersuchung von PTSD bei Vietnam Veteranen im Jahr 1988. 24 PTB/ PTSD beschreibt die Entwicklung einer charakteristischen Symptomatik nach dem Erleben eines (extrem) traumatischen Ereignisses und kann erst ab einen Monat nach dem Ereignis festgestellt werden. Die Kriterien für eine erfolgreiche Diagnose
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In der Folge wurden chronische Belastungsstörungen bei Soldaten, hervorgerufen durch traumatische Erfahrungen, in der Medizin erstmalig offiziell als Krankheitsbild anerkannt. Posttraumatische Belastungsstörungen sind keine zwingende Folge, vielmehr ist ihre Ausprägung von den spezifischen Kriegserfahrungen, der Beschaffenheit der Psyche sowie der jeweiligen familiären und sozialen Situation vor und nach dem Krieg abhängig. Unterschieden wird seitdem zwischen unterschiedlichen Formen von Traumatisierungen, die sich auf Intensität und Dauer der traumatischen Erfahrung beziehen und die Situation vor und nach dem Trauma analysieren. Entscheidend ist im Falle von durch Menschen verursachten traumatischen Erfahrungen das Machtgefälle zwischen Opfer und Täter sowie der Grad der erlebten Ohnmacht auf Seiten des Opfers.25 Soldaten mit Kriegserfahrung sowie die Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten sind in der Regel traumatischen Stressoren ausgesetzt;26 die Ausbildung posttraumatischer Belastungsstörungen ist wahrscheinlich, wenn auch nicht zwingend. Psychische Spätfolgen bei Soldaten können u.U. erst Jahre nach dem Krieg auftreten.: »Die beiden Weltkriege haben so viele traumatisierte Menschen ›produziert‹, dass die Traumatisierung fast die Normalität war – ideale Voraussetzungen also, die entsprechenden Phänomene sozialwissenschaftlich zu untersuchen. Diese Möglichkeit blieb jedoch weitgehend ungenutzt. Eine Aufarbeitung des Leidens und der Folgen für die deutsche Bevölkerung und der Soldaten hat nach dem Zweiten Weltkrieg kaum stattgefunden. Soweit es neuere Untersuchungen gibt, besagen diese, dass viele Betroffene heute nach über 60 Jahren immer noch Symptome einer Belastungsstörung haben. Bei den modernen Kriegen geht man für den Vietnam-Krieg davon aus, dass 15 Prozent der Männer und 31 Prozent der Frauen mit Gefechtserfahrung eine solche Störung entwickelt haben, im Golfkrieg schwanken die Zahlen zwischen 5,4 Prozent und 12,1 Prozent.« (Fröhling 2012: 16)
Gemeinsam ist allen Arten von Traumata die Grundstruktur der unerwarteten Umkehrung von Sicherheit in Existenzangst. Das gewohnte Weltbild wird in sein Gegenteil verkehrt und Urvertrauen existenziell erschüttert.27 Traumatische Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur schwer oder überhaupt nicht zu
sind dabei klar definiert: Wiederholungszwang, Vermeidungsverhalten und Übererregung (vgl. Butollo 1999: 13/ 14). 25 Vgl. Kühner 2008: 77. 26 Kriegserfahrung fällt unter die Kategorie der »Stressoren, die über einen längeren Zeitraum andauern oder sich wiederholen und somit zur erwartbaren Belastung werden.« (Butollo 1999: 15). 27 Vgl. Giesen 2004: 31.
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verarbeiten sind. Sie werden daher häufig wiederdurchlebt, beispielsweise in Form von Albträumen. Zu den Symptomen gehören weiterhin Mechanismen der Verdrängung, verminderte emotionale Reaktionen bzw. Abstumpfen, permanente Übererregung und Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhte Reizbarkeit oder Wachsamkeit.28 Mit dem Ziel einer weiteren Ausdifferenzierung des Krankheitsbildes posttraumatischer Belastungsstörungen wird der Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der das Trauma auslösenden Situation und den Reaktionen in der Wissenschaft weiter diskutiert.29 Erörtert wird in diesem Kontext auch die Existenz eines spezifischen Traumagedächtnisses, das von einer Erinnerungsfragmentierung bei traumatischen Ereignissen durch Verdrängung und Dissoziation ausgeht.30 Dem Konzept des Traumagedächtnisses liegt die Annahme zugrunde, dass sich traumatische Erinnerungen in ihrer Qualität von anderen Arten der Erinnerung unterscheiden, da während des traumatischen Erlebens eine enorme Menge von Stresshormonen ausgeschüttet wird. Erinnerungsfragmente können in ähnlichen Situationen in ihrer ursprünglichen Intensität (unkontrolliert) reaktiviert werden; eine kontrollierte Aktivierung der Erinnerung an traumatische Erlebnisse kann erst nach Integration in das autobiographische Gedächtnis erfolgen. Die Notwendigkeit des Miteinbeziehens der kulturell-gesellschaftlichen Dimension wird deutlich, wenn man das Trauma als ein mehrteiliges Ereignis begreift, das nicht mit der traumatischen Erfahrung und den Symptomen der Trau-
28 Vgl. Butollo 1999: 13/ 14. 29 Ein Überblick über Trauma-Konzepte findet sich bei Wendt (2010): Psychodynamische Modelle basieren auf Freuds Definition des Traumas als einem Ereignis, das durch Reizüberflutung die psychischen Schutzmechanismen eines Menschen außer Kraft setzt. Entwicklungspsychologische Modelle fokussieren seit den 1980er-Jahren die Wirkung von Traumata in spezifischen Lebensabschnitten, im Vordergrund stehen frühkindliche körperliche und sexuelle Traumatisierungen innerhalb der Familie, welche die Entwicklung der Persönlichkeit beeinträchtigen können. Behaviorale und kognitive Modelle benennen erlerntes Vermeidungsverhalten als Ursache für PTSD. Ähnlich kognitive Informationsverarbeitungsmodelle, die seit den 1990er-Jahren von assoziativen Netzwerken sprechen, die bei traumatischem Erleben entstehen und in der Folge nur schwer auflösbar und leicht reaktivierbar sind. Modelle der genetischen Disposition suchen nach genetischen Ursachen für PTSD, auch im transgenerationalen Kontext, neurobiologische Modelle erklären PTSD mit Veränderungen im Gehirn. 30 Zur Existenz eines Traumagedächtnisses siehe Van der Kolk (2000), eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept findet sich bei Volbert (2011).
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matisierung endet, sondern entscheidend von der auf die Traumatisierung folgenden Situation beeinflusst wird.31 Die unterschiedlichen individuellen Dimensionen traumatischer Erfahrung sowie ihre spezifische Kontextabhängigkeit machen deutlich, dass traumatische Prozesse vor allem in ihrer Differenz zu verstehen sind.32 Die Vielfalt der Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen hat u.a. zu einer Debatte über die Eingrenzung des Traumabegriffs geführt, die bis heute kontrovers geführt wird.33 Die Grenzen der Beurteilbarkeit traumatischer Erfahrung verschwimmen bisweilen, eine inflationäre Verwendung des Traumabegriffs führte mitunter zu einer relativierten und vereinfachten Sicht auf Opfer.34 So kann der Traumadiskurs dem Opferstatus Vorschub leisten, der moralische Vorteile mit sich bringen kann, dabei aber zu Lasten einer klaren Differenzierung von und Auseinandersetzung mit Tätern und Opfern geht.35 Auch die individuelle Auseinandersetzung mit (traumatischen) Kriegsfolgen ist in gesellschaftliche Diskurse und kollektive Narrative eingebettet und mit dem Diskurs über Täterschaft im Rahmen der nach einem Krieg herrschenden politischen Machtverhältnisse verknüpft. Ein Beispiel für die Problematik der Einseitigkeit und die Gefahr von Traumadiagnosen zeigt sich auch in den PTSD-Untersuchungen anhand der Vietnamveteranen in den USA. Die Diagnosen beschränken sich auf einzelne Symptome, ohne den sozialpolitischen und historischen Kontext zu beachten, und ermöglichen so die Umwandlung von Tätern (Soldaten im Vietnamkrieg) in Opfer (unter Stresssymptomen leidende Kriegsveteranen) sowie das Ausblenden der vietnamesischen Opfer. Traumadiagnosen haben Auswirkungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene und können soziale Wirklichkeiten verfälschen oder sogar verleugnen. 3.1.3 Täterschaft im nationalen Diskurs Diskurse über Täterschaft sind an die Konstellation der jeweiligen Machtverhältnisse gebunden. Ein kollektives Bewusstsein für Täterschaft entsteht in der Regel durch Konfrontation von außen. Im Falle einer Niederlage, die einen existenziellen Machtverlust beinhaltet, lässt sich nach Giesen auch von einem (kollektiven)
31 Vgl. Becker 2001: 19. 32 Vgl. Becker 2006: 156. 33 Wendt mahnt, die extreme Intensität einer traumatischen Erfahrung sowie das Ausmaß der großen Belastungssituation nicht aus den Augen zu verlieren, um das Risiko der Beliebigkeit bei der Definition von Trauma einzugrenzen und eine Trivialisierung des Begriffs zu vermeiden (vgl. Wendt 2010: 4,9 und 10). 34 Vgl. Becker: »Suche nach einer Weltkultur der Opfer« (Becker 2006: 150). 35 Vgl. Eggers 2001: 603.
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Tätertrauma sprechen.36 In ihr Gegenteil verkehrt werden für die Kriegsverlierer die bisherigen, das eigene Tun legitimierenden Wertekategorien, das politische Regime wird rückwirkend kriminalisiert. Der Moment der Machtumkehr bei Kriegsende war auch prägend für viele RSI-Veteranen. Das Töten, das einst im Kontext des Soldatendaseins legitim war, wurde zum Verbrechen, zum illegalen Akt. Am Beispiel Deutschlands wird deutlich, wie komplex die Auseinandersetzung mit Täterschaft ist. Erst seit den 1960er-Jahren gibt es eine Diskussion über die eigene Tätervergangenheit, die auch durch Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) angeregt wurde, die sich mit dem Aspekt der in ihren Augen bis dato verdrängten Vergangenheit der Deutschen auseinandersetzen. Deutsche Identität ist entscheidend durch den Diskurs über den Begriff der Täternation und die Verantwortung für den Mord an den europäischen Juden geprägt. Trotzdem wurden Täterschaft und deren Bearbeitung erst Jahrzehnte nach Kriegsende zum Gegenstand der Forschung.37 Moser spricht in diesem Kontext von einem »stillschweigend eingehaltenen Tabu« bezüglich der »Spätfolgen der NS-Zeit beim Tätervolk« (Moser 1996: 119) bis Ende der 1980erJahre. Ein Begriff, der in diesem Kontext geprägt wurde, ist die »Vergangenheitsbewältigung«. Interessant ist, dass es in Italien keinen entsprechenden Terminus gibt, keine Übersetzung; stattdessen wird der deutsche Begriff verwendet – meist im wissenschaftlichen Kontext oder unter Experten. Es handelt sich dabei um eine sprachliche Lücke, die kennzeichnend für den italienischen Vergangenheitsdiskurs ist. Die kollektive Erinnerungskultur in Italien ist in erster Linie durch den Resistenza-Mythos und die Schuldzuweisung an das nationalsozialistische Deutschland geprägt. Dieses Narrativ der Vergangenheit arbeitet mit starken Gegenbildern: dem cattivo tedesco [schlechter Deutscher], wird der buono italiano38 [guter Italiener] entgegengesetzt.39 Um unter den alliierten Siegern des
36 Vgl. Giesen 2004. 37 1982 wurde in New York von Bergmann/ Jucocvy der Sammelband Kinder der Opfer, Kinder der Täter zum Thema Nachkommen von Tätern herausgegeben, 1995 wurde er ins Deutsche übersetzt. Die Autoren stellen einige Fallstudien von Täternachkommen aus der psychotherapeutischen Praxis vor. In Deutschland befasste sich Sichrovsky 1987 in seinem Buch Schuldig geboren: Kinder aus Nazifamilien als erster mit Nachkommen von Nazitätern. 38 Vgl. Focardi 1996 und 2013. 39 Zur Verdrängung eigener Täterschaft bei italienischen Soldaten vgl. Osti Guerazzi (2010).
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Zweiten Weltkrieges anerkannt und Mitglied der Vereinten Nationen werden zu können, distanzierte man sich so weit wie möglich vom ehemaligen Achsenpartner und stilisierte die italienische Resistenza zum nationalen Befreiungskampf.40 Die Italiener wurden so in der nationalen Nachkriegserzählung zu Opfern des Faschismus und der Kriege des faschistischen Regimes unter Mussolini. Vor diesem Hintergrund verblassten der Faschismus vor 1943 sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach faschistischer Täterschaft.41 Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus fokussierte in erster Linie die RSI. Die Kriegsschuld wurde damit bei Mussolini, seinem faschistischen Regime und vor allem der RSI sowie den Deutschen verortet, während man sich als eine Nation inszenierte, die sich aus eigener Kraft vom Faschismus und der deutschen Besatzung befreit hatte: »Die ritualisierte Geschichte der ›Resistenza‹ wurde damit zur Meistererzählung der italienischen Politik erhoben, die vor allem in zahlreichen staatlich alimentierten Resistenza-Instituten gepflegt wurde, aber auch für den Geschichtsunterricht an den Schulen verbindlich war. Die Geschichte des Faschismus wurde auf diese Weise gezielt auf die Geschichte des Antifaschismus reduziert.« (Schieder 2010: 112)
Die Resistenza wurde damit zur Legitimation der italienischen Nachkriegsrepublik. Vor allem während der Zeit der extremen politischen Spannungen der 1970erund 1980er-Jahre (anni di piombo) wurde der Antifaschismus im Kontext des Kalten Krieges politisch instrumentalisiert.42 Für die kollektive Sichtweise der Vergangenheit charakteristisch erweist sich daher die Widersprüchlichkeit der fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit Faschismus und faschistischen Verbrechen in einer Gesellschaft, die sich als antifaschistisch definiert.43 Unter den Veteranen der RSI führte der nationale Täterdiskurs zu einer Abschottung gegen den Vorwurf der Täterschaft von außen. Das Narrativ der eigenen Kriegsvergangenheit als Heldengeschichte wurde notwendig, um die eigene soziale Position aufzuwerten und die Gemeinschaft der Veteranen von innen heraus zu stärken.44 Diese Haltung ließ keinen Raum für einen (kollektiven) Schulddiskurs, der Täterdiskurs in der antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft beförderte
40 Vgl. Focardi 2005: 8. 41 Vgl. Schieder 2010: 106. 42 Vgl. Focardi 2005: 46-48. 43 Vgl. Berger/ Pezzetti 2009, siehe Einleitung und Kapitel 2.1.3. 44 Vgl. Kapitel 2.1.4.
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vielmehr die Negierung eigener Täterschaft. So wenig, wie ein Diskurs über Täterschaft und Kriegserfahrung möglich war, so wenig gab es einen akzeptierten Raum für die Verhandlung von Belastungen und Kriegsfolgen auf persönlicher Ebene unter den RIS-Veteranen.
3.2 DIMENSIONEN IM UMGANG MIT TÄTERSCHAFT 3.2.1 An den Grenzen des Sagbaren: wo Schuld beginnt Die meisten Veteranen verfolgten, zumindest während der ersten Gespräche mit mir, die Strategie, den Krieg als tragische Heldengeschichte zu erzählen oder emotionslos als reine Abfolge historischer Daten über den Kriegsverlauf. Betont wurden heldenhafte Leistungen im Krieg, das erbrachte Opfer für die Nation, Gewalterfahrung und Entbehrungen, der Tod von Kameraden, Hunger, Internierung in Gefangenenlagern sowie nach Kriegsende die Angst vor Lynchaktionen durch italienische Partisanen. Erzählstrategien der Selbstverteidigung in Form von Heldengeschichten und Opfernarrativen.45 Viele lebten scheinbar unbeschadet mit ihren Kriegserfahrungen, ohne sichtbare Belastungen, Verletzungen, besonderen Schmerz oder andere Symptome (traumatischer) Kriegsfolgen und schienen ein unproblematisches Verhältnis zu Täterschaft zu haben. Bisweilen war ich überrascht von der (scheinbaren) Banalität und Lückenlosigkeit einiger Kriegserzählungen, die den Blick auf die Schrecken des Krieges nicht freigaben. Emotionen und Schwäche zu zeigen oder über Täterschaft im Krieg zu sprechen war im Kollektiv der RSI-Veteranen tabuisiert.46 Sichtbar wurden in meinen Gesprächen über den Krieg unterschiedliche Strategien der Distanzierung von Täterschaft sowie der Immunisierung gegen negative Emotionen: Manfredo V. beispielsweise, Veteran der Marineeinheit Decima Flottiglia MAS, sprach in seinen Erzählungen über den Krieg von sich selbst ausschließlich in der dritten Person als il personaggio [die Figur, im Sinne von: die Hauptperson]. Er war damit zum Protagonisten seiner eigenen Erzählung avanciert, wodurch er die Hoheit eines Erzählers über die eigene Vergangenheit behielt. Das Aufschreiben seiner Kriegserinnerungen war im Alter zu einem wichti-
45 Vgl. Kapitel 2.1.3. 46 Vgl. dazu auch Heer (2004), der die Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit eigener Täterschaft im Falle Deutschlands anhand der beiden Wehrmachtsausstellungen von 1995 und 2001 in Hamburg aufgezeigt hat.
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gen Lebensinhalt für ihn geworden. Offenbar war das Einnehmen einer (literarischen) Distanz jedoch auch in unseren Gesprächen eine notwendige Strategie, um über den Krieg sprechen zu können. Heldengeschichten sind jedoch immer auch Geschichten über Opfer und können leise und fast unmerklich zu Tätergeschichten werden, wenn man genauer hinschaut. In meinen Gesprächen suchte ich nach den verschwiegenen Erfahrungen und verborgenen Emotionen im Umgang mit Kriegserleben und Täterschaft, aber oft dauerte es lange, bis ich hinter die Fassade des Masternarrativs blicken konnte. Ich musste zwischen den Zeilen lesen und wortlose Botschaften hören. Das lautstark Vorgebrachte einerseits und das Schweigen andererseits verrieten in vielen Fällen gleichermaßen Probleme im Umgang mit (traumatischen) Kriegserlebnissen und Täterschaft. Nur wenige wagten es, mir im Laufe der Zeit explizit von verstörenden Emotionen oder auch von Täterschaft und Schuldgefühlen zu erzählen. Solche Berichte erforderten eine Vertrauensbasis, die sich nur langsam entwickelte und oft wartete ich auch vergeblich.47 Viele RSI-Veteranen schwiegen ihr Leben lang über in ihren Augen negative Aspekte des Kriegsverlaufs – der Gemeinschaft der Veteranen sowie dem traditionellen faschistischen Weltbild verpflichtet, in dem der Mann Schutz und Schild, Ernährer und Oberhaupt seiner Familie ist und sich keine Blöße erlauben darf.48 Die Sozialisierung im Faschismus bildet den gemeinsamen Erfahrungshintergrund der RSI-Veteranen.49 Die faschistische Doktrin propagierte die kollektive Opferbereitschaft des Einzelnen zum Wohle des Regimes getreu dem Motto credere, obbedire, combattere [glauben, gehorchen, kämpfen]. Dieses Selbstbild erschwerte eine persönliche Auseinandersetzung mit Täterschaft zusätzlich, das Sprachtabu wirkte in viele Familien hinein. Auf der Suche nach den Spuren traumatischer Kriegserfahrung und Täterschaft und den Spätfolgen 70 Jahre nach Kriegsende musste ich mein Suchfeld daher erweitern – manches wurde erst in den Generationen der Kinder und Enkel und in versteckten Familiendynamiken sichtbar.50
47 Vgl. Prolog. 48 Zur Umwandlung von Männern in Soldaten bzw. »Kampfmaschinen« als zentraler Aspekt der faschistischen Ideologie (Theweleit 1980: 144-154), zur ausschließlichen Rolle des Mannes als Soldat im Dienste des faschistischen Staatsapparates (Luini 1936: 819/ 820). 49 Vgl. auch Kapitel 3.4.1. 50 Vgl. Kapitel 3.4.
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Michele: abbiamo sparato [wir haben geschossen] * Es dauert lange, bis die ersten RSI-Veteranen51 bereit sind, mit mir über den Krieg zu sprechen. Bereits bei meinem ersten Treffen mit Alessia B. im März 2012 bitte ich um ein Treffen mit ihrem Vater Michele, Veteran der RSI.52 Vor diesem Treffen vergehen jedoch noch einmal mehrere Wochen. An einem sonnigen aber ungewöhnlich kalten Maitag treffen wir uns schließlich bei Tonio R., ebenfalls RSIVeteran, in der Nähe des Vatikans. Mit seiner Frau lebt er in einer sehr geräumigen Wohnung in einem historischen Palazzo, die vom Wohlstand der Besitzer zeugt. Grazie che sei venuta [Danke, dass du gekommen bist], begrüßt mich Alessia. Sie scheint nervös und es ist ihr anzumerken, wie heikel die Organisation des Treffens gewesen sein muss. Eingeladen wurde ein dritter RSI-Veteran, Alessandro F. Wie ich später erfahre, wurde meine Vertrauenswürdigkeit lange diskutiert. Aufgrund des mir entgegen gebrachten Misstrauens habe ich Mühe, bei diesem ersten Gespräch einen Zugang zu den drei Veteranen zu finden. Ich sitze einer allzu glatten Fassade aus historischen Fakten gegenüber: Sehen soll ich drei Kriegshelden –Anwälte in eigener Sache, Michele B., Tonio R. und Alessandro F. Alle sind Jahrgang 1925 und haben sich nach dem 8. September 1943 freiwillig zum Militärdienst der RSI gemeldet. Nach einer kurzen Ausbildung zum Offizier haben sie jeweils kleinere Einheiten befehligt, die hauptsächlich im Kampf gegen italienische Partisanenverbände eingesetzt wurden. Alessandro ist bereits Witwer, die beiden Frauen von Michele und Tonio ziehen sich in den großen Salon zurück, während ich mich mit Alessia zusammen in die Welt der Veteranen begebe: ein dunkles Arbeitszimmer voller schwerer, antiker Möbel mit hohen Bücherregalen an den Wänden. In jedem Raum dieser Wohnung atmet man Bildung und Wohlstand der guten römischen Gesellschaft. Wertvolle Teppiche dämpfen unsere Schritte auf dem Boden und in der Mitte des Raumes steht ein großer Tisch aus dunklem Holz, um den wir zu fünft Platz nehmen. Mir gegenüber sitzt Tonio, in Anzughose und Hemd, Michele an der Stirnseite zu meiner Linken in einem stilvollen schwarzen Anzug – beide haben sich offenbar feingemacht. Alessia sitzt neben mir, Alessandro am Kopfende trägt als einziger ungezwungen Cordhosen und ein kariertes Hemd. Bei Gebäck und Saft aus teurem Geschirr werde ich einer sehr genauen Musterung unterzogen. Alle drei wirken auf jeweils eigene Weise gebrechlich, nichts erinnert an die jungen Männer und Soldaten, die vor langer
51 Weitere Details zu den Truppeneinheiten meiner Informanten werden in diesem Abschnitt ausgelassen, um die Anonymität meiner Gesprächspartner zu gewährleisten. 52 Vgl. Kapitel 2.1.1.
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Zeit voller Enthusiasmus in den Krieg zogen, in dem sie den Tod riskierten und höchstwahrscheinlich selbst töteten. Die Veteranen konzentrieren sich während des Gesprächs auf historische Fakte. Ich höre ein Plädoyer für ihre Version des Krieges, wobei sie immer wieder auf den Gegensatz zur offiziellen antifaschistischen Version der Vergangenheit verweisen: La storia la scrivono i vincitori! [Die Sieger schreiben die Geschichte!] betonen sie wiederholt und z.T. verbittert. Getreu dem Masternarrativ der RSIVeteranen betonen sie die Gewalt der italienischen Partisanen während des Krieges und nach Kriegsende, die unmenschlichen Bedingungen im alliierten Gefangenenlager Coltano in der Nähe von Pisa, in dem alle drei nach Kriegsende einsaßen. All diese Tatsachen würden von der antifaschistischen Geschichtsschreibung ignoriert. Sie zeichnen ein Bild der RSI-Veteranen als Opfer einer in ihren Augen ungerechten Niederlage. Das Gespräch verläuft auf einer oberflächlichen Ebene der Rechtfertigung, Referenzpunkt ist ausschließlich der antifaschistische Vergangenheitsdiskurs. Betont wird die subjektiv wahrgenommene Marginalisierung im Nachkriegsitalien als Verlierer des Krieges und Täter. Sobald ich nach konkreten, persönlichen Erlebnissen frage, nach Emotionen oder dem Gemütszustand von damals, weichen alle drei aus. Tonio holt ein Geschichtsbuch nach dem anderen aus dem Regal, um seine Aussagen zu untermauern. Keiner will sich auf das Glatteis des Persönlichen begeben. Alle meine Fragen nach der Lebenswirklichkeit des Krieges mit dem Ziel, diese historische Lehrstunde zu durchbrechen und das Gespräch auf eine persönliche Ebene zu bringen, werden im Laufe unseres circa zweistündigen Gesprächs ignoriert. Mit steigender Resignation wage ich irgendwann einen letzten Vorstoß und frage noch einmal, wie sie die Zeit des Krieges aus einer dezidiert emotionalen Perspektive heraus beschreiben würden, wie sie sich gefühlt hätten als Soldaten. Da beginnt die Fassade zu bröckeln und das mühevoll errichtete Gleichgewicht aus Verschweigen und Selbstinszenierung als tragische Helden schwankt und zerbricht für einen kurzen Augenblick. Michele, der das gesamte Gespräch über auffällig still geblieben ist, sieht mich einige Sekunden lang an, dann blickt er mir geradewegs in die Augen und sagt: Terribile, abbiamo sparato. [Schrecklich, wir haben geschossen.]
Er spricht mit leiser, brüchiger Stimme, seine Worte scheinen irgendwo aus weiter Ferne an die Oberfläche zu kommen, seine Hände beginnen, leicht zu zittern, als er sie ungeschickt anhebt – eine halbe Geste, die er nicht zu Ende bringt. Kaum hat er die Worte ausgesprochen, entsteht ein peinliches Schweigen. Die beiden
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anderen Männer sind offensichtlich ungehalten über ein solch persönliches Geständnis. Aber dieser hagere alte Mann, der so zerbrechlich wirkt in seinem schwarzen Anzug, hat trotz des Tabus seine Emotionen verbalisiert, die in diesem Moment ungefiltert aus vergangenen Zeiten bis in dieses Zimmer schwappen. Alessia beeilt sich, ihrem Vater in der entstandenen Stille Saft nachzuschenken, Tonio reicht erneut das Gebäck herum. Ich versuche, nachzuhaken, Michele mehr zu entlocken, aber er hat sich wieder in sich zurückgezogen und ich komme nicht mehr an ihn heran. Die Atmosphäre im Raum ist angespannt. Tonio erzählt erneut von den Gefangenenlagern der Alliierten, wiederholt die Anzahl der Toten und Verletzten in den Lagern, betont die unzumutbaren Zustände für die Gefangenen – Zahlen und Fakten füllen wieder den Raum. Kurze Zeit später werde ich hinauskomplimentiert. (Feldtagebuch, Mai 2012) * Als Folge meiner Grenzüberschreitung brach Tonio nach diesem Treffen den Kontakt zu mir ab. Meine zahlreichen Versuche in den folgenden Monaten, ihn noch einmal zu kontaktieren, ignorierte er. Durch seine persönliche Äußerung verletzte Michele die Regeln der Gruppe und gefährdete das Selbstbild der Veteranen. Das, was sie mir nicht sagen konnten bzw. nicht sagen wollten, wog in diesem Augenblick schwerer als alles andere. Das Schießen und das Töten, der Krieg als verstörende Gewalterfahrung nahm in den wenigen Worten Micheles plötzlich Gestalt an. Unausgesprochen und bedrohlich stand die verschwiegene Seite des Krieges, die eigene Täterschaft, im Raum. Der Versuch, sich als Opfer der Partisanen darzustellen, stand plötzlich in Bezug zu einer anderen Dimension der Kriegsvergangenheit: zu den durch die Truppen der RSI Getöteten. Michele hatte mich, eine Außenstehende, für einen kleinen Augenblick an der verstörenden inneren Welt eines Soldaten teilhaben lassen, in der man um die eigene Täterschaft wusste, aber nicht darüber sprach. Abbiamo sparato [wir haben geschossen]: Micheles Worte stehen sinnbildlich für den Kern soldatischer Erfahrung, sie bedeuteten nichts anderes als: Wir haben getötet. Michele sagte nicht »Wir wurden dazu gezwungen« oder »Wir mussten schießen«, sondern »Wir haben geschossen«. Damit wurde deutlich, dass er das Töten als individuelle Handlung wahrnahm, die eine persönliche Verantwortung implizierte. Und er fügte hinzu, terribile [schrecklich], was erahnen ließ, wie schwer ihm die tabuisierte Auseinandersetzung mit Täterschaft und Schuld fiel. Das (Ver-)Schweigen, die Lücken in diesem Gespräch waren nicht nur der kurzen, oberflächlichen Forschungsbeziehung zu diesen Veteranen geschuldet, sondern zogen sich wie ein roter Faden durch viele meiner Gespräche mit RSIVeteranen. Das Nicht-Verbalisierbare der Kriegserfahrung zeigte sich immer wieder auf Gesichtern und in Gesten. Neitzel und Welzer kommen in ihrer Analyse
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von Gesprächen zwischen deutschen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg zu dem Ergebnis, dass über das Töten sehr wenig gesprochen wird.53 Die Sprache von Soldaten über das Töten selbst bzw. praktizierte Gewalt ist meist distanziert und emotionslos oder verschlüsselt. Hüppauf zufolge ist dieses Sprachtabu mit der im Krieg notwendigen Ich-Spaltung bei Soldaten zu erklären: »Die Sprache vermeidet die Semantik des Tötens, um es zu verbergen und eine Verletzung des Selbst zu umgehen. […] Diese innere Anomie, die eine Integration des Ichs verhindert, findet sich in der Sprache wieder: Sie spaltet das Ereignis in zugelassenes Handeln und ein verstecktes Gefühl von Unrecht.« (Hüppauf 2011: 236)
Das Sprachtabu über Täterschaft konnte Michele in dem Augenblick brechen, in dem ich als Fremde den Raum betrat und durch meine Anwesenheit, meine Fragen und das, was ich als Forscherin verkörperte, einen neuen Raum öffnete, obwohl ich als Außenstehende zugleich eine Bedrohung darstellte – eine ambivalente Folge meiner Präsenz. Mea culpa [Ich bin schuldig] Mit Michele traf ich mich über viele Monate hinweg immer wieder bei ihm zu Hause. Die Familie besaß eine geräumige Wohnung im Stadtzentrum. Er war hatte in einem akademischen Beruf gearbeitet und war Mitglied im MSI gewesen. Meist war bei unseren Gesprächen seine Frau dabei, die immer wieder versuchte, seine Erinnerungslücken zu schließen, wenn er in seinen Erzählungen nicht weiterwusste. Sein hohes Alter und die zunehmende Gebrechlichkeit waren dafür verantwortlich, dass er immer wieder verwirrt war. Wenn er sich nicht mehr genau an einzelne Episoden erinnern konnte, wurde er oft wütend. Seine Erinnerungslücken belasteten ihn sehr. Bei unserem ersten Treffen sagte er, es sei schade, dass niemand außer ihm bei unserem ersten Treffen mit den anderen Veteranen mein Anliegen verstanden habe. Es hätte ein gutes, ein interessantes Gespräch werden können, wenn alle wirklich vom Krieg erzählt hätten. In unseren folgenden Gesprächen begann er oft, einzelne Episoden aus dem Krieg gegen die Partisanen zu berichten, doch jedes Mal verlor er den Faden kurz bevor er vom Akt des Tötens sprechen konnte. Chronologisch zu erzählen wurde schwieriger, je emotionaler er wurde. Nur ein einziges Mal tastete er sich weit vor und schaffte es, ein Erlebnis von Täterschaft bis zu Ende zu erzählen. Ende 1944, als der Kampf gegen die Partisanen seinen Höhepunkt erreicht habe, seien sie in einem Wald gewesen. Immer wieder hätten die Partisanen sie
53 Vgl. Neitzel/ Welzer 2011: 94 und Hüppauf 2011: 235.
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aus dem Hinterhalt angegriffen – ohne Uniformen, betonte er, eine stete, unsichtbare Gefahr. Sie hätten versucht, die Partisanen zu finden, sie in ihren Verstecken im Wald aufzuspüren. Irgendwann hätten sie dann die Höhle entdeckt, in der sich einige der Partisanen versteckt hielten. Diese habe zwei Ausgänge gehabt und sie hätten von beiden Seiten Handgranaten hineingeworfen. Dann verstummte er und sah mich wortlos an. Offensichtlich hatten sie diese Partisanen getötet, aber Michele fand nicht den Mut, es auszusprechen. Und so blieb er stumm und klopfte sich mit seiner rechten Hand auf das Brustbein, in der katholischen Praxis die rituelle Geste für das Bekenntnis der eigenen Schuld: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Es war ein Eingeständnis seiner Hände, wo die Worte versagten. Sich der eigenen Schuld zu stellen, kostete viel, vielleicht sogar das eigene Erinnerungsvermögen. Vermeidungsstrategien und Vergessen auf der einen Seite und das Bedürfnis nach Aussprache auf der anderen waren der Spannungsbogen, innerhalb dessen er mit Täterschaft und Schuldgefühlen umging. Nie wieder wagte er sich in unseren folgenden Gesprächen soweit vor und sprach über die Getöteten. Trotz seines Schweigens wurde seine gesamte Familie jedoch von dieser Kriegsvergangenheit beeinflusst; vor allem die verschwiegene Täterschaft belastete seine Kinder und gestaltete die Familiendynamik bis in die Enkelgeneration.54 Alessandro: L’uomo è una bestia [Der Mensch ist ein Tier] Alessandro F. meldete sich nach dem 8. September 1943 freiwillig zum Militärdienst und wurde zum Offizier ausgebildet. Später befehligte er eine Einheit, mit der er für kurze Zeit an der Front (sogenannte Gustavlinie) gegen alliierte Truppen und danach hauptsächlich in Ligurien und im Veneto gegen italienische Partisanen kämpfte. Obwohl er häufig seine positive Haltung dem faschistischen Regime gegenüber artikulierte, distanzierte er sich von den politischen Netzwerken des Nachkriegsfaschismus und war nie Mitglied des MSI gewesen. Er pflegte jedoch intensive Kontakte zu ehemaligen Kameraden aus der eigenen Truppe. In seiner beruflichen Laufbahn bei einer großen Firma hatte er viel Geld verdient und lebte in einer geschmackvoll eingerichteten, geräumigen Wohnung in einem der Villenviertel Roms. Im Alter konnte er gut von seinen Ersparnissen leben, auch seine drei Töchter hatten wohlhabende Männer geheiratet und waren gut versorgt, vier seiner Enkel studierten im Ausland. Über viele Monate trafen wir uns regelmäßig und er erzählte mir bereitwillig über den Krieg. Väterlicherseits blickte er auf eine lange militärische Tradition zurück, die über den Ersten Weltkrieg bis hin zu den napoleonischen Kriegen zurückzuverfolgen war. Unsere Treffen nahm er sehr
54 Vgl. Kapitel 3.4.3.
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ernst, er bezeichnete sie als Arbeitstreffen und bereitete sich jedes Mal darauf vor. Die eigene Kriegsvergangenheit hinterfragte er immer wieder kritisch in unseren Gesprächen. Im Gegensatz zu vielen anderen Veteranen thematisierte er unbequeme Wahrheiten aus dem Soldatenalltag. Zentral für den Umgang mit seiner Vergangenheit als Soldat war seine Herkunft aus einer Militärfamilie, in der er sich über politische Positionierungen hinaus als Veteran verorten konnte. * Bei einem Treffen Anfang September zeigt Alessandro mir seine Pistole aus Kriegstagen. Wie immer hat er am Tag zuvor angerufen und sich versichert, dass ich tatsächlich kommen würde, und wie immer begrüßt er mich freudig, tadellos und elegant gekleidet in grauer Anzughose und weißem Hemd. Es ist wieder sehr heiß, bis zu 40 Grad in der Mittagssonne, der Ventilator im Flur kann nicht viel dagegen ausrichten. Höflich bittet er mich in seine Wohnung. Prima che cominciamo il nostro lavoro, vuoi vedere la mia pistola? [Bevor wir unsere Arbeit beginnen, willst du meine Pistole sehen?]
Er zeigt sie mir in seinem Arbeitszimmer, wo er aus dem Schrank eine kleine Papiertüte holt – es ist eine dieser Einkaufstüten, die man mit einem teuren Kleid oder Parfüm zusammen bekommt. Zunächst kommt das Putzzeug für die Pistole zum Vorschein, dann die Waffe selbst. Sie steckt in einer braunen, abgetragenen Ledertasche. Alessandro öffnet die Schnalle, nimmt sie behutsam heraus und legt sie mir in die Hände. Schwarz, glänzend und gut gepflegt wiegt sie schwer in meiner Hand, kühles Metall in der Sommerhitze. Es ist unvermeidbar, mich in diesem Moment zu fragen, wie es wohl wäre, damit zu schießen, auf jemanden zu schießen, jemanden zu erschießen. Ich frage mich, ob er mit dieser Waffe getötet hat. Wie weit diese Waffe reiche, frage ich. 50 oder 60 Meter, aber da könne man natürlich nicht mehr zielen, antwortet er lachend. Also eher eine Waffe, um sich zu verteidigen, aber auch, um anzugreifen [per difendere e offendere], sagt er. Fast liebevoll baut er sie auseinander und erklärt mir genau, wie sie funktioniert. Das Magazin, die Feder, der Rückzug. Im Krieg sei sie immer dabei gewesen: Poi diventa una parte di te. Ce l’hai sempre con te. La notte sotto il cuscino. Potrebbe sempre succedere qualcosa. Non si sa mai. [Irgendwann wird sie ein Teil von dir. Du hast sie immer bei dir. Nachts unter dem Kopfkissen. Es könnte immer etwas passieren. Man weiß nie.]
Ich solle mal in den Flur schauen, sagte er dann: ob ich das Schwert sehen könne neben den Regenschirmen im Ständer? Dieses Schwert sei von seinen Vorfahren,
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er stamme doch aus einer Militärfamilie – alle seine Vorfahren hätten gekämpft. Neben dem Ständer zeigt er mir eine Kanonenkugel und hebt sie unter großer Anstrengung hoch, um sie mir in die Hand zu legen. Sie ist so schwer, dass ich sie kaum halten kann, aus Eisen und mit einem Durchmesser von mindestens zehn Zentimetern. Sie stamme aus dem Krieg zwischen den Franzosen und den Italienern Ende des 18. Jahrhunderts.55 Und er lacht wieder sein merkwürdig emotionsloses Lachen, das so unecht und gezwungen klingt. Die Kugel sei durch das Dach des Hauses seiner Familie geschlagen. Die Familie habe sie seitdem aufgehoben. (Feldtagebuch, September 2012) * Durch das Zeigen der Pistole war seine Soldatenidentität auf eine andere Art und Weise real und greifbar geworden als in unseren bisherigen Gesprächen. Auffällig war sein fast liebevoller Umgang mit der Waffe, die auf ein prinzipiell positives Verhältnis zu seiner eigenen Kriegsvergangenheit hindeutete. Seine Identität als Soldat stand in der Familientradition von Männern, die stolz waren auf ihre militärischen Einsätze. Alessandro fügte sich in diese Familiengeschichte ein und schien positiv mit ihr identifiziert. Trotzdem reflektierte er die negativen Aspekte des Krieges mir gegenüber, und ein einziges Mal sprach er explizit über Täterschaft. Ich hatte mehrmals nach seinem Umgang damit gefragt, Alessandro hatte diese Fragen jedoch nie beantwortet, hatte sie stillschweigend ignoriert. Bei einem unserer letzten Treffen gegen Ende meiner Forschung brachte er das Thema jedoch selbst zur Sprache und sagte zu Beginn unseres Gesprächs ohne Einleitung: Non è che c’è da essere molto orgoglioso di quello che ho passato, anzi, a questo proposito, io ho capito quello che tu vorresti che io ti raccontassi – del racconto poi non ne parleremmo mai più. Perché è una cosa sulla quale io ho voluto mettere una croce: quello che si prova…si ha paura. [Ich kann nicht besonders stolz auf das sein, was ich erlebt habe, im Gegenteil, und was das anbelangt, ich habe verstanden, was du hören möchtest – wir werden danach nie wieder darüber sprechen. Denn es ist eine Sache, die ich für immer abschließen wollte: das, was man fühlt…man hat Angst.]
Die Angst der Soldaten sei bisweilen übermächtig gewesen, erzählte er. Jeder werde mit seiner Angst konfrontiert im Krieg; keine Angst zu haben, sei unnatürlich. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg mit seinen Schützengräben hätten die Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Front einzeln in zu diesem Zweck gegrabenen Löchern gestanden, zehn Meter entfernt vom nächsten Loch und dem
55 Vgl. Besetzung Roms durch französische Truppen im Jahr 1798.
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nächsten Kameraden, ohne die Löcher verlassen zu können, jeweils eine Woche oder zehn Tage lang, immer auf den nächsten Angriff wartend, ohne sich waschen zu können, ohne sich rasieren zu können, bei Regen ungeschützt der Nässe ausgesetzt: Diventi veramente un animale. [Du wirst wirklich zum Tier.]
Das Kommando zum Schießen sei durch Raketen gekommen: In questa guerra gli assalti si facevano con i razzi, cioè veniva sparato un razzo che scoppiava. Se era verde, quello era il momento, se era rosso significava: fermi tutti. [In diesem Krieg wurden die Angriffe durch Lichtraketen koordiniert, das heißt, es wurde eine Lichtrakete abgeschossen, die dann explodierte. War sie grün, war dies der Moment, war sie rot, bedeutete das: Niemand rührt sich.]
In solchen Situationen an der Front sei das Töten unpersönlich. Nur auf Befehl werde geschossen und die Angst, selbst zu sterben, sei unglaublich groß. Bemerkt habe er seine Angst an seiner trockenen Kehle: Si ha paura, ma dopo un po’ subentra un senso di rabbia. Rabbia verso tutto e verso tutti. Cioè: verso l’artiglieria nostra, perché sparavano troppo poco, rabbia contro il nemico, rabbia contro tutti. [Man hat Angst, aber nach einer Weile entsteht ein Gefühl von Wut. Wut auf alles und auf alle. Das heißt: auf die eigene Artillerie, weil sie zu wenig schoss, Wut auf den Feind, Wut auf alle.]
Die Wut war für Alessandro letztendlich eine Art und Weise gewesen, mit seiner Todesangst umzugehen. Beim Töten an der Front sei es um das eigene Überleben gegangen: In quei momenti lì si prega Dio, anche gli atei pregano Dio perché sanno ora ci sono – fra un po’ non ci possono essere più. Questa rabbia diventa…non sei più te perché la rabbia diventa furore. Per cui succede che molte volte quelli che vengono considerati atti di eroismo non sono atti di eroismo, ma sono atti di follia, ho reso l’idea? [In diesen Momenten betet man zu Gott, auch die Ungläubigen beten zu Gott, weil sie wissen, jetzt sind sie noch da – in einigen Augenblicken können sie nicht mehr da sein. Diese Wut wird…du bist nicht mehr du selbst, denn die Wut wird zur Raserei. Daher kommt es
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häufig vor, dass Taten, die als Heldentaten gewertet werden, häufig gar keine Heldentaten sind, sondern Akte des Wahnsinns, habe ich das verständlich erklärt?]
Nach einer Schlacht sei er manchmal wie weggetreten gewesen, erinnerte er sich. Einmal, im Winter, sei er trotz der Kälte einfach stehen geblieben, habe sich nicht mehr bewegen können, obwohl es angefangen habe zu schneien. Im Winter 1944 seien sie damals in den Bergen im Norden gewesen. Er habe einfach nur dagestanden und die Stille, während der Schnee fiel [il silenzio, quando cadeva la neve], habe ihn befreit. Während er erzählte, schaute er nach oben und zeichnete die Bewegungen der Schneeflocken nach, bewegte immer wieder seine Hände von oben nach unten. Dabei schien er weit weg zu sein. Später habe sein Bataillon gegen italienische Partisanen gekämpft. Er habe damals immer zwischen unterschiedlichen Partisanengruppen unterschieden, erinnerte er sich: denen der Monarchisten und denen der Liberalen, die er beide als patriotisch bezeichnete.56 Zwar hätten beide zu den Feinden gehört, aber sie hätten für Italien gekämpft und seien auch auf die Entfernung durch Symbole an ihrer Kleidung erkennbar gewesen. Sie seien diszipliniert gewesen, der Kampf gegen sie immer ein respektvoller. Daneben aber habe es diejenigen Banden gegeben, die sich kommunistischen Idealen verschrieben hätten. Diese habe er gehasst, denn sie hätten keine der etablierten Regel zwischen kämpfenden Parteien respektiert: Torturavano i prigionieri prima di ucciderli, ne abbiamo trovati alcuni con al posto degli occhi i nostri distintivi. Se fosse sospeso da me avrei passato per le armi tutti quelli che facevamo prigionieri (parlo dei rossi) ma non solo perché tali, ma perché in abiti civili e armati e da quando il mondo è mondo i franchi tiratori vanno fucilati sul posto. [Sie haben die Gefangenen gefoltert, bevor sie sie getötet haben, einige Male haben wir diese Toten gefunden, an Stelle der Augen unsere Abzeichen57. Hätte ich das Sagen gehabt, hätte ich alle, die wir von ihnen gefangen genommen haben (ich spreche von den Roten) umgebracht, aber nicht nur, weil es Rote waren, sondern auch, weil sie in Zivilkleidung kämpften und weil Freischärler seit Anbeginn der Welt auf der Stelle erschossen werden.]
Er vertrat eine kompromisslose Haltung, aus seinen Worten sprachen in diesem Augenblick Wut und Zorn. Was er nicht aussprechen konnte, was aber ungesagt
56 Detaillierte Analysen der verschiedenen Gruppierungen der Resistenza (Schieder 2010: 106-109 und Pavone 1991). 57 Abzeichen einer spezifischen Truppeneinheit, die ich aus Gründen der Anonymisierung an dieser Stelle ausspare.
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zwischen uns stand, war die Tatsache, dass sie im Krieg Partisanen erschossen hatten, so, wie er es auch heute noch für richtig hielt. Der Mensch sei eine Bestie, sagte er, wie so oft, auch am Ende dieses Gesprächs. Die Gesellschaft gebe ein Regelwerk vor, das diese Bestie bändige und kontrolliere. Aber in einer Extremsituation wie dem Krieg komme sie zum Vorschein und werde übermächtig, sie übernehme dann die Führung. Zum ersten Mal erwähnte er in diesem Moment seine Schuldgefühle – er hoffe, gut empfangen zu werden, wenn er von dieser Welt gehe: Un po’ di cose gli ho fatte…cose cattive. Non vado quasi mai a messa, vado in chiesa solo quando non c’è nessuno. Quando sono tutto da solo, in silenzio. [Einige Dinge habe ich getan…schlimme Dinge. Ich gehe fast nie zur Messe, ich gehe nur in die Kirche, wenn dort keiner ist. Wenn ich ganz alleine bin, in Stille.]
Seine Schuld war in seinen eigenen Augen offenbar so gravierend, dass sie ihm die Teilnahme an den öffentlichen Messen verwehrte. Nur die Einsamkeit in einer Kirche war ihm erträglich. Einmal habe er seine Kriegstaten gebeichtet. Der Priester habe am Ende der Beichte zu ihm gesagt, er sei nun erlöst, aber nichts habe sich dadurch verändert oder sei besser geworden. Obwohl er ein sehr gläubiger Mensch sei. Auf meine Frage, ob er glaube, dass den Menschen durch Gott vergeben werde, antwortete er: Dio ha dato a noi la facoltà di essere liberi di scegliere il bene o il male, no. Di fatti è l’uomo è l’unico che può scegliere il bene o il male. Gli animali seguono l’istinto. L’uomo ha avuto un grande dono ma anche un grande castigo, perché è lui che decide quello che fa (ride). Quindi … non lo so, non lo so. [Gott hat uns die Möglichkeit gegeben, uns frei zu entscheiden zwischen dem Guten und dem Bösen. Tatsächlich ist der Mensch der einzige, der zwischen Gut und Böse wählen kann. Die Tiere folgen dem Instinkt. Der Mensch hat damit ein großes Geschenk, aber zugleich auch eine große Strafe erhalten, denn er selbst entscheidet, was er tut (lacht). Also…ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.]
Durch sein trockenes Lachen wirkten seine Worte merkwürdig unemotional. Immer wieder trommelte er mit seinen Fingernägeln auf den Tisch. Nachdem ich mein Aufnahmegerät abgeschaltet hatte, blieb er an diesem Tag ungewöhnlich lange am Tisch sitzen und sagte nach einigen Minuten des Schweigens: La guerra è una cosa terribile. L’uomo è terribile. Gli animali uccidono perché è necessario, ma l’uomo non ha bisogno di uccidere. Lo fa lo stesso. Ogni sera prego a Dio di perdonarmi
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quello che ho fatto. E tra l’altro sono diventato così vecchio! 90 anni! Perché? Me lo chiedo qualche volta. [Der Krieg ist eine grausame Angelegenheit. Der Mensch ist grausam. Tiere töten aus Notwendigkeit, um zu überleben, aber der Mensch hat eigentlich keine Notwendigkeit zu töten. Er tut es trotzdem. Jeden Abend bete ich, Gott möge mir vergeben, was ich getan habe. Und darüber hinaus bin ich auch noch so alt geworden! 90 Jahre! Warum? Das frage ich mich manchmal.]
Seine Stimme klang brüchig und zittrig. Offenbar fühlte er keine Möglichkeit der Vergebung für seine Taten solange er lebte. In den Situationen im Krieg, in denen man sich dem Tode nahe fühle, bete man automatisch: Lieber Gott, vergib mir meine Sünden. Und wenn es einem dann wieder gut gehe, vergesse man sofort wieder alles, fügte er an und lachte heiser. Er fürchtete sich offensichtlich vor dem Tod, vor der Konfrontation mit seiner Schuld und vielleicht davor, seinen Opfern im Jenseits gegenüberzustehen. Chissà, che succederà quando sarò davanti al giudizio universale, chissà come mi giudicheranno! [Wer weiß, was passiert, wenn ich vor dem Jüngsten Gericht stehe, wer weiß, wie ich gerichtet werde!]
In der christlichen Vorstellung wirkt sich der Zustand der Sünde auch auf das Jenseits aus: »Vor allen Dingen entscheidet dieser Zustand [Schuld, A.d.A.] praktisch über das Schicksal der Seele im Jenseits und verurteilt sie zum ewigen Tod, das heißt zu endlosen Leiden und zum endgültigen Ausschluss aus dem Himmelsreich. Dieser Zustand, der unvermeidlich auf die böse Tat folgt, endet nicht von selbst: Weder wird er mit Hilfe Gottes, der Kirche noch des Sünders aufgehoben, sondern nur durch eine sakramentale Intervention, die speziell zur Erlösung des Sünders bestimmt ist.« (Hertz 2007[1907]: 260)
Im Christentum kann Schuld durch den Ritus der Buße vergeben werden, wenn die entsprechenden rituellen Praktiken eingehalten werden: die Anerkennung der Sünden, deren Beichte, eine Strafe sowie die darauffolgende Vergebung. Die Beichte gehört zu den sieben Sakramenten und stellt eine institutionalisierte Form
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des Bekenntnisses im Rahmen religiöser Kontrolle dar.58 Wer büßt, muss sich seiner Sünden bewusst sein, nur dann sind die Riten zur Wiederherstellung eines guten Verhältnisses zu Gott sowie zur gefühlten Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen möglich und erfolgreich durchführbar.59 Sünde bedeutet demnach Entfernung von Gott, durch Sühne wird erneute Annäherung möglich. Im Grunde handelt es sich dabei um einen Reinigungsritus, der den Sünder wieder in einen unschuldigen Zustand versetzt: »Sühne gibt es, wenn gewisse allgemeine rituelle Handlungen den Zustand der Dinge, wie er vor der Überschreitung bestand, wieder herstellen können, indem sie die Überschreitung annullieren und der Gerechtigkeit Genüge tun, ohne dass der Missetäter und seine Nächsten dabei vernichtet werden.« (Hertz 2007[1907]: 272/ 273)
Bei den christlichen Praktiken der Sühne geht es um die Wiederaufnahme des Sünders in die Gemeinschaft. In Form der Beichte wird in der christlichen Vorstellung rituelle Reinigung und Vergebung der Sünden möglich.60 Alessandro hatte die Beichte als nicht hilfreich empfunden, seine Schuld war geblieben und seine Angst vor dem Jüngsten Gericht war groß. L’uomo è una bestia [der Mensch ist eine Bestie], sagte er immer wieder – Alessandro hatte während des Krieges auch die Bestie in sich selbst kennengelernt. Ein ganzes Jahr voller regelmäßiger Gespräche war vergangen, bis er mir von seinen Schuldgefühlen erzählte, für die er in der Beichte keine Erlösung finden konnte. Die Auseinandersetzung mit der Tragweite des Tötens im Krieg sowie seine eigene Schuld beschäftigten ihn, obwohl er den Krieg an sich und auch das faschistische Regime rechtfertigte – eine ambivalente Haltung, die auf eine Form
58 Zur historischen Entwicklung der institutionalisierten Beichte in der katholischen Kirche sowie ihrer Bedeutung im Kontext von Selbstdomestikationstechniken im Zuge moderner Zivilisationsprozesse vgl. Hahn (1997). 59 Vgl. Hertz 2007[1907]: 235. 60 Eine Definition von Beichte sowie eine Beschreibung des Vorgangs und seiner sozialen Funktion finden sich bei Hirsch: »Die Beichte, das Anerkennen von Schuld, das in seiner emotionalen Dimension Reue genannt wird, worauf eine (symbolische) Absolution durch einen Vertreter der menschlichen Gemeinschaft erfolgt, könnte und sollte wohl eine psychohygienische, geradezu therapeutische Funktion haben. Durch das Aufzeigen von prinzipieller Schuldhaftigkeit und der gleichzeitigen Forderung, Schuld so gering wie möglich zu halten, erfolgt Angstreduktion und, sozusagen unverdient, Wiederaufnahme in die Gemeinschaft.« (Hirsch 1997:48).
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der inneren Zerrissenheit im Umgang mit dem Krieg hindeutete. Was er nie verstanden habe in all den Jahren, sei das Kriegsende gewesen, ergänzte er: Solange der Kriegszustand herrsche, dürfe man ungehindert töten – wer töte, sei ein guter Soldat. Fünf Minuten nach Waffenstillstand sei man hingegen ein Mörder. Der Moment der Machtumkehr als Augenblick der Realisierung der eigenen Kriegstaten als Täterschaft schien noch immer ein problematischer Moment zu sein.61 Wie immer, wenn ihn etwas aufwühlte, saß er sehr gerade am Tisch und trommelte mit seinen Fingernägeln auf die Tischplatte. Ein unangenehmes Geräusch, wie eine Gabel im Tonteller. Wie angekündigt, sprach er nie wieder darüber, allerdings erreichte mich ein Jahr nach meiner Rückkehr aus dem Feld ein Brief von Alessandro, der mit den folgenden Worten endete: Purtroppo sono stato un po’ avaro con te nel raccontarti le mie esperienze che non sempre sono state adamantine. Cercherò di farmi forza e nei prossimi mesi mi confesserò con te perché ti voglio bene. [Leider bin ich etwas sparsam gewesen im Erzählen meiner [Kriegs-]Erfahrungen, die nicht immer glorreich gewesen sind. Ich werde versuchen, meinen Mut zusammenzunehmen und dir in den kommenden Monaten Dinge zu beichten, weil ich dich mag.]
Sein Brief war die Ankündigung eines Eingeständnisses mir gegenüber.62 Er kannte mich zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren, wir hatten uns unzählige Male gesehen, denn er gehörte zu meinen Hauptinformanten. Offensichtlich hatten ihn meine Fragen nach Täterschaft und das implizite Angebot, darüber zu sprechen, über lange Zeit nicht losgelassen. Das Bedürfnis, diese Kriegserfahrungen und auch eigene Schuld zu verbalisieren, war vorhanden, auch, wenn er Mühe hatte, Worte dafür zu finden. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis mich ein Brief erreichte, in dem er sich mir gegenüber zum ersten Mal explizit mit der Schuld des Tötens auseinandersetzte: Ci sono arrivato in tarda età; quel colpo d’arma non uccideva solo l’uomo ma anche il suo futuro. Quel essere nella vita civile avrebbe potuto eccellere in qualche cosa e se non lui forse i suoi figli e se non essi forse i suoi nipoti, invece così veniva spazzato via tutto…Io non dico nulla, ma mi domando Dio o chi per lui come mai ci sopportava? [Ich habe es erst in hohem Alter erkannt: Dieser Schuss aus der Waffe tötete nicht nur den Mann, sondern auch seine Zukunft. Dieser Mensch hätte im zivilen Leben in einem Bereich
61 Vgl. Kapitel 3.1.3. 62 Vgl. Hahns Überlegungen zur Selbstthematisierung als moderne Form der Beichte (Hahn 1997: 170-173).
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erfolgreich werden können, und wenn nicht er, dann vielleicht seine Kinder und wenn nicht sie, dann vielleicht seine Enkel, so wurde stattdessen all das ausgelöscht…Ich sage nichts, aber ich frage mich wie Gott oder jemand an seiner Stelle uns nur ertragen konnte?]
Die Erkenntnis, dass durch das Töten einer einzelnen Person auch potenzielle Nachkommen ausgelöscht wurden, hatte ihn offensichtlich tief getroffen und in ihm auch eine Form der Verachtung für sich selbst bewirkt. Die Helden- und Opfergeschichten entlarvte er damit als Erzählstrategien und verbalisierte eine Kriegsrealität, die in der Regel verschwiegen wurde. Seine Worte wählte er sehr genau, sein Eingeständnis von Schuld erreichte mich als Brief in Form geschriebener, nicht gesprochener Worte – nachdem meine Forschung bereits beendet war. Die Ambivalenz der positiven Identifikation mit der eigenen Soldatenrolle und der kritischen Auseinandersetzung mit Täterschaft und den eigenen Schuldgefühlen schien ihn zu belasten. In seiner Funktion als Soldat hatte er korrekt gehandelt, auf der individuellen Ebene war er jedoch schuldig geworden, indem er anderen Menschen das Leben genommen hatte. Die Getöteten ließen ihn nicht zur Ruhe kommen, beherrschten seine Gedanken und ließen ihn in Angst vor dem eigenen Tod als Moment des Gottesgerichts in einer Art Schreckstarre verharren. Das Schuldgefühl band Alessandro an seine Opfer, im Alter konnte ihn der verblassende Schutz der blinden Bindung an die Soldatenidentität nicht mehr vor der Auseinandersetzung mit seiner individuellen Schuld schützen. Der Akt des Tötens im Krieg, empfunden als nicht aufzulösende Schuld, hielt Alessandro auf eine Art gefangen, gleich einer inneren Kreisbewegung von Schuldempfinden und Verdrängung desselben ohne Lösung. Manfredo: Non c’era più nessuno innocente [Es gab keine Unschuldigen mehr] Manfredo V. meldete sich 1943 freiwillig zur Armee der RSI und kämpfte in der Decima Flottiglia MAS. Seine Truppeneinheit wurde in erster Linie im Kampf gegen Partisanenverbände eingesetzt. Nach Kriegsende baute er sich mühsam ein ziviles Leben auf und engagierte sich fortlaufend im MSI. In den ersten Nachkriegsjahren sicherten Aushilfstätigkeiten mal besser, mal schlechter das finanzielle Einkommen. Vor allem unter den RSI-Veteranen aber auch in den jüngeren Generationen wurde ihm aufgrund seiner Persönlichkeit viel Respekt entgegengebracht. Als ich ihn kennenlernte, war er bereits verwitwet. Seit ihm im Alter eine alte Kriegsverletzung zu schaffen machte, lebte er bei seinem Sohn, der ihn auch finanziell unterstützte. Die Jahre als Soldat schienen in seiner aufrechten Haltung noch immer sichtbar zu sein. Einige Kriegserinnerungen hatte er bereits niedergeschrieben und arbeitete zur Zeit meiner Forschung weiter an autobiografischen Texten. Sein Vertrauen musste
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ich mir über lange Zeit erarbeiten. Er ließ mich durch andere beobachten und wusste über die meisten meiner Aktivitäten Bescheid: Io ti seguo, io so che fai, [Ich folge dir, ich weiß, was du tust,]
sagte er bei unserem ersten Treffen. Unsere Gespräche über den Krieg waren von Unterbrechungen geprägt. Immer wieder verstummte er und blickte dann lange aus dem Fenster auf die grauen Wohnkomplexe einer römischen Vorstadt. Es war ein verlorener Ort, die Häuser von Zäunen oder Mauern umgeben, die Stadt schien hier verstummt zu sein. Nur selten waren Menschen auf der Straße zu sehen, man bewegte sich meist mit dem Auto fort. Wenn er über den Krieg erzählte, schien er oft weit fort, in sich gekehrt und in Erinnerungen versunken. Der Krieg habe sie alle verändert: La guerra cambia, cambia il comportamento…troppi combattimenti, si rimane stordito. Non c’era più nessuno innocente. [Der Krieg verändert, verändert das Verhalten…zu viele Kämpfe, man bleibt benommen zurück. Es gab keine Unschuldigen mehr.]
Gefechte erinnerte er wie Alessandro als eine Art der Trance, einen Zustand, aus dem man nur langsam erwache, wenn die Kämpfe aufgehört hatten. Oft waren es nur Bruchstücke von Erzählungen, einzelne Bilder aus dem Krieg, in denen er sich verlor. Sein Blick schweifte dann ab in eine Ferne, in die ihm niemand folgen konnte. Manche Erlebnisse schienen sich vor seinem inneren Auge zu wiederholen: Guarda...che siamo… siamo usciti, siamo vivi…oh! Allora quello tira fuori una bottiglia...allora beviamo! Ah Giulio… Giulio è morto…cambia la fisionomia. Anche l’uomo migliore, se si combatte, diventa una macchina, si trasforma. [Schau…da sind wir…wir sind raus, wir leben…oh! Also holt einer eine Flasche heraus…also lasst uns trinken! Ah Giulio…Giulio ist tot…die Physiognomie verändert sich. Auch der beste Mann wird, wenn er kämpft, zur Maschine, er verwandelt sich.]
Auch für Manfredo war das eigene Überleben ein zentrales Thema. Der Befehl, die Toten zurück zu lassen und weiter zu kämpfen, sei ihnen eingetrichtert worden, ein Prozess der emotionalen Abstumpfung und Brutalisierung:
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Quando cade il vostro vicino, voi dovete proseguire! C’era questo ordine crudele. [Wenn euer Nachbar fällt, müsst ihr weitermachen! Diesen brutalen Befehl gab es.]
Als ich fragte, was die tiefste Erfahrung gewesen sei während des Krieges, fasste er sich selbst an den Armen, hielt den Oberkörper umklammert und antwortete: Scoprire che sei ancora vivo. [Entdecken, dass du noch lebst.]
