Für eine Konfliktkultur in Familie und Gesellschaft: Kommunikation in interkulturellen und interreligiösen Übergangsräumen [1. Aufl.] 9783839427699

How can spaces of transition be created that are capable of resisting the tensions between people of different experienc

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German Pages 144 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Grußwort
Von der Faszination der ,Urgemeinschaft‘ oder Erfahrungsbewegungen im Modellprojekt „Konfliktkultur“
Rêverie – Von dem Versuch, Ambivalenzspannung in Familie, Gesellschaft und Religion aushalten zu lernen
Familie, Gemeinschaft, Staat: Strukturprinzipien in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften
Zu den Autoren und Autorinnen
Kultur und soziale Praxis
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Für eine Konfliktkultur in Familie und Gesellschaft: Kommunikation in interkulturellen und interreligiösen Übergangsräumen [1. Aufl.]
 9783839427699

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Institut für Kulturanalyse e.V. (Hg.) Für eine Konfliktkultur in Familie und Gesellschaft

Kultur und soziale Praxis

2014-07-24 10-38-23 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607585542|(S.

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4) TIT2769.p 372607585550

2014-07-24 10-38-23 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607585542|(S.

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Institut für Kulturanalyse e.V. (Hg.)

Für eine Konfliktkultur in Familie und Gesellschaft Kommunikation in interkulturellen und interreligiösen Übergangsräumen

2014-07-24 10-38-23 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607585542|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2769-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2769-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-24 10-38-23 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607585542|(S.

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Inhalt

Einleitung | 7

Renate Haas Grußwort | 15

Reinhard Naumann, Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf (Berlin) Von der Faszination der ,Urgemeinschaft‘ oder Erfahrungsbewegungen im Modellprojekt „Konfliktkultur“ | 19

Renate Haas Literatur | 64 Diskussion | 71 Rêverie – Von dem Versuch, Ambivalenzspannung in Familie, Gesellschaft und Religion aushalten zu lernen | 87

Lorenz Wilkens Literatur | 99 Diskussion | 100 Familie, Gemeinschaft, Staat: Strukturprinzipien in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften | 105

Susanne Enderwitz Literatur | 122 Diskussion | 123 Zu den Autorinnen und Autoren | 139

Einleitung R ENATE H AAS

Die Auseinandersetzung mit kulturell und religiös anderen scheint von ziemlicher Unsicherheit geprägt zu sein. Die Befürchtung, selbst des „Othering“ bezichtigt zu werden, genauer gesagt, jemanden durch intime und systematische wissenschaftliche Betrachtung erst ‚andersartigʻ zu machen, scheint mittlerweile in der Diskussion um Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft groß zu sein. Nach langen Jahren positivistischer Verdrängung ist der aus der Psychoanalyse stammende Begriff der ‚Abwehrʻ inzwischen aus der interkulturellen Projektelandschaft nicht mehr wegzudenken. Allerdings kam es dabei zu Verengungen. Kulturalisierung versteht man nun als eine Strategie der Abwehr von Konflikten, die das Unternehmen, ökonomische, soziale und juristische Gleichheit von Migranten aus der südlichen und östlichen Hemisphäre in der deutschen Gesellschaft zu verwirklichen, nach wie vor mit sich bringt. So stellen Haci-Halil Uslucan und Mitarbeiter in der Expertise des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) zum bundespolitischen Präventionsprogramm „Initiative Demokratie Stärken“ beispielsweise fest, daß für „Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte […] eine besondere Risikokonstellation vorliegt“, da eventuelle „Störungen“ wie durch mangelnde „Argumentationsfähigkeit“ bedingte „Gewaltneigung […] von Professionellen seltener erkannt werden und [sie] stattdessen viel-

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fach eine kulturalistische Deutung (‚temperamentvolle Südländer‘ o.ä.) erfahren“.1 Dieser kritische Impuls in der Migrationsforschung ist der Kultur- und Sozialanthropologin Ayse Çağlar zu verdanken. Im Anschluß an die ,Writing Cultureʻ-Debatte hatte sie schon 1990 in ihrem Artikel „Kulturkonzept als Zwangsjacke“ auf diese Symptomatik aufmerksam gemacht.2 Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte fortan die Instrumentalisierung eines „holistischen“ Gebrauch des Kulturbegriffs, wie sie etwa in der Ansicht zum Ausdruck kommt, „Türken, die in Deutschland leben, [seien] ,bricoleurs‘ im Lévi-Strauss’schen Sinne, […] ,kulturelle Bastlerʻ, die mit verschiedenartigen und begrenzten Mitteln arbeiten, um mit dem zurechtzukommen, was zur Hand ist. Wie ein ,bricoleurʻ schaffen sie neue Kompositionen aus den Trümmern dessen, was einmal sozialer Diskurs war. [...] Sie tun dies mit einem ,Satz von Werkzeugenʻ, die in keiner Beziehung zu dem auszuführenden Vorhaben […] stehen, sondern sie [die ,Kompositionenʻ, RH] sind das zufällige Ergebnis aller Gelegenheiten, die den Vorrat erneuern und bereichern oder ihn mit den Überresten früherer Konstruktionen und Zerstörungen erhalten helfen“.3

Ganz so „zufällig“, wie Çağlar meint, verläuft dieser Prozeß bestimmt nicht. Zum einen sind internalisierte Normen doch nicht einfach austauschbar; zum andern geschieht die „bricolage“ dieser neuen Kultur in öffentlicher wie privater Interaktion unter den rechtlichen und sozialen Bedingungen der Aufnahmegesellschaft. Auch Karl Marx war sich des Problems einer lähmenden kulturellen Erbschaft bewußt:

1

Haci-Halil Uslucan, Marina Liakova, Dirk Halm: Islamischer Extremismus bei Jugendlichen – Gewaltaffinität, Demokratiedistanz und (muslimische) Religiosität. Expertise des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Essen 2011, S. 16.

2

Ayse Çağlar: Das Kultur-Konzept als Zwangsjacke in Studien zur Arbeitsmigration, in: Zeitschrift für Türkeistudien, Jg. 3, (1990), Heft 1, S.93-105.

3

Ayse Çağlar (1990), S. 103f.

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„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“4

Wann immer ‚Irritierendes‘ oder ‚Verstörendes‘ in einer interkulturellen Auseinandersetzung wahrgenommen wird, sehen sich nicht nur Migrationsforscher vor das Problem gestellt, wie solche Erfahrungen zu verstehen und in welchen Begriffen und Narrativen sie zu beschreiben seien. Die in diesem Band versammelten Vorträge geben Einblick in das Innere eines dreijährigen Modellversuchs einer Elternbildung zur besseren Erfüllung ihrer Erziehungsaufgabe (im familiären und institutionellen Umgang schon mit kleinen Kindern) — und mit dem Ziel, eine Konfliktkultur zu befördern, die sich durch das Vermögen auszeichnet, in tendenziell zerstörerischen Mustern der Kommunikation und Interaktion zwischen den Geschlechtern und Generationen sowie zwischen Familie und Gesellschaft – auch durch Kulturunterschiede bedingte – Irritationen, Verwerfungen und Erstarrungen zu erkennen, ihnen in Theorie und Praxis methodisch nachzugehen und sie möglichst in konstruktive Spannungsverhältnisse umzuwandeln. Am 17. Januar 2014 veranstalteten wir, um die Ergebnisse unserer fast dreijährigen Arbeit mit eingeladenen Verbandsvertretern und Betroffenen sowie interessierter weiterer Öffentlichkeit zu diskutieren, im Rathaus Berlin-Charlottenburg eine Fachtagung unter dem Titel „Arbeit an und in interkulturellen und interreligiösen Übergangsräumen. Bericht aus dem Inneren des Modellprojekts ‚Konfliktkulturʻ – Ein Programm zur Bildung historischen Bewußtseins von Eltern“. Dazu durfte ich einleitend zu ihrem Erscheinen begrüßen:

4

Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: ders./ Friedrich Engels: Geschichte und Politik 2, Studienausgabe in 4 Bänden, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1966, S. 34f.

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• • • •



zuerst den Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf, Herrn Reinhard Naumann, der uns freundlicherweise nicht nur die Räumlichkeiten zur Verfügung stellte, sondern auch die Schirmherrschaft der Veranstaltung übernommen hat, um sie sogleich persönlich mit einigen Grußworten zu eröffnen, den Integrationsbeauftragten von Charlottenburg-Wilmersdorf, Herrn Mustafa Çakmakoĝlu, Frau Steffi Otterburg aus der Regiestelle des Bundesprogramms „Initiative Demokratie Stärken“, Frau Susanne Johannson und Frau Katja Schau vom Deutschen Jugendinstitut in Halle, Frau Professor Dr. Susanne Enderwitz von der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients, mit Dank für ihren angekündigten Vortrag über „Strukturprinzipien in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften“, Frau Sibylle Cizenel von der Bosporus-Universität (Boğaziçi Üniversitesi) Istanbul, von dort eigens zu unserer Fachtagung angereist.

Über das geladene und das zahlreich erschienene weitere Publikum hinaus richtete sich unser Dank an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für Förderung und Unterstützung unseres Modellprojekts im Rahmen des Bundesprogramms „Initiative Demokratie Stärken“; an Herrn Professor Dr. Heinrich Deserno, International Psychoanalytic University Berlin, der schon im Vorfeld dieses Vorhaben unterstützt hat; an Frau Dr. Bärbel Irion für Supervision und Beratung; und nicht zuletzt an die Institutionen, die außerdem maßgeblich zum Zustandekommen unseres Projekts beigetragen haben: InterAktiv e. V., Känguru – hilft und begleitet, wellcome Berlin-Charlottenburg, DITIB Osman Gazi Moschee, Türkisch-deutsche Kinderbegegnungsstätte Atatürk e. V., Arabische Eltern-Union e. V., TürkischDeutsche Frauenvereinigung zu Berlin e. V. BETAK.

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„Unser besonderer Dank“, fuhr ich in meiner Begrüßung fort, „gilt den zehn Kurs-Teilnehmerinnen unserer Elternfortbildung. Sie blieben uns über 12 Monate ‚treuʻ, so daß wir mit ihnen den Kurs Konfliktkultur – Elternschaft als „dritte Chance“. Eine intergenerationelle, interkulturelle und interreligiöse Elternbildung modellhaft erproben konnten. Und bis Mitte des Jahres wollen wir die Ergebnisse im Entwurf eines Handbuches zum Gebrauch von Eltern und Multiplikatoren zusammenführen, um es mit den Kursteilnehmerinnen zu diskutieren und dann baldmöglichst herauszugeben.“5 Mein sich daran anschließender kurzer Vorblick auf das Anliegen der Fachtagung im ganzen, auf die Themen der drei Vorträge im einzelnen sowie auf die erwünschten Diskussionen über Ergebnisse und Perspektiven sei hier gerafft im Wortlaut wiedergegeben: „In unserer heutigen Fachtagung möchten wir besonders einen Aspekt beleuchten, der in der derzeitigen Diskussion um Präventionsmaßnahmen gegen islamistischen oder auch andere Formen von Extremismus manchmal verloren zu gehen scheint: Rollenfixierungen und kulturelle oder religiöse Erstarrungen, ohne die keinerlei Form von Aboder Ausgrenzung Wirkung entfalten könnte, sind in der Mitte der Gesellschaft anzutreffen und müssen eben dort auch analysiert und bearbeitet werden. Deshalb richtet sich unser Augenmerk auf die Frage, wie Kommunikationsräume in der Gesellschaft gestaltet werden müssen, damit sie den Spannungen standhalten, die entstehen, wenn Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, ja sogar mit solchen von Gewalt, Mißachtung oder Diskriminierung in Institutionen aufeinandertreffen. In dieser Logik steht in meinem Vortrag Von der Faszination der ‚Urgemeinschaftʻ oder Erfahrungsbewegungen im Modellprojekt

5

Unser Manual mit dem Titel „Ein Handbuch für (werdende) Eltern. Interkulturelle Übergangsräume – Für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten in Familie und Gesellschaft“ ist für Interessenten kostenlos zu beziehen über das Institut für Kulturanalyse e. V., Wintersteinstraße 16, 10587 Berlin.

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‚Konfliktkultur‘ der Versuch, innerpsychische Erfahrungen mit äußeren Erfahrungen, also politischen, sozialen und historischen, in Beziehung zu setzen. Häufig werden diese Sphären in der Gesellschaft ja getrennt verhandelt. So erklären die einen die Motive für gewalttätige oder gewaltbereite Selbst-Abgrenzung durch ungerechte sozioökonomische und kulturpolitische Verhältnisse. Bei den anderen stehen eher psychisch-verhaltensmäßig internalisierte Defizite wie mangelnde Frustrations- oder Ambiguitätstoleranz als Erklärung im Vordergrund. Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe, die ungefähr der Meinung ist, es gebe ja wenig genug Erwachsene oder Jugendliche mit Gewaltpotential, so daß sich ein besonderes Augenmerk auf sie erübrige. Wir aber wollen vor solchen in unseren Augen signifikanten Tendenzen innerhalb der und gegen die Gesellschaft den Blick nicht verschließen, sondern ihn eher dafür zu schärfen versuchen. Danach wird Herr Privatdozent Dr. Lorenz Wilkens sprechen zum Thema Rêverie – Von dem Versuch, Ambivalenzspannung in Familie, Gesellschaft und Religion aushalten zu lernen. In seinem Vortrag liegt der Fokus in der Erweiterung individueller und gesellschaftlicher Übergangsräume. Hierbei handelt es sich um soziale Räume, in denen auch Tabuiertes und Anstößiges bearbeitet werden kann. Nach der Mittagspause wird Frau Professor Dr. Susanne Enderwitz in ihrem Vortrag Familie, Gemeinschaft und Staat – wie bereits als dessen Untertitel erwähnt – Strukturprinzipien in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften beleuchten, um damit nicht zuletzt aufzuzeigen, wie sehr die verschiedenen Weltgesellschaften einander beeinflussen. Abschließend möchten wir in einer Podiumsdiskussion mit den drei Referenten und Gästen aus zwei anderen Modellprojekten dieses Bundesprogramms zum Problemfeld Religionsfreiheit in säkularen Gesellschaften sprechen. Marc Schwietring vom Institut für Kulturanalyse (IfK) wird diese Diskussion moderieren. Wir wollen diese sehr kurz halten, um auch Ihnen als interessierten Tagungsteilnehmern die Möglichkeit zu geben, Ihre Anmerkungen und Fragen zu artikulieren.“

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Da wir glauben, daß die Ergebnisse der Tagung den anspruchsvollen Erwartungen dann doch einigermaßen entsprechen konnten und auch für eine noch weitere Öffentlichkeit von Interesse sein dürften, möchten wir dieser hier die Vorträge zusammen mit Auszügen (bzw. verdichteten Paraphrasen) aus den Diskussionen vorlegen. Veranstaltet wurde die Tagung vom Institut für Kulturanalyse e.V., vertreten durch Cengiz Gömüsay, Dr. Renate Haas, Marc Schwietring und PD Dr. Lorenz Wilkens.

Berlin, den 5. Mai 2014

Renate Haas

Grußwort R EINHARD N AUMANN , B EZIRKSBÜRGERMEISTER VON C HARLOTTENBURG -W ILMERSDORF (B ERLIN )

Herzlichen Dank, Frau Dr. Haas! Ein fröhliches Hallo hier in die morgendliche Runde! Aus Anlass dieser, wie ich finde, spannend zu werden versprechenden Tagung heiße ich Sie sehr herzlich willkommen im Rathaus Charlottenburg, das – wir haben gerade daran erinnert – seinen Zweck seit immerhin schon 1905 erfüllt. Seinerzeit war Charlottenburg noch eine selbständige Stadt in Preußen. Und das aufstrebende an Selbstbewußtsein gewinnende Bürgertum zeigte mit diesem Bau Monarchie und Adel, ‚wo der Hammer hängt‘, wenn man es mal so salopp formulieren darf. Es geht in den Juli letzten Jahres zurück, daß wir, auf Empfehlung von Herrn Çakmakoĝlu, miteinander Kontakt aufgenommen haben. Ich fand Ihr Konzept, wie Sie es mir erklärt haben, überzeugend, finde die Themen der für heute angekündigten Vorträge ungeheuer spannend und bedauere, daß ich aufgrund meiner Verpflichtungen – um 11 Uhr wird ein neuer Polizeiabschnitt in Anwesenheit des Polizeipräsidenten nach Renovierung übergeben und dann folgen weitere Termine – selbst nicht länger mit dabeisein kann. Aber aus Sicht des Oberhaupts eines Berliner Bezirks von vor Zensus rund 320.000 Einwohnerinnen und Einwohnern mit einem Migrationsanteil hier auch in der City West von rund einem Drittel, wenn auch

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sehr breit gefächert, ist für uns die Frage des Miteinanders, des friedlichen Miteinanders, des Respekts der unterschiedlichen Ethnien und Kulturen Alltagsgeschäft. Und insbesondere in meiner Zeit als Bezirksstadtrat für Jugend, Familie, Schule und Sport war es für mich gerade auch unter familienpolitischen Aspekten immer wichtig, das Thema Elternbildung nicht nur zum Gegenstand von Sonntagsreden zu machen, sondern Worten auch Taten folgen zu lassen. Von daher schließe ich mich dem Dank von Frau Dr. Haas an die Adresse derjenigen, die die Finanzmittel – ‚ohne Moos nichts los‘ auch an dieser (Bau-)Stelle – herausgereicht haben für das zu diskutierende Modellprojekt, also an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen der „Initiative Demokratie Stärken“, ausdrücklich an. Es ist für uns in den Kommunen – von Flensburg bis GarmischPartenkirchen, von Aachen bis Görlitz – wichtig, auch mit nationalen Finanzressourcen an den Schnittstellen zu einer gelingenden Integration unterstützt zu werden, und sei es nur mittelbar. Wir alle wissen aus privaten Beziehungen: Das mit den Konflikten ist nicht immer so eine einfache Sache. Und wir wissen aus dem gesellschaftlichen Diskurs: Da gilt das erst recht! Und wenn es dann um die Zusammenhänge und das Miteinander (eventuell Gegeneinander) unterschiedlicher religiöser Überzeugungen, unterschiedlicher kultureller Herkünfte geht, dann kann sich da schnell etwas verknoten und zum Schaden werden. Umso wichtiger ist es, genau hinzuschauen und, das will ich hier ausdrücklich noch mal unterstreichen, zu versuchen, Eltern, und damit meine ich Frauen und Männer – wohl wissend (aus unserem Gespräch im Juli), daß es trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen ist, die Männer mit ins Boot zu bekommen –, also: umso wichtiger, da nicht nachzulassen in dem Bemühen, auch unter Genderaspekten, für die Zukunft Frauen und Männer, Männer und Frauen (in ihrer Gesamtverantwortung ebenso wie jede und jeden für sich) als Eltern mit an Bord zu bekommen. So gesehen ist diese Tagung sicherlich ein wichtiger, gleichwohl aber ein Zwischenschritt. Und ich wünsche und empfehle den Geldgeber(inne)n, daß sie dieses anerkennen und für die Folgeschritte – so sie beabsichtigt sind, was ich

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mir gut vorstellen kann – jetzt mit der neuen Wahlperiode die Schatulle zu gegebener Zeit wieder öffnen. Insbesondere wenn gegenüber tradierten Vorstellungen, etwa auch religiös geprägten Vorstellungen dann der vermeintliche Widerspruch zu einer offenen liberalen säkularen Gesellschaft – beispielhaft erlebt in dem, was Rolle von Mann und Frau, Frau und Mann ist; beispielhaft gerade auch in einer Stadt wie Berlin erlebt im Bereich LGBT (Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender) – qua Akzeptanz von anderen Lebensformen Platz greift. Wie sieht es dann mit Konfliktkultur und zwar nicht einer mitunter oberflächlichen Toleranz, sondern einer gegenseitigen Akzeptanz aus? Reverie haben Sie, Herr Wilkens, Ihren Vortrag überschrieben. Ich wünsche Ihnen, daß Sie mit Blick auf die harten Fakten, die Sie heute hören, mit Ihrer Expertise und Ihrer Fachkompetenz auch Raum haben zu träumen, anders gesagt: Konflikt als eine auch positive Herausforderung zu begreifen und als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren – mit Blick auf Ihre Zielgruppen, denen Sie sich verpflichtet fühlen und die Ihnen anvertraut sind – der Versuchung zu widerstehen, die ja doch nur all zu menschlich ist, Konflikten in Form eines gepflegt-erfolgreichen Eierlaufes aus dem Weg zu gehen; vielmehr letztlich gute kluge Instrumente zu wählen, zu finden, zu entwickeln in diesem großen Setting, das Sie heute mit Ihrer Tagung aufrufen: Schritt für Schritt Bausteine, Mosaiksteine eines Gelingens, einer guten Konfliktkultur über die unterschiedlichen (vielleicht mitunter auch vermeintlichen) Grenzen (vielleicht auch Gemeinsamkeiten?) hinweg zu finden. In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Tagung einen guten Verlauf und dann den Forschungsergebnissen und daraus sich ergebenden Initiativen bei den erforderlichen Stellen die wünschenswerte notwendige Wertschätzung. Und damit nochmals: Herzlich willkommen heute hier im Rathaus Charlottenburg!

Von der Faszination der ,Urgemeinschaft‘ oder Erfahrungsbewegungen im Modellprojekt „Konfliktkultur“1 R ENATE H AAS

‚M ITEINANDER

GETEILTE

E RFAHRUNGEN ‘

Als wir im Juli 2011 begannen, das Elternbildungskonzept „Konfliktkultur – Ein Programm zur Bildung historischen Bewußtseins von Eltern“ zu erarbeiten, versuchten wir uns eine ethnologische Haltung zu eigen zu machen, die nicht danach trachtet, schnell Eigenes und Fremdes zu trennen, sondern zuvor „nach Indikatoren für das Eigene [zu] suchen, das im Angesicht des Fremden zutage tritt“.2 Nur so, dachten wir, könnte es uns gelingen, uns in eine Konfliktkultur einzu-

1

Überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags, inspiriert nicht zuletzt durch die auf ihn folgende Diskussion.

2

Thomas Hauschild: „Dem lebendigen Geist.“ Warum die Geschichte der Völkerkunde im „Dritten Reich“ auch für Nichtethnologen von Interesse sein kann. In: ders. (Hg.): Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag) 1995, S. 28f.

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üben, die den unterschiedlichen Separations- und Spaltungstendenzen in der Gesellschaft wie auch im Individuum standhalten könne, indem diese erst einmal wahrgenommen, dargestellt und bearbeitet werden.3 Wir begrüßen die Gelegenheit der heutigen Fachtagungs-Diskussion nicht zuletzt deshalb, weil auch andere Modellprojekte des bildungspolitischen Präventionsprogramms „Initiative Demokratie Stärken“ auf ihre Weise Einspruch zu erheben versuchen gegen die Wirkungsansprüche allzu „einfache[r] Weltsichten“4 nicht nur der meist im Vordergrund stehenden „islamistische[n] Propaganda“5 (und der rechtsradikalen Gegenpropaganda): in unserer Berliner Szene nicht zuletzt das Modellprojekt „ufuq – Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“ oder das Modellprojekt „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ (KIgA), welches Konzepte „Politische[r] Bildung für die Migrationsgesellschaft“ erarbeitet. Herr Dr. Jochen Müller von ufuq und Herr Aycan Demirel von der KIgA werden im Podiumsgespräch heute nachmittag ihre dabei gemachten Erfahrungen mit uns austauschen. Frau Professor Enderwitz wird zu diesem Gespräch eine Einbettung in den globalen Kontext beisteuern.

3

Angesiedelt ist das Modellprojekt im bundespolitischen Präventivprogramm „Initiative Demokratie Stärken“, das sich gegen islamistischen Extremismus richtet und durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird; vgl. http://www.demokratie-staerken. de/, abgerufen am 27. 03. 2014.

4

Claudia Dantschke, Ahmad Mansour, Jochen Müller, Yasemin Serbest: „Ich lebe nur für Allah“. Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Eine Handreichung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit (Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur), Berlin 2011.

5

KIgA e. V. (Hg.): ZusammenDenken. Reflexionen, Thesen und Konzepte zu politischer Bildung im Kontext von Demokratie, Islam, Rassismus und Islamismus – Ein Projekthandbuch (hg. von Aycan Demirel und Mirko Niehoff im Auftrag der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus KIgA e. V.), Berlin 2013.

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Beim Versuch zu verstehen, warum zumal Jugendliche und junge Erwachsene – sei es aus politischer, sei es aus religiöser Überzeugung – politisch Andersdenkende und/oder Andersgläubige oft nicht respektieren, sondern sie z. T. gewaltsam bekämpfen oder in Extremfällen sogar ermorden und dabei selbst den eigenen Tod in Kauf nehmen, glauben wir gut daran zu tun, sie erstmal, unserer eigenen Adoleszenz eingedenk, als diese mit ihrer Adoleszenz und Integration noch nicht Fertigen zu nehmen. Ihnen gegenüber wegen – uns vielleicht fremder, vielleicht auch befremdlich anmutender – Gewohnheiten und Ansichten, althergebrachten wie unausgegorenen, vorweg irgendwelche Trennlinien zu ziehen, suchen wir aber tunlichst zu vermeiden. Warum? Zum einen doch einfach schon deswegen, weil auch diese jungen Erwachsenen aus Familien stammen, in denen wie bei uns und überall Kindschaftsverhältnisse fraglos gelten; und weil auch sie Kinder von Eltern sind, denen es wie den unsrigen vermutlich schwer fallen dürfte, sich darüber Rechenschaft zu geben, • • •

• •

wie sie damals, als ihre Kinder klein waren, auf deren Bedürfnisse reagiert haben, wie sie beispielsweise deren teils Ängste und Unsicherheiten, teils Trotz und Wut ausgehalten haben, wie sie eigene Ängste oder Trauer wahrgenommen haben, die das Größer- und Selbständiger-Werden ihrer Kinder womöglich in ihnen ausgelöst hat, oder auch wie sie mit ihren Kindern über in Kindergarten und Schule wahrgenommene Konflikte gesprochen haben; ob sie dabei vorwiegend die Sicht ihrer Kinder oder eher die der Erzieher eingenommen haben und ob sie dabei in der Lage waren, zwischen ihrem Kind und den Erziehern zu vermitteln.

Mit solchen Unsicherheiten und Unklarheiten wird jede Elterngeneration aufs neue konfrontiert und viele davon scheinen gleichsam naturwüchsig von einer Generation auf die andere weitergegeben zu

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werden. Mehr noch: Mitunter fehlt es Eltern an genügend Empfindungsfähigkeit, insbesondere dann, wenn sie selbst als Kinder und Jugendliche mangelnder Fürsorge, Mißachtung oder gar körperlicher Gewalt ausgesetzt waren. Der Psychoanalytiker Hermann Beland hat im Anschluß an seinen Kollegen Wilfred R. Bion bemerkt, daß der darin zum Tragen kommende psychische Mechanismus, der in der Psychoanalyse Melanie Klein’scher Prägung „projektive Identifizierung“ genannt wird, „sogar als entscheidende[r] Kulturvermittlungsmechanismus bezeichn[et] [werden kann], weil in der Art und Weise, wie Mütter die Ängste ihrer Säuglinge aufzunehmen und verarbeitet zurückzugeben [pflegen], die grundlegenden Tendenzen einer Kultur zum Ausdruck kommen und vermittelt werden“.6 […] „Ursprünglich als Abwehrmechanismus, [d. h.] als eine Spezialform der Projektion mit weitreichenden pathologischen Folgen beschrieben, ist die projektive Identifizierung in einer bald einsetzenden Neutralisierung vom Abwehrmechanismus zu dem zentralen Konzept für affektive Kommunikation geworden und von Bion […] als container-contained-Modell und als Alphafunktion zur zentralen psychogenetischen Funktion erhoben worden“.7

Diese ersten grundlegenden Erfahrungen in der Familie haben vermutlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluß darauf, ob es Kindern möglich ist, Angst und Mißtrauen mit Vertrauen und Zuversicht in Balance zu halten, wenn sie sich in Kindergarten und Schule neuen Erfahrungen stellen müssen. So haben wir diesem Sachverhalt in unserem Modellprojekt einen hohen Stellenwert eingeräumt. Drei von insgesamt zehn Sitzungen des

6

Hermann Beland: Die Angst vor Denken und Tun. Psychoanalytische Aufsätze zu Theorie, Klinik und Gesellschaft, Gießen (Psychosozial-Verlag) 2008, S. 173.

7

Ebenda, H. Beland (2008), S. 172f.

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Kurses „Konfliktkultur – Elternschaft als ,dritte Chance‘.8 Eine intergenerationelle, interkulturelle und interreligiöse Elternbildung“9 widmeten sich dieser Thematik, nämlich: „Elternschaft als dritte Chance“, „Das Baby verstehen“, „Die Bedürfnisse des Kindes aufnehmen und dem Kind die Welt eröffnen“.10 Anhand einer fiktiven

8

Übrigens ist die Charakterisierung der Elternschaft als ‚dritte[r] Chance‘ indirekt dem indischen Professor für klinische Psychologie B.K. Ramanujam zu verdanken. Für die traditionelle indische, hinduistische wie auch muslimische Gesellschaft diagnostiziert er, daß dort Adoleszenz im westlichen Verständnis nicht stattfinde, es vielmehr zu einer „erweiterten Adoleszenz“ komme. Die unerledigten Probleme der Jugendzeit würden erst nachträglich in den Jahren des Erwachsenenlebens virulent und dann bearbeitbar werden. Vgl. Jürgen Krambeck: Eingefrorene Adoleszenz und Besessenheit in einem indischen Heilschrein. In: Roland Apsel (Hg.): Ethnopsychoanalyse 5. Jugend und Kulturwandel, Frankfurt a. M. (Brandes & Apsel Verlag) 1998, S. 170, 194.