Es sei Gottes Wille, zu überleben oder zu sterben, aber den Wert des Lebens schätze man anders, wenn man aus dem Krieg zurückgekehrt sei. Die Wahrnehmung der Welt verändere sich, alles sei kostbarer, deutlicher. Diese Wahrnehmung sei das, was nach dem Krieg übrigbleibe: È quello che dopo rimane, che si salva di te dopo la tragedia, dopo il sangue, diciamo così. Quello che rimane… sdraiarsi, sedersi ovunque, rimanere così, chiudere gli occhi… [Es ist das, was danach übrigbleibt, der Teil von dir, der sich rettet nach der Tragödie, nach dem Blut, sagen wir es mal so. Das, was bleibt, ist…. sich ausstrecken, sich überall hinsetzen, so bleiben zu können, die Augen zu schließen…]
Manfredo hatte oft Mühe, seine Kriegserlebnisse zu verbalisieren. Die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge erinnern, bereitete ihm mitunter große Mühe, seine permanenten Schlafprobleme schienen ein Indiz für posttraumatische Belastungsstörungen zu sein63. Bei einem unserer späteren Treffen sprach er explizit mit mir über Täterschaft im Krieg: Auf beiden Kriegsseiten sei getötet worden und aus seiner Sicht seien beide Kriegsseiten, Truppen der RSI und Partisanen, schuldig geworden – eine unvermeidbare Tatsache im Leben eines Soldaten. Die (Kriegs-)Vergangenheit sowie die eigenen Taten seien bindend, man könne sich nie wieder von der eigenen Vergangenheit befreien: Non mi posso mai liberare, mai, di quello che è stato il mio passato. [Ich werde mich niemals, niemals befreien können von dem, was meine Vergangenheit gewesen ist.]
Töten im Krieg stand für Manfredo in direktem Zusammenhang mit dem eigenen Überleben:
63 Vgl. Kapitel 3.1.2.
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Prima che mi colpisci tu, ti colpisco io. [Bevor du mich triffst, treffe ich dich.]
Schießen, jemanden zu töten, bedeute einen Schock: Un altro colpo è proprio vedere uno – paff! a sparargli. Tu vedi uno, come spesso succede, cammina, tu gli spari. Quello potrebbe lasciare uno choc. [Es ist ein weiterer Schlag, tatsächlich jemanden zu sehen – paff! ihn zu erschießen. Du siehst jemanden, wie es häufig passiert, er geht da entlang, du erschießt ihn. Das könnte einen Schock hinterlassen.]
Wir saßen bei diesem Gespräch wie immer im Wohnzimmer und blickten aus dem Fenster, als er plötzlich seine unbewegte Haltung des Erzählers aufgab und ein unsichtbares Gewehr in die Hand nahm. Er zielte damit auf unsichtbare Feinde, gab eine Salve Gewehrschüsse ab. Es schein, als stecke die Erinnerung an den Krieg lebendig in seinem Körper. Die Toten kämen des Nachts und raubten ihm den Schlaf. In solchen Nächten laufe er unruhig umher, könne keine Ruhe finden. Dort, genau dort seien sie – und er zeigte mit ausgestrecktem Arm vor sich ins Leere in eine mir verborgene Welt. In der ungeschützten Intimität der Nacht suchten ihn die Toten aus seiner Kriegsvergangenheit heim: Inevitabile. Ti vengono davanti come… sempre all’improvviso. Di notte magari pensi a una fase, un combattimento e in un certo momento…bumm! Ti ricordi quella sera, quella notte, eravamo di pattuglia … [Unvermeidbar. Sie kommen einfach...immer unerwartet. In der Nacht denkst du vielleicht an eine bestimmte Zeit, einen Kampf…und in einem bestimmten Moment…bumm! Du erinnerst dich an diesen Abend, diese Nacht, wir waren auf Patrouille …]
Als habe er eine unsichtbare Grenze, ein Tabu überschritten, wechselte er daraufhin abrupt das Thema. Später am Abend, als ich bereits wieder zu Hause war, rief er mich jedoch noch einmal an und vervollständigte unser Gespräch am Nachmittag: Scendo giù all’inferno, da Lucifero, e poi vado su a stendermi al sole. [Ich steige hinab in die Hölle, zu Luzifer, und dann gehe ich wieder nach oben, um mich in die Sonne zu legen.]
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Die Hölle ist der Ort der Sünder, offenbar begleiteten ihn ständig Schuldgefühle. Sonne und Hölle wechselten sich ab – zwei Welten, in denen er gleichermaßen verortet war und vor denen es kein Entrinnen gab. Ein merkwürdiges Bild: stendermi al sole [mich in die Sonne legen]. Normalerweise wird der Ausdruck im Italienischen im Kontext von Freizeitvergnügung und Erholung verwendet. Stendersi bedeutet im wörtlichen Sinne sich ausstrecken, im Sinne von (wohlig) die Glieder langmachen. Manfredos Formulierung klang, als müsse er die meiste Zeit über bei den Toten leiden, dort seine Schuld abtragen, und könne nur in kurzen Augenblicken, wie zur Erholung von der Hölle, am Leben teilhaben und sich von der Sonne bescheinen lassen. Ein Teil von ihm weilte vielleicht immer bei diesen Toten, eine ständige Präsenz seiner Vergangenheit und Endgültigkeit der eigenen Taten. Die Vergangenheit ließ sich nicht abstreifen, nicht mildern oder schmälern: Quello che ho fatto, ho fatto, è così, [Das, was ich getan habe, habe ich getan, so ist es,]
sagte er am Ende dieses Telefonats, wünschte mir übergangslos eine gute Nacht und legte auf. Die Schuld des Tötens belastete ihn offensichtlich. In seinem Weltbild fehlte der Himmel, das Paradies als Gegensatz zur Hölle. Manfredo bewegte sich zwischen der Erde und der Hölle hin und her, unten drohte ihm Luzifer, oben konnte er sich kurz erholen, Kraft schöpfen für die Buße, die er unten tat. Er streckte sich in der Sonne, in der Hölle zog sich sein Körper zusammen, eine Bewegung des ständigen Ausweichens und Konfrontiert-Werdens, eine Bewegung mit traumatischen Zügen. Er blieb darin gefangen, konnte nicht zur Ruhe kommen, nicht verarbeiten und keinen Ausweg finden aus dieser unlösbaren und zermürbenden Situation: auch hier zeigte sich eine innere Kreisbewegung, die endlos und verstörend und von der Psyche nicht zu bewältigen war. 3.2.2 Täterschaft als Erfolgsgeschichte Fabio: Con le mura alle spalle, sempre [Immer mit dem Rücken zur Wand] Fabio O. meldete sich 1943 freiwillig zum militärischen Dienst der RSI und diente in einer Einheit der Decima Flottiglia MAS. Nach Kriegsende baute er sich eine Existenz in Rom auf und machte Karriere in einer großen Firma. Er war ein wohlhabender Mann und investierte sein Geld auch in die Politik, indem er immer wieder neofaschistische Politiker unterschiedlicher Parteien unterstützte. Über einen langen Zeitraum lehnte Fabio ein Treffen mit mir vehement ab. Er war sehr vorsichtig Fremden gegenüber, die nicht zur faschistischen Nachkriegsszene gehörten. Einem Treffen stimmte er schließlich nur in Anwesenheit eines Freundes zu.
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* Fabio holt mich an der Metrostation mit einem roten Kleinwagen ab. Er ist auffallend sorgfältig gekleidet, an seiner Anzugjacke steckt ein bronzener Anhänger der Decima Flottiglia MAS mit Totenkopfemblem und roter Rose. Sein Misstrauen mir gegenüber verbirgt er nicht. Er sei Faschist, sagt er provokant, als wir in das Auto steigen. Dann drückt er mir einen Zettel mit seinem Lebenslauf in die Hand, den ich auf der Fahrt lesen soll. Der Lebenslauf ist extrem knappgehalten, eine Aufzählung seiner Tätigkeiten als Soldat in der RSI bei verschiedenen Einheiten, eine knappe Schilderung des Todes seines Vaters, der bei Kriegsende von Partisanen getötet wurde sowie die eigene Rettung durch Befehlsverweigerung, den Partisanen die Waffe zu übergeben. Er endet mit der knappen Notiz, sein Leben nach 1945 sei eine Abfolge von Kämpfen gewesen, wie bei allen Veteranen der RSI. Beim Mittagessen in einer Pizzeria beginnt er, über den Krieg zu sprechen. Für unser Gespräch hat er einen öffentlichen Ort gewählt und sorgfältig darauf geachtet, die Tür im Blick und die Wand im Rücken zu haben: Devo essere fino ad oggi con le mura alle spalle, perché all’epoca c’era sempre un comunista che ti voleva uccidere. Questo mi è rimasto fino ad oggi. [Bis heute muss ich immer mit dem Rücken zur Wand sitzen, denn damals gab es immer einen Kommunisten, der dich umbringen wollte. Das ist mir bis heute geblieben.]
Sein Leben ist offensichtlich von Angst geprägt, es scheint, als habe der Krieg für Fabio nie aufgehört. Seine Kriegserzählungen selbst sind jedoch wirr. Er reiht Episoden aneinander, die in keiner chronologisch korrekten Reihenfolge stehen, Rückfragen meinerseits ignorierte er. Er betont mehrmals, dass er sich freiwillig zum Militär gemeldet habe. In erster Linie sei er als Spitzel gegen Partisanen eingesetzt worden. Er habe an zahlreichen Racheaktionen und Razzien teilgenommen. Sein Vater habe zeitweise in der gleichen Einheit gedient. Bei Kriegsende seien sie in einer norditalienischen Kleinstadt stationiert gewesen. Er habe sich nur deshalb vor den Partisanen retten können, weil er den Anweisungen der Befehlshaber nicht gehorcht und geflohen sei, anstatt sich zu ergeben. Sein Vater habe den Befehl befolgt und sei zusammen mit allen anderen offiziellen Vertretern der RSI auf dem Friedhof der Stadt von Partisanen getötet worden. Er selbst sei einen Tag später zurückgekehrt und habe die Toten gefunden, die Leiche seines Vaters sei voller Brandnarben und Spuren von Misshandlungen gewesen. Viele der Leichen hätten herausgerissene Nägel oder ausgestochene Augen gehabt, in die Zwiebeln gedrückt worden seien. Aber er hasse niemanden, betont er mehrfach und merkwürdig unemotional, während er von diesen grauenhaften Erfahrungen berichtet. Über seine Gefühle spricht
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Fabio nicht, meine Nachfragen lässt er unbeantwortet. Vielmehr spricht er genauso teilnahmslos über seine eigenen Taten: Io sono stato ricercato come criminale di guerra per qualche anno dopo la fine della guerra. Perché ho partecipato ai rastrellamenti. [Ich bin noch einige Jahre nach Kriegsende als Kriegsverbrecher gesucht worden. Weil ich an Razzien teilgenommen habe.]
Sie hätten Menschen getötet bei ihren Razzien, fügt er hinzu. Nach Kriegsende habe er sich versteckt und tagelang in Zügen gelebt, leider sei er dann doch gefasst worden und eine Zeit lang in einem Gefangenenlager der Amerikaner gewesen, habe jedoch fliehen können: Li abbiamo ammazzati e abbiamo preso la macchina. [Wir haben sie getötet und das Auto genommen.]
In seiner Stimme liegt keine Spur von Bedauern. Er verbucht die Episode offenbar unter Töten aus Notwendigkeit im berechtigten Kampf gegen den Feind. Dann beginnt er abrupt, zu lachen, verlacht die getöteten Partisanen und amerikanischen Wachen, die Opfer. Er bedauere nichts von dem, was er getan habe, fügt er hinzu. Bevor er mich zurück zur Metro bringt, schenkt er mir ein Verzeichnis der toten und vermissten Soldaten der RSI. Das einige Kilo schwere Buch scheint mir in diesem Moment als Rechtfertigung für die eigene Täterschaft zu fungieren, als Beweis für die Richtigkeit des eigenen Handelns im Sinne einer Aufrechnung: Tote gegen Tote. Vielleicht aber verweist es auch auf eine Form der Überlebensschuld. (Feldtagebuch, Januar 2013) * Fabio hatte dem Tod ins Auge gesehen, den eigenen Vater und Kameraden verloren und durch Ungehorsam überlebt. Aber er hatte auch getötet, an brutalen Razzien gegen italienische Partisanen teilgenommen und amerikanische Soldaten getötet, um zu fliehen. Die Abspaltung von Emotionen wie Trauer, Schmerz oder Wut betraf die gesamte Kriegsvergangenheit. Täterschaft schien ein positiv in die eigene Persönlichkeit integrierter Aspekt zu sein. Mit der Ungerührtheit, mit der er über die toten Gegner sprach, verachtete er die Getöteten auf eine Weise und wischte seine eigene Schuld beiseite. Zwischen den Extremen seiner Emotionslosigkeit beim Erzählen von Krieg und Gewalt und dem zu lauten Lachen tat sich eine Kluft auf, die ihn unmenschlich erscheinen ließ. Der Stolz, zu den Gejagten, den Kriegsverbrechern zu gehören, war deutlich spürbar. Er schien keinerlei
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Schuldgefühle zu haben, Täterschaft schien vielmehr ein persönlicher Anker zu sein, auf den er sein Lebens- und Selbstwertgefühl sowie seine Tatkraft und Stärke zurückführte. Seine Kriegserfahrungen hielten ihn noch 70 Jahre nach Kriegsende fest in ihren Klauen, bestimmten noch immer seinen Alltag. Fabio schien Kraft aus der eigenen Täterschaft zu ziehen, indem er seine Wut gegen den Feind aufrechterhielt, eine ›festgefrorene‹ Identität zum Schutz gegen jegliche Form der Auseinandersetzung, zum Schutz vielleicht auch gegen das eigene Gewissen. Vielleicht war sein lautes Lachen, das mich an einen Schrei erinnerte, der Schlüssel zu seinem inneren Gemütszustand, vielleicht lag unter der Angst und diesem Gelächter der Schrecken über das Töten versteckt. Gewalterleben und Gewaltausübung wurden erst für seine Kinder problematisch; die Emotionen, die Fabio leugnete oder tatsächlich nicht zu erleben schien, waren in die Kindergeneration verschoben worden. Von seinen beiden Kindern litt vor allem seine Tochter Isabella unter den Kriegserfahrungen ihres Vaters64, während sein Sohn sich als apolitisch bezeichnete. 3.2.3 Exkurs: Grenzgänge des Forschens, Gegenübertragung Träume: Der Krieg * Eine Kriegslandschaft, überall ist Schlamm auf den Straßen, ich friere. Ein feindliches Heer in Uniform umgibt mich von allen Seiten. Ich habe das Gefühl, Helme aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zu erkennen und versuche erfolglos, mich in der Zeit zu verorten. Orientierungslos streife ich durch die Straßen einer Stadt, die doch keine ist. Es ist eine vom Krieg bereits verwüstete Geisterstadt, in der die Furcht herrscht. Ich suche meine Männer und weiß doch nicht, welche Männer zu mir gehören, auf welcher Seite ich kämpfe und wer der Feind ist. Gefahr lauert hinter jeder Ecke und lässt ein Gefühl der Ohnmacht in mir aufsteigen. Vogelperspektive und tatsächliches Erleben wechseln sich ab. In meiner panischen Suche spüre ich Verzweiflung und Angst in mir aufsteigen. Wegrennen oder bleiben? Weitersuchen? Aber ich kann nicht fort, kann mich nicht entfernen, muss hierbleiben und es zu Ende bringen. Aber was? Fragen ohne Antworten, immer nur dieses diffuse Gefühl von Angst und Panik. Und dann endlich beginnt der Krieg, ich fühle Erleichterung. Kriegsmaschinerie taucht auf, Soldaten marschieren durch die Straßen. Ich komme ihnen ganz nahe und bliebe doch ungesehen, obwohl auch mir Gefahr droht, bin ein Geist und doch dabei. Auf einem schlammigen Platz inmitten dieser Stadt aus Furcht
64
Vgl. Kapitel 3.4.4.
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beginnt der Kampf. Soldaten metzeln sich gegenseitig nieder, brutal und ohne Mitgefühl. Es sind Soldaten, die gefühllos töten. Verletzte schreien vor Schmerzen, alles ist unmenschlich und kalt. Ich versuche, mich zu entfernen und bin doch Teil des Geschehens, sehe, wie einem Mann mit einem Säbel ein Bein abgeschlagen wird – oder sticht man ihm in den Bauch? Es dauert lange, bis er tot ist, seine Schreie gellen in meinen Ohren in einem endlosen Echo. Ich kann den Blick nicht abwenden, höre die Schreie, sehe das Blut spritzen, gefangen im Schrecken der Gewalt. Als ich aufwache, bin ich zutiefst verstört und zugleich froh, endlich dort gewesen zu sein, im Krieg. Ein diffuses Gefühl der Stille legt sich über den Schrecken, der mich den Tag über verfolgt, während die Schreie in meinem Kopf widerhallen. Was bedeutet dieser Drang in mir, den Krieg zu spüren, das Bedürfnis, das, was mir die Veteranen nicht oder nur bruchstückhaft über den Krieg erzählen, fühlen und verstehen zu wollen? Oder ist es einfach ein Zwang, die Lücken in den Erzählungen zu schließen, eine Form des Umgangs zu finden mit dem, für das es keine Worte gibt und das mich in den Gesprächen und Begegnungen doch irgendwie erreicht? Ist mein Versuch, die Lücken zu schließen, eine Art therapeutische Intervention meinerseits, die mir als passive Zuhörerin erlaubt, aktiv zu werden und dem Gefühl der Ohnmacht zu entfliehen? (Feldtagebuch, November 2012) * Im Laufe meiner Forschung geschah es immer häufiger, dass ich mich in meinen Träumen in die Welt von Krieg und Tod begab. Die Realität hinter der Grenze des Erzählbaren war deutlich und verstörend spürbar in meinen Gesprächen mit den RSI-Veteranen. In vielen Gesprächen tastete ich mich an dieser Grenze entlang, hinter der die verstörenden Kriegserfahrungen lagen. Ich versuchte, auf die andere Seite zu gelangen, während die meisten Veteranen versuchten, diese Grenze und das, was dahinterlag, vor mir zu verbergen. Und doch war sie deutlich wahrnehmbar und ein zentraler Teil unserer Gespräche, die auch eine Gratwanderung zwischen der Aufrechterhaltung des Selbstbildes als Heldenfiguren und der Wahrheit der Gewalt und Brutalität waren. Aber nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch in meinem Erleben verschoben sich Grenzen, und ich bewegte mich vor allem in Träumen über das hinaus, was mir meine Informanten erzählten.65
65 Vgl. Prolog.
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Das Konzept der Ethnopsychoanalyse, das den Fokus auf Beobachtung, Übertragung und Gegenübertragung im Forschungsprozess legt, geht auf den Ethnologen und Psychoanalytiker George Devereux zurück.66 Ausgangspunkt für seine Perspektive auf die Verhaltenswissenschaften ist die Einbeziehung der Reaktionen, Ängste, Abwehrmechanismen und Verzerrungen des Forschers im Forschungsprozess in die Datenanalyse. Die Subjektivität des Forschers spielt eine entscheidende Rolle bei der Auswertung des Materials.67 Nadig beschreibt die Begegnung zwischen dem Forscher und seinem Gesprächspartner nicht als eine Konfrontation, sondern vielmehr als »eine transkulturelle Beziehung, die sich abhängig von den kulturspezifischen Erfahrungen und Emotionen, die zwischen den beiden Gesprächspartnerinnen entstehen, bewegt. […] Diese Beziehung stellt einen sozialen intermediären Raum dar, in dem sich, begleitend zu den Gesprächen, ein situationsspezifisches Spiel zwischen präverbalen, körperlichen, coenästhetischen und symbolischen Anteilen entwickelt, das gemeinsam im Hier und Jetzt erfahren, aber teilweise erst später verstanden werden kann.« (Nadig 2000: 97).
Die lückenhaften Erzählungen der Veteranen schienen sich in meinen Träumen zu Ende zu erzählen, das Ungesagte in meinen Gesprächen über den Krieg verfolgte mich und brach sich dort im Schutz der Nacht Bahn, um mich dann aus dem Träumen heraus oft in den Tag hinein zu verfolgen. Der »soziale intermediäre Raum« schien in dieser parallelen Welt der Träume Gestalt anzunehmen, ein Kreislauf der wortlosen Botschaften, die sich in immer wieder neue Formen übersetzten. Nicht zu Ende erzählte Geschichten wurden so auf eine Art greifbar. Immer wieder spürte ich das Echo des verschwiegenen Schreckens und der Gewalt des Krieges, die in mir widerhallten. Durch mein Zuhören hatte ich auf gewisse Weise Teil an den Kriegserzählungen, ein schmaler Grat zwischen Wissen und Ahnung, Realität und Imagination, der mir mit der Zeit immer weniger sicher erschien. Hinter dieser Grenze lag die Wahrheit des Krieges, das Töten, die Gewalt, die Aggression: Terribile, abbiamo sparato [Schrecklich, wir haben geschossen]. Meine angstvollen Träume über den Krieg schienen ein Schlüssel zum Verständnis der Angst der Veteranen zu sein, die alle von ihnen während des Krieges erlebt hatten. Auch das Sprachtabu der Veteranen über die negativen Seiten des Krieges und Täterschaft schien sich in meinen Träumen zu spiegeln, in denen ich stumm und
66 Vgl. Devereux 1984; methodisch fruchtbar gemacht für die Ethnologie wurde die Ethnopsychoanalyse in erster Linie durch Paul Parin, Fritz Morgenthaler, Goly ParinMatthèy. 67 Ein Überblick dazu findet sich bei Reichmayr (Reichmayr 2003: 204-2011).
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ohnmächtig blieb. Ich konnte den Kriegssituationen dort nicht entkommen, so wie ich die Veteranen in den Gesprächen nicht zwingen konnte, mir die Wahrheit über Gewalt und Tod im Krieg zu erzählen. Auch hier musste ich oft stumm bleiben, um die Möglichkeit zu weiteren Gesprächen nicht zu verlieren. Indem ich nach der emotionalen Dimension von Kriegserfahrung, nach Täterschaft und Schuld fragte, überschritt ich die Grenzen eines Diskurses, der historische Fakten und deren beschönigende Interpretationen fokussierte. Vielleicht konnte ich diese Grenze nur überschreiten, weil ich als junge, deutsche Frau für die Veteranen nicht innerhalb der gewohnten sozialen und politischen Kategorien einzuordnen war: Ich passte nicht in das duale politische Rechts-Links-Schema, meine deutsche Familiengeschichte war nicht nachzuverfolgen und mein deutscher Freundes- und Bekanntenkreis war unbekannt. In der faschistischen Nachkriegsszene bewegte ich mich also ohne bindende oder behindernde Verwandtschaft oder Netzwerke, was auf der einen Seite Dinge erleichterte, sie auf der anderen erschwerte und zu absurden Spionagevorwürfen führte.68 Das Überschreiten von Grenzen war ein Aspekt, der meine Forschung auf verschiedenen Ebenen strukturierte. Es war zuerst einmal eine Voraussetzung für den Zugang zu meinen Informanten: Nachdem ich die Grenzen des Zugangs zum Feld überschritten hatte, konnte ich vorsichtig die Grenzen in meinen Gesprächen mit den Veteranen ausloten und dann z.T. überschreiten. Auch die RSI-Veteranen überschritten Grenzen des Gewohnten und Grenzen kollektiver Tabuisierungen in vielen Gesprächen. Immer wieder musste ich auch meine eigenen Grenzen, Beurteilungen, Vorwürfe, Unverständnis oder auch Wut überschreiten, mich anhalten, offen zu bleiben in meiner Wahrnehmung, um mich auf Situationen, Personen und herausfordernde Gespräche über den Krieg einlassen zu können. Die Forschung war daher auch für mich eine Erfahrung im Umgang mit Grenzen.69
3.3 LANGE SCHATTEN VON TÄTERSCHAFT Kriegserinnerungen sind ein ständiger Umgang mit inneren und äußeren Grenzen, deren Verfertigung und Aushandlung mit der sozialen Positionierung der Veteranen einhergehen. Krieg als Extremsituation und Gewalterfahrung stellt in sich eine Grenzerfahrung dar. Entscheidend für die RSI-Veteranen ist das Narrativ über die als legitim und kriegsrechtlich legal bewertete Kriegsvergangenheit als Ursprungsmythos der eigenen Identität. Das Selbstbild der faschistischen Veteranen
68 Vgl. Kapitel 2.2.2. 69 Vgl. Prolog.
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als tragische Helden erschwert eine kritische Auseinandersetzung mit Schuld und Täterschaft. Umgang mit Täterschaft ist ebenfalls ein Aushandeln von Grenzen: soziale Grenzen der kollektiven und individuellen Identität, moralische Grenzen des persönlichen Gewissens, psychische Grenzen sowie Grenzen der Reflektion und Verbalisierung in Relation zum Zuhörer: Vor allem dort, wo Worte versagen, beginnt der Raum für die Auseinandersetzung mit individueller Schuld. Anhand der Beispiele in diesem Kapitel wird deutlich, wie unterschiedlich RSI-Veteranen auf einer persönlichen Ebene mit ihren Kriegserfahrungen umgehen, die sich von der kollektiven Verhandlung im Kollektiv der Veteranen unterscheidet. Für einige ist Täterschaft problematisch (vgl. Michele B., Alessandro F. und Manfredo V.). Andere scheinen scheinbar unbeschädigt damit zu leben, ohne sichtbare Belastungen, Verletzungen, besonderen Schmerz oder andere Symptome traumatischer Kriegsfolgen und mit einem unproblematischen Verhältnis zu Täterschaft (vgl. Fabio O.). Mechanismen des individuellen Umgangs mit Täterschaft und möglicher Schuldbewältigung sind komplex und von außen nur schwer einsehbar. Schuld bleibt im Kern immer persönlich. Um Schuld festzustellen, ist eine Instanz notwendig, die den Schuldigen als solchen definiert. Eine solche Instanz kann in Form eines Gerichts, geltender Regeln, Moralvorstellungen und Normen außerhalb oder in Form des Gewissens innerhalb einer Person liegen.70 Solche Instanzen kategorisieren Fehlverhalten und beurteilen die Schwere des Vergehens, müssen jedoch nicht dem individuellen Schuldverständnis entsprechen. Schuld ist nicht mit Schuldgefühl gleichzusetzen, Schuldbewusstsein muss nicht unbedingt mit Emotionen verbunden sein. Erkennt ein Sünder seine Schuld nicht an bzw. kann er sein Vergehen erfolgreich verheimlichen, so kann er ohne Schuldgefühl leben.71 Wird Schuld anerkannt, sind Reue und Trauer um die Opfer möglich. In den meisten Fällen widerstrebt dem Täter jedoch das Eingeständnis von Schuld, da es Schamgefühle nach sich zieht. Schuld kann nicht aufgelöst, sondern nur bewältigt werden.72 Die Verantwortung bleibt also individuell bei dem, der den Verstoß begangen hat, vor allem, wenn es sich um das Töten eines Menschen handelt. Die Problematik im Hinblick auf Schuld und den Umgang damit liegt in ihrer Privatheit. Sie wird von dem Betreffenden empfunden, bleibt intim, ist schwer vermittelbar oder von außen nachfühlbar.73 Manfredo befand sich zeitweise in der Hölle, Alessandro schien auf die ewige Verdammung nach dem Tod zu warten. Die Beichte, die Alessandro bei einem
70 Vgl. Hirsch 1997: 30/ 31. 71 Vgl. Hertz 2007[1907]: 262. 72 Vgl. Hirsch 1997: 32 und 58. 73 Vgl. Buber 1958: 19.
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Priester abgelegt hatte, hatte sein Gewissen nicht erleichtert. Für sich selbst erwartete er eine Strafe für seine Taten nach dem Tod. Immer wieder ließ er erkennen, dass er sich wunderte, so lange am Leben geblieben zu sein, in seinen Augen möglicherweise unverdient. Auch Ugo S. thematisierte das Jenseits: Chissà se andiamo nel paradiso o nell’inferno? È il mistero della vita: la morte, l’amore. Per quando uno muore muore, è finita. Chiudi gli occhi, ti devi raccomandare l’anima a Dio, sperando che ci sia un aldilà, e che uno se lo sia meritato. Ma se invece avevi commesso delle cose ignobili, o per lo meno non buone in terra, se c’è un inferno, ti sei meritato l’inferno. L’aldilà, che cos’è? Non so che cosa dirti perché non sono ancora morto. Io sono stato nel pericolo, quando mi hanno messo al muro per tre giorni i partigiani comunisti – e io mi raccomandavo a Mamma, alla Madonna e a Gesù. [Wer weiß, ob wir ins Paradies oder in die Hölle kommen? Das ist das Geheimnis des Lebens: der Tod und die Liebe. Wenn jemand stirbt, stirbt er, dann ist es zu Ende. Du schließt die Augen, musst deine Seele Gott anvertrauen, in der Hoffnung, dass es ein Jenseits gibt, und dass du es dir verdient hast. Aber wenn du unehrenhafte Dinge getan hast, oder wenigstens Dinge, die nicht gut sind auf dieser Erde, hast du dir die Hölle verdient. Was ist das Jenseits? Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, denn ich bin noch nicht tot. Ich bin in Gefahr gewesen, als mich die kommunistischen Partisanen drei Tage lang an die Mauer gestellt haben – ich habe mich meiner Mutter anempfohlen, der Madonna und Jesus.]
Auch ihn quälte die Unsicherheit des Jüngsten Gerichts nach dem Tod, der Furcht vor der Hölle als einem Ort ewiger Verdammnis der Seele im Jenseits. Angst vor dem Tod war aus seinen Worten zu lesen. Schuld und Schuldgefühle werden im Spannungsfeld zwischen individuellem Gewissen und der Verortung in einer politischen Subkultur verhandelt. Folgen von Täterschaft werden als innere Starre und als Form einer inneren Kreisbewegung sichtbar, in der sich der Täter in einem endlosen Prozess immer wieder mit den Getöteten verbindet. Die Verbindung zwischen Tätern und Getöteten bleibt unauslöschlich bestehen, sichtbar werden Langzeitfolgen von Täterschaft als Starre und Stagnation, spiralförmige Auf- und Abwärtsbewegungen ohne absehbares Ende oder Ziel, die Täter im Bann der Opfer gefangen. Täterschaft im Krieg wurde für einige der RSI-Veteranen auf der persönlichen Ebene zur Belastung, ein untrennbares Band schien Täter und Opfer in diesen Fällen durch den Akt des Tötens zu verbinden. Die Verbindung zwischen Täter und Opfer hinterließ Spuren im Leben der Täter, die nicht immer auf Anhieb sichtbar wurden. Die Toten blieben ein
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fester Bestandteil ihres Seins. Unverarbeitete Täterschaft kann innerhalb von Familien über Generationen hinweg verschoben werden, Artikulation von Schuld wird manchmal erst in einer nachfolgenden Generation möglich.74
3.4 FAMILIENGESCHICHTEN DES NACHKRIEGS-FASCHISMUS Transgenerationale Tradierung von Erfahrung findet innerhalb familiärer Beziehungsstrukturen auf unterschiedlichen Ebenen statt. Bei der Analyse innerfamiliärer Beziehungsdynamiken bei den Familien innerhalb der faschistischen Nachkriegsszene finden sich sowohl bewusst gestaltete und verhandelte (familiäre) Narrative über die Vergangenheit sowie unbewusste Reaktionen und Verstrickungen. Kriegserfahrungen und insbesondere Täterschaft wirken nicht nur in offensichtlicher Weise auf die nachfolgenden Generationen, zentral für das Verständnis familiärer Dynamiken sind insbesondere auch die auf den ersten Blick unsichtbaren Folgen. Kriegserfahrung wird zu erzählten Geschichten, die durch die jeweilige Intention des Erzählers geprägt und oft verfremdet werden. Sie verlieren dadurch jedoch nicht ihre Macht als körperliche und seelische Erfahrungen. Im Familiengedächtnis werden oft über mehrere Generationen spezifische Erzählungen tradiert. Umgang mit Vergangenheit ist also eine gemeinsame soziale Praxis in Familien. Soziale und rituelle Praktiken sind dabei bedeutsamer als der Inhalt der jeweiligen Geschichten. Zum einen wird Erinnerung in Interaktionen wie dem (Familien-) Gespräch und in Form ritueller familiärer Praktiken gemeinsam verfertigt, zum anderen wird sie in Form nicht bewusst reflektierter Tradierungsmechanismen wie beispielsweise transgenerationaler Gefühlserbschaften75 an nachfolgende Generationen weitergegeben. Häufig liegt die Wirkmacht unbearbeiteter Kriegserfahrung gerade im (Ver-)Schweigen, das Ausmaß wird oft erst in einem umfassenderen Blick auf die weitere Familiendynamik sichtbar. Nach außen wird in vielen Fällen der Eindruck hermetisch abgeschlossener und unerschütterlicher familiärer Einheiten vermittelt. Die Beschäftigung mit familiären Dynamiken verlangt daher
74 Vgl. Kapitel 3.4. 75 Vgl. Untersuchung von Koch-Wagner (2001) zu transgenerationalen Gefühlserbschaften am Beispiel der Interaktion von Müttern und Töchtern vor dem Hintergrund von Kriegstraumata und nationalsozialistischer Ideologie sowie die Untersuchung zur Auswirkung nationalsozialistischer Täterschaften in Familien von Wrochem (2016).
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eine dezidierte Suche nach den Brüchen in den Beziehungsgeflechten, um zu verstehen, was unter der familiären Haut, die Zusammenhalt garantiert, verborgen liegt. Familien sind sensible Beziehungssysteme. Familiäre Dynamiken etablieren sich über Generationen und sind auch Reaktionen auf Schiefstände in Beziehungen zwischen Familienmitgliedern oder besondere Belastungen Einzelner. Aus der spezifischen Funktionsweise eines Familiensystems erwächst eine Kraft in Form des Gewohnten, als Gefühl der Sicherheit durch ein vertrautes Gleichgewicht. Wer das Gewohnte zum Einsturz bringt, gefährdet das System und damit das sichere Gerüst einer gewohnten Familienstruktur. Wer Geheimnisse oder tabuisierte Themen wie beispielsweise Schuld und Täterschaft zur Sprache bringt und Grenzen übertritt, rüttelt am familiären Gleichgewicht und gefährdet damit unter Umständen die eigene Zugehörigkeit zur Einheit der Familie und damit potentiell auch das Anrecht auf Erbe. Die Gefahr des Ausschlusses aus der Erbengemeinschaft ist eine zentrale Komponente der familiären Dynamik in einem Land, in dem u.a. Wohnraum als Existenzgrundlage an die Kinder weitervererbt wird. Der Umgang mit Kriegserfahrungen, Schuld und Täterschaft von Eltern oder Großeltern muss also immer als Herausforderung im Sinne des Erhalts eines familiären, sozialen, psychischen und ökonomischen Gleichgewichts gesehen werden. 3.4.1 Familiäre Räume Familie ist identitätsbildend und -bindend und damit auch ein körperlich definierter Raum. Familie als Raum der engsten interpersonellen Bindungen im sozialen Gefüge ist der Ort in einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, der (in der Regel) den ersten und meist auch zentral prägenden Einfluss auf seine Mitglieder hat bzw. auf das soziale Umfeld ausstrahlt.76 Der Blick auf Familienstrukturen als zentraler Kern einer Gesellschaft, Ausgangspunkt und Basis sozialen und politischen Wandels, ist essentiell für ein sozialanthropologisches Verständnis von Gesellschaft.77
76 Vgl. Wolf 1966: 9. 77 Der Historiker und Anthropologe Emanuel Todd erklärt die spezifische Ausformung des italienischen Faschismus mit der Synthese zweier konträr ausgerichteter Familienmodelle (»familles nucléaire égalitaire et communautaire exogame«). Nach dem Zerfall des Regimes 1943 sieht er deren ideologische Separation unterschiedlicher Ausprägung in verschiedenen Regionen Italiens als Grundlage für die Entwicklung der Parteienlandschaft in Italien nach 1945: kommunistische Partei PCI sowie konservative Partei DC (vgl. Todd 1981: 142-144).
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Nach Wolf ist für ein Verständnis komplexer Gesellschaften die Untersuchung ihrer Parallelstrukturen erforderlich, die nicht immer auf offensichtliche oder schnell erkennbare Weise die politischen und gesellschaftlichen Institutionen ergänzen. Zu diesen Parallelstrukturen gehören Verwandtschaft und Familienstrukturen, Freundschaftsbeziehungen (emotional und instrumentell) sowie Patron-Klient-Beziehungen.78 Nach Halbwachs bildet »die Familie eine im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen »unauflösliche Einheit« […] – selbst, wenn die Familienbeziehungen aufgrund von Tod, Scheidung etc. zerreißen, bleiben Väter Väter und Söhne Söhne.« (Halbwachs 1985: 224) Wolf beschreibt die Bedeutung der Familie in komplexen Gesellschaften als zentralen identitätsstiftenden Referenzpunkt des Einzelnen in der Gesellschaft, der auf grundlegende Weise Ressourcen garantiert (beispielsweise ökonomisch) und zugleich den Zugang zu sozialen Ressourcen strukturiert.79 Der familiäre Raum wirkt über die familiären Grenzen hinaus in die erweiterten Netzwerke der Familie und fordert Loyalitäten ein, zu denen oft auch politische Positionen gehören.80 Die Familie hat zentrale Bedeutung als ökonomische Absicherung der Nachkommen, in Form von Familienbesitz und Erbe,81 in Italien häufig in Form von Wohnraum: 80 % aller Italiener leben in Wohnungen oder Häusern, die sich in ihrem Besitz befinden.82 Das Vererben von Wohnraum als Mittel der finanziellen Absicherung
78 Vgl. Wolf 1966: 1f. 79 Vgl. Wolf 1966: 7-9. 80 Vgl. Boissevain 2013: 46. 81 Im italienischen Rechtssystem kann durch Testament (»successione testamentaria«) oder per Gesetz vererbt werden, wenn ein Testament fehlt (»successione ab intestato« o »legittima«). Eine bestimmte Quote des Besitzes wird per Gesetz ausschließlich den nächsten Angehörigen zugesprochen (»successione necessaria«, art. 536 e ss. c.c). Der Gesetzgeber versucht, die Familie als zentralen Kern der italienischen Gesellschaft zu schützen, nach dem Scheidungsgesetz von 1970 wurde das Gesetz dahingehend ergänzt, dass der geschiedene Partner den Anspruch auf Erbe des Ex-Ehepartners (mit wenigen Ausnahmen, art. 9 bis L. cit.) verliert (Legge n. 898 del 1.12.1970). Eine Reform des Paragraphen von 2012 (L. n. 219) setzt außerehelich geborene Kinder den legitimen Kindern gleich, was ihnen das gleiche Erbrecht zugesteht. 82 Gleichbleibender Prozentsatz des Besitzes von Wohnraum verweist auf dessen kontinuierliche Weitervererbung in den Familien, siehe dazu Statistiken des ISTAT von 2008 (www.istat.it/it/files/2011/01/testointegrale20100226.pdf [15.8.2020]) und von 2017 (www.ilsole24ore.com/art/casa/2017-01-03/istat-l-80percento-italiani-vive-unacasa-proprieta-ma-spesso-piccola-e-ristrutturare-152812.shtml?uuid=ADzmTJPC&ref resh_ce=1 [15.8.2020]).
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in Familien strukturiert den italienischen Immobilienmarkt.83 Indem Familienmitglieder eine Einheit bilden, die u.a. auf Verwandtschaft und als Erbengemeinschaft auf gemeinsamem Besitz basiert, sind meist alle Mitglieder in bestehende Klientelnetzwerke ihrer Familie eingebunden.84 Während der Herrschaft des faschistisches Regimes steht die Familie als Garant für den Erhalt der Rasse in der Vordergrund85, im Mittelpunkt steht der Mythos des Staates, »vor dem alle übrigen Interessen sich zu beugen haben. Die Bedeutung der Familiengröße und einer intensiven Bevölkerungspolitik, welche zum Bestandteil der faschistischen Familiendoktrin gehören, folgt aus dieser Staatsauffassung. Für den Faschismus ist die Familie lediglich die Grundlage, die erste konstitutive Zelle der Staatsmacht.« (Luini 1936: 817)
Das faschistische Regime greift massiv in Familie und Erziehung ein zugunsten der Allmacht des Staates. Die Familie ist eine notwendige Einheit für die Organisation der Gesellschaft, v.a. auch durch die Produktion von Nachwuchs, weshalb sie vom Staat kontrolliert und damit letztendlich wiederum geschwächt wird.86 Dies wird u.a. durch eine scharfe Gesetzgebung realisiert, die Ehebruch, falsche Heiratsversprechen oder Vernachlässigung der Familie bestraft, sowie zu Maßnahmen wie der Junggesellensteuer für unverheiratete Männer führt . Die Erziehung der Kinder ist in staatliche Organisationen ausgelagert. Im Alter von 6 bis 23 Jahren ist die Mitgliedschaft der Kinder in der 1926 gegründeten Opera Nazionale Balilla verpflichtend. Der Staat übernimmt damit hauptsächlich die ideologische, sportliche und militärische Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen sowie ihre Freizeitgestaltung. Der Frau kommt in erster Linie die Mutterrolle zu, die Teilnahme am öffentlichen politischen Leben bleibt dem Mann vorbehalten.87 Nicht nur das Erbe des Faschismus, sondern auch das katholische Wertesystem prägen die italienischen Familienstrukturen. Rom als Sitz des Vatikans und
83 Vgl. Recherchen des nationalen Forschungsinstitut ISTAT www.istat.it/it/files/2011/01/testointegrale20100226.pdf [15.8.2020]. 84 Die Erweiterung der Familie über den intimen Raum hinaus zeigt sich u.a. in der Tradition der Patenschaften (vgl. Hauschild 2002: 35-54), welche die Kernfamilie um zwei Fremde erweitert, um Schutz und Loyalitäten zu gewinnen. 85 Vgl. Röbbel 2006: 39/ 40. 86 Vgl. Luini 1936: 823 und Theweleit 1980: 248-255. 87 Vgl. Luini 1936: 820-822.
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Zentrum des Katholizismus kommt in dieser Perspektive eine besondere Bedeutung zu. Obwohl der Grad der Identifikation der Italiener mit der Kirche sowie der aktiven Gestaltung des Glaubens nach Region, sozialer Klasse und Geschlecht variiert, sind so gut wie alle getauft;88 im Jahre 1999 bezeichneten sich beispielsweise 85,8 % der Bevölkerung als religiös,89 2014 sind es immer noch drei Viertel der Bevölkerung. 26 % der Gläubigen bezeichnen sich als aktiv praktizierend [praticante], was 46 % der Gesamtbevölkerung im Alter über 15 Jahren entspricht.90 Mehrgenerationenhaushalte prägten italienische Familienstrukturen bis weit in die Nachkriegszeit hinein.91 Verantwortlich dafür ist u.a. die Dominanz der Agrarwirtschaft bis Anfang der 1970er-Jahre in weiten Teilen des Landes (hauptsächlich im Süden, aber auch in Mittelitalien) sowie die damit verbundene späte, erst in den 1970er-Jahren ansteigende Land-Stadt Migration.92 Die Modernisierung der Familie setzt in Südeuropa im Vergleich zu den nordeuropäischen Ländern eher spät ein.93 Dazu gehören sinkende Geburtenraten seit den 1980er-Jahren,94 ein Anstieg der Scheidungsquote seit dem Referendum zur Scheidung von 1974,95 spätere Eheschließung, Verkleinerung der Haushalte sowie zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen. Die italienische Gesellschaft ist trotz allem bis heute
88 Vgl. Kertzer 1983: 64. 89 Vgl. Röbbel 2006: 190. 90 Vgl. Analyse des Institutes für Marktforschung Doxa: www.doxa.it/religiosita-eateismo-in-italia-nel-2014/ [15.8.2020]. 91 Erste Forschungen zur Familie seit der Einigung Italiens 1870; die soziologische Familienforschung in Italien vor dem Faschismus ist lückenhaft bis inexistent und meist politisch motiviert. Von Interesse sind hier vor allem Forschungen zum Ursprung der Familie und ihrer Entwicklungsgeschichte, beeinflusst von der europäischen Familienforschung (vgl. Luini 1936: 819f). 92 Vgl. Röbbel 2006: 41, Silverman 1965 sowie Kertzer 1983: 53-55. 93 Vgl. Röbbel 2006: 159. 94 Starker Rückgang personenstarker bzw. kinderreicher Familien seit den 1880er-Jahren, so halbierte sich etwa der Prozentsatz von Familien mit fünf und mehr Mitgliedern zwischen 1988 und 2008 (10,8 % auf 5,9 %) (vgl. Rivellini et al. 2012: 50). 95 Gesetz zur Scheidung im Dezember 1970 gegen den Widerstand der DC, des Vatikans sowie des MSI beschlossen; im Referendum von 1974 wurde die geplante Abschaffung des Gesetzes durch die genannten Parteien verhindert, seither verlor die Ehe kontinuierlich an Bedeutung, nichtsdestotrotz ist sie zentraler Bestandteil italienischer Familienkultur (vgl. Rivellini et al. 2012: 53).
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essentiell durch enge Familienbeziehungen charakterisiert. Familien als Netzwerke mit engmaschigen Strukturen, d.h. mit starken Bindungen und oft auch großer physischer Nähe sind der Grundstock der italienischen Gesellschaft, auch wenn aufgrund der demographischen Veränderungen in den letzten 20 Jahren immer wieder von tiefgreifenden Veränderungen der italienischen Familienstruktur die Rede ist.96 Im europäischen Vergleich weist Italien zwar dieselben sozio-demographischen Entwicklungen auf wie nordeuropäische Länder, das Ausmaß der Fragmentierung der Familie ist in Italien jedoch sehr viel geringer. Die Scheidungsrate liegt beispielsweise immer noch weit unter dem europäischen Mittelwert. In Italien ist Scheidung noch immer ein heikles Thema, obwohl sich die Anzahl der Scheidungen im Zeitraum zwischen 1995 und 2009 verdoppelt hat.97 Erwachsene Kinder leben zudem verhältnismäßig lang in der Ursprungsfamilie,98 aufgrund des starken Geburtenrückgangs seit den 1980er-Jahren sind zahlreiche von ihnen Einzelkinder. Die Familien der RSI-Veteranen gehören zum tragenden Kern des Nachkriegsfaschismus. Familiäre Dynamiken wirken über die Familie hinaus in das soziale Umfeld hinein. Die Familie als ›Behälter‹ für psychische Belastungen, Beziehungsproblematiken und -dynamiken, die große Spannungen erzeugen können, strukturiert daher auch das faschistische Nachkriegsambiente als politische Subkultur.
96 Vgl. Rivellini et al. 2012: 80/ 81. 97 Bis 1974 wurde das Ende einer Ehe in Italien ausschließlich mit dem Tod einer der beiden Ehegatten in Verbindung gebracht (vgl. Rivellini et al. 2012: 74). Im Vergleich mit den USA sowie anderen europäischen Ländern weist Italien zusammen mit Irland die geringste Scheidungsrate auf (Rivellini et al. 2012: 82). 98 Im Jahr 2009 lebten 90,6 % der Söhne im Alter von 20-24 Jahren und 81,4 % der Töchter noch bei ihren Eltern. bei den 30-34jährigen waren es noch 37,8 % der Söhne und 19,8 % der Töchter (vgl. Rivellini et al. 2012: 69). Zwischen 2003 und 2007 nannten insgesamt 43,7 % aller Kinder die Ehe als Grund für das Verlassen des Elternhauses, erst an zweiter Stelle folgt das Bedürfnis nach Autonomie mit 28,1 % (vgl. Rivellini et al. 2012: 70). Siehe dazu auch Donati (2012: 17).
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3.4.2 Familiendynamik I: konfliktreiche Beziehungen und heimliche Loyalitäten RSI-Veteranen und ihre Kinder Viele RSI-Veteranen betonten mir gegenüber, sie hätten ihren Kindern wenig oder nichts über den Krieg erzählt, da man die Kinder habe schützen und nicht beeinflussen wollen. Es zeigt sich jedoch, dass Familienkultur und die politische Haltung der Eltern unabhängig von Erzählpraktiken prägend sind, da Familie der Ort ist, an dem Erziehung, Bildung und Sozialisation zuerst stattfinden. Vor allem während der anni di piombo gestalteten sich Übergänge zwischen familiärem und sozialem Raum vor dem Hintergrund politischer Positionierungen häufig konfliktreich. Familiennamen machten Kinder als Kinder von Faschisten leicht identifizierbar, die Geheimhaltung familiärer Identität war in der Regel unmöglich. Dieses familiäre Erbe führte in vielen Fällen zu konfliktreichen Auseinandersetzungen der Nachkommen von RSI-Veteranen mit dem sozialen und politischen Umfeld außerhalb der Familien und erschwerte die Entwicklung der eigenen Identität sowie die Ausprägung einer autonomen politischen Haltung. Die familiäre Welt wird zunächst als Normalität empfunden und ist das Maß, an dem die Außenwelt gemessen wird, die oft in Form der Schule zum ersten Mal bewusst erlebt wird. Viele Kinder von Veteranen der RSI befanden sich damit in einem Dilemma: die Gesellschaft sah ihre Väter als Täter, wohingegen die eigene Familie sowie das nahe, soziale Umfeld die RSI-Veteranen als Opfer der Gewalt von Partisanen sowie der antifaschistischen Gesellschaft bewertete. Die Konfrontation mit dieser sozialen Realität bedeutete häufig einen Bruch mit dem vertrauten Weltbild, das in der Familie gepflegt wurde: Die Außenwelt wurde dadurch häufig zu einem unsicheren Ort, an dem die eigene Herkunft ein Nachteil sein und konflikthafte Situationen nach sich ziehen konnte. Vor dem Hintergrund der stark politisierten Zeit der anni di piombo war der Druck, sich politisch positionieren zu müssen, oft groß. Die Identität der eigenen Familie und deren Verortung im sozialen Netzwerk des Nachkriegsfaschismus waren dabei bindende Faktoren. Der Eintritt in politische Organisationen fand daher in der Regel früh statt. Meine Informanten aus der zweiten Generation nannten ein durchschnittliches Alter zwischen 12 und 15 Jahren. Ein Ausbrechen aus der familiären und sozialen Herkunft war für Kinder von Veteranen der RSI vor dem Hintergrund enger sozialer Netzwerke in römischen Stadtvierteln in der Regel nicht einfach.99
99 Vgl. Kapitel 2.1.1 und 2.4.1.
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Roberto S. lernte ich 2012 bei der Erinnerungszeremonie zu Ehren Francesco Maria Cecchins, eines politischen Toten der anni di piombo kennen.100 Zusammen mit einer Gruppe ehemaliger politischer Aktivisten der anni di piombo bemühte er sich in dieser Zeit um die Genehmigung für ein offizielles Denkmal für Cecchin auf der Piazza Vescovio in der Nähe seines Todesortes. Seit seiner frühen Jugend hatte er sich politisch engagiert und war gut vernetzt innerhalb des faschistischen ambiente. Er war verheiratet und hatte eine Tochter. Durch wirtschaftsstrukturelle Veränderungen hatte er seinen Job verloren und arbeitete seitdem im sozialen Bereich. Das Spannungsfeld zwischen familiärem und sozialem Raum in seiner Jugend beschrieb er folgendermaßen: Noi figli siamo tutti concordi nel dire: guardavamo i nostri padri, e leggevamo, o guardavamo la televisione, o ascoltavamo qualcosa…come fa una persona così calma, così tranquilla … qualcosa non funzionava e alla fine ti accorgi, perché cominci a fare due più due, e due più due fa quattro, non faceva cinque o tre! E cominci a fare delle domande, cominci a cercare, da far coincidere la storia come la dicono loro con una storia almeno nel caso di mio padre che me la raccontava e ti accorgi che quello che ti raccontano non è vero. Non è così! Ogni cosa che ti dicono la prendi con le pinze, no, e gli fai l’analisi, l’autopsia. E ti accorgi che tutte le volte c’è qualcosa che non funziona. [Wir Kinder sind uns alle einig darin: wir schauten auf unsere Väter und lasen oder schauten fern oder hörten etwas…wie schafft es eine Person, die so ruhig, so friedlich ist … etwas stimmte nicht und am Ende merkst du es, weil du anfängst, zwei und zwei zusammen zu zählen, und zwei und zwei ergibt vier, nicht fünf oder drei! Und du beginnst, Fragen zu stellen, du beginnst zu suchen, versuchst, die Geschichte, wie sie sie dir erzählen zusammenzubringen mit einer anderen Erzählung – zumindest im Fall meines Vaters, der sie mir erzählt hat – und du merkst, dass das, was sie dir erzählen, nicht wahr ist. So ist es nicht! Alles, was sie dir sagen, fasst du nur noch vorsichtig an, nein, du analysierst es, machst eine Autopsie. Und du merkst, dass es jedes Mal etwas gibt, das nicht stimmt.]
Wollte man die eigene Herkunft und Identität, familiäre Ressourcen wie Netzwerkstrukturen, in denen sich die Familie bewegte, nicht verlieren, musste man Loyalität zeigen. Offene Rebellion war riskant, die Entwicklung einer entgegengesetzten politischen Haltung nicht selten mit einem familiären Bruch verbunden und daher kraftaufwendig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die zweite Generation nicht kritisch mit den politischen Positionen der Kriegsgeneration ihrer Väter auseinandersetzte und viele in der zweiten Generation sich zwar in politischen Gruppierungen des Nachkriegsfaschismus verorteten, inhaltlich jedoch konträre
100
Vgl. Kapitel 2.4.3.
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Positionen einnahmen. Kritisiert wurde häufig eine als nostalgisch bewertete Haltung der ersten Generation gegenüber dem historischen Faschismus. Kohärenz mit der sozialen und politischen Identität der Veteranen bedeutete keineswegs eine konfliktfreie Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern. Robertos Vater hatte in der RSI in einer Einheit der Decima Flottiglia MAS gekämpft. Im Gespräch mit mir bemühte Roberto das übliche Rechtfertigungsnarrativ der Veteranen, das er ganz offensichtlich von seinem Vater übernommen hatte: Liebe zum Vaterland und Wut über die Schmach der Kapitulation der italienischen Regierung nannte er als Gründe für die Entscheidung seines Vaters zum Eintritt in das Militär der RSI. Obwohl er wenig aus seiner Vergangenheit im Krieg erzählt habe, habe er als Sohn die Situation schon früh begriffen: Avevo capito che mio padre aveva fatto parte di quel gruppo che veniva odiato. [Ich hatte verstanden, dass mein Vater zu der Gruppe gehörte, die gehasst wurde.]
Abbildung 3.1: Plakatierung zur Erinnerung an Francesco Cecchin, Stadtteil Trieste-Salario in Rom, Juni 2012.
Quelle: Lene Faust
Im Gymnasium hätten seine Mitschüler schnell herausgefunden, wer sein Vater gewesen sei. Die compagni [Genossen] hätten daraufhin versucht, ihm morgens den Eintritt zur Schule zu verweigern. Wütend habe er sich daher in der Jugendorganisation des MSI, Fronte della Gioventù, eingeschrieben. Trotz dieser offenen
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politischen Loyalitätsbekundung sei die Beziehung zu seinem Vater jedoch konflikthaft gewesen. Im Mai 1979 erlag Francesco Maria Cecchin, ebenfalls Mitglied im Fronte della Gioventù, den Folgen seiner Verletzungen nach einer gewalttätigen Attacke durch linksextreme Aktivisten auf dem Heimweg an der Piazza Vescovio.101 Seine Wut sei daraufhin ins Unermessliche gewachsen: Francesco sei für seine politische Überzeugung gestorben, die Täter seien nie gefasst worden, das habe er nicht verschmerzen können. Zusammen mit seiner Wut über diese Ungerechtigkeit und die eigene Hilflosigkeit sei auch die Wut auf seinen Vater gewachsen. Damals habe er ihm vorgeworfen, dass er sich bei Kriegsende den Amerikanern ergeben und nicht bis zum letzten Atemzug gekämpft habe: Ho accusato mio padre di non essere morto con le armi in mano! Di essersi arreso agli Americani, di essere stato complice di quello che poi questo paese è diventato! [Ich habe meinem Vater vorgeworfen, nicht mit der Waffe in der Hand gestorben zu sein! Sich den Amerikanern ergeben zu haben, mitverantwortlich zu sein für das, was aus diesem Land danach geworden ist!]
Ein Jahr später sei die Wohnung seiner Familie von linken Aktivisten in Flammen gesetzt worden, indem man Benzin unter der Haustür durchgegossen und entzündet habe. Sie hätten das Feuer jedoch schnell genug löschen können. Kurze Zeit später sei in der Nähe der Universität auf ihn geschossen worden und auf dem Heimweg sei er einmal bewusstlos geschlagen worden. Sein Entschluss, sich auf keinen Fall zu ergeben, sei durch diese Erfahrungen nur noch stärker geworden. Vor diesem Hintergrund habe er seinen Vater angeklagt: Io non mi fermo, non mi arrendo, perché tu ti sei fermato? [Ich höre nicht auf, ich ergebe mich nicht, warum hast du aufgehört?]
Diese Frage sei für ihn als Jugendlichen zur Obsession geworden. Erst viel später als Erwachsener habe er seinen Vater verstanden. Der Versuch der Veteranen der RSI, gemeinsam für ein neues Italien einzustehen und die stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen, sich Rachegefühlen den Partisanen gegenüber nicht hinzugeben, sei seiner Generation damals unverständlich gewesen. Trotz aller Bemühungen hätten die politischen Aktivitäten seiner Generation nichts verändert, das Land sei weniger befriedet als je zuvor, fügte er bitter hinzu.
101
Vgl. Kapitel 2.4.3.
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Auch Stefano S. gehörte zu den politischen Aktivisten der zweiten Generation. Im Alter von 12 Jahren wurde er Mitglied im Fronte della Gioventù, später trat er Terza Posizione bei. Sein Vater war 1943 zu jung für den Eintritt ins Militär gewesen, seine Familie war jedoch profaschistisch eingestellt, er arbeitete bei der Polizei. Im Rahmen der Verhaftungswelle 1980 wurde Stefano aufgrund seiner Mitgliedschaft bei Terza Posizione inhaftiert und saß mehrere Jahre lang in Haft. Nach seiner Freilassung fand er zunächst nur unter Schwierigkeiten in ein ziviles Leben zurück. Er war jedoch mittlerweile beruflich und finanziell gut aufgestellt, verheiratet und hatte drei Kinder. Geprägt hatte ihn vor allem die Erfahrung, den Anschlag auf eine Sektion des Fronte della Gioventù in einem damals von Linken kontrollierten Stadtteil Roms nur knapp überlebt zu haben, bei dem ein junger politischer Aktivist ums Leben kam. * Zu unserem ersten Gespräch treffen wir uns in einer kleinen Bar im Zentrum Roms. Stefano ist wie immer formvollendet höflich und als ich mich setzen will, rückt er mir den Stuhl zurecht. Die Tische sind mit weißen Tischdecken bedeckt an diesem eher noblen Ort. Stefanos Augen sind noch immer die eines traurigen Jungen, wenn er über die Ereignisse seiner Jugend spricht. Ich versuche mir vorzustellen, wie er sich als Jugendlicher mit den compagni prügelt, aber es gelingt mir nicht. Er scheint nicht geeignet für solche Gewalt und Härte zu sein. Sie hätten damals am Tag des Attentats gerade die Tür der Sektion ausgewechselt, erzählt er. Eine gepanzerte Tür sollte eingesetzt werden, aber der Handwerker sei nicht rechtzeitig fertig geworden. Daher sei die Tür nicht richtig verschließbar gewesen und das hätten die compagni ausgenutzt: Quel giorno sono arrivate due macchine con i compagni e noi stavamo là per difenderci, come sempre. Perché, se la porta era aperta, loro entravano e ammazzavano. Quel giorno sono arrivati con le mitragliatrici, sei pallottole in un tiro. Proprio per ammazzarci. E hanno sparato. Mio amico è morto. Io mi sono salvato per miracolo, sono scivolato via. Non so, era proprio un miracolo che mi sono salvato. Lui era morto subito. [An diesem Tag kamen die compagni mit zwei Autos und wir waren da, um uns zu verteidigen, wie immer. Denn wenn die Tür offen war, kamen sie herein und töteten. An diesem Tag kamen sie mit Maschinengewehren, sechs Kugeln pro Zug. Mit der Absicht, uns zu töten. Mein Freund ist gestorben. Ich habe mich wie durch ein Wunder gerettet, bin weggerutscht. Ich weiß nicht, es war wirklich ein Wunder, dass ich mich retten konnte. Er war sofort tot.]
Man wisse genau, wer die Täter seien, es habe sogar einen Prozess gegeben, alle Beschuldigten seien jedoch freigesprochen worden, sagt er mit Bitterkeit in der
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Stimme. Die Geschwister hätten nach dem Tod ihres Bruders die Schule wechseln müssen, da es dort zu gefährlich geworden sei für sie. Sein eigener Name sei nach dem Vorfall in allen Zeitungen gewesen, es habe diffamierende Schlagzeilen gegeben, daher habe er die Geschehnisse auch vor seinen Eltern nicht geheim halten können. Sein Vater sei Polizist gewesen und einen Tag nach dem Attentat habe ihn dessen Vorgesetzter rufen lassen und ihm gedroht, sollte der Sohn weiter politisch aktiv sein. Die folgenden Auseinandersetzungen mit dem Vater, der sich um seinen Sohn sorgte, seien heftig gewesen. Er selbst habe danach große Angst gehabt, aber für seine Eltern sei es noch schlimmer gewesen, erzählt er: È stato una tragedia. Mio padre ha detto una volta: è come avere un figlio drogato. [Es war eine Tragödie. Mein Vater hat einmal gesagt: es ist, als hätte man einen drogenabhängigen Sohn.]
Auf meine Frage, ob er danach seine politische Aktivität in Frage gestellt oder beendet habe, antwortet er: No, naturalmente ho continuato. Perché io mi consideravo un uomo di Tradizione. Di Tradizione con la T maiuscola. Siamo dannati, dannati per tutta la vita finché non ci sarà giustizia. Ma non ci sarà giustizia. [Nein, natürlich habe ich weitergemacht. Weil ich mich als einen Mann der Tradition verstand. Tradition mit großem T102. Wir sind verdammt, verdammt für unser ganzes Leben, solange, bis es Gerechtigkeit gibt. Aber Gerechtigkeit wird es niemals geben.]
An dieser Stelle verstummt er. Ungesagte Worte hängen in der Luft. All die Perfektion in dieser eleganten Bar scheint merkwürdig unwirklich im Angesicht der Toten und Stefanos Schmerz über die Geschehnisse. Frieden scheint für ihn ein unerreichbarer Zustand, die Zäsur des Kriegsendes ist in seiner Perspektive keine Zäsur.103 Menschen leben weiter, Familien existieren darüber hinaus, Söhne und Töchter, die ihre Väter rächen wollten, stehen sich in der Generation der Kriegskinder gegenüber. Camerati gegen compagni, untrennbar verwoben mit dem Schicksal der Elterngeneration in einem schwachen Staat, der in diesen Jahren
102
Tradizione wird im Italienischen wie alle Substantive normalerweise klein geschrieben, es sei denn, die Bedeutung eines Substantives soll als Konzept besonders hervorgehoben werden.
103
Siehe dazu auch Weinberg 1995: 223/ 224.
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nicht in der Lage ist, die Gewalt zu kontrollieren.104 (Feldtagebuch, November 2012) * Ciro D. hatte sich während der anni di piombo politisch engagiert. Als ich ihn kennenlernte, war er Anfang 50, ein gebildeter Mann, der zu dieser Zeit im Verlagswesen arbeitete. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter. Sein Vater hatte sich freiwillig zum Militärdienst der RSI gemeldet. Nach Kriegsende war er ein wichtiges Mitglied des MSI gewesen. Mit 13 Jahren trat er gegen den Willen seines Vaters in eine außerparlamentarische neofaschistische Organisation ein. Er habe sich sofort zu dieser Gruppe zugehörig gefühlt – eine Minderheit in der Schule, die sich ständig gegen die zahlenmäßig überlegenen compagni, die antifaschistische Linke, verteidigt habe, erzählte er. Es sei die intuitive Entscheidung eines Jugendlichen gewesen, der sich erst später und über viele Jahre Wissen über den historischen Faschismus und seine ideologischen Grundlagen angelesen habe. Ende der 1970er-Jahre habe der Vater seine Mitgliedschaft dann entdeckt und ihm vehement verboten, weiter politisch aktiv zu sein. Es sei zum Streit gekommen: Dimmi quanto ci stai in mezzo tu? [Sag mir, wie tief du drinsteckst?]
Habe ihn sein Vater gefragt und er habe wutentbrannt geantwortet: Papà, tu quando eri al Nord, quanto ci stavi in mezzo tu? [Papa, als du im Norden warst, wie tief stecktest du damals drin?]
Indem er sein politisches Engagement direkt mit dem Kriegseinsatz des Vaters gegen die italienischen Partisanen nach 1943 vergleicht, wird deutlich, wie sehr er sich mit seinem Vater identifiziert. Die Wortwahl ›drinstecken‹, in eine Sache verwickelt sein, ohne sich davon lösen zu können, als sei der Konflikt naturgegeben, zeigt, wie der Sohn den Konflikt des Vaters unreflektiert übernommen und ihn sich zu eigen gemacht hat, ohne jemals mit dem Vater darüber gesprochen zu haben. Der Vater habe den Bürgerkrieg im Norden nur knapp überlebt, denn als er mit seiner Truppe in einen Hinterhalt von Partisanen geraten sei, habe ihn ein Schuss lebensgefährlich verletzt. Seine beiden Angreifer habe er töten können, dann sei er bewusstlos geworden. So zumindest wurde die Episode in der Familie erzählt – eine Opfergeschichte, in der faschistische Gewalt und Täterschaft relativiert werden. Der ältere Bruder des Vaters sei von Partisanen getötet, seine Leiche
104
Vgl. Kapitel 2.4.2.
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nie gefunden worden. Als er mir davon erzählte, kamen ihm die Tränen. Er machte sich nicht die Mühe, seine Emotionen zu verbergen und verharrte dann lange in Schweigen. Die Kriegsvergangenheit seines Vaters schien ihn auf gewisse Weise emotional gefangen zu halten, die Intensität seiner Emotionen ließ vermuten, dass er die Emotionen seines Vaters mitfühlte bzw. als Kind mitgefühlt hatte und darin verstrickt war. So schienen die Grenzen zwischen seinem eigenen Erleben und dem des Vaters zu verschwimmen. Seine in sehr jungen Jahren getroffene Entscheidung für das Engagement in einer gewaltbereiten, außerparlamentarischen und damit illegalen neofaschistischen Organisation zeugt von einer starken, emotional motivierten und nicht bewusst durchdachten politischen Loyalität – eine politische Identität, in die er über die Jahre hineinwuchs und die er sich später erst intellektuell erschloss. Mit dem intuitiven Zugehörigkeitsgefühl zur Minderheit der faschistischen Aktivisten in der Schule hatte er das Gefühl der Marginalisierung vieler RSI-Veteranen übernommen. So, wie der Vater sein Leben im Krieg für seine Überzeugungen riskiert hatte, hatte auch der Sohn während der gewalttätigen Auseinandersetzungen der anni di piombo sein Leben riskiert. Er hatte sich in Gefahr gebracht und war später polizeilich gesucht worden. Daraufhin hatte sein Vater ihn zur Sicherheit für einige Zeit zu Verwandten in eine Stadt in Norditalien geschickt. Ciro war seinem Vater gegenüber auf eine verborgene Weise loyal gewesen. Die geheime Loyalität des Sohnes hatte zu einem großen Konflikt zwischen Vater und Sohn geführt, der einige Jahre andauerte. Offenbar hatte er als Sohn der familiären Loyalität nicht entgehen können, vielmehr hatte er offenbar (unverarbeitete) Emotionen seines Vaters übernommen und blieb in dessen Kriegserfahrungen verstrickt. Wie die Veteranen der RSI pflegten auch die politischen Aktivisten der zweiten Generation ein Opfernarrativ. Selbst verübte Gewalt105 wurde in Form heroischer Geschichten thematisiert und mit wenigen Ausnahmen nicht weiter kritisch hinterfragt. Wie die Generation der Väter wurde auch hier über Schuld und mögliche Täterschaft geschwiegen. Als Rechtfertigung für die eigene Gewaltanwendung reichte in der Regel die Tatsache, in der Minderheit gewesen zu sein.106 Die Narrative der Selbstdarstellung in der ersten und zweiten Generation entsprechen sich damit. Das Politische ist in dieser Perspektive auch ein Rahmen, der das Persönliche fasst, als Raum für das Ausagieren von Emotionen wie Wut, Trauer und
105
Zu rechtem Terror während der anni di piombo siehe Kapitel 2.4.2.
106
Auch in der zweiten Generation gibt es eine Tradition der autobiographischen Erinnerungsliteratur, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.
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(verdrängte) Rache, sowie für die Konsolidierung des Opfernarrativs und des Gefühls der eigenen Marginalisierung. Der politische Raum bietet eine Möglichkeit, emotionalen Druck, der oftmals in der Familie (mit)gefühlt wird, in konkrete politische Aktivität zu übersetzen, Emotionen, Gedanken und psychische Zustände mit Gleichgesinnten zu teilen oder zumindest in einer geschützten Gruppe auszuleben. Ermöglicht wird ein Sich-Bewegen in einem Raum, der der vorangegangenen Veteranengeneration gegenüber prinzipiell loyal ist, auch, wenn es an der Oberfläche Konflikte über die Ausrichtung der politischen Aktivität gibt. Politische Organisationen sind in dieser Perspektive auch ein soziales Feld mit einer emotionalen Dimension. Was individuell u.U. überfordernd ist, kann im politischen Raum gemeinsam ausagiert werden. Diffuse, überfordernde oder unklare emotionale Zustände können in der politischen Aktivität kanalisiert und mit Sinn gefüllt werden. Durch politisches Engagement wird Identität geschaffen und konsolidiert. Loyalität zur Generation der Veteranen ist ein entscheidender Antriebsfaktor, auch wenn Loyalitätsbekundung heimlich stattfindet. Das Politische fasst das Persönliche und spuckt es gleich einem Vulkan wieder aus, potenziert Emotionen und Bereitschaft zum politischen Aktivismus im Kollektiv, was wiederum auf die Familien zurückwirkt. Eine Enkelin im Dienste des Vaters und des Großvaters In der dritten Generation ließ sich Ähnliches beobachten. Costantina D., Tochter von Ciro, eines Aktivisten der anni di piombo und Enkelin eines RSI-Veteranen, lernte ich in einem Gymnasium im Stadtviertel Salario-Trieste kennen, wo ich einige Monate lang eine Geschichtslehrerin in ihrem Oberstufenunterricht begleitete. Sie wurde mir von Mitschülern und Lehrern als politisch rechts beschrieben, vor allem aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer rechten Jugendgruppe. Mir gegenüber trat die 17-jährige sehr wortgewandt und selbstsicher auf. Zunächst lehnte sie es ab, sich mit mir zu treffen. Erst, als sie mich bei einer Erinnerungszeremonie zusammen mit Bekannten ihres Vaters sah, ehemaligen Aktivisten während der anni di piombo, willigte sie ein. Ihre Familiengeschichte war von zentraler Bedeutung für sie. An einem sehr heißen Julitag trafen wir uns nach der Schule zu unserem ersten Gespräch und ergatterten den letzten Schattenplatz in einer kleinen Bar, die Sonne brannte gnadenlos von einem wolkenlosen Himmel. Ihre beiden Großväter waren im Krieg gewesen, aber die Geschichte des Großvaters väterlicherseits wog offensichtlich stärker, obwohl sie ihn nur aus den Erzählungen ihres Vaters kannte. Dieser hatte sich 1943 mit 20 Jahren freiwillig zum Militärdienst in die RSI gemeldet und war bei einem Angriff italienischer Partisanen beinahe ums Leben gekommen. Das Masternarrativ der RSI-Veteranen hatte sie verinnerlicht:
202 | Neofaschismus in Italien
Non ha tradito, [Er war kein Verräter,]
kommentierte sie die Entscheidung des Großvaters mir gegenüber. Stolz schwang in ihrer Stimme mit. Auch der älteste Bruder des Großvaters habe sich als Freiwilliger für die RSI gemeldet, sei jedoch von italienischen Partisanen erschossen worden. Nach dem Krieg sei ihr Großvater immer wieder in den Norden gefahren, wenn ein neues Grab mit unbekannten Soldaten der RSI gefunden worden sei, um den Bruder zu suchen. Aber in keinem der nach Kriegsende entdeckten faschistischen Massengräber sei seine Leiche gefunden worden. Für Costantina waren die Kriegserlebnisse ihres Großvaters und seine Suche nach ihrem Onkel von zentraler Bedeutung. Dass er die angreifenden Partisanen getötet hatte, war in ihren Augen ein Beweis seiner Fähigkeiten als Soldat: E so, che lui abbia ucciso partigiani. [Und ich weiß, dass er Partisanen umgebracht hat.]
Sie nahm diese Tat offensichtlich als Heldentat wahr und verglich die Situation ihres Großvaters mit der ihres Vaters. Auch für diesen sei es während der anni di piombo um Leben und Tod gegangen. In ihrer Familie seien bestimmte Werte weitergegeben worden, vom Großvater an ihren Vater und dann an sie und ihre Schwester. Zur politischen Aktivität sei weder ihr Vater von seinem Vater noch sie von ihrem Vater überredet worden, betonte sie. Die Politik sei ihre freie Entscheidung gewesen, sie engagiere sich daher seit einiger Zeit auch in einer politischen Gruppe. Jeder müsse etwas investieren. Man stehe beispielsweise früher auf, um vor der Schule Plakate anzukleben oder Handzettel zu verteilen. Oft klebten sie die Plakate auch nachts an, denn es sei nicht ungefährlich, dies tagsüber zu tun, einer stehe dann immer Wache. Sie tue dies auch im Andenken an ihren Großvater: Me lo sento di dentro. Mi viene da dentro. È una cosa sentita. [Ich fühle es in mir. Es kommt aus meinem Inneren. Es ist eine Gefühlssache.]
Politik war für Costantina auch emotional motiviert. Sie trat damit das Erbe ihrer Familie an – fast, als könne sie mit ihrer politischen Aktivität den Großvater und den Vater gegenüber einer Gesellschaft reinwaschen, in der beide Außenseiter waren – eine Position der Loyalität gegenüber ihrer Familie. Sichtbar wird an diesem Beispiel die Bindung zwischen Kindern und Eltern sowie die Kraft der Motiva-
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tion, die aus der Liebe zu Eltern entstehen kann: Nachdem wir uns bereits verabschiedet hatten, ergänzte sie noch, andere hätten oft großen Respekt vor ihrem Vater, er habe eben einen gewissen Ruf, und fügte hinzu, ich solle ihm nicht sagen, wie sehr sie ihn liebe. Hier zeigt sich, wie Mechanismen innerfamiliärer Dynamiken im Kontext von Kriegserfahrung bzw. politischem Aktivismus über Generationen wirksam sein können. Sichtbar wird auch, dass die jeweils aktuelle politische Rahmensituation stimulierend bzw. konfliktverschärfend oder -entschärfend wirken kann. Die Form des politischen Engagements hat sich seit den 1990er Jahren verändert: Die dritte Generation des Nachkriegsfaschismus muss sich mit neuen Herausforderungen auseinandersetzen, die extremen politischen Spannungen der anni di piombo sind abgeflaut. Relevant sind für diese Generation u.a. Themen wie die hohe Jugendarbeitslosigkeit107 und damit einhergehende Perspektivlosigkeit, Politikverdrossenheit sowie die neuen Herausforderungen der Identitätsfindung im Zeitalter der sozialen Medien. Das familiäre Erbe politischer Loyalität Anhand meines Materials wird deutlich, dass die politische Meinungsbildung und Verortung der Nachkommen von RSI-Veteranen nicht losgelöst von familiären Traditionen und Erfahrungen geschieht. Gemeinsam ist vielen Kindern von RSIVeteranen die Erfahrung des Hineingeboren-Werdens in eine Welt, in der der Vater in der Regel als Kriegsheld und Opfer der Gewalt italienischer Partisanen dargestellt wird. Das Masternarrativ der RSI-Veteranen wird in den Familien gepflegt und über die Generationen hinweg tradiert. Mit dem Schuleintritt erfolgt in der Regel die erste Konfrontation mit einer sich zur familiären Normalität konträr verhaltenden sozialen Realität, in der die faschistischen Veteranen offiziell die Position der Täter bekleiden, diskreditiert und abgewertet werden. Die Diskrepanz sowie das Konfliktpotenzial beim Übergang zwischen diesen beiden Welten ist groß und bedeutete in den meisten Fällen eine große Herausforderung für die Identitätsbildung der Kinder, denn das offizielle antifaschistische Narrativ stimmte weder mit der Version der Geschichte überein, die zu Hause erzählt wurde, noch war sie vereinbar mit den geliebten Vätern. Der Prozentsatz der während der anni di piombo politisch aktiven Informanten, deren Väter in den Truppen der RSI oder des faschistischen Regimes vor 1943 kämpften, war hoch. Unter den anderen In-
107
Die Jugendarbeitslosigkeit in Italien ist sehr hoch: Im Jahr 2007 lag sie bei 20 %, bis 2010 stieg sie auf 27,8 % (vgl. Rivellini et al. 2012: 72), Anfang 2017 lag die Arbeitslosenquote der 18-29jährigen bei 28,6 %.
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formanten der zweiten Generation stammten viele aus Familien, die den Faschismus zumindest positiv bewerten und zu den Wählern der rechten Parteien gehören. Die Sichtbarkeit politischer Zugehörigkeit von Familien im engen sozialen Beziehungsgeflecht Roms bedeutete für die Kinder faschistischer Familien eine besondere Herausforderung, vor allem während der anni di piombo. Der öffentliche antifaschistische Vergangenheitsdiskurs schien Mechanismen der Solidarisierung mit den Eltern und deren Weltsicht zugunsten der Aufrechterhaltung der familiären Identität zu stärken. Die Abhängigkeit von der Familie als kleinster sozialer Einheit in einer Stadt, die zu dieser Zeit in politische Territorien unterteilt war,108 sowie die Bedrohung des familiären (Wohn-)Raums durch Anschläge verdeutlichen die territoriale und körperliche Dimension von Politik, die an familiäre Identität geknüpft ist. Der Druck innerfamiliärer Loyalität darf nicht unterschätzt werden. Trotzdem existiert eine große Spannbreite an Umgangsformen und Reaktionen in der Kindergeneration, die von Rebellion (in Form der politischen Oppositionsbildung, Eintritt in linke Parteien etc.) über Formen der politischen Neutralität bis hin zu konsequent und offen vertretener Loyalität reicht. Rebellion geht oft mit dem Abbruch familiärer Beziehungen einher. Von solchen Kindern wurde mir zweimal berichtet, ich konnte in keinem der beiden Fälle Kontakt zu ihnen aufnehmen. Politisches Engagement kann vor diesem Hintergrund nicht mehr losgelöst von familiärer Zugehörigkeit und den u.U. traumatischen (Kriegs-)Erfahrungen der Väter betrachtet werden; politische Positionierung geht weit über rein ideologische Entscheidungen des Einzelnen hinaus. Eine entscheidende Rolle spielen das familiäre Gefüge und die soziale Positionierung der Familie. Es geht um Zugehörigkeit und Loyalitäten sowie um die eigene Rolle und Entwicklung in einem meist sehr engen familiären und sozialen Raum. In der zweiten Generation wird sichtbar, wie politische Zugehörigkeit häufig aus familiären Dynamiken erwächst. Es gibt demnach einen familiären Prägungsraum, der als Ausgangspunkt des Lebens identitätsstiftend ist und im Falle vieler RSI-Veteranenkinder von Kriegserfahrung und Täterschaft der Väter geprägt ist. Dies ist der Nährboden für emotional motivierte politische Entscheidungsfindung. Niemand ist frei von seiner Herkunft, die familiäre Identität geht der späteren sozialen Prägung im Außen voran. Als erste, existentielle Erfahrung der eigenen Identität ist die familiäre Herkunft in ihrer Intensität einer sozialen Welt im Außen nicht nur vorgelagert, sondern auch überlegen. Die z.T. starke Emotionalität im Kontext des politischen Aktivismus von Nachkommen zeigt, mit welcher Intensität Kriegserlebnisse und Bindungen zu Vätern
108
Vgl. Kapitel 2.4.1.
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oder Großvätern (bzw. Eltern und Großeltern) im Verborgenen wirken können, auch wenn die Formen, die diese Dynamiken annehmen, variabel sind. Politisches Engagement bzw. politischer Aktivismus in der zweiten und dritten Generation des Nachkriegsfaschismus sind somit auch eine Form der Manifestation familiärer Prägungen sowie innerer Bindungen zwischen den Generationen im politischen Raum. 3.4.3 Familiendynamik II: Ein Familienportrait, die geheime Schuld Nicht in allen Familien gelang es mir, mit mehreren Generationen zu sprechen: Einige Veteranen waren bereits verstorben, bei anderen Familienmitgliedern fehlte aus unterschiedlichen Gründen das Interesse. Die Familie B. war besonders aufgeschlossen für Gespräche – ein Portrait soll die familiären Dynamiken aufzeigen und analysieren, welche Problematiken sich bei den Kindern und Enkeln durch die Kriegsvergangenheit Micheles und seinen Umgang damit ergaben. Alessia: Geschichte einer Exekution Über Alessia und ihren Vater Michele hatte ich einen wichtigen Zugang zur Welt der RSI-Veteranen erhalten, sie wurde zu einer meiner Schlüsselinformanten. Meine gesamte Forschung über unterstützte sie mich und lud mich regelmäßig zum Essen zu sich nach Hause ein. Sie organisierte mein erstes Treffen mit drei RSI-Veteranen, verabredete Treffen mit ihren Geschwistern für mich und ›wachte‹ über meine Interviews mit ihrem Vater, bei denen sie entweder anwesend war oder über die sie sich später berichten ließ. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern von RSI-Veteranen brachte sie mir von Beginn an Offenheit und Sympathie entgegen. * Bei einer Tasse Tee aus feinem Porzellangeschirr und Gebäck sitzen wir uns an einem außergewöhnlich kalten Maitag das erste Mal im geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer der befreundeten Familie D. gegenüber, über die der Kontakt zu Alessia zustande kam. Alessia ist Anfang 50, schlank, mit einem sehr gewinnenden Lächeln. An diesem Tag trägt sie einen hellen Rollkragenpulli und darüber eine Strickjacke mit Reißverschluss. Sie ist sehr eloquent und außerordentlich höflich. Antonio D. zieht sich während unseres Gesprächs in die Rolle des Gastgebers zurück und schweigt die meiste Zeit.
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Alessia bemüht in diesem Gespräch wie andere Kinder von RSI-Veteranen zunächst das Opfernarrativ für ihren Vater.109 Wut flammt dabei in ihrer Stimme auf. Sie sei durch ihren Vater in der Welt der Veteranen aufgewachsen, das faschistische ambiente sei die Welt ihrer Kindheit, erklärt sie. Ihr Vater sei wenig präsent gewesen in ihrer Kindheit, er habe immer nur gearbeitet. Er sei streng gewesen, eine Autoritätsperson, was sicherlich mit seiner eigenen faschistischen Erziehung zu tun habe – dazu seine Erfahrungen im Krieg, das habe ihn auch hart gemacht. Ihre gesamte Familie sei faschistisch gewesen, auch ihr Großvater mütterlicherseits habe in der RSI gekämpft, der Großvater väterlicherseits sei ein wichtiges Mitglied des MSI gewesen. Ihre Eltern hätten ihre profaschistische Einstellung bereits jeweils von ihren Eltern übernommen. Zuhause sei häufig über den MSI gesprochen worden, politische Diskurse hätten sich ausschließlich um den Faschismus gedreht. Ihr Vater habe insgesamt wenig vom Krieg erzählt, nur einzelne Episoden, jedoch vor allem positive Erlebnisse, betont sie. Die Familie sei natürlich hauptsächlich mit den Familien anderer Veteranen befreundet gewesen, sie habe lange nur diese Welt gekannt. Auf Autofahrten in den Urlaub hätten sie immer die faschistischen Lieder aus der Jugend ihres Vaters gehört, sie kenne sie alle auswendig. Dies sei der Familienalltag, ihre Normalität gewesen. Die Welt außerhalb dieser familiären Realität, die sie dann später in der Schule kennengelernt habe, sei ein Schock gewesen, der sie zeitlebens beeinflusst habe. Mit dem Schuleintritt sei ihr langsam bewusstgeworden, wer ihr Vater gewesen sei und dass er zu denen gehörte, die von der Mehrheit der Gesellschaft verachtet wurden. Die Diskrepanz zwischen familiärer Realität und Gesellschaft habe sie damals wachgerüttelt. Keine leichte Jugend sei das für sie als Tochter eines RSIVeteranen gewesen in den 1970er-Jahren, daher habe sie sich auch nie politisch engagiert. In einem politisch extrem angespannten Klima habe sie die Propaganda der Kommunisten110 erlebt, sie wisse, was es bedeutet habe, damals Politik zu machen. Den Kommunisten gegenüber habe sie einen starken Groll entwickelt, der bis heute tief in ihr verwurzelt sei. Später habe sie dann u.a. Geschichte studiert – auch, um die Geschichte ihres Vaters besser zu verstehen. Ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Vaters ist eine bewusst intellektuelle. Zeit ihres Lebens habe sie sich für ihren Vater eingesetzt, habe immer wieder versucht, in Gesprächen mit Freunden oder auch Kollegen, die nicht zum faschistischen ambiente gehörten, zumindest Verständnis für ihn und die RSI-Veteranen zu er-
109
Vgl. Kapitel 2.1.3.
110
Zu »Kommunisten« vgl. Kapitel 3.4.4: gleiche überholte Wortwahl.
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reichen. Irgendwann habe sie jedoch aufgegeben, vor allem bei den Arbeitskollegen. Die Geschichtsschreibung der Sieger habe eben ein falsches Bild kreiert und Italien verachte die Veteranen der RSI, schließt sie bitter. Als ich genauer nach der Kriegsvergangenheit ihres Vaters frage, löst sich ihre unbewegliche Haltung und ihre Hände geraten in Bewegung. Immer wieder wandern sie zum halb offenen Reißverschluss ihrer Strickjacke, den sie jedes Mal etwas weiter nach oben zieht. Der Vater sei einmal bei einem Exekutionskommando dabei gewesen, diese Geschichte sei ihr besonders in Erinnerung geblieben, sagt sie ohne Überleitung, als habe sie darauf gewartet, genau diese Geschichte zu erzählen. Dabei schaute sie mir direkt in die Augen. Er habe gehört, wie zwei von seiner Einheit gefangen genommene Partisanen zu ihrer Hinrichtung geführt worden seien. Dann habe er die Schüsse gehört. Terribile! [schrecklich!] sagte sie. Dabei wählt sie dasselbe Wort, das später ihr Vater benutzen sollte, als er seine Kriegserfahrungen für mich zusammenfasst: Terribile, abbiamo sparato [Schrecklich, wir haben geschossen]. Während sie erzählt, greift sie immer wieder unruhig an ihren Reißverschluss. Sie hätten Angst gehabt, die beiden, die erschossen werden sollten, natürlich. Sie seien ja noch so jung gewesen! Dabei fasst sie sich an die Kehle und ihre Finger schließen sich um den eigenen Hals, nervöse und fahrige Bewegungen voller Unruhe. Ich höre zu, ohne Zwischenfragen zu stellen, während diese Szene der Hinrichtung vor meinen Augen lebendig wird, untermalt von ihren Handbewegungen. Ob der Vater denn selbst geschossen habe, stelle ich irgendwann die Frage, die im Raum steht. Alessia verneint das vehement, das habe ihr Vater nie erzählt. Es sei eben seine Abteilung gewesen, die die Exekution habe durchführen müssen, aber er selbst habe die beiden nur bewachen müssen auf dem Weg dorthin. Er habe nicht geschossen. Sie reagiert fast wütend auf meine Frage nach der Täterschaft ihres Vaters. Ihre ganze Hoffnung scheint darauf ausgerichtet, dass ihr Vater unschuldig geblieben ist in diesem Krieg. Für sie ist er ein Soldat, der nach Kriegsende vor den italienischen Partisanen fliehen und im Zuge der epurazione um sein Leben fürchten musste. Ihr Vater sei nach Kriegsende alleine nach Rom gegangen, nur knapp sei er auf dem Weg einer Lynchaktion durch Partisanenverbände entgangen und habe sich dann mühsam durchgeschlagen, gehungert und in Angst gelebt. Ihre Eltern seien als jung verheiratetes Paar Ende der 1940er-Jahre nur mit Waffe aus dem Haus gegangen, da es sonst in Rom zu gefährlich gewesen sei. Sich ein neues Leben aufzubauen, sei mühsam gewesen und habe ihn viel gekostet. Die Geschichte von der Exekution habe er nur einmal erzählt und nur bruchstückhaft, wiederholt sie am Ende unseres Gesprächs. Und doch hat sie gerade diese Geschichte ausgewählt, als sie mir das erste Mal von ihrem Vater erzählt; keine Opfergeschichte über verübte Gewalt italienischer Partisanen, sondern eine
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Geschichte über die Gewaltanwendung faschistischer Soldaten, Kameraden ihres Vaters, die töten. (Feldtagebuch, April 2012) * Unschuld um jeden Preis Bei diesem Gespräch gab es zwei Kommunikationsebenen mit unterschiedlichen Botschaften: die der Worte und die der Gesten. Im Gegensatz zu den sorgsam gewählten Worten und dem historischen Wissen, das sich Alessia über den Kriegsverlauf angeeignet hat, erzählten ihre Hände eine andere, emotional aufgeladene Geschichte. Ihre Worte beteuerten die Unschuld des Vaters als Soldat und beschrieben ihn als Zuschauer und Opfer der Exekution. Im Gegensatz zu ihrer ruhigen Stimme und den wohl gewählten Worten fingerten ihre Hände jedoch während des Erzählens immer nervöser am Reißverschluss ihrer Jacke und legten sich schließlich um ihren eigenen Hals – Gesten, die ich seitdem häufig beobachtete, wenn sie über ihren Vater sprach. Sie hatte die Exekution der beiden italienischen Partisanen an ihrem eigenen Körper symbolisiert. Damit hatte sie auf eine latente Weise Empathie mit den Opfern der faschistischen Kriegshandlungen gezeigt. Ihre Körpersprache verwies auf eine Form der Identifikation mit den Opfern, als sei ihr eigener Körper mit deren Leid verbunden, als empfinde sie die Qualen an sich selbst oder stelle sie sich zumindest vor. Damit hatte sie die Opfer der faschistischen Gewalt auf einer körperlichen Ebene in den Diskurs über die Unschuld ihres Vaters hineingeholt. Der offene Widerspruch zwischen der Sprachebene und der physischen Ebene zeigt deutlich die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der emotionalen Verstrickung der Tochter in die Kriegsvergangenheit sowie die psychische Befindlichkeit des Vaters: das Verschwiegene wurde auf körperlicher Ebene deutlich während sie auf intellektueller Sprachebene das Narrativ des Vaters übernahm. Die verschwiegenen Opfer, die sie mit Gesten symbolisierte, verwandelte Alessia damit von anonymen Feinden in Menschen zurück. Die mögliche Täterschaft ihres Vaters war für Alessia ein Tabu. Ihr Bruder Francesco hatte mir einmal gesagt, er habe nie verstanden, warum Alessia als einzige der drei Geschwister nie im Detail nach der Täterschaft des Vaters im Krieg gefragt habe. Sie habe doch auch Geschichte studiert, warum also habe sie sich nie für die wahre Geschichte interessiert, abseits der Rechtfertigungsnarrative? Sie hatte stattdessen das Tabu der RSI-Veteranen gewahrt und dort nicht weiter gefragt, wo die Unschuld des Vaters auf dem Spiel stand. In den Augen ihres Bruders hatte sie damit eine widersprüchliche Haltung eingenommen: das professionelle, wissenschaftliche Interesse an der Vergangenheit des Vaters auf der einen Seite, die gleichzeitige Tabuisierung bestimmter Aspekte ebendieser Kriegsvergangenheit auf der anderen Seite. Und doch war es aus Alessias Perspektive logisch nach-
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vollziehbar: sie hatte sich mit der Geschichte ihres Vaters beschäftigt, um ihn fundiert verteidigen zu können, nicht, um nach unliebsamen Details zu forschen oder ihn gar zu verurteilen. Wie eine Anwältin hatte sie sich in der Strategie der Verteidigung professionalisiert und versucht, darüber ihr inneres Gleichgewicht zu erhalten. Die Soldaten der RSI brachte Alessia zwar mit Täterschaft in Verbindung, nahm ihren Vater in ihrer Erzählung jedoch aus der Szene heraus. Damit verteidigte sie ihn vor mir, wie sie es auch vor ihrer Familie, Kollegen und Freunden tat. Als Jugendliche hatte sie das geäußerte Unverständnis eines Freundes für die Entscheidung der RSI-Veteranen am 8. Septembers 1943 einmal an der Logik der Entscheidung zweifeln lassen, die ihr Vater getroffen hatte. Es sei ihr plötzlich merkwürdig erschienen, aber dann habe sie angefangen, Literatur über den Faschismus zu lesen und habe verstanden, dass sich auch Linke für die RSI entschieden hatten, wie beispielsweise der Sozialist Nicola Bombacci111, Intellektuelle genauso wie einfache Männer. Da sei ihr bewusstgeworden, wie komplex die Situation gewesen sei. Männer wie ihr Vater seien während des Faschismus groß geworden, für sie sei die Entscheidung für die RSI eine logische Konsequenz ihrer Erziehung und ihres Weltbildes gewesen. Ihre Strategie, mit der Diskrepanz zwischen dem Kindheitsbild von ihrem Vater und der sozialen Realität im antifaschistischen Nachkriegsitalien umzugehen, die die RSI-Veteranen abwertete, bestand offenbar in der Negierung jedweder Schuld ihres Vaters. Ihrem Vater sei es doch nur um das Erinnern seiner Geschichte gegangen, sie könne einfach nicht verstehen, wie man die Veteranen der RSI immer noch so verachten könne, nachdem der Krieg so lange vorbei sei: Sono molto anziani, sono più che vinti, quasi ormai fuori della storia. [Sie sind sehr alt, mehr als besiegt, fast schon aus der Geschichte gelöscht.]
Noch immer gebe es diejenigen, die sich der Anerkennung der Veteranen der RSI in den Weg stellten, ihnen Respekt verweigerten. Die Rechtfertigung für ihren Vater bestand u.a. in der Distanzierung vom faschistischen Regime: Natürlich sei das faschistische Regime eine Diktatur gewesen und zudem ein nicht wiederholbarer, historischer Abschnitt, nach dem ihr Vater sich nicht zurückgesehnt habe.
111
1921 war Nicola Bombacci (*1879) unter den Gründern der kommunistischen Partei, während der 1930er Jahre näherte er sich an das faschistische Regime an, 1943 ging er freiwillig nach Salò und agierte als Berater Mussolinis. Im April 1945 wurde er mit Mussolini zusammen gefangen genommen und erschossen.
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È chiaro che gli stessi reduci, le famiglie ecc., non avrebbero mai pensato di rimettere in piedi una cosa del genere. Il valore della libertà è sempre molto importante. È talmente ovvio, che non vale nemmeno la pena di discutere. [Es ist klar, dass diese Veteranen selbst, die Familien usw. niemals darüber nachgedacht hätten, so eine Sache wieder zum Leben zu erwecken. Der Wert der Freiheit ist immer sehr wichtig. Das ist so offensichtlich, dass es sich nicht einmal lohnt, darüber zu diskutieren.]
Ihr Statement war ein Versuch, die Veteranen der RSI zu entpolitisieren, zwischen Krieg für das Vaterland und Unterstützung der faschistischen Diktatur zu differenzieren – eine widersprüchliche Argumentation. Ihre geschönte Sicht auf den eigenen Vater schloss die weiteren Generationen des Nachkriegsfaschismus mit ein, sie erweiterte das Opfernarrativ bis in ihre eigene Generation: Non c’è spazio per chi la pensa così. Chi vota a destra non ha il coraggio di confessarlo – una cosa spaventosa. [Es gibt keinen Platz für diejenigen, die so denken. Wer rechts wählt hat nicht den Mut, es zuzugeben – das ist erschreckend.]
Ihre Wut über die empfundene Diskriminierung des Vaters durch die Gesellschaft prägte auch den Umgang mit ihrer Gegenwartsfamilie stark. Einige Monate nach diesem ersten Treffen wurde ich nach einem Abendessen mit ihrer Familie Zeugin eines Familienstreits. Ihr Mann kritisierte ihren Vater als Veteranen der RSI und Faschisten und betonte seine eigene antifaschistische Überzeugung, während Alessia vehement ihren Vater verteidigte. Die beiden schrien sich vor mir an, während der Sohn schweigend neben mir auf dem Sofa saß und reglos zuhörte, bis Alessia wütend das Zimmer verließ. Diese Verteidigungsstrategie kostete Kraft, auch innerhalb der Familie. Ihr Mann stellte sein Desinteresse an meiner Forschung und seine ablehnende Haltung dem Faschismus gegenüber so oft er konnte offen zur Schau. Durch mein Interesse an ihrem Vater war ich für Alessia auch zu einer Verbündeten innerhalb ihrer Gegenwartsfamilie geworden. Ihr unerschütterlicher Glaube an die Unschuld ihres Vaters war die treibende Kraft für ihre harte und unveränderliche Position in diesem, offenbar seit Jahrzehnten existenten Familienkonflikt. Ihre emotionale Heftigkeit ließ mich jedoch immer wieder an ihrer vermeintlichen Sicherheit über die Unschuld des Vaters zweifeln. Anche io ero macchiata [Auch ich war beschmutzt] Dieses erste ausführliche Gespräch war lange Zeit das einzige geblieben. Alessia hatte zwar Treffen mit ihrem Vater und ihren Geschwistern für mich organisiert, noch einmal mit mir über ihren Vater und auch über sich selbst zu sprechen, hatte
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sie jedoch über lange Zeit abgelehnt. Erst als meine Abreise wenige Wochen bevorstand, kam sie auf mich zu und bat mich um ein Interview, in dem sie zum ersten Mal nach über einem Jahr dezidiert mit mir über die Schwierigkeiten sprach, Tochter eines RSI-Veteranen zu sein. Irgendwann sei ihr als Jugendliche bewusstgeworden, dass die Eltern nur Freundschaften mit anderen Familien aus dem Nachkriegsambiente pflegten, sie habe das auch als eine Einschränkung erlebt. Es sei ein ständiger Balanceakt zwischen Loyalität gegenüber dem Vater und Distanz zu ihm um der eigenen sozialen Stellung willen gewesen, vor allem im Studium und später mit den Kollegen. Non era niente facile ovviamente, non era facile di difenderlo o prendere le sue parti, non è stata una cosa facile, per niente. Perché comunque si sapeva che mio padre era così e che anche io ero macchiata. [Das war natürlich überhaupt nicht leicht, es war nicht leicht, ihn zu verteidigen oder sich auf seine Seite zu stellen, das ist überhaupt keine leichte Sache gewesen. Denn man wusste durchaus, wer mein Vater war, und dass auch ich beschmutzt war.]
›Beschmutzt‹ ist ein starkes Wort und verweist auf das Ausmaß der erlebten Ausgrenzung: Alessia beschrieb sich als verunreinigt durch die Identität ihres faschistischen Vaters. In dieser Ausgangssituation des gefühlten Makels entschied sie sich als Jugendliche und auch später als Erwachsene immer wieder für eine offen gezeigte Loyalität mit ihrem Vater und ihrer Herkunftsfamilie und blieb damit ›beschmutzt‹. Die Metapher der Verunreinigung zeigt, dass es um mehr ging als politische Orientierung: um Existenz und Existenzberechtigung in einer als feindlich wahrgenommenen sozialen Umgebung, in der sie sich durch die Identität ihres Vaters verunreinigt fühlte, eine Spiegelung sozialer Makrodynamiken.112 Ich versuchte in diesem Gespräch, sie mit der Täterschaft ihres Vaters zu konfrontieren. Daher berichtete ich ihr von dessen Versuch, mir zu erzählen, dass seine Truppe 1944 (wahrscheinlich) Partisanen getötet hatten.113 Vergeblich wartete ich auf eine Reaktion, doch Alessia blieb stumm. Er habe immer nur kleine Episoden erzählt, wiederholte sie, niemals blutige Geschichten, mit Ausnahme der Exekution. Falls sie sich mit der Täterschaft bzw. Schuld ihres Vaters auseinandergesetzt hatte, war sie zumindest nicht bereit, mit mir darüber zu sprechen.
112
Vgl. Kapitel 2.5.
113
Vgl. Kapitel 3.2.1.
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Io direi che non avere mai chiesto, no, ripeto, lo davo per assodato, l’ho accettato e l’ho fatto quasi mio, e forse i miei fratelli di meno. Lo hanno preso in modo forse meno ideologico, meno dogmatico, più critico magari, non di adesione incondizionata diciamo. Invece forse per me soprattutto è stato non facile - sicuramente l’ho fatto mio, anche per gli studi. [Ich würde sagen, dass ich nie gefragt habe, wie gesagt, für mich war es eine Tatsache, ich habe es akzeptiert und sie [seine Kriegsvergangenheit] fast zu meinem Eigenen gemacht, meine Geschwister vielleicht weniger. Sie haben es weniger ideologisch aufgefasst, weniger dogmatisch, vielleicht auch kritischer, sagen wir, nicht in bedingungsloser Zustimmung. Vielleicht ist es vor allem für mich nicht leicht gewesen – ich habe es mir auf jeden Fall zu eigen gemacht, auch im Hinblick auf mein Studium.]
Meine Fragen gefährdeten das Bild ihres Vaters, das sie ihr Leben lang verteidigt hatte und sie beendete unser Gespräch. Dadurch schützte sie nicht nur ihren Vater, sondern auch sich selbst und ihre Liebe zu ihm. Gelten lassen konnte sie nur eine Wahrheit, mit der sie in der Lage war, zu leben. Der Vater war für sie ein Vorbild, ein Opfer und ein Held. Fragen nach Täterschaft und Schuld unterband sie sowohl innerhalb der eigenen Familie als auch Außenstehenden gegenüber. Mit meinen Fragen hatte ich ein Tabu berührt und das Gleichgewicht in Frage gestellt, das sie brauchte, um mit der Kriegsvergangenheit und Identität ihres Vaters umzugehen. Der Vater sollte der Vater bleiben, der er in ihrer Kindheit für sie gewesen war, damit sie die Tochter bleiben konnte, die ihn in Schutz nahm und ein (auch physisch) sehr nahes Verhältnis zu ihren Eltern pflegte (als einziges Kind wohnte sie im Stadtviertel ihrer Eltern). Alessia hatte sich in ihrem Bedürfnis, ihren Vater zu schützen, dessen Geschichte zu eigen gemacht, wie sie es selbst formulierte. Um ihren Vater verteidigen zu können, war sie Expertin auf dem Gebiet seiner Vergangenheit geworden und wählte seit jeher rechte Parteien im Sinne ihres Vaters. Die Nähe zu ihm war offensichtlich, wie auch die Tatsache, dass sie die Rolle der Verteidigung innerhalb der Familie übernommen hatte. Eine Pilgerfahrt: geheime Sühne Bei einem Abendessen im Herbst 2012 erzählte ich Alessia von meiner ersten Wallfahrt zu Divino Amore, dem wichtigsten römischen Madonnenheiligtum. Es liegt etwa 16 Kilometer südlich von Rom in einer sanften Hügellandschaft. Einst stand dort die Ruine eines römischen Forts und die Legende erzählt, dass im Jahre 1740 ein Pilger auf dem Weg nach Rom dort von einem Rudel wilder Hunde angefallen wurde. In diesem Moment erschien ihm am Turm der Ruine die Madonna mit dem Jesuskind. Er betete zu ihr und die Hunde beruhigten sich, sein Leben war gerettet. Daraufhin wurde dort eine Kirche errichtet und ein Madonnenbildnis am Turm der Ruine angebracht. Die Ursprünge der Wallfahrt liegen in einem dort
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praktizierten Ekstasekult, der in einem Bericht über die Riten in der Pfingstnacht aus der Vorkriegszeit von Eugen Nestle zu finden ist,114 in dem er an den Pfingstfeiertagen ekstatische Tänzerinnen in der Kirche des Heiligtums beschreibt. Nach Bombardements in der Gegend des Heiligtums 1943 wurde das Bild der Madonna am 24. Januar 1944 zum Schutz nach Rom in die Chiesa della Madonna del Divino Amore gebracht. Papst Pius XII ließ es schließlich ab Mai 1944 aufgrund der großen Anzahl der Pilger in die Kirche San Lorenzo in Lucina bringen, wo die Römer vor dem Bild für die Rettung der Stadt und die Verschonung vor einer vollständigen Zerstörung durch die Fliegerangriffe der Alliierten beteten, die die Stadt bereits bombardierten. Aus Platzmangel wurde das Bildnis daraufhin noch ein weiteres Mal in die Kirche Sant’Ignazio di Loyola am Campo Marzio verlegt. Auch am Vorabend von Pfingsten, dem 4. Juni 1944, versammelten sich Gläubige zu einer Messe vor dem Bildnis, um für die Verschonung Roms zu beten. Am darauffolgenden Tag zogen sich die Deutschen aus der Stadt zurück und die Alliierten marschierten ein, die Befreiung Roms wurde daraufhin auch der Madonna del Divino Amore zugeschrieben. Divino Amore hat große Bedeutung als Pilgerort in Rom. Von April bis Oktober finden jeden Samstag Wallfahrten statt. Um Mitternacht jeweils startet die Prozession der Pilgernden am Circus Maximus und bewegt sich über eine der alten römischen Ausfallstraßen, die Appia Antica, in Richtung Süden aus der Stadt heraus bis zum Heiligtum Divino Amore. Viele Römer haben die Wallfahrt zum Heiligtum mindestens einmal im Leben gemacht, für viele ist sie alljährlicher Bestandteil des religiösen Lebens. Alessias Eltern hatten die Wallfahrt regelmäßig einmal im Jahr gemacht, bevor beide zu alt für den langen Weg wurden. Am Ende meines Forschungsaufenthaltes bat Alessia mich um eine gemeinsame, für sie erstmalige Pilgerfahrt nach Divino Amore – vielleicht forciert durch meine baldige Abreise. * Zwar sind die Tage Mitte April schon warm und sonnig, die Nächte sind jedoch noch frisch und empfindlich kühl. Der Circus Maximus liegt dunkel neben der Silhouette des Palatin, eine lichtlose Vertiefung neben den Ruinen der Herrscherpaläste. Er scheint so viel friedlicher als am Tage, seine bewegte Vergangenheit bleibt in den Tiefen der Nacht verborgen, die den Gegenständen die scharfen Kanten nimmt. Die Gruppe der wartenden Pilger ist bunt zusammengewürfelt: zahlreiche Ordensschwestern in ihrem jeweiligen Schwesternhabit, vor allem Frauen verschiedenen Alters, ein Pärchen in Punkerklamotten und mehrere Jugendliche Mitte 20. Nur wenige Männer sind unter den Wartenden. Einige wenige Frauen sind sogar barfuß – pilgern heißt auch, Schritt für Schritt für das eigene Seelenheil
114 Vgl. Nestle 1949: 21-23.
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gehen, die Sünden abarbeiten durch mühsames Gehen und Leiden und dafür Absolution erhalten. Die Organisatoren tragen neongelbe Jacken und verkaufen einfache weiße Kerzen an die Teilnehmer. Ein Plastikkreuz mit roten Lichtern, das später den Pilgerzug anführen wird, leuchtet im Dämmerlicht. Neu Ankommende küssen es mehrmals und bekreuzigen sich. Ich kaufe zwei Kerzen in Plastikhaltern und warte. Alessia kommt, als sich der Zug bereits in Bewegung setzt, offensichtlich aufgewühlt. Ohne Überleitung sagte sie mit harter Stimme: Lo facciamo anche per mio padre oggi. [Wir machen das auch für meinen Vater heute.]
Ihrem Vater geht es gesundheitlich immer schlechter. Seit unserer ersten Begegnung im Mai des Vorjahres hat er stark abgebaut. Schweigend reihen wir uns ganz hinten in den betenden und singenden Zug der Pilgernden ein. Wir werden diese Wallfahrt also für ihren Vater machen, den ehemaligen Soldaten, der nicht über seine Schuld sprechen kann, den geliebten Vater, den Alessia ihr Leben lang verteidigt hat und der die Geheimnisse seiner Kriegsvergangenheit wohl mit ins Grab nehmen wird. Sie hat mich explizit gebeten, mitzukommen – eine Fremde, die nicht zur Familie und nicht zum faschistischen ambiente gehört. Offenbar ist es ihr wichtig, mit mir, die ich mich explizit mit der Vergangenheit ihres Vaters auseinandergesetzt habe, für sein Seelenheil zu beten. Vielleicht ermögliche ich Alessia in meiner ambivalenten Position als Außenseiterin und zugleich ›Vertrauten‹ ihres Vaters auch eine andere Form der Auseinandersetzung mit seiner Kriegsvergangenheit und möglichen Schuld – auch, wenn es unausgesprochen bleibt. Alessia blickt ernst und konzentriert geradeaus, sieht mir kaum in die Augen, wenn sie mit mir spricht. Durch das Mikrofon schallen Gebete und Bibeltexte durch die nächtlich leeren Straßen, der Rosenkranz wird uns als heiliges Mantra bis zum Heiligtum begleiten. Wir gehen an den Caracalla-Thermen vorbei, die hinter den Bäumen versteckt in den Himmel ragen, und biegen auf die Appia Antica ein – ein betender Zug von circa 200 Personen. In der kalten Nacht spenden nur die brennenden Kerzen in unseren Händen ein wenig Wärme. Ave o Maria, piena di grazia, il Signore è con te. Tu sei benedetta fra le donne, benedetto il frutto del tuo seno, Gesù. [Gegrüßt seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir, Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus.]
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Die Pilgernden antworten: Santa Maria, Madre di Dio, prega per noi peccatori, adesso e nell’ora della nostra morte. Amen. [Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.]
Alessia spricht laut und überdeutlich neben mir. Die Worte der Gebete geben den Rhythmus vor und nach einigen hundert Metern hat die Gruppe ihre Laufgeschwindigkeit gefunden. Eine Art der Trance stellte sich ein, während wir dieselben Worte immer und immer wieder wiederholen. Die Kerzen spenden nur wenig Licht, während die Beleuchtung immer weniger wird. Efeubewachsene, alte Mauern begrenzen die Straße hier zu beiden Seiten, die großen Pflastersteine unter unseren Füssen erinnern an die fernen Zeiten des römischen Reichs. Von Zeit zu Zeit ist das typische Plätschern eines Brunnens am Straßenrand zu hören, verstärkt durch die feuchte Nachtluft, die neblige Ringe um die Straßenlaternen bildet. In regelmäßiger Abfolge werden der Rosenkranz und das Vaterunser gebetet, ein Anruf Gottes, Versicherung seiner ewigen Präsenz, des Dauerhaften im Angesicht menschlicher Vergänglichkeit im Tode: Gesù mio, perdona le nostre colpe, preservaci dal fuoco dell’inferno, porta in cielo tutte le anime, specialmente le più bisognose della tua misericordia. [O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen. Amen.]
Diese Sätze spricht Alessia jedes Mal besonders inbrünstig, als wolle sie sich selbst um jeden Preis von der Barmherzigkeit Gottes überzeugen und ihn mit all ihrer Willenskraft um Erlösung bitten. Die Intensität, mit der sie neben mir betet, lässt erahnen, wie nahe ihr diese Pilgerfahrt geht. Eine innere Not scheint sie zu treiben, die sie mit dieser ersten Wallfahrt ihres Lebens in praktische Handlung übersetzt hat. Damit bringt sie ihre Sorge um das Seelenheil ihres Vaters auf nonverbale Art und Weise zum Ausdruck, welche die Bitte nach Vergebung seiner Sünden beinhaltet. Alessia macht mich immer wieder auf Überreste des faschistischen Regimes aufmerksam – vereinzelt sind Symbole wie der fascio littorio an den Hauswänden zu sehen. Für Alessia sind es Relikte aus der Vergangenheit ihres Vaters. Während wir schweigend nebeneinander hergehen, frage ich mich, wie es wohl sein mag
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für ihren alten Vater, zu wissen, dass seine Tochter für sein Seelenheil eine Wallfahrt macht, 16 Kilometer zu Fuß. Immer wieder hält der Zug an, vorne wechseln die freiwilligen Träger des Kreuzes und des Mikrofons. Später folgt der Zug der Via Ardeatina und wir kommen an den fosse ardeatine [ardeatinische Höhlen] vorbei, dem Ort, an dem die Deutschen während der Besatzung Roms als Reaktion auf ein Attentat der Widerstandsbewegung 335 italienische Geiseln erschossen haben.115 Heute sind die Kalksteinhöhlen eine Gedenkstätte und eine Schweigeminute für die Opfer wird eingelegt. Einige aus der Gruppe der Pilger gehen zum Tor aus Eisenstreben, das nachts geschlossen bleibt, und berühren es mit den Händen. Alessia bleibt unbeweglich neben mir stehen. Vielleicht betrachtet sie die Gedenkstätte aus der kritischen Perspektive ihres Vaters: Aus faschistischer Sicht liegt die Schuld für das Massaker bei den Partisanen, die die Verantwortung für das Attentat nicht übernommen haben. Als der Himmel schließlich beginnt, seine Farbe langsam zu verändern, erreichen wir den letzten Hügel vor dem Heiligtum. Uns trennt nur noch eine kleine Ebene von Divino Amore. In der Ferne sieht man bereits die Lichter des großen Neubaus, einer Kirche, die Papst Johannes Paul II dort anlässlich des katholischen Jubeljahres im Jahr 2000 errichten ließ. Die Gruppe wird von Erleichterung ergriffen, Erschöpfung und Müdigkeit zeichnen die Gesichter nach sechs Stunden Gehen. Gemäß katholischen Vorstellungen von Schuld und Sühne haben wir der Seele ihres Vaters damit einen Dienst erwiesen. Alessia hat ihn mir damit vielleicht zum ersten Mal als den gezeigt, der er insgeheim auch für sie ist: ein Sünder. Eine Tochter, die die Kriegsschuld des Vaters leugnet, hat im Geheimen für ihn gesühnt. Es scheint, als habe die magische Vorstellung der Erlösung durch Buße Alessia, die sich beschmutzt fühlt durch die Vergangenheit dieses Vaters, zu dieser Wallfahrt bewegt. Meine Rolle dabei ist auch die einer Zeugin aus der Welt außerhalb des ambiente für diesen Versuch der Reinwaschung ihres Vaters. (Feldtagebuch, April 2013) * Alessia hatte sich den Kinderblick auf den geliebten Vater bewahrt. Und trotzdem wurde vor allem durch ihre Handlungen sichtbar, dass die Frage nach der Täterschaft ihres Vaters im Krieg auch in ihr präsent war. Sie hatte es sich jedoch zur Lebensaufgabe gemacht, ihren Vater ins rechte Licht zu setzen, für seine Anerkennung zu kämpfen und seine Vergangenheit zu verteidigen. Trotz ihres reflektiert intellektuellen Ansatzes gelang es ihr nicht, ihre Wut zu bändigen. Diese Wut
115
Vgl. Kapitel 4.1.2
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über die in ihren Augen ungerechte Behandlung des Vaters und die fehlende Achtung der RSI-Veteranen durch die Gesellschaft waren ein Motor für das Engagement für ihren Vater. Ihre Wut schien über die Jahre nicht nachgelassen zu haben, sie schien vielmehr auch die Wut ihres Vaters über die Niederlage sowie sein Gefühl der Marginalisierung übernommen zu haben. Diese emotionale Verbundenheit zeigte sich in den Gesprächen mit mir in Form eines aufgestauten, emotionalen Drucks. Ihre Mutter sagte mir einmal, Alessia habe sich meine Forschung sehr zu Herzen genommen. Vielleicht zeigte sich darin auch ein Versuch, neue Möglichkeiten im Umgang mit ihrem Vater zu finden, vielleicht der Wunsch nach einem Ausweg aus ihrer Wut, die sie auf gewisse Weise gefangen hielt, verbunden mit dem Bedürfnis, in der Auseinandersetzung mit mir auch weiter zu wachsen. Vielleicht sah sie in meinem Interesse an der Geschichte ihres Vaters aber auch eine Möglichkeit, einen Beweis seiner Unschuld zu realisieren, ihn durch mich, eine Instanz außerhalb der Familie und des faschistischen ambiente, freizusprechen und zu rehabilitieren. Als ausländische Forscherin und damit eine in ihren Augen im Gegensatz zur antifaschistischen italienischen Gesellschaft ›objektive‹ Person stand ich außerhalb der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Nachkriegsfaschismus und antifaschistischer Mehrheitsgesellschaft. Als Forscherin, die ihren Vater verstehen wollte, konnte ich in ihrer Wahrnehmung offenbar eine neutrale Perspektive einnehmen. Mit der Geschichte über die Exekution gab sie mir bei unserem ersten Treffen eine Lesart für die Kriegsvergangenheit ihres Vaters mit, bevor ich diesen zum ersten Mal traf. Unbewusst hatte sie mir jedoch zugleich gezeigt, dass die Täterschaft des Vaters im Krieg zwar verborgen lag, jedoch eine zentrale Rolle spielte. Nur scheinbar handelte es sich um ambivalente Botschaften auf intellektueller und körperlicher Ebene, denn auf beiden Ebenen war sie tief mit ihrem Vater verbunden und verkörperte somit auch seine Widersprüche und Tabuisierungen. Sichtbar wird dabei auch die enge Verbindung zu den nicht verbalisierten Erfahrungs- und Erinnerungskomplexen von Eltern sowie die Weitergabe von Strategien im Umgang mit Kriegsvergangenheit und Täterschaft an ein Kind. Antonio: Papà, quanti hai ucciso? [Papa, wie viele hast du umgebracht?] Antonio war das jüngste Geschwisterkind. Mit seiner Frau hatte er drei Töchter im Alter von 10, 12 und 15 Jahren. Beide waren bei einer internationalen Firma in Norditalien tätig gewesen. Die Familie war viel gereist und erst vor wenigen Jahren dauerhaft nach Rom zurückgekehrt. Antonio war stolz auf seine Karriere wie internationale Erfahrung und betonte mir gegenüber seine Weltoffenheit. Als einziges der Geschwister hatte er über viele Jahre hinweg in einer großen räumlichen Distanz zu den Eltern gelebt. Damit war er der Enge der familiären Strukturen
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sowie der sozialen Verhaftung der Familie im faschistischen ambiente auf gewisse Weise entgangen. Im Spätsommer 2012 lernte ich ihn bei einem meiner ersten Gespräche mit seinem Vater kennen. Wir saßen wie meist in seinem Arbeitszimmer, Michele auf dem zentralen Platz hinter seinem großen Schreibtisch, Alessia saß neben mir. Das Arbeitszimmer war das einzig chaotische in der geräumigen Wohnung, jeder freie Platz auf dem Boden war voller Bücher, Bücherregale bedeckten die Wände. Immer wieder holte er Bücher aus dem Regal, um seine Erinnerungen damit zu untermauern, die Bände stapelten sich im Laufe des Gesprächs vor mir auf dem Schreibtisch. Mitten im Gespräch kam Antonio unangekündigt in den Raum und brachte das familiäre Gleichgewicht mit einer verstörenden Frage gefährlich ins Wanken. Sein Blick wanderte zu dem Bücherstapel über die Truppenverbände der RSI auf meinem Schoß, er lauschte einige Augenblicke unserer Unterhaltung und unterbrach uns dann unvermittelt, indem er seinen Vater direkt ansprach: Mi sono sempre chiesto quanti tu abbia ucciso! [Ich habe mich immer gefragt, wie viele du umgebracht hast!]
Es sollte die einzige Situation während meiner gesamten Forschung bleiben, in der einer der RSI-Veteranen in meiner Anwesenheit durch ein Familienmitglied direkt auf seine Täterschaft im Krieg angesprochen wurde. Die Frage war aggressiv und herausfordernd gestellt, zugleich blieb Antonios Gesicht jedoch merkwürdig emotionslos. Die herzliche Höflichkeit im Raum verschwand innerhalb von Sekunden und wich einer großen Anspannung. Michele wandte den Blick ab und schaute zu Boden. Alessia stand sofort auf. Aber der Vater würde ja sowieso nicht antworten, ergänzte Antonio mehr an sich selbst gerichtet als an uns andere. Vielleicht hatte meine Anwesenheit, die Präsenz einer Fremden in der Familie und in der Vergangenheit des Vaters, ihn ermutigt, diese Frage zu stellen, die ihn offenbar stark beschäftigte. Später versicherten mir beide anderen Geschwister, dass Antonio die Frage nach der Täterschaft des Vaters bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal gestellt habe. Durch meine Forschung hatte ich vielleicht auf die ein oder andere Weise einen neuen Raum im Gefüge der Familiendynamik im Umgang mit Micheles Kriegsvergangenheit geschaffen. Im betroffenen Schweigen wiederholte Antonio seine Frage: Papà, quanti hai ucciso? [Papa, wie viele hast du umgebracht?]
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Seine Worte klangen anklagend und die Stille im Raum wurde noch unangenehmer. Michele rang nach Worten, gestikulierte, konnte seinen Sohn weder anschauen, noch etwas erwidern und blickte dann einfach zu Boden. Innerhalb des angespannten Schweigens schienen die Toten auf einmal präsent zu sein, greifbar zu werden im Raum. Alessia reagierte zuerst und brach das Schweigen, indem sie ihrem Bruder entgegnete: Ma come fa a saperlo! [Aber wie soll er das denn wissen!]
Die Spannung im Raum war nun beinahe unerträglich. Michele selbst schaute noch immer zu Boden. Als er endlich den Kopf hob, konnte ich für einen kurzen Moment Schuldbewusstsein und großen Schmerz in seinem Blick sehen, doch dann senkte er ihn schnell wieder, während er leise in sich zusammenzufallen schien. Die Situation war ihm offensichtlich extrem unangenehm und in gekrümmter Haltung verharrte er reglos und schwieg, während aller Augen auf ihn gerichtet waren. Die Konfliktsituation legte einige Mechanismen der herrschenden Familiendynamik offen: Alessia maßregelte ihren Bruder sofort und verwies ihn in seine Grenzen, womit sie versuchte, das gewohnte familiäre Gleichgewicht wiederherzustellen. Antonio verließ daraufhin wortlos den Raum und akzeptierte damit diese Grenzen. Nur Antonio, dessen Verhältnis zu den Eltern im Gegensatz zu den anderen Geschwistern über lange Zeit von physischer Distanz geprägt war, spürte offenbar das Bedürfnis und war in der Lage, seinen Vater mit Täterschaft zu konfrontieren. Die im Laufe vieler Jahre erworbene Autonomie durch physische Distanz hatte ihn dazu befähigt, sich in eine innerhalb des Familiensystems ›gefährliche‹ Lage zu begeben und eine Dysbalance zu provozieren. Damit war das Muster der familiären Interaktion, die darauf ausgerichtet war, den Vater zu schützen und seine Identität als Held und Opfer der Partisanen zu verteidigen, für einen Augenblick durchbrochen, der Rahmen der gewohnten Familienkommunikation für einen Moment zerstört. Uns gegenüber saß in diesem Moment ein Mann, dem die Worte fehlten. Obwohl er das Bedürfnis zu haben schien, etwas zu sagen, blieb er stumm. Sein Schweigen kam jedoch einem wortlosen Geständnis gleich. Die Opfer des Vaters wurden von Antonio zum ersten Mal verbalisiert. Auch, wenn Michele seinem Sohn nicht antworten konnte, hatte sich die Familiendynamik in diesem Moment ein Stück verändert, ein Grenze war überschritten, ein Tabu gebrochen: die Getöteten waren zur Sprache gekommen. Micheles Umgang mit seiner Kriegsvergangenheit war bisher von seiner Familie mitgetragen worden. Das zerbrechliche Gleichgewicht zur Aufrechterhaltung der Tabuisierung
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von Täterschaft erforderte die aktive Beteiligung aller Familienmitglieder. Auch (Ver-)Schweigen und Tabuisierung zeigen sich hier als aktive und kreative Prozesse familiärer Dynamik, zudem wird die Gegenseitigkeit der Beziehungsgestaltung in Familiensystemen deutlich. Micheles Täterschaft im Krieg beeinflusste die familiären Dynamiken und Interaktionsmuster auf zentrale Weise. Francesco: Non portava armi [Er trug keine Waffen] Dem ältesten Sohn Micheles begegnete ich im Laufe meiner Forschung immer wieder bei politischen und kulturellen Veranstaltungen der zweiten Generation der faschistischen Nachkriegsszene. Francesco war Anfang 50, als ich ihn kennenlernte, ein in sich gekehrt wirkender Mann, verheiratet, aber ohne Kinder. Erst neun Monate nach unserer ersten Begegnung ging er auf meinen Vorschlag ein, sich mit mir zu einem Gespräch zu verabreden. Seine Entscheidung war offenbar wohl überlegt, nachdem er mir gegenüber lange Zeit Misstrauen gehegt hatte. Zu unseren Gesprächen trafen wir uns meist in der Wohnung seiner Eltern. Bei unserer ersten Verabredung saß Francesco bereits abwartend und offensichtlich angespannt in seiner Jacke auf einem Stuhl im Wohnzimmer. Vom Wohnzimmerfenster aus konnte man hinter den mehrstöckigen Wohnblöcken der Vororte mit ihrem Antennengewirr auf den flachen Dächern die schneebedeckten Berge des Lazio südlich von Rom erkennen. Er sprach leise und antwortete mit Bedacht auf meine Fragen. Ein verschlossen wirkender Mann, so schien es mir, den es einige Überwindung gekostet hatte, sich mit mir zu treffen. Unser Gespräch begann holprig. Aus Sicht der Kinder sei sein Vater eine autoritäre Erziehungsperson gewesen, erzählte er. Später dann sei er für ihn aufgrund seiner offenen Geisteshaltung, die er immer sehr bewundert habe, zu einem großen Vorbild geworden. Im Gegensatz zu Alessia war er der Ansicht, sein Vater habe viel aus seiner Kriegsvergangenheit erzählt, die ihn selbst vor allem als Kind sehr interessiert habe. Die vielen kleinen Erinnerungsstücke seines Vaters hätten sich auch in seiner eigenen Erinnerung festgesetzt: die Rückkehr aus dem Krieg, bei der er knapp einer Lynchaktion durch Partisanen entgangen sei, die erste Nachkriegszeit in Rom, in der er nichts zu essen und keine Arbeit gehabt habe, so dass ihm nichts weiter blieb, als aus den römischen Brunnen zu trinken. Er habe nach dem Krieg nur einen Rucksack besessen, in dem Bücher gewesen seien, keine Waffen. Natürlich hätten die Soldaten im Krieg Waffen gehabt, auch sein Vater, schließlich seien sie ja im Krieg gewesen. Seinem Vater seien jedoch hauptsächlich die Bücher wichtig gewesen: Nello zaino portava i libri, cioè non portava armi. Poi le armi le aveva perché era in guerra. Però quello che faceva, leggeva. Leggeva in ogni situazione possibile immaginabile.
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[Im Rucksack trug er Bücher, also keine Waffen. Natürlich hatte er Waffen, er war ja im Krieg. Aber was er tat, war lesen. Er las in jeder noch so unmöglichen und unvorstellbaren Situation.]
Er zeichnete vor mir das Bild seines Vaters, der sich nach dem 8. September 1943 freiwillig zum Dienst in der RSI gemeldet hatte, als das eines unschuldigen Soldaten: Bücher statt Waffen, Intellekt statt Gewalt – ein eklatanter Widerspruch, den er selbst bei dieser ersten Beschreibung seines Vaters nicht zu bemerken schien. Auch Francesco pflegte sein Kinderbild vom guten, unschuldigen Soldatenvater, ähnlich wie Alessia, die ihn mir als Zuschauer und Opfer der miterlebten Kriegsgewalt beschrieben hatte. Reflexartig schien das Bedürfnis, den Vater vor mir zu verteidigen und als Unschuldigen zu zeichnen, auch bei Francesco an erster Stelle zu stehen. Für ihn selbst seien die Geschichten seines Vaters von großem Wert, Schätze der Erinnerung, wie er es formulierte: Sono tutte piccole perle di memoria che mi sono state date. [Das alles sind kleine Perlen der Erinnerung, die mir gegeben wurden.]