9

Das gesamte Programm bestand aus den folgenden Sitzungen: 1. Von der Partnerschaft zur Elternschaft, 2. Elternschaft als ,dritte Chance‘, 3. Das Baby verstehen, 4. Die Bedürfnisse des Kindes aufnehmen und dem Kind die Welt eröffnen, 5. Öffnung der Gesellschaft zu ihrem historischen Erbe, 6. Das gemeinsame Erbe der monotheistischen Religionen, 7. Volk – Kirche – Umma: Der Grundbegriff der Gesellschaft im Judentum, Christentum und Islam, 8. Wissenschaft, Kunst und Aufklärung.

10 Die Gruppe der Kursteilnehmerinnen bestand zum einem aus (erst vier, dann) drei Frauen und Müttern deutscher Herkunft, die alle in Vereinen zur Unterstützung von Eltern engagiert waren, zum andern aus sieben Müttern migrantischer, zumeist türkischer Herkunft, die meisten mit Kindern im Alter bis zu drei Jahren: Drei von ihnen arbeiteten ebenso in Eltern- oder Frauenvereinen, drei waren gerade in Elternzeit (die eine als Elternvertreterin in der Kindertagesstätte ihrer Kinder, die anderen beiden visierten eine pädagogische Ausbildung an), während die siebte nicht-deutschstämmige Teilnehmerin palästinensischer Herkunft war: zu Kursbeginn in Elternzeit,

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Geschichte der Partnerschaft und späteren Elternschaft zwischen einer Mine und einem Cemil erörterten wir mit zehn Kursteilnehmerinnen diese Thematik. Obgleich Mines Schwangerschaft nicht geplant war, sprachen fast alle dem jungen Paar für ihre Elternaufgabe gute Chancen zu.11 Dazu gehörte u. a. die Fähigkeit, nicht nur die Vorfreude darauf miteinander zu teilen, sondern auch über Ängste und Zweifel zu sprechen und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sie der neuen Situation zu dritt am besten gewachsen sein könnten. Ungleich schwieriger wurde es für die beiden in den Augen unserer Kursteilnehmerinnen allerdings nach der Geburt ihres Sohnes Aycan Benjamin. Die Zuversicht in das Elternpaar schwand deutlich, auch sprachen einige nun statt von unserem fiktiven Paar (in)direkt von der Geburt ihrer eigenen Kinder. Einige der jungen Mütter fühlten sich von ihren Ehemännern allein gelassen, trauten ihnen allerdings auch nicht viel zu, — was uns zunächst irritierte, da sie zugleich anerkannten, daß ihre Partner sie bei der Versorgung der Kinder und bei der Hausarbeit unterstützen würden. Im Verlauf der drei Sitzungen kristallisierte sich heraus, daß einige von ihnen die Symbiose mit ihrem Kind nicht nur voll beanspruchte, sondern auch voll befriedigte, als sei es die ideale Beziehungsform überhaupt. Um zu verdeutlichen, daß die Mutter-Kind-Beziehung sich keineswegs naturwüchsig herausbildet, daß es sich vielmehr um eine komplizierte und delikate Kommunikation handelt, in der auch der Vater zunehmend eine Rolle spielt, machten wir unsere Kursteilnehmerinnen mit dem Bion’schen Konzept der Rêverie vertraut. Durch eine solche

begann sie im Verlauf der Elternbildung mit einer Ausbildung zur Altenpflegerin. 11 Lediglich eine Teilnehmerin war der Ansicht, daß Mine und Cemil sich lieber schon jetzt trennen sollten, unter diesen Umständen hätte ihre Beziehung „null Chancen“. Sie war die einzige Teilnehmerin, die ihr Interesse an unserer Elternbildung bald verlor und nach einigen Sitzungen fernblieb (siehe unten, S. 34ff., Kap. ‚Spaltungen‘).

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‚träumerische Gelöstheit‘ entsteht zwischen Mutter und Kind eine verläßliche Verbindung. Durch sie kann Mine nicht nur Aycan Benjamins frühkindliche Ängste und sein inneres „Gefühlschaos“ aufnehmen, dieses „umwandeln“ („entgiften“) und es ihm als etwas Aushalt- und Integrierbares zurückgeben, sondern sie kann damit auch ihre eigene Unsicherheit als Mutter „stillen“. Herr Dr. Wilkens wird Ihnen dieses für unsere Arbeit vielleicht aufschlußreichste Konzept gleich noch eigens vorstellen. Ein weiteres Motiv, warum wir jede vorgängige Trennlinie zwischen uns und den (womöglich auch extremistisch) anderen – wie gesagt jungen Eltern – zu vermeiden suchten, ist ebenso evident: Sie und wir gehören derselben Gesellschaft an. Wie wir und unsere Kinder besuchten auch sie hier Kindergärten und Schulen, absolvierten eine Lehre oder ein Studium, und hatten dann – wie andere ihrer Generation – vielleicht ihre liebe Mühe, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Die Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche in Institutionen machen, sind abhängig vom Selbstverständnis und der Praxis dieser Institutionen. Denn viel hängt davon ab, ob diese dem Wandel zur Zuwanderungsgesellschaft mit ihrer „Multikulturalität“ und „Postkolonialität“12 Rechnung tragen; und ob die Jugendlichen beizeiten zureichend in Kenntnis gesetzt werden über die wechselseitigen kulturellen Austausch- und Aneignungsprozesse sowie über die Folgen politischer, sozioökonomischer und kultureller Umbrüche, aber auch von Gewalt, Flucht und Vernichtung, oder ob man sie in Ermanglung eines hermeneutischen Rüstzeugs ratlos solchen Zumutungen aussetzt.

12 Leo Kreutzer: West-östlicher Divan – präkolonialer ‚Orientalismus‘ in postkolonialem Licht, in: Goethes Moderne. Essays. Hannover (Wehrhahn Verlag) 2011, S. 73.

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‚S PALTUNG ‘ – EINE F OLGE VON G ESCHICHTSVERLEUGNUNG ? Um einen Einblick in dieses Konfliktfeld zu bekommen, hatten wir bereits im letzten Quartal 2011 eine Reihe junger Frauen und Mütter (einige von ihnen nahmen dann später an unserer Elternbildung teil) nach ihren Erfahrungen in hiesigen Institutionen befragt. Einerseits, so schilderten sie uns, hätten sie den Kindergarten gerne besucht, ebenso auch die Schule. Und manche Lehrer hätten sogar ein besonderes Interesse an ihren Herkunftskulturen gezeigt. Andererseits hätten sie aber auch immer wieder Ablehnung oder gar Feindseligkeiten erfahren, die sie auf ihre nationale, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit zurückführten. Bemerkenswert war, wie wenig diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen über ihre eigenen Herkunftsgesellschaften, geschweige denn über transnationale Austauschbeziehungen Bescheid wußten, — selbst dann, wenn sie hier einen überdurchschnittlichen Schulabschluß geschafft hatten. Es scheint, daß Schulen noch bis in die jüngste Zeit an der Vorstellung einer kulturellen Homogenität festgehalten und den Wandel der Gesellschaft durch Migration und Zuwanderung ausgeblendet haben. Zu ähnlichen Befunden waren wir im ‚Institut für Kulturanalyse‘ schon in den Jahren 1998 bis 2000 gekommen, als wir am ‚Institut für europäische Ethnologie‘ der Humboldt-Universität ein Studienprojekt zum Thema „Erfahrungen von Migration und Integration an Berliner Schulen“ durchführten. Damals interviewten wir 90 Schüler und Schülerinnen aus Hauptschulen, Gesamtschulen und Gymnasien. Auch wenn die Anzahl der von uns durchgeführten Interviews zu gering war, um verallgemeinernde Schlußfolgerungen zuzulassen, verwiesen sie doch auf einen basalen Konflikt: Im Umgang mit gesellschaftlich, kulturell und religiös anderen scheint ein Riß durch unsere Gesellschaft zu gehen, scheinen zwei Haltungen sich mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberzustehen: Idealisierung des Fremden hier und Fremdenfeindlichkeit da. Eine Studie der Universität Münster, die Umfragen über die Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Akzeptanz

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religiöser Vielfalt ausgewertet hat, kam zu dem Ergebnis, daß 57,7 % der Westdeutschen und 62,3 % der Ostdeutschen dem Islam gegenüber eine negative Haltung einnehmen.13 Die Gegentendenz zu dieser ablehnenden Haltung ist bisher kaum untersucht worden; zuweilen trifft sie der Vorwurf der „Islamverherrlichung“.14 Naika Foroutan, die in ihrer Expertise „Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte“ eine Reihe solcher Studien zusammenführt, interpretiert dieses Phänomen als „Paradoxon […], wenn auf der einen Seite ein deutliches Bekenntnis zu Vielfalt und Heterogenität artikuliert wird, während auf der anderen Seite Deutschland in den Messungen zu islamfeindlichen Einstellungen seit Jahren vorderste Plätze im europäischen Vergleich belegt“.15 Wir hingegen verstehen diese beiden Haltungen, die sich mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehen, als einen Abwehrmechanismus, als Spaltung infolge von Geschichtsverleugnung. Anstatt nach 1945 der dringenden Frage nachzugehen, warum – wie der Religionsphilosoph Klaus Heinrich formuliert – im NS die „genealogisierende Beschwörung der Mächte des Ursprungs im Mythos von den Autochthonen oder den Angehörigen einer edlen Rasse“ auf die große Mehrheit der Deutschen so faszinierend wirkte und warum „die Aktivierung einer ursprungsmythischen Geisteslage unter Berufung auf die heiligen Mächte von Blut und Boden“ zu einem solch „mächtigen

13 Detlef Pollack: Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt, http:// www.unimuenster.de/imperia/md/content/religion_und_politik/aktuelles/20 10/12_2010/studie_wahrnehmung_und_akzeptanz_religioeser_vielfalt.pdf; S.5 [12. 12. 2013]. 14 Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2010. 15 Naika Foroutan: Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2012, S. 9.

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politischen Werkzeug“ werden konnte,16 das zur Aufstachelung und Rechtfertigung von millionenfachem Mord an Juden und anderen ethnischen und sozialen Minderheiten diente, wurde diese Frage von einer großen Mehrheit der Deutschen in den Wind geschlagen. Auch wenn der Althistoriker Christian Meier in seiner kulturhistorischen Behandlung des Themas betont, daß doch alle Gesellschaften, die Gewalt, Flucht oder Vernichtung erfahren haben, versuchen müßten, zu vergessen und gleichsam das ‚Kriegsbeil zu begraben‘, weil sonst ein Weiterleben unmöglich wäre,17 gilt anderseits – wie der Psychoanalytiker Hermann Beland eindrücklich anhand seiner Analysen aus der deutschen Nachkriegsgeschichte zeigt – genauso: „Schlimme Vergangenheit“ kann nicht einfach vergessen werden,18 allenfalls verdrängt oder „emotional verleugnet“19: „Bei emotionaler Verleugnung werden zwar die Tatsachen gesehen und insoweit anerkannt, aber ihre Bedeutung wird durch Verleugnung auf Null reduziert, und die emotionale Reaktion, die ohne Verleugnung zu sofortigem Handeln drängen würde, wird unmöglich gemacht. Das geschieht durch eine unbewußte, übermächtige, gewalttätige Phantasie, mit der die Person sich selbst gegenüber unbewußt durchsetzt, was die Phantasie behauptet: daß jene entscheidende Tatsache bedeutungslos ist. Dieser Mechanismus wird bei sehr (oder zu) intensiven Gefühlsverhältnissen eingesetzt, bei zu großer Angst oder

16 Klaus Heinrich: Die Funktion der Genealogie im Mythos. In: Parmenides und Jona. Basel, Frankfurt a. M. (Stroemfeld/ Roter Stern) 1992, S. 25. 17 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München (SiedlerVerlag) 2010. 18 „Möglich ist“ – so Hermann Beland –, „daß Verbrechen so beispiellosen Ausmaßes lange Zeit für die sie verantwortende Gruppe unerträglich sind und eine zeitliche Latenz von zwei oder drei Generationen brauchen, bevor die Enkel der Tätergenerationen als erste gefühlsmäßig reagieren.“ Hermann Beland (2008), S. 362. 19 Hermann Beland (2008), S. 278.

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zu großem Schmerz. Ist etwas bedeutungslos, dann kann man nicht mehr entsetzt, bestürzt, verzweifelt, schmerzgepeinigt oder in Panik sein, man kann nichts mehr fühlen – und nicht mehr realistisch reagieren und handeln20. Wir wissen, daß nur Einzelne bedauern können. Diese Nation wartet noch auf eine Zukunft, in der Millionen Einzelne dies tun werden. Bis dahin ist ausgeschlossen, daß die Deutschen ein Nationalgefühl entwickeln, wie sie es noch während der Weimarer Republik haben konnten, als es dem der anderen europäischen Völker vergleichbar war. Seit Kriegsende wurde die historisch zutreffende Emotion abgewehrt, und das Nationalgefühl muß sich auf einen kollektiven Begriff des Weiterlebens beschränken, dessen Realismus sich in der Diagnose niederschlägt, vor allem eine Wirtschaftsnation zu sein. Werner Bohleber hat jenen deutschen Defektnationalismus klinisch und theoretisch beschrieben, der sich über der gegenwärtig noch herrschenden bzw. neu wieder herrschenden emotionalen Verleugnung der deutschen Vergangenheit bilden konnte und im Rückgriff auf einen organismischen Einheitsbegriff von Nation (homogener Volkskörper, ‚Volksgemeinschaft‘) diese Verleugnung neu unterstützen kann. Dieser Defektnationalismus besteht in einem illusionären Verschmelzungsgefühl mit einem idealisierten Großkörper ‚Deutschland‘, eigentlich einem abgespaltenen Aspekt einer frühen Mutterimago, deren narzißtische Idealität die eigene Verletztheit und Kastration zum Verschwinden bringt, weil man in dem Größengefühl einer Identifizierung verschwinden kann.“21

20 Nicht ausgehalten wurde, „zu einem Volk zu gehören, dessen Führung und dessen Menschen Unmenschlichkeiten von einer Dimension begangen haben, die dieses Volk nach eigenem Urteil und in dem Urteil der Völker der Erde fühlen läßt, es habe während der Ermordung von Millionen, deren einziges Verbrechen darin bestand, Juden zu sein, seine Menschlichkeit verloren. Es schließt das Wissen ein, daß das Gefühl des Verlusts der Getöteten, die ein unersetzlicher Reichtum Deutschlands und Europas waren, und des eigenen Wertes bisher nicht kollektiv realisiert wurde“. Hermann Beland (2008), S. 277. 21 Hermann Beland (2008), S. 278.