Er beschrieb seinen Vater als Ehrenmann und betonte mehrmals, dass dieser gerade in den für die Veteranen der RSI so schwierigen Zeiten der ersten Nachkriegsjahre nicht zur anderen Seite übergelaufen sei und nie seine eigene Vergangenheit verraten habe: Poi ci sono gli uomini della destra che sono finiti nel PCI [Partito Comunista Italiano], gli intellettuali. Altri come mio padre hanno continuato il suo percorso e si sono trovati esclusi dalla società. [Dann gibt es da die Männer der rechten Parteien, die sich dem PCI [Partito Comunista Italiano] angeschlossen haben, die Intellektuellen. Andere, wie auch mein Vater sind ihren Weg weitergegangen und wurden daher von der Gesellschaft ausgeschlossen.]
Der Preis für diese Charakterstärke sei das Außenseiterdasein gewesen, das alle RSI-Veteranen geführt hätten, die sich selbst treu geblieben seien. Die zentralen Motive in seinem Narrativ über die Vergangenheit seines Vaters waren Ehre und Moral. Francesco zeichnete vor mir das Bild eines Mannes, der sich durch Unerschrockenheit und Stärke, Loyalität und Ehrhaftigkeit auszeichnete; ein Soldat mit einem Rucksack voller Bücher – lesen statt schießen, überleben statt töten. Es war ein verdrehtes und geschöntes Bild, das Verantwortlichkeit und Fragen nach Schuld ignorierte.
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Il peso di una scelta [Die Last einer Entscheidung] Je länger wir bei diesem ersten Gespräch zusammen saßen, desto mehr verlor Francesco seine Scheu und das Bild des unantastbaren Vaters wurde brüchig. Zunächst hatte er offenbar das Gefühl gehabt, die Ehre seiner Familie vor mir verteidigen zu müssen – und vielleicht auch vor sich selbst. Deutlich wurde ein ambivalentes Verhältnis zu seinem Vater in verschiedenen Phasen seines Lebens: Zunächst das verklärte Bild des Kindes und später das eines jungen Erwachsenen, der zunehmend unter der Identität des Vaters gelitten hatte. Die Konsequenzen der Entscheidung seines Vaters 1943, für die RSI zu kämpfen, hätten lebenslang auf den Schultern aller Familienmitglieder gelastet, betonte er. Er hatte die Kriegsvergangenheit seines Vaters auch als Bürde empfunden. Die gesamte Familie habe das Schicksal des Vaters geteilt, vielmehr teilen müssen: Lui ha portato sulle sue spalle, condiviso da tutti quanti noi, il suo peso o il peso di una scelta, una scelta fatta da giovane e ha continuato comunque perché pensava che quella parte, quella fascista, fosse quella giusta perché c’erano i valori, i valori umani. [Er hat auf seinen Schultern, von uns allen mitgetragen, das Gewicht seiner Entscheidung getragen, einer Entscheidung, die er als junger Mann getroffen hat, und er hat weitergemacht, weil er davon überzeugt war, dass diese Seite, die faschistische, die richtige war, weil es dort bestimmte Werte gab, menschliche Werte.]
Das Gefühl der Bedrohung der eigenen Existenz als Sohn eines Faschisten hatte seine gesamte Jugend überschattet: Non era neanche rabbia. C’era semplicemente la voglia di essere quello che si era. Io sono nato in questo modo, la penso in questo modo, voglio rimanere così. Poi certo uno cambia col tempo però se sono nato così, perché te la devi prendere con me? Che vuoi, la mia eliminazione fisica? [Es war nicht einmal Wut. Da war einfach nur das Bedürfnis, das zu sein, was man war. Ich bin so geboren, ich denke auf diese Weise, ich will so bleiben. Natürlich verändert man sich dann mit der Zeit, aber wenn ich so geboren bin, warum musst Du mich deswegen angehen? Was willst du, meine physische Vernichtung?]
Für ihn ging es nicht nur um politische Identität, sondern um soziale Existenz, das Recht auf ein Leben als Teil der Familie, in die er hinein geboren worden war. Die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit diesem Erbe und der eigenen Familienidentität umzugehen, waren offensichtlich groß gewesen. Das Außenseiterdasein hatte sein Leben geprägt, von der Schule über die Universität bis ins Erwachsenenalter hinein. In seiner Wahrnehmung handelte es sich um eine Form der
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Ghettoisierung, die sein Vater, aber mit ihm zusammen die ganze Familie erduldet hatte: E questo lo abbiamo vissuto tutti quanti. Un po’ come forse gli ebrei vivono la loro condizione. Cioè di ghetto, ma anche allo stesso tempo di grandezza, di rispetto per un’idea. [Und das haben wir alle erlebt. Ein bisschen so, wie die Juden vielleicht ihre Situation erleben. Also Ghettoisierung, aber zur selben Zeit auch Größe, Respekt für eine Idee.]
Er wählte an dieser Stelle einen extremen Vergleich, indem er die RSI-Veteranen mit Juden gleichsetzte – ein drastisches Kontrastbild zum kollektiven antifaschistischen Erinnerungsdiskurs in Italien, das mich wahrscheinlich provozieren sollte. Die italienische Nachkriegsrepublik könne auch nicht den Status einer wahren Demokratie einfordern, ergänzte er provokant, solange einer Gruppe in der Gesellschaft, nämlich den Veteranen der RSI, das Recht auf freie Meinungsäußerung verwehrt bleibe. In Italien bestünde keine Freiheit für alle, denn die Faschisten seien von der Freiheit ausgeschlossen, betonte er. Eine Überzeugung, die er auch in allen folgenden Gesprächen wiederholte. Für mich waren solche Momente schwer zu ertragen. Antisemitische Äußerungen und Verharmlosung provozierten mich und ich musste meine Wut und den Impuls, das Gespräch abzubrechen, mühsam unterdrücken, um das Interview weiterführen zu können. Manchmal stritt ich mich in solchen Momenten und verlor dadurch Gesprächspartner und Vertrauen. Schwieg ich, schämte ich mich häufig vor mir selbst, sobald das Interview beendet war – ein unauflösbares Dilemma in meiner Forschung.116 In der Schule hätten die compagni [Genossen] ihn an seinem Nachnamen erkannt und häufig verfolgt. Er sei von vorne herein als Faschist abgestempelt gewesen, weil sein Vater ein bekannter RSI-Veteran und Mitglied des MSI gewesen sei, berichtete er mir mit Bitterkeit in der Stimme. Als ältester Sohn sei er der erste seiner Geschwister gewesen, der mit dieser Realität außerhalb der Familie konfrontiert gewesen sei. Die Situation sei so drastisch gewesen, dass seine Eltern irgendwann beschlossen hätten, innerhalb Roms umzuziehen, um ihn zu schützen. Die neue Adresse sowie Telefonnummer hätten sie geheim gehalten. Er selbst habe trotz aller Schwierigkeiten immer versucht, in der Öffentlichkeit zu seiner Familie zu stehen und das zu leben, was er durch seine Familie gewesen sei: der Sohn eines Faschisten. Dabei saß er regungslos vor mir am Tisch – ein merkwürdiger Widerspruch lag in dieser bewegten Geschichte und der Bewegungslosigkeit, die in diesem Moment von ihm ausging. Er habe die Werte seiner Familie als Jugendlicher in die Schule tragen wollen, jedoch ohne Gewalt anzuwenden und
116
Vgl. Prolog und Kapitel 2.5.
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darauf sei er bis heute stolz. Er habe meist nur geredet und nur selten Gewalt angewendet, um Klassenkameraden zu verteidigen, Faschisten vor Kommunisten und auch Kommunisten vor Faschisten. Ho sempre parlato con gli altri, ne ho salvati diversi perché quando vedi un tuo compagno di classe che sta per essere aggredito da un gruppuscolo di fascisti e vedi il terrore di questo comunista, leggi il terrore negli suoi occhi che fai? Lo fai massacrare di botte? Per quale motivo? Perché lo pensa diversamente da te? No. Gli ho fermati e lui me l’ha riconosciuto dopo 40 anni, giuro! Ci siamo incontrati per strada e lui mi fa: io mi ricordo ancora quando mi hai salvato…io mi ero dimenticato perché per me sono cose normali. [Ich habe immer mit den anderen geredet, habe einige gerettet, denn wenn du einen Klassenkameraden siehst, der angegriffen wird von einem Grüppchen von Faschisten und du die Angst dieses Kommunisten siehst, wenn du die Angst in seinen Augen liest, was machst du dann? Lässt du zu, dass er zusammengeschlagen wird? Aus welchem Grund? Weil er anders denkt als du? Nein. Ich habe sie gestoppt und er hat mir das 40 Jahre später gedankt, ich schwör’s! Wir haben uns auf der Straße getroffen und er hat gesagt: Ich erinnere mich immer noch, wie du mich gerettet hast…ich selbst hatte es vergessen, denn für mich ist so etwas normal.]
Zentrale Werte waren für Francesco Loyalität und ein Sinn für Gerechtigkeit, die Verteidigung von Schwächeren – vergleichbar mit dem Selbstbild der RSIVeteranen. Die Verachtung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Faschisten, insbesondere gegenüber seinem Vater, hatte er als persönlichen Affront empfunden, als Ungerechtigkeit, der er sich hatte entgegenstellen wollen. Im Vergleich zu anderen Kindern von RSI-Veteranen betonte er jedoch, es sei ihm egal gewesen, welcher politischen Seite die ungerecht behandelte Person angehört habe. Er stellte damit seinen Gerechtigkeitssinn als überparteilich dar und bediente auch das Narrativ der moralischen Überlegenheit: Trovarmi di fronte ad una ingiustizia a scuola perché eravamo quelli di destra era difficile. Eravamo accusati di essere fascisti, essere il male…avendo vissuto una cosa contraria, cioè avendo vissuto in una famiglia in cui c’erano degli ideali, c’erano dei valori, c’era un certo tipo di etica, mi sentivo di dover portare questa esperienza all’interno anche della scuola. Quindi contrapporre la mia visione della vita a quelli di coloro che erano antagonisti, non nemici. Perché qui si vedono tutti come nemici, non per me. Non sono nemici. [Mich konfrontiert zu sehen mit dieser Ungerechtigkeit in der Schule, weil wir die Rechten waren, war schwierig. Wir wurden angeklagt, Faschisten zu sein, das Böse zu verkörpern…Da ich das Gegenteil erlebt hatte, das heißt, in einer Familie aufgewachsen war, in der es noch Ideale gab, in der es Werte gab, eine gewisse Form der Ethik, hatte ich das
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Gefühl, diese Erfahrung auch in die Schule hineintragen zu müssen. Also meine Vision vom Leben denen entgegenzusetzen, die Widersacher waren, keine Feinde. Denn hier betrachten sich alle als Feinde, aber für mich ist das anders. Es sind keine Feinde.]
Francesco benutzte dieselbe Rhetorik wie die Veteranen der RSI, die die Partisanen nicht als Feinde oder Gegner bezeichneten, sondern immer darauf beharrten, Opfer eines unseligen Bruderkrieges geworden zu sein, eine Rechtfertigungsstrategie zum Zweck der Minderung der eigenen Verantwortung sowie der eigenen moralischen Überhöhung. Als sein Vater älter wurde, hatte sich Francescos Beschützerinstinkt diesem gegenüber intensiviert. Noch immer würden die RSI-Veteranen in eine Ecke der Gesellschaft gestellt und ausgestoßen, klagte er. Sie würden immer noch angegriffen, zwar nicht mehr physisch, aber verbal, und das mache ihn wütend. Auch Francesco kämpfte mit Wut. Dabei seien die RSI-Veteranen die einzigen Männer in diesem Land, die sich selbst treu geblieben seien, die nicht ihr Gewissen verkauft hätten an die Politik oder ans Geschäft. Als Folge des Außenseiterstatus der Faschisten nach 1945, die vom politischen Machtsystem ausgeschlossen blieben, kristallisierte sich das bewusst gepflegte Selbstbild vom unkorrumpierbaren Faschisten heraus. Indem Integrität und Charakterstärke als essentielle Merkmale der politischen Subkultur des Nachkriegsfaschismus betont wurden, konstituierte man sich konträr zur als korrupt, gewinnorientiert und egoistisch bezeichneten antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft.117 Gewalt Gewalt war für Francesco in seiner Jugend problematisch gewesen. Sich während der Schulzeit mit anderen Faschisten aktiv an politischen Aktionen oder Schlägereien zu beteiligen, habe ihm widerstrebt. Daher war er auch nicht in eine politische Organisation eingetreten. Umgekehrt habe er dann jedoch auch nicht auf deren Solidarität bauen können, wenn er selbst angegriffen wurde. In dieser Situation habe er sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen und versucht, sich einen unpolitischen Weg durch die überpolitisierte Zeit seiner Jugend zu bahnen. Trotzdem sei er immer wieder Gewalt ausgesetzt gewesen. Seine Schulzeit beschrieb er als einen ewigen Kreislauf der Gewalt. Die politische Gewalt während der anni di piombo bezeichnete er als grundlos, motiviert durch festgefahrene politische Gegenpositionen. Im Nachhinein erst sei ihm klar geworden, dass sie alle benutzt
117
Vgl. Kapitel 2.3.1.
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worden seien, Marionetten in der Hand des Staates und anderer Kräfte und Institutionen.118 Die Sinnlosigkeit der Gewalt dieser Jahre schien ihn im Nachhinein bitter gemacht zu haben: Non c’era più una ragione, c’era soltanto la contrapposizione. Uccisioni, massacri, cose anche ignobili, dare fuoco…non c’era più un freno, non c’era più un motivo. [Es gab keine tatsächlichen Gründe mehr, nur noch Gegenpositionen. Ermordungen, Massaker, andere unehrenhafte Dinge, Feuer legen…es gab keine Bremse und auch kein Motiv mehr.]
Francesco beschrieb die Gewalt der anni di piombo als Gewalt um der Gewalt willen, um den Gegner zu schwächen, als einen politischen Krieg, der in seiner Generation mit großer Härte und extremer Gewaltbereitschaft ausgetragen wurde. Obwohl er versucht habe, sich aus der Gewalt heraus zu halten, sei er häufig involviert worden. Vor seinen Eltern habe er versucht, all das geheim zu halten, und so hätten sie manchmal aus der Zeitung davon erfahren, wenn es Zusammenstöße gegeben habe. Einmal sei er nach einem solchen Zusammenstoß beispielsweise auf der Titelseite einer Zeitung gelandet. Es sei einer der üblichen Zusammenstöße zwischen camerati und compagni zweier Schulen gewesen. Er sei erwischt und einen Nachmittag lang in Gewahrsam genommen worden. Nur wenige meiner Informanten aus der zweiten Generation problematisierten offen das Thema Gewalt und sprachen über belastende Gewalterfahrungen. Gewalt wurde von den politischen Aktivisten und Protagonisten dieser Jahre in der Regel als notwendiger und heroischer Akt der Selbstverteidigung geschildert, Gewalterfahrung zählte zu den standardisierten Kriterien für Zugehörigkeit. 119 Wie in der Generation der Veteranen wurde Gewalterfahrung getreu dem faschistischen Männerbild mehrheitlich als Beweis für Stärke interpretiert. Wir saßen immer noch am Wohnzimmertisch, draußen hatte der Nieselregen nachgelassen und es war eine lange Pause entstanden. Ich fragte ihn, ob er sich seinem Vater trotzdem nahe gefühlt habe in dieser Zeit seiner Jugend: Molto, mi sono sentito molto vicino a lui, anche se mi sono sentito se vuoi, anche lontano. [Sehr, ich habe mich ihm sehr nahe gefühlt, auch, wenn ich mich ihm zur gleichen Zeit auch fern gefühlt habe.]
118
Vgl. Kapitel 2.2.1 und 2.4.2.
119
Vgl. Kapitel 2.1.2 und 2.1.3.
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Francesco beschrieb ein ambivalentes Verhältnis zu seinem Vater, charakterisiert durch große Nähe aufgrund der Identifikation mit seinen Wert- und Moralvorstellungen. Zugleich fühlte er eine Distanz, die u.a. aus seinem problematischen Verhältnis zu der Gewalt während seiner Jugend zu resultieren schien. Trotz der Sorgen habe er seinen Eltern und vor allem seinem Vater auf eine versteckte Weise aber auch Ehre gemacht: I miei erano preoccupati. Da una parte erano preoccupati, dall’altra parte sapevano di aver tirato su i figli bene. [Meine Eltern waren besorgt. Auf der einen Seite waren sie besorgt, auf der anderen Seite wussten sie auch, dass sie ihre Kinder gut großgezogen hatten.]
Francesco war sich bewusst, die heimlichen Erwartungen der Eltern erfüllt zu haben. Einige Jahre nach der beschriebenen Schlägerei habe sich die Situation dann noch einmal verschärft. Er sei 18 gewesen und habe sein Auto, welches auf seinen Vater zugelassen gewesen sei, an einen Kameraden verliehen, ein Mitglied im Fronte della Gioventù, der Jugendorganisation des MSI. Wie sich am nächsten Tag herausgestellt habe, sei sein Auto von der Polizei bei einer Schlägerei zwischen camerati und compagni identifiziert worden. Er selbst habe die Neuigkeit in der Zeitung gelesen, ein Journalist habe das Kennzeichen recherchiert und zu seinem Vater zurückverfolgt. Am schwersten habe ihn damals der Verrat der eigenen Leute geschmerzt, erinnerte er sich bitter. Nach diesem Vorfall sei er in Rom nicht mehr sicher gewesen und habe die Stadt für mehrere Jahre verlassen. Seine Haltung zum Nachkriegsfaschismus war von Ambivalenz geprägt. Er wirkte auf eine Weise verletzlich, die Gewalterfahrung während seiner Jugend hatte ihn nachhaltig geprägt. Seine Aussage, sich nicht eindeutig zur faschistischen Nachkriegsszene zugehörig zu fühlen, war auch eine Folge dieser Ereignisse. Sein ambivalentes Verhältnis beinhaltete trotz allem die Unterstützung neofaschistischer Parteien. Das Dilemma seiner Jugend, sich der gewaltbereiten politisch aktiven Jugend anschließen zu müssen, um den Ansprüchen seiner faschistischen Herkunft zu genügen, und zugleich bestimmte Aspekte wie Gewalt abzulehnen, war zu einem inneren Spagat geworden, der ihm viel abverlangte. Die Gewalt meiner Fragen Das zweite Treffen mit Francesco findet eine Woche später in der Wohnung seiner Eltern statt. Er erwartet mich im Arbeitszimmer seines Vaters Michele, wo er auf dessen Platz hinter dem großen Schreibtisch sitzt. Mit dieser Platzwahl bringt er seine Loyalität seinem Vater gegenüber, vielleicht auch seine (partielle) Identifi-
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kation zum Ausdruck. Er wirkt sehr viel entspannter als bei unserem ersten Treffen. Auf dem Schreibtisch steht ein Teller mit süßem Gebäck, das er für mich gekauft hat, wie er sagt. Ich solle essen, insistiert er immer wieder, er selbst wolle nichts, er faste. Während unseres Gesprächs, das einige Stunden andauert, fordert er mich immer wieder auf, zu essen, obwohl ich mehrmals betone, dass ich satt bin. Vor dem Hintergrund, dass sein Vater nach dem Krieg gehungert hat, was ihn, wie er sagt, sehr mitgenommen habe, agiert er in dieser Situation auch den Hunger seines Vaters in verschobener Perspektive aus. Noch eine Woche zuvor hatte Francesco seinen Vater in erster Linie als Ehrenmann dargestellt und verteidigt, bei unserem zweiten Gespräch ist seine Rhetorik deutlich verändert. Ich berichte ihm von dem Vorfall mit seinem Bruder, der den Vater anklagend nach seinen Opfern im Krieg gefragt hat: È un carico che si porta lui, anche se lo trasmette a noi. Ed è un carico molto pesante. Perché comunque tu non puoi disobbedire ad un ordine e sei costretto di togliere la vita ad un altro. In quel momento togli un pezzo di memoria ad un’altra famiglia. [Das ist eine Last, die er trägt, auch, wenn er sie an uns weitergibt. Und es ist eine sehr schwere Last. Denn einem Befehl kannst du dich ohnehin nicht widersetzen und du bist gezwungen, einem anderen das Leben zu nehmen. In diesem Moment nimmst du einer anderen Familie ein Stück Erinnerung.]
In seiner Antwort nimmt er seien Vater zwar in Schutz, indem er betont, als Soldat habe dieser Befehle befolgen müssen und sei damit nicht persönlich zur Verantwortung zu ziehen. Zugleich wird deutlich, dass er Täterschaft als Last empfindet. Ich frage, wie sein Vater heute mit dieser Last umgehe, wie er ihn wahrnehme: Con gli anni lo accetti. È una cosa che lui adesso e forse anche qualche anno fa non ricorda perché non vuole ricordare. Non puoi ricordare di aver ammazzato una persona. Come fai? Anche se l’hai fatto per difendere la patria, la tua famiglia, hai comunque fatto una cosa che è al di là. [Mit den Jahren akzeptierst du das. Das ist eine Sache, die er jetzt und vielleicht seit einigen Jahren nicht erinnert, weil er sie nicht erinnern will. Du kannst dich nicht daran erinnern, dass du eine Person umgebracht hast. Wie soll das gehen? Auch, wenn du es getan hast, um das Vaterland zu verteidigen, deine Familie, dann hast du trotzdem etwas getan, das jenseits von allem ist.]
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Die Bürde der Schuld, Menschen getötet zu haben, bezeichnet Francesco als zu groß, um sie bewältigen oder gar verarbeiten zu können. Die logische Konsequenz, nach der auch sein Vater bisher gehandelt habe, sei die Verdrängung. Nur auf diese Weise sei solche Schuld zu ertragen. Ich erzähle ihm daraufhin von meinem ersten Gespräch mit den drei RSIVeteranen, in dem sein Vater seine Kriegserfahrungen mit den Worten abbiamo sparato [wir haben geschossen] zusammengefasst hat. Indem ich danach gefragt hätte, hätte ich alte Wunden aufgerissen, die über Jahrzehnte verschlossen gewesen seien, antwortet Francesco anklagend: Vai ad aprire delle ferite che sono chiuse da decenni. [Damit öffnest du Wundern, die seit Jahrzehnten verschlossen sind.]
Es sei doch schwer gewesen für alle Veteranen, nicht nur für seinen Vater, denn der Krieg sei immer eine brutale Angelegenheit: È come se creassero un cuscino trasparente – in realtà per difendere la loro anima dal dolore che hanno provocato e che hanno subito, quindi lo vedono quasi un po’ distaccati. Però, pensa a questi uomini che erano costretti a creare dolori atroci, soprattutto alle famiglie. [Es ist, als hätten sie sich ein durchsichtiges Kissen geschaffen – in Wahrheit, um ihre Seele vor dem Schmerz zu schützen, den sie angerichtet und den sie erlitten haben, sie sahen daher alles aus einer gewissen Distanz heraus. Aber denk an diese Männer, die gezwungen waren, grauenhafte Schmerzen zu verursachen, vor allem in Familien.]
Er wählt das sanfte Bild eines transparenten Kissens gegen die Unerträglichkeit der eigenen Schuld, um die eigene Seele zu schützen und die Schuld zu ertragen. Das Bild steht in starkem Gegensatz zur Härte der Kriegserfahrung, über die er spricht. Er vermittelt den Eindruck, sich tief eingefühlt zu haben und die Belastung der Schuld auch in sich selbst zu spüren. Über den Gemütszustand seines Vaters spricht er dabei fast, als sei es sein eigener, obwohl sein Vater kaum darüber gesprochen habe: Comunque stando in guerra ci sono le stagioni che passano. Arriva la primavera, arriva il profumo dei fiori. Però c’è anche l’odore del sangue. [Obwohl sie sich im Krieg befinden, gibt es die Jahreszeiten, die kommen und gehen. Es kommt der Frühling, es kommt der Duft der Blumen. Aber da ist auch der Geruch von Blut.]
Francesco fühlt sich offenbar auch sinnlich stark in die Kriegserinnerungen seines Vaters hineingezogen. Es scheint, als habe er fast distanzlos die Gefühlswelt
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seines Vaters übernommen – bis hin zum Geruch von Blut.120 Doch es sei gefährlich, diesen schrecklichen Erinnerungen zu nahe zu kommen, daher versuche er, Abstand zu halten mit der Hilfe von Humor: Io amo sempre ridere, perché c’è una pesantezza che altrimenti non potessi superare. [Ich liebe es, viel zu lachen, denn da ist eine Schwere, die ich sonst nicht überwinden könnte.]
Das Lachen, von dem er hier spricht, wirkt im Angesicht der Schwere der Kriegserfahrungen, um die es dabei geht, wie ein hilfloser Versuch, die Oberhand zu behalten in einem Strudel familiärer Verstrickungen. Das Töten im Krieg und die damit verbundene Schuld des Vaters vereinnahmen Francesco auf gewisse Weise. Trotz zahlreicher Versuche hat er es letztendlich nicht vermocht, sich tatsächlich von seinem Vater und dessen Kriegsvergangenheit und Schuld zu distanzieren. Vielmehr ziehen ihn die Erinnerungen und Taten des Vaters mit Macht an und lassen ihn in der Imagination sogar den Tod sinnlich erfahren. (Feldtagebuch, November 2012) * Am Abend nach diesem zweiten Gespräch mit Francesco entdeckte ich einen Kommentar in den sozialen Medien, in dem er mich u.a. als menschenfressenden Ätna bezeichnete und darauf verwies, dass ich ihn zu zweiten Mal interviewt hätte. Indem Francesco mich als einen »menschenfressenden Vulkan« bezeichnete, wählte er ein gewaltiges bzw. gewalttätiges Bild als Vergleich: der Ätna ist einer der aktiven Vulkane in Italien, eine Naturgewalt mit zerstörerischen Kräften, der bei einem Ausbruch alles Leben unter sich begraben und vernichten könnte. Erstaunlich war auch der Vorwurf des Kannibalismus, vor allem vor dem Hintergrund, dass er mich am Abend zuvor während unseres Gesprächs immer wieder aufgefordert hatte zu essen, während er mich dabei beobachtete. Zunächst war ich erstaunt und verwirrt über diesen öffentlichen, in meiner Wahrnehmung negativen Kommentar. Während unserer ersten beiden Gespräche hatte er mir mehrmals das Versprechen abgenommen, alle Informationen vertraulich zu behandeln. Daher war ich nicht nur über die Heftigkeit, sondern auch den öffentlichen Rahmen seines Kommentars irritiert. Offenbar hatte ich innerhalb seiner Familie durch meine Interviews in seiner Wahrnehmung eine Lawine losgetreten. Ich hatte mit meinen Fragen nach Kriegsvergangenheit und Täterschaft an ein tabuisiertes Thema, ein
120
Vgl. dazu auch Bedeutung von Blut in der faschistischen Literatur nach Theweleit: »In der gesamten faschistischen Literatur ist Blut ein Synonym für das richtige Fühlen.« (Theweleit 1980: 184).
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Familiengeheimnis gerührt. Es schien, als hätten meine vorsichtig gestellten Fragen mit unglaublicher Gewalt verschlossene Türen und Wunden geöffnet, Tabus gebrochen und das familiäre Gleichgewicht ins Wanken gebracht. Francesco empfand mich als zerstörerische Naturgewalt, gleich einem Lava spuckenden Vulkan, der sein Innerstes vernichtend nach Außen kehrt. Meine Gespräche mit den verschiedenen Familienmitgliedern waren allem Anschein nach viel folgenreicher gewesen, als ich angenommen hatte. Bisher war die Täterschaft Micheles im Krieg innerhalb der Familie verschwiegen worden, doch unter der Oberfläche brodelte es. Was so Lange tabuisiert worden war, war trotzdem präsent, hinter einer Kruste aus Schweigen und familiärer Nähe lagerte die unbearbeitete Kriegsvergangenheit Micheles gefährlich und mit ungeheurer Zerstörungsmacht. Francesco hatte mich, die ich an dieser Vergangenheit rührte, mit einem Vulkan verglichen und zeigte mir damit sowohl das Ausmaß dessen, was hinter dem Schweigen verborgen lag, als auch die Gefahr auf, die meine Fragen für das familiäre Gleichgewicht darstellten. Er hatte Kannibalismus mit mir assoziiert. Arens betont, dass sich Kannibalismus im Zuge der Exotisierung fremder Kulturen oft als Konstrukt erwiesen hat, mit dem sich menschliche Gruppen gegenseitig faszinieren und erschrecken.121 Mit dem Bild der Menschen verschlingenden Forscherin hatte Francesco dieses Mittel der Exotisierung benutzt und in der Gemeinschaft der faschistischen User ein irritierendes Bild von mir gezeichnet. Seine Reaktion verwies vielleicht auch auf sein Gefühl, durch mich in Dinge hineingezogen zu werden, die er nicht kontrollieren konnte. Ein gewaltiger und gewalttätiger Vergleich, aus dem auch Angst sprach, sich dem verschlingenden Strudel der Kriegsvergangenheit des Vaters nicht entziehen zu können. Dilemmata der Enkel Im Falle der Familie B. wird deutlich, auf welche Weise Kriegsvergangenheit Familiendynamiken bis in die Enkelgeneration beeinflussen kann, auch wenn diese durch die größere Distanz zu Großeltern und die Erweiterung des Familiensystems durch angeheiratete Partner verändert und abgeschwächt wird. Die Kinder Alessias, Giovanni und Francesca, waren durch die enge Beziehung der Mutter sowie die physische Nähe in einem engen Verhältnis zu ihren Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen. Beide waren zur Zeit meiner Forschung Anfang 20, studierten
121
Vgl. Arens 1979 und 1996.
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an verschiedenen Universitäten in Rom, wohnten bei ihren Eltern und waren finanziell abhängig von ihnen.122 Alessia war enttäuscht darüber, dass die eigenen Kinder sich nie politisch engagiert und ihre eigene positive Sichtweise auf die RSI-Veteranen nicht übernommen hatten. Vor allem über das Verhältnis ihrer Tochter zum Faschismus war sie frustriert: Mia figlia è stata vittima di una sorta di lavaggio di cervello dovuto all’internet e anche a docenti, insegnanti anche all’università, soprattutto all’università. Per cui rifiuta assolutamente… [Meine Tochter ist Opfer einer Form der Gehirnwäsche geworden, verantwortlich sind das Internet und auch Lehrer, Dozenten an der Universität, vor allem an der Universität. Daher lehnt sie alles total ab...]
Als ihre Kinder jeweils 12 oder 13 gewesen seien und den Faschismus im Geschichtsunterricht durchgenommen hätten, habe sie versucht, ihnen ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Sie habe ihnen erklärt, wie die Generation ihres Vaters aufgewachsen sei mit dem Ziel, einen historischen Kontext herzustellen. Die 1920erJahre in Italien seien doch auch eine Zeit des Aufbruchs gewesen, ein Neubeginn voller Hoffnung und Enthusiasmus sowie dem Wunsch, Großes zu leisten als Nation. Außerdem habe sie versucht, sie für den Kern der Ideologien zu sensibilisieren: Der Faschismus sei in ihren Augen der Gedanke der sozialen Vereinigung, das zeige bereits das Symbol des fascio littorio. Der Kommunismus hingegen gründe auf der Strategie des Zusammenstoßes, vor allem der sozialen Klassen. Auf diesen politischen Grundideen basiere die italienische Politik noch heute. Ihr Sohn sei zumindest interessiert gewesen im Gegensatz zu ihrer Tochter. Zwar engagiere er sich nicht politisch, bekenne sich nicht offiziell zu einer Seite, einer Ideologie oder Partei, aber wenigstens lehne er den Faschismus nicht generell ab. Er sei immer sensibel gewesen für diese Dinge, genau wie sie selbst, sagte sie und lächelte. Er habe ja nicht zufällig einen völlig anderen Freundeskreis als seine
122
Zwischen 2001 und 2009 lebten 58,6 % der Jugendlichen zwischen 18 und 34 Jahren noch mit mindestens einem Elternteil zusammen, ein über die Jahre konstant bleibender Wert; Heirat oder Partnerschaft mit eigenem Zuhause sowie die Entscheidung für Kinder werden dadurch insgesamt nach hinten verschoben. Hauptgrund für den Auszug aus dem elterlichen Heim ist die Ehe, Gründe wie der Wunsch nach Autonomie, Studium oder Arbeit spielen eine untergeordnete oder keine Rolle (vgl. Rivellini et al. 2012: 68-73). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es keine staatlichen Unterstützungsprogramme zur früheren Selbständigkeit gibt (vgl. Rivellini et al. 2012: 82).
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Schwester. Dazu gehörten auch Mitglieder einer außerparlamentarischen neofaschistischen Gruppe, sehr nette Jungen seien das, ich solle einige davon unbedingt kennen lernen. Trotzdem sei sie generell sehr enttäuscht und auch entmutigt: Io forse non sono stata capace…ma forse li ho lasciati liberi? Può darsi? [Vielleicht bin ich unfähig gewesen…aber vielleicht habe ich ihnen auch ihre Freiheit gelassen? Könnte das sein?]
Natürlich spreche man in der Familie über aktuelle politische Angelegenheiten und da habe jeder seine eigenen Ansichten, die dann diskutiert würden. Bei einigen dieser politischen Diskussionen bei einigen gemeinsamen Abendessen war ich dabei gewesen. Die Tochter schwieg meist und verließ so schnell wie möglich unter einem Vorwand den Raum. Der Sohn versuchte, neutral zu bleiben und in der Diskussion zwischen seinen Eltern mit ihren konträren profaschistischen und antifaschistischen Positionen zu vermitteln. Trotzdem wurde deutlich, dass der Sohn sich politisch tendenziell rechts und damit auf der Seite seiner Mutter verortete. Er erzählte mir, dass er als Jugendlicher sehr stolz auf seinen Großvater, den RSI-Veteranen, gewesen sei. Manchmal habe er habe einige Freunde aus einer neofaschistischen Gruppierung mit nach Hause gebracht und sein Großvater habe vom Krieg erzählt. Sie hätten seinen Großvater als Veteranen der RSI verehrt. Er selbst habe jedoch nie explizit nach dessen Kriegsvergangenheit gefragt und zu Hause immer versucht, sich aus politischen Diskussionen herauszuhalten. Alessia sah die Schuld für das mangelnde Interesse ihrer Kinder bei sich. Auch ihre Eltern hätten sich einen politischen Aktivismus ihrer Enkel gewünscht: Avrebbero apprezzato un attivismo politico, forse sono delusi. [Sie hätten politischen Aktivismus gutgeheißen, vielleicht sind sie enttäuscht.]
Diese Kinder waren also nicht nur eine heimliche Enttäuschung für ihre Mutter, sondern auch für ihre Großeltern. In der Generation der Enkel übernahm niemand Alessias Rolle, ihren Vater Michele und dessen Vergangenheit aktiv zu verteidigen, keines ihrer Kinder hatte sich offiziell zur profaschistischen Position bekannt. In der Enkelgeneration war das Interesse für Politik sowie die Kriegsvergangenheit offenbar sehr viel schwächer und das Bedürfnis, sich aus diesen starken Dynamiken und den damit verbundenen politischen Verpflichtungen heraus zu halten, größer. Die Tatsache, dass Alessias Mann aus einer politisch links orientierten Familie stammte, war in diesem Kontext ein entscheidender Faktor. Der unüberwindbare Gegensatz der politischen Positionierung der Eltern ermöglichte diese Distanz. Sich für eine politische Seite zu entscheiden, konnte für beide Kinder nur
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einen Loyalitätskonflikt bedeuten. Ein Ausweg aus dieser Situation stellte das Vermeiden einer politischen Positionierung dar. Giovanni versuchte, neutral zu bleiben, indem er sich als unpolitischen Menschen darstellte. Er erzählte mir, seine Eltern hätten sich seit er denken könne über diese Themen gestritten und er versuche seit jeher, sich herauszuhalten. Mit seinem Verhalten unterstützte er jedoch auch heimlich seine Mutter: Er wählte rechts und frequentierte Freunde, die in einer neofaschistischen Organisation aktiv waren, auch, wenn er immer wieder betonte, die Organisation nur als Gast zu frequentieren. Seine nach außen kommunizierte unpolitische Haltung kompensierte er durch soziale Beziehungen, die er von politischen Aktivitäten differenzierte. Die auf diese Weise ausagierte Loyalität seiner Mutter und seinem Großvater gegenüber stand im Gegensatz zur Betonung seines politischen Desinteresses, das dem antifaschistisch orientierten Vater geschuldet zu sein schien. Seine Schwester Francesca orientierte sich im Gegensatz dazu tendenziell am Vater und vertrat oft antifaschistische und linke Positionen, ein Gespräch mit mir verweigerte sie. Auch in der Enkelgeneration wurde deutlich, dass Entscheidungen über politische Positionierung nicht unabhängig von familiärem Einfluss getroffen wurden. Die Vergangenheit des Großvaters als RSI-Veteran sowie der Umgang der Eltern damit war auch für die Enkel identitätsstiftendes Element und ausschlaggebend für die Entwicklung der eigenen politischen Überzeugungen. Familiengedächtnis und transgenerationale Weitergabe Über das Familiengespräch wird Vergangenheit auf eine Weise verfertigt, die das Gleichgewicht innerhalb der familiären Strukturen garantiert. Werden die Regeln der jeweiligen Dynamik durchbrochen, entsteht Chaos und die Richtlinien und Rahmenbedingungen werden durch Interventionen Einzelner wiederhergestellt. In Anlehnung an Jan Assmanns Theorie über das kommunikative Gedächtnis123 beschreibt Welzer das Familiengedächtnis als »lebendiges Gedächtnis, dessen Wahrheitskriterien an Wir-Gruppenloyalität und -identität orientiert sind« (Welzer 2002: 13). Familiengedächtnis basiert auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte – im Falle vieler RSI-Veteranen auf deren Helden- bzw. Opfernarrativ – dessen Aufrechterhaltung eine bindende Wirkung für die Familienmitglieder besitzt. Umgang mit Kriegsvergangenheit orientiert sich an der Loyalität der eigenen Familie gegenüber sowie der Erhaltung von Zugehörigkeit zum Familiensystem. Diskrepanzen zwischen Familienmitgliedern als vertraute Personen sowie deren Rolle im historischen Kontext können zu ambivalenten Gefühlen führen, da
123
Vgl. Assmann 1992.
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»eine auf der Ebene der öffentlichen Erinnerungskultur als verbrecherisch markierte Vergangenheit mit einem Familiengedächtnis in Einklang gebracht werden muss, das unter den Erfordernissen von Kohärenz, Identität und wechselseitiger Loyalität jedes Mitglied dazu verpflichtet, die ›gute Geschichte‹ der Familie aufrechtzuerhalten und fortzuschreiben.« (Welzer 2002: 23/ 24)
Eine Reaktion von Nachkommen besteht in der Heroisierung der Eltern, die mit der Umdeutung von Täterschaft sowie der Entwicklung von Strategien zur Rechtfertigung einhergeht, wie sie Alessia und Francesco z.T. beschrieben. Der Wahrheitsgehalt der erzählten Geschichten über die Vergangenheit ist dabei nebensächlich, familiäre Erinnerung ist ein Prozess der gemeinsamen Verfertigung von Vergangenheit im Gespräch. Dazu gehört auch das Ergänzen eventueller Lücken in Geschichten sowie die Aneignung dieser Geschichten, sofern dies für den Erhalt des familiären Gleichgewichts, insbesondere im Hinblick auf die emotionalen Anforderungen familiärer Erinnerungsgemeinschaften, sinnvoll erscheint. 124 Ziel gemeinsamer (familiärer) Erinnerung ist die Aufrechterhaltung von Kohärenz und Identität einer Erinnerungsgemeinschaft. Geschichtsbewusstsein besitzt nach Welzer eine kognitive und eine emotionale Dimension. Kognitives Geschichtswissen und emotionale Vorstellungen über die Vergangenheit verbinden sich miteinander, der emotionale Zugang zur familiären Vergangenheit dominiert dabei als Referenzsystem. Tradierung von Vorstellungen über die Vergangenheit im Familiengespräch sowie im erweiterten sozialen Umfeld eines Menschen besitzen damit denselben Stellenwert wie erlerntes Geschichtswissen, das Familiengedächtnis ist die primäre Quelle für Geschichtsbewusstsein.125 Im Falle Alessias, die ausgehend von ihrem familiär begründeten Geschichtsbild u.a. Geschichte studierte, um dieses mit Wissen zu untermauern, wird dieser Mechanismus besonders deutlich.
124
Vgl. Welzer 2002: 196.
125
In seiner Studie über Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus in deutschen Familien und den Umgang mit Täterschaft (2002) orientiert sich Harald Welzer an den Erzählstrukturen sowie deren Wirksamkeit. Für den deutschen Kontext stellt er in diesem Zusammenhang die begrenzte Wirkung von Aufklärungsprogrammen über die NS-Vergangenheit fest: »Paradoxerweise scheint es gerade die gelungene Aufklärung über die Vergangenheit zu sein, die bei den Kindern und Enkeln das Bedürfnis erzeugt, die Eltern und Großeltern im nationalsozialistischen Universum des Grauens so zu platzieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt.« (Welzer 2002: 10-13).
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Die Beziehungsdynamiken in der Familie B. wurden durch Michele und seine Kriegsvergangenheit dominiert. Die ganze Familie trug mit ihm zusammen die Last seiner Vergangenheit, wie Francesco es formulierte. Alle Kinder hatten eine individuelle Form des Umgangs mit dem Erbe des Vaters gefunden, niemand konnte sich davon freimachen. In der Wahrnehmung seiner Kinder gab es wenig Platz für die Entwicklung eigener und vielleicht konträrer politischer Identitäten in der engen Familienstruktur. Die soziale Verortung der Familie im der faschistischen Nachkriegsszene wurde als Faktor der Einschränkung wahrgenommen. Im Falle der Familie B. zeigt sich deutlich, wie eng Eltern und Kinder miteinander verbunden sind und wie Schicksale über Generationen ineinander verstrickt bleiben. Traumatische Kriegserfahrungen126 wirken im Familiensystem, beeinflussen die Beziehungsdynamiken und können unverarbeitet über Generationengrenzen hinweg an Nachkommen weitergegeben werden.127 Voraussetzung für eine Tradierung traumatischer Erfahrungskomplexe im familiären Kontext ist die Annahme einer starken (Ver-)Bindung zwischen den Generationen. Die psychische Struktur des Generationenzusammenhangs beruht auf einer reziproken Beziehungsgestaltung, bei der auch das Aushandeln von Machtdiskursen eine Rolle spielt. Im transgenerationalen Beziehungsgeflecht greifen komplexe Mechanismen der Beziehungsaushandlung, die mit verschiedenen Identifizierungsprozessen im familiären Gefüge verbunden sind. Kinder sind den traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen eines oder beider Elternteile unabhängig von der Struk-
126
Vgl. Kapitel 3.1.2.
127
Anlass für Forschungen zur Weitergabe von Traumata war das vermehrte Auftreten von Symptomen bei Nachkommen von Überlebenden des Holocaust. Seit den 1960er-Jahren verstärkt in den Blick von Therapeuten und Wissenschaftlern gerückt, führten diese Erkenntnisse jedoch erst seit Ende der 1980er-Jahre zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den weitreichenden Folgen. Zu transgenerationaler Weitergabe aus psychologischer Perspektive vgl. Kestenberg (1993), Kogan (2008) und Rosenthal (1997) mit ihren Forschungen über Nachkommen von Holocaustopfern in Israel in der zweiten und dritten Generation sowie die Arbeiten von Wardi (1990), Spiegel/ Tyrangiel (2002) und Leuzinger-Bohleber (2003); Tradierungstheorien, die einen besonderen Schwerpunkt auf die Wirksamkeit des Ungesagten legen finden sich bei Eckstaedt (1989), Moser (1992), Bar-On (1993), Rosenthal (1995), Brunner/ Seltmann (2005); zu transgenerationaler Weitergabe aus geschichtswissenschaftlichpsychologischer Perspektive siehe Lamparter at al. (2013), aus anthropologischer Perspektive Argenti/ Schramm (2010).
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tur der jeweiligen familiären Kommunikation ausgesetzt, sei sie von einem übersteigerten Mitteilungsbedürfnis oder von Schweigen oder Mischformen aus beidem geprägt. Transgenerationale Dynamiken sind unabhängig vom Grad der Bewusstheit der einzelnen Familienmitglieder über die Vorgänge. Nachkommen können durch die traumatischen Erfahrungen bis zur Generation der Enkel oder sogar die vierte Generation beeinflusst werden.128 Da seelische Bindung zu jeder nachfolgenden Generation besteht, ist die transgenerationale Weitergabe hinsichtlich der involvierten Generationen theoretisch unbegrenzt. Die seelische Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern ermöglicht die Übernahme starker Emotionen oder belastender seelischer Zustände der Eltern durch die Kinder sowie eine distanzlose Verstrickung in deren Problematiken. Solche Mechanismen sind vielschichtig, komplex und abhängig von der individuellen psychischen Konstitution sowie dem Grad der Vulnerabilität. Konzepte der transgenerationalen Übertragung basieren in erster Linie auf dem psychoanalytischen Modell der Übertragung und Gegenübertragung Freuds.129 Nach Kellermann (2001) lassen sich vier Theorien der transgenerationalen Weitergabe unterscheiden: die psychodynamische Perspektive, die sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Mechanismen der unbewusst übertragenen Emotionen fokussiert, soziokulturelle Theorien, die die Erziehung in den Vordergrund stellen, die systemische Theorie, welche auf innerfamiliären Dynamiken der Verstrickung beruht, sowie biologische Theorien, die von einer Vererbung physischer und psychischer Schwächen ausgeht. Spiegel/ Tyrangiel (2002) beschreiben aus einer psychodynamischen Perspektive heraus Mechanismen der Weitergabe von Traumata prinzipiell als eine Form des Verschwimmens von Generationengrenzen. Diese erschweren eine gesunde Autonomieentwicklung von Kindern,130 die in belastende Schicksale der Eltern verstrickt bleiben – meist in dem Versuch, das Belastende für die Eltern zu lindern. Mechanismen der Weitergabe von im Krieg erlebter Gewalterfahrung und Traumatisierung sowie unbearbeiteter Tätererfahrung können vor diesem Hintergrund unterschiedliche Formen annehmen: • Kind wird zum Werkzeug der Wiederholung des elterlichen Traumas, Weitergabe unverarbeiteter Gefühle (z.B. Aggressionen und Trauer) an das Kind • Traumatisierung des Kindes durch emotionale Unzulänglichkeit der Eltern
128
Vgl. Ruppert 2005: 90.
129
Vgl. Moré 2013.
130
Siehe auch Leuzinger-Bohleber 2003: 120/ 121.
238 | Neofaschismus in Italien
• Imagination der Erlebnisse der Eltern in der Phantasie und dadurch Traumatisierung des Kindes • Traumatisierung durch den Verlust des eigenen Selbst, Kind opfert Entwicklung des eigenen Selbst zugunsten eines Ersatzlebens für die Eltern.131 Auf den ersten Blick schien das Selbstbild Micheles als RSI-Veteran und Opfer in einer feindlich gesinnten antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft für den Zusammenhalt in der Familie maßgeblich verantwortlich zu sein, da dies Dynamiken der Verteidigung seiner Person sowie seiner politischen Überzeugungen durch Familienmitglieder im Außen generierte. Auf den zweiten Blick konditionierten verschwiegene Aspekte seiner Kriegsvergangenheit wie Täterschaft die Familiendynamik in ebenso zentraler Weise. Schweigen über Täterschaft erfordert Taktiken der Verschleierung, Rechtfertigung und der gemeinsamen Einhaltung von Tabus. Solche Familiendynamiken können auf verschwiegene, u.U. traumatische Ereignisse sowie deren transgenerationale Weitergabe über verschiedene Generationen verweisen: »Formen und Strategien der Abwehr selbst verweisen indirekt auf das Verschwiegene oder Verheimlichte und legen die oft intuitiv aufgenommene Spur zu traumatischen Ereignissen oder peinlich gehüteten Geheimnissen in der Familie, sie sind die ›Wegweiser‹ der unbewussten und ungewollten Übermittlungen zwischen den Generationen.« (Moré 2013: 12)132
Bei allen Kindern waren Belastungen durch die Täterschaft Micheles im Krieg erkennbar. Diese entstehen bei Kindern von Tätern vor allem durch unbewusste Identifizierung mit zerstörerischen elterlichen Introjekten.133 Bei solchen Introjekten handelt sich um unbewusst übertragene Elemente, die dem Ich fremd sind und
131
Vgl. Spiegel/ Tyrangiel 2002: 47.
132
Vgl. auch Main 1995.
133
Für den Umgang mit Täterschaft bei Kindern von Tätern des Nationalsozialismus stellt Hirsch fest, dass auch uneingestandene Schuld an Kinder weitergegeben werden und zu Problematiken in der Kindergeneration führen kann. Als zentrales Moment der Aufarbeitung von Schuld und Täterschaft wird gemeinsame Trauer um die Opfer genannt: »Die uneingestandene Schuld der Eltern bildet im Selbst des Kindes ein Introjekt, von dem Schuldgefühle ausgehen – nicht nur die Opfer haben die Schuldgefühle und empfinden die Scham, die die Täter nicht haben können oder wollen, auch deren Kindern wird das Unausgesprochene implantiert […]. Die Nachgeborenen schämen sich, Deutsche zu sein, können mit Juden nicht unbefangen umgehen, fühlen sich verantwortlich für etwas, was vor ihrer Geburt geschah. Und zwar gerade dann,
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auch als fremd erlebt werden. Seit den 1980er-Jahren hat eine Sensibilisierung für die Auswirkungen von Traumata auf der Seite der Täter stattgefunden.134 Für Nachkommen von Tätern stellt sich oft die Frage nach dem Potential zum Täter in ihnen selbst. Der Versuch, ein gutes Kind zu sein und gleichzeitig die Taten der Eltern bzw. eines Elternteils zu kennen und zu akzeptieren, kann solche Kinder in einen großen inneren Zwiespalt bringen135 (vgl. Alessia und Francesco). Für die Nachkommen stellt sich die oft unlösbare Frage nach der Kategorisierung der Eltern bzw. Großeltern. Charakteristisch für Nachkommen von Tätern ist u.a. ein gefühlter Loyalitätszwang den Eltern gegenüber (vgl. Alessia und Francesco).136 Studien belegen die Transformation nicht anerkannter Schuld bei Eltern in Schuldgefühle bei den Kindern,137 die das Gefühl der Verpflichtung zur Loyalität noch verstärken können. Die Täterschaft Micheles im Krieg und die Opfer schienen auf verborgene Art und Weise die Familiendynamiken zu gestalten. Die gesamte Familie positionierte sich bis in die dritte Generation um das Sprachtabu herum und sorgte dafür, dass es eingehalten wurde – eine Dynamik, die vor allem in dem Augenblick sichtbar wurde, als Antonio dieses Tabu erstmalig brach. Sichtbar wurde außerdem die Belastung in der Kindergeneration durch die Intensität übertragener Emotionen wie Wut, Angst, Ohnmachtsgefühle (vgl. Alessia) sowie der als Last empfundenen Schuld des Tötens (vgl. Antonio und Francesco). Francesco sprach immer wieder von der Bürde, die sein Vater aufgrund des Tötens trage und mit ihm die gesamte Familie; er spürte und fühlte Situationen des Tötens nach. Besonders diese sinnliche Imagination des Tötens im Krieg verweist auf die Intensität transgenerationaler Mechanismen der Weitergabe.
wenn die Eltern eben diese Gefühle nicht haben können, da sie sich mit ihrer Verantwortung und ihrer Schuld nicht auseinandergesetzt hatten. Wenn sie es konnten, waren sie auch in der Lage, mit ihren Kindern darüber zu sprechen – und mit ihnen zu trauern.« (Hirsch 1997: 307). 134
Zu transgenerationalen Weitergabemechanismen im Kontext von Täterschaft siehe vor allem die Studie über Kinder von Nazi-Tätern von Sichrovsky (1987) sowie spätere Arbeiten von Bar-On (1993), Roberts (1998), Rosenthal (1995), Eckstaedt (1996), Moser (1992) und Brunner/ Seltmann (2006).
135
Vgl. Bar-On 1993: 290.
136
Vgl. Moré, beobachteter Loyalitätszwang bei Kindern von Tätern (Moré 2013: 10).
137
Vgl. Bar-On 1993, Bergmann et al. 1995, Hirsch 1997, speziell zu unbewusst übernommenen Schuldgefühlen siehe Bar-On 1993: 301, Leuzinger-Bohleber 2003: 125/ 126, Moser 1992: 406.
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Alessia machte die Verteidigung ihres Vaters zu einem zentralen Lebensinhalt. Sie richtete damit ihr Leben auf das ›Reinwaschen‹ seiner Person aus und hielt sich an das Sprachtabu. In unseren Gesprächen verdeutlichte sie trotzdem immer wieder durch ihre Gestik das Töten, wenn sie über Kriegserlebnisse ihres Vaters sprach. Damit brachte sie ihre empathische Verbundenheit mit den Opfern zum Ausdruck. Ihre Körpersprache zeigte im Gegensatz zu ihren Worten, wie nah ihr Gewalt und Tod als Aspekt der Vergangenheit ihres Vaters gingen, auch, wenn sie nicht darüber sprach. Ihre Angst, das Bild des geliebten und von der antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft in ihren Augen zu Unrecht verachteten Vaters zu verlieren, ließ sie in Furcht vor der Wahrheit verharren und eine mögliche Täterschaft ihres Vaters ausblenden. Trotzdem bat sie mich schließlich um eine Wallfahrt für die Seele ihres Vaters – vielleicht war der Glaube ihre einzige Möglichkeit, mit der Täterschaft ihres Vaters umzugehen und den schuldigen Vater als ›guten‹ Menschen zu sehen.138 Trotz ihrer Bildung und ihrer reflektierten Umgangsweise war Alessia auch eine wütende Frau. Eine Wut, die ihr Vater und sein Schicksal in ihr auslösten. Die emotionale Intensität verwies auf den Grad der Verstrickung in das Schicksal ihres Vaters. Antonio brachte die größte (physische) Distanz zwischen sich und seinen Vater und konfrontierte ihn aus dieser Position heraus als einziger mit seiner Schuld. Auch für ihn stellten die Kriegserfahrungen des Vaters und vor allem seine Täterschaft offenbar eine Belastung dar. Er brach das Familientabu und wurde von den übrigen Familienmitgliedern in seine Schranken verwiesen, um die bestehende Familiendynamik des Schweigens über die Täterschaft des Vaters nicht zu gefährden. Über Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe blieben alle Kinder Micheles in sein Schicksal verstrickt. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass zur Aufrechterhaltung einer spezifischen Familiendynamik jeweils beidseitige Beziehungsarbeit nötig ist, dass Kinder und Eltern gleichermaßen daran beteiligt sind. Der innerfamiliäre Raum wird durch die Folgen der Kriegserfahrung existenziell geprägt. Der psychische und emotionale Gehalt von Familiendynamiken wirkt auf den sozialen und politischen Rahmen in dem Maße ein, in dem die Mitglieder der faschistischen Nachkriegsszene diese aus ihrer familiären Sozialisierung und Konditionierung heraus gestalten. Wo sich unverarbeitete Kriegstraumata und Tä-
138
Vgl. dazu Hauschild und seine Analyse der Figur Kay, Ehefrau von Michael Corleone im Mafiaroman »Der Pate« von Mario Puzo (1969), die nur im wahren Glauben eine Möglichkeit findet, mit der Grausamkeit der Familie ihres Mannes umzugehen, indem sie für seine Seele betet: Kays »devote Trance«. (Hauschild 2008: 127)
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terschaft nicht bewältigen lassen, können sie blind in politischen Aktivismus übersetzt werden, die politische Umsetzung und Inbetriebnahme familiärer Traumata sind eine Übertragung des Individuellen in den Raum des politisch organisierten Kollektivs. Beide Sphären sind nicht voneinander trennbar. 3.4.4 Familiendynamik III: Gefahr der Psychotherapie, wenn das Trauma ans Licht kommt Psychische Probleme oder Auffälligkeiten bei Kindern von RSI-Veteranen wurden in der Regel verschwiegen und innerhalb der faschistischen Nachkriegsszene nur selten als solche benannt. Zum einen sind in Italien als katholisch geprägtem Land psychische Auffälligkeiten sowie deren Behandlung in Form einer Psychotherapie bis heute ein von der breiten Gesellschaft sowie der Kirche eher wenig akzeptierter Bereich. Die katholische Kirche bietet ihren Mitgliedern mit ihrem System der Heiligen ein Lösungssystem für emotionale und psychische Probleme in Form (magischer) Praktiken wie Beichte und Fürbitte.139 Dies beeinflusst Beurteilung, Analyse und Vorstellungen von Heilung psychischer und emotionaler Krisenzustände. Zum anderen impliziert das faschistische Heldennarrativ mit seinen Sprachtabus sowie der starke Fokus auf traditionelle Werte in der neofaschistischen Szene für die Mehrheit der Mitglieder die Negierung psychischer Probleme im Allgemeinen. Dafür verantwortlich sind auch faschistische Identitätskonzepte, die vor allem bei Männern Schwäche tabuisieren.140 Therapeutische Unterstützung wird in der Regel als Schwäche wahrgenommen. Die Fokussierung auf traditionelle Werte im Nachkriegsfaschismus erschwert eine Öffnung für Hilfsangebote wie die Psychotherapie, in der psychische Belastung als Problematik anerkannt und ernst genommen wird. Während meiner Forschung begegnete mir nur eine Ausnahme. Isabella, Tochter eines RSI-Veteranen, berichtete mir psychischen Problemen, die sie mit der Kriegsvergangenheit ihres Vaters in Verbindung brachte.
139
Zum Einfluss magischer paganer Praktiken auf den Katholizismus vgl. Favret-Saada (1979), Hauschild (2002) und De Martino (1982: 135).
140
Vgl. an dieser Stelle die Beobachtungen von Moré zur vergleichsweise sehr geringen Inanspruchnahme therapeutischer Angebote bei Tätern des NS-Regimes aufgrund der Prägung durch die nationalsozialistische Ideologie (Moré 2013: 3).
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Isabella: stille Rebellion Isabella O., Tochter von Fabio O.,141 berichtete mir von einer mehrjährigen Psychoanalyse. Als Grund für die Therapie nannte sie u.a. ihr Unvermögen, mit der Kriegsvergangenheit ihres Vaters zurechtzukommen. Sie arbeitete sehr erfolgreich als Managerin in einer großen Firma, so dass sie finanziell gut aufgestellt war und fiel als willentlich unverheiratete Frau Ende dreißig ohne Kinder aus dem Rahmen. Über ihre Stellung in ihrer Familie sagte sie einmal: Io sono la più sensibile magari. Dentro mi sento ribelle, mi sento tutta tatuata. Pieno di tatuaggi. [Wahrscheinlich bin ich die sensibelste. Innendrin fühle ich mich wie eine Rebellin, ich fühle mich ganz und gar tätowiert. Voller Tattoos.]
Von außen war nicht viel davon zu sehen. Sie war eine sehr schöne Frau, immer perfekt gekleidet, höflich und zuvorkommend. Wir lernten uns nach meinem ersten Interview mit ihrem Vater kennen und trafen uns daraufhin regelmäßig. Sie habe sich große Sorgen gemacht, mir nicht genug erzählen zu können aufgrund ihrer fehlenden historischen Kenntnisse, sagte sie bei unserem ersten Gespräch. Sie habe jedoch über Jahre eine Psychoanalyse gemacht, da sie sehr sensibel sei, berichtete sie direkt am Anfang unseres ersten Gesprächs. Immer, vor allem, wenn sie über ihren Vater spreche, müsse sie weinen und tatsächlich kämpfte sie unser gesamtes Gespräch über mit den Tränen. Besonders viel habe sie in ihrem Leben um ihren bei Kriegsende erschossenen Großvater, den Vater ihres Vaters geweint, obwohl sie ihn nicht einmal gekannt habe. Ihr Vater selbst habe nie um ihn weinen können, sie habe seine Trauer gewissermaßen übernommen, erklärte sie mir und verbalisierte ganz direkt die Übernahme der aus ihrer Sicht unbearbeiteten Emotionen ihres Vaters. Ihrem Vater hätte es gutgetan, mit mir über seine Kriegsvergangenheit zu sprechen, bereits die wenigen bisherigen Gespräche hätten dies gezeigt, versicherte sie mir. Die Vorstellung, dass er mir von seinen Kriegserlebnissen erzählen könne, habe sie erleichtert. Denn sie sei sich sicher, dass er seine Kriegserfahrungen nicht verarbeitet habe. Offenbar erleichterte sie das Wissen darum, dass ihr Vater mit mir über den Krieg sprach und sie erhoffte sich, dass die in ihren Augen fehlende Aufarbeitung seiner Vergangenheit in unseren Gesprächen stattfinden könnte und diese eine therapeutische Funktion hätten. Sie war der Ansicht, ihr Vater habe keinen emotionalen Zugang zu seiner eigenen Vergangenheit, denn er spreche auf eine sehr unemotionale Art und Weise über den Krieg, seit sie sich erinnern könne. Sie hingegen habe seine Geschichten lebendig vor
141
Vgl. Kapitel 3.2.2.
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Augen, als habe sie den Krieg selbst erlebt. Beispielsweise die Aktionen gegen die Partisanen, an denen der Vater teilgenommen habe. Er habe auch Partisanen erschossen, sie sei sich darüber im Klaren und sehe diese Toten häufig vor sich. Daher könne sie auch keine Kriegsfilme sehen, nur Dokumentationen über den Krieg könne sie ertragen und auch das nur in Maßen. Jegliche Form von Gewalt in Filmen sei ihr zuwider. Auch bei Isabella ließ sich eine erhöhte Sensibilisierung in Bezug auf Gewalt feststellen. Sie habe eigentlich durch mich mehr über ihren Vater erfahren wollen, gestand sie mir. Für sie verkörperte ich also auch die Hoffnung auf einen neuen Zugang zu ihrem Vater und dem, worüber er mit ihr nicht sprechen konnte oder wollte. Die Weltsicht ihres Vaters sowie seine politischen Überzeugungen hatte sie weitestgehend übernommen. Seit jeher habe sie Probleme mit ›Kommunisten‹, erklärte sie mir: E i partigiani – quando sento la parola…non lo posso sentire. [Und die Partisanen – wenn ich das Wort schon höre…ich kann es nicht hören.]
Die überholte Wortwahl, links orientierte Personen Anfang des 21. Jahrhunderts noch pauschal als »Kommunisten« zu bezeichnen, schien ihr selbst nicht aufzufallen, eine familienhistorische Repression der Realität, die sich in der Sprache zeigte.142 Erst mit den Jahren habe sie einen Ausweg aus dieser Sackgasse gefunden, so dass sie heute in einer Firma von »Kommunisten« arbeiten könne: È una ditta di comunisti – quella davanti a me è figlia di un comunista, lei è comunista! E lo sanno come lo penso io. [Das ist eine Firma von Kommunisten – die mir gegenüber ist die Tochter eines Kommunisten, sie ist Kommunistin! Und sie wissen genau, was ich darüber denke.]
Jetzt erst sei sie in der Lage, diese Personen zu ertragen. Die Vergangenheit des Vaters, seine Kriegserlebnisse, Opfer-, Täter- und Feindkategorien hatten alle Bereiche ihres Lebens strukturiert, auch den Berufsalltag. Zu Hause habe ein ›Regime‹ geherrscht, sagte sie mit einem scherzhaften Lachen, der Vater sei sehr autoritär gewesen. Nur eine Seite der Vergangenheit sei erinnert worden und zwar die der Soldaten der RSI. Alles andere sei negiert worden, es habe sogar ein Redeverbot für bestimmte, dem Vater nicht genehme Themen gegeben. Fast zwang-
142
Vgl. Wortwahl von Alessia B. in Kapitel 3.4.3.
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haft schien der Vater ihren Alltag noch als Erwachsene, die bereits vor vielen Jahren von zu Hause ausgezogen war, zu beherrschen. Er diktierte ihre politische Haltung, sie dachte in seinen Kategorien, wählte in seinem Sinn: Non voterei mai a sinistra. Chiedo sempre a mio padre che votare. [Ich würde nie links wählen. Ich frage immer meinen Vater, was ich wählen soll.]
Und erklärend fügte sie hinzu, wie nah sie sich ihrem Vater fühle: Mi sento molto vicina a lui. [Ich fühle mich ihm sehr nah.]