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Wir vermuten, daß dieser „Defektnationalismus“ sowohl idealisierende als auch xenophobische Züge annehmen kann und die Auseinandersetzung mit Migration und Einwanderung auf unterschiedliche Art und Weise ganz empfindlich beeinträchtigt. Es war der Ethnologe Fritz Kramer22, der früh auf das Symptom des Exotismus aufmerksam gemacht hat, in dem beide Haltungen ihren Ausdruck finden. Er berichtet, auf dem Berliner Internationalen Vietnamkongreß des SDS 1968 hätten deutsche Studenten begeistert Beifall geklatscht, als ein Vietcong erklärte, wenn er könnte, würde er seinem politischen Feind mit seinen Fingern solange die Augen eindrücken, bis das Blut herausschöße. Klar geworden sei ihm damals, daß es sich bei dieser Begeisterung um Exotismus handle. Da ihm aber das Problem damals zu nahe

22 Wie sich die „emotionale Verleugnung des deutschen Nationalgefühls“ in der ethnologischen Zunft ausgewirkt hat, ist beispielsweise folgendem Zeugnis Fritz Kramers zu entnehmen: „Also es war eine gewisse Hilflosigkeit. Ich habe in Heidelberg studiert bei Wilhelm Emil Mühlmann, der als Schüler von Edmund Husserl und Richard Thurnwald damals wohl der einzige Ethnologe war, der überhaupt eine sozialwissenschaftliche Orientierung und eine philosophisch reflektierte Basis hatte. Er war isoliert in der deutschen Ethnologie, das machte ihn für junge Leute eigentlich noch attraktiver. Aber dann haben wir Studenten eben lesen müssen, daß er 1944 die ‚Endlösung der Judenfrage‘ begrüßt hatte. Ich kann mich heute noch an den Schock erinnern, den diese böse Entdeckung bewirkt hat. Das Urvertrauen, das man in einen Lehrer haben muß, ist schlagartig verschwunden, wir waren plötzlich hilflos und orientierungslos. In dieser Situation war es beinahe eine willkürliche (sic!) Entscheidung, sich in die britische Anthropologie einzuarbeiten, sozusagen auf Teufel komm raus, um dann zu sehen, was man daraus machen kann.“ Fritz W. Kramer, Tobias Rees (Gespräch): Geschichte der Ethnographie: Auswege aus dem Verhältnis von Humanismus und Anthropologie. In: Fritz W. Kramer: Schriften zur Ethnologie (hg. und mit einem Nachwort von Tobias Rees). Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag) 2005, S. 121.

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gewesen sei, habe er sich entschlossen, dieses Phänomen historisch zu behandeln.23 Versuchen wir nun fast fünfzig Jahre später von neuem, diese Szene zu verstehen, und berücksichtigen wir dabei Forschungen zu den Folgen des NS, insbesondere zu dessen Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen, so steht zu vermuten, daß das Motiv dieser Studenten, sich mit den blutrünstigen Phantasien oder gar Taten dieses Vietcong zu identifizieren, nicht zuletzt der von der eigenen Gesellschaft begangene oder zumindest zugelassene „Zivilisationsbruch“ war. Dieses „man-made disaster“ hat Werner Bohleber zufolge die deutsche Gesellschaft derartig erschüttert, daß noch die nachfolgenden Generationen sich mit ihm auseinandersetzen müßten. Denn nicht nur bei Kindern von Überlebenden der Shoah würden erlittene Traumen transgenerationell nachhaltig fortwirken, sondern ebenso bei deutschen Kriegskindern: durch selbst erfahrene Bombenangriffe und Flucht, aber auch durch die von der Generation der Eltern und Großeltern im Kriege erlittenen und im NS mitverursachten bzw. -geduldeten Beschädigungen anderer, indem die Alten den Jungen ihr unverarbeitetes Leid, ihre Traumatisierungen, ihre abgewiesene Schuld und wohl auch nichtaufgegebene internalisierte Bestandteile der NS-Ideologie aufgebürdet hätten.24 Wie kamen die Nachgeborenen mit diesen Erfahrungen zurecht? Ihre Berufs-, sogar ihre Partnerwahl stand manchmal im Zeichen der

23 Persönliches Gespräch mit Fritz Kramer am 21. Juni 2007. In Verkehrte Welten (1977) untersuchte Kramer dann den Exotismus historisch. 24 So mein Notat aus Werner Bohlebers Vortrag „Erinnerung und Historisierung: Transformation des individuellen und kollektiven Traumas und seine transgenerative Weitergabe“, gehalten auf der Internationalen Tagung „Trauma der Vergangenheit in Russland und Deutschland: Psychische Folgen und Möglichkeiten der Therapie“, die vom 27. - 29. Mai 2010 in Moskau stattfand.

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Selbstheilung und „Wiedergutmachung“25. Ihr politisches und soziales Engagement galt nicht selten den Unterdrückten und Entrechteten der Welt. Ho Chi Minh wurde zur verehrten Symbolfigur des vietnamesischen Unabhängigkeitskampfes gegen die USA. Motiv hierfür waren vermutlich nicht allein Massaker wie die in My Lai, wo am 16. März 1968 fast alle Bewohner des Dorfes von amerikanischen Militärs getötet worden waren. Motiv waren vermutlich ebenso Erfahrungen von Gewalt und Mißachtung im eigenen Land, in den eigenen Institutionen und Familien. Bedenkt man, was hierzulande auch noch sechzig Jahre nach Kriegsende im geschützten Raum der Supervision oder der Psychoanalyse alles zur Sprache kommt, so zeigt sich, wie wenig die subkutane Vergiftung durch den NS erst überwunden war.26 Es scheint fast, als hätten die damaligen Studenten mithilfe der nach Südvietnam ausgelagerten Gewaltszene sich der gegen die

25 Michael Buchholz: Die unbewußte Weitergabe zwischen den Generationen. Psychoanalytische Beobachtungen. In: Jörn Rüsen, Jürgen Straub (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit, Frankfurt a. M. (SuhrkampVerlag) 1998, S. 330-353. Dem israelischen Psychoanalytiker Dan Bar-On zufolge führte die „emotionale Verleugnung“ der Shoah zu einer Stagnation der Generativität: „Aber für viele Befragte scheint es schwierig zu sein, diese Vergangenheit durchzuarbeiten und einen Neuanfang zu machen. Sie kämpfen und scheitern dabei, dauerhafte Beziehungen und eigene Familien aufzubauen. Thomas, Manfred, Fritz und Maya sowie Gerda sprechen offen darüber. Vielleicht ist dies ein charakteristischer Unterschied zwischen den Kindern der Opfer und den Kindern der Täter: Erstere hatten den Auftrag des biologischen Überlebens; letztere scheinen zu befürchten, sie würden einen ,schlechten Samen‘ weiterreichen.“ Dan Bar-On: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern. Hamburg (KörberStiftung) 2004, S. 303 26 Daß solche Gewalt und Mißachtung nicht nur in Familien, sondern auch in Kinderheimen und Internaten vielfach an der Tagesordnung gewesen war, wurde erst 2010 an dem von Antje Vollmer moderierten „Runden Tisch zur Heimerziehung“ zur Sprache gebracht.

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eigenen Väter und Mütter, aber auch Lehrer (oder in einem folgenreichen Fall SPD-Parteigenossen27) – und vielleicht sogar gegen sich selbst – gerichteten Haßgefühle entledigen wollen.28 In der Identifika-

27 Als 1959 einige Studenten der Hochschulorganisation der SPD den Mut gefaßt hatten, sich mit den „Taten“ ihrer Eltern- und Lehrergeneration auseinanderzusetzen, schlug ihnen ein massives Unverständnis entgegen. Mit der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ wollten sie darauf aufmerksam machen, daß in der neuen Bundesrepublik noch zahlreiche Richter in Amt und Würden waren, obgleich diese im NS Todesurteile für geringfügige Verfehlungen unterzeichnet hatten. Doch fanden sie selbst in ihrer eigenen Partei kein Gehör, sondern wurden kurzerhand aus der SPD ausgeschlossen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Ungesühnte/Nazijustiz [21. 02. 2014]. Vermutlich fehlte den älteren Genossen damals das Vermögen, den Fragen und

Anklagen der jungen Erwachsenen standzuhalten oder vielmehr den ‚Wust‘ von Gefühlen auszuhalten, die diese erneute Konfrontation mit den Verbrechen des NS evoziert hatte. Handelte es sich doch vermutlich neben verleugneten Schuldgefühlen gegenüber den Opfern auch um uneingestandene Schamgefühle, die der durch die Schreckenserfahrungen von Krieg und Vertreibung vergangene bzw. von den Siegern ausgetriebene „Stolz auf die Zugehörigkeit zur arischen Volksgemeinschaft“ nachträglich ausgelöst hatte und die nun – durch diese Ausstellung – wiederzukehren drohten. Siehe hierzu ebenfalls: Birgit R. Erdle: Das Trauma im gegenwärtigen Diskurs der Erinnerung. In: Gerhard Neumann und Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München (FinkVerlag) 2000, S. 259–274. 28 Siehe dazu Reimut Reiches Analyse: „Mit Begriffen, wie ‚postfaschistisch‘ oder ,die Herrschenden‘ [...] oder ,der autoritäre Staat‘, haben wir die ‚faschistische Gefahr‘ gleichsam aus dem Unbewußten des Individuums und des Kollektivs herausgelöst, entkörpert und auf eine vermeintliche gesellschaftliche Tendenz des Kapitalismus/Imperialismus, auf ,die Herrschenden‘ und ‚ihre Institutionen‘ projiziert. Die uns so sehr und immer beschäftigende Frage nach dem ‚revolutionären Subjekt‘ und nach den antikapitalistischen und revolutionären Potenzen im empirischen Proletariat war un-

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tion mit dem unterdrückten vietnamesischen Volk und dessen unterstellter Rachemacht konnten sich diese Studenten auch als Verfolgte fühlen und im Medium des Fremden zugleich den Wonnen „illusionäre[r] Verschmelzung“ mit der eigenen Nation hingeben. Zuweilen entsteht der Eindruck, daß diese exotisierende Haltung noch immer nicht ‚abgegolten‘ ist. Sie scheint manchmal sogar das politische Tagesgeschäft mitzubestimmen. Wenn ethnische oder religiöse Gruppen im Ausland ihr Recht auf Selbstbestimmung einklagen, bekommen sie nicht selten gar schnell politische und moralische Unterstützung, oft aber keinerlei Aussicht auf die Mittel, die es ihnen ermöglichen könnten, auf ihre Weise die „Dialektik des Entspringens“ zu bestehen (siehe dazu unten S. 34ff., die Kapitel ‚Adoleszenz und Schuldgefühlstoleranz‘ sowie ‚Institutionen und ihre Konfliktfähigkeit‘).

S PALTUNGEN T ATBESTAND

ALS KULTURHISTORISCHER

Verschärft wird dieses Problem, weil wir davon ausgehen müssen, daß Migranten ihrerseits eine Erblast mitbringen, insofern auch in ihren Ländern Teile des – ganz neutral gesagt – kulturellen Erbes nicht in das gesellschaftliche Bewußtsein integriert worden sind.

bewußt wohl sehr stark von dem magischen Wunsch bestimmt, die Volksmassen, und damit die meisten unserer Eltern, seien im Innersten und in Wahrheit ‚gut‘ und das nationalsozialistische ‚Böse‘ (z. B. die in der nationalsozialistischen Grausamkeit gebundene Triebhaftigkeit) sei ihnen äußerlich. Dieser Wunsch wirkte als Verleugnung und nahm den Charakter eines Denkverbots an.“ Reimut Reiche: Sexuelle Revolution. Erinnerung an einen Mythos. In: Lothar Baier u. a. (Hg.): Die Früchte der Revolution. Über die Veränderungen der politischen Kultur durch die Studentenbewegung. Berlin (Wagenbach Verlag) 1988, S. 50f.

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Bei den türkischen Immigranten spielt eine solche Rolle etwa die Kulturrevolution Kemal Paschas, in deren Folge über einen langen Zeitraum Laizisten („Kemalisten“) und Islamisten sich gegenseitig bekämpften und noch immer bekämpfen. Auch wenn, wie Günter Seufert im Länderbericht Türkei zeigt,29 in letzter Zeit ein gut Teil der türkischen Bevölkerung sich diesem polarisierten Konfliktfeld Laizismus contra Islamismus nicht länger zuordnen läßt, halten wir es für wichtig, uns mit dieser Spaltung auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt deshalb, weil durch langjährige Migration diese Spaltung auch in die deutsche Gesellschaft Eingang gefunden hat. Im Verlauf unserer Arbeit sind wir immer wieder auf dieses Phänomen gestoßen: In Deutschland aufgewachsene Jugendliche oder junge Erwachsene türkischer oder arabischer Herkunft schließen sich mehr oder weniger aktiv öfters politischen oder religiösen Gruppierungen aus ihren Herkunftsländern an, die dort einst als Protest- oder Widerstandsbewegungen aufgetreten sind. Nicht selten kommt es dabei zu einem nationen- und generationenübergreifenden Schulterschluß von Muslimen gegen Laizisten und umgekehrt. Zuweilen scheinen Unverständnis und mangelnde Toleranz zwischen Gläubigen (Muslimen, Katholiken, Protestanten, Juden) und Nichtgläubigen (Atheisten, Agnostikern, Säkularen, Laizisten) ausgeprägter zu sein als zwischen den Angehörigen der drei monotheistischen Religionen.30 Daß Teilnehmerinnen unserer Elternkurse Motive solcher Abgrenzungen von sich aus thematisierten, überraschte uns zunächst. Als etwa eine Teilnehmerin, deren Eltern aus Palästina stammen, über die

29 Günter Seufert: Im Spannungsfeld von Laizismus und Islamismus. In: Udo Steinbach (Hg.): Länderbericht Türkei. (hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung) Bonn 2012, S. 207-228. 30 Siehe dazu Renate Haas: Integration – Zur Ausblendung von Angst und Regression in Kulturtheorie, Migrationsforschung und Einwanderungskonzepten. In: Ruth Esser, Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Bausteine für Babylon. Sprache, Kultur, Unterricht. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans Barkowski. München (C.H. Beck) 2007, S. 160-196.

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Kriegs- und Fluchterfahrungen ihrer Mutter mit einer Betroffenheit berichtete, als ob sie diese Erfahrungen erst vor kurzem selbst gemacht hätte, oder eine Interviewpartnerin ein historisches Ereignis wie die Umwälzung Atatürks als „kollektives Trauma“ deutete und darüber sprach, als ob sie dieses Trauma am eigenen Leibe erlebt hätte, schien der zeitliche Abstand zwischen den Erfahrungen der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern und denen der Kinder und Kindeskinder aufgehoben zu sein. In solchen Situationen versuchten wir zwar Raum zu lassen, damit die Einzelnen ihre Familien-Erinnerungen und Herkunfts-Geschichten erzählen konnten. Anhand von Erinnerungsstücken wie Photos, Landschaftsbildern, Backrezepten u. ä., die die Kursteilnehmerinnen mitgebracht hatten, sprachen sie über die Verbundenheit mit ihren Müttern und Vätern, Großmüttern und Großvätern sowie weiteren Verwandten und Bekannten und darüber hinaus mit ihren Herkunftsländern und ihrem eigenem Geburtsland Deutschland. In der Beschreibung der Qualitäten taten sie sich allerdings schwer. Es schien, als ob sie in Ermangelung innerer und äußerer Bilder, mit deren Hilfe sie ihre Ambivalenzen authentisch hätten beschreiben können, nicht selten auf Stereotypen und Clichés zurückgreifen mußten. Doch erschien es uns zugleich unverzichtbar, mit den angesprochenen konkreten Traumata auch direkt den Begriff des Traumas zu thematisieren. Sigmund Freud ging ja davon aus, daß Traumata nicht allein durch „äußere Ereignisse“ wie „sexuelle und aggressive Übergriffe“, sondern auch durch „‚Erregungen von innen‘, [etwa] […] ‚frühzeitige Schädigungen des Ichs (narzißtische Kränkungen)‘“ zustande kommen.31 Und Ilse Grubrich-Simitis hat herausgearbeitet, daß Freud „im Kontext seiner späten Reflexionen über Trauma und Trieb […] eine für die [Psychoanalyse] wegweisende Untersuchung des Abwehrmechanismus der Spaltung vorangetrieben“ hat: „daß das Ich

31 Ilse Grubrich-Simitis: Trauma oder Trieb – Trieb und Trauma: Wiederbetrachtet, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung (hg. von Werner Bohleber), Jg. 61, H. 7, 2007, S. 647f.