Da ihr Vater seine Vergangenheit nie aufgearbeitet habe, sei sie selbst in einer Psychotherapie gewesen. Das habe ihre sehr geholfen. Ihren Vater hingegen hätten der Glaube und die Möglichkeit zur Beichte gerettet: Penso che la religione lo abbia salvato. Si poteva confessare. Altrimenti come si fa. [Ich denke, die Religion hat ihn gerettet. Er konnte beichten. Wie soll man sonst zurechtkommen.]
Damit setzte sie Religion und Psychotherapie als zwei Systeme gleich, die in ihren Augen emotionalen Druck und psychische Problematiken zu lindern im Stande waren. Einen intimen Raum für die Verbalisierung persönlicher Probleme und vor allem Schuld bot in ihren Augen in erster Linie die katholische Kirche, hier war Beichte möglich und damit die Absolution von persönlicher Schuld. Der Soziologe Alois Hahn vergleicht die Rahmenbedingungen und Effekte religiöser Beichte und moderner Psychoanalyse miteinander: »Auch hier wird eine Form von Selbstkontrolle durch Selbstenthüllung angestrebt. Dabei ist auch hier der Analytiker-Beichtvater erforderlich, um das Geheimnis des Selbst zu lüften und aus dem Unbewussten zu heben. Zugleich aber ist die Sitzung selbst nach außen hin natürlich geheim.« (Hahn 1997: 170)
Im Kontext von Prozessen der Selbstdomestikation, welche die Moderne charakterisieren, spielen nach Hahn im Rahmen der Individualisierung Selbstkontrolle, Selbsterkenntnis und der Umgang mit Geheimnissen und deren (kontrollierte) Enthüllung eine zentrale Rolle. Beichte und Psychoanalyse setzt er in ihrer Funktion gleich, sie sind »als verhüllte Enthüllungen, die Synthesis zwischen Selbstentblößung und Selbstverdeckung« (Hahn 1997: 170).
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Gewalterfahrung sowie Gewaltanwendung und Täterschaft aus der Kriegsvergangenheit ihres Vaters waren für Isabella greifbar nahe und führten zu einem für sie problematischen Verhältnis zu Gewalt an sich, obwohl sie selbst nie Gewalt erlebt hatte. Filme, in denen Gewalt gezeigt wurde, konnte sie nicht ansehen. Die unerledigte Trauer ihres Vaters über den Tod ihres Großvaters bei Kriegsende fühlte sie als eigene Trauer, von der sie selbst sagte, sie habe diese übernommen, da der Vater keinen Zugang zu seinen eigenen Emotionen habe. Dieser Vater, der sich Zeit seines Lebens offen als Faschist bezeichnet hatte und in dessen Haus nur die Version der Vergangenheit aus Sicht der faschistischen Veteranen gelten durfte, hatte ihr Leben grundlegend bestimmt. Die Unterteilung ihrer Mitmenschen in politische Kategorien, die den Erfahrungen ihres Vaters entsprachen, beeinflusste auch ihre sozialen und beruflichen Kontakte. Sie blieb in seinem dualistischen Weltbild gefangen, ein Herauslösen musste unweigerlich mit einer für sie schwer zu realisierenden Distanzierung zum Vater einhergehen. Um mit diesem Erbe zurechtzukommen, hatte sie sich professionelle Hilfe gesucht, da die Last alleine nicht zu bewältigen gewesen war. Ihre Eltern hatten wenig Verständnis für die Therapie gezeigt, es war ihr jedoch möglich gewesen, sich darüber hinwegzusetzen. Die Tabuisierung psychischer Belastungen und traumatischer Konsequenzen der Kriegsvergangenheit der RSI-Veteranen zu durchbrechen, zeugte von einem hohen Leidensdruck. Psychotherapie, die traumatische Kriegsvergangenheit und Täterschaft ans Licht bringen und zu einem verhandelbaren Gegenstand machen konnte, gefährdete das Veteranen-Narrativ sowie familiäre Dynamiken des Schweigens. Auch im familiären Kontext war therapeutische Aufarbeitung daher mit Gefahr für das Selbstbild und das sensible Gleichgewicht des Umgangs mit Täterschaft durch die RSI-Veteranen selbst verbunden. Auch Isabella verdankt dem Erbe ihres Vaters, der Verhaltenskultur innerhalb der faschistischen Netzwerke sowie einer engen Verzahnung zwischen politischem und sozialem Raum auf der anderen Seite wahrscheinlich viel – vielleicht auch ihren beruflichen Erfolg. Diese unterschiedlichen Dimensionen verdichten sich zu einem komprimierten Gesamtbild, das die Bedeutung sozialer, religiöser, politischer und familiärer Komponenten in ihrem Zusammenspiel als Ressource und zugleich Determinanten im Lebensweg einer Person aufzeigt. Familismus und Klientelismus sind auch Potenzial der italienischen Gesellschaft und Rahmen für Entwicklung und Aushandlungsprozesse von Identität. Wie Familiengeschichte, Sozialgeschichte und Religionsgeschichte sowie die langfristige Wirkmacht von Kriegen ineinandergreifen und sich manifestieren, wird an Isabella und der engen Verzahnung zwischen Trauma, innerfamiliärer Dynamik, sozialen und politischen Netzwerken deutlich.
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3.4.5 Exkurs: Sohn eines Partisanen Drei Monate vor Ende meiner Feldforschung lernte ich Gianni C. kennen, Sohn eines Partisanen. Er war in einem akademischen Beruf tätig und eng mit einem meiner Hauptinformanten aus der faschistischen Nachkriegsszene befreundet. Giannis Vater war vor 1943 in Zara, Kroatien, stationiert gewesen und hatte dort im Krieg gegen jugoslawische Rebellen gekämpft. Wie viele derjenigen, die nach 1943 gegen das faschistische Regime kämpften, war er zuvor nicht prinzipiell gegen das faschistische Regime gewesen.143 In Kroatien habe sein Vater jedoch Kriegsverbrechen des italienischen Militärs beobachtet,144 erzählte er mir. Hin und wieder habe er faschistische Soldaten mit Skalps von Widerstandskämpfern von Einsätzen zurückkehren sehen, was ihn nachhaltig schockiert habe. 1943 habe er sich daher der italienischen Widerstandsbewegung auf dem Territorium der RSI angeschlossen. Nach sechs Monaten sei er von faschistischen Truppen gefangen genommen und nach Triest gebracht worden, Ziel sei das italienische Konzentrationslager Risiera San Sabba145 gewesen. Er habe entkommen können und sich in einen Konvoi deutscher Soldaten in Richtung Deutschland geschmuggelt. In Deutschland sei er dann jedoch entdeckt, als Partisan entlarvt und nach Buchenwald deportiert worden. Eineinhalb Jahre lang sei er dort gefangen gehalten worden, habe jedoch überlebt. Noch Jahre nach seiner Rückkehr habe der Vater Albträume von Buchenwald gehabt. Über seine sechs Monate in der Resistenza habe der Vater nie mit ihm gesprochen. Gianni C. war sich jedoch sicher, dass der Vater in dieser Zeit schlimme Dinge erlebt und auch getan habe. Sicherlich habe er zahlreiche faschistische Soldaten getötet, vermutete er. Getötet werde im Krieg immer. Sein Vater habe oft zu ihm gesagt, die Frage sei immer nur, ob das größere Ziel eines Krieges erstrebenswert sei. Als Gianni begann, über die Täterschaft seines Vaters im Krieg zu sprechen, schaute er zu Boden und senkte zum ersten Mal den Blick, seit wir uns unterhielten. Er rieb sich mit der Hand über die Stirn, seine Zigarette hielt er noch immer
143
Der Massenkonsens in der Bevölkerung ging erst im Zuge der steigenden militärischen Niederlagen zurück (vgl. Schieder 2010: 10).
144
Zu den auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien durch das italienische Militär verübten Kriegsverbrechen siehe Osti Guerrazzi (2010: 238-279), Rossi/ Giusti (2011), Conti (2011: 241-304) und Iuso (2008: 31-100).
145
Zur Geschichte der italienischen Konzentrationslager siehe Capogreco (2004), Osti Guerazzi (2004) und Osti Guerazzi/ Di Santis (2005), speziell zur Risiera di San Sabba siehe Matta (2001).
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unangezündet und ungeraucht in der Hand – ein Requisit, an dem er sich festzuhalten schien. In der italienischen Nachkriegsgesellschaft habe sein Vater zu den Helden gehört, die für das antifaschistische Italien ihr Leben riskiert hätten. Er war Überlebender eines deutschen Konzentrationslagers, seine Täterschaft im Rahmen der Resistenza war offiziell legitimiert und wurde in der Gesellschaft positiv bewertet. Für seinen Sohn blieb die Frage nach der Täterschaft des eigenen Vaters trotzdem virulent, das Schweigen seines Vaters über seine Taten im Bürgerkrieg habe ihn nie losgelassen. Vor allem seit dieser vor einigen Jahren verstorben sei, mache er sich vermehrt Gedanken darüber – die Möglichkeit, ihn danach zu fragen, habe er leider vertan. Er selbst sei seinem Vater gefolgt in seinen politischen Entscheidungen und wähle links. Alle seine Freunde seien jedoch di destra [rechts]. Das schien mir bemerkenswert – obwohl er sich politisch links verortete, bewegte er sich im hauptsächlich im politisch entgegengesetzten sozialen Netzwerk. Vielleicht blieb er durch diese ambivalente Haltung der Vergangenheit seines Vaters treu, der zunächst ein Befürworter des faschistischen Regimes gewesen war und sich erst später der italienischen Widerstandbewegung angeschlossen hatte. Vielleicht hatte ihm das faschistische Netzwerk aber auch einfach nur im Hinblick auf seine Karriere genutzt. Trotz der gesellschaftlichen Legitimation der Täterschaft seines Vaters im Krieg beschäftigte ihn diese genauso wie dessen dezidiert traumatische Kriegserfahrungen als Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus. Gianni konnte aufgrund der gesellschaftlichen Legitimation des Vaters als Opfer der Faschisten und Held der Resistenza jedoch eine andere Haltung zu ihm und seiner Kriegsvergangenheit entwickeln, denn er musste seinen Vater nicht aufgrund einer marginalisierten sozialen und politischen Position verteidigen. Durch den offenbar reflektierten Umgang des Vaters mit der eigenen Vergangenheit und den Opfer- und Tätererfahrungen schien der Druck der transgenerationalen Übertragung von Emotionen und unverarbeiteten Kriegserlebnissen auf den Sohn deutlich geringer. Der fehlende emotionale Druck aus der Vater-Sohn-Beziehung verminderte den Zwang unbedingter Loyalität, so konnte er leichter zwischen verschiedenen politischen Sphären und Netzwerken hin- und herwechseln und dies mit sich vereinen. Nachkommen von Soldaten können unterschiedlich mit der Vergangenheit ihrer Väter umgehen. Die öffentliche Kategorisierung von Kriegstaten durch das soziale Umfeld und die rechtlichen Grundsätze eines Staates sind dabei wichtige Faktoren. Dieses Beispiel verweist auf die entscheidende Bedeutung der sozialen und politischen Verortung von Familien für Prozesse der individuellen Verarbeitung psychisch und emotional belastender und traumatischer Kriegserfahrungen sowie Täterschaft im transgenerationalen Zusammenhang. Deutlich wird aber
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auch, dass Gianni als Sohn eines Widerstandskämpfers ähnliche Fragen nach Täterschaft beschäftigen wie Nachkommen von RSI-Veteranen und dass die Vergangenheit dieses Vaters ebenso Dynamiken politischer und sozialer Positionierung des Sohnes beeinflusst.
3.5 VERFLECHTUNG VON FAMILIÄREM UND POLITISCHEM RAUM Einschneidende Erfahrungen wie Krieg und Täterschaft prägen und strukturieren über Generationen hinweg familiäre Dynamiken. Über das Familiengespräch wird Vergangenheit auf eine Weise verfertigt, die das gewohnte Gleichgewicht innerhalb familiärer Beziehungsstrukturen garantiert. Das Familiengedächtnis besitzt dabei denselben Stellenwert wie erlerntes Geschichtswissen. (Traumatische) Kriegserfahrungen wirken im Familiensystem aber auch auf nicht bewusst verhandelte Weise: sie beeinflussen die Beziehungsdynamiken und können unbearbeitet über Generationengrenzen hinweg an Nachkommen weitergegeben werden. Die seelische Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern ermöglicht die Übernahme starker Emotionen oder belastender seelischer Zustände durch Kinder über eine distanzlose Verstrickung in deren Problematiken. Dies geht meist mit einem Verschwimmen von Generationengrenzen einher, was eine gesunde Autonomieentwicklung von Kindern erschwert. Für die Nachkommen von Tätern stellt sich oft die Frage nach dem Potential zum Täter in ihnen selbst, als problematisch wird die Kategorisierung der (geliebten) Eltern oder Großeltern im Spannungsfeld familiärer Erzähltraditionen und gesellschaftlicher und juristischer Bewertungen erlebt. Nicht realisierte Schuld der Eltern kann auch zu (unbewusst) übernommenen Schuldgefühlen bei Nachkommen führen. Innerfamiliäre Dynamiken gestalten sich um Brüche, Verschwiegenes oder Verdrängtes herum. Zentral ist dabei das Aufrechterhalten der gewohnten Beziehungsdynamiken und Tabuisierungen innerhalb von Familien, um das bestehende familiäre Gleichgewicht nicht zu gefährden. Auch die Toten spielen dabei eine Rolle: zum einen geht es um Familienmitglieder, die im Krieg zu Tode kamen, zum anderen um Menschen, deren Tod von den Soldatenvätern oder -großvätern im Krieg verschuldet wurde. Der Umgang mit diesen Toten gestaltet Familiendynamiken, egal ob sie erinnert oder verdrängt werden. Im Kontext von Krieg, Gewalterfahrung und gewaltsamem Tod handelt es sich meist um unruhige oder unerlöste Tote – immer gemessen an den Lebenden, die sich zu ihnen in Beziehung setzen, nach ihrem inneren Gefühl zu ihnen handeln und durch Trauer oder Schuld an diese Toten gebunden sind. Vor
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allem der Umgang mit Täterschaft und Schuld beeinflusst maßgeblich familiäre Beziehungsgeflechte. Das Erbe der Kriegserfahrung stellt für die Nachkommen der RSI-Veteranen in vielen Fällen eine große Herausforderung dar, nicht nur aufgrund der Schwere der jeweiligen individuellen Kriegserfahrungen und Täterschaft, sondern auch vor dem Hintergrund der spezifischen sozialen Situation der Familien des Nachkriegsfaschismus. Gemeinsam ist den Nachkommen solcher Familien die Erfahrung des Hineingeboren-Werdens in eine Familie, die eine Welt verkörpert, innerhalb derer der Vater in der Regel als Kriegsheld und Opfer der Gewalt italienischer Partisanen dargestellt wird. Mit dem Schuleintritt erfolgte in der Regel die erste Konfrontation mit einer sich zur familiären Normalität konträr verhaltenden sozialen Realität, in der die faschistischen Veteranen offiziell die Position der Täter bekleideten und abgewertet wurden. Die Diskrepanz sowie das Konfliktpotenzial beim Übergang zwischen beiden Welten sind groß und bedeuten in den meisten Fällen eine große Herausforderung für die Identitätsbildung der Kinder. Die Sichtbarkeit politischer Zugehörigkeit von Familien im engen sozialen Beziehungsgeflecht Roms war vor allem während der von starken politischen Spannungen und Terror geprägten 1970er- und frühen 1980er-Jahre, den anni di piombo, von großer Bedeutung. Der öffentliche antifaschistische Vergangenheitsdiskurs verstärkte Mechanismen der Solidarisierung mit den Eltern und deren Weltsicht zugunsten der Aufrechterhaltung der familiären Identität. Beobachtbar sind unterschiedliche Strategien, mit dieser Situation umzugehen. Einige Kinder von RSI-Veteranen übersetzten den Druck, der von den Vätern und ihrer Kriegsvergangenheit ausging, in politische oder berufliche Aktivität als Form der familiären Loyalitätsbekundung nach außen, andere distanzierten sich. Die meist engen Familienstrukturen und die daraus resultierenden starken Bindungen und Abhängigkeiten zwischen Familienmitgliedern erschwerten eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Eltern und verengten den Spielraum für die Entwicklung der Kinder und die Ausbildung konträrer Ansichten und Identitäten. Der Druck familiärer Loyalität ist hoch und darf nicht unterschätzt werden. Trotzdem existiert eine große Spannbreite an Umgangsformen und Reaktionen in der Kindergeneration, die von offen vertretener Loyalität bis hin zu Rebellion reicht (u.a. in Form der politischen Oppositionsbildung wie beispielsweise dem Eintritt in linke Parteien etc.). Auf jeden Fall setzt eine politische Subkultur aber enge Grenzen für die Identitätsbildung, die politische Meinungsbildung und die sozialen Bindungen von Kindern. Die starke Emotionalität sowie der politische Aktivismus vieler Nachkommen von RSI-Veteranen zeigen, mit welcher Intensität Kriegserlebnisse, Täterschaft und Schuld über Bindungen zu Vätern und Großvätern im Verborgenen wirken
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können, auch dann, wenn diese verdrängt und nicht offen verhandelt werden. Wo sich unverarbeitete Traumata und Täterschaft nicht bewältigen lassen und unverhandelt bleiben, werden sie oft (blind) in politischen Aktivismus übersetzt. Die politische Umsetzung und Inbetriebnahme familiärer Traumata ist eine Übertragung des Individuellen in den Raum des politisch organisierten Kollektivs, beide Sphären sind nicht voneinander trennbar, der familiäre Raum wirkt auf die politischen Netzwerke der faschistischen Szene. Politische Positionierung geht damit weit über rein ideologische Haltungen hinaus, es geht dabei auch um Identitätsbildung innerhalb des familiären Gefüges, um die soziale Positionierung der Familie als Ganzes, um Zugehörigkeit und Loyalität von Familien innerhalb der faschistischen Subkultur. Die Entwicklung des Einzelnen in einem engen familiären und sozialen Raum mit sich überlappenden Netzwerken ist von all diesen Faktoren abhängig. Die Analyse des individualpsychologischen und familiären sowie des sozialen und politischen Raumes muss deren strukturelle Überschneidungen und wechselseitige Abhängigkeiten berücksichtigen: Familie und Politik sind zwei Räume, die auch über traumatische Gehalte und die Folgen innerfamiliärer Verstrickungen ineinandergreifen, sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Familiäre Erfahrungen, Traditionen und Verstrickungen, Familienstrukturen als soziale Mikrostrukturen wirken auf soziale und politische Netzwerke und gestalten diese. Familienstrukturen sind damit zentral für ein umfassendes Verständnis einer politischen Subkultur wie die des italienischen Nachkriegsfaschismus. Familiäre Zusammenhänge und Dynamiken erweisen sich als Basis für politische Netzwerke und zeigen, wie familiäre, soziale und politische Netzwerke in der italienischen Gesellschaft miteinander verflochten sind; Krieg, Traumata und Gewalt werden auch durch politische Aktionsformen therapiert. Diese Perspektive macht verstehbar, wie tief Brüche in einer Gesellschaft gehen können, wie sie über Generationen hinweg weitergegeben werden und bietet Erklärungsansätze sowohl für die aus deutscher Perspektive oft unverständliche Beschaffenheit der italienischen Erinnerungskultur sowie die seit 1945 konstant starke neofaschistische Szene in Italien.
4
Die Toten des Faschismus
4.1 TOPOGRAFIE DER TOTEN 4.1.1 Die Toten als kulturelle Reserve Trauerrituale und Totenkulte festigen Identitäten verschiedener sozialer Gruppen im gesellschaftlichen Gesamtgefüge und sind entweder konform oder antithetisch zur nationalen Gedenkkultur, die auch politische Machtstrukturen abbildet. Tod als Übergangritus im Sinne Van Genneps1 meint den Übergang von einem sozialen Zustand in einen anderen und bedeutet prozesshaften Wandel für die Lebenden, die in der Trauerarbeit und ihren rituellen Formen immer wieder eine neue Beziehung zu den Verstorbenen herstellen. Der Tod als abruptes und endgültiges Ereignis kann nach Hertz2 und Van Gennep als Prozess beschrieben werden, der verschiedene Phasen beinhaltet: Der Tote wird aus der sozialen Gemeinschaft herausgerissen. Diese muss sich im Folgenden mit dessen Verlust auseinandersetzen, indem sie die entstandene Lücke, die der Tote in der Gemeinschaft der Lebenden hinterlässt, mit neuer Bedeutung füllt und das Ereignis in einen für die Gemeinschaft konstruktiven Sinnzusammenhang stellt. Umgang mit dem Tod bedeutet auch Umgang mit dem verwesenden Körper, die Organisation der Bestattung und die Errichtung und Pflege der Grabstätten, an denen der Toten gedacht wird und an denen um sie getrauert werden kann. Die Verbindung zwischen den Hinterbliebenen und den Verstorbenen sowie die Identität der Lebenden im Angesicht der Toten wird an solchen Orten prozesshaft ausgehandelt und physisch immer wieder neu generiert. Erinnerung wird gemeinsam praktiziert und damit auch Kontinuität zwischen Generationen hergestellt. »Der Tod oder besser, das Wissen um unsere Sterblichkeit ist ein Kultur-Generator ersten Ranges« (Assmann 2000: 14): Auf
1
Vgl. Van Gennep 1986 [1909].
2
Vgl. Robert Hertz 2007[1907]: 65-180.
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einer individuellen Ebene gilt dies im Rahmen der Trauerarbeit sowie der persönlichen Sinnsuche, auf der kollektiven Ebene in Form der Konstruktion eines spezifischen kulturellen Gedächtnisses. Abbildung 4.1: Schema des Modells von Hertz
Quelle: Metcalf/ Huntington 1991:83 Das von Hertz entwickelte Schema über die Beziehung der Lebenden zu den Toten reduziert verschiedene kulturelle Formen des Umgangs mit den Toten auf die wesentliche Beziehung der Lebenden zum toten Körper der Verstorbenen.3 Der Verwesungsprozess macht einen Umgang mit der Leiche erforderlich, welcher die Basis sämtlicher Rituale von Tod und Trauer darzustellen scheint.4 Der Übergang der Toten in einen geordneten Zustand als tote Seelen in einer wie auch immer definierten Nachwelt, ist Gegenstand kollektiver und individueller Praktiken in ihren verschiedenen kulturellen Formen und steht in unmittelbarer Verbindung zum Umgang mit den Leichen selbst. Den Verwesungsprozess verlangsamende (Konservierung), beschleunigende oder verhindernde Praktiken (Skelettierung oder Kremation)5 sowie Riten der Zweitbestattung gehen mit sozialen und psychischen Verarbeitungsprozessen einher und stärken die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft der Hinterbliebenen. Kultur- und religionsspezifische Zeremonien
3
Vgl. Hauschild 1987: 231-233.
4
Zur methodischen Problematik der kulturübergreifenden, relativistischen Thanatologie siehe Macho (2000).
5
Vgl. Macho 2000: 106ff.
Die Toten des Faschismus | 253
und Trauerrituale machen den Kontakt zu den Toten physisch erfahrbar. Sie helfen, den Verlust und die Trauer zu kanalisieren, indem sie Erfahrungen und Emotionen in Handlung übersetzen und diese im sozialpolitischen Rahmen sinnhaft kontextualisieren. Totenriten beinhalten auch die Gestaltung der Topografie der Toten. Dabei handelt es sich um einen zentralen Aspekt von Kulturproduktion, der durch die jeweiligen historischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen oder Herausforderungen determiniert wird.6 Er dient dazu, menschliche Passivität im Angesicht des Todes zu verarbeiten und in sinnvolle Aktivität umzuwandeln.7 Nach Hertz ist die Phase der Trauer das psychosoziale Gegenstück zum Verwesungsprozess des Toten. Grundlage von Totenkulten ist damit die Körperlichkeit der Verwesung des Verstorbenen und die rituelle Organisation dieses Prozesses durch die Lebenden. 8 Macho bezeichnet die Arbeit am kulturellen Gedächtnis vor diesem Hintergrund als »Skelettierungspraxis […]: Das Zufällige, Formbare, Weiche, aber auch das Fleisch lebendiger Erfahrung und Kommunikation weicht im Laufe der Trauerzeit dem Notwendigen, Festgestellten und Harten, – dem Ossuar, dem Skelett, dem Schädel mit seinen Ornamenten, Zeichen oder Namen.« (Macho 2000: 120)
Die Beziehung der Lebenden zum Verstorbenen, einer Leiche, muss in eine Beziehung zu einem Toten transformiert werden, dessen Seele den Körper verlassen und in der Nachwelt der Toten ihren Platz eingenommen hat. Es handelt sich dabei um einen Verschiebungsprozess der Toten. Dieser strukturiert die Trauer, stärkt die Gemeinschaft und bietet zugleich die Möglichkeit zur sozialen Umstrukturierung.9 Die Lebenden können aus den Toten auch soziales und materielles Kapital schlagen, denn der Status der Toten ist direkt mit dem sozialen Status der Gemeinschaft der Lebenden in ihrem weiteren sozialen Gefüge verbunden bzw. spiegelt diesen wider. Der Umgang mit den Toten ist daher ebenso ein Faktor zur Instrumentalisierung und Machtausübung innerhalb sozialer Strukturen: Mächtigere regen die anderen zur Trauerarbeit an und organisieren diese. Somit helfen sie ihnen dabei und können zugleich Kapital daraus schlagen, was mit der Bewältigung von
6
Vgl. abendländische Epocheneinteilung und jeweils zugehörige Konzeptionen des Todes bzw. Konzepte des Sterbens bei Ariès (1976).
7
Vgl. Assmann 2000: 19.
8
Vgl. auch Macho, materialistische Perspektive als Grundlage für kulturwissenschaftliche Komparatistik des Todes (Macho 2000: 98ff.).
9
Vgl. Van Genneps Strukturmodell der Übergangsriten.
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Trauer nicht mehr viel zu tun hat. Die weniger Mächtigen lassen sich das gefallen und begehren sogar danach, weil sie ohne die organisierte Trauerarbeit ihren Verlust nicht bewältigen können oder weil sie am Prozess der Entstehung von Mikromacht Anteil haben wollen. Trauerarbeit und Totenkult sind im Kontext eines sozialen Machtgefüges ein Mittel zum Ausagieren performativ-politscher Interessen und zugleich Organisation der Trauerarbeit in ihrer Funktion als Zusammenhalt generierende Aktivität, die Traumabewältigung und Regeneration organisiert und fördert. Demnach sind Trauerarbeit und Totenkult direkt mit dem Problem bzw. dem Streben nach politischer Macht verbunden, was besonders bei den Veranstaltern oder Organisatoren von Zweit- oder Sekundärbestattung (secondary burial)10, deutlich wird. Hertz klammert diesen Aspekt in seinen Ausführungen weitestgehend aus, obwohl auch im südostasiatischen ethnographischen Material deutlich wird, dass der jeweilige Veranlasser, Sponsor oder Veranstalter der Ausgrabungsaktion bzw. der Wiederbestattung nach politischer Macht, nach Klanführerschaft strebt.11 Die Welt der Toten als eine aus der realen sozialen Welt ausgelagerte Sphäre, in der die genealogische Herleitung von Identität über Ahnen verhandelt wird, erweitert den sozialen Spielraum einer Gemeinschaft. Im Namen der Toten kann eine Gemeinschaft auf eine für die Lebenden günstige Art und Weise handeln. Sie kann beispielsweise das Ziel der Verbesserung der eigenen sozialen Stellung durch die Einforderung von Respekt für die Toten verfolgen. Friedhöfe und Orte des Gedenkens sind der physische Referenzrahmen für rituelle Praktiken des Totenkultes und damit verbundener soziale Prozesse der Wandlung und Neuverhandlung sozialer Identität. In der christlich-abendländischen Tradition der Bestattung erhält der Tote auf einem Friedhof seine letzte Ruhestätte. Das Grab oder die Urne werden meist mit einem Stein gekennzeichnet, auf dem der Name des Toten steht und häufig auch erinnernde Worte12 – ein Denkmal, das den Hinterbliebenen im Gegensatz zum verwesenden Körper erhalten
10 Vgl. secondary burial/ Zweitbestattung bei Hertz (2007[1907] insb.:68-81), siehe u.a. Goody (1962), Miles (1965), Bloch (1971), Metcalf/ Huntington (1991), ein Überblick über die Kulturgeschichte der Doppel- oder Sekundärbestattung findet sich bei Macho (1998 und 2002). Praktiken der Sekundärbestattung sind epochenübergreifend in unterschiedlichen Kulturräumen verbreitet, neben Skelettierungspraktiken gehört dazu auch das Umbetten von Toten, beispielweise deren Überführung in die Heimat (Vgl. Macho 1998: 43/ 44). 11 Aspekte sozialer und politischer Machtstrukturen streift Hertz nur (Hertz 2007[1907] (insbesondere): 112 und 143. 12 Vgl. Macho zur Substitution bildlicher Repräsentationen der Toten durch Schrift mit der Durchsetzung des Schriftalphabets (Macho 2000: 105).
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bleibt. Friedhöfe und Gedenkstätten sind Erinnerungsorte; sie sind in Abgrenzung zur dort sichtbaren Vergänglichkeit des Lebens für die Zukunft der Lebenden bedeutsam und wirken auch auf die Gemeinschaft der Erinnernden zurück: »The community shapes the cemetery, which in turn, shapes the community« (Francis et al. 2002: 105). Die Topografie der Toten als physische Organisation des Jenseitigen ist in diesem Sinne zugleich gestaltendes Element und Ergebnis des kollektiven Umgangs mit der Vergangenheit. Der Umgang mit den Toten, ihre physische Anordnung auf dem nationalen Territorium eines Staates schafft und sichert Identitäten; die Toten sind kulturelle Reserve einer Gemeinschaft. Die Friedhofs- und Gedenkkultur Italiens ist auch ein Versuch, auf der Basis dieser longue durée13 der familiären Reserven mit den Ergebnissen der Modernisierung und Bedrohung des Lebens durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts Schritt zu halten. In Ergänzung zur Geografie als Rückgrat von Staat, Religion etc. im Zuge sozialer, herrschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturveränderungen nehmen Familien sowie deren intergenerativer, innerfamiliärer Umgang mit Trauer ebenfalls die Position eines Rückgrats ein. Dauer von Kultur kann in dieser Perspektive auch als lange Dauer der Familien verstanden werden. Die Tradition der unpersönlichen Denkmäler für die militärischen Gefallenen des 19. Jahrhunderts wird nach dem Ersten Weltkrieg von einer neuen soldatischen Gedenk- und Friedhofskultur abgelöst. Als Reaktion auf die Erfahrung mit Massenvernichtung in einem technisierten Krieg, der eine nie da gewesene Anzahl an Toten forderte,14 begnügt man sich nicht mehr mit symbolischem Gedenken, sondern begräbt die Überreste der Gefallenen tatsächlich und schafft damit neue Orte des Gedenkens. Die Entstehung von Soldatenfriedhöfen und Kriegsgräbern modifiziert bisherige Gedenkkulturen und trägt zu ihrer Institutionalisierung bei, beispielweise in Form der Bildung von Vereinen zur Gräberfürsorge in vielen europäischen Staaten. Im Zuge dieser neuen Wertschätzung des soldatischen Opfers der Gefallenen im Namen der Nation nimmt die Errichtung symbolischer Grabstätten in vielen Ländern nach Ende des Ersten Weltkrieges einen besonderen Stellenwert ein. Zum nationalen Referenzpunkt werden Grabstätten, in denen der Leichnam eines unbekannten Soldaten als Symbol für alle Gefallenen begraben wird. In Italien befindet sich die nationale Grabstätte des unbekannten Soldaten seit 1920 im Altare della Patria, dem sogenannten Vaterlandsaltar. Es handelt sich dabei um ein dem ersten König des neu gegründeten Königreichs Italien, Viktor
13 Vgl. Braudel 1977. 14 670 000 italienische Gefallene, mehr als eine Million versehrte Veteranen (vgl. Woller 2010: 78).
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Emanuel II. gewidmetes nationales Monument in Rom nahe den Ruinen der römischen Fori Imperiali. Die Sakralisierung der Kriegserfahrung nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge des neuen Totengedenkens ist ein fundamentaler Bestandteil der nationalistischen Bewegungen15 und ihrer Struktur als Zivilreligionen.16 Für das faschistische Regime spielt der Kult um die gefallenen Soldaten eine zentrale Rolle. Die Rolle des Mannes in der Gesellschaft wird in der faschistischen Ideologie in erster Linie als Soldat und Kampfmaschine für den Staat konzipiert.17 Im Rahmen der Etablierung des Gefallenenkultes wird der Tod des Einzelnen im Namen der Nation als notwendiges Opfer propagiert.18 Der Errichtung und Ausgestaltung italienischer Kriegsgräberstätten, Denkmäler und Soldatenfriedhöfe nach Ende des Ersten Weltkriegs19 kommt im Zuge der politischen Propaganda des faschistischen Regimes als Element des politisch inszenierten Totenkultes eine zentrale Rolle zu.20 Diese befinden sich vor allem im Umfeld ehemaliger Kampfgebiete entlang von Frontlinien im Alpenraum. Die Rekonstruktion und Umstrukturierung der Soldatenfriedhöfe in Italien findet vor allem in den 1920er- und 1930er-Jahren statt. Überreste gefallener Soldaten, die nicht identifiziert werden können, werden in Ossarien (Beinhäusern) bestattet. Seit dem von Mussolini gebilligten ersten Dekret zur Anordnung der Leichname von 193021 gelten für die Erbauung von Kriegsgräberstätten im Besonderen drei Kriterien: Garantie der Individualität der einzelnen Toten durch individuelle Grabstätten, Dauerhaftigkeit
15 Vgl. Mosse, der neue Formen von Friedhöfen als »sanctification of military cemeteries as shrines of national worship« (Mosse 1990: 7 und 80f.) bezeichnet. 16 Vgl. Kapitel 5. 17 Zum Ursprungs der faschistischen Liturgie des Totengedenkens nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs siehe auch Gentile 1993: 47ff. 18 Vgl. Mosse 1990: 93. 19 Teilweise bereits während des Ersten Weltkriegs nach oder während der Kampfhandlungen angelegt. 20 Vgl. Tragbar (2017), der in seinem Artikel auch auf den lückenhaften Forschungsstand zu italienischen Denkmälern, Soldatenfriedhöfen und Kriegsgräberstätten in Folge des Ersten Weltkriegs verweist. 21 Memoria sulla sistemazione definitiva delle salme dei militari italiani caduti in guerra [Notiz zur definitiven Anordnung der Leichname im Krieg gefallener, italienischer Soldaten], vgl. Leggi, Decreti e Disposizioni varie riguardanti il servizio del Commissariato Generale Onoranze Caduti in Guerra, Ministero della Difesa, Commissariato Generale Onoranze Caduti in Guerra, Bd. 1. Rom. 1962 : 50-51.
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der Grabstätten, monumentale und feierliche architektonische Umsetzung.22 Weitere Dekrete folgen. Zu den wichtigsten und größten militärischen Gedenkstätten23 gehört die Gedenkstätte auf dem Monte Grappa im Veneto, die 1935 errichtet wurde und die Überreste von 22.950 Soldaten birgt. Redipuglia in Friaul-Julisch Venetien, eingeweiht im Jahr 1938, birgt sogar die Überreste von 100.187 Gefallenen.24 Abbildung 4.2: Gedenkstätte auf dem Monte Grappa im Veneto
Quelle: Lene Faust Beide werden als Ossarien25 bezeichnet. Die architektonische Umsetzung in Form monumentaler Bauwerke dient der Instrumentalisierung der Gefallenen des Ersten Weltkrieges als Wegbereiter und Märtyrer des Faschismus sowie der Propaganda der verschärften imperialistischen Bestrebungen des faschistischen Regimes seit Mitte der 1930er-Jahre. Deutlich wird dabei auch das Bemühen des Regimes, den
22 Vgl. Tragbar 2017. 23 Eine detaillierte Übersicht aller Kriegsgräber, Denkmäler und Ossarien findet sich bei Tragbar (2017). 24 Vgl. Dogliani 1996. 25 Ossarien finden sich im europäischen Kontext vor allem in katholisch geprägten Ländern bzw. Landstrichen wie Bayern, Österreich, in Teilen der Schweiz sowie in Italien.
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religiösen Bereich des gesellschaftlichen Lebens zu besetzen und den Einfluss der katholischen Kirche zu mindern: »Ossarien anstelle der bis dahin üblichen Soldatenfriedhöfe mit Einzelgräbern zu errichten, entsprach dem Bestreben Italiens, angesichts des Dauerkonflikts mit der katholischen Kirche – der sich nach der Eroberung Roms 1870 noch verschärft hatte – deren Einfluss auf die Armee zurückzudrängen und den Tod auf dem Schlachtfeld als quasireligiöses Martyrium und Opfer für die Nation zu propagieren.« (Tragbar 2017)
Die offensichtliche Bezugnahme auf die katholische Reliquienkultur durch die Art der architektonischen Ausgestaltung von Kriegsgräberstätten als Ossarien ist ein Symbol für die gezielte und strategisch umgesetzte Konzeption des Faschismus als Politische Religion.26 Der Zweite Weltkrieg überformt die bestehende Totenlandschaft, zusätzlich zu den Kriegsgräbern des Ersten Weltkriegs hinterlassen die Gefallenen des zweiten großen Krieges des 20. Jahrhunderts ihre Spuren. Soldaten der alliierten Truppenverbände, italienische Soldaten, die nach 1943 auf der Seite der Alliierten im Süden kämpften, Partisanen der Widerstandsbewegung im Norden, Soldaten der norditalienischen Sozialrepublik sowie zivile Opfer und Opfer verschiedener, vor allem von deutschen Truppen zwischen 1943 und 1945 begangenen Massaker prägen die italienische Topografie der Kriegstoten. Die Landschaft der Toten – Friedhöfe und Gedenkstätten, aber auch unentdeckte Massengräber sowie nicht errichtete Friedhöfe und Denkmäler, die noch eingefordert werden – spiegelt den sozialen und offiziellen politischen Umgang mit der Kriegsvergangenheit wider. Friedhöfe mit Kriegstoten sind im Nachkriegseuropa politisch konnotierte Orte, die Erinnerung und Gedenken mit politischer Aussage verbinden. In diesem Sinne hat vor allem die schwierige italienische Position bei Kriegsende als gespaltenes Land nach dem Bürgerkrieg zwischen den Truppen des nationalsozialistischen Deutschlands und der RSI sowie italienischen Widerstandskämpfern die Landschaft der Toten geformt. Das offizielle nationale, auf antifaschistischen Grundsätzen basierende Gedenken seit 1945 ist Grundlage für die Anordnung der Toten in Kriegsgräbern und der Errichtung von Gedenkstätten an Orten geschlagener Schlachten und verübter Massaker. Die faschistischen Soldaten der RSI als Verlierer des Krieges spielen im Rahmen der antifaschistischen Gedenkkultur und der Distanzierung von der faschistischen Diktatur keine Rolle in der offiziellen Topografie der Kriegstoten. Auch die Totenlandschaft in und um Rom spiegelt die offizielle Gedenkkultur wider. Vor allem in ihrer Rolle als Hauptstadt, die besonders
26 Vgl. Kapitel 5.
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im Blick der Öffentlichkeit steht, ist der Umgang mit den Kriegstoten des Zweiten Weltkrieges hier von maßgeblicher Bedeutung. 4.1.2 Rom, das Latium und die Toten des Zweiten Weltkriegs Der italienische Staat und die Kommunalregierungen Roms müssen sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, das faschistische Erbe im Stadtbild kommentarlos und unhinterfragt zu tolerieren.27 Von Zeit zu Zeit wird im Rahmen politischer Auseinandersetzungen über die nationale Erinnerungskultur die Entfernung architektonischer Relikte des Faschismus diskutiert. Im April 2015 beispielweise forderte die damalige Präsidentin des Parlaments Laura Boldrini von der Demokratischen Partei kurz vor dem Tag der Befreiung von Faschismus und Nationalsozialismus am 25. April die Entfernung des Schriftzuges MUSSOLINI DUX an einem Obelisken des Foro Italico aus der Zeit des faschistischen Regimes.28 Verschiedene Gedenkstätten in der Hauptstadt erinnern an die Gräueltaten, vor allem der faschistischen Führung nach 1943 sowie der deutschen Besatzer.29 Das Museo Storico della Liberazione [Museum der Befreiung] im ehemaligen Gefängnis der deutschen Truppen in Rom ist dem Widerstand gegen den Nazifaschismus gewidmet. Ein weiterer Ort, der an nationalsozialistische und faschistische Gewalt erinnert, ist das Forte Bravetta. In dem Anwesen außerhalb des Stadtkerns richteten deutsche Truppen zwischen 1943 und 1944 77 italienische Widerstandskämpfer hin. 2009 wurde dort ein Gedenkort, der sogenannte Parco dei Martiri di Forte Bravetta [Park der Märtyrer], eingeweiht. Seit 2011 ist der Park für die Öffentlichkeit zugänglich, allerdings nicht das Fort selbst. Pläne, dort ein Museum zur Erinnerung einzurichten, wurden bisher nicht realisiert.30 Im Jahr 2008 wurde der Verein Fondazione Museo della Shoah31 gegründet, eine Initiative der jüdischen
27 Zum Umgang mit dem architektonischen Erbe des Faschismus in Rom vgl. Arthurs (2010), siehe auch wiederkehrende journalistische Interventionen zu diesem Thema, wie
beispielweise
www.tagesspiegel.de/kultur/mussolinis-bauten-das-schwarze-
erbe/4144876.html [15.8.2020]. 28 www.tagesspiegel.de/kultur/mussolinis-bauten-das-schwarze-erbe/4144876.html [15.8.2020] 29 Ein detaillierter Überblick über die Verbrechen der deutschen und faschistischen Truppen in Rom seit 1943 bis zur Befreiung im Juni 1944 findet sich bei Osti Guerrazzi/Majanlahti (2010). 30 www.ilgiornale.it/news/forte-bravetta-luogo-cultura-e-memoria.html [15.8.2020] 31 www.museodellashoah.it [15.8.2020]
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Gemeinde in Rom sowie italienischer Historiker mit dem Ziel, in der Villa Torlonia, dem ehemaligen Wohnsitz der Familie Mussolini, ein Museum sowie eine Gedenkstätte zur Erinnerung an den Holocaust zu errichten. Auch dieses Museum wurde bisher jedoch nicht realisiert. Der wichtigste Gedenkort und nationales Symbol für die antifaschistische Gedenkkultur ist die Gedenkstätte Fosse Ardeatine. Der Gedenkort erinnert an das Massaker an Regimegegnern und Juden im März 1944 – ein Ort, der für die Grausamkeit der nationalsozialistischen deutschen und faschistischen Truppen seit 1943 steht. Die Fosse Ardeatine In der Erinnerungskultur der Stadt nehmen die Opfer des 1944 durch deutsche Truppen verübten Massakers in den Sandsteinhöhlen, den Fosse Ardeatine, einen besonderen Stellenwert ein. Italienische Widerstandkämpfer zündeten am 23. März 1944, dem symbolträchtigen Jahrestag der Gründung der Fasci di Combattimento,32 in unmittelbarer Nähe des Quirinals in der Via Rasella eine Bombe und töteten 33 Soldaten der 11. Kompanie des dritten Bataillons des Polizeiregiments ›Bozen‹ sowie zwei Zivilisten. Die Aktion gegen die deutsche Wehrmacht, die Rom seit der Gründung der italienischen Sozialrepublik (RSI) besetzt hielt, wurde durch das nationale Befreiungskomitee Comitato di Liberazione Nazionale (CLN) [Nationales Befreiungskomitee] unterstützt, das den Widerstand in der RSI koordinierte. Die deutschen Generäle in Rom33 ließen daraufhin im Verhältnis von eins zu zehn Geiseln nehmen. Die Opfer wurden in erster Linie aus römischen Gefängnissen zusammengesucht. Aufgrund der mangelnden Anzahl von zum Tode Verurteilten wurden andere Gefängnisinsassen und Juden, die nicht deportiert worden waren, hinzugefügt. Statt der geplanten 330 wurden 335 Personen erschossen. Nach Ende der Erschießungen wurden am Abend des 24. März die Höhleneingänge gesprengt, um die Spuren des Massakers zu verwischen.34 1949 wurde die Gedenkstätte Fosse Ardeatine eröffnet und die Überreste der Opfer in einem überdachten Mausoleum außerhalb der Höhlen zweitbestattet. Dem Hauptverantwortlichen für den Anschlag in der Via Rasella, Rosario Bentivegna, wurde später für sein Verdienst im Kampf gegen die deutsche Besatzung die silberne Tapferkeitsmedaille verliehen.
32 1919 von Benito Mussolini gegründete faschistische Kampfbünde, ab 1921 Nationale Faschistische Partei (Partito Nazionale Fascista). 33 Kurt Mälzer (Kommando über die Stadt), Eberhard von Mackensen (Oberbefehlshaber der deutschen Armee in Italien) und Herbert Kappler (SS- Obersturmbannführer). 34 Vgl. Bocca 2012: 289-303 und Osti Guerrazzi 2010: 141-160.
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Das Gebiet zwischen der Via Ardeatina und der Via Appia, den beiden alten Ausfallstraßen des römischen Südens, ist seit vorchristlichen Zeiten ein Gräberfeld. Im ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus entstanden hier die Domitilla- und die Kallistus- Katakomben, aus dem vierten Jahrhundert stammen die daran angrenzenden Katakomben des heiligen Sebastian35. Die deutschen Funktionäre wählten für die Hinrichtungen der Geiseln einen Ort inmitten eines alten römischen Gräberfeldes außerhalb der Stadtmauern. Neben den christlichen Märtyrern in den Katakomben liegen seitdem italienische Märtyrer, die durch deutsche Grausamkeit ihr Leben verloren. Die Fosse Ardeatine sind die wichtigste Gedenkstätte Roms in Erinnerung an den Faschismus und die Besatzung und ein nationales Symbol für die von Deutschen verübten Massaker in Italien und den italienischen Widerstand. Als Friedhof sind sie ein Ort der Trauer für die Hinterbliebenen. Am Jahrestag des Massakers findet jährlich eine offizielle Gedenkveranstaltung unter Anwesenheit der staatlichen Autoritäten statt. Täglich besuchen Schulklassen den Gedenkort, Pilger auf ihrem nächtlichen Weg zum römischen Heiligtum Santuario della Madonna del Divino Amore kommen hier vorüber und legen am großen Eisentor der Gedenkstätte eine Gedenkminute ein, um für die Hingerichteten und ihre Angehörigen zu beten. Die hohe Symbolkraft dieser Gedenkstätte wird immer wieder von Politikern erneuert. So wählte beispielsweise auch Staatspräsident Sergio Mattarella diesen Gedenkort für seinen ersten öffentlichen Auftritt nach dem Amtsantritt im März 2015.36 Die Krypten der Faschisten Die faschistische Totenlandschaft in Rom wird seit Kriegsende so verortet, dass sie vor der antifaschistischen Öffentlichkeit weitgehend verborgen ist. Wichtigster Referenz- und Treffpunkt für das von Veteranenverbänden organisierte Gedenken an die gefallenen faschistischen Soldaten ist seit den 1970er-Jahren das Untergeschoss einer vom Zentrum abgelegenen Kirche, die keinen Bezug zum klassischen Besichtigungsprogramm der Touristen und Pilger hat. Die Krypta der Gefallenen wurde 1949 eingeweiht, die Kirche 1956 fertiggestellt, konzipiert wurde die Gedenkstätte für die Gefallenen aller Kriege.37 Das Bauprojekt wurde parteiübergreifend von den staatlichen Autoritäten unterstützt u.a. dem damaligen Bürgermeister Roms von der Partei Democrazia Cristiana, Vertretern der Regierung Alcide De
35 Zur Geschichte der Katakomben vgl. Baruffa 1996: 28. 36 Vgl.
http://roma.repubblica.it/cronaca/2015/03/24/news/fosse_ardeatine-110336602/
[15.8.2020]. 37 Vgl. http://tempiodelperpetuosuffragio.it [15.8.2020], Rivera (1946-1956).
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Gasperi, dem Staatspräsidenten sowie dem Verteidigungsministerium; unter den Mitgliedern des Ehrenkomitees waren weiterhin namhafte Politiker der antifaschistischen Nachkriegsregierung, ehemalige Funktionäre des italienischen Heeres, die vor 1943 für das faschistische Regime gekämpft hatten, sowie illustre Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst. 38 An den Wänden der Krypta sind reihum Gedenktafeln aus Marmor angebracht, quer durch alle Kategorien von Kriegstoten. Sie ist auch Totengewölbe und Gedenkort für die Verschollenen, die körperlosen Toten, die symbolisch in die heimatliche Erde zurückgebracht wurden. Auch die Namen von Gefallenen der Truppen der RSI finden sich auf den Gedenktafeln der Krypta. Hinter der Krypta gibt es einen separaten Raum, der ebenfalls als Ort des Gedenkens genutzt wird. Dort haben Verwandte Fotos ihrer Toten an die Wand gehängt, Blumen und Kerzen stehen vor den Fotografien, an anderen hängen Rosenkränze. Auch Utensilien wie originale Bestandteile von Uniformen, Medaillen, Waffen und historische Fahnen werden dort aufbewahrt, Reliquien des Gedenkens. Normalerweise ist das Untergeschoss der Kirche geschlossen, Besuche außerhalb dieser Öffnungszeiten müssen separat beim Priester der Gemeinde angemeldet werden. Der Priester, der zur Zeit meiner Forschung der Gemeinde vorstand, lehnte ein Gespräch mit mir oder eine separate Führung durch die Krypta ab. Er nahm seine Aufgabe offenbar ernst, diesen Ort als Gedenkstätte für die Toten zu schützen, vor allem da dieser Ort einige Jahre zuvor von einem Journalisten einer großen italienischen Tageszeitung in einem Artikel kritisiert worden war. In den ersten Nachkriegsjahren fanden Messen in der Krypta heimlich statt.39 Seit Ende der 1960er-Jahre wurden in der Krypta erstmals die Beerdigungen einiger Mitglieder des Movimento Sociale Italiano (MSI) gefeiert. 1973 fand die Trauerfeier für Stefano und Virgilio Mattei dort statt, die beiden Söhne des Parteisekretärs des MSI in der römischen Sektion Primavalle, die bei einem Brandanschlag im Rahmen der politischen Spannungen der anni di piombo ums Leben kamen.40 In der Folge wurde die Krypta auch bei anderen Anlässen durch Mitglieder der faschistischen Nachkriegsszene genutzt. Man bemühte sich stets, die offizielle Zurschaustellung politischer Überzeugungen zu vermeiden und das Gedenken an die Toten in den Mittelpunkt zu stellen. Über die Jahre verhaftete die Polizei trotzdem immer wieder Teilnehmer, die nach der Messe den faschistischen Gruß zeigten, wurde mir berichtet; seit den 1970er-Jahren seien solche Messen gut besuchte Großveranstaltungen gewesen. Später nahm die Teilnehmerzahl wieder stark ab:
38 Vgl. Rivera (1946-1956). 39 Vgl. Luzzatto 1998: 145. 40 Vgl. Kapitel 1.2.2 und 1.4.2.
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2013 und 2014 waren nur noch circa 150 bis 200 Personen anwesend, was vor allem dem hohen Alter und Sterben der ersten Generation der Veteranen geschuldet war. Die jüngeren Generationen entwickelten eigene Formen des rituellen Gedenkens an diesen faschistischen Erinnerungstagen mit dem Ziel der bewussten Distanzierung von der Veteranengeneration. Damit existierte nach Kriegsende im Rahmen des katholischen Totengedenkens erstmals ein anerkannter Raum für das faschistische Totengedenken, eine von den staatlichen Autoritäten zunächst geduldete Nische, die dann seit den 1970er-Jahren langsam ausgebaut werden konnte, bis die Kirche zu einem wichtigen Ort faschistischen Gedenkens wurde. Die stille Partnerschaft zwischen Ordensgemeinschaft und faschistischem Netzwerk wirft Fragen zu Beziehungen und Netzwerken zwischen kirchlichen Einrichtungen und dem Faschismus auf, über die bisher wenig bekannt ist. Auch die Rolle des Serviterordens im Faschismus ist weitestgehend unbekannt. Von außen liegt die Vermutung nahe, dass ambivalente, komplizierte Verbindungen zwischen religiösen und faschistischen männerbündischen Netzwerken zugrunde liegen, gegenseitige Abhängigkeiten, die sich auf soziale und politische Netzwerke auswirken. Dem kann man von innen entgegensetzen, dass hier das Geheimnis des privaten Lebens, der Beichte, der Reue und Busse sowie der Umkehr und Rekonversion eine Rolle spielen. Vielleicht konnten die Nachkriegsfaschisten in der Kirche Unterstützerstrukturen finden, zumindest ließ die Ordensgemeinschaft jedoch das Gedenken der faschistischen Szene in der Krypta zu. Die Nichtanerkennung der RSI-Veteranen durch die italienische Gesellschaft wurde durch diese Nische im kirchlichen Raum partiell aufgeweicht. Die Krypta der Gefallenen sei zu einem luogo di incontro e di memoria per i nostri caduti [Ort des Gedenkens für unsere Gefallenen] geworden, wie Federico S. betonte. Exkurs: Cimitero Maggiore di Milano Einige städtische Friedhöfe haben kleine Bereiche, die man den unliebsamen Gefallenen der RSI überlassen hat. In Mailand beispielsweise sind einige Soldaten der RSI auf dem Cimitero Maggiore im Abschnitt Campo X41 begraben. Jährlich werden dort von verschiedenen neofaschistischen Gruppierungen Zeremonien zum Gedenken an die Toten veranstaltet. Am 25. April 2017 versammelte sich beispielsweise eine Gruppe von circa eintausend Aktivisten von CasaPound Italia und Lealtà Azione, faschistischen Organisationen der dritten Generation, auf dem
41 In Anlehnung an die Kurzform der Marineeinheit Decima Flottiglia MAS.
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Campo X und provozierte damit die linke Stadtregierung und antifaschistische Öffentlichkeit Mailands.42 Später beklagte sich Antonio S., Sohn eines RSIVeteranen und selbst während der anni di piombo politisch aktiv, in den sozialen Medien über den damaligen Bürgermeister Giuliano Pisapia von der Demokratischen Partei (Partito Democratico), der die Fahne der RSI auf dem Campo X entfernen lassen wollte.43 Hier ruhen die Toten, die dem Bürgermeister von Mailand ein Dorn im Auge sind: jene Männer und Frauen, die sich vor 70 Jahren dazu entschieden, auf der ›falschen Seite‹ zu kämpfen. Bis heute wehte über diesem kleinen, unbedeutenden Stück Erde eine italienische Fahne. Eine Fahne der RSI. Der Bürgermeister will sie nun entfernen lassen. Er besitzt zwar die legale Macht dazu, aber nicht das moralische Recht. Ich möchte ihn daran erinnern, dass es viele Soldatenfriedhöfe auf der Welt gibt, auf denen unsere Fahne weht, obwohl wir in diesem Moment ›Feinde‹ in diesem Land sind. Und niemandem ist es je in den Sinn gekommen, uns zu zwingen, sie zu entfernen.
Vorstellungen jüngerer Generationen des Nachkriegsfaschismus über die Opferbereitschaft der Soldaten der RSI ermöglichten eine bedingungslose Verehrung dieser Toten als Märtyrer. 70 Jahre nach Kriegsende waren diese Toten und ihre Gräber so zum Gegenstand des nationalen politischen Diskurses geworden. Einen Skandal verursachte im September 2017 die Abgeordnete des Partito Democratico Carmela Rozza als Vertreterin einer Partei, die sich als direkte Nachfolgepartei der kommunistischen Partei (Partito Comunista Italiano) begreift. Sie schlug vor, an Allerseelen am 2. November, dem Tag der Toten, per ragioni di umana pietà [aus Gründen der Achtung der Menschenwürde], wie sie es formulierte, den Kranz für die Kriegstoten im Namen aller Gefallener niederzulegen – der italienischen Partisanen wie der faschistischen Soldaten der RSI.44 Diese Forderung einer linken Politikerin nach offizieller Anerkennung aller Kriegstoten unter Einschluss der faschistischen Toten führte zu heftigen Reaktionen innerhalb des PD, seitens des nationalen Partisanenverbandes sowie Überlebender der Kon-
42 http://milano.repubblica.it/cronaca/2017/04/29/news/milano_campo_x_fascisti164221635/ [15.8.2020] 43 Übersetzung der Autorin. 44 www.ilfattoquotidiano.it/2017/09/16/fiori-per-partigiani-e-repubblichini-la-propostadellassessore-di-milano-fa-infuriare-anpi-e-ex-deportati-offensivo/3860813/ [15.8.2020]
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zentrationslager. Der Vorfall kann als Anzeichen für einen signifikanten Rechtsruck45 innerhalb der größten linken Partei des Landes interpretiert werden und verweist auf die Veränderung der nationalen Erinnerungskultur. Soldatenfriedhöfe Die Überreste der Gefallenen der großen Schlachten des Zweiten Weltkriegs im Umland von Rom wurden in großen Soldatenfriedhöfen beerdigt. Verlässt man Rom und fährt von den Fosse Ardeatine aus weiter in Richtung Süden, kommt man auf das Gebiet des ehemaligen Schlachtfeldes um Anzio und Nettuno, wo sich von Januar bis Mai 1944 alliierte Truppen unter hohen Verlusten auf beiden Seiten heftige Kämpfe mit deutschen Truppenverbänden und italienischen Soldaten der RSI lieferten. Die Truppen der Alliierten landeten am 22. Januar 1944 am Strand südlich von Rom (Operation Shingle)46 hinter der so genannten GustavLinie, an der sich die Kämpfe etwa 100 Kilometer südlich von Rom festgefahren hatten. Das sollte den Vormarsch der Alliierten auf Rom beschleunigen, doch es folgten monatelange heftige Kämpfe zwischen alliierten (amerikanischen und englischen) Truppen und deutschen sowie italienischen Truppen, bevor die Alliierten am 4. Juni 1944 Rom einnehmen konnten. Nach Kriegsende wurden auf dem ehemaligen Schlachtfeld große Soldatenfriedhöfe angelegt. Der größte und imposanteste ist der amerikanische Friedhof in Nettuno – ein ordentlich begrüntes Totenfeld innerhalb großer steinerner Mauern, auf dem 7.861 Soldaten ruhen.47 Dort liegen nicht nur die Gefallenen der Operation Shingle, sondern auch die an der Front Gefallenen anderer amerikanischer Truppen. Die beiden englischen Soldatenfriedhöfe Cimitero di Guerra Britannico Le Falasche und Santa Teresa liegen näher am Stadtgebiet Anzio und sind etwas kleiner, insgesamt 2.278 Soldaten der englischen Truppen liegen dort begraben.
45 Vgl. auch den Streit um ein Denkmal für die italienische Luftwaffe, genehmigt von der durch den Partito Democratico geführten Administration der Stadt; das Denkmal in Form einer Nachbildung des Jet Aermacchi wurde zum 100. Geburtstag von Luigi Gorrini im September 2017 eingeweiht. Es handelt sich dabei um einen Piloten, der für die RSI kämpfte. Der Bürgermeister begründete seine Entscheidung mit dem Verdienst des Piloten, weitere Zerstörung durch die alliierten Truppen verhindert zu haben, obwohl er für die falsche Seite kämpfte: http://parma.repubblica.it/cronaca/2017/09/29/news/fidenza_amministrazione_pd_omaggia_l_aviatore_gorrini_ex_militare_rsi-176859193/ [15.8.2020]. 46 Vgl. Cotronei 2008. 47 www.abmc.gov/cemeteries-memorials/europe/sicily-rome-american-cemetery [15.8.2020]
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Heute streiten sich die Kommunen Nettuno und Anzio um die genaue Lokalisierung des Strandabschnitts, an dem die Landung der Alliierten erfolgte. Zum 70. Jahrestag wurde die Landung der Alliierten am Strand von Anzio in historischen Kostümen und Kriegsfahrzeugen nachgestellt, was zu erbitterten Auseinandersetzungen über territoriale Besitzverhältnisse und historische Analysen als Grundlage für das Vorrecht der Ausrichtung der Feierlichkeiten führte.48 Bei Pomezia, direkt an der Superstrada 148, liegt der deutsche Soldatenfriedhof Cimitero militare germanico. Dort ruhen 27.443 Gefallene der Schlacht bei Anzio und Nettuno sowie Gefallene anderer Schlachten in Süd- und Mittelitalien. Verwaltet wird er durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.49 Kleine weiße Kreuze reihen sich hier auf kurzem grünem Rasen symmetrisch aneinander, in der Welt der Toten herrscht militärische Ordnung. Abbildung 4.3: Soldatenfriedhöfe des Zweiten Weltkriegs südlich von Rom
Quelle: Eigene Zeichnung Die Veteranenverbände der RSI erhielten lange keine Erlaubnis für die Errichtung eines offiziellen Soldatenfriedhofs für die im Kampf bei Anzio und Nettuno ge-
48 http://roma.repubblica.it/cronaca/2014/01/22/news/settanta_anni_fa_lo_sbarco_degli_alleati_polemica_tra_anzio_e_nettuno-76667529/ [15.8.2020] 49 www.volksbund.de/kriegsgraeberstaetten.html [15.8.2020]
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fallenen Soldaten. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Gefallene der Truppeneinheit Barbarigo50, die dort an der Seite deutscher Truppen kämpfte. Der Veteranenverein Associazione Reduci della Decima Flottiglia MAS konnte nach zahlreichen vergeblichen Versuchen im Jahr 1990 ein kleines Stück Land (3.600 qm) von der Gemeinde Nettuno in der Nähe des großen amerikanischen Soldatenfriedhofs erwerben, ein ehemaliger Schuttabladeplatz, und erhielt die Genehmigung zur Errichtung eines Friedhofs. Zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Friedhof gelegen, sollte die Lage an die Truppenformationen während der Schlacht erinnern. Und so zeigt die Anordnung der Soldatenfriedhöfe heute die Schlachtformation – die Geschichte eines Krieges verfestigt in Form von Gräbern, in denen die Überreste von Soldaten ruhen. Die Schlacht wurde durch die Formation der Kriegsgräber förmlich in den Boden gestanzt. Heute ist die Gegend um Anzio und Nettuno in Richtung Rom flächendeckend bebaut, die verschiedenen Ortschaften und Kleinstädte mit ihren verlassenen Bars und Einkaufszentren säumen die Straßen, die die Gegend scheinbar wirr durchziehen. Dazwischen finden sich vereinzelt Ferienwohnungskomplexe und schlecht besuchte Vergnügungsanlagen. Die Ortschaften scheinen zu verschwimmen, konturlos ineinander überzugehen. Die Natur behauptet sich nur noch mit kleinen Inseln aus Feldern und Schilf, die moderne Zivilisation hat die Landschaft unter sich begraben. Die Spuren des ehemaligen Schlachtfeldes lesen sich jedoch nicht nur in den Soldatenfriedhöfen, sondern auch im Namen der nach dem Krieg entstandenen ersten Ortschaft nördlich von Anzio und Nettuno: Campo di Carne – was wortwörtlich übersetzt Fleischfeld bedeutet. Der Name erinnert daran, dass dieser Ort auf einem ehemaligen Schlachtfeld erbaut ist und der Boden dort einst von Toten bedeckt war. Notbestattung in einem Familiengrab Raffaella Duelli wurde 1926 in Rom geboren, am 18. März 1944 meldete sie sich freiwillig zum Militärdienst und wurde dem Servizio Ausiliario Femminile [weibliche Hilfstruppen] des Bataillons Barbarigo zugeteilt. Während der Kämpfe in Anzio und Nettuno gehörte sie zur Nachschubeinheit des Bataillons. Nach Kriegsende wurde Rafaella Duelli im Kriegsgefangenenlager Collescipoli interniert und danach in den Gefängnissen von Terni und Spoleto inhaftiert. Nach ihrer Entlassung im Sommer 1946 kam sie mit einem Offizier der deutschen Wehrmacht in Kontakt, der die Suche und Bergung der Leichen der deutschen Soldaten auf dem ehemaligen Schlachtfeld leitete. Mithilfe der Erinnerung einiger Veteranen, die dort gekämpft hatten sowie Hinweisen aus der Bevölkerung auf provisorische
50 Marineinfanterie-Bataillon der Decima Flottiglia MAS.
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Gräber leitete sie die Bergung der Überreste von 50 italienischen Soldaten des Bataillons Barbarigo, die 1947 auf einem römischen Friedhof in die Familiengruft überführt wurden. Weitere Überreste von 32 Gefallenen folgten 1950. Das Familiengrab wurde dadurch zu einer zentralen Grabstätte der Truppeneinheit. Alle geborgenen Toten mit Ausnahme von neun Leichen konnten identifiziert werden.51 Circa 60 Jahre lang ruhten die Gefallenen des Barbarigo im Familiengrab der Duellis, bevor sie im Jahr 2000 auf den Campo della Memoria52 überführt und beigesetzt wurden. Bis zu ihrem Tod am 18. August 2009 wachte Raffaella Duelli als Präsidentin des Vereins Campo della Memoria über diese Toten, im faschistischen ambiente wird sie daher von vielen verehrt. Ein seit 2008 u.a. durch den Verein Campo della Memoria verliehener Preis für besondere Verdienste ist u.a. nach Rafaella Duelli benannt. Im Juni 2012 fand die Preisverleihung während der Amtszeit des Bürgermeisters Gianni Alemanno53 erstmals in Räumen der römischen Stadtverwaltung auf dem Kapitol statt, was zu starken Polemiken führte.54 An einem schwülwarmen Septembertag zeigte mir Lucia, Witwe eines Veteranen der Flottiglia Decima MAS, das Familiengrab der Duellis, das mir so lange verschwiegen worden war, bis ich vertrauenswürdig genug erscheinen war. Manfredo V., RSI-Veteran (s.o), hatte diese Initiation in die Welt der Toten organisiert. * Es ist noch sehr warm und die Luftfeuchtigkeit hoch. Stille umgibt uns innerhalb der Friedhofsmauern, sobald wir zwischen den alten Gräbern mit den kunstvoll gehauenen Grabsteinen mit Fotografien Verstorbener, Blumen und Friedhofslichtern entlanggehen. Lucia kommt nach einer Operation nur langsam voran. Wie die meisten römischen Frauen macht sie sich auch im Alter noch sorgfältig zurecht, mit ausgewähltem Schmuck und Sandalen mit kleinem Absatz, trotz ihrer Gehbeschwerden. Als Ehefrau eines Veteranen der Marineeinheit Decima Flottiglia MAS hat sie die Welt der Veteranen mit ihrem Mann geteilt; er war eine zentrale Figur unter den RSI-Veteranen und hat sich u.a. sehr für den Campo della Memoria eingesetzt. Der Stolz in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, wenn sie von ihm spricht. Sie habe zahlreiche Treffen und Feste für ihren Mann und die
51 Siehe autobiographische Schriften von Raffaella Duelli (2000, 2008). 52 Vgl. http://www.campodellamemoriaufficiale.it [15.8.2020] 53 Vgl. Kapitel 2.5.2. 54 http://roma.repubblica.it/cronaca/2012/06/18/news/x_mas-37458523/ [15.8.2020], www.ilfattoquotidiano.it/2012/06/07/alemanno-ospita-l’evento-che-celebra-flottigliadi-salo-e-spunta-di-nuovo/255617/ [15.8.2020] http://roma.corriere.it/notizie/cronaca/12_giugno_19/campidoglio-roma-comune-ricorda-x-mas-201661299063_print.html [15.8.2020]
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anderen Veteranen ausgerichtet, erzählt sie. Der innere Kern der Veteranengemeinschaft sei ihr jedoch verschlossen geblieben. Ihr Mann habe nie mit ihr über den Krieg gesprochen, erinnert sie sich fast vorwurfsvoll. Nach seinem Tod vor zehn Jahren habe sie sich mit einem Hilferuf an seine ehemaligen Kameraden gewandt und zu ihnen gesagt: Per favore, non mi lasciare sola! [Bitte lasst mich nicht allein!]