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‚spaltbar‘[...] sei“ und daß „infolge solcher Spaltung in der Psyche ein unzugänglicher Bereich, ‚gleichsam ein Staat im Staat‘ entstehe, [womit] […] ‚der Weg zur Psychose eröffnet‘ werde“.32 Wir versuchten daher, plausibel zu machen, daß nicht schon das konkrete Ereignis das Trauma ausmacht, sondern daß das Symptom Trauma erst nachträglich entsteht. Und das heißt praktisch: Gerade weil es keine unverrückbaren Fakten, sondern Erzählungen und Rekonstruktionen sind, erlauben, ja verlangen die Narrative und Ideologeme, in denen traumatisierende Gewalterfahrungen fortgeschrieben werden, danach, interpretiert zu werden. Und erst die Interpretation erlaubt es, zu ihnen Distanz zu gewinnen. Wohlgemerkt: Wir arbeiten in unserem Modellprojekt nicht therapeutisch, vielmehr versuchen wir als Ethnologen, Religionswissenschaftler, Politikwissenschaftler und Theologen, an eine Wissenschaftstradition oder -innovation anzuschließen, die sich seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt der Aufgabe widmet, den Gebrauch des Begriffs ‚Trauma‘ nicht länger allein dem klinischen Bereich, etwa der Psychologie und/oder der Psychotraumatologie zu überlassen33, sondern Traumata als kulturell-historischen

32 Ilse Grubrich-Simitis (2007), S. 648. 33 Was nicht heißt, daß nicht auch innerhalb dieser Disziplinen eine Auseinandersetzung über die Reichweite von Diagnosen wie z. B. der ‚Posttraumatischen Belastungsstörung‘ (Posttraumatic Stress Disorder [PTSD]) stattfände. Michael Hanna, der zwanzig psychotraumatologische Konzepte aus verschiedenen Gesellschaften untersuchte, kam zu dem Ergebnis, die im angloamerikanischem Sprachraum übliche Praxis, die Folgen von Gewalterfahrung auf ein Syndrom zu reduzieren, würde auch von einigen deutschen Therapeuten weitgehend unproblematisch übernommen. Spanisch- oder französischsprachige Therapeuten hingegen betrachteten mehrheitlich die Symptome im Kontext der Gesellschaft. Er kritisiert die PTSDDiagnose als „cognitive regression“, als eine fehllaufende Begriffsbildung. Wie im Stadium der „konkreten Operationen“, nach Piaget für 5 bis 12Jährige üblich, würde die Qualität des Erlebnisses in das Ereignis verlagert, das sie hervorruft. Demzufolge würde das äußere Ereignis selbst für das

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Befund zu begreifen.34 Dazu gehörte es dann auch, wie Sigrid Weigel empfahl und wir es zu beherzigen suchten, den Traumabegriff ebenso auf Täter oder auch deren Nachkommen anzuwenden, was Freud (1920) bereits in Jenseits des Lustprinzips am Beispiel von Tassos Held Tankred vorgemacht hat, aber „in der Rezeption seines TraumaKonzepts bisher kaum beachtet wurde“.35 In Auseinandersetzung mit diesen Forschungen neigen wir mittlerweile bei der bildungspolitischen Arbeit mit jungen Eltern und Jugendlichen dazu, den Begriff des Traumas zu ersetzen durch den in der Ethnologie entwickelten Begriff der „historischen Abspaltung“.36 Darin ist vorteilhaft angedeutet, daß es sich um Spaltungsprozesse aus

Trauma gehalten. Würde ein Konzept entwickelt, das „dialektischen Operationen“ entspricht, dann würde die Beziehung zwischen dem Subjekt und der Umwelt für die Diagnose Trauma konstitutiv sein; und um ein Trauma in seiner Komplexität zu erfassen, müßte unbedingt die Umwelt miteinbezogen werden. Denn erst schwer belastende Lebensumstände und das Erleben einer Diskrepanz zwischen einer bedrohlichen Situation und der Möglichkeit, sie individuell zu bewältigen, würden eine traumatische Erfahrung definieren. Michael Hanna: Misconceptualisations of Trauma or Reification in the Psychotraumatology Research on Survivors of Violence, Berlin (Logos Verlag) 2001. 34 Sigrid Weigel: Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur, in: Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln/Weimar (Böhlau Verlag) 1999, S. 51–76; Vgl. auch Jörn Rüsen und Jürgen Straub (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1998. 35 Sigrid Weigel (1999), S. 58. 36 Tobias Wendl: Slavery, Spirit Possession & Ritual Consciousness. The chamba cult among the Mina in Togo. In: Heike Behrend & Ute Luig (eds.): Spirit Possession. Modernity & Power in Africa. Madison (The University of Wisconsin Press) 1999, S. 111–123.

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bestimmten Zeiten und Orten handelt. Der Mechanismus der Spaltung, den wir hier heranziehen wollen, setzt ja ein infolge von Ereignissen, die für die Menschen so nicht zu ertragen sind; dann wird der als unaushaltbar empfundene Teil der inneren oder äußeren Realität verleugnet, verdrängt oder gar abgespalten.37 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Spaltung und Polarisierung besteht darin, daß es bei Spaltung keinen gemeinsamen Horizont mehr gibt, daß Inhalte vielmehr beziehungslos nebeneinander existieren. Um solche „historischen Abspaltungen“ als Folge von kulturellen und sozialen Umbrüchen, wo nicht gar von Gewalt- und Genoziderfahrung zu verstehen, können wir Klaus Heinrich zu Rate ziehen. Denn was er in religionswissenschaftlichen Studien zum Begriff der „Verdrängung“ ausführt, kann auch auf den des Traumas angewandt werden. Demnach können wir nicht „von einem ausgebildeten Begriff der Verdrängung oder der ‚Wiederkehr des Verdrängten‘ [ausgehen],[…], der sich ohne weiteres auf irgendwelche Bereiche übertragen ließe“38, „sondern […] die besondere Disziplin [entwickelt] sich erst daraus […], daß man bestimmten Gegenständen mit Fragen und

37 „Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer unerträglichen Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, daß diese droht; und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation (siehe Cooper, 2001, S. 44)“, formulierte Marianne Leuzinger-Bohleber in ihrem Vortrag „Die langen Schatten der Vergangenheit. ,Eigentlich weiss ich immer noch nicht, wer ich bin…‘. Aus der Psychoanalyse eines deutschen Kriegskindes“ (unveröffentlichtes Manuskript) auf der Internationalen Tagung „Trauma der Vergangenheit in Russland und Deutschland: Psychische Folgen und Möglichkeiten der Therapie“, die vom 27. - 29. Mai 2010 in Moskau stattfand. 38 Klaus Heinrich: arbeiten mit ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft (hg. von Hans-Albrecht Kücken). Basel, Frankfurt a. M. (Stroemfeld/ Roter Stern) 1993, S. 17.

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Forschungsmethoden [begegnen] kann, die dem Problem, das sie stellen, auch in der Tat standhalten“.39 Wenn bisherige Präventionsprojekte solchen Phänomenen noch wenig Bedeutung beigemessen haben, so deshalb, weil deren Erforschung und Bearbeitung theoretischer Zugänge und analytisch-hermeneutischer Verfahren bedarf, die auch Unbewußtes erfassen können, denn die Beschädigungen und Verletzungen infolge politischer, sozialer oder ökonomischer Umbrüche, aber auch von Gewalt, Flucht und Vernichtung, von mangelnder Fürsorge oder Anerkennung, die generationsübergreifend fortwirken, können oft nicht zureichend in Sprache gefaßt werden. In den Berichten und Zeugnissen tauchen sie eher in Form von „Entstellung[en]“ auf; in zwischenmenschlichen Beziehungen etwa als „Grenzüberschreitung“ oder als „destruktive Paarbildung“ oder als Idealisierung etc. Da wir von Beginn an damit rechnen mußten, daß auch wir uns immer wieder in die oben angeführte spaltungsträchtige Spannung „Islamfreundlichkeit“ contra „Islamfeindlichkeit“ (bzw. Muslimfreundlichkeit contra Muslimfeindlichkeit) verstricken würden, transkribierten wir den Mitschnitt aller zehn Sitzungen unserer Elternbildung und untersuchten in der Auswertungsphase anhand dieser Notationsprotokolle u. a., wie hie und da die innere Abwehr sich in unserer Gruppe herausgebildet hatte. Im Rückblick betrachtet, war dieser Arbeitsschritt der schwierigste. Es gelang uns nur mühsam, einen Konsens über die Bedeutung bestimmter Aussagen und Reaktionen herzustellen, die die Kursteilnehmerinnen wie auch wir während der Sitzungen gezeigt hatten. Als Lorenz Wilkens beispielsweise die beiden Themen „Das gemeinsame Erbe der monotheistischen Religionen“ sowie „Volk – Kirche – Umma: Der Grundbegriff der Gesellschaft in Judentum, Christentum und Islam“ vorstellte, wurde er ziemlich oft von einer Kursteilnehmerin unterbrochen, ergänzt oder korrigiert. Es schien fast so, als ob sie es schlecht ertragen konnte, daß ein Nichtmuslim über den Islam sprach. Daß er aber gerade auch solchen Interpretationen des Islam oft

39 Klaus Heinrich (1993), S. 31.

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nichts entgegengesetzt hatte, die in seinen Augen nicht korrekt sein konnten, irritierte den restlichen Teil unseres Teams, da er Derartiges sonst zu berichtigen pflegte. Nach und nach konnten wir an der Zusammenführung irritierender Momente zu Szenen erkennen, daß es gelegentlich auch innerhalb der Gruppe der deutschen Teilnehmerinnen tendenziell zu Spaltungen pro und contra Islam gekommen war, und daß wir selbst in diese involviert waren. Verständlicher wurde nun auch, warum die in Fußnote 10 erwähnte Kursteilnehmerin als einzige die Fortbildung abgebrochen hatte. Einerseits hatte sie bereits in der Vorstellungsrunde der ersten Kurssitzung betont, daß sie das Leben in multi-kultureller Gesellschaft – auch aus eigener Auslandserfahrung – immer gemocht habe. Doch anderseits habe sie mittlerweile auch eine andere Seite von „multi-kulti“ kennengelernt. Seitdem sie nämlich auch Rassismus gegen Deutsche erlebt und das ‚Umkippen‘ eines ganzen Bezirks erlebt habe, seien ihr Zweifel gekommen. Wir hatten diese Aussagen zwar wahrgenommen und notiert, doch ihnen zu wenig Raum gegeben. Wir hatten lediglich gesagt, daß wir über solche Themen im Verlauf des Kurses noch sprechen müßten. In unserer ersten Sitzung aber wollten wir auf keinen Fall einen offenen Konflikt riskieren. Wir standen unter dem Druck, die Gruppe gewinnen zu müssen und sie davon zu überzeugen, mit uns zehn Monate lang unser vorläufiges Curriculum „Konfliktkultur“ zu erproben. Doch die negative Seite der Ambivalenz tauchte bereits in der zweiten Sitzung „Von der Partnerschaft zur Elternschaft“ wieder auf. Bei der Diskussion darüber, wie unsere Kunstfiguren Mine und Cemil so über ihre Ängste vor der Elternschaft sprechen könnten, daß der eine den anderen, durch Geschlecht und Herkunft unterschiedenen, besser verstehen könne, empfahl dieselbe Kursteilnehmerin sarkastisch, das Paar möge sich doch schon lieber jetzt trennen, ihre Beziehung hätte ohnehin „null Chancen“. Auch dieses Mal fragten wir sie nicht nach ihren Motiven, dem Paar eine solche Zukunft zu prophezeien, sondern verwiesen auf die Vorgaben unserer Geschichte: Unser fiktives Paar versuche seine Konflikte erst einmal wahrzunehmen, dann genügend gut zu verstehen und schließlich ein Stück weit erfolg-

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versprechend zu bearbeiten, – so daß sie bis ins hohe Alter zusammenbleiben und womöglich selbst Großeltern werden könnten. Zeigte sich in den 1970er und 80er Jahren die Idealisierung der Türken hierzulande noch in der Schwärmerei von der „Gastfreundschaft“ und „Wärme“ der türkischen Familien40, so zeigt sie sich heute eher in einer ziemlichen Unfähigkeit, auch solche Aspekte des kulturell bzw. religiös anderen zu thematisieren, die sich nur mühsam, manchmal auch überhaupt nicht mit eigenen Vorstellungen und Gefühlen vermitteln lassen. In solchen Situationen wird nicht selten zu Vermeidungsstrategien gegriffen, wenn etwa zur Beilegung interreligiöser und interkultureller Konflikte die Einführung „spiritueller Räume“ gefordert wird41, wobei man nicht daran denkt, daß solche Empfehlungen

40 Renate Haas: Kulturvermischung – ein Tabu? Fallstudie zu Konflikten in einer deutsch-türkischen Erziehungsinstitution und Anmerkungen zum Erkenntnisproblem in der Ethnologie, Dissertation FU Berlin 1998. Nur am Rande soll angemerkt werden, daß eine Desillusionierung dann eintrat, als in der KiTa die Berufshierarchien in Konkurrenz gerieten mit den Altershierarchien. 41 Siehe dazu den „Abschlussbericht zum Stand der Umsetzung der Wissenschaftlichen Begleitung in Programmsäule 2 ‚Modellprojekte‘, Themencluster ‚Präventions- und Bildungsangebote für die Einwanderungsgesellschaft‘ im Programm ‚VIELFALT TUT GUT: Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie‘ zum Berichtszeitraum 01. 01. 2008 - 30. 04. 2011“ der Internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie gGmbH (INA), S. 56 sowie S. 59. Die Grundannahme dabei war, Spiritualität sei allen Religionen gemeinsam. Konflikte zwischen den Religionen gebe es nur dann, wenn diese aus sozialpsychologischen und/oder politischen Gründen mißbraucht würden. Es fand eine Entdifferenzierung statt, geradeso, als ob Getrennt-Sein nicht ausgehalten würde und stattdessen ein Eintauchen in ein harmonisches Ganzes ersehnt würde. Unterschiede zwischen den Religionen wurden dadurch nivelliert, daß sowohl die unterschiedlichen Formen des Kults oder der Dogmen als auch deren Rezeption und Geschichte ausgeblendet wurden. Und auch die Frage

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sich – Fritz Kramer zufolge – von der „Hauptströmung der deutschen Ethnologie“ ableiten, „bis vor kurzem“ nach wie vor „in einer merkwürdig ungebrochenen Nachfolge der Romantik“ standen und sich seitdem auch massenhaft „in den gleichsam irrationalistischen Zügen subkultureller Entwicklungen“ breitmachten, die etwa Castanedas Bericht von den (wie man inzwischen weiß, ge,fake‘ten) Lehren des Yaqui-Zauberes Don Juan innerhalb und außerhalb der ethnologischen Disziplin einen „durchschlagenden Erfolg sichern konnten“.42 Wenn andererseits Expertisen zu Konflikten in der Einwanderungsgesellschaft Fremdbilder nach dem Vorbild von Edward Saids hegemonialer Diskursanalyse43 noch immer als überzeitliche Bilder begreifen, wie etwa die bereits erwähnte Expertise „Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte“44 es tut, dann besteht die Gefahr, daß kulturell oder religiös andere weiterhin zu bloßen Objekten eines taxinomischen Blickes45 gemacht werden. Denn die hierzulande vorherrschenden

nach Überdetermination und Schutzfunktion von Kulturformen oder Rollenfixierungen wurde nicht gestellt. Dies wäre aber eine zentrale Voraussetzung, um Einblick in die Besonderheit von Religionen und in deren Konflikte und Konfliktlösungsversuche zu bekommen. 42 Fritz W. Kramer: Die Social Anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften. In: Fritz W. Kramer (2005), S. 71. 43 Nicht berücksichtigt wird hier, daß Edward Said sein strukturalistisches Konzept der ‚binären Opposition‘, das in „Orientalismus“ (1978) noch grundlegend war, wenige Jahre später ein Stück weit differenziert hat – in „Imperialismus und Kultur“ (1994) spricht er nunmehr von einer „verflochtenen Geschichte“ zwischen Orient und Okzident, die durch „kontrapunktische[s] Lesen“ sichtbar gemacht werden kann. 44 Naika Foroutan: Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2012. 45 „Die ‚Welt des Islam‘ wurde als ein kollektives zivilisatorisches Identitätskriterium dem Westen gegenübergestellt. Diese Konfliktquellen bestimm-

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„Muslimbilder“, neutraler gesagt: Bilder von Fremden, sind keine überzeitlichen, die von einer Generation an die andere quasi naturwüchsig vererbt würden. Sie entstehen – wie Hans Bosse betont – zumeist in Konfliktsituationen „aus der Hilflosigkeit, in die eine Person dann gerät, wenn der Zusammenhang zwischen ihrem Handeln und den dahinterliegenden Motiven zerrissen ist. [...] Falsches Bewußtsein [...] kann aufgehoben werden, wenn die Aufklärung die ökonomischen und sozialen Interessen des Individuums berücksichtigt. Stereotype erweisen sich als hartnäckiger, denn sie aufzuarbeiten bedeutet für das Individuum, Gefühlen und Phantasien innezuwerden, die die innere Sicherheit des Individuums bedrohen, wenn sie bewußt werden“.46

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Wenn wir in unserer Elternbildung die Adoleszenz als erstes zentrales Thema behandelten, so geschah es deshalb, weil die so prekäre Fähigkeit, die „Dialektik des Entspringens“ (siehe unten, S. 48ff., Kap. ‚Institutionen und ihre Konfliktfähigkeit‘) auszuhalten, gerade im Prozeß der Ablösung der Jugendlichen von ihren Eltern und ihrer Neuorientierung in der Gesellschaft die entscheidende Ausprägung erhält. So kann Mario Erdheim sagen: „Erst durch die Adoleszenz wird

ten im kollektiven Gedächtnis Europas das Verhältnis zwischen ‚dem Westen‘ und der ‚islamischen Welt‘ bereits seit Jahrhunderten, man denke an die ‚Türken vor Wien‘, die spanische Reconquista oder die exotisierten Phantasmen des europäischen ‚Orientalismus‘.“ Naika Foroutan (2012), S. 55. 46 Hans Bosse: Kulturelle Beziehungsfallen. Zur Entstehung und Funktion von Stereotypen in der gegenseitigen Wahrnehmung deutscher und ausländischer Experten. In: Zur Herausforderung der multikulturellen Gesellschaft, hg. vom Haus der Kulturen der Welt und IAF, Berlin o. J., S. 17f.

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der Mensch gleichsam geschichtsfähig, das heißt fähig, sich eine Geschichte zu schaffen.“47 Ob dies aber gelingt, hängt, wie Erdheim weiter ausführt, davon ab, ob man in der Adoleszenz das implizit schon von Freud postulierte Prinzip der Nachträglichkeit für sich fruchtbar machen konnte: Die „frühkindliche Entwicklung des Menschen mit ihrer oralen, analen und phallischen Phase“ ist die „Voraussetzung für den Erwerb von ‚Kultur‘, insbesondere von Sprache, Verhaltens- und Anpassungsweisen [...], wohingegen die Fähigkeit, das so Erworbene als etwas Veränderbares und Umzugestaltendes zu betrachten, ein Ergebnis adoleszentärer Prozesse ist. Es ist das Prinzip der Nachträglichkeit, das in der Adoleszenz dem Determinismus der frühen Kindheit Schranken setzt und dem historischen Bewußtsein seine Grundstruktur verleiht“.48

Hierbei spielt der von Sigmund Freud bemerkte Antagonismus zwischen Familie und Gesellschaft (oder wie er sagt: Kultur)49 eine

47 Mario Erdheim: Zur psychoanalytischen Konstruktion des historischen Bewußtseins. In: Jörn Rüsen und Jürgen Straub (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Erinnerung, Geschichte, Identität 2. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1998, S. 178. 48 Mario Erdheim (1998), S. 176. 49 In „Das Unbehagen in der Kultur“ schreibt Freud: „[E]ine der Hauptstrebungen der Kultur ist, die Menschen zu großen Einheiten zusammenzuballen. Die Familie will aber das Individuum nicht freigeben. Je inniger der Zusammenhalt der Familienmitglieder ist, desto mehr sind sie oft geneigt, sich von anderen abzuschließen, desto schwieriger wird ihnen der Eintritt in den größeren Lebenskreis. Die phylogenetisch ältere, in der Kindheit allein bestehende Weise des Zusammenlebens wehrt sich, von der später erworbenen, kulturellen abgelöst zu werden. Die Ablösung von der Familie wird für jeden Jugendlichen zu einer Aufgabe, bei deren Lösung ihn die Gesellschaft oft durch Pubertäts- und Aufnahmeriten unterstützt.“ Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Gesammelte Werke (hg.

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wichtige Rolle. Denn „die bewußten und unbewußten Bilder, die [die Jugendlichen] von Kultur und Familie in [sich] tragen, organisieren [ihre] Einstellung zur Arbeit und damit auch zur Kreativität ebenso wie [ihre] politischen Zielsetzungen und [ihr] Verhältnis zu Wandel und Kontinuität“.50 In der Adoleszenz kann sich – mit Robert Musil zu sprechen – so etwas wie ein „Möglichkeitssinn“ entwickeln; und zwar am ehesten dann, wenn die Heranwachsenden beizeiten anhand von Erzählungen ihre eigene Empfindungsfähigkeit und das Auslegen von Geschichten erproben dürfen. „Literatur“, sagte Chinua Achebe in seiner Rede anläßlich der Preisverleihung des Deutschen Buchhandels im Jahr 2002, „gibt uns einen zweiten Zugriff auf die Wirklichkeit“: „Nur Erzählungen übertönen den Lärm der Kriegstrommeln. Nur Erzählungen retten unsere Nachfahren davor, wie blinde Bettler in die Dornen eines Stacheldrahtzaunes zu stolpern.“51 Es war der Literaturwissenschaftler Leo Kreutzer, der im Kontext von Edward Saids Orientalismus-Kritik auf Georg Forsters Beitrag zur Konzeption einer „shared history“, also einer „geteilten“ Geschichte, aufmerksam gemacht hat. Dieses Konzept „gibt […] zu bedenken, daß es sich auch bei der Kolonialgeschichte um ein Stück Geschichte handele, welches die in sie involvierten Protagonisten miteinander teilen. Eine derartige Einsicht trägt dem Umstand Rechnung, daß auch

von Anna Freud u. a.), Bd. XIV, 7. Aufl. Frankfurt a. M. (S. Fischer Verlag) 1991, S. 462 f. 50 Mario Erdheim: Mann und Frau – Kultur und Familie. Ethnopsychoanalytische Ansätze zu einer Theorie der Weiblichkeit. In: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Aufsätze 1980–1987, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag) 1988, S. 253f. 51 Gregor Dotzauer: Ohne Erzählungen sind wir blinde Bettler, Tagesspiegel (Berlin) vom 4. 6. 2002.

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eine Geschichte des Kampfes und des Hasses die Kontrahenten miteinander verbinde“.52

Und das heißt: daß eine jede Generation sich stets neu entscheiden muß, ob sie die Geschichten des Kampfes und Hasses fortschreiben oder ob sie nach Möglichkeiten des Ausgleichs suchen will. Von Bedeutung ist hierbei, ob sie gelernt hat, mit dem „Schuldschmerz“ umzugehen, der „aus dem Leiden unter dem eigenen Haß auf die geliebte[n] Person[en] [von Mutter, Vater und Geschwistern] entsteht“53. Gelingt es, eine hinreichende „Schuldgefühlstoleranz“ zu entwickeln, dann erübrigt es sich vielleicht, daß Jugendliche und junge Erwachsene immer wieder aufs neue ihre unerträglichen Schuld- und Schamgefühle in (kulturell) andere projizieren und dort bekämpfen müssen. „Der Grund, weshalb die Schuldgefühlstoleranz es verdient, ins Zentrum der Entwicklungspsychologie wie der Politik gerückt zu werden, liegt in der Erfahrung, daß kein realistischer Schmerz so schwer erträglich ist wie der Schuldschmerz. Zur Vermeidung dieses Schmerzes vor allem werden individuell wie kollektiv die Abwehrmechanismen der Spaltung, der emotionalen Verleugnung und der negativen Projektion eingesetzt und alle Arten von irrationaler Wirklichkeitsverzerrung und von privater wie kollektiver Destruktivität in Kauf genommen oder sogar vorgezogen.“54

Im Hinblick auf unser Elternbildungsprogramm „Konfliktkultur“ ist unsere These: Je realistischer junge Eltern ihre eigene Geschichte, die ihrer Eltern aber auch die ihrer (Herkunfts-)Gesellschaften, zu verstehen und dabei auch die weniger „ruhmreichen“ Aspekte dieser Ge-

52 Leo Kreutzer (2011), S. 73. 53 Hermann Beland (2008), S. 284f. 54 Hermann Beland (2008), S. 284.

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schichten55 zuzugeben gelernt haben, desto besser sind sie in der Lage, mit den zwiespältigen Gefühlen umzugehen, die ihre eigenen Kinder mit Sicherheit auch in ihnen auslösen werden.

I NSTITUTIONEN UND IHRE K ONFLIKTFÄHIGKEIT Den schon eingangs erwähnten Hinweis Hermann Belands berücksichtigend, daß in der Art und Weise, wie (gut oder weniger gut) „Mütter die Ängste ihrer Säuglinge aufzunehmen und verarbeitet zurückzugeben in der Lage sind, die grundlegenden Tendenzen einer ganzen Kultur zum Ausdruck kommen und vermittelt werden“, möchten wir auf einen weiteren bedeutenden „Kulturvermittlungsmechanismus“ aufmerksam machen. Wir sind nämlich der Auffassung, daß bislang die Bedeutung unterschätzt wird, die staatliche Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen haben, um den zahlreichen radikalen Abgrenzungsbewegungen (erinnern wir nur an Fundamentalismen wie Islamismus und Ultra-Nationalismus und die sie begleitenden religiösen und politischen Extremismen) entgegenzuwirken, die in den gegenwärtigen, vielfach durchmischten Gesellschaften miteinander konkurrieren und sich z. T. mörderisch bekämpfen. Denn das Vermögen oder Unvermögen der angesprochenen Institutionen und Organisationen, auch solche Konflikte, die in manchen Bereichen der Gesellschaft unlösbar scheinen, angemessen aufzunehmen, durchzuarbeiten und verträglich an ihre Klientel zurückzugeben, wirkt auf die Gesellschaft im ganzen zurück. In der Regel sind es doch Konflikte, die in der säkularen Gesellschaft, in welcher Religionsfreiheit garantiert ist, fast zwangsläufig entstehen. Hier kommt es nun darauf an, welchem Begriff von Gesellschaft sich staatliche Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen verpflichtet fühlen; und welche Formen der

55 Zu den Schwierigkeiten, die mitunter auftreten, wenn in Schulklassen die Massaker an der armenischen Bevölkerung zur Sprache kommen, siehe: Renate Haas (2006), S. 131-155.

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Auseinandersetzung mit kulturell, religiös und gesellschaftlich „anderen“ sich in ihnen entwickelt haben bzw. zu welchen – vielleicht vorschnellen oder harmonisierenden, den Konflikten ausweichenden – Identifizierungen, möglicherweise aber auch Polarisierungen der Klientel es hierbei kommt. So können beispielsweise junge muslimische Eltern gekränkt oder erbost reagieren, wenn im Kindergarten oder in der Schule das für sie geltende Schweinefleischverbot nicht konsequent geachtet wird oder wenn sie dort ihr Kind nicht so, wie sie es für gut halten, betreut sehen. Die Art und Weise, wie Erzieherinnen und Erzieher mit den ihnen entgegengebrachten Affekten umgehen und ob sie trotz solcher Gefühlsausbrüche das vielleicht ja berechtigte Anliegen der Eltern noch aufnehmen und in einen diskursfähigen Konflikt übersetzen können, sagt viel über die Zivilität unserer Gesellschaft aus bzw. darüber, was diese zu wünschen übrig läßt. Weil wir aber auch umgekehrt festgestellt haben, daß junge Eltern – und durchaus nicht nur solche türkischer Herkunft56 – sich nicht selten wünschen, die Kindertagesstätte solle wie eine Familie funktionieren, in der angestammte Loyalitätsverhältnisse wie bei ihnen zu Hause gelten, thematisierten wir in unserer Sitzung 5 zum Thema „Öffnung der Gesellschaft zu ihrem historischen Erbe“ den eigentlich altbekannten (siehe Toennies) und in

56 Wenn Susanne Enderwitz in ihrem Vortrag auf dieser Fachtagung „Familie, Gemeinschaft, Staat: Strukturprinzipien in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften“ (siehe unten S. 121f.) feststellt, daß auch hierzulande die Familie in Ermangelung sozialstaatlicher Transferleistungen wieder an Bedeutung gewinne, mag ergänzend hinzugefügt werden, daß die Ablösungsproblematik der heutigen Jugendlichen vielleicht auch etwas mit jener „besonderen Härte gegenüber Kindern“ (H. Beland) zu tun hat, die der Psychoanalytiker Christian Maier eingehend analysiert hat. Vgl. Christian Maier: Adoleszentenkrise und die Angst vor der Fremde. Zur Ablösungsproblematik in modernen Mittelschichtsfamilien. In: Roland Apsel (Hg.): Ethnopsychoanalyse 5. Jugend und Kulturwandel. Frankfurt a. M. (Brandes & Apsel Verlag) 1998, S. 167-200 und S. 61-78.