Sie hätten sie dann in ihr Netzwerk aufgenommen. Wäre sie ein Mann und älter gewesen, hätte sie sich zum Militär gemeldet, betont sie. Auch ihr eigener Vater habe im Ersten und im Zweiten Weltkrieg jeweils als Pilot gekämpft. 1943 sei er jedoch nicht in die RSI gegangen – aber nur, weil er für seine beiden noch kleinen Kinder habe sorgen wollen, rechtfertigt sie seine Entscheidung. Auch er habe nie etwas erzählt über den Krieg. Nach seinem Tod sei sie daher zur italienischen Luftwaffe gegangen und habe nach seinem Curriculum gefragt. Erst da habe sie erfahren, wo er während des Krieges gewesen sei. Auch wenn sie über ihren Vater spricht, klingt Stolz in ihrer Stimme mit. Ihre Bewunderung für die RSI-Veteranen ist offensichtlich. Mit ihrem Mann scheint sie sich auf gewisse Weise identifiziert zu haben, nach seinem Tod übernimmt sie seine Netzwerke – soweit dies möglich ist. Mit allen Mitteln versucht sie, sich in das Kernnetzwerk der RSI-Veteranen zu integrieren, obwohl sie als Frau ohne Kriegserfahrung eine Außenseiterin bleibt. Langsam gehen wir unter hohen Bäumen entlang, die feuchte Luft hüllt uns ein und erschwert das Atmen, die Mücken sind unerträglich und nach wenigen Metern sind unsere Füße in den offenen Schuhen vollkommen zerstochen. Nach über einer halben Stunde Weg erreichen wir das Grab der Familie Duelli. Es ist schlicht, eine schwere Grabplatte aus Stein bedeckt den Eingang. Darin eingraviert sind die Namen der gefallenen Soldaten, die hier lagen, bevor sie auf den Campo della Memoria umgebettet wurden. Zahlreiche kleine Gedenktafeln, Fotos und Blumensträuße aus Plastik erinnern an Rafaella Duellis große. Als wir den Rückweg antreten, echauffiert sich Lucia über die Ungerechtigkeit, die den faschistischen Toten wiederfahren sei: Tutti hanno i loro cimiteri, gli americani, gli inglesi, i tedeschi, tranne i fascisti! [Alle haben ihre Friedhöfe, die Amerikaner, die Engländer, die Deutschen, nur die Faschisten nicht!]
Ihrem Mann habe sie einmal vorgeschlagen, sich vor den amerikanischen Friedhof zu stellen und Flugblätter zu verteilen, auf denen stehen sollte:
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Venite anche al cimitero di quelli che vi hanno ammazzati! [Kommt auch auf den Friedhof derer, die euch umgebracht haben!]
Über Jahre angestaute und unter den Veteranen konservierte Wut bricht sich in ihrem Ausbruch Bahn sowie das Bedürfnis nach Anerkennung und danach, aus dem Schattendasein der Nichtexistenz in der antifaschistischen Erinnerungskultur herauszutreten. Dabei geht es vielleicht auch um ihren Unmut über das eigene Schattendasein als Ehefrau unter den Veteranen. Lucia hat mir eine faschistische Perspektive auf die Landschaft der Toten vermittelt und mich in ihre Welt eingeführt. Meine Einführung in die Welt der Toten durch eine Frau ist vielleicht kein Zufall, sondern auch ein Mittel, um mir meine Grenzen als weibliche Forscherin in der Welt der Veteranen vor Augen zu führen. (Feldtagebuch, September 2012) * Die Bedeutung eines Soldatenfriedhofs als Ort des Gedenkens, der Trauer sowie der Konsolidierung von Identität, wird dann besonders deutlich, wenn er fehlt. Das Fehlen eines faschistischen Soldatenfriedhofs und die vorläufige Notbestattung der Gefallenen in einem Familiengrab mobilisierte vor allem die RSI-Veteranen, führte zur Gründung eines Vereins und zur Errichtung eines Friedhofs – ein schwieriges und langwieriges Projekt, um den Toten den nötigen Respekt zu erweisen und die eigene Identität zu festigen. Raffaella Duelli widmete ihr Leben dem Projekt der ordnungsgemäßen Zweitbestattung der Soldaten der RSI auf einem Soldatenfriedhof, sie stellte es damit in den Dienst der Rehabilitation der faschistischen Toten. Die Bestattung der Gefallenen im Familiengrab kommt einer nachträglichen Erweiterung der eigenen Familie um diese Toten gleich, eine Haltung, die viele der Veteranen übernommen haben. Im Fall einer solchen Erweiterung um andere Tote entsteht auch ein symbolischer Nutzen für die Lebenden: Vormalige Kameradschaft wird im Tod zu einer Form der Verwandtschaft mit symbolischem Charakter umgewandelt, der die Veteranengemeinschaft intern stärkt und die Lebenden näher zusammenrücken lässt. Der Kampf für die Toten ist moralisch legitimiert und rechtfertigt auch die eigene soziale Neuorientierung bzw. Aufwertung darüber. Der Campo della Memoria 1989 wurde der Verein Campo della Memoria gegründet. 1993 wurde ein Stück Land, ehemals ein Schuttabladeplatz, erworben und mit einer katholischen Zeremonie geweiht, darauf folgten Jahre voller Bemühungen, den Ort offiziell als Friedhof ausweisen zu lassen, um die Toten in ihre neue letzte Ruhestätte überführen zu können. Finanziert wurde das Projekt durch Spenden, hauptsächlich aus
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den Reihen der RSI-Veteranen, aber auch durch jüngere Mitglieder der faschistischen Nachkriegsszene. Im Jahr 2000 konnten die toten Soldaten aus der Familiengruft Duelli schließlich auf den Campo della Memoria überführt werden. Die Zweitbestattung ermöglichte die ordnungsgemäße Bestattung der Gefallenen der RSI nach den Regeln der katholischen Kirche, die ordentliche Anordnung ihrer Überreste auf einem Friedhof in separaten Gräbern. Dahinter steht auch die Intention, die faschistischen Toten in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren, sie durch einen offiziellen Ritus zu legitimieren. Die Sekundärbestattung der Soldaten der RSI am ursprünglichen Kriegsschauplatz ist der Versuch, den Stellenwert der faschistischen Toten in der Gesellschaft zu verändern und Ordnung in die Totenlandschaft zu bringen. Der Campo della Memoria ist der erste offiziell vom Verteidigungsministerium anerkannte Soldatenfriedhof für die Toten der RSI. Aus Sicht der Nachkriegsfaschisten ist der Friedhof, der auch als Sacrario dei Caduti della RSI [Heiligtum der Gefallenen der RSI] bezeichnet wird, symbolischer Gedenkort für alle faschistischen Gefallenen, auch, wenngleich dort hauptsächlich die Gefallenen des Bataillon Barbarigo ruhen. 65 Jahre nach Kriegsende wurden die Toten auf das Stück Erde zurückgebracht, auf dem sie in der Schlacht fielen und die Truppenformation der sich damals gegenüberstehenden Gegner in der Formation der Soldatenfriedhöfe vervollständigt. Damit nehmen die Soldaten der RSI ihren Platz physisch auf dem ehemaligen Schlachtfeld und symbolisch in der Geschichte der Schlacht, die dort gekämpft wurde, wieder ein – auch ein politisches Statement, um die antifaschistische Öffentlichkeit zu kontrastieren. Hohe Mauern aus Beton schirmen den Friedhof von der Außenwelt ab, innen sind Bronzetafeln mit Informationen über alle Bataillone der RSI angebracht, deren Soldaten hier liegen. Im hinteren Teil des Friedhofs liegen die Überreste der Toten in mannshohen Mauern aus weißem Stein in Kassetten übereinander, auf Messingschildern stehen ihre Namen, das Alter, das Bataillon. Die unbekannten toten Soldaten liegen unter einfachen weißen Steinen auf der Rasenfläche. In der Mitte dieser Rasenfläche steht ein steinerner Altar. Das große marmorne Kreuz auf der Rasenfläche direkt vor dem Altar soll auch aus der Luft gut zu sehen sein, wie man mir sagte – eine symbolische Verbindung der Toten unter der Erde mit dem Himmel.
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Abbildung 4.4: Campo della Memoria, Nettuno
Quelle: Lene Faust Am Eingang des Totenfeldes sind die folgenden Worte auf der marmornen Platte zu lesen: Iddio che accendi ogni fiamma e fermi ogni cuore rinnova ogni giorno la passione mia per l’Italia rendimi sempre più degno dei nostri morti affinché loro stessi i più forti rispondano ai vivi PRESENTE.
[Gott der du jede Flamme entzündest und jedes Herz zum Stillstand bringst erneuere jeden Tag meine Liebe zu Italien mache mich immer würdiger im Angesicht unserer Toten bis sie selbst als die Stärksten (unter uns) den Lebenden antworten: PRESENTE.]
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Die Toten sollen den Lebenden mit presente antworten55 – die rituelle Praxis des faschistischen Totenkultes, bei der die Lebenden den Toten ihr Gedenken und ihre Anwesenheit versichern, wird in dieser Inschrift in ihr Gegenteil verkehrt und zeigt, dass die Toten auch mobilisierende Reserve für die Lebenden sind. Die Verwaltung des Friedhofs und der Toten führt kontinuierlich zu Zerwürfnissen. Seit der Planung des Friedhofs, vor allem aber seit dem Tod Raffaella Duellis, wird über Zuständigkeiten auf dem Campo della Memoria gestritten. Die Veteranen, in der Mehrzahl zu alt und zu gebrechlich, um dieses Amt zu übernehmen, blicken sehr kritisch auf die Personen der zweiten Generation des Nachkriegsfaschismus, die sich seitdem um die Verwaltung des Friedhofs und die Zeremonien dort kümmern. Immer wieder versuchen sie, den Jüngeren ihre Grenzen aufzuzeigen und Ratschläge für die Verwaltung des Friedhofs zu geben. Ein RSIVeteran warnte mich zum Beispiel immer wieder vor Treffen mit bestimmten Personen aus den jüngeren Generationen und deutete an, mich in meiner Forschung nicht mehr zu unterstützen, sollte ich eine bestimmte Gruppe aus der zweiten Generation weiter frequentieren, die den Campo della Memoria regelmäßig besuchte. Eine Generation ohne Kriegserfahrung konnte vor den Veteranen schwer bestehen. Einige RSI-Veteranen boykottierten seit dem Tod von Raffaella Duelli sogar die Veranstaltungen auf dem Campo della Memoria. Andere Veteranen wiederum beklagten sich bitter, man habe ihre Verdienste bei der Finanzierung des Friedhofs nie gewürdigt. Sie waren davon überzeugt, der Friedhof müsse unter ihrer Verwaltung stehen. Immer wieder wurde mir berichtet, dass es seit jeher Streitigkeiten über die Finanzierung des Friedhofs gebe, die auf Spenden von RSI-Veteranen beruhte, genauso wie über Zuständigkeiten und Befugnisse. Die Verwaltung der Toten ist eine heikle Angelegenheit, die Fragen nach Besitz und Zuständigkeiten sowie sozialen Hierarchien aufwirft. Die Auseinandersetzungen zeigen auch, welch existenziellen Stellenwert die Toten einnehmen. Sie sind das kulturelle und politische Kapital des Nachkriegsfaschismus. Im Schatten eines verlorenen Krieges sind sie ein Mittel, um physisch und politisch Territorium zurückzugewinnen. Die Topografie der Toten in Italien zeigt die Schwierigkeiten im Umgang mit den Toten nach dem Zweiten Weltkrieg, ihre zentrale Bedeutung für die Hinterbliebenen sowie ihr politisches Kapital. Ihre sterblichen Überreste liegen in der Erde und strukturieren die Landschaft, sind materielle Ausformung und Referenzrahmen der Erinnerungskultur. Die Umbettung der Überreste der RSI-Veteranen wirft Eigentumsansprüche an den Toten auf und stellt ihre Verwaltung zur Diskussion. Die Sekundärbestattung macht die Leichen der toten Soldaten zu einem
55 Vgl. Kapitel 2.4.3.
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verhandelbaren Gegenstand, zu politisch instrumentalisierbaren Reliquien56 der faschistischen Vergangenheit. Im Nachkriegsfaschismus spielen die toten Soldaten vor allem deshalb eine so zentrale Rolle, weil sie von der antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg ausgeschlossen werden und ihnen damit auf nationaler politischer Ebene aus Sicht des faschistischen ambiente die Würdigung verwehrt bleibt. Der Kampf um die Anerkennung der eigenen Toten hat seit Kriegsende unerschöpflich politische Kräfte mobilisiert. Die Anerkennung und Würdigung aller Toten ist eine der Kernforderungen neofaschistischer Politiker. Es ist auch der Versuch, Ordnung in die Totenwelt zu bringen und dadurch Ordnung in der sozialen Realität zu schaffen sowie die eigene Identität und soziale Position zu stärken.
4.2 DIE KRAFT DER ERDE Elf Jahre hat es gedauert, bis aus dem Stück Land, das die RSI-Veteranen erwarben, ein Friedhof geworden ist. Die Geschichte des Campo della Memoria ist auch die Geschichte über die Verwandlung eines Schuttabladeplatzes, eines ehemals verschmutzten in einen heiligen Ort. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg sammelte man die Überreste der Gefallenen in sogenannten Ossarien, Beinhäusern,57 im christlichen Reliquienkult werden Knochen zu einem wichtigen Verbindungsglied mit den Toten. Als sterbliche Essenz nach dem Verfall des Körpers erlangen sie neue Bedeutung, sind gereinigter Tod.58 Auf dem Campo della Memoria liegen die Knochen der gefallenen Soldaten in der einst blutgetränkten Erde des ehemaligen Schlachtfelds. Doch zuvor musste die Erde dort gereinigt werden. Man entfernte den Schutt und machte das Gebiet begehbar, danach wurde der Ort durch einen katholischen Priester geweiht. Bei diesen Formen der Verwandlung spielt die Erde eine zentrale Rolle. Auf der Suche nach der Bedeutung von Erde im Zusammenhang mit der Reinigung beschmutzter Orte muss man sich nicht sehr weit vom Campo della Memoria entfernen. Im südlichen Randgebiet Roms, circa eine halbe Stunde Autofahrt entfernt, liegt die bis 1836 von Zisterziensern geführte Abtei Abbazia delle Tre Fontane, deren Geschichte bis ins erste Jahrhundert nach Christus zurückreicht. Seit
56 Vgl. (Hertz 2007[1907]: 118). 57 Vgl. Ossarien für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Norditalien im Trentin: http://www.trentinograndeguerra.it/sec_gen_searchresult_map.jsp?ID_LINK=243&area=100&id_schema=41&COL0001=1&COL0002=9 [15.8.2020] 58 Vgl. Hertz 2007[1907]: 118.
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1867 wird das Kloster von Trappisten verwaltet. An diesem Ort wurde, so erzählt es die Legende, im Jahre 67 nach Christus der Apostel Paulus auf Kaiser Neros Befehl hingerichtet. Der abgeschlagene Kopf des Märtyrers schlug drei Mal auf dem Boden auf und an allen drei Stellen entsprangen später Quellen. Die Legende verlieh dem Ort seinen Namen: Tre Fontane [drei Quellen]. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in der Umgebung der Abtei, wo sich heute römische VorstadtPalazzi und hohe Pinien aneinanderreihen, nur wilde Natur. Am 12. April 1947, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, soll direkt neben dem Kloster in einer der Tuffsteingrotten inmitten eines verwilderten Eukalyptuswaldes einem Römer namens Bruno Cornacchiola die heilige Jungfrau Maria erschienen sein.59 1913 als Kind einer römischen Arbeiterfamilie, kämpfte er im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Kommunisten gegen die Truppen Francos. Dort soll ihn ein deutscher Protestant überzeugt haben, Mitglied in einer Baptistengemeinde zu werden. Später trat Cornacchiola den Adventisten bei. Als Gegner der katholischen Kirche sowie des Papstes trat Cornacchiola außerdem in die damals illegale kommunistische Partei ein. Sein Hass auf die Kirche soll so weit gegangen sein, dass er plante, Papst Pius XII zu töten, den er für einen Verräter der christlichen Ideale gehalten haben soll. Während eines Ausflugs ins Grüne mit den Kindern soll ihm am 12. April 1947 in diesem Wäldchen auf dem heutigen Gebiet der Abbazia delle Tre Fontane in einer Grotte jedoch die heilige Jungfrau in einem grünen Gewand erschienen sein, die Vergine della Rivelazione, heilige Jungfrau der Johannesoffenbarung. Tornate alla fonte pura del Vangelo [kehrt zur reinen Quelle des Evangeliums zurück], soll sie ihn angewiesen haben. Er konvertierte daraufhin zum Katholizismus und stellte sein Leben in den Dienst der Kirche. Um den großen Vorplatz und das flache Klostergebäude hat man in neuerer Zeit sorgsam die Natur gebändigt und einen Park angelegt. Dahinter ist es hügelig, Bäume und Sträucher bedecken den Boden um eine kleine Kapelle herum, in der eine lebensgroße Madonnenstatue in grünem Gewand steht – inmitten von Plastikblumen. Am Tag der alljährlichen Madonnenerscheinung am 12. April, [la manifestazione della Madonna], pilgern hunderte Gläubige zum Heiligtum. Wärter schleusten die Massen an der Madonnenstatue vorbei. Die Madonna manifestiert sich dem Glauben nach an diesem Tag in bunten Lichtstrahlen, die um die Sonne herum sichtbar werden, vor allem, wenn man lange direkt in die Sonne sieht. Die Gläubigen fotografieren während der Messe hektisch die bunten Sonnenstrahlen und versuchen, den Blick in die Sonne ohne Sonnenbrille zu ertragen. Die Jungfrau der Offenbarung, die hier verehrt wird, ist auch die Mutter der Natur, die
59 Zur Geschichte des Ortes und der Madonnenerscheinung aus Sicht der Trappistenmönche, die das Heiligtum verwalten, siehe Alimenti (2007).
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Anhänger des Madonnenkultes sind hauptsächlich Frauen. 2012 nahm mich Brunalda F. zur Messe für die Madonna delle Tre Fontane mit, eine 60jährige, streng gläubige Römerin mit zwei schwer kranken Töchtern, die hier für deren Heilung betete. Das gesamte Areal war mit hunderten Teilnehmern überfüllt. Nach der Messe wurden die Aufnahmen mit denen des letzten Jahres verglichen, man diskutierte die Farben und deren Bedeutung. Abbildung 4.5: Madonna delle Tre Fontane
Quelle: Lene Faust Im hinteren Bereich der Anlage befindet sich eine weitere Grotte, die Wände voller Ex-Voto-Tafeln,60 Dankbezeugungen und Gaben der Gläubigen an die heilige Jungfrau für ihren Schutz, erfahrene Gnaden, erhörte Bitten oder überstandene Krisen. Hinter einem groben Eisengitter in einer Erdhöhle ist dort auch ein kleiner steinerner Altar. Gläubige kratzten mit den bloßen Händen die Erde heraus, die sie in mitgebrachte Plastiktüten füllen. Diese Erde wird am Tag der Madonnenerscheinung auch in kleinen Plastikdöschen am Eingang des Geländes verkauft, das
60 Ein Überblick über die Vielfalt der Erscheinungsformen der Ex-Voto-Tafeln in der abendländischen Tradition, auch Weihebilder oder Votivbilder genannt, findet sich bei Kriss-Rettenbeck (1972), lat. Formel Ex-Voto bereits in der heidnischen und christlichen Antike gebraucht (Kriss-Rettenbeck 1972: 273).
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Bild der grüngewandeten Madonna klebt auf der Oberseite. Die Verkäuferin versicherte mir, die Erde sei bereits gesegnet, man könne sie sofort verwenden, beispielsweise auf Wunden auftragen. Brunalda war der Ansicht, man solle sie den Kranken oder Ungläubigen mit dem Essen oder auch im caffè verabreichen61 und es gibt zahlreiche Geschichten über ihre Wunderwirkung. Auch Mitglieder der faschistischen Nachkriegsszene fühlen sich dem Kult verbunden. Die Tochter eines RSI-Veteranen erzählte mir, er sei ein wichtiger Bestandteil ihrer Kindheit gewesen. Sie sei damit aufgewachsen und noch immer sei die alljährliche Messe am 12. April ein wichtiger Tag für die Familie, an dem man sich traditionell jedes Jahr treffe. Alles dreht sich an diesem heiligen Ort um Erde, Boden. Alle Legenden und Geschichten handeln von Verunreinigung, Verwandlung und wundersamem Segen durch gereinigte Erde. Brunalda erzählte mir von einer weiteren Geschichte der Verunreinigung der Erde an diesem Ort. Wo jetzt das Heiligtum stehe, sei einst eine Wildnis gewesen, in der sich Räuber, Banditen und Prostituierte getroffen und versteckt hätten. Mörder hätten ihre Opfer, Frauen ihre abgetriebenen Föten in der Erde verscharrt, una terra di peccato62 [ein Ort63 der Sünde]. Dabei sprach sie sehr leise und kam nah an mich heran, als könne das bloße Aussprechen dieser Gräueltaten Schaden verursachen. Sie selbst hatte als junge Frau ein Kind abgetrieben, wie ich wusste, vielleicht fühlte sie sich auch aufgrund ihrer eigenen Schuldgefühle diesem Ort verbunden. Auch durch den Mord an Paulus wurde der Boden verunreinigt und mit Blut getränkt, dort wo sein Kopf ihn berührte, entstanden heilige Quellen. Zu Bruno Cornacchiola, auch er ein Ungläubiger und Verbrecher, der auf diesem Stück Erde geläutert wurde, soll die Madonna gesagt haben: Con questa terra di peccato opererò potenti miracoli per la conversione degli increduli.64 [Mit diesem Land der Sünde werde ich mächtige Wunder für die Bekehrung der Ungläubigen wirken.]
61 Vgl. Hexereipraktiken in Süditalien, darunter die Beigabe verschiedener Substanzen zum Espresso als Zaubermittel (vgl. Hauschild 2002: 124). 62 Zur Geschichte der Madonna delle Tre Fontane siehe auch die Darstellung von Alimenti (2007). 63 Italienisch »terra« in diesem Kontext sinngemäß für »Ort« im Deutschen, wortwörtliche Übersetzung: »Erde«. 64 Vgl. Heiligenbild mit Informationen, das am Heiligtum verteilt wird (Hg.: Santuario »Vergine della Rivelazione«, Frati Minori Conventuali. Via Laurentina, 450 – 00142 Roma).
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Das Land der Sünde, ein Stück Erde wird in ihr Gegenteil verkehrt und zu einem segensreichen Ort der Wunder. Im Volksglauben war dieses Gebiet einst von Mord und Blut befleckt. Opfer von Verbrechen und abgetriebene Kinder liegen in der Erde begraben, eine Wildnis ohne göttlichen Segen, verunreinigt durch den Tod. Die Marienerscheinung Cornacchiolas direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs fällt in eine Phase der gesellschaftlichen Neuorientierung und der Hoffnung auf Reinigung von Gewalt und Krieg. Hier wird die Spiegelung sozialer Dynamiken im Religiösen sichtbar, die Gerinnung historischer Zäsuren und sozialer Neuausrichtung in symbolischen Formen katholischer Heiligenverehrung. Nach der wiederholten Reinigung und Verwandlung des Ortes durch verschiedene Wunder besitzt die Erde eine heilende Wirkung, der Ort hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Verunreinigung und Reinheit, Ungläubigkeit und Frömmigkeit, unreiner Tod und segnende Wirkung berühren sich im Kult der Erde, sie wird sogar physisch zum heilenden, reinigenden Element. Erde verwahrt auch die Toten. Sie kann durch sie verunreinigt werden und zugleich selbst verwandelnd wirken, wenn Tote neu in ihr angeordnet werden und heilende Kräfte entwickeln. Die ursprüngliche Verunreinigung des Bodens spielt eine zentrale Rolle für die spätere Verwandlung von Orten in heilige Stätten und scheint in einem proportionalen Verhältnis zu seiner nachfolgend positiven Wirkkraft zu stehen. Die Erde ist Teil des Verwandlungsprozesses und verwandelndes Element zugleich: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub65 lautet die Formel der christlichen Liturgie, bevor der Sarg des Toten in das Grab heruntergelassen wird. Im Tod wird der Mensch wieder zu Erde. Die Erde verwandelt, durch rein biologische Vorgänge, aber auch auf symbolische Weise. Der Campo della Memoria erlangt seine Bedeutung durch die Dimension seiner Vergangenheit als ehemaliges Schlachtfeld und die Verwandlung dieser Erde durch verschiedene Reinigungsriten von einem verunreinigten Ort in eine heilige Grabstätte. Man hat die Erde bebaut, sie mit Beton, Stein, Messing und Text versehen. Die Oberfläche ist veränderbar, aber die Erde darunter ist eine Konstante, die bleibt und durch das Ausmaß ihrer Verwandlung bedeutsam ist. Dadurch, dass sie die Geschichte speichert, entwickelt sie ihre Verwandlungskraft.
65 Liturgische Formel der christlichen Beerdigungszeremonie.
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4.3 DIE MACHT DER TOTEN Tote können aus der Perspektive der Lebenden unruhig oder unbefriedet sein. Manchmal werden solche unruhigen Toten auch als ›untot‹ bezeichnet, beispielweise in der neapolitanischen Tradition der Traumdeutung, der Smorfia Neapoletana, die Traumszenen in ein System aus Zahlen übersetzt. Dabei wird zwischen unterschiedlichen Toten differenziert: Die Nummer 47 steht für einen ›einfachen‹ Toten, die 48 für einen Toten, der spricht – einen ›untoten‹ Toten. Tote bleiben nach ihrem physischen Tod als Mitglieder des sozialen Gefüges unter den Lebenden präsent, vor allem während der Trauerzeit, aber auch darüber hinaus.66 Bei jährlichen Gedenkfeiern und -zeremonien wird das Band zu den Toten immer wieder erneuert. Nach Hertz beinhaltet der Prozess des Todes eine Übergangszeit,67 während der der Tote als ›Untoter‹ wahrgenommen wird, bis er endgültig seine Reise ins Jenseits antreten kann. Das Grab ist der Ort, an dem eine physische Verbindung zum Toten und zwischen den Welten hergestellt wird, von dem aus der Tote auf seine Wanderung durch das Jenseits geschickt werden kann. Die Erde öffnet sich dort, wo sie den toten Körper beherbergt, zu einem Jenseits und stellt eine Verbindung dazu her. In christlichen Jenseitsvorstellungen wird die Welt nach dem Tod in verschiedene Phasen unterteilt. Seit dem 12. Jahrhundert verbildlicht die Vorstellung des Fegefeuers den Übergang von der Welt in einen endgültigen Zustand in der Nachwelt – in der Hölle oder im Paradies. Die Welten sind miteinander verbunden, wie es Dante Alighieri auf seiner Wanderung durch das Jenseits beschreibt:68 Von der Erde geht es ins Fegefeuer und von dort in die Hölle, dann erst wird das Paradies erreichbar. Verschiedene Kategorien und Bewertungen begangener Sünden entscheiden über das Schicksal des Toten im Jenseits und die Dauer des Aufenthaltes im Fegefeuer. Tote, deren Leichen nicht gefunden werden, bleiben unruhige Tote, wenn Bestattungs- und Trauerriten fehlen, die den Verwesungsprozess begleiten und der Verabschiedung und Überführung des Toten in die jenseitige Welt dienen. Viele der Gefallenen starben fern der Heimat, andere gefallene Soldaten der Truppen der RSI wurden in den Wirren des Bürgerkrieges und Kriegsendes sowie im Zuge illegaler Lynchaktionen in der Nachkriegszeit nie gefunden. Ohne Leiche und ohne Grab fehlt den Hinterbliebenen ein Ort für die Trauer und die Riten, die den
66 Vgl. Stagl 2002: 45. 67 Vgl. Hertz 2007[1907]: 67-111. 68 Dante Alighieri: La Divina Commedia (entstanden zwischen 1307-1320, dt. Die göttliche Komödie, 1969), vgl. auch Macho: die »diesseitige Entsprechung [ist] die Totenreise in der Trauerzeit« (Macho 2002: 415).
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Trauerprozess ermöglichen. Auch diese Toten bleiben unruhig. Alessandro, RSIVeteran, erzählte mir, dass ein Teil seines Bataillons von Partisanen getötet und vergraben worden sei. Noch Jahre nach dem Krieg seien sie jeden Sommer in diese Gegend gefahren, um nach ihren toten Kameraden zu suchen – sie hätten die Leichen jedoch nie gefunden. Auch der Vater von Ciro D.69 war wie viele andere bei jeder Nachricht über ein neu entdecktes Massengrab faschistischer Soldaten in den Norden gereist und hatte erfolglos nach seinem bei Kriegsende von Partisanen getöteten Bruder gesucht. Tote, deren Leichen nicht gefunden werden, sind ein Faktor der Unruhe für die Lebenden, die nach ihnen suchen. Die Suche nach Toten, die noch nicht begraben werden konnten, wirkt über Generationen als Unruhefaktor im Familiensystem.70 Abbildung 4.6: Dantes Weltbild
Quelle: Lang/ McDannell 1990: 124
69 Vgl. Kapitel 2.3.3. 70 Vgl. Kapitel 3.3.2.
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Die faschistischen Toten – die Kriegstoten, aber auch die Toten der anni di piombo – können jedoch auch aus einem anderen Grund nicht zur Ruhe kommen: Die Nachkriegsfaschisten kämpfen im antifaschistischen italienischen Staat seit Kriegsende erfolglos und trotzdem vehement für deren offizielle Anerkennung. Das gemeinsame Ziel hält das soziale Gefüge trotz zahlreicher Differenzen zusammen, eine Energiequelle und Motivation für die Gemeinschaft und für politische Mobilisierung. Die Lebenden lassen auch die Toten nicht zur Ruhe kommen, da sie auf die Mobilisierung der Gemeinschaft durch die Toten angewiesen sind. ›Untote‹ Tote sind ein ambivalenter Motor für die Lebenden: Sie binden in der Vergangenheit und mobilisieren für die Zukunft, eine spannungsgeladene Verbindung, die über Generationen Unruhe stiftet und zeigt, welch zentralen Einfluss ungelöste Konflikte in der Vergangenheit auf die folgenden Generationen haben. Die Totenwelt ist näher an der Welt der Lebenden, als es auf den ersten Blick scheint, der Totenkult spielt eine zentrale Rolle in der Lebensrealität der faschistischen Nachkriegsszene als einer marginalen Subkultur, die um Bedeutung ringt. Es bleiben Rechnungen offen, auch politisch. 4.3.1 Manifestation im Ritual Die Unruhe, die die neofaschistische Szene in Bezug auf ihre Toten beherrscht, prägt und strukturiert das Kollektiv. Es sind die ›Untoten‹, die zur Unruhe der gesamten Gemeinschaft werden, es ist die Unruhe der sich als heimatlos begreifenden Faschisten im antifaschistischen Nachkriegsitalien, die sich am Gedenken der ›Untoten‹ entlädt.71 Das (Schuld-)Gefühl, noch etwas tun zu müssen für diese Toten, die im Krieg oder in gewalttätigen Auseinandersetzungen zu Tode kamen, während man selbst am Leben blieb, bindet die (Über-)Lebenden an sie und verleiht ihrem Leben zugleich einen höheren Sinn. Für alle Generationen des Nachkriegsfaschismus ist der Totenkult der Kern des rituellen Zusammenhalts, eine einseitige und damit asymmetrische Beziehung der Lebenden zu diesen unruhigen Toten, die alljährlich wiederkehrend erinnert werden. Der Totenkult strukturiert die Gemeinschaft im Jahresrhythmus des Gedenkens und bündelt rhythmisch starke Emotionen. Für Wut, Trauer, Aggressionen, Gewaltbereitschaft oder Rache den Tätern gegenüber, aber auch eigene traumatische Inhalte bietet der Totenkult ein Ventil. Er kanalisiert individuellen emotionalen Druck, eine Form der Auslagerung des individuellen Umgangs mit den Toten in das Kollektiv. Dieser emoti-
71 Eine ähnliche Bedeutung nehmen Tote und Totenrituale bei Sinti in Italien ein (vgl. Tauber 2014).
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onale Druck will nicht nur rituell kanalisiert, sondern auch verwaltet werden. Daher streitet man so häufig über die Toten, die symbolisch auch für alle Formen emotionaler und psychischer Belastung stehen. Es gibt Fürsprecher, Verwalter und diejenigen, die dieses Potential politisch nutzen. Rituelle Formen sind veränderliche Strukturen, die in kontinuierlichen Aushandlungsprozessen an Bedürfnisse der sozialen Realität im Spannungsfeld individueller und kollektiver Referenzpunkte verhandelt und an diese angepasst werden. Trauerrituale und Totenkult sind also kein spontaner Ausdruck von Emotionen, sondern ritueller Ausdruck und soziale Kodifizierung von Krisensituationen72 wie Tod, Verlust und Niederlage. Das Ehren der Toten bedeutet die Erneuerung des Bundes mit ihnen. Der presente73 als ritueller Kern des faschistischen Totenkults ist zugleich ein sakraler und politischer Akt. Die Toten werden zur symbolischen Kraft, sind Legitimation der eigenen Identität und des politischen Handelns: »Durch die Teilnahme an Ritualen identifiziert sich der Bürger eines modernen Staates mit den politischen Kräften, die nur in symbolischer Form fassbar sind« (Kertzer 1998: 365). Der Totenkult ist die Basis für Politik, umgekehrt gilt: »Politik ist körperlich, magisch« (Hauschild 2002: 495). Das Ritual des presente beinhaltet auch das Element der Trance74 in der rituellen, körperlichen Verbindung der Lebenden mit den Toten.75 Zum einen versetzen die rituellen Praktiken die Teilnehmer in einen tranceartigen Zustand.76 Trance stellt häufig auch einen Moment der gezielten Verbindung und Besetzung durch die Toten dar, die als Fremdeinfluss in Form ritueller Trancepraktiken kanalisiert werden können. Den Vorstellungen über die Verbindung zwischen Lebenden und Toten liegen auch Vorstellungen vom Geist der Toten zugrunde, der die Lebenden besetzen und belasten kann.77 Traditionelle magische Praktiken bis hin zu kirchlichen Exorzismen stellen bis heute ein Handwerk zur Reinigung des Menschen von überirdischen oder jenseitigen Einflüssen auf die menschliche Seele dar. Allen Reinigungsriten liegt die Vorstellung zugrunde, dass Tote und andere Zwischenwesen einen negativen Fremdeinfluss darstellen können. Im faschistischen Totenkult verkehrt man die Verbindung mit den Toten ins Positive. Man sucht explizit die Nähe zu ihnen, bittet um ihren Segen, lädt sich
72 Vgl. Durkheim 1981, Kapitel 5 Buch 3. 73 Eine ausführliche Beschreibung des presente-Rituals findet sich in Kapitel 1.3.4. 74 Überblick über klassische Trancekulte bei Streck (2006). 75 Vgl. McNeill 1995: 152. 76 Vgl. Palmisano 2013: 9. 77 Vgl. Hauschild zur Verbindung magischer Praktiken mit Totengedenken im Kontext von Kriegserinnerung (Hauschild 2002: 389).
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mit einem militärischen Ritus freiwillig ihr Schicksal auf die Schultern. In der körperlich praktizierten, militärischen Disziplin entsteht auch ein Moment der Trance. Man lässt sich vom Geist der toten Soldaten besetzen und zelebriert diese Besetzung in der körperlichen Erstarrung des Kollektivs. Über den Akt der körperlichen Verbindung findet eine (Rück-)Verwandlung der Veteranen und Zivilisten in Soldaten statt, eine Verschmelzung der Teilnehmer zu einem einzigen Körper. Um die Besetzung durch die Toten im kulminierenden Moment der Verbindung mit ihnen wieder zu entzaubern und ihnen die Macht über die Lebenden wieder zu nehmen, werden sie beim Namen genannt. Der Bann der körperlichen Verbindung wird bewusst verbalisiert und zugleich gebrochen, denn im »Ritual sind gelebte und vorgestellte Welt ein und dasselbe, sie sind in einem einzigen System symbolischer Formen verschmolzen« (Geertz 1973: 112-113). Das Ritual dient der gezielten Kontrolle über die Toten und ihrer Wirkung auf die Lebenden. Ihre Macht muss kontrollierbar bleiben. Die (körperliche) Verbindung mit den Toten im presente hat keine spezifische Richtung, kein Ziel, sucht keinen Ausweg, keine Lösung. Vielmehr hat sie die Form einer ständigen, kreisförmigen Bewegung: eine endlose Suche nach den Toten, die unruhig bleiben müssen, solange sie gesucht werden, da sie so den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken. Der neofaschistische Totenkult verkörpert in seiner militärisch disziplinierten, starren, sich immer wieder wiederholenden Struktur das Element des Traumatischen als einer nicht zu Ende kommenden Bewegung: die Suche nach den Toten, nicht verarbeiteter Schmerz, Trauer und Wut, traumatische Elemente, kanalisiert in einer endlosen Spirale. Totenkult ist auch Ohnmacht, traumatische Kreisbewegung in Form einer dauerhaften, tranceartigen Verbindung mit den unbefriedeten Toten. In militärischen Bewegungsabläufen manifestieren sich Starre und kontrollierte, synchronisierte Bewegungen als polare Muster, die Spannungen erzeugen und individualpsychologische Seelenzustände traumatisierter Menschen in der Bewegung widerspiegeln. Diszipliniert erstarrte Menschen setzen sich bei einem militärischen Marsch in Bewegung, dieser wird zu einer Trance durch die immer gleichförmigen Bewegungen und liegt dem presente zugrunde, auch wenn das Ritual nur noch einen spezifischen Teil davon, den militärischen Appell beinhaltet. Der Totenkult fasst das Traumatische in der unvollendeten Bewegung der tranceartigen Verbindung mit den Toten, die immer wieder wiederholt wird und sich als grundlegende Struktur des Nachkriegsfaschismus manifestiert. Das Element der Trance während des presente ermöglicht zugleich eine individuelle Distanzierung zu eigenen traumatischen Erfahrungskomplexen und unverarbeiteten Emotionen, die in das Kollektiv ausgelagert werden können. Wie ein Behälter fasst der Totenkult die traumatischen Erfahrungen der Einzelnen und öffnet einen kollektiven Raum, in dem diese traumatischen Elemente aufbewahrt
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werden. Sie sind dort gewissermaßen im Kollektiv geschützt und schützen wiederum den Einzelnen vor einer direkten, einsamen Konfrontation. Unbearbeitete (traumatische) Inhalte können dort ungefiltert an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Innerfamiliäre, traumatische Muster verfestigen sich im Totenkult und gerinnen dort zu einer kulturellen Reserve, die den sozialen und politischen Raum überformt, eine starre (soziale) Körperschaft ausbildet. Der rituelle Raum als körperlicher Raum wirkt mit derselben Vehemenz auf den Einzelnen zurück, mit der er individuell geformt wird. Das Verdrängte nimmt im Totenkult Gestalt an und wird in erstarrter Form greifbar. In der Wiederholung liegt der Schlüssel zur unveränderlichen Ohnmacht. Es ist eine Ohnmacht im Angesicht des Todes der anderen, die Ohnmacht als Verlierer des Krieges. Das traumatische Element der Ohnmacht festigt die Struktur des Nachkriegsfaschismus. Seine Mitglieder bleiben in der traumatischen Beziehung zu den eigenen Toten gefangen und müssen auch in dieser Starre verharren, um die Toten als Legitimation der eigenen Identität nicht zu verlieren. Das ritualisierte Totengedenken in seiner traumatischen Gestalt der unerlösten Wiederholung stärkt somit die Identifikation der Gemeinschaft mit den traumatischen Komponenten der eigenen Identität, der Nachkriegsfaschismus besitzt selbst Züge des Traumatischen. Narben verfestigen sich über Generationen hinweg, die Gemeinschaft gleicht einem sozialen Narbengewebe. Diese Narben finden ihre physische Entsprechung an Orten, an denen spezifische Ereignisse erinnert werden und sich in die Erde gebrannt haben. Gedenkstätten und Friedhöfe sind Versuche, Narben zu schließen und hinterlassen zugleich neue Narben in der Landschaft, die durch Beton, Stahl und Gräber verändert werden. Narben sind nicht nur physisch zu begreifen, sondern auch als Falten in der Kultur. In der dritten und vierten Generation der faschistischen Nachkriegsszene, die selbst keinen Krieg und keinen Terror erlebt hat, sind Narben zu einem Charakteristikum für Zugehörigkeit geworden. Ein Post von Alessio R. in den sozialen Medien, Mitglied in einer jungen neofaschistischen Organisation, die immer wieder durch Besetzung leerstehender Gebäude und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei auffiel, löste einen wahren Sturm an Kommentaren und Beteuerungen über vorhandene Narben aus: Ma non vi vergognate, tutti questi tatuaggi e neanche una cicatrice? [Schämt ihr euch nicht für all diese Tätowierungen, während ihr keine einzige Narbe habt?]
Die Liste der Antworten und Kommentare, in denen Männer ihre vorhandenen Narben aufzählten – klassifiziert nach Entstehungsgeschichte – war lang. Nicht
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nur Narben, die politisch motivierten Konflikten entstammten, sondern auch Narben aus Verkehrsunfällen wurden geltend gemacht. Körperliche Narben waren zu einem Statussymbol avanciert. Dieser Diskurs über Narben verweist nicht nur auf die Bedeutung von Gewalt und Körperlichkeit in der neofaschistischen Kultur, sondern auch auf die zentrale Bedeutung von Narben als körperliche Male der Versehrtheit, bleibender Verletzungen und Spuren, die gleich dem Traumatischen irreversibel sind. Der kollektive Umgang mit Narben auf einer rituellen Ebene wirkt auf die persönliche Ebene zurück, wo Narben wieder auf die körperliche Ebene zurückübersetzt werden. In transgenerationaler Perspektive wird jedoch deutlich: Je weiter sich die jüngeren Generationen von den traumatischen Inhalten und Ursprüngen entfernen, nachdem sich das politische Klima seit Mitte der 1980er-Jahre beruhigt hat, desto schwieriger wird der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft, desto wichtiger werden äußere Merkmale. Nach Ende von Krieg und Terror spielt Gewalt eine immer geringere Rolle, die körperliche Intensität der Gemeinschaft nimmt proportional zur schwächer werdenden Marginalisierung ab. Die alten traumatischen Gehalte werden nicht erneuert, sie verkrusten mit der Zeit und werden zu rituellen Formen mit abgeschwächter emotionaler Substanz. Die Bedeutung von körperlich sichtbaren Narben nimmt zu, wenn die seelischen Narben abnehmen. Kriege können zu dauerhaften Narben in den Beziehungen zwischen Völkern und Nationen führen und in ritueller Form innerhalb religiöser oder nationaler Gemeinschaften über Generationen weitergegeben werden. Solche unverheilten Narben können wiederum politisch instrumentalisiert werden.78 In Italien hat der Bürgerkrieg unverheilte Narben hinterlassen, die sich in den Konflikten zwischen antifaschistischen und faschistischen Gruppen, Rechten und Linken zeigen und über Generationen weitergetragen werden als unverheilte kulturelle und soziale Narben einer Nation. Solange sich Narben nicht schließen, kann die Dynamik der Unruhe nicht weichen – und umgekehrt. Sie kann nur abstrahiert und in lebensferne Philosophie übersetzt werden, verschoben in einen Bereich, der die Identität der sozialen Gemeinschaft nicht gefährdet. Kulturproduktion ist auch Umgang mit Falten oder Narben aus historischen Abläufen, ihr Einweben in das soziale Beziehungsgewebe, die Übersetzung dieser Verwerfungen in rituelle Praktiken und politische Aktion ein gestaltendes Element und kulturelle Ressource.
78 Vgl. Boissevain 2013: 20-27.
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4.3.2 Verschiebung auf den Narren Nur einige wenige Exzentriker marschieren bei faschistischen Gedenkzeremonien noch im Gleichschritt. Es sind Außenseiter aus den jüngeren Generationen, die keine direkte Kriegs- oder Kampferfahrung besitzen. Zu Messen und Gedenkfeiern erschien immer wieder eine kleine Gruppe in historischen Uniformen verschiedener Truppenverbände der RSI. Eine Originalfahne der RSI in der Hand marschierten sie gemeinsam im Stechschritt, eine Demonstration militärischer Disziplin und perfektionierter Erstarrung. Innerhalb des faschistischen ambiente wurden solche Inszenierungen häufig belächelt und vor allem durch die Veteranen als Störfaktor und Provokation empfunden – verkleideten sich doch Männer als Soldaten, die nie gekämpft hatten. Immer wieder rügten Veteranen die jüngeren Exzentriker, jedoch ohne Erfolg – ein gegenseitiges Arrangement der Schelte und gleichzeitigen Akzeptanz. Das Element des Bizarren und Exzentrischen wurde zwar kritisiert, aber dennoch geduldet. Es war ein Störfaktor, der zugleich Authentizität und Ernsthaftigkeit bei denen stärkte, die sich im Bereich der gemeinschaftlichen Norm davon abgrenzen. Dieser karnevaleske Part der faschistischen Erinnerungskultur war ein überdeutlicher Bezug auf die Vergangenheit durch Kleidung, Symbolik und Gestik. Er erschien lächerlich und fehl am Platz und stellte zugleich durch seine Künstlichkeit ein Moment der Distanzierung zur emotional stark besetzten Vergangenheit her, auch für diejenigen, die am kritischen Diskurs darüber teilhaben. Komprimierte Übertreibung im Clownesken zieht das Ernsthafte ins Komische. Das komische Element relativierte den ernsthaften Kern und damit auch die empfundene soziale Marginalisierung. Humor und Exzentrik waren von Bedeutung, um negative Gefühle zu kontrastieren, eine allgemeine Haltung unter den Nachkriegsfaschisten, wie u.a. Federico S. immer wieder betonte: noi fascisti siamo allegri! [wir Faschisten sind lustig!]. In der Fremdheit des Clownesken lag ein Schlüssel zur vorübergehenden Distanzierung von Tragik und Ernsthaftigkeit. Der Narr selbst ist in seiner Grundtypologie Symbolfigur für eine verkehrte Welt in einer spezifischen Kultur und damit kontrastierender Bestandteil eines sozialen Gefüges.79 Narren verkörpern das Gegenteil zur personne morale in einer Kultur.80 Sie widersetzen sich der sozialen Ordnung und verkehren diese in ihr Gegenteil, indem sie sich konträr zur Norm verhalten:
79 Zur Kulturgeschichte der Narren und ihrer Darstellungen in Kunst und Literatur seit dem Mittelalter siehe Kuper (1986). 80 Vgl. Schnepel 2001: 100/ 101.
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»Als Figuren des Zwischenraums und der Zwischenzeit, als Überbrücker des Unüberbrückbaren, als Zerstörer und Erneuerer in einer Person verkörpern Narren dabei auch das Prinzip menschlicher Handlungsfähigkeit – dies auch und ganz besonders im Angesicht des stählernen Gehäuses allgegenwärtiger und oft als sakral-unantastbar geltender Vorschriften.« (Schnepel 2001: 118)
Der faschistische Narr ist der exzentrische Soldat, der sich in Uniform und Stechschritt vor den faschistischen Veteranen, den wahren Soldaten, inszeniert, obwohl ihm die Kriegserfahrung fehlt. Er ist eine Mischform einiger Narren-Typen, die Schnepel skizziert:81 Er treibt die Identifikation mit den Idealen der eigenen Subkultur auf die Spitze und zeigt in dieser Form der Überidentifikation eine gewisse Form von Einfältigkeit, Sturheit und Unbelehrbarkeit, die der Narren-Typologie des Idioten entspricht. Allerdings unterscheidet er sich von dessen Charaktereigenschaft der Passivität. Vielmehr zeichnet er sich durch übertriebene Aktivität aus in seinem blinden Eifer und der Kopie eines Soldatenideals, ähnlich dem DonQuijote Narrentypus, der im Angesicht der Realisierung seiner Ideale den Bezug zur Realität verliert. Der Gegenentwurf des faschistischen Narren zur eigenen Subkultur kann nicht in der Verkörperung ihres Gegenteils bestehen, denn diese Position nimmt in der faschistischen Sicht bereits der Antifaschismus ein. Der Nachkriegsfaschismus steht im Sinne Victor Turners82 als Antistruktur in einem dialektischen Verhältnis zur antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft. Das Verhältnis zwischen Communitas als marginalisierten sozialen Randgruppen und der Gesellschaft generiert beständig Versuche der sozialen Neustrukturierung und bedingt die Festigung hierarchischer Strukturen. In solchen liminalen sozialen Randgruppen wird die Gesellschaft kontrastiert, eine Form ist das Narrenhafte. Das Narrenhafte innerhalb der marginalisierten sozialen Anti-Struktur der Nachkriegsfaschisten muss daher andere Ausprägungen annehmen und kann sich nur der doppelten Verschiebung des Narrenhaften in den Bereich des Übertriebenen und Ernsthaften bedienen. Der Typus des blinden und eifrigen, die Ideale der Gemeinschaft (tod-)ernst nehmenden Narren, der sich des Mittels der Übertreibung, in diesem Fall des clownesken
81 Schnepel definiert Narren als Individuen, die »in bestimmten Stadien des Lebenszyklus, zu bestimmten Jahreszeiten, in spezifischen Sozialbeziehungen oder sogar für immer die Normen und Werte ihrer Gesellschaft bezüglich dessen, wie ein respektabler Bürger zu handeln und zu denken habe, außer Kraft setzen, sie umkehren oder ironisch unterwandern.« (Schnepel 2001: 100) und unterscheidet acht Narren-Typologien. 82 Vgl. Turner 1989.
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Reenactments bedient, kontrastiert den Nachkriegsfaschismus durch seinen übersteigerten und naiven Ernst. Wie alle Narrenfiguren treiben auch die faschistischen Narrenfiguren kulturelle Prozesse voran und wirken auf die Gestaltung und Aushandlung von sozialen Beziehungen, Politik und Ritualen. 83 In der Triangulation Soldat – Toter – Narr verdichtet sich der Kern der faschistischen Nachkriegsszene: Der Soldat trägt Täterschaft und (traumatische) Kriegserfahrung in sich und ist darüber mit den verschuldeten Toten verbunden, auch wenn die einzelnen Aspekte nicht offen verhandelt werden. Die Figur des (faschistischen) Narren verkörpert die Essenz dieser Verstrickungen in seinem bizarr übertriebenen Soldatentum mit seinen übertriebenen Ausformungen. Sie stellt die Unbeweglichkeit und traumatische Starre, die sich im Totenkult manifestieren, in ihrem Kern zur Schau. Im Bizarren kommt der Ernst zum Vorschein, der unter dem neofaschistischen Totenkult liegt: Es ist der Ernst des Ethos der Soldaten, des Respekts für und das Bedürfnis nach Ordnung und Anerkennung der eigenen Toten, die von der antifaschistischen Nachkriegsgesellschaft als unwürdig und narrenhaft für die nationale Erinnerungskultur erachtet werden. 4.3.3 Der geträumte Blick * Ich bin in einem Haus in einem fernen Teil der Erde, keinerlei Vertrautheit lässt sich dort spüren. Die Umgebung ist mir fremd. Eine verfeindete Gruppe von Personen verfolgt uns, wir versuchen, vor ihnen zu fliehen und bleiben doch immer in diesem Haus. Es ist ein einsamer Ort, ein Haus im Nirgendwo, davor eine Holzveranda, die man durch eine Glastür betreten kann. Von der Veranda führen einige Stufen in einen verwilderten Garten, ich erkenne die Flora des Südens. Dahinter Büsche, Schilf, unzugängliches Terrain und in der Ferne kann man das Ende der Welt erahnen, wie einen Fluss, der uns ganz und gar abschneidet von allem. Eine Grenze, an der das Ende beginnt. Ich weiß, eine Situation hat sich zugespitzt in der Ferne, es wird gefährlich, wir werden bedroht. Dort am Ende des Gartens herrscht Krieg, doch es gibt keinen Rückzugsort, kein Entkommen. Es geht ums nackte Überleben. Kämpfe finden statt, unsichtbar, aber wir wissen doch Bescheid. Irgendwann schafft es einer der feindlichen Männer auf die Veranda: blonde Locken, blaue Augen, die vor Kälte leuchten, ein schwarzes T-Shirt mit irgendeiner wichtigen Aufschrift, die ich nicht lesen kann. Der Krieg ist da. Im Traum erkenne ich ihn, weiß genau, wer er ist und warum Gefahr und Bedrohung von ihm ausgehen. Ich stehe hinter der Glastür der Veranda und schaue hinaus,
83 Vgl. Schnepel 2001: 117.
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sehe die bewaffneten Männer hinter ihm. Große Angst überfällt mich und verstört mich zutiefst. Soldaten tauchen auf, die auf meiner Seite sind, der blonde Mann mit seinen Männern ist in der Minderzahl und unterlegen. Es kommt zum letzten Kampf, aber er rennt nicht etwa fort, um sich zu retten, sondern beginnt zu lachen und wirft sich direkt in die Schusslinie, breitet seine Arme aus, um sich erschießen zu lassen. Einer unserer Soldaten erschießt ihn. Durch die Verandatür aus Glas. Der Schuss trifft ihn mitten in die Brust, sein lautes Lachen erlischt, alles ist voller Blut – ich bin schockiert. Ich weiß, dieser Mann hat zuvor bereits viele Menschen umgebracht – ein Täter, der jetzt Opfer ist, aber dieses Wissen erleichtert mich nicht. Wohin sollen wir mit seiner Leiche? Irgendwer bringt sie fort, doch sein Blick verfolgt mich bis ins Innere des Hauses, in das ich mich flüchte, und später über das Aufwachen hinweg in den Tag hinein. Nachdem die Leiche weggetragen ist, versuche ich, sein Blut abzuwaschen, aber es ist unmöglich. Die Spritzer bleiben am Boden haften, an mir haften und ich fühle Ekel in mir aufsteigen. Ich bin besudelt. Angst schnürt mir weiter den Magen zu, war es doch Mord? Schuldgefühle überwältigen mich, der Schock steckt in meinen Gliedern. Noch beim Aufwachen sind die Kämpfe präsent, retten sich hinüber in den Tag in den überhängenden Falten meines Traumes, die Einzelheiten verloren angesichts des Tageslichts, aber der Schrecken bleibt und diese blauen, kalten Augen – ihr Blick nicht tot. (Feldtagebuch, Dezember 2012) * Am Tag zuvor hatte ich mich mit dem Veteranen Manfredo getroffen, er hatte mir von den Getöteten erzählt. Die Macht der (vorgestellten) Blicke hatte mich in meinem Traum verstört, Manfredo verstörten sie in der Realität. Von diesen Blicken als strukturelle Verbindung zwischen Lebenden und Toten auszugehen, impliziert eine Lesart des Traumatischen und traumatischer Verbindungen, die magische Vorstellungen vom bösen Blick in die Analyse miteinschließt. Der Blick ist das Fenster der Seele, sagt ein Sprichwort und meint die Verbindung zum Innersten einer Person, zu ihrem Wesen und damit zum Lebenskern. Die Macht der Blicke spielt auch in Faschismus und Nationalsozialismus in Form der Bannung der Massen durch die Führer eine zentrale Rolle. Mussolini gilt als Begründer des sogenannten Herrenblicks in seiner modernen Form.84 Im Vordergrund steht die Faszination der Macht der Blicke, Mussolini und seine Praktiken der Machtausübung als Führer des italienischen Faschismus werden positiv konnotiert. Der Glaube an die Macht des bösen Blicks ist hingegen tief verwurzelt im italienischen Volksglauben. Auch wenn dieser heute eine arbiträre und deutlich
84 Vgl. Hauschild 1982: 53ff. und 211ff.
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abgeschwächte Stellung in der italienischen Gesellschaft einnimmt, bildet er das religions- und kulturgeschichtliche Unterfutter für kulturelle Deutungsmuster. Bereits in der römischen und griechischen Antike war der Glaube an den bösen Blick weit verbreitet. Im späteren Italien war er zentraler Bestandteil nicht nur des Volksglaubens (malocchio und jettatura genannt), sondern auch der katholischen Kirche, die den Glauben daran durch Praktiken der Weihung als Schutz und Abwehr gegen den bösen Blick förderte.85 Wie Studien über den bösen Blick86 in Süditalien zeigen, ist der Aberglaube traditionell mit der Existenz von Gegenzauber bzw. Heilritualen verknüpft. Das Negative wird durch Segensformeln abgewehrt und ausgeglichen. Der benötigte Schutz kommt in Form des Segens, des guten Wunsches, der in die Zukunft projiziert wird. Gegen den bösen, neidvollen Blick gibt es zahlreiche Abwehrzauber.87 Dazu gehören auch Amulette wie beispielsweise der (süditalienische) corno portafortuna. Beim Abwehrzauber geht es um Schutz nicht nur vor dem bösen (oft neidvollen) Blick der Lebenden, sondern auch vor den Toten. Verstorbenen müssen im Volksglauben sofort die Augen verschlossen werden,88 denn Leichen und auch abgeschlagene Köpfe können den bösen Blick besitzen und diesen auf die Lebenden werfen. Die Macht des Blicks der Toten ist gewaltig. Gegen die Besetzung durch die Geister der Toten helfen (nur) magische Praktiken,89 denn häufig sind es ›untote‹ Tote, die ihr Unwesen treiben, die Lebenden heimsuchen90 und körperlichen und seelischen Schaden anrichten können. Einer der Mythen des Mittelmeerraums, der den bösen Blick thematisiert, ist der Medusenmythos. Medusa, Tochter von Meeresgottheiten und einzige sterbliche der drei Gorgonenschwestern, lässt sich der Legende nach mit dem Gott Poseidon ein und wird zur Strafe von Athene in ein Ungeheuer mit tödlichem Blick verwandelt, das jeden Mann zu Stein erstarren lässt. Bezwungen wird Medusa schließlich von Perseus, einem Sohn des Zeus, der sie töten kann, weil er in der Lage ist, ihren Blick und die tödliche Kraft zu bannen. Er köpft sie und kann zusammen mit Athene die Macht ihres Blicks in der Folge weiter gegen Feinde nutzen. Das Medusenhaupt mit den aufgerissenen, schreckensgeweiteten Augen und den wirren Haaren aus Schlangen oder Würmern, je nach Darstellung, ist nicht
85 Vgl. Seligmann 1910: 29-32. 86 Vgl. u.a. Seligmann (1910), Hauschild (1982). 87 Vgl. Seligmann 1910, Hauschild 1982:97ff. 88 Vgl. Seligmann 1910: 158-161. 89 Vgl. Hauschild 2002: 239-360, vor allem S. 253ff. 90 Vgl. Hauschild 2002: 255.
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nur ein abgeschlagener Kopf, sondern ähnelt zugleich einer im Wasser aufgequollenen Toten.91 Damit gehört die Medusa zu den ›untoten‹ und unbefriedeten Toten, deren Blick zwar nicht mehr töten kann, jedoch die Erinnerung an die tödliche Kraft in der Todesstarre noch in sich trägt. Lebend ließ sie Menschen zu Stein erstarren, im Tod bleiben ihre Augen geöffnet. Im tödlichen Blick ist sie selbst erstarrt. Das abgeschlagene Medusenhaupt fängt unmittelbar den Moment des Todes ein, sichtbar in den starren, geweiteten Augen der Toten, das Gesicht noch nicht zerfallen, der Totenschädel noch nicht sichtbar. Der Tod liegt in ihrem starren Blick, eine schonungslose Repräsentation der Paradoxie des Toten als anwesender Abwesender.92 Macho spricht von einem »Double«-Charakter der Gesichter von Toten: »Was sich zeigt, ist ein Mensch und doch kein Mensch, ein Gesicht und doch kein Gesicht. Ein vertrautes Antlitz und zugleich eine starre Grimasse. Die Augen sind blicklos gebrochen und dennoch so bedrohlich, dass man sie zudrücken muss, um ihrer Wirkung zu entgehen. Jeder Tote ist ein Double. Er unterscheidet sich von seinem lebenden Zwilling, ohne ein anderer zu werden.« (Macho 2000: 100)
Wie die Opfer der Medusa erstarren auch die Teilnehmer des presente-Rituals im Angesicht der Blicke der erinnerten Toten, ein Erbe des faschistischen Herrenblicks: »Im faschistischen Heldenkult sollte auch der Glaube an die Macht der Blicke neu entstehen. […] Der ›böse Blick‹ lebte weiter, wurde zum ›Bannen‹ der Massen benutzt, aber es stand kein Vokabular mehr zur Verfügung, mit dem dieser Vorgang gültig benannt werden konnte.« (Hauschild 1982: 54)93
Dem starren, erstarrten Blick der Toten wird die militärische Starre der Lebenden gegenübergestellt. Totenblicke werden neutralisiert und in Segen gewendet. Dem presente-Ritual des neofaschistischen Totenkultes liegt auch die Vorstellung einer segnenden Verbindung bzw. eines segnenden Blicks der Toten zu Grunde. Die potenziell schädliche Kraft der ungesühnten Toten wird im Ritual verwandelt. Im
91 Vgl. Wilk 2000. 92 Vgl. Macho 2000: 99ff. 93 Vgl. Theweleit über Walter Benjamins Ausführungen zum faschistischen Herrenblick und Erstarren der faschistischen Masse, Benjamin zitiert nach Theweleit (Theweleit 1977: 554).