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unserer jüngeren Geschichte sehr aufgeladenen (siehe Heidegger) Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft.57 Insbesondere erinnerten wir an die Bedeutung der für demokratisch verfaßte Gesellschaften konstitutiven Vertragsbeziehungen, im Gegensatz zu den Klientel- oder Patronagebeziehungen traditionaler Gesellschaften. Was uns wohl am meisten geholfen hat bzw. was wir versucht haben produktiv zu machen, um in unserer Gesellschaft auftretende zerstörerische Konflikte, die von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch 1932) bzw. von der „radikalen Gleichzeitigkeit der Menschheit“ (Johannes Fabian 1983), vor allem aber von traumatisierenden, schlecht verortbaren58 Gewalterfahrungen herrühren, zu verstehen, sind vor allem drei Instrumente: • •



Zum einen ist da die religionsphilosophische Denkfigur Paul Tillichs von der „Dialektik des Entspringens“, zum andern das psychoanalytische Konzept der „Rêverie“ (der Fähigkeit, einer Gefühlsfähigkeit, tiefsitzende brisante Spannungen aufzunehmen und verträglich-entgiftet zurückzugeben) von Wilfred Bion, und zum dritten der von Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy dem deskriptiven und funktionellen Rollenbegriff der Soziologie entgegengesetzte Begriff der „Identifikation mit der Ideologie einer sozialen Rolle“, die sich keinesfalls nach Belieben ablegen oder ‚überziehen‘ läßt, ohne daß dies zu inneren Konflikten führte.59

57 Ferdinand Toennies: Gemeinschaft und Gesellschaft (1887); Martin Heidegger: Sein und Zeit (1924) passim. 58 Gemeint sind – um nochmals Herrmann Beland zu zitieren – solche, die „bislang nicht durch das herrschende Geschichtsbewußtsein verantwortet werden konnten“. Hermann Beland (2008), S. 279. 59 Rollenkonformes Verhalten bedeute zwar stets Triebverzicht. Doch würde dieser Tribut kompensiert durch den Gewinn: die gesellschaftliche Anerkennung in der Identifikation mit sozialen Rollen und die daraus folgende „narzißtische Befriedigung“. Andererseits würde dafür ein Stück Unabhän-

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Unser Kurs „Konfliktkultur. Elternschaft als ‚dritte Chance‘. Eine intergenerationelle, interkulturelle und interreligiöse Elternbildung“ beruht auf diesen Ansätzen. Die dritte Figur wird an einer neuralgischen Stelle am Schluß meines Vortrages noch einmal auftauchen, die zweite wird Lorenz Wilkens in seinem Vortrag noch eigens beleuchten. Zur ersten, diese hier etwas ausführlicher zu erläutern, eben der „Dialektik des Entspringens“60 im Sinne des Theologen Paul Tillich, hier deren Beschreibung in den Worten eines seiner Schüler, des Berliner Religionsphilosophen Klaus Heinrich: „Dem Ursprung Entspringen bedeutet einerseits Herkommen vom Ursprung, die Macht des Ursprungs Weitertragen. Es bedeutet andererseits Sichlösen vom Ursprung, dem Ursprung Entronnensein. Der Entrinnende erwirbt gegenüber dem Ursprung die Selbständigkeit – bis hin zu Angst und Ohnmacht des Alleingelassenseins von dem ihn tragenden Ursprung. Und Verlust der Selbständigkeit ist umgekehrt der Preis, der für jedes Beharren im Ursprung zu entrichten ist – bis hin zur Opferung des Selbst an den es verschlingenden Ursprung.“61

Klaus Heinrich fährt in seiner Charakterisierung der zu lösenden Konfliktstruktur fort: „...es ist nicht überflüssig, sich klarzumachen, daß der Genealogisierende [also der dem Einfluß des Ursprungs Ausgesetzte und aus ihm seine Kraft Ziehende, RH] nicht bloß ein intellektuelles Bedürfnis befriedigt. Auch wir spüren noch

gigkeit aufgegeben. Vgl. Paul Parin: Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien. Frankfurt a. M. (Syndikat) 1978, S. 125. 60 Paul Tillich hatte in „Die sozialistische Entscheidung“ bereits 1933 auf die Faszination hingewiesen, die Ursprungsmythen ausüben. Paul Tillich: Die sozialistische Entscheidung (1933). Berlin (Medusa) 1980. 61 Klaus Heinrich: Die Funktion der Genealogie im Mythos. In: Parmenides und Jona. Basel, Frankfurt a. M. (Stroemfeld/ Roter Stern) 1992, S. 15.

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etwas davon. Die Entfernung vom Ursprung [etc. p.p. …]62 kann eine Quelle tiefer Angst bedeuten, und die genealogische Überbrückung des Bruchs zwischen dem Ursprung und allem, was dem Ursprung entspringt, kann sehr wohl die Qualität einer Heilsantwort haben. Die genealogische Rückbindung an den Ursprung antwortet auf die Leben zerstörende Bedrohung, mit nichts identisch zu sein. Indem sie Selbst und Welt von göttlichen Urgestalten, Urformen, Urgeschehnissen herleitet, nimmt sie die Angst vor dieser Bedrohung“.63

Wir halten diese Denkfigur für unverzichtbar, und zwar nicht, weil wir selbst eine „ursprungsmythische Geisteslage“ einklagen wollten, verstehen wir uns doch als mehr oder weniger aufgeklärte Agnostiker, Laizisten, Gläubige bzw. religiös Gebundene,64 wissen auch um die Konstruiertheit von Nationen, Ethnien und Religionen. Denn haben wir nicht spätestens aus „The Imagined Communities“ von Benedict

62 Im Zitat an dieser Stelle ausgelassen die nähere Ausführung: „...[das Losgerissensein etwa vom heimatlichen Boden oder dem mütterlichen Schoß der Familie oder dem väterlichen Schutz, den die größere soziale Gruppe des Stammes oder der Nation gewährt; das Auf-Sich-Gestelltsein in der Führung des eigenen Lebens; schon das Fehlen urbildlicher Modelle beim handwerklichen Eingriff in eine übermächtige Natur – das alles]....“ 63 Klaus Heinrich (1992), S. 13. 64 Am meisten hat uns schließlich überrascht, daß es in unserem Team zu den schärfsten Auseinandersetzungen kam, als die Gretchenfrage gestellt wurde, wie im Leitungsteam und bei den Teilnehmerinnen die jeweilige Einstellung zur Religion zu charakterisieren wäre und zwar exakt, ob statt der Bezeichnung ‚gläubig‘, weil sie alles Nichtchristliche als defizitär ausgrenzt, korrekter von ‚religiös gebunden‘ zu reden wäre. Aber – meldete sich da gleich die nächste Frage – machen wir nicht ständig die Erfahrung, daß da, wo man nicht mehr von ‚gläubig‘ reden mag, man sich gerade gegenüber religiös Überzeugten diskreditiert?

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Anderson65 lernen können, daß das Konzept der Nation eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts ist? Doch kamen auch unsere relativ jungen Nationen bzw. Nationalstaaten bei ihrer Gründung nicht ohne Ursprungsmythen aus. Und aktuell bemüht sich die türkische Community in Deutschland massiv um die doppelte Staatsbürgerschaft. Bekanntlich konkurrieren seit alters weltweit Ursprungsmythen miteinander. Aller Aufklärung zum Trotz haben sie eine seltsam unverwüstliche Wirkungsmacht. Beispielhaft hierfür ist die Vehemenz, mit der Deutschland sich über einen langen Zeitraum seiner Selbstanerkennung als Zuwanderungsland widersetzte. Erst im Jahr der letzten Jahrtausendwende (2000) wurde in der Bundesrepublik im sog. „Optionsmodell“ die bis dahin geltende Staatsbürgerschaft rein nach ius sanguinis („Recht des Blutes“) durch ein ergänzendes ius soli („Recht des Geburtsortes“) modifiziert. Anzumerken ist hier, daß auch diejenigen in Deutschland, die sich bei der Ankunft der ersten ‚Gastarbeiter‘ als fremdenfreundlich verstanden, damals an keine Reformierung des Staatsbürgerschaftsrechts dachten. Diese Tatsache möchten wir als „historische Abspaltung“ bezeichnen. Wie die Generation ihrer Eltern, nur ex negativo, befanden sie sich, der rassistischen Echtbürtigkeitsideologie des NS wohl den Rücken kehrend, aber den Kollektivschuld-Verdacht gleichwohl auf dem Buckel, mit ihrem tendenziell eskapistischen „Exotisieren“ immer noch in einer schwer abzulegenden „ursprungsmythischen Geisteslage“, deren Abarbeitung uns – trotz allseits anerkannter Fortschritte im Durcharbeiten der „Dialektik des Entspringens“ – wohl noch lange nicht zur Ruhe kommen lassen wird. Als weiteres Beispiel eines noch deutlicher ursprungsmythisch inspirierten Staatsbürgerschaftskonzepts kann das der Türkei angeführt werden, das zugleich ethnisch und religiös bestimmt ist (wozu gleich noch mehr). Im Zuge von Migration und Zuwanderung gewinnen sol-

65 Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London (Verso) 1983; (dt:.) Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin (Ullstein) 1998.

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che Konzepte eine besondere Brisanz, denn nun trifft das Unvermögen der einen Gesellschaft, die „Dialektik des Entspringens“ auszuhalten, auf das Unvermögen einer anderen. 66 Wir versuchten in den Sitzungen unseres Kurses, mit dieser Denkfigur die bereits erwähnte Spaltung der türkischen Gesellschaft in Kemalisten und Islamisten zu reflektieren. Und wir erinnerten die Teilnehmerinnen an den historischen Sachverhalt, den ich Ihnen hier nur sehr verkürzt wiedergeben kann. Die Republik Türkei wurde 1923 als homogener muslimischer Nationalstaat gegründet, d. h. gemäß der Verfassung von 1924 wurden die Bewohner der Türkei alle Türken genannt, ohne daß sie nach Religion oder Ethnie unterschieden worden wären. Das entscheidende Merkmal war damals die allgemeine Zugehörigkeit zum Islam, den die Republik folgerichtig als Staatsreligion

66 Wir vermuten, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen dem ursprungsmythisch inspirierten Staatsbürgerschaftsrecht der Türkei und der Tatsache, daß vergleichsweise wenige Migranten türkischer Herkunft einen Antrag auf Einbürgerung in Deutschland stellen. Obgleich das Einbürgerungsverfahren seit 2004 erleichtert wurde, wird die frühere Staatsbürgerschaft ungern aufgegeben. Türkische Migranten zeigen (mit 15,1 %) im Vergleich mit Migranten aus Asien (26,6), aus der ehemaligen Sowjetunion (41,4), aus dem ehemaligen Jugoslawien und Albanien (25,5) das geringste Interesse an einem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH (Hg.): Deutsche Integrationsmaßnahmen aus der Sicht von Nicht-EUBürgern. Die Ergebnisse des Immigrant Citizens Survey für Deutschland, Berlin 2012, S. 21. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Erhebung einer vergleichenden Studie von 2005, wonach 73% der türkischen Eltern (Mütter und Väter gleichermaßen) sich gegen eine mögliche Verheiratung ihrer Töchter mit einem Deutschen aussprechen. Ursula BoosNünning und Yasemin Karakaşoĝlu: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster / New York / München / Berlin (Waxman) 2005, S. 251.

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annahm.67 Wenige Jahre später wurde der Verfassungsartikel, in welchem der Islam als Staatsreligion verankert war, auf Ordre des Staatsgründers höchstselbst, der sich bald darauf Atatürk (= Vater der Türken) nennen ließ, wieder gestrichen. Damit begann der Prozeß, den bis dahin als identitätsstiftend deklarierten Islam durch ein angeblich noch ursprünglicheres Türkentum zu ersetzen. Seitdem scheint durch die türkische Republik ein Riß zu gehen. Befürworter und Gegner der atatürk(i)schen Kulturrevolution stehen sich unversöhnlich gegenüber. An dieser Struktur änderte sich selbst dann kaum etwas, als in den 1950iger Jahren, nicht zuletzt auf Druck der USA, islamische Parteien zugelassen wurden und das Einparteiensystem abgeschafft wurde. Seither sind, worauf wir hier nicht weiter eingehen können, zahlreiche islamische Bewegungen entstanden; die hierzulande bekannteste ist vermutlich die seinerzeit von Said-i Nursi gegründete Nurculuk-Bewegung. Dieser hatte sich bereits um 1910 gegen eine Säkularisierung der Türkei ausgesprochen. Einer seiner bekanntesten Schüler ist der in den USA lebende, global wirkende

67 „So wurden griechisch-orthodoxe Christen türkischer Zunge nach Griechenland geschickt und einwanderungswillige christlich-orthodoxe Gagausen türkischen Idioms aus Rumänien und Moldawien nicht aufgenommen. […] Vor und während der Friedensverhandlungen von Lausanne 1923 präsentierte sich die Regierung in Ankara als Vertreterin der anatolischen Muslime, seien es Türken, Kurden, Tscherkessen oder Lasen“ mit der Folge, daß „der Begriff der Minderheit auf Christen und Juden beschränkt“ wurde. Für Kurden und Aleviten hatte dies zur Folge, daß sie keinen legalen Anspruch auf Ausübung ihrer Sprache bzw. ihrer Religion hatten. Sie sollten sich vielmehr als Türken in den (derart) homogen(isiert)en Nationalstaat integrieren. So Günter Seufert: Die Türkei, der Libanon und Israel. Staatsbürgerschaft bei den der drei ‚europäischen’ Erben des Osmanischen Reiches im muslimischen Vorderen Orient. In: Christoph Conrad und Jürgen Kocka (Hg.): Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten. Hamburg (edition Körber-Stiftung) 2000. S. 229f.