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Bann der Unausweichlichkeit des Todes entsteht ein Segen, der von den eigenen Toten ausgeht. Nicht nur geliebte, gefürchtete und geachtete Kameraden, sondern auch die Opfer hinterlassen auf die eine oder andere Weise Spuren im Leben der Täter. Tote werden im Tod blicklos. Doch die Vorstellung ihres Blicks spielt im Leben der Täter eine zentrale Rolle. Einige Veteranen berichteten, dass sie die Blicke der Toten auf sich spürten. Diese Vorstellungen vermischen sich mit christlichen Glaubensbildern wie dem Gericht Gottes mit den Menschen am Jüngsten Tag als einem erneuten Zusammentreffen mit den Getöteten von Angesicht zu Angesicht. Alessandro beispielsweise kam immer wieder darauf zu sprechen, er fürchte sich vor diesem Tag der Abrechnung, an dem er dem Blick der Toten nicht mehr würde entfliehen können und an dem er für seine Taten würde bezahlen müssen. Manfredo sprach explizit mit mir über die Blicke der Getöteten, die ihn verfolgten und in der Nacht heimsuchten. Es war offensichtlich, dass er sich diesen Blicken nicht entziehen konnte, die ihm den Schlaf raubten, ihn in die Hölle hinab zogen, aus der er dann wieder an die Sonne zurückkehrte.94 Auch Michele war überfordert mit der Präsenz der Toten, er fürchtete sich davor, ihnen und damit auch ihren Blicken zu nahe zu kommen. Seine Psyche war ihm während unserer Gespräche zu Hilfe gekommen und hatte in entscheidenden Momenten Verwirrung gestiftet und Vergessen geschenkt. Die Veteranen, die von den Blicken der blicklosen Toten getroffen wurden, die sie verfolgten, hatten keinen Abwehrzauber, keinen Segen, der die Macht dieser Blicke mildern konnte. Heimgesucht und besetzt von den Getöteten aus der Kriegszeit, gab es für viele keinen Schutz. Die individuellen Bindungen zwischen Tätern und Opfern, die vorgestellten Blicke der Toten blieben bestehen und die Täter in diesen Blicken gefangen, die Macht der Blicke auf gewisse Art zeitlos. Diese vorgestellten oder gefühlten Blicke sind Ausdruck einer ungelösten Verbindung zwischen Täter und Opfer. Es sind Blicke von Toten, die aus blicklosen Augen kommen, die sich nicht mehr schließen lassen. Lassen sich die Augen nicht schließen, ist der Sterbeprozess unterbrochen. Die Blicke der ›untoten‹ Toten sind zugleich das traumatische Element. Die Wiederkehr des Verdrängten ist deformiert, vernarbt, direkt und unausweichlich – wie ein starrer Blick.
94 Vgl. Kapitel 3.2.3.
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4.4 IM NAMEN DER TOTEN Der Umgang mit den Toten des Faschismus steht im Mittelpunkt, ist Ausgangspunkt und Basis des Nachkriegsfaschismus. Die Toten sind die kulturelle Reserve einer Gemeinschaft; die Gestaltung der Topografie der Toten ist ein zentraler Aspekt der Kulturproduktion, determiniert durch die jeweiligen historischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen. Kultur- und religionsspezifische Zeremonien und Trauerrituale helfen, Verlust und Trauer zu kanalisieren, indem sie Erfahrungen und emotionale Gehalte in Handlung übersetzen und diese im sozialpolitischen Rahmen mit Sinn füllen. Die (physische) Herstellung der Ordnung in der Welt der Toten, die Anordnung von Friedhöfen und Gräbern, ist notwendig für die Ordnung in der Welt der Lebenden. Dabei kommen rituelle Praktiken der Zweitbestattung sowie der Verwandlung zum Tragen. Rituelle Praktiken des Totenkultes strukturieren die faschistische Erinnerungskultur im Verlauf des Jahres. Aktivität im Namen der Toten als Umwandlung menschlicher Passivität im Angesicht des Todes ist Traumabewältigung für die Lebenden im Namen der Toten. Nicht nur Trauer, sondern auch Aggressionen, Gewaltbereitschaft, Wut oder Rache den Tätern gegenüber können im Totenkult verhandelt werden. Die einzelnen Toten werden zu Märtyrern und in der Summe zu symbolischen Verwandten aller Nachkriegsfaschisten, deren Tod den Lebenden Loyalität abverlangt und zugleich Kraft gibt, indem er die faschistische Gemeinschaft intern stärkt. Im Totenkult manifestiert sich Ohnmacht in Form traumatischer Kreisbewegung, das Element der Trance garantiert die Verbindung mit den unbefriedeten Toten. In militärischen Bewegungsabläufen des Totenkultes manifestieren sich Starre und kontrollierte, synchronisierte, militärische Bewegungen als polare Muster, die individualpsychologische Seelenzustände traumatisierter Menschen widerspiegeln. Der Totenkult fasst die traumatischen Erfahrungen der Einzelnen und hält sie gewissermaßen in einen kollektiven Raum zusammen, schützt sie im Kollektiv. Unbearbeitete (traumatische) Inhalte können verfestigt und ungefiltert an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Die Macht der Toten ist zugleich eine kulturelle Reserve, die den sozialen und politischen Raum überformt und eine starre (soziale) Körperschaft kreiert. Das ritualisierte Totengedenken als Form der unerlösten Wiederholung stärkt die Identifikation der Mitglieder mit den traumatischen Komponenten der faschistischen Identität. Der Nachkriegsfaschismus selbst wird durch Züge des Traumatischen charakterisiert, gleich einem über die Generationen festgeschriebenen, sozialen Narbengewebe. Die Figur des faschistischen Narren verdeutlicht mit seinem bizarr übertriebenen Soldatentum die Essenz dieser traumatischen Gehalte und vernarbten Verstri-
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ckungen. Die Unbeweglichkeit und traumatische Starre, die sich im Totenkult manifestieren, werden hier greifbar, denn im Narren kommt der Ernst zum Vorschein, der unter dem neofaschistischen Totenkult liegt: der Ernst des Ethos der Soldaten und des Respekts für die Toten. Der Kampf für die faschistischen Toten ist moralisch legitimiert und legitimiert die faschistische Identität nach 1945, über die Toten werden Präsenz und Identitätskonzepte, soziale und politische Legitimation sowie Zukunftsvisionen gerechtfertigt und ausgehandelt. Der Nachkriegsfaschismus ist in seiner traumatischen Gestalt eine kollektive Reaktion der Starre, der Vermeidung und Nicht-Auseinandersetzung mit Täterschaft, erlebten und ererbten Traumatisierungen aus Erstem und Zweitem Weltkrieg. Er verharrt in der Tradition, in der reaktionären Revolution, die nichts anderes ist als ein Verharren in der Wut und im Angesicht der Toten, die man günstig stimmen oder deren vorwurfsvolle Blicke man vermeiden will.
5
Elemente des Religiösen im Nachkriegsfaschismus »Aus Italien wird ein Witz über Mussolini berichtet: Als er gestorben war und in den Himmel kam, wurde er mit großem Aufwand empfangen. […] Inmitten des ganzen Trubels bemerkte Mussolini plötzlich, dass seine Krone höher war als die Gottes. Er fragt höflich nach dem Grund. ›Ich habe deinem Volk einen Fastentag pro Woche gegeben‹, antwortete Gott. ›Du gabst ihnen sieben. Ich gab ihnen den Glauben und du nahmst ihn fort. Du bist größer als ich.‹ Vielleicht erhellt dieser Witz die psychologischen Mechanismen, die die Kampfmoral in den faschistischen Ländern determinieren und aufrechterhalten, wobei die letzten zwei Sätze eher auf den deutschen als auf den italienischen Faschismus zutreffen.« (Marcuse 1998: 43)
5.1 FASCHISMUS ALS POLITISCHE RELIGION Es gibt zahlreiche Theoriebildungen zum Verhältnis von Politik und Religion.1 Die Forschungs- und Rezeptionsgeschichte lässt sich in mehrere Phasen einteilen:
1
Verschiedene Publizisten und Wissenschaftler sprechen in ihren Analysen totalitärer Regime wie Nationalsozialismus und Faschismus in den 1920er- und 1930er-Jahren von Politischer Religion (vgl. Vondung 2013: 25). Von besonderer Bedeutung ist für diese Debatte Eric Voegelin, der in seiner Abhandlung »Die politischen Religionen«
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die Formierung des Konzeptes während Nationalsozialismus und Faschismus,2 welches im Zuge des Aufkommens der Totalitarismustheorie seit der direkten Nachkriegszeit bis in die 1990er-Jahre hinein wieder in Vergessenheit geriet, sowie die Wiederaufnahme der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Politischen Religion seit einer kurzen aber viel beachteten Debatte über Politische Religion in den 1990er-Jahren.3 Dem Konzept der Politischen Religion liegt die Annahme zugrunde, dass totalitäre Systeme strukturelle Parallelen zu Religionen aufweisen und durch diese erklärbar werden. Bisher ist das Konzept der Politischen Religion jedoch (vor allem in den Geschichtswissenschaften) wenig rezipiert worden und nimmt in der Totalitarismusforschung eine Randstellung ein.4 Wesentliche Kritikpunkte sind u.a. die dem Religionsbegriff inhärente Annahme, totalitäre Systeme seien homogene Phänomene. Außerdem besteht eine Tendenz zur Zu-
von 1938 eine erste umfassende theoretische Analyse des Nationalsozialismus als Politischer Religion vorlegt. Zu nennen ist weiter der Jurist Carl Schmitt, der die Theologie im politischen Diskurs nachwies (1922). Schmitts Beschäftigung mit dem italienischen Faschismus blieb jedoch rudimentär, auch wenn er idealer Referenzpunkt seiner politischen Philosophie blieb; er stand u.a. mit dem faschistischen Kulturphilosophen Julius Evola in Kontakt. In parallelen Debatten über Politik und Religion sind neben vielen anderen Strömungen (Okkultismus und Religion, Massenpsychologie, Antisemitismus, europäische Mythologien u.a.) De Martino (1962) mit seiner Analyse über Hitlers Schamanismus sowie politikwissenschaftliche Analysen von Lilla (2007 [2013], 2017) beachtenswert, zur Debatte der Secular Religion in der Anthropologie siehe Asad (1993, 2003), Lambek (2006) sowie Wanner (2012, 2014), zum Stalinismus als Religion siehe Groys (1988). 2
Zur Genese des Totalitarismusbegriffs im ital. Kontext siehe vor allem Don Sturzo, italienischer Faschismuskritiker, Priester und Politiker der Christlichen Demokraten, der 1924 nach England emigrierte. Dort entwickelte er sein Totalitarismuskonzept, in dem er die für das Konzept der Politischen Religion grundlegende These vertritt, dass in totalitären Regimen die Trennung von Säkularem und Religiösem aufgehoben wird (vgl. Vondung 2013: 23/ 24).
3
Vgl. in erster Linie Gentile (1993, 2001 und 2005), Burleigh et al. (Hg.) (2000), Maier (1996, 1997 und 2003), Vondung (1971 und 2013); weitere Autoren, die die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts als Politische Religionen bezeichnet und beforscht haben, sind u.a. Ley/ Schoeps (1997), Bärsch (1998), Ley et al. (2003), Burleigh (2008).
4
Vgl. Schreiber 2009: 19.
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spitzung des Konzeptes, als sei Religion eine Erklärung für Politik. Der ökonomische Aspekt des Faschismus wird in dieser Perspektive beispielsweise unberücksichtigt gelassen.5 In seiner 1939 im französischen Exil6 verfassten und 1946 veröffentlichten Schrift Paura della libertà [Angst vor der Freiheit] liefert der jüdisch-italienische Schriftsteller, Maler und Politiker Carlo Levi bereits eine kritische Analyse des Faschismus als totalitäres System, die einer Theorie der politischen Religion nahekommt, ohne diesen Begriff jedoch selbst explizit zu verwenden. Levi setzt darin Massengesellschaft, Staat, Differenzierung und Individualisierung des Menschen in Beziehung zueinander und analysiert den Faschismus als totalitäres System mit Strukturmerkmalen von Religionen. Die Sakralisierung des Staates führt zum Verlust der Individualität des Einzelnen. Er löst sich in der Masse auf, die sich einzig auf einen vergöttlichten Staat und seinen Führer bezieht und sich für beides opfert. Levi definiert Religion als strukturgebendes Element in Gesellschaften, indem er zugrunde legt, dass sich soziale Strukturen immer auf eine religiöse Dimension beziehen.7 Religion und dazugehörige Opferbereitschaft bedeuten nach Levi Verzicht auf Individualität und damit den Verzicht auf die Freiheit zur Kreativität – er nennt damit Kriterien bzw. einen Zustand, den er als grundlegend für den Faschismus identifiziert: Wie der Stamm, die Familie und das Patriziat vergöttert werden, so kann auch der Staat in jeder seiner komplexeren Formen nur durch menschliche Opfer existieren, sofern er nicht dem Ideal der Freiheit folgt oder anderen Idealen untergeordnet ist, sondern selbst als Gottheit verehrt wird, wie ein Götzenbild, das Verehrung verlangt.8 (Levi 2001[1946]: 142/ 143)
5
Vgl. dazu Aly (2011), der in seiner Analyse des Antisemitismus im Nationalsozialismus auf die Rolle ökonomischer Aspekte eingeht. Zur Kritik am Konzept der Politischen Religion siehe auch Vondung (2013: 30) und vor allem Schreiber (2009: 73ff.), der sich dagegen verwahrt, von einer eigenständigen Religion zu sprechen und auf die für ihn sinnvollere Verwendung von Max Webers Konzept der Charismatischen Herrschaft verweist (insbesondere Schreiber 2009: 78ff.).
6
Als Mitbegründer der antifaschistischen Gruppierung Giustizia e libertà (1929) wurde Carlo Levi 1934 von der faschistischen Regierung verhaftet und in die süditalienische Provinz Basilicata verbannt. Nach seiner Freilassung 1936 ging er ins Exil nach Paris, siehe auch Kapitel 2.1.3.
7
Vgl. Levi 2001[1946]: 133.
8
Übersetzungen der Autorin.
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Indem Levi Stamm, Familie und Patriziat als Basis von Staat benennt, verweist er auf die grundlegende Bedeutung der Beziehungen zwischen familiären und autoritären Strukturen in Form lokaler Patriziate, die neben der Familie als Keimzellen des Staates fungieren. Sichtbar werden solche Verbindungen auch im faschistischen Nachkriegsambiente, das an der Basis durch familiäre Netzwerke strukturiert wird und mitten in Rom eine (z.T. kleinstadtartige) Netzwerkstruktur ausgebildet hat.9 Im Patriziat verdichten sich auf der einen Seite familiäre Strukturen und auf der anderen Seite Formen von Staat und Gesellschaft oder eben stammesartige Formationen. Der Staat entsteht aus dem Patriziat, ihm liegen stammesartige sowie familiäre Netzwerke zugrunde. Stamm, Familie und Patriziat sind durch das Opfer mit dem Staat verbunden, so wie auch Religion für Levi Opfer und Opferbereitschaft impliziert.10 Die Vergöttlichung eines autoritären Staates kann nur durch die Erziehung des Einzelnen zum mündigen Bürger im Sinne der Aufklärung verhindert werden. Notwendig dafür ist die Anerkennung des Einzelnen als vollwertiges, mündiges Mitglied der Gesellschaft. Damit stellt Religion prinzipiell eine Gefahr für das Individuum im Sinne des Verlustes der Freiheit dar: Die Kontrolle des Heiligen durch die Religion impliziert die Kontrolle des Individuums. Levi spricht in seiner Analyse des faschistischen Regimes vom göttlichen Staat [stato divino], der den Ausdruck der Massen in Form religiöser Strukturen und Riten kanalisiert.11 Auch die politische Propaganda bezeichnet Levi als religiös: Propaganda ist immer religiös, ist immer ›Propaganda des Glaubens‹: An das Götzenbild glauben heißt nicht denken, sondern verehren; sich durch Taten ausdrücken, nicht auf sentimentale Weise. Der Staat spricht nicht mit Worten, sondern mit Willen, wie ein Gott, seine Sprache ist Gesetz und jedes Gesetz ist religiös. (Levi 2001[1946]: 195)
Levis Faschismusanalyse stützt sich auf den Vergleich des totalitären Staates mit einem religiösen System. Dieses wird sichtbar in Form der faschistischen Liturgie und basiert auf der grundlegenden Konzeption der Beziehung zwischen heiliger Masse und göttlichem Staat, mithilfe derer ein religiöses System an die Stelle aufgeklärter Individualität des Einzelnen in einer Gesellschaft gesetzt wird: Da die Masse unbegrenzt ist, ist ihr staatliches Äquivalent in seiner symbolischen und hierarchischen Präzision ein Götzenbild grenzenloser Macht, dem nichts fremd sein kann und
9
Vgl. Kapitel 2.1.1 und 2.1.3.
10 Vgl. Levi 2001[1946]: 138. 11 Vgl. Levi 2001[1946]: 194.
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dessen Mysterium ein absolutes ist; dem alles geopfert werden muss, sowohl die Freiheit als auch das Blut. Zu den dafür zwingend notwendigen Riten gehören die totale Sklaverei und der dauerhafte Krieg. Die Theorie des Staates der Massen findet ihren vollkommensten Ausdruck daher in diesem zutiefst präzisen Gesetz: glauben, gehorchen, kämpfen. Wo die Masse heilig ist, ist der Staat göttlich, man kann weder erschaffen noch sprechen, sondern nur glauben und beten. (Levi 2001[1946]: 196)
1993 hat der Historiker Emilio Gentile mit Il culto del littorio [Der Kult des Liktorenbündels] eine detaillierte Studie vorgelegt, die zeigt, wie der Faschismus als säkulare Religion konzipiert wurde. Er beschreibt, wie die Umsetzung des Massenkultes vonstattenging, welche Strategien das totalitäre Regime anwandte, um die faschistische Liturgie zu etablieren, und wie der Führerkult um Mussolini konzipiert und gefördert wurde.12 Von Beginn an verfolgte das Regime gezielt die Entwicklung einer eigenen faschistischen Liturgie, die sich der Grundstruktur der katholischen Glaubenspraxis bediente, jedoch für die eigenen Zwecke umstrukturiert wurde.13 Totalitäre Regime zeichnen sich nach Gentile durch ihren revolutionären Charakter und das Streben nach absoluter Macht aus. Ist die Sicherung der Machtposition erreicht, werden Strukturen zur Machterhaltung mit dem Ziel der Schaffung einer neuen Gesellschaft entwickelt, verstanden als einheitliche Körperschaft und zusammengefasst innerhalb eines Staates bzw. einer Nation. Das Individuum tritt dabei gegenüber dem nationalen Kollektiv in den Hintergrund. Im Vordergrund steht stattdessen eine allumfassende »Erneuerungsideologie« (Gentile 2002: 166), welche die Erschaffung eines neuen Menschen im Dienste des imperialistisch orientierten Regimes verfolgt. Die Sakralisierung der Politik bedeutet in dieser Perspektive die Zusammenfassung von Politik und Religion zu einem einzigen umfassenden Weltbild, innerhalb dessen die Nation zu einer sakralen Kategorie und deren Verehrung zur Maxime der Existenz erhöht wird. Dieser Ansatz impliziert die Opferbereitschaft des Einzelnen zum Wohle des Kollektivs, im Faschismus u.a. durch das Motto credere, obbeddire, combattere [glauben, gehorchen, kämpfen] propagiert.14 Die Sakralisierung des Staates im Faschismus geht mit der Erschaffung eines politischen Massenkultes einher, in dessen
12 In der Analyse Gentiles fehlen die für diese Forschung zentralen Jahre der Italienischen Sozialrepublik 1943 – 1945, die als Intensivierung der religiösen Strukturen des bereits über 20 Jahre alten Regimes interpretiert werden können. 13 Vgl. Gentile 1993: 276. 14 Vgl. Gentile 2002: 168/ 169.
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Zentrum die Nation selbst steht.15 Dieser Massenkult wird über spezifische liturgische Formen etabliert und bedient sich als Teil der politischen Strategie der Konstruktion von Mythen, der Schaffung neuer Riten sowie einer neuen Symbolik. Grundlegend ist im italienischen Faschismus das rituelle Gedenken an die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs, das vor allem durch die Kriegsveteranen und die frühe nationalistische, faschistische Bewegung [squadristi] getragen wird, die mit Gabriele D’Annunzio für die Rückeroberung der Stadt Fiume kämpften.16 Die Bedeutung des Kultes um die gefallenen Soldaten als Märtyrer und ihr Opfer im Namen der Nation wird von den Faschisten auf Führungsebene gezielt gefördert, sichtbar am Grab des Unbekannten Soldaten in Rom.17 Die Faschisten zelebrierten 1921 die Überführung der Leiche des unbekannten toten Soldaten über mehrere Tage mit großen Aufmärschen, eine Übung für den Marsch auf Rom im darauffolgenden Jahr und ein Grundstein der inneren Strukturierung der faschistischen Bewegung, die den Fokus von Beginn an auf die Toten richtet. Damit wird der Ort zu einer zentralen Gedenkstätte erhoben. Als Zentrum des Soldatenkultes ist er auch nach 1945 für faschistische Gedenkzeremonien von zentraler Bedeutung. Der Mythos der Nation erfordert die Verehrung der nationalen Symbole wie des Rutenbündels [fascio littorio] und des Adlers [l’aquila],18 Massenzeremonien und später auch die Verehrung Mussolinis als Führer der Nation19. Zu den grundlegenden rituellen Praktiken der faschistischen Liturgie gehört ebenso die Vereidigung der faschistischen Miliz [squadre] wie die Segnung der Fahnen. Seit 1926 beinhaltet das Statut der faschistischen Partei Partito Nazionale Fascista einen Abschnitt,20 in dem explizit von Faschismus als Glauben [fede] gesprochen wird – ein Beleg für die Intention, den Faschismus gezielt als Glaubenspraxis und Religion zu gestalten, und für eine Politik, die in ganz bestimmten Vereinbarungen mit dem Vatikan wie den Lateranverträge von 1929 mündet.21 Damit wird die Politik zum umfassenden Lebensinhalt erhoben, welche die Bürger als Kollektiv mit der Identität der Nation gleichgesetzt.
15 Vgl. Gentile 1993: 278. 16 Vgl. Woller 2010: 80f. 17 Vgl. Kapitel 3.1. 18 Beide Symbole haben einen strikt religiösen Ursprung in den Lateinerstädten des 6. Jahrhunderts v. Chr. 19 Vgl. Gentile 1993: 41. 20 Vgl. Gentile 1993: 111. 21 Zu den Beziehungen zwischen Faschismus und Kirche siehe auch Kapitel 3.1.2.
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5.2 RELIGIÖSE PRAKTIKEN IM NACHKRIEGS-FASCHISMUS Mit dem Kriegsende im April 1945 war der Faschismus als Regime am Ende, die politische Führungsriege war entmachtet, tot oder gefangen genommen bzw. auf der Flucht. Die Struktur des faschistischen Regimes als Machtapparat war nicht mehr vorhanden, das Programm der ideologischen Umerziehung der Gesellschaft unter anfänglicher Anleitung der Alliierten führte zur gesellschaftlichen Umstrukturierung. Faschisten waren als Verlierer des Krieges heimatlos im neuen gesellschaftlichen und politischen System. Für die erste Generation des Nachkriegsfaschismus, die Kriegsverlierer, zählte das Überleben und die Rettung der eigenen Werte und Moralvorstellungen aus der Vergangenheit über eine als prekär empfundene Situation der Kriminalisierung der eigenen Existenz nach Kriegsende hinaus. Als offizieller politischer Rahmen der faschistischen Nachkriegsidentität fungiert die 1946 gegründete neofaschistische Partei Movimento Sociale Italiano.22 Zugleich garantieren familiäre und soziale Strukturen die Tradierung ritueller Praktiken im privaten Raum und bilden damit ebenfalls eine Grundlage für eine Modifizierung der religiösen Dimension des faschistischen Regimes. Die transzendente Dimension wird perpetuiert und bildet eine starke Grundlage für die Legitimierung von Identität. Grundlegend für die Mitglieder der faschistischen Nachkriegsszene sind bestimmte Wert- und Moralvorstellungen, welche im Stil von Initiationsriten und Ritualen der Verabschiedung und Wiederkehr der Toten Zugehörigkeit legitimieren;23 es handelt sich dabei um ein Daseinskonzept, das sich auf den Kern des inneren und verinnerlichten faschistischen Seins bezieht. Immer wieder betonten meine Informanten aus allen Generationen die Maxime der Authentizität, die innere Identität des Faschisten im Gegensatz zu den als zweitrangig klassifizierten Äußerlichkeiten und Symboliken. Wie Federico S. einmal sagte: Essere fascista di dentro significa essere un italiano migliore. [Im Inneren ein Faschist sein, bedeutet, ein besserer Italiener zu sein.]
Grundlegend dafür ist eine allumfassende, exklusive Konzeption einer faschistischen Identität von ›innen‹ heraus, eine Form des Seins, die sich nicht erlernen, sondern nur sein bzw. werden lässt. Dieses Verständnis faschistischer Identität ist eine Grundlage für die spezifische religiöse Dimension im Nachkriegsfaschismus.
22 Vgl. Kapitel 2.1. 23 Vgl. Kapitel 2.1.3.
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Die Einflüsse des historischen Faschismus sowie Traditionen des Katholizismus und des Paganismus in Italien bereiten die kapillaren Strukturen für den religiösen Kult des Nachkriegsfaschismus, der sich seit 1945 in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der antifaschistischen Gesellschaft entwickelt. Die Tatsache, dass zahlreiche neofaschistische Gruppierungen unterschiedlicher religiöser Orientierung nebeneinander existieren, ohne dass die Differenzen in Glaubensfragen zu tatsächlichen Brüchen in der Identität als Gemeinschaft führen, ist ein weiterer Beleg für die Existenz eines eigenständigen neofaschistischen Kultes: Die religiösen Überzeugungen in einigen faschistischen Parteien, Organisationen oder Gruppierungen reichen von streng katholisch bis hin zu pagan. Nach außen zählt jedoch die (innere) Kategorisierung als Faschist. Unterschiedliche religiöse Überzeugungen gelten im Inneren der faschistischen Szene als sekundär. Das Wechseln zwischen verschiedenen politischen Organisationen mit unterschiedlicher religiöser Ausrichtung ist daher auch eine mögliche Option, die die Zugehörigkeit prinzipiell nicht gefährdet – einige der Mitglieder der paganen faschistischen Organisation Movimento Tradizionale Romano (MTR) waren zuvor beispielsweise Mitglieder in streng katholisch ausgerichteten Organisationen oder Parteien. Der historische Faschismus und seine religiösen Strukturen sind ein Erbe, das den Nachkriegsfaschismus auch nach 1945 zentral beeinflusst und soziale und kulturelle Räume strukturiert, beispielsweise in Form des faschistischen Totenkultes.24 Dieser wurde seit 1945 im Kern beibehalten und speist sich auch aus dem liturgischen bzw. rituellen Repertoire des historischen Faschismus. Der faschistische Toten- und Märtyrerkult hält das faschistische Nachkriegsambiente zusammen und verkörpert auch nach 1945, wenn auch in neuer Form, ein Zentrum des Neofaschismus. Die Bedeutung der Toten ist fundamental, da sie in direktem persönlichen, familiären Zusammenhang mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg stehen. Die Situation stellt zudem eine Parallele zur historischen Situation nach Ende des Ersten Weltkrieges und den Anfängen des Faschismus dar – als einer politischen Bewegung, die sich stark auf die Toten des Ersten Weltkriegs bezog. Diese Toten, die jeweils im Kampf für das Vaterland starben, wurden zu faschistischen Märtyrern. Nicht ausgelebte Trauer ermöglichte die Rekrutierung von Familien bzw. deren Integration über den Totenkult. Das Fundament politischer Organisationen liegt daher auch in den Familien, wobei sich nicht selten die Nachkommen faschistischer Familien von Akteuren rekrutieren lassen, die rein politische Motive verfolgen und den Rahmen der Bewältigung von Trauer, Trauma und transgenerationaler Verstrickung verlassen.
24 Vgl. Kapitel 2.4.3 und 4.3.2.
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Nicht nur der faschistische Märtyrerkult als Teil des Totenkultes behält nach 1945 seine zentrale Bedeutung bei, auch die faschistische Symbolik wird nach 1945 soweit beibehalten wie unter den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen möglich. Viele der innerhalb des faschistischen Massenkultes als heilige Stätten konzipierte Orte, wie z.B. das Grab des unbekannten Soldaten im Altare della Patria in Rom oder Predappio, dem Geburtsort Mussolinis und Standort des Familiengrabes Mussolini, nehmen weiterhin den Stellenwert sakraler Orte ein. Die rituellen Elemente, die das Ende des Faschismus als politisches System überdauerten, die weitergeführt und tradiert wurden, bilden die Grundstruktur des Nachkriegsfaschismus. Der Kern der religiösen Struktur des Faschismus bleibt somit erhalten, obwohl der Rahmen des totalitären Machtsystems fehlt. Nach dem historischen Ereignis der Niederlage ist eine Justierung erforderlich, Rituale und Traditionen müssen den neuen Gegebenheiten anpasst werden. Der zentrale Unterschied zwischen Elementen des Religiösen im Faschismus und Nachkriegsfaschismus liegt in der Tatsache begründet, dass die religiöse Dimension nach 1945 nicht mehr an totalitäre Herrschaftsstrukturen gebunden ist, sondern freischwebt. Im Rahmen des Gegenentwurfs des Nachkriegsfaschismus als Subkultur zu einer sich als antifaschistisch definierenden Mehrheitsgesellschaft handelt es sich bei gezielter Inanspruchnahme und Pflege religiöser Elemente auch um ein Mittel, sich umfassend als eigenständige Gemeinschaft zu konzipieren und sich in ungünstigen Machtverhältnissen zu behaupten. Die religiöse Dimension ist dabei ein entscheidendes Moment der Verbindung der Gemeinschaft zum Bereich des Transzendenten und damit eine Erweiterung der eigenen Macht (-ansprüche). Der Nachkriegsfaschismus kann im Hinblick auf seine rituelle Dimension selbst als ein in traumatischen und familiären Erfahrungen gründender Gegenritus zur sozialen Nachkriegsordnung interpretiert werden. An einigen Beispielen wie dem Märtyrerkult um Mussolini, der Bedeutung Predappios als Wallfahrtsort sowie einem faschistischen Madonnenkult lassen sich Elemente des Religiösen im Nachkriegsfaschismus nachweisen sowie historische Kontinuitäten und Umformungen im Kontext veränderter sozialer und politischer Machtgefüge aufzeigen. 5.2.1 Faschistischer Märtyrerkult Predappio: Kultstätte und Heiligtum Der kleine Ort Predappio in der Emilia-Romagna ist als Mussolinis Geburtsort und Grabstätte sehr bedeutsam für die faschistische Nachkriegsszene. Bereits während des ventennio fascista besaß der Ort zentrale Bedeutung als Ziel der ritualisierten Wallfahrt der faschistischen Liturgie: Mussolini selbst konzipierte Predappio 1925 als Kultstätte. In den 1930er-Jahren entwickelte sich die Wallfahrt
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nach Predappio im Zuge der Intensivierung des Kultes um Mussolini zu einem Massenphänomen, eine Form der Loyalitätsbekundung gegenüber dem faschistischen Regime.25 Im Jahr 1932 ließ Mussolini eine Kapelle sowie die Familienkrypta auf dem Friedhof San Cassiano in Predappio errichten. Das Grab seiner Eltern wurde neben Mussolinis Geburtshaus zum festen Ziel der Pilgerreisenden. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 und vor allem nach dem Kriegseintritt Italiens 1940 ebbte das Phänomen der Massenwallfahrten ab. Der Grund hierfür waren sowohl logistische Schwierigkeiten hinsichtlich der Reise als auch eine krisenhafte Entwicklung des Kultes um Mussolini mit Fortschreiten des Krieges.26 Serenelli spricht von drei Phasen in der Geschichte Predappios als Kultstätte: die Entstehung und Entwicklung während des faschistischen Regimes, eine neue Phase der Pilgerreisen seit der Beisetzung von Mussolinis Leiche im Jahr 1957 bis 1983, sowie eine dritte Phase seit 1983 in Verbindung mit dem Ende des Kalten Krieges und darauffolgenden Lockerungen im Umgang der lokalen Autoritäten mit neofaschistischer Kultur.27 Insgesamt werden die Besucherzahlen seit Mitte der 1990er-Jahre auf circa 100.000 pro Jahr geschätzt,28 seit den 2000erJahren sollen sie sich unbestätigten Quellen aus dem faschistischen ambiente zufolge auf circa 250.000 pro Jahr erhöht haben. Seit 2011 wird in der Presse von einem Einbruch der Besucherzahlen als Resultat der Wirtschaftskrise in Italien gesprochen.29 Die meisten faschistischen Veteranen absolvierten eine Wallfahrt nach Predappio in ihrem Leben, viele pilgerten regelmäßig dorthin. Neben italienischen Faschisten besuchten über die Jahre auch immer mehr internationale Besucher den wichtigsten faschistischen Wallfahrtsort, darunter Franzosen, Japaner, Deutsche und Spanier. Bei meinem Besuch in Predappio sah ich auch staatliche Autoritäten, u.a. Carabinieri, vor dem Grab Mussolinis salutieren. Federico S. sprach von der Wallfahrt nach Predappio immer wieder als einem seiner letzten Wünsche: Prima di morire ci voglio andare. [Bevor ich sterbe, möchte ich dorthin.]
25 Vgl. Serenelli 2013: 93-98. 26 Vgl. Gundle 2013: 105. 27 Vgl. Serenelli 2013: 94. 28 Vgl. Baioni 1996: 510. 29 www.ilgiornale.it/news/predappio-turismo-crisi-nei-luoghi-duce.html [15.8.2020]
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Die Pilgerfahrt nach Predappio ist eine Manifestation faschistischer Identität in der nationalen Öffentlichkeit. Wenn Federico S. darüber sprach, klang immer die Hoffnung auf einen Segen durch die Berührung mit diesem Ort mit. Im selben Atemzug sagte er dann meist, er wolle im schwarzen Hemd, der camicia nera, begraben werden. Faschist-Sein und Treue zum faschistischen Kult forderten in seinen Augen in besonderen Momenten, wie z.B. im Tod, auch ein sichtbares Zeichen der eigenen Loyalität. Simple Symbolik habe er schon immer verachtet, sagte er, und machte sich regelmäßig über diejenigen lustig, die in der Welt der Symbole verhaftet blieben, ohne die umfassende Bedeutung der faschistischen Identität als Lebensstil zu erkennen. Aus der Perspektive der Verwaltung der Stadt Predappio sind die Pilgerreisenden als Einnahmequelle willkommene Touristen. Das Motto des linken Bürgermeisters Giorgio Frassineti von der Demokratischen Partei (Partito Democratico) lautete im Jahr 2014: Kultur gegen Neofaschismus. In der ehemaligen Casa del Fascio e dell’Ospitalità, ehemaliger Sitz der faschistischen Partei in Predappio aus dem Jahr 1937, das zu zerfallen drohte, plante er, ein Museum einzurichten, in dem die Geschichte des Faschismus erzählt werden sollte.30 Es ging ihm also nicht um die Eindämmung der Pilgerfahrten an das Grab des Duce, sondern im Gegenteil um die Erweiterung des touristischen Angebotes für die faschistischen Besucher unter antifaschistisch vertretbaren Vorzeichen. Seine Haltung wirft die Frage auf, inwieweit ein solcher Umgang mit faschistischer Erinnerungskultur die Entwicklung einer offenen Gesellschaft in der Italienischen Republik nach 1945 gefördert hätte. In der italienischen, aber auch internationalen antifaschistischen Presse ist Predappio immer wieder Gegenstand der Empörung. Von bizarrem MussoliniKult ist beispielsweise in einem Beitrag der Berliner Zeitung aus dem Jahr 2013 die Rede, von Nostalgikern und Unverbesserlichen, von verblendeten Rechtsextremisten, die dem ehemaligen Diktator huldigen.31 In den Souvenirläden entlang der Hauptstraße in Predappio findet man vom Feuerzeug über Weinflaschen bis hin zum T-Shirt mit dem Konterfei Mussolinis alles, was im antifaschistischen Nachkriegseuropa politisch provoziert. Dass sie existieren, scheint auf den ersten Blick ausschließlich auf die Nostalgiker-Attitüde der Nachkriegsfaschisten sowie auf die Unfähigkeit des italienischen Staates zu verweisen, die extremen politischen Auswüchse in der eigenen Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Auf den
30 http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/2014/05/03/io-sindaco-pdvi-spiego-perche-a-predappio-serve-il-museo-del-duce23.html [15.8.2020] 31 www.berliner-zeitung.de/politik/faschismus-bizarrer-mussolini-kult-inpredappio,108 08 018,23813118.html [15.8.2020]
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zweiten Blick gleichen die Souvenirs und Kitschobjekte jedoch auch dem Devotionalienhandel an katholischen Wallfahrtsorten. Pilgerreisen sind ein universales Phänomen. Am Beginn der christlich-katholischen Tradition der Pilgerfahrt steht die Praxis der Wallfahrt zu den Totenstätten der Märtyrer während der Zeit der Christenverfolgung. Märtyrer sind seitdem eine feste Kategorie christlicher Heiliger: »The Christian cult of saints […] arose rather from veneration for those who had died precisely because they refused any compromise with the established Roman religion. The martyrs were regarded as precious witnesses to the truth of the faith for which they had died, and they were commemorated and honoured accordingly at their burial places.« (Wilson 1983: 3)
Eine der ersten Analysen von Wallfahrten in Italien stammt von Robert Hertz (1913), der die Wallfahrt zum Berg San Besso in den italienischen Alpen in der Nähe der Stadt Ivrea untersuchte. Er hebt die zugleich gruppenstärkende sowie trennende Funktion von Wallfahrten hervor und betont die Bedeutung von Naturformationen für Pilgerstätten. Besondere oder schwer zugängliche Naturplätze, die in der Tradition paganer Vegetationsriten stehen können, sind zentrale Charakteristika für die Entstehung von Pilgerstätten. Wallfahrtsorte können tatsächliche oder vermeintliche Gräber von Märtyrern beinhalten. Das Zusammenspiel der persönlichen sowie der naturgegebenen Konnotation eines Ortes macht die Bedeutung vieler Pilgerstätten aus. Victor und Edith Turner, die sich in ihrer Untersuchung der Wallfahrt nicht auf Hertz beziehen, betonen die soziale und rituelle Dimension von Wallfahrten und verorten die rituelle Praxis der Wallfahrt32 innerhalb Turners Konzept von Communitas und Liminalität33. Die Wallfahrt bedeutet in dieser Perspektive eine Lösung aus alltäglichen Strukturen sowie die Neuorganisation der Pilgernden innerhalb der Gruppe für den begrenzten Zeitraum der Reise als freiwillige Gemeinschaft (Communitas). Am Ende der Pilgerfahrt steht die Begegnung mit dem Heiligen. Eine Wallfahrt besitzt demnach Initiationscharakter, der die Veränderung des sozialen Status der Teilnehmenden beinhaltet. Das Charakteristikum der Freiwilligkeit unterscheidet sie von der sozialen Notwendigkeit der Übergangsriten:
32 Vgl. Turner/ Turner 1978. 33 Vgl. Turner 1989 [Original 1969].
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»But since it is voluntary, not an obligatory social mechanism to mark the transition of an individual or group from one state or status to another within the mundane sphere, pilgrimage is perhaps best thought of as ›liminoid‹ or ›quasi-liminal‹, rather than ›liminal‹ in Van Gennep’s full sense.« (Turner/ Turner 1978: 34/ 35)
Ausgehend von Hertz fehlt in der Definition Turners die Dimension der Bedeutung des Rituals im sozialen und politischen Kontext innerhalb des herrschenden Machtgefüges und damit im Hinblick auf hegemoniale Abhängigkeiten.34 Eine Wallfahrt ist auch eine Gelegenheit, soziale Beziehungen zu stärken und Gleichgesinnte zu treffen. Eine ihrer zentralen Funktionen ist somit die Herstellung eines Raumes zur Erneuerung und Verfestigung sozialer Beziehungen und Netzwerke. Predappio liegt in einer nicht leicht zugänglichen Region im italienischen Mittelgebirge. Der Weg zur Pilgerstätte verlangt den Pilgernden dadurch etwas ab und lädt die Wallfahrt als eigenen Akt des Reisens mit Bedeutung auf. Für die faschistische Nachkriegsszene ist Predappio in seiner mehrfachen Bedeutung als Geburtsort Mussolinis und ehemaligem Wallfahrtsort im Rahmen des Duce-Kultes während des ventennio fascista sowie seit 1957 auch als Todesstätte der bedeutendste Wallfahrtsort: Predappio setzt Mussolini als wichtigste Märtyrerfigur an erste Stelle, symbolisiert den Faschismus als historische Erfahrung und stellt das Erbe des Faschismus als Politische Religion zur Disposition und. Im Tod wird Mussolini dort zu einem Führer mit göttlichen Attributen. An der Praxis der Pilgerreisen nach Predappio unter Nachkriegsfaschisten wird deren religiöse Bedeutung im Kontext eines Märtyrerkultes, aber auch ihre politische Dimension als Form des Protestes gegen die antifaschistische Nachkriegsgesellschaft, in denen sich die Faschisten marginalisiert fühlen, deutlich. Hier zeigt sich ein Zusammenhang zwischen religiösen Praktiken und politischer Positionierung bzw. Aktivität, der Märtyrerkult erweist sich als verbindendes Element zwischen beidem.35 Predappio weist als Wallfahrtsort und Kultstätte Parallelen zu katholischen Wallfahrtsorten auf. Es ist ein Ort, an dem sich die Dimensionen politischer Kultur und (politisch-)religiöser Glaubenspraxis vermischen und der Aspekt der Körperlichkeit von Politik und Religion sichtbar wird. Der Duce als Märtyrer Nach der Tötung Mussolinis am 28. April 1945 wurde sein Leichnam zunächst in einem anonymen Grab auf dem Cimitero di Musocco in Mailand beigesetzt. Die Umstände der Hinrichtung Mussolinis sind historisch ungeklärt. Tatsache ist, dass
34 Vgl. MacClancy 1994: 43. 35 Vgl. MacClancy 1994: 241.
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er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Clara Petacci und anderen faschistischen Funktionären am 28. April 1945 in der Provinz Como getötet und die Leichen danach in Mailand öffentlich ausgestellt wurden. Ein Jahr nach der Hinrichtung organisierten einige faschistische Aktivisten den Raub seiner Leiche, die in der Folge an verschiedenen Orten versteckt wurde, bis eine Sondereinheit der Polizei sie dreieinhalb Monate später entdeckte. Die Täter wurden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt.36 Bis 1957 wurde der Leichnam von der amtierenden Regierung der Christlichen Demokraten (Democrazia Cristiana) im Konvent der Kapuzinermönche von Cerro Maggiore in der Nähe von Mailand versteckt, am 1. September 1957 übergab man ihn seiner Witwe Rachele Mussolini und er wurde in der Familiengruft in Predappio beigesetzt. Elf Jahre lang war Mussolini ein unruhiger Toter gewesen, dessen Leichnam eine Odyssee durch anonyme Gräber und Verstecke hinter sich gebracht hatte. Die Zweitbestattung des 1945 misshandelten Leichnams in der Familiengruft in Predappio war von großer Bedeutung für die faschistische Nachkriegsszene: ein Ritus mit starkem, auch politischem Symbolcharakter.37 Vergleichbar mit vielen Märtyrern des Christentums ist auch der tote Mussolini ein entstellter Leichnam, was die Vorstellung der Aufopferung des Duce für seine Anhänger im faschistischen Narrativ zusätzlich verstärkt. * Man muss eine enge Treppe hinuntersteigen, um in die Krypta zu gelangen. Auf dem steinernen Sarkophag Mussolinis, der eine gesonderte Position in der Mitte des Raumes einnimmt, steht seine Büste aus weißem Marmor. In mehreren kleinen Nischen in der Wand liegen einige persönliche Gegenstände hinter Glas, die Mussolini selbst gehört haben sollen, u.a. ein Paar Stiefel und ein schwarzes Hemd, die den Status von Reliquien besitzen. Analog zur Gestaltung christlicher Heiligtümer von Märtyrern sind sie vor den Besuchern geschützt und ihre Authentizität kann nur vermutet werden. Auf dem Sarkophag liegen Ährenbündel aus Weizen, angelehnt an einen fascio littorio, Symbol des Faschismus. Davor befindet sich auf einem steinernen Pult ein Gästebuch.
36 Vgl. Luzzatto 1998: 186. 37 Vgl. Kapitel 4.1.
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Abbildung 5.1: Grab Mussolinis in der Familienkrypta, Predappio, 28. April 2014
Quelle: Lene Faust In der Krypta findet nach katholischem Vorbild Heiligen- (bzw. Märtyrer-)Verehrung statt. Die Gesten der Ehrerbietung variieren: Man sieht den faschistischen Gruß, aber viele Besucher bekreuzigen sich auch nur, während sie vor dem Grab verharren. Manche schweigen und halten inne, manche richten laut einige Worte an den Toten. Es sind Bitten, Versprechen und laute Gebete. Im Vorfeld der Messe zum Todestag Mussolinis am 28. April 2014 beobachte ich, wie dort in der Krypta einige Besucher für eine bessere Zukunft, für das Wohl ihrer Kinder, für Gesundheit und ihr tägliches Brot beten. Die Ährenbündel auf dem Sarkophag erscheinen im Angesicht dieser Worte wie Objekte der Natur – Opfergaben, die das Überleben des Menschen sichern sollen und die im katholischen Vaterunser ihre Entsprechung finden – dacci oggi il nostro pane quotidiano [unser tägliches Brot gib uns heute] ist eine Bitte um die primären Bedürfnisse des Menschen. Die Ährenbündel weichen von den faschistischen Rutenbündeln, den sogenannten Liktorenbündeln, ab und verweisen vielleicht auch auf pagane Vegetationskulte. Die Verwandlung von Liktoren- in Ährenbündel deutet auf komplexe Übertragungsprozesse im Rahmen der Entstehung eines neuen Kultes hin. Mussolini wird hier als Märtyrer verehrt. Im Zwiegespräch mit ihm wird der Hoffnung auf eine bessere
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Zukunft Ausdruck verliehen. Man bittet ihn um Hilfe für die elementaren Dinge des Lebens, versichert ihn der eigenen Treue. Oben vor dem Eingang hält ein Priester wie jedes Jahr die Totenmesse, nachdem ein schweres Holzkreuz in einer Prozession den Hügel hinauf bis zur Krypta auf dem Friedhof getragen wurde. Der Priester gehört zur Fraternità sacerdotale San Pio X, einer katholischen Ordensgemeinschaft mit traditionalistischer Ausrichtung. Ihren Hauptsitz hat sie in Albano Laziale, einer kleinen Stadt circa 25 Kilometer südlich von Rom. Im Jahr 1973 von Erzbischof Marcel Lefebvre in Paris gegründet versteht sich die Piusbruderschaft als Zusammenschluss katholischer Traditionalisten, die an der vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil von 1962 geltenden Lehre der katholischen Kirche festhält. Schlagzeilen machte die Piusbruderschaft u.a. immer wieder durch antisemitische Äußerungen, vor allem aufgrund der Leugnung des Holo38 caust durch Richard Williamson im Jahre 2009. Sie pflegt Kontakte zur rechtsextremen politischen Szene in verschiedenen Ländern Europas. Der Vorplatz auf dem Friedhof ist voller Menschen aller Altersstufen, auch Kinder sind dabei. Die Betenden drängen sich über den Vorplatz hinaus bis weit zwischen die Grabsteine, es sind sicherlich einige hundert Personen anwesend. Die Menge ist ständig in Bewegung, auf der einen Seite bewegt sich ein Strom von Menschen in die Krypta hinab und auf der gegenüberliegenden Seite taucht er wieder auf. Dort gesellt man sich wieder zu den Betenden. Viele tragen gewöhnliche Alltagskleidung, aber einige sind auch in den schwarzen Hemden des Faschismus gekommen. Fahnen und Abzeichen sind zu sehen sowie die üblichen clownesken Verkleidungen mit historischen Militärutensilien, die den Spott derjenigen auf sich ziehen, die solche Verkleidung als Folklore und reine Äußerlichkeit 39 belächeln. Am Ausgang der Krypta zieren Messingplatten, gerahmte Fotografien und Sprüche die Wände. Es handelt sich um Affirmationen faschistischer Gruppierungen, um Treuebekenntnisse an den Duce. Auch Todesanzeigen finden sich darunter: diese Toten werden symbolisch in die Nähe Mussolinis gebracht, um dem Märtyrer Mussolini nahe zu sein. Veteranen, Veteranenvereine, politische Organisationen, aber auch Einzelpersonen und Familien haben hier Zeugnis ihrer faschistischen Identität abgelegt. Es sind Bekenntnisse, Bitten und Fürbitten. Der Verein der Kameraden von Pavia hat sich beispielsweise auf einem Messingschild verewigt mit den Worten:
38 http://diepresse.com/home/panorama/religion/447163/Rehabilitierter-Bischof-zweifelt-Gaskammern-an [15.8.2020] 39 Vgl. Kapitel 4.3.3.
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Caro BENITO sei sempre nei nostri cuori non ti dimenticheremo. Noi tireremo dritto – A NOI!
40
[Lieber BENITO, Du wirst immer in unseren Herzen sein, wir werden Dich nicht vergessen. Wir werden durchhalten – AUF UNS!]
Es sind öffentliche Bekenntnisse in der Form katholischer Konfessionen und Heiligenverehrung. Truppenverbände und ehemalige Soldaten manifestieren hier ihre Präsenz als Krieger, politische Gruppen ihre Identität als Faschisten, Familien ihre Treue zum Faschismus. Mussolini als Märtyrer nimmt die Position ihres Fürsprechers in der Totenwelt ein. Symbolisch steht er damit für den Schutz der Faschisten in der italienischen Nachkriegsgesellschaft. * Abbildung 5.2: Ausgang der Familienkrypta Mussolini, Predappio, 28. April 2014.
Quelle: Lene Faust
40 Faschistischer Schlacht- und Erkennungsruf, der Legende nach im Jahr 1918 als eine Erfindung des Majors Luigi Freguglia vom 27. Infanterieregiments der Arditi »Pavia« entstanden.
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Die faschistische Symbolik auf den Votivtafeln wie beispielsweise der fascio littorio wird zur sakralen Symbolik und verlässt den Bereich des rein Politischen. Form und Anordnung der Objekte sind ähnlich dem Votivbrauchtum an Heiligenstätten. Votivtafeln, auch Ex Voto genannt, sind auf einem Gelübde basierende symbolische Opfergaben, die an einem heiligen Ort vor allem nach Eintreten der erbetenen Rettung öffentlich ausgestellt werden. Sie weisen bestimmte Charakteristika auf, die in variabler Form und Kombination auftreten können. Dazu gehören das Gnadenbild als Vergegenwärtigung der göttlichen Macht, der Votant, der Grund für die Votation sowie eine schriftliche Erläuterung der Bitte oder erhaltenen Gnade.41 Die Votivtafel selbst erhält ihre Wirkmacht durch zwei Aspekte: ihre Lokalisierung an einer heiligen Stätte, die sich »durch die Manifestation himmlischer Macht- und Gnadenfülle auszeichnet«, sowie die Adressierung des Votivaktes an eine »individuell und persönlich aufgefasste […] überirdische Instanz, die an einem bestimmten heiligen Ort besonders wirksam erlebt wird« (Kriss-Rettenbeck 1972: 164). Votivtafeln sind eine Form des öffentlichen Bekenntnisses bzw. Affirmation des Glaubens. In ihrer Funktion der Bitte um Schutz durch einen spezifischen Heiligen, der zum Fürsprecher und Beschützer der Lebenden wird, spiegeln sie soziale Patronats- bzw. klientelistische Gesellschaftsstrukturen wieder42. Die Beziehung zum Heiligen wird durch rituelle Handlungen (in diesem Falle die Wallfahrt) aufrechterhalten und stellt die Basis für den Bund mit dem Übernatürlichen dar. Der Gläubige nimmt im Gegenzug Schutz und Fürsprache an, die er nicht zurückgeben kann und so bleibt das Verhältnis zwischen Geber und Nehmer unausgeglichen. Es entsteht eine schwer aufzulösende Beziehung, ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Patron und Klient, Heiligem und Gläubigen, das die unbedingte Treue des Gläubigen erfordert und dem Heiligen alle Freiheiten lässt. Getreu der Funktion der Heiligen als schutzgewährende Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits können Hinterbliebene ihre Toten den Heiligen anvertrauen. Gedenktafeln für die Verstorbenen als Teil des Votivbrauchtums an Wallfahrtsorten stellen symbolisch eine Beziehung zwischen dem Toten und seinem Fürsprecher her, sie sind Ausdruck der Bitte der Angehörigen um Fürsprache und Schutz im Jenseits.43 Der Ursprung dieser Tradition liegt in den mittelalterlichen Vorstellungen des Aufenthaltes der Toten im Fegefeuer bis zum Tag des Jüngsten
41 Vgl. Kriss-Rettenbeck 1972: 156. 42 Vgl. Kriss-Rettenbeck 1972: 203, Gower 1928, siehe auch Kapitel 2.3.1. 43 Sogenannte Totenschilder für Soldaten, die im Krieg gefallen sind, finden sich beispielsweise seit Anfang des 18. Jahrhundert in Süddeutschland in den Kirchen des Heimatortes (vgl. Kriss-Rettenbeck 1972: 208/ 209).
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Gerichts. Durch Gebete der Hinterbliebenen konnte diese Zeit verkürzt werden.44 Auch in Predappio wird diese Praxis der Gedenktafeln für Verstorbene im Rahmen des Votivbrauchtums sichtbar. Die gerahmte Fotografie eines verstorbenen jungen Mannes hängt beispielsweise zwischen den Gedenktafeln. Man hat den Toten symbolisch in die Nähe Mussolinis, seines Fürsprechers im Jenseits gebracht und ihn damit in die Obhut eines mächtigen Toten und Märtyrers gegeben. Die Votivtafeln in der Krypta erfüllen damit drei Funktionen: das öffentliche Bekenntnis faschistischer Identität, eine Form der Weihe durch die Nähe zu Mussolinis Grab sowie die Bitte um Schutz und Obhut der Lebenden und der Toten durch Mussolini als Märtyrer und mächtigem Patron im Jenseits. Mussolini ist mehr als der tote Führer des faschistischen Regimes. Er ist auch ein Opfer, dessen Leichnam geschändet wurde, wodurch er für den Nachkriegsfaschismus in christlicher Tradition auch zu einem Märtyrer wird, der im Namen seiner Ideale gelitten und den Tod gefunden hat. Ein toter Führer ist auch ein unerreichbarer Führer, der keine Fehler mehr machen kann. Stirbt er einen gewaltsamen Tod, kann er in seinem Leiden glänzen, unangetastet und verklärt in der Sphäre des Sakralen. Mussolini wird durch Nachkriegsfaschisten oft auch als Vater bezeichnet, eine Vaterfigur mit patronalem Charakter. Ein Patron fragt nicht, sondern fordert, lobt nicht, sondern nimmt zur Kenntnis, erklärt die Welt nicht, sondern ist sinnstiftend allein durch seine Präsenz. Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis des Nachkriegsfaschismus. Die Figur des Märtyrers Mussolini kann im Nachkriegsfaschismus nur bedingt politisch instrumentalisiert werden. Niemand kann je werden wie er – Mussolini bleibt der Gründer einer politischen Bewegung, die sich immer wieder auf ihn bezieht und politische Legitimation auch im Sakralen sucht. Der Politiker Mussolini ist in seinem gewaltsamen Tod zu einer religiösen Figur geworden, der wie ein Patron über die faschistische Szene wacht und unendliches politisches Engagement fordert, im Namen der Toten und auch im Angesicht seines eigenen gewaltsamen Todes. Hinter dem Schreibtisch von Federico S. beispielsweise hing ein Bild mit dem Konterfei Mussolinis direkt unter einem Bild des gekreuzigten Jesus. Er erklärte mir einmal, er sei sich nicht sicher, ob die Reihenfolge die richtige sei, und überlege, ob er nicht lieber Mussolini nach oben hängen solle – ein Zeichen für die Position, die Mussolini in seinem (religiösen) Weltbild einnahm. Einige Jahre lang organisierten Mitglieder der zweiten Generation des Nachkriegsfaschismus einen Wachdienst in der Krypta auf Spendenbasis. Jeweils zwei Männer wurden 365 Tage im Jahr während der Öffnungszeiten vor dem Sarkophag Mussolinis postiert. Sie reisten dazu aus ganz Italien an. Nach nur wenigen
44 Vgl. Feldmann 1990: 43.
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Jahren musste diese Initiative jedoch eingestellt werden, da die Kosten für Fahrt und Unterkunft nicht mehr aufgebracht werden konnten. Einer der Organisatoren der Totenwache gehörte zur zweiten Generation der faschistischen Nachkriegsszene und war während der anni di piombo in einer außerparlamentarischen Organisation aktiv gewesen. Über seinen ersten Wachdienst am Grab Mussolinis erzählte er mir eine wundersame Geschichte. Er habe mit dem zweiten Totenwächter um die Anzahl der Besucher gewettet: Saranno cento oggi, di sicuro! [Heute werden es sicherlich hundert sein!]
Doch am Abend, kurz vor Schließung der Krypta seien es nur 99 gewesen und er habe seine Wette bereits verloren geglaubt, als einige Minuten später eine Frau vehement an die Tür geklopft habe. Sie habe den Friedhofswärter draußen überredet sie noch hineinzulassen und sei somit die hundertste Besucherin an diesem Tag gewesen. Sie habe dem Duce eine rote Rose auf das Grab gelegt, erzählte er mir. Es ist eine Geschichte von wundersamer Fügung, die die sakrale Bedeutung des Ortes sowie die Macht Mussolinis als Märtyrer beweist. Sie entspricht dem Bedürfnis nach Wundern, nach der Wirksamkeit Mussolinis. In dieser Hinsicht entspricht Predappio den Kriterien religiöser Wallfahrtsorte, die nach MacClancey immer Orte sind, die über vergangene oder potenzielle Wunder charakterisiert und legitimiert werden: »All sites of pilgrimage have this in common: they are believed to be places where miracles once happened, still happen, and may happen again.« (MacClancy 1994: 6) Predappio ist ein Ort der Begegnung zwischen dem Übernatürlichen und der natürlichen Welt, katholische Tradition ist die kulturelle Reserve für den neofaschistischen Märtyrerkult. Kritische Stimmen bemängeln den folkloristischen Charakter einiger Erinnerungszeremonien in Predappio, vor allem an den zentralen Erinnerungstagen wie dem Marsch auf Rom am 28. Oktober oder dem Todestag Mussolinis am 28. April. Man solle auf keinen Fall an den wichtigen Gedenktagen nach Predappio fahren, wurde mir häufig gesagt. Das wahre Predappio könne man nur an den übrigen Tagen im Jahr erfahren, wenn dort die ›gewöhnlichen‹ Touristen ausblieben. Ein Informant aus der zweiten Generation sagte einmal: Devi andarci un giorno piovoso e grigio in novembre, questo è il momento giusto. [Du musst an einem regnerischen und grauen Tag im November dort hingehen, das ist der richtige Moment.]
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Andrea M., Anfang dreißig und Chef einer kleinen faschistischen Gruppe im Umland Roms, erzählte mir, dass er regelmäßig nach Predappio komme. Bei offiziellen Anlässen käme er immer früh genug, um alleine in die Krypta zu gehen und dort ein wenig Zeit in Stille verbringen zu können. Neue Mitglieder seiner Gruppe bringe er zum ersten Besuch jeweils persönlich nach Predappio, eine Form der Initiation. Für diejenigen, die sich als wahre Faschisten verstehen und sich durch ihren täglichen Lebensstil als solche definieren, ist der private Moment am Grab des Duce der wichtigste Teil der Wallfahrt. Auch auf diese Weise wird die Bedeutung der Authentizität der ›inneren faschistischen Identität‹ herausgestellt. Der intime Charakter des Gedenkens macht das Pilgerritual zu einer sakralen Handlung. Es geht dabei um das Geheimnis der verinnerlichten Zugehörigkeit, das jeden Glauben ausmacht. Der kritische Diskurs über Predappio ist daher kein Zeichen für die Bedeutungslosigkeit des Ortes, sondern verdeutlicht im Gegenteil seine sakrale Funktion. Man distanziert sich damit von der Form des Kultes im Kontext neofaschistischer Massenaufläufe, die von der antifaschistischen Presse verurteilt werden. Trotz des ›Souvenirfaschismus‹ sowie der platten Nostalgie vieler faschistischer Pilger verrät gerade dieser Ort Wesentliches über die religiöse Dimension des Nachkriegsfaschismus. Der Märtyrer-Kult um Mussolini ist eine zentrale innere Dimension eines vollständigen und umfassenden faschistischen Weltbildes. In einer tief katholisch geprägten Kultur ist er zu einer eigenen Form Politischer Religion geworden. Im Rahmen der christlichen Vorstellungen über die Wirkmacht von Märtyrern, die aus dem Jenseits zu Fürsprechern der Lebenden werden, ist Mussolini als Hoffnungsträger Sinnbild einer fernen Erlösung, ein verbindendes Element innerhalb des Nachkriegsfaschismus, der vermehrt von Fragmentierungsprozessen geprägt ist.45 In Predappio steht die Gemeinschaft im Namen der Toten im Vordergrund. Die religiöse Dimension liegt im Moment der individuellen Zwiesprache mit Mussolini und der Totenwelt, einer intimen und religiösen Erfahrung, die einend auf das Kollektiv zurückwirkt.
45 Vgl. Kapitel 2.3.2.
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5.2.2 Madonna del Fascio Vor einem Landhaus im weiteren Umland Predappios, in dem einer von mehreren traditionellen Zusammenkünften nach der alljährlichen Messe für Mussolini stattfindet, ziert eine Statue der Madonna del Fascio den Eingang. Es handelt sich um eine einfache, weiße Madonna aus Gips, die auf einem Holzsockel befestigt ist. Der fascio littorio aus Metall ist am Holzsockel unter der Statue angebracht, daran hängt ein Rosenkranz. Im städtischen Kindergarten Santa Rosa in Predappio wird von den Schwestern des Ordens Orsoline di Gandino das letzte verbliebene Bildnis der Madonna del Fascio verwahrt. Auf dem Mosaik aus majolischen Keramikkacheln von Leopoldo Battistini aus dem Jahr 1927 reichen zwei Engel der Madonna einen fascio littorio,46 der von Jesus gesegnet wird. Es handelt sich dabei um die einzige bekannte Darstellung des fascio littorio, die das faschistische Symbol als tatsächlich verehrtes Objekt zeigt. Während des ventennio fascista war das Mosaik aufgrund seiner ideologischen Botschaft von großer Bedeutung. Mussolini selbst stiftete das Kunstwerk, ursprünglich ein Geschenk des Künstlers an ihn persönlich, den Ordensschwestern in Predappio und widmete es seiner Mutter Rosa Maltoni.47 Heute ranken sich wundersame Geschichten um das Mosaik. So wird erzählt, dass bei Kriegsende Partisanen in das Kloster eindrangen, um das Bild zu zerstören. Von einer Vision geblendet, seien sie gezwungen worden, ihr Vorhaben abzubrechen: Anstatt des fascio littorio sahen sie einen Blumenstrauß auf dem Bild, das so vor seiner Zerstörung bewahrt wurde.48 Anderen Quellen zufolge übermalten die Nonnen den fascio littorio selbst mit einem Blumenstrauß.49 Der historisch korrekte Ablauf ist im Angesicht des magischen Moments der Geschichte unerheblich. Im Mittelpunkt steht die Wirkmacht der Madonna del Fascio. Die Wurzeln der Madonna del Fascio gehen auf die Madonna del Manganello [Madonna des Knüppels] zurück, die in Kalabrien in Vibo Valentia verehrt wird.
46 Als offizielles Symbol der faschistischen Ikonografie seit 1923 von zentraler Bedeutung. 47 Vgl. Gori 2011: 464, 470. Das erste von Mussolini geplante Gebäude in Predappio ist eine Kirche, ebenfalls seiner Mutter gewidmet: »Indeed, the cult of the Duce in Predappio was deeply related to the images and rituals of the Catholic religion, with the mother of the Duce being progressively associated with the image of the Virgin Mary. Both, ›daughter‹ and ›rearer‹ of the people, she was regarded as the woman who gave the Italian nation a new ›Messiah‹.« (Serenelli 2013: 95). 48 Vgl. Versari 2011: 140/ 141. 49 Vgl. Gori 2011: 470/ 471.
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Ikonografische Vorlage ist die Beata Vergine Maria del Soccorso, ein Kult, der auf eine Madonnenerscheinung in Palermo im Jahre 1306 zurückgeht. Die Legende erzählt, dass die Madonna den Augustinermönch Nicola La Bruna von einer unheilbaren Krankheit heilte und im Gegenzug forderte, als Madonna del Soccorso [Madonna der Hilfe in der Not] verehrt zu werden. Dieser Kult hat sein Zentrum in San Severo in Apulien. Abgebildet wird sie traditionell mit einem Stock, mit dem sie einen Dämon verjagt. Im Faschismus wurde der Stock durch einen Knüppel ersetzt, wie ihn die ersten paramilitärischen faschistischen Kampfbünde nach Ende des Ersten Weltkriegs trugen.50 Madonna del Manganello, protettrice dei Fascisti [Madonna des Knüppels, Beschützerin der Faschisten] stand auf den Heiligenbildchen, die während des ventennio fascista seit den 1930er-Jahren in Umlauf kamen. In der Liturgie des historischen Faschismus spielte sie eine zentrale Rolle, obwohl sie nie offiziell von der Kirche anerkannt wurde. In dieser Madonnenfigur wird die Verherrlichung der Gewalt als Teil der faschistischen Liturgie zur Vorbereitung auf die faschistischen Expansions- und Kriegspläne offensichtlich. Von Asvero Gravelli, Journalist und Direktor der Zeitschrift Antieuropa während des ventennio fascista51, ist ein Gebet an die Madonna del Manganello überliefert: O tu santo Manganello tu patrono saggio e austero, più che bomba e che coltello coi nemici sei severo. O tu santo Manganello Di nodosa quercia figlio Ver miracolo opri ognor se nell’ora del periglio batti i vili e gli impostor. Manganello, Manganello, che rischiari ogni cervello, sempre tu sarai sol quello che il fascista adorerà.
[Oh du heiliger Knüppel, weiser und harter Schutzpatron, mehr als Bombe und Messer Bist du mit deinen Feinden streng. Oh du heiliger Knüppel, Sohn einer knotigen Eiche tatsächliches Wunder allzeit vollbringst, wenn du in der Stunde der Gefahr, die Niederträchtigen und die Betrüger schlägst. Knüppel, Knüppel, der du jeden Verstand schärfst, du wirst immer das einzige sein das der Faschist verehrt.]52
50 Siehe auch Gentile zur Funktion des manganello als Talisman des squadrismo (Gentile 1993: 43). 51 Vgl. Gentile 1998: 48. 52 Übersetzung der Autorin.
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Mit Ende des Krieges 1945 verschwand die Madonna del Fascio aus der religiösen Öffentlichkeit, ihre Bedeutung für den Nachkriegsfaschismus ist daher auch nicht mit ihrer historischen Bedeutung gleichzusetzen.53 Vielmehr wurde sie mit neuer Bedeutung aufgeladen. Padre Giulio Tam von der Piusbruderschaft San Pio X gründete Ende der 1990er-Jahre den Verein Crociata del Rosario perpetuo alla Madonna del Fascio per la difesa della nostra Civiltà [Kreuzzug des ewigen Rosenkranzes zu Ehren der Madonna del Fascio zum Schutz unserer Zivilisation].54 Die Mitglieder verstehen sich als Erben des faschistischen Madonnenkultes. Das Leitmotiv des Vereins formuliert Padre Tam auf seiner Website angelehnt an das faschistische Motto credere, obbedire, combattere [glauben, gehorchen, kämpfen] wie folgt: Noi vogliamo ubbidire a Maria, combattere con Maria, trionfare con Maria! [Wir wollen Maria gehorchen, für Maria kämpfen und mit Maria triumphieren!]
Um Mitglied in seinem Verein zu werden, muss ein Mitgliedsbeitrag gezahlt werden. Jedes Mitglied verpflichtet sich, am 24-stündigen Rosenkranzgebet teilzunehmen: Im Namen der Zivilisation und der Tradition beten die Mitglieder in erster Linie gegen eine Invasion des Islam sowie gegen Abtreibungen. Minimale persönliche Beteiligung sind 15 Minuten pro Tag und 50 Rosenkränze pro Woche insgesamt. Die Nachtschichten werden von Gläubigen in Lateinamerika übernommen. Padre Tam spricht von einem Kreuzzug gegen das Übel durch Gebete, eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft im traditionalistischen Sinn. Der faschistische Madonnenkult, dem Padre Tam als eine leitende Figur vorsteht, ist Teil der religiösen Dimension des Nachkriegsfaschismus, eingebettet in den Märtyrerkult um Mussolini und in katholische Glaubenspraktiken. In vielen Wohnungen finden sich Formen von ›Hausaltären‹, meist an einer zentralen Position im Haus, dem Bezugspunkt der Familie. Dort stehen oft Bilder verstorbener Familienmitglieder, im Krieg Gefallener oder Vermisster, außerdem kleine Objekte wie beispielsweise Fahnen der RSI, Abbildungen von Adler und fascio littorio oder Mussolinis, Kerzen oder Blumensträuße. Je nach religiöser Überzeugung finden sich dort auch Heiligenbildchen, das Kreuz, Jesusbilder oder eben pagane Götter wie beispielsweise Dio Tevere, Gott Tiber. Diese privaten Orte des Gedenkens erinnern an den Kult der Hausgötter in der römischen Antike. Die sogenannten lar familiares wurden an einer zentralen Stelle im Haus, meist in der Nähe der Feuerstelle verehrt. Die Verehrung der verstorbenen Ahnen spielte
53 Vgl. Versari 2011: 138. 54 www.salpan.org/LITURGIA/Rosario %20Perpetuo/Regolamento.htm [15.8.2020]
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eine zentrale Rolle. Der Ort der Verehrung war das religiöse Zentrum innerhalb des privaten Bereichs, von dort aus wurde der Schutz von den Toten für die Familie erbeten.55 Bei ähnlichen Arrangements heute geht es nicht mehr ausschließlich um den Segen und Schutz der Ahnen, sondern um die Beziehung zu den Toten und zu traumatischer Vergangenheit. Bei Gabriele S., RSI-Veteran der Marineeinheit Decima Flottiglia MAS, befand sich ein solches Arrangement in einer Ecke des Wohnzimmers. Er hatte ein Jahr gewartet, bis er sich entschloss, mit mir zu sprechen. In unseren Gesprächen hatte er Mühe, über den Krieg zu erzählen, immer wieder berichtete er von gefallenen Kameraden. Sein Vater habe ihn ermutigt, in den Krieg zu ziehen, berichtete er, eine wichtige Komponente für seine Entscheidung damals und ein Verweis auf die enge Beziehung zwischen Vater und Sohn. Nach Kriegsende hatte er sich im MSI engagiert. Er hatte zahlreiche Wallfahrten nach Predappio absolviert. Nur sein Alter halte ihn davon ab, diese Tradition fortzusetzen, betonte er. Der kleine Altar in seiner Wohnung bestand aus einem kleinen Regalbrett aus Holz, das an der Wand befestigt worden war. Darauf standen eine Fahne der RSI, die Statue eines Adlers mit einem fascio littorio, ein Abbild des Mosaiks der Madonna del Fascio und eingerahmt an der Wand darüber die Kopie des Messingschildes, das seine Truppeneinheit in Predappio in der Krypta angebracht hatte. Bei unserem letzten Treffen kurz vor meiner Abreise ging ich erneut zu dem kleinen Altar, um ihn noch einmal genau zu betrachten. Da kam er auf mich zu, stellte sich zwischen mich und den Altar, hob seine Arme, breitete sie aus, drehte die Handflächen nach oben, und segnete mich mit langsamer, tiefer Stimme: Tante cose buone per te nella tua vita. Sempre. Che Dio ti benedica! [Viele gute Dinge für dich in deinem Leben. Immer. Gott segne dich!]
Dabei schien er ergriffen, fast entrückt. Hinter ihm stand symbolisch seine Kriegsvergangenheit, die zu einem sakralen Moment geronnen war. Die Sakralisierung des Faschismus, das physische, symbolische Arrangement der heiligen (faschistischen) Objekte machten es möglich, mich zu segnen bzw. den Segen in Form eines paraliturgischen Ritus für mich zu erbitten. In der Geste des Segnens war der Faschismus selbst zu einem segnenden Ganzen geworden, der Nachkriegsfaschismus nicht nur eine politische Bewegung, sondern eine religiöse Dimension. Vielleicht war diese Geste kurz vor meiner Abreise aus seiner Perspektive eine Art der Initiation für mich als Forscherin in die Welt des Nachkriegsfaschismus.
55 Vgl. Maiuri 2013: 19/ 20.
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5.3
DIE SAKRALE DIMENSION IM NACHKRIEGS-FASCHISMUS
Im Nachkriegsfaschismus lassen sich Formen des Religiösen ausmachen, zu denen der Totenkult56, der faschistische Märtyrerkult um Mussolini, die Tradition der Wallfahrt nach Predappio sowie der faschistische Madonnenkult gehören. In den genannten Beispielen lassen sich Gemeinsamkeiten und Konstanten erkennen, die die Existenz einer religiösen Dimension als grundlegende Rahmenstruktur des Nachkriegsfaschismus seit 1945 belegen – obwohl der Nachkriegsfaschismus eine politische Subkultur ist im Unterschied zum historischen Faschismus als totalitärem System, der als Politische Religion analysiert wurde. Der Nachkriegsfaschismus ist nicht nur ein politisches System, sondern auch gemeinsame, verinnerlichte Erfahrung von Tod und Trauma, Verlust und Trauer um Kriegstote und politische Tote sowie familiärer und transgenerationaler Dynamiken im Umgang damit.57 Die (traumatische) Erfahrung der RSI-Veteranen sowie die daraus resultierenden familiären Dynamiken, Verstrickungen und Verwerfungen fließen auch in eine religiöse Dimension ein. Innerhalb dieser kann u.a. der emotionale Druck aus eben diesen Erfahrungen ausgelagert, kanalisiert und rituell übersetzt werden – eingebettet in das Erbe des Faschismus sowie religiöse Traditionen des Katholizismus und Paganismus, aus denen im Nachkriegsfaschismus wiederum eine neue, eigene Religiosität entstanden ist. Religion und Politik sind im Nachkriegsfaschismus auf vielerlei Weise miteinander verwoben. Der faschistische Führerkult wird nach 1945 zu einem Märtyrerkult. Die Figur Mussolini in ihrer Funktion als Märtyrer wird zum Urvater der Nachkriegsfaschisten, der im Tod seinen Einflussbereich als Patron der Lebenden auch im Jenseits verändert und erweitert. Es ist der Märtyrerkult des Nachkriegsfaschismus selbst, eingebettet in die katholische Glaubenspraxis, der das faschistische Nachkriegsszene in zentraler Weise zusammenhält. Die religiöse Ausrichtung neofaschistischer Parteien und Gruppierungen stärkt die Verbindung zwischen Politik und Religion. Wenn Padre Tam beispielsweise Seminare mit Bildungscharakter für die jungen Mitglieder der neofaschistischen Partei Forza Nuova gibt, verlässt er seinen Bereich als geistlicher Seelsorger und bewegt sich als solcher im politischen Raum, in dem er u.a. den faschistischen Madonnenkult für Jugendliche in Form eines Bildungsauftrags wieder übersetzt und verfügbar macht. Die Dimension des Religiösen fungiert damit als Legitimation für politische Aktion und ist zugleich richtungsweisende Kraft, die außerhalb des sozialen
56 Vgl. Kapitel 2.4.3. 57 Vgl. Kapitel 4.3.1.
Elemente des Religiösen im Nachkriegsfaschismus | 321
und politischen Raumes liegt. Umgekehrt zeigt auch die politische Instrumentalisierung des ursprünglich in eine sakrale Dimension ausgelagerten, enthistorisierten emotionalen Drucks, der aus dem Umgang mit den toten Märtyrern resultiert, die Verflechtung von Politik und Religion. Im Kontext politischer Machstrukturen kann der Nachkriegsfaschismus auch als eine Form der Gegenreligion zum Antifaschismus interpretiert werden. Die religiöse Dimension stärkt die Position der Subkultur als Alternative zur antifaschistischen Staats- und Gesellschaftskonzeption in der Nachkriegsrepublik. Über die Existenz des Religiösen wird Legitimation hergestellt. Politische Handlungen sind z.T. auch Glaubenspraktiken, Politisches und Sakrales überschneiden und vermischen sich. Die Verbindung der Gemeinschaft mit dem Bereich des Transzendenten ermöglicht die Erweiterung der eigenen Macht(-Ansprüche). Der Märtyrerkult um Mussolini, die Bedeutung Predappios als Wallfahrtsort sowie der faschistische Madonnenkult sind Beispiele für die Gerinnung traumatischer Elemente und therapeutischer Umgangsformen in rituelle, religiöse Formen. Deren Verstetigung im Nachkriegsfaschismus zeigt die Entstehung einer Politischen Religion aus historischen Kontinuitäten und rituellen Umformungen im Kontext veränderter sozialer und politischer Machtgefüge auf. Die Verbindung zwischen Religion und Politischem geht, wie sich am Beispiel des Nachkriegsfaschismus zeigt, über einen einfachen Einfluss des Religiösen auf das Politische und umgekehrt hinaus. Verborgene religiöse Wirkungen, Therapien und Praktiken finden sich auch im scheinbar rationalen politischen Bereich des Nachkriegsfaschismus wieder.
6
Fazit
6.1 ZUSAMMENFASSENDE REFLEXION: DIMENSIONEN DES NACHKRIEGSFASCHISMUS ALS POLITISCHE SUBKULTUR Nachkriegsfaschismus in Zeit und Raum Der italienische Nachkriegsfaschismus als politische Subkultur besetzt seit 1945 einen spezifischen politischen und sozialen Raum in der italienischen Nachkriegsgesellschaft. Grundstock sind die Faschisten als Verlierer des Zweiten Weltkriegs und im Besonderen die RSI-Veteranen und ihre Familien. Ihr Narrativ über die als legitim und kriegsrechtlich legal bewertete eigene Kriegsvergangenheit ist Ursprungsmythos der eigenen Identität: ihre ›Reinheit‹ und moralische Unantastbarkeit als Soldaten sind Basis für das Selbstverständnis des Nachkriegsfaschismus. Dieser verbindet Mitglieder unterschiedlicher sozialer Herkunft und Bildung miteinander in einem Netzwerk der Kriegsverlierer, die sich zunächst in Veteranenverbänden sowie in der 1946 gegründeten Partei Movimento Sociale Italiano (MSI) organisierten und gegenseitig unterstützten – ein kultureller Raum, in dem faschistische Kultur, moralische Grundsätze und Erinnerungskultur sowie Gedenken an die Toten gepflegt wurden und werden. Der Kriegseinsatz wird durch die Betonung der eigenen moralischen Unantastbarkeit gerechtfertigt, Heldennarrativ und Selbstviktimisierung kontrastieren den antifaschistischen Täterdiskurs, eigene Täterschaft und Kriegsverbrechen werden relativiert bzw. negiert. Die Nachkriegsfaschisten lassen sich Anfang des 21. Jahrhunderts in drei Generationen einteilen: die Generation der RSI-Veteranen und Faschisten der RSI, die zweite Generation, die in erster Linie aus politischen Aktivisten der anni di piombo in den 1970er- und 1980er-Jahren besteht, sowie einer dritten Generation, die seit den 1990er-Jahren aktiv ist und keine Kriegs- oder Kampferfahrung besitzt. Während der Jahre der extremen politischen Spannungen und des politischen Terrors implizierte politisches Engagement Gewaltanwendung und die Verteidigung politischen Territoriums; politische Aktivität involvierte und gefährdete
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auch den privaten und familiären Raum. In der ersten und zweiten Generation nimmt kämpferische Erfahrung einen besonderen Stellenwert ein, sie ist ein Garant für Zugehörigkeit, welche streng reglementiert ist über, u.a. über politisches Engagement oder Familienzugehörigkeit. Die prekäre Situation des Nachkriegsfaschismus aufgrund der Gesetzeslage seit 1945, die den Ausschluss von der politischen Macht mit ihren klientelistischen Strukturen impliziert, führte zu starken Grenzen nach Außen; in einer Gegenreaktion versuchte man, den Status der marginalisierten Subkultur als einen moralisch überlegenen zu konzipieren. Diesen Status verlor der Nachkriegsfaschismus mit dem Eintritt des MSI in die Regierung 1994. Der Eintritt in das politische Macht- und Parteiensystem bedeutete ein Arrangement mit hergebrachten klientelistischen Netzwerken der Macht, die zu Abhängigkeitsverhältnissen führten. Die Geschichte des Nachkriegsfaschismus ist auch eine Geschichte sozialer, gruppendynamischer Makroprozesse der Exklusion und Inklusion: der Exklusion einer politischen Subkultur durch legale Restriktionen aus politischen Klientelnetzwerken aus Gründen des machtpolitischen Kalküls, in Form soziokultureller Prozesse basierend auf Reinheitsvorstellungen, sowie in Gestalt der Instrumentalisierung des Außenseiterstatus im Kontext geopolitischer Verflechtungen und Manöver während des Kalten Krieges. Gesellschaftliche und familiäre Umwälzungs- und Modernisierungsprozesse sowie die geopolitischen Veränderungen nach dem Ende des Sozialismus führten zusammen mit dem Prozess der Inklusion des faschistischen ambiente durch die Teilhabe an der politischen Macht zu einer Zersplitterung und Fragmentierung. Der Nachkriegsfaschismus als politische Subkultur in einem seit 1945 tendenziell schwachen italienischen Staat ist besonders an die Verteidigung und Eroberung von (politischem) Territorium gebunden. Daraus resultiert die zentrale Bedeutung von Territorium auf unterschiedlichen Ebenen: politisches Territorium beinhaltet Stadtviertel, die Sektionen der Organisationen und Parteien, Gedenkorte und Friedhöfe als Territorium der Toten, Wohnraum und Familienbesitz. Politische Aktivität ist stark körperlich geprägt und beinhaltet oft Gewalt oder zumindest ein Risiko an der Grenze zur Illegalität. Faschistische Identität wird als innere Lebenshaltung beschrieben. Totenkult und Erinnerungskultur sind zentrale Bestandteile faschistischer Kultur seit 1945. Das Gedenken an die faschistischen Toten, die als unruhige und ungesühnte Tote wahrgenommen werden, wird im faschistischen Totenkult zur Legitimation der eigenen Identität. Das faschistische Erinnerungsjahr wird durch das Gedenken an die Kriegstoten sowie die politischen Toten der anni di piombo strukturiert, wobei die Toten der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Generationen und Gruppierungen sind. Das Ritual des Totenkultes, der auf militärischen
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Praktiken gründet, ist ein Aushandlungsprozess von Identität im Angesicht unbewältigter Krisen wie Krieg und Tod, die in eine rituelle Dimension ausgelagert und dadurch verhandelbar werden. Als Motor für die Lebenden generieren die Toten politische Aktivität, der Totenkult wird zur Essenz und körperlichen Performanz politischer Identität. Gewalt, Trauma, Trauer und Verlust werden im Ritual ausgelagert und in ritueller Form wieder zur politischen Kraft. Die Vermittlerfunktion des Totenkultes bezieht sich nicht nur auf die Verbindung zwischen Lebenden und Toten; die therapeutische Form eines im Ritual dosierten Umgangs mit Kriegsvergangenheit und Gewalt wirkt auch als bindendes Element innerhalb einer immer stärker fragmentierten Szene. Nachkriegsfaschismus ist im Kern auch politische, körperliche Performanz von Krise und Notstand. Familien, Traumata, Täterschaft Die RSI-Veteranen und ihr Umgang mit Kriegsvergangenheit und Täterschaft gestalten und beeinflussen Familiendynamiken. Zur Analyse der Verarbeitungsprozesse und Spätfolgen von Kriegserfahrungen bei Soldaten und ihren Familien eignet sich die Traumatheorie. Eine Entwicklung posttraumatischer Folgen aufgrund (traumatischer) Kriegserlebnisse liegt in der individuellen psychischen Struktur des Einzelnen begründet, die auch mit der jeweiligen Lebenssituation vor und nach den (traumatischen) Kriegserlebnissen zusammenhängt. Kriegserinnerungen und vor allem der Umgang mit Täterschaft sind ein ständiger Umgang mit individuellen und kollektiven Grenzen, deren Verfertigung und Aushandlung mit der sozialen Positionierung der Veteranen einhergehen. Diskurse über Täterschaft sowie die Ausbildung eines (kollektiven) Bewusstseins für Täterschaft sind an den jeweiligen sozialen Referenzrahmen sowie die Konstellation der jeweiligen Machtverhältnisse gebunden. Das Selbstbild der RSI-Veteranen als tragische Helden in einer als marginalisiert wahrgenommenen politischen Subkultur erschwert eine kritische Auseinandersetzung mit Schuld und Täterschaft. Im Sinne des faschistischen Narrativs werden psychische Belastung wie negative Folgen von Täterschaft oder Schuldgefühle im Kollektiv daher in der Regel negiert und tabuisiert. Individuelle Auseinandersetzungen mit Täterschaft im Krieg reichen von der Interpretation von Täterschaft als Erfolgs- bzw. Heldengeschichte bis hin zu einem (vor allem im Alter) problematischen Umgang mit Täterschaft, die in solchen Fällen auch als Belastung empfunden werden kann. Schuld bleibt im Kern immer persönlich und wird durch eine äußere Instanz festgestellt – ein Gericht, geltende Regeln, Moralvorstellungen und Normen oder das eigene Gewissen. Die (oft fehlende) Auseinandersetzung mit Täterschaft unter den RSI-Veteranen zeigt: Schuld ist nicht mit Schuldgefühl gleichzusetzen und muss nicht unbedingt mit negativen Emotionen verbunden sein, sondern kann positiv umgedeutet werden. Katholische
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Vorstellungen über das Jüngste Gericht und die Möglichkeit der Verdammnis der Seele im Jenseits lassen Schuld zeitlos werden, sie reicht bis in die Welt nach dem Tod hinein, in der Täter und Opfer sich nach christlicher Vorstellung wiederbegegnen. Schuld und Schuldgefühle werden im Spannungsfeld zwischen individuellem Gewissen und sozialer Positionierung des Nachkriegsfaschismus verhandelt. Folgen von Täterschaft wurden bei einigen RSI-Veteranen als eine Art der ›inneren Kreisbewegung‹ sichtbar, in der sich der Täter in einem endlosen Prozess immer wieder mit den Getöteten verbindet, die auch als Tote präsent sein können und an die Tat erinnern. In ihrer Unauflösbarkeit kommt diese Bewegung einer inneren Starre gleich. Langzeitfolgen von Täterschaft werden in dieser Perspektive in Form von Starre und Stagnation sichtbar, als spiralförmige Hin- und Wegbewegungen zu den Toten – die Täter im Bann der Getöteten gefangen. Die Verbindung zwischen Täter und Opfer hinterlässt Spuren im Leben der Täter, auch wenn lange Schatten von Täterschaft oft im Verborgenen wirken. Es hat sich gezeigt, dass Kriegstraumatisierung und unverarbeitete Täterschaft in Familien über das Familiengedächtnis und Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe wirken. (Traumatische) Kriegserfahrungen beeinflussen familiäre Beziehungsdynamiken und können unbearbeitet über Generationengrenzen weitergegeben werden, ermöglicht durch die seelische Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern. Solche distanzlosen Verstrickungen sind unabhängig vom Grad der Bewusstheit und erschweren u.a. die Autonomieentwicklung von Kindern. Verdrängte und nicht reflektierte bzw. realisierte Schuld kann zu (unbewusst) übernommenen Schuldgefühlen bei Nachkommen führen, Auseinandersetzung mit Schuld wird manchmal erst in nachfolgenden Generationen möglich. Für die Nachkommen von Tätern stellt sich meist die schwierige Frage nach der Kategorisierung und Bewertung der (geliebten) Eltern oder Großeltern im Spannungsfeld familiärer Erzähltraditionen und gesellschaftlicher und juristischer Bewertungen. Innerfamiliäre Dynamiken gestalten sich um belastende Vergangenheit, Spannungen und Verdrängtes herum. Alles, was das bestehende familiäre Gleichgewicht oder Zugehörigkeit gefährden kann, wird in der Regel vermieden. Analysen von Familien der faschistischen Nachkriegsszene zeigen, dass das Kriegserbe der RSI-Veteranen für die Nachkommen in vielen Fällen eine große Herausforderung darstellt. Die Diskrepanz zwischen familiären Bildern, Kategorisierungen und Erzählungen, die im faschistischen ambiente als sozialem Netzwerk gespiegelt und untermauert werden, sowie der Realität in der antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft, die mit dem Schuleintritt meist als konfrontativ erlebt wird, wurde vor allem während der anni di piombo als problematisch erlebt. Die Sichtbarkeit politischer Zugehörigkeit im engen sozialen Beziehungsgeflecht Roms sowie familiäre Bindungen über Erbgemeinschaften spielen eine zentrale
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Rolle für familiäre Loyalität und politische Positionierungen. Neutrale, unpolitische Haltungen waren innerhalb dieser Rahmenbedingungen nur schwer zu realisieren. Familiäres Erbe in Form von Gewalt, Traumata und Täterschaft sind im transgenerationalen Gefüge eine Form des Drucks, der unterschiedliche Strategien des Umgangs damit generiert. Mechanismen der Übersetzung reichen von übertriebener Loyalität und politischer Aktivität bis hin zu Distanzierung, (politischer) Rebellion oder Kontaktabbruch. Gemeinsam ist allen Reaktionsmustern Intensität sowie ein hohes Konfliktpotenzial; sie verweisen auf die engen Grenzen einer politischen Subkultur und die damit verbundenen Restriktionen für die Identitätsbildung von Nachkommen durch familiäre und soziale Bindungen. Der emotionale Gehalt des Kriegserbes, der in Familien häufig unbearbeitet verschoben wird, wirkt über den politischen Aktionismus Einzelner in den politischen Raum hinein; faschistische Politik seit 1945 ist damit auch eine politische Umsetzung und Inbetriebnahme familiärer Traumata, die aus Gewalterfahrung und Täterschaft resultieren. Die Übertragung des Individuellen in den kollektiven Raum des Politischen ist die doppelte Verschiebung eines politischen Konfliktes, der über einen Krieg in das Private und Familiäre hineinwirkt, wo er zu transgenerationalen Verstrickungen führt, die (oft) ungelöst wieder auf das Politische zurückwirken. Politik und Familie sind im Kontext des italienischen Nachkriegsfaschismus nicht voneinander trennbar, faschistische Identität endet nicht bei politischer Positionierung, sie geht vielmehr über rein ideologische Haltungen hinaus. Individualpsychologische und familiäre Grundlagen strukturieren den soziokulturellen und politischen Raum über strukturelle Überschneidungen und wechselseitige Abhängigkeiten. Familiäre, soziale und politische Netzwerke greifen im Nachkriegsfaschismus ineinander und sind intensiv miteinander verflochten. Aus dieser Perspektive werden tiefe Brüche der italienischen Gesellschaft verstehbar, die – über Generationen hinweg weitergegeben – die Erinnerungskultur seit 1945 in ihrer radikalen und verfeindeten, dualistischen Form hervorgebracht haben und den Nachkriegsfaschismus konstant gestaltet und gestärkt haben. Totenkult und religiöse Elemente Der Umgang mit den Toten ist ein Kernelement im Nachkriegsfaschismus, sie fungieren als kulturelle Reserve der Gemeinschaft. Die Totenlandschaft in und um Rom gibt Aufschluss über die italienische Erinnerungskultur, die Gedenkorte und Friedhöfe der faschistischen Toten stehen in direktem Zusammenhang mit der politischen Position des Nachkriegsfaschismus in der Gesellschaft. Seit Kriegsende gibt es Bemühungen, über die Toten politisches Terrain zu gewinnen und den öf-
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fentlichen Erinnerungsdiskurs sowie die Totenlandschaft mitzugestalten und darüber eigene Räume zu besetzen. Die Gestaltung der Topografie der Toten ist ein zentraler Aspekt von Kulturproduktion. Die Herstellung von Ordnung in der Welt der Toten ist notwendig für die Ordnung in der Welt der Lebenden. Totenkult ist auch Verwandlung von Ohnmacht im Angesicht des Todes. Nicht nur Verlust und Trauer, sondern auch Aggression, Gewalt, Wut oder Rache den Tätern gegenüber werden im Totenkult verhandelt gleich einem Behälter, der ungelöste Emotionen im Ritual als enthistorisierter Dimension fasst. Der faschistische Totenkult basiert auf militärischen Bewegungsabläufen, in deren Rhythmus aus Starrheit und Bewegung traumatische Zustände gespiegelt werden. Das Element der Trance im Totenkult stärkt die Verbindung der Lebenden mit den in ihrer Wahrnehmung unbefriedeten Toten, die im nationalen antifaschistischen Vergangenheitsdiskurs keinen Platz haben. Traumata und unbearbeitete Emotionen Einzelner werden im Totenkult gefasst und in ritueller Form im Kollektiv ausgelagert. So können sie als kulturelles Erbe ungefiltert an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Das ritualisierte Totengedenken als Form der unerlösten Wiederholung stärkt die Rückbindung an die traumatischen Komponenten der faschistischen Identität. Es handelt sich dabei auch um die Festigung eines sozialen und kulturellen, transgenerational verfertigten Narbengewebes, das den Nachkriegsfaschismus selbst als Gestalt des Traumatischen identifiziert. Die Tragik der traumatischen Starre hat die soziale Figur eines ›faschistischen Narren‹ hervorgebracht, die sich im Spannungsfeld traumatischer Attribute wie Bewegung und Starre als eine Figur des Bizarren darstellt. Sie legt übertriebene Gewichtung auf äußerliche Identifizierungsmerkmale wie Kleidung und Symbolik, die im Gegensatz zur üblichen Betonung einer ›inneren faschistischen Identität‹ stehen. Der Gebrauch überspitzter, militärischer Bewegungspraktiken bei zivilen und rituellen Anlässen katalysiert körperliche Spannungszustände. Die Figur des ›faschistischen Narren‹ verkörpert auf eine verschobene Weise den Kern des Nachkriegsfaschismus: den Ernst des Ethos der faschistischen Soldaten und den Respekt für die Toten. Der Nachkriegsfaschismus ist in der Perspektive seiner traumatischen Gestalt auch eine kollektive Reaktion der Starre, die in der Vergangenheit und bei den Toten gebunden bleibt. Als politische Gemeinschaft verharrt der Nachkriegsfaschismus in einer rückwärtsgewandten, stagnierten revolutionären Bewegung, die aus dem Verharren in Wut und Trauer im Angesicht der Toten resultiert, die man günstig stimmen, deren vorwurfsvolle Blicke man vermeiden und die man zugleich politisch instrumentalisieren will.
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Der historische Faschismus lässt sich als Politische Religion analysieren. Zwar ist der Nachkriegsfaschismus kein totalitäres System mehr, sondern eine politische Subkultur in der demokratischen italienischen Nachkriegsrepublik, es lassen sich jedoch trotzdem Elemente des Religiösen ausmachen. Dazu gehören Toten-, Märtyrer- oder Madonnenkulte. Der Märtyrerkult um Mussolini, die Bedeutung Predappios als Wallfahrtsort seit Kriegsende sowie der faschistische Madonnenkult sind Beispiele für die Verwaltung des Erbes des historischen Faschismus als sakralisiertes, politisches Regimes. Eine besondere Stellung nimmt Mussolini als Märtyrer ein; als Toter verwandelt er sich vom politischen Führer zum Märtyrer, wird zum Vermittler zwischen seinen Anhängern und dem Transzendenten. Der faschistische Führerkult wandelt sich nach 1945 zu einem Märtyrerkult, in dem die Figur Mussolini zum Urvater der Nachkriegsfaschisten avanciert. Im Tod kann er seinen Einflussbereich als Patron der Lebenden sogar erweitern. Religiöse Elemente des Nachkriegsfaschismus lassen sich als Gerinnung traumatischer Elemente in rituelle, religiöse Formen, Kulte und Versatzstücke eines politischen Kultes verstehen, die aus den jeweiligen religiösen oder politisch-historischen Kontexten herausgelöst wurden. Angepasst an die sozialen und politischen Situationen seit 1945 ergeben sie in der Gesamtsumme eine religiöse Dimension, die als grundlegende Rahmenstruktur fungiert. Die religiöse Dimension des Nachkriegsfaschismus ist von zentraler Bedeutung für dessen Existenz. Sie festigt zusätzlich seine Form und stärkt die kontrastierende Position zur antifaschistischen Staats- und Gesellschaftskonzeption in der Nachkriegsrepublik. Über das Religiöse werden Legitimation, Sinnhaftigkeit und Zukunft hergestellt, rituelle Glaubenspraktiken sind auch politische Handlungen, Politisches und Sakrales überschneiden sich und ermöglichen eine Erweiterung der eigenen Macht (-ansprüche) in den Bereich des Transzendenten hinein. Die Trennung zwischen einer rein säkularen und einer rein religiösen Ebene ist im Nachkriegsfaschismus damit aufgehoben; verborgene religiöse Wirkungen, Therapien und Praktiken finden sich auch im scheinbar ausschließlich politischen Bereich des Nachkriegsfaschismus wieder.
6.2 FASCHISMUS ALS POLITISCHE BEWEGUNG DER KRISE Der historische Faschismus als politische Bewegung ist eine Form der institutionalisierten Revolution, die auf den Paradigmen Modernisierung, neues Menschenbild und Expansion im militärischen Sinne basiert – mit anderen Worten, Faschismus ist Notstand und Krise als politische Bewegung, die expandieren will, um den
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Fortbestand der eigenen Existenz zu sichern. Dazu bedarf es der Stärkung des Eigenen statt Kompromissen, Radikalisierung statt Öffnung, Feindbildern statt Vielfalt, Expansion statt Befriedung, Monopolisierung des Regimes und seiner Führung statt Gewaltenteilung. Revolutionäre Bewegungen von rechts zielen darauf, die Tradition wiederherzustellen, eine Hinwendung zurück zur Vergangenheit. Die Jugend ist dabei meist die treibende Kraft. Marcuse schreibt 1941 über den Nationalsozialismus: »[die deutsche Jugend, A.d.A] war die treibende Kraft in einem Prozess, der die tradierten Lebensweisen und -anschauungen durch die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit einem grundlegenden Wandel unterzog.« (Marcuse 1998: 113)
Jugend kanalisiert Wandlungswillen; auch über die Auseinandersetzung mit und Abgrenzung zur vorherigen Generation zieht sie Kraft zur Veränderung. Viele RSI-Veteranen waren jung, als sie sich 1943 zum Militär meldeten – eine Generation, die für die Ehre Italiens in den Krieg zog. Ebenso verhält es sich in der zweiten Generation, die den Nachkriegsfaschismus während der Zeit der anni di piombo gegen den Antifaschismus verteidigte. Der Nachkriegsfaschismus ist das Erbe einer politischen Bewegung, die auf Notstand und Krise basiert. Er ist jedoch im Unterschied zum Faschismus nicht mehr Staatsform, sondern politische Subkultur, Gegenkultur, Provokation und steht an der Schwelle zur Illegalität im Konflikt mit dem Gesetz – eine neue Form der Krise, die sich auf den alten Notstand bezieht und zugleich einen neuen Notstand konsolidiert: die Krise der eigenen Existenz seit der Faschismus bei Kriegsende illegal wurde. Politische Aktivität ist ein Versuch, die Krise zu überwinden über das Erlangen von politischem Einflusses und politischer Macht. Im Kern ist die Überwindung der Krise das Grundmotiv des Nachkriegsfaschismus, der den Krisenzustand zugleich konservieren muss, um Bewegung und Aktionismus zu erhalten – ein amivalenter Grundzustand, der Unruhe produziert. Parallel zum Erhalt des inneren Krisenzustandes reagiert der Nachkriegsfaschismus auf äußere Krisen, die ihn gefährden. Faschistische Bewegungen bewerten Globalisierung und Immigration beispielsweise in der Regel als Krise des Eigenen, als Krise des Territoriums sowie der Heimat – obwohl der Neofaschismus seit der Verhaftungswelle und der darauffolgenden Auswanderungswelle von politischen Aktivisten nach dem Anschlag von Bologna 1980 selbst an der Globalisierung teilnahm. Berufliche Netzwerke, Tourismus und Immobilienhandel in anderen europäischen Ländern sind das Resultat dieser Zeit und haben den italieni-
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schen Nachkriegsfaschismus auf gewisse Weise internationalisiert. Eine Gegenreaktion auf die Erweiterung des Raumes ist die Rückbesinnung auf Identität und lokalen Raum, der den Nachkriegsfaschismus intern stärkt. Die Berührung mit dem Fremden wirkt nach innen einigend, exkludiert aber in zunehmendem Maße das Fremde. Zum Erhalt der Krise gehört auch das Aufrechterhalten von Kriegstraumata und alten Feindschaften. Die Krise wird in diesem Fall nicht nur aufrechterhalten, sondern auch vom individuellen und familiären Raum in das (politische) Kollektiv verschoben. Systematische Feindschaft kann so über Generationen hinweg vererbt werden und zur Wiederholung von Täterschaft und Verdrängung der alten Opfer führen. Diese Mechanismen stärken das soziale Gefüge und vorhandene Machtstrukturen. Der Schlüssel zu den spezifischen Dynamiken innerhalb des Nachkriegsfaschismus liegt in der traumatischen Struktur der Gemeinschaft; faschistische Ideologie und institutionalisierte Revolution, ritualisierte Traumata und (unaufgearbeitete) Täterschaft verbinden sich zu einer charismatischen Mischung, die als politische Idee vermeintlich Erlösung aus der Krise verspricht und sich doch nur in der Wiederholung konsolidiert. Der Nachkriegsfaschismus ist in dieser Perspektive ein durch die Kriegsfolgen entstandenes soziales Narbengeflecht, das die Lebenden an die Toten bindet. Es stellt sich daher die Frage, ob über die Wiederherstellung eines achtungsvollen Blickes, einer respektvollen Beziehung zwischen Tätern und Opfern das Heilen von Narben in der Gesellschaft möglich wäre.
6.3 DAS ENDE DER WUT Trotz aller Beteuerungen, auf Rache zu verzichten, die Gegner zu achten und deren Tote zu ehren, zeigt sich die Wut als verbindendes Element zwischen den RSIVeteranen und den folgenden Generationen des Nachkriegsfaschismus. Sie wird gewissermaßen vererbt und verschoben zwischen den Generationen: Die Wut der Älteren nährt die Wut der Jüngeren, die Generationen stützen sich in ihrer Wut gegenseitig, sie hält die Gemeinschaft zusammen. Wut hat eine große Kraft, vor allem als Amalgam einer heterogenen Gruppierung. Doch Wut verhindert auch. Sie verhindert die Verarbeitung von Traumata und sie verhindert Versöhnung, sie verhindert einen offenen Blick auf die Vergangenheit und auf die Zukunft, denn sie verengt den Blick und lebt von der Verstetigung emotionaler Starre. Der in der faschistischen Nachkriegsszene häufig offiziell geäußerte Wunsch, es mögen alle Toten beider Kriegsseiten gleichermaßen gewürdigt werden, verschleiert zugleich die (unversöhnliche) Wut über die Negierung der faschistischen Toten in der an-
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tifaschistischen Mehrheitsgesellschaft, da er die Einnahme einer moralisch überlegenen Position impliziert. Diese ermöglicht das heimliche Aufrechterhalten der eigenen Wut unter dem Vorwand der Bereitschaft zur Versöhnung in einer unversöhnlichen Situation. Die entscheidende Frage ist, was geschähe, wenn die Wut enden würde. Es blieben vielleicht Trauer und Schmerz über Gewalt, Verlust und Tod zurück, es gäbe vielleicht Raum, um anders über Täterschaft und die Opfer zu reflektieren und zu trauern, wenn Wut diese Prozesse nicht mehr kompensieren und Verdrängung ermöglichen würde. Die Erfahrungen der Veteranengeneration sowie der Generation der anni di piombo könnten nicht mehr in politischen Aktionismus verwandelt oder dafür instrumentalisiert werden und so als treibende Kraft für eine illusorische Zukunft wirken. Das vage Gleichgewicht zwischen einer instrumentalisierten Vergangenheit und der Projektion dieser Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft würde vielleicht zerbrechen, denn die Wut könnte keine illusorischen Hoffnungen mehr nähren und die Toten wären keine treibende Kraft mehr. Dann könnte vielleicht eine tatsächliche Auseinandersetzung mit erlebten Traumata stattfinden, vielleicht wäre diese dann sogar unausweichlich. An dieser Stelle stünden sich Täter und Opfer beider Seiten als Individuen gegenüber, eingebunden in Kriegsparteien oder politische Seiten – Menschen, die einander als Menschen gegenüberstünden im Angesicht der Wucht der Geschichte. Erst ein Ende der Wut ermöglicht Veränderung und Versöhnung, das Eingeständnis von Schuld, das Anerkennen der Gegner und ihrer Toten, der eigenen Täterschaft und der eigenen Toten – aller Protagonisten eines großen kriegerischen Konflikts und seiner politischen Verwerfungen und Spätfolgen. Aber das Ende der Wut lässt noch auf sich warten. Die Wucht der Gruppendynamik im Nachkriegsfaschismus über Generationen hinweg macht deutlich, wie viel Kraft eine Gemeinschaft entwickeln kann, indem sie auf die Wut baut und wie schwer es ist, eine kollektive Dynamik zu durchbrechen, wie viel es Mut den Einzelnen kostet, sich von der kollektiven Wut zu verabschieden. Es stellt sich die Frage, ob es kürzere Wege der Befriedung gibt, beispielsweise in Form der Übersetzung sozialer Dynamiken und Narben in Formen der Kunst und Kultur oder der Philosophie, und ob sich auf abstrakteren Ebenen Lösungen finden lassen. Oder muss das Ende der Wut im Einzelnen beginnen und kann erst dann in der Gemeinschaft Früchte tragen? Die Frage nach dem Ende der Wut und politischem Extremismus ist auch eine Frage nach ungelöster Vergangenheit und Versuchen der therapeutischen Bewältigung im Politischen. Die Integration von Toten und Tätern ist eine Voraussetzung für einen Prozess der Versöhnung.
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GLOSSAR Alleanza Nazionale (AN) 1995 aus der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano hervorgegangen, die sich nach der Beteiligung an der Regierung 1994 in Alleanza Nazionale umbenannte. Die Umbenennung ging mit einer Entradikalisierung der Partei einher, um die neue Machtposition nicht zu gefährden. In der Folge wurde die Linie der Partei als national-konservativ bezeichnet. 2009 ging sie in Silvio Berlusconis Parteienbündnis Il Popolo della Libertà auf. Von 1995 bis 2008 war Gianfranco Fini Parteivorstand. anni di piombo dt.: bleierne Jahre. Bezeichnung für die Phase der politischen Radikalisierung in Italien beginnend mit den Unruhen im Zuge der 1968er-Bewegung bis zu den frühen 1980er-Jahren. Als Zäsur ist der Anschlag von Bologna im Jahr 1980 zu sehen, in dessen Folge die meisten außerparlamentarischen, radikalen politischen Organisationen zerschlagen wurden. Radikale unterschiedlicher politischer Lager verübten im gesamten Zeitraum mehr als 12 000 Akte politischer Gewalt. Die Ermordung des ehemaligen Premierministers Aldo Moro im Jahr 1978 sowie das Attentat im Bahnhof von Bologna 1980 zählen zu den Höhepunkten der Gewalt dieser Jahre. Die Verschärfung der politischen Spannungen legitimierte u.a. verschärfte Gesetzesmaßnahmen. Battaglioni M 1941 gegründete Eliteeinheiten, die zur faschistischen Miliz (Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale, MVSN), bzw. den sogenannten »Schwarzhemden« gehörten. »M« steht für Mussolini. Vor 1943 wurden sie in Russland, Griechenland und Malta eingesetzt. Nach dem 8. September 1943 entschied sich der
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Großteil derjenigen Einheiten, die im Norden Italiens, auf dem Balkan sowie in Frankreich stationiert waren, für die RSI. Blocco Studentesco Schüler- und Studentenorganisation von CasaPound Italia, 2006 in Rom gegründet. Brigate nere dt.: schwarze Brigaden. Paramilitärische faschistische Vereinigung in der RSI, deren Mitglieder in der Regel überzeugte Faschisten und daher auch Mitglieder der Faschistischen Republikanischen Partei (Partito Fascista Repubblicano, PFR) waren. camerata dt.: Kamerad. Aus dem militärischen Sprachgebrauch entlehnt. Selbstbezeichnung der Mitglieder der faschistischen Szene, vor allem in der zweiten und dritten Generation der faschistischen Nachkriegsszene. CasaPound Italia (CPI) Außerparlamentarische neofaschistische Organisation in Italien, gegründet 2003 mit Sitz in Rom. Im Jahr 2013 wurde die Organisation in eine Partei umgewandelt. Die Mitglieder bezeichnen sich als Faschisten des dritten Jahrtausends, die Partei versteht sich als nationalistisch, sozial und antikapitalistisch. compagno dt.: Genosse. Umgangssprachliche Bezeichnung für einen linken politischen Aktivisten. Decima Flottiglia MAS (Xa Flottiglia Mas/ Xa MAS/ Decima) Spezialeinheit der italienischen Marine unter General Julio Valerio Borghese, der nach dem 8. September 1943 an der Seite der Wehrmacht weiterkämpfte. MAS steht für Motoscafo Armato Silurante, ein mit Torpedos ausgerüstetes Motorboot, das vor allem vor 1943 von den Einheiten der Decima Flottiglia MAS eingesetzt wurde. Die Soldaten der Decima Flottiglia MAS werden auch »marò« genannt, verwendete Abkürzungen sind u.a. Xa oder Decima. Einige ihrer Truppenverbände kämpften nach 1943 an der Front gegen die Truppen der Alliierten oder gegen Titos Volksbefreiungsarmee, die Einheit wurde zwischen 1943 und 1945 jedoch in erster Linie im Kampf gegen italienische Partisanen eingesetzt.
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Democrazia Cristiana (DC) Die Partei wurde 1943 gegründet und verstand sich als gemäßigte katholische Volkspartei. Sie dominierte die italienische Politik bis 1993, seit Kriegsende stellte sie fast alle Ministerpräsidenten. 1994 wurde die Partei aufgelöst, nachdem zahlreichen hochrangigen Parteimitgliedern im Zuge der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Mailand Korruption vorgeworfen wurde (s.u. mani pulite). dopoguerra Italienische Bezeichnung für die Nachkriegszeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. epurazione dt.: Säuberung. Mit epurazione werden (in der Regel illegale) Säuberungs- bzw. Lynchaktionen in vielen Regionen Norditaliens nach Kriegsende 1945 bezeichnet. Die oft brutale Abrechnung italienischer Partisanen mit Faschisten dauerte bis 1947 an, bis 1949 wird von Lynchjustiz berichtet. Für kommunistische Partisanen waren solche Lynchaktionen auch eine Möglichkeit, den Klassenkampf zu intensivieren und Bürgertum sowie Großgrundbesitzer zu bekämpfen. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt, die Gesamtzahl der toten Faschisten wird auf 10 000 bis 12 000 geschätzt. Die Zahlen aus faschistischen Quellen übersteigen diese Annahmen, hier ist die Rede von circa 20 000 Opfern bis zu den letzten Gewalttaten im Jahr 1949 – unter Einbezug von Zivilisten. fascio littorio dt.: Liktorenbündel, Rutenbündel. Zu Zeiten der antiken Römischen Republik waren die sogenannten fasces lictorii (lat.) Symbol der höchsten Amtsträger. In der faschistischen Ideologie, die sich auf den Mythos des Römischen Reichs bezog, u.a. um die imperialistische Außenpolitik zu legitimieren, wurden sie zu einem zentralen Symbol des Regimes. Fiamme Bianche Untereinheit der Guardia Nazionale Repubblicana für die 14- bis 18jährigen. Forza Nuova (FN) Nationalistische, rechtsextreme, katholische Partei, gegründet 1997 von Roberto Fiore und Massimo Morsello mit Hauptsitz in Rom. Parteivorsitzender ist Roberto Fiore, ehemaliges Mitglied von Terza Positione.
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Fronte universitario d’azione nazionale (FUAN) Faschistische Studentenbewegung, die 1950 von Mitgliedern der Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano in Rom gegründet wurde, 1979 in FUAN Destra Universitaria [Universitäre Rechte] umbenannt. Im Zuge der Umbenennung des Movimento Sociale Italiano in Alleanza Nazionale auf dem Parteitag in Fiuggi kam es 1996 zur Umbenennung in Azione universitaria [Kampf der Studenten], seitdem war die Organisation offizielle Jugendorganisation der Partei. Zusammen mit der Partei Alleanza Nazionale wurde sie 2009 aufgelöst. Guardia Nazionale Repubblicana (GNR) dt.: Nationalrepublikanische Garde. Streitkräfte der Italienischen Sozialrepublik (RSI), 1943 gegründet. Die GNR übernahm Aufgaben der Carabinieri, der faschistischen Sicherheitsmiliz, sowie der Kolonialpolizei Polizia dell’Africa Italiana. Dazu gehörten u.a. der Kampf gegen Partisanen, Polizeiaufgaben und militärische Sicherungsaufgaben. Il Popolo della Libertà (PdL) Im Jahr 2009 von Silvio Berlusconi gegründete Partei, die aus der Fusion verschiedener Parteien entstand. Die größten unter ihnen waren Berlusconis Forza Italia und Alleanza Nazionale, die als Parteienbündnis die nationalen Wahlen 2008 für sich entscheiden konnten und sich in der Folge zu einer Verschmelzung entschieden. Die Ausrichtung der Partei ist konservativ, populistisch und christdemokratisch. 2013 wurde die Partei wieder in Forza Italia umbenannt. mani pulite dt.: saubere Hände. Juristische Untersuchungen, die Anfang der 1990er-Jahre von der Staatsanwaltschaft Mailand unter Leitung des Staatsanwalts Antonio di Pietro durchgeführt wurden. Dabei wurden kriminelle Verflechtungen des politischen Systems in Italien in Form von Korruption, illegaler Parteienfinanzierung und Amtsmissbrauch aufgedeckt. Die Untersuchungen führten zur Zerschlagung der großen Volksparteien Democrazia Cristiana und Partito Socialista Italiano und damit zum Ende der ersten Phase der italienischen Nachkriegsrepublik, die seitdem als sogenannte Ersten Republik [Prima Repubblica] bezeichnet wird. Die politische Landschaft formierte sich daraufhin neu, in der Folge spricht man von der sogenannten Zweiten Republik [Seconda Repubblica]. Movimento Sociale Europeo (MSE) Außerparlamentarische neofaschistische Organisation mit Sitz in Rom, die das Andenken an den griechischen Studenten Mikis Mantakas pflegt, der bei Unru-
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hen während der anni di piombo getötet wurde. Die Organisation besitzt eine antikapitalistische, rechtsextreme Ausrichtung mit spezifischem Fokus auf die Autonomie der europäischen Volksstämme. Movimento Sociale Italiano (MSI) Erste neofaschistische Partei nach Ende des Zweiten Weltkriegs, gegründet 1946 in Rom von RSI-Veteranen und hochrangigen Mitgliedern der faschistischen Partei der Norditalienischen Sozialrepublik (Partito Fascista Repubblicano, PFR). Die Partei bezog sich in ihrem Programm klar auf das faschistische Regime, daher wurde sie vom sogenannten arco costituzionale [Verfassungsbogen], also den Parteien, die die neue Verfassung der italienischen Nachkriegsrepublik ausarbeiteten, ausgeschlossen. Nachdem der MSI 1994 erstmalig an der Regierung beteiligt wurde, wurde die Partei 1995 auf dem Parteikongress von Fiuggi in Alleanza Nazionale umbenannt und entradikalisiert. Daraufhin entstanden einige kleinere, radikalere Splitterparteien wie beispielsweise Fiamma Tricolore. Movimento Tradizionale Romano (MTR) Neofaschistische und pagane Organisation mit Hauptsitz in Rom, 1988 als Movimento Tradizionalista Romano gegründet, 1998 in Movimento Tradizionale Romano umbenannt. Ziel der Organisation sind Pflege und Erhalt der römischitalischen Traditionen bzw. des römischen Polytheismus sowie die Rückbesinnung auf Grundsätze, Werte und Normen der römischen Gesellschaft. Potere Operaio (PotOp) Außerparlamentarische linke Organisation mit Hauptsitz in Rom, die im Herbst 1969 gegründet und 1973 aufgelöst wurde. Neben den Roten Brigaden (Brigate Rosse, BR) gilt die Organisation als eine der gewalttätigsten ihrer Zeit. Mitgliedern der Organisation wurde vorgeworfen, für den Brandanschlag im Stadtteil Primavalle am 16. April 1973 verantwortlich gewesen zu sein, bei dem zwei Söhne eines MSI-Aktivisten ums Leben kamen. Partito Democratico (PD) Gegründet im Jahr 2007 durch den Zusammenschluss der Democratici di Sinistra, Nachfolgepartei des Partito Comunista Italiano, und der Partei La Margherita, eine der Nachfolgeparteien der 1994 aufgelösten konservativen Democrazia Cristiana. Die Partei bezeichnet sich als sozialdemokratisch, linksliberal und christlich.
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Partito Comunista Italiano (PCI) Gegründet 1921 war sie die einflussreichste kommunistische Partei Italiens in der Nachkriegszeit. In der Regierung stellte sie meist die Opposition bis sie 1991 in der sozialdemokratischen Partei Partito Democratico della Sinistra aufging, die 1989 in Democratici di Sinistra umbenannt wurde. il presente Der Ritus des neofaschistischen Totenkultes wird il presente genannt. Dieser geht auf ein militärisches Ritual aus dem Ersten Weltkrieg, den Appell nach der Schlacht, rito d’appello [Anwesenheitsritus], zurück. Die Soldaten wurden einzeln bei ihrem Namen gerufen und antworteten jeweils mit presente [anwesend]; für die Gefallenen antworteten die Überlebenden gemeinsam an deren Stelle. Die ersten faschistischen Gruppierungen nach Ende des Ersten Weltkrieges übernahmen den Ritus aus dem militärischen Alltag, seitdem ist er fester Bestandteil der faschistischen Liturgie. Im Rahmen der Helden- und Märtyrerverehrung während des faschistischen Regimes gewann der presente-Ritus maßgeblich an Bedeutung; seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist er Bestandteil des neofaschistischen Totenkultes. Raido Faschistischer Kulturverein, gegründet 1979, der sich nach der fünften Rune des altnordischen Runenalphabets mit der Bedeutung »Ritt«, »Reiten« benennt. Die Affinität zur Germanischen Mythologie resultiert aus der Orientierung der Organisation am deutschen Nationalsozialismus bzw. der Waffen-SS, die neben den RSI-Veteranen starken Vorbildcharakter für die Mitglieder besitzen. Repubblica Sociale Italiana (RSI) dt.: Italienische Sozialrepublik. Nachdem Benito Mussolini im Juli 1943 durch den faschistischen Großrat abgesetzt worden war und die italienische Regierung einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen hatte, konnte nach Mussolinis Befreiung mit Hilfe der Deutschen am 23. September 1943 im Norden des Landes der neue faschistische Staat Repubblica Sociale Italiana gegründet werden. Regierungssitz war von 1943 bis 1944 Salò und von 1944 bis 1945 Mailand. Die RSI war ein Einparteienstaat (Partito Repubblicano Fascista), auf der Flagge wurde das Wappen des Königshauses durch einen Adler mit einem goldenen Liktorenbündel in den Krallen ersetzt. Das Regime war kompromissloser als das vor 1943, die Rassengesetze wurden nach deutschem Vorbild verschärft, potenzielle politische Gegner besonders hart verfolgt, die Presse scharf zensiert. Von den Alliierten sowie vom 1943 gegründeten Königreich Italien des Südens
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[regno del sud] wurde die RSI nie offiziell als Staat anerkannt. Bis Kriegsende am 25. April 1945 wurde neben dem Krieg an der Front gegen die Alliierten auf dem Territorium der RSI ein blutiger Bürgerkrieg zwischen staatlichen militärischen Einheiten der RSI mit Unterstützung deutscher Truppen und italienischen Widerstandskämpfern gekämpft. Mit der bedingungslosen Kapitulation endete die RSI. Resistenza dt.: Widerstand. Die militärische Widerstandsbewegung gegen den faschistischen Staat auf dem Gebiet der RSI wuchs beständig, unterstützt durch die Regierung des regno del sud [Italienisches Königreich des Südens] sowie durch die Truppen der Alliierten. Seit Ende 1943 organisierten sich zunächst kleinere Gruppen von Widerstandskämpfern. Nach gezielten Razzien gegen die Widerstandsbewegung, die sich häufig auch gegen Zivilisten richteten, wuchs zugleich der zivile Boykott gegen die RSI und die Widerstandsbewegung wuchs zu einem Massenphänomen heran. Die Brutalität der Repressionen in Folge verübter Attentate erreichte hauptsächlich in den Städten immer wieder Höhepunkte der Gewalt. Trotz der Repressionen stieg die Anzahl der Partisanen auf dem Territorium der RSI jedoch stetig an, für den Juni 1944 wird von 70 000 bis 80 000 Partisanen ausgegangen, für den April 1945 sogar von 250 000 bis 300 000 Mann. Rogo di Primavalle dt.: Feuer von Primavalle. Brandanschlag im römischen Stadtteil Primavalle am 16. April 1973, bei dem die beiden Söhne des MSI Aktivisten Mario Mattei, Virgilio und Stefano Mattei, ums Leben kamen. Für den Anschlag werden Mitglieder der außerparlamentarische linken Organisation Potere Operaio verantwortlich gemacht. saluto romano dt.: römischer Gruß. Grußgeste, die während des faschistischen Regimes eingeführt wurde, bei der der rechte Arm bis in die Fingerspitzen gestreckt nach oben gestreckt wird. Terza Positione (TP) dt.: Dritter Weg. Eine der größten und wichtigsten außerparlamentarischen neofaschistischen Organisationen während der anni di piombo. Gegründet wurde die Organisation 1978 in Rom, aufgelöst 1982. Ziel der Organisation war die nationale Befreiung durch den Kampf gegen den Sowjetkommunismus sowie den
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amerikanischen Imperialismus und die Durchsetzung eines neuen sozialen und ökonomischen Modells als »drittem Weg« ventennio fascista dt.: die zwei Jahrzehnte des Faschismus. In Italien wird die Periode der faschistischen Herrschaft von 1925 bis 1945 auch als ventennio fascista bezeichnet.
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Kapitel 2 Abbildung 2.1: Schulgebäude Liceo Giulio Cesare im Stadtteil Trieste-Salario in Rom, Plakatierung anlässlich des Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs am 25. April 2012: Gli eroi son tutti giovani e belli. Ai ragazzi di Salò. [Die Helden sind alle jung und schön. Den Jungs von Salò.] ist ein Zitat aus dem Lied Locomotiva des Liedermachers Francesco Guccini von 1972. Darin geht es um die wahre Geschichte eines Bahnarbeiters, der sich 1893 aus unbekannten Gründen eine Lokomotive stahl und mit hoher Geschwindigkeit Richtung Bologna fuhr. Er wurde auf ein totes Gleis umgeleitet und verletzte sich schwer. Guccini stellt den Mann in seinem Lied als anarchischen Rebellen und Klassenkämpfer dar. Der Komponist, der sich politisch links verortet, äußerte sich im Jahr 2012 sehr verärgert über die Nutzung des Liedtextes durch faschistische Gruppierungen. Text: www.repubblica.it/spettacoli-e-cultura/2012/04/23/news/francesco_guccni_contro_i_manifesti_di_sal_hanno_offeso_e_tradito_la_mia_locomotiva _-33814699/ [8.6.2017]. Fotografie: Lene Faust Abbildung 2.2: Politische Aufteilung der Stadtviertel Roms während der anni di piombo. eigene Zeichnung Abbildung 2.3: 16. April 2015, Plakatierung in der Nähe der ehemaligen Wohnung der Familie Mattei. Fotografie: Lene Faust Abbildung 2.4: Grabsteine auf dem Campo della memoria, Zeremonie zum Gedenken der gefallenen Soldaten der RSI am 25. April 2015. Fotografien: Lene Faust Kapitel 3 Abbildung 3.1: Plakatierung zur Erinnerung an Francesco Cecchin, Stadtteil Trieste-Salario in Rom, Juni 2012. Fotografien: Lene Faust Kapitel 4 Abbildung 4.1: Schema des Modells von Hertz nach Metcalf/ Huntington 1991: 83
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Abbildung 4.2: Gedenkstätte auf dem Monte Grappa im Veneto, Oktober 2016. Fotografie: Lene Faust Abbildung 4.3: Soldatenfriedhöfe des Zweiten Weltkriegs südlich von Rom, eigene Zeichnung Abbildung 4.4: Campo della Memoria, Nettuno. 17. Juni 2012. Fotografie: Lene Faust Abbildung 4.5: Madonna delle Tre Fontane, 12.April 2013. Fotografie: Lene Faust Abbildung 4.6: Dantes Weltbild, in: Lang/ McDannell 199: 124 Kapitel 5 Abbildung 5.1: Grab Mussolinis in der Familienkrypta, Predappio, 28. April 2014. Fotografie: Lene Faust Abbildung 5.2: Ausgang der Familienkrypta Mussolini, Predappio, 28. April 2014. Fotografien: Lene Faust
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Zeitungen Berliner Zeitung Die Presse Die Welt Die Zeit Der Spiegel La Repubblica Il Fatto Quotidiano Il Giornale Il Messaggero Il Secolo d’Italia Libero Quotidiano
Ethnologie und Kulturanthropologie Victoria Hegner
Hexen der Großstadt Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin 2019, 330 S., kart., 20 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4369-5 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4369-9
Stefan Wellgraf
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Sandro Ratt
Deformationen der Ordnung Bausteine einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie 2018, 354 S., kart., 20 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4313-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4313-2
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Ethnologie und Kulturanthropologie Martin Heidelberger
Korrespondenten des Wandels Lokale Akteure der globalen Nachrichtenindustrie 2018, 328 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4173-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4173-2
Daniel Kofahl, Sebastian Schellhaas (Hg.)
Kulinarische Ethnologie Beiträge zur Wissenschaft von eigenen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen 2018, 320 S., kart., 9 SW-Abbildungen, 12 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-3539-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3539-7
Márcio Vilar
Calon-Welten Eine Ethnografie über das Leben, Sterben und Weiterleben bei Ciganos in Brasilien April 2020, 342 S., kart., 11 SW-Abbildungen, 8 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4438-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4438-2
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