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Fethullah Gülen, der den Anspruch erhebt, Islam und Moderne zu verbinden. Wenn wir uns abschließend nur vergegenwärtigen, daß Atatürk zum einen versuchte, an Stelle des Islams den Primat des Urtürkentums zu setzen, wobei er – nicht zuletzt mit Rückgriff auf das Ehrprinzip68 –

68 In einer Verfassungsänderung 1928 wurde die Eidesformel „So wahr mir Gott helfe!“ durch „Bei meiner Ehre / Auf Ehrenwort!“ ersetzt. Ob Mustafa Kemal zu diesem Zeitpunkt bereits realisiert hatte, daß die positiven Wissenschaften es nicht vermögen würden, in der von zahlreichen Widersprüchen heimgesuchten türkischen Gesellschaft Einheit zu stiften, wissen wir nicht. Wir vermuten aber, daß die Frage, was die türkische Republik wirklich zusammenhalten könnte, immer dringlicher wurde. Denn selbst innerhalb der Einheitspartei ChP, deren Vorsitzender er war, kam es zu unüberbrückbaren Gegensätzen, die im Ausschluß von einzelnen Abgeordneten mündeten. Was in der neuen Republik fehlte, war ein Prinzip, das für alle Verbindlichkeit gehabt und im Sinne eines sozialen Kitts funktioniert hätte. In dieser prekären Situation griff er auf das Ehrprinzip zurück — eine Instanz, die jedermann in der türkischen Republik von Geburt an verinnerlicht habe. Tatsächlich ist es diejenige Instanz, durch welche die zahlreichen Rivalitätskonflikte zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den Geschwistern, den sozialen Klassen usw. bis heute maßgeblich geregelt werden. Und es ist eine Instanz, die, in einigem Abstand betrachtet, einerseits innerhalb aller drei monotheistischen Religionen als verbindlich gilt – im Alten Testament heißt es im vierten Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“, und im Koran heißt es in Sure 17 (ähnlich in 23 und 24). „Und Dein Herr hat befohlen: Verehrt keinen außer ihm und erweist den Eltern Güte.“ –, anderseits aber auch bereits in archaischen Kulturen, wo es hauptsächlich der Regelung von Clan-Konflikten diente, und ubiquitär bis in die Moderne hinein in Kraft blieb (noch Marx’ Schwiegersohn ist im Duell gefallen). Dieses Ehrprinzip erfüllte im türkischen Kontext also scheint’s alle wesentlichen Erfordernisse sowohl der Alltagstauglichkeit als auch der sei’s religiös, sei’s völkisch ursprungsmythischen Fundierung. Mit der Ersetzung Gottes durch „meine Ehre“ in der Eidesformel sollte zu-

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all das, was er als Überfremdung und als Bedrohung beurteilte, als nicht-türkisch einstufte, dürfte seine Verhaftung in einer ursprungsmythischen Geisteslage hinreichend klar geworden sein. Wenn wir uns andererseits daran erinnern, daß im Verständnis des Islam am Anfang der Menschheitsgeschichte die gesamte Menschheit der Umma angehörte und es das Ziel der Geschichte ist, zu diesem Ursprung zurückzukehren, dann sehen wir, daß auch die solches behauptenden Muslime sich in einer ursprungsmythischen Geisteslage befinden.69

gleich das türkische Staatsvolk erhöht werden. Von 1928 bis 2006 war nach der Verfassung Ehre nicht dem einzelnen, sondern der in der Nation verbundenen Gemeinschaft des Staatsvolkes zugeschrieben worden. Einschlägig dafür ist der Artikel 159 des türkischen Strafgesetzbuches: „Wer das Türkentum, die Republik, die große Nationalversammlung, die geistige Persönlichkeit der Regierung, die Ministerien, die Streit- und Sicherheitskräfte oder die geistige Persönlichkeit der Justiz öffentlich beleidigt und verhöhnt, wird zu Zuchthaus von einem bis zu sechs Jahren verurteilt.“ Wer sich dessen Anerkennung verweigerte, dem drohte noch bis vor kurzem der Ausschluß aus der Nation. Vgl. o. A.: Artikel 301 (Türkisches Strafgesetzbuch) auf: http://de.wikipedia.org/wiki/Artikel_301_%28T%C3 %BCrkisches_Strafgesetzbuch%29, abgerufen am 23.6.2014; sowie Markus Dressler: Die civil religion der Türkei. Kemalistische und alevitische Atatürk-Rezeption im Vergleich. Arbeitsmaterialien zum Orient. Band 4, (Hg.:) Werner Ende, Erika Glassen u. a., Würzburg (Ergon) 1999 / Klaus Kreiser: Atatürk: Eine Biographie, München (C.H. Beck), 2008 / Günter Seufert (2000) / Udo Steinbach (Hg.): Länderbericht Türkei. Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 2012. 69 Deutlich kommt dies in Fethullah Gülens Ausführungen zur „Fitra“ als der angeblichen muslimischen „Urveranlagung“ zum Ausdruck: „In einem authentischen Hadith sagt der Prophet Muhammad, daß jedes neugeborene Kind mit einer Urveranlagung zur Welt kommt. Erst später wirken die Eltern auf ihre Kinder ein und machen sie zu Christen, Juden oder Anhängern anderer Religionen. […] Würde ein Neugeborenes ein vollkommen isoliertes Leben führen und keinen Einflüssen seiner Umwelt ausgesetzt sein,

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Und drittens ist offensichtlich, daß beide Kontrahenten im Kampf um die türkische Identität, um die Definitionsmacht des Selbstverständnisses der Nation von einer Einsicht in die auszuhaltend-durchzuarbeitende „Dialektik des Entspringens“ weit entfernt sind. Auch diesen Sachverhalt bezeichnen wir als „historische Abspaltung“ und meinen damit jenen Mechanismus, mit Hilfe dessen ein für beide Parteien, die der Laizisten wie der Islamisten, bedrohlicher Konfliktstoff – nachweislich erfolgreich bis heute mit Auswirkungen bis in unsere KiTa-Konflikte und die innerfamiliären Probleme unserer Eltern mit migrantischem Hintergrund – weggeschlagen, präziser gesagt: unbewußt gemacht wird. Wenn Sie uns jetzt fragen, wie die Kursteilnehmerinnen auf die Vermittlung dieses Sachverhalts reagiert haben, so können wir sagen: Nachdem wir auf Nachfrage nochmals erklärt hatten, beiden Gruppen sei – ohne daß sie sich dessen bewußt wären – gemeinsam, daß sie zwei konkurrierende, einander sozusagen befehdende Begriffe von dem haben, was das Wesen des Menschen ist, und daß dies vermutlich mit ein Grund dafür sei, daß sie so schwer miteinander ins Gespräch kommen, entstand zum ersten Mal in unserem Kurs eine Spannung, die kaum auszuhalten war. Es kam zu einer Polarisierung: In der Türkei könne es nie zu einer Einigung kommen, weil die Kemalisten die Religionsfreiheit nicht anerkennen könnten und auch die Konflikte von außen geschürt würden, wie man ja in Ägypten, im Gezi-Park und jetzt in Syrien sehen könne, so brach es aus einer muslimisch orthodoxen Mutter heraus. Die eher laizistisch-säkular Orientierten waren zunächst still – wir hatten den Eindruck, daß sie sich noch mit der Diagnose des

würde es im Zustand eines ‚natürlichen‘ Muslims verbleiben. […] Wenn die Seele aber durch eine Reihe nachteiliger Elemente beschmutzt wird, wird sich der betreffende Mensch entweder einem anderen Glauben zuwenden oder große Hindernisse überwinden müssen, um ein guter Muslim zu werden.“ M. Fethullah Gülen: Grundlagen des islamischen Glaubens (übersetzt von Wilhelm Willeke). Mörfelden-Walldorf (Fontäne) 2006, S. 173f.

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türkischen Ursprungsmythos anfreunden mußten –, als der Vorschlag einer anderen Muslima kam, man könne doch die Scharia einführen, das wär’s doch!, so daß beide Gruppen zu ihrem Recht kommen würden. Hierauf reagierte eine der Säkularen: Dies sei doch keine Lösung, da wir ja dann zweierlei Rechtssysteme nebeneinander hätten. Ein Tumult entstand, einige fingen an durcheinanderzureden. Und siehe da: Obgleich wir uns von Beginn an darüber verständigt hatten, daß wir uns in einem „geschützten Raum“ befänden, in dem alles gesagt werden dürfe und wir gerade keine Trennlinie zwischen „uns“ und „den anderen“ ziehen wollten, kam ich hier an die Grenzen meiner Frustrationstoleranz. Anstatt nachzufragen, welche Vorschriften der Scharia sie denn angewendet haben möchte, damit wir gemeinsam prüfen könnten, ob diese sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegen dürften oder nicht, wußte ich nun nur noch auf dessen Einhaltung als der einzig möglichen gemeinsamen Basis zu bestehen. Weitere Klärung etwaiger Kompatibilitäten oder konsensfähiger Desiderate aber war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Etwa, daß die religiösen Vorschriften der Scharia den Schutz der Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes genießen, worauf der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages immer wieder hinweist. Im nachhinein muß ich eingestehen, daß durch meine vorschnelle „Identifikation mit der Ideologie der sozialen Rolle“ als Leiterin dieses Modellprojekts die Polarisierung im Raum zunächst erst recht verstärkt wurde. Daß der Begriff der Scharia eine Kette von Assoziationen70

70 Siehe hierzu den mit fürchterlichen Strafen drohenden sog. „Wegweiser für die Jugend“ von Said Nursi. Dort steht (in, wie man sieht, recht erbärmlichem Deutsch) unter anderem zu lesen: „Von den Überlieferungen verschiedener Hadise wird verständlich, wer in den Verführungen der Endzeit die fürchterlichste Rolle spielt; es sind dies die Frauen und ihre Verführungen. In der Geschichte von alten Zeiten wird von einer militärischen Gruppe aus kämpferischen Frauen überliefert, die Amazonen genannt werden und sagenhafte Kriege führten. Genauso ist in dieser Zeit in dem Kampf des atheistischen Irrglaubens gegen den Islam die fürchterlichste unter den

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ausgelöst hatte wie Ächtung von Abtrünnigen im Glauben, Steinigung untreuer Ehefrauen, Abhacken der Hand von Dieben usw. hing u. a. mit meinem mißlungenen Vermittlungsversuch zusammen. Ich war gekränkt, enttäuscht, vielleicht sogar wütend. Hatte ich doch über Wochen versucht, eine bestimmte Epoche der türkischen Geschichte so zu rekonstruieren, daß die sich bekämpfenden Parteien miteinander ins Gespräch kommen könnten. Was ich dabei nicht bedacht hatte, war, daß die strukturelle Gleichsetzung der „Umma“ mit der Urgemeinschaft der Türken Abwehr auslösen würde, weil unsere muslimischen Kursteilnehmerinnen sich in einer solchen Charakterisierung nicht wiederfinden konnten. Zum Glück ließ mein Mitstreiter Lorenz Wilkens sich nicht so schnell ins Boxhorn jagen. Also führte er die Diskussion über Verfassungsfragen in der Türkei und in Deutschland sowie über die Trennung zwischen Staat und Religion wieder zu unserer Ausgangsproblematik zurück; vermutlich hatte er intuitiv erfaßt, daß bestimmte Kursteilnehmerinnen sich nur im Bewußtsein, nach den – für sie maßgeblich von der Scharia verbürgten – Regeln des Islams zu leben, sicher fühlten. So erklärte er die Instanz des Ursprungsmythos noch einmal und nahm dabei die lautgewordene Angst mit spürbarer Empathie und Sinn für

Divisionen, die mit dem Plan der eigenwilligen Seele unter das Kommando des Teufels gegeben wurden, die halbnackten Frauen, die mit ihren unbedeckten Beinen wie mit fürchterlichen Messern die Leute des Glaubens angreifen. Sie bemühen sich den Weg der Heirat zuzuschließen und den Weg zum Freudenhaus zu verbreitern. Die Begierde vieler nehmen sie auf einmal gefangen und verletzen ihre Herzen und Seelen mit großen Sünden. Vielleicht töten sie ein Teil von diesen Herzen. Als richtige Strafe dafür, sie einige Jahre den Gelüsten der Fremden zu zeigen, werden diese Beine wie Messer zu Brennholz der Hölle, wo zuallererst diese Beine verbrannt werden.“ Bediuzzaman Said Nursi: Wegweiser für die Jugend (hg. von der Risale-i Nur Gemeinschaft). Berkeley (Golden Horn Press) USA (o. J., vermutlich 2012), S. 22. Empfohlen wird diese Publikation auf der Webseite der „Lichtjugend“ (siehe http://www.lichtjugend.de).

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Dramaturgie auf. (Es folgt nun ein längeres Zitat im O-Ton aus unserer Sitzung:) „Ursprungsmythos, das ist die Annahme, daß durch meine Herkunft, ja im Grunde durch meine Herkunft, meinem Leben ein wesentliches Gesetz schon definitiv vorgegeben ist. Daß da eine Autorität vorhanden ist, die ich respektieren muß in meinem eigenen Interesse, weil sie nämlich tief in meinem eigenen Herzen, tief in meinem Wesen verankert ist. Und daß es in der Erziehung wie auch in der Arbeit darauf ankommt, daß ich das in mir anerkenne — auch dann, wenn ich durch kulturelle Einflüsse dem entfremdet bin. Das ist das Prinzip. Und das kann religiös oder unreligiös formuliert werden. Der Religiöse sagt, das ist die Umma, zu ihr gehöre ich, und durch sie bin ich in meinem Bewußtsein, in meinem Gefühl immer noch verbunden mit der Urmenschheit; und die Urmenschheit ist mit Gott verbunden. So ist das religiös formuliert. Ich kann das aber auch kemalistisch formulieren. Dann sage ich: Ich bin mit dem Urvolk der Menschheit verbunden, mit dem türkischen Volk, und das ist das Volk, dem ich angehöre. Und nun muß ich mich darauf besinnen, welche Werte zu diesem gehören. Die muß ich unbedingt anerkennen, aber ich habe sie sowieso schon in mir, auch wenn ich das gar nicht weiß, ich habe sie einfach in mir. Und ich komme nicht zu einem erfüllten Leben, wenn ich das nicht sehen und anerkennen will. Und ich muß, jeder muß lernen, das anzuerkennen. Das ist der Sinn der Erziehung. Und da sehen Sie auch die Parallelität: Der eine sagt, es sind – mir noch nicht so recht bekannt, vielleicht schon entfremdet – die Werte der Religion, meiner Religion (als Muslim), die ganz tief in mir verankerten, zu denen ich zurückfinden muß durch die Erziehung. Der andere sagt, es sind die Werte eines Volkes, meines (türkischen) Volkes, genau so tiefe, die ich aber erst gehörig lernen muß. So, und jetzt kommt Paul Tillich, der den – beide konträren Positionen in all ihrer Widersprüchlichkeit fassenden – Begriff geprägt hat, und sagt: Alle Menschen haben einen Ursprungsmythos. Alle Menschen haben ein tiefes Bewußtsein – das ist ihnen gar nicht klar – zumal von ihrer Herkunft. Doch nun kommt der entscheidende Unterschied. Es gibt etwas historisch, ja, die Geschichte wirklich veränderndes Neues. Und da erinnert er wieder an die Propheten. Ich will Ihnen mal die Formel sagen, die er dafür gebraucht: Durch die Propheten des alten Israel und wahrscheinlich auch die fol-

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genden Propheten bis hin zu Mohammed – ich glaube, Tillich bezieht sie auch mit ein –, durch das Auftreten dieser Propheten, die dem Volk wie den Königen immer wieder ins Gewissen geredet haben, Gerechtigkeit zu halten, wird die Macht des Ursprungs und sein Mythos gebrochen. Sie ist nicht vergessen, sie ist nicht vorbei, aber sie ist „gebrochen“ (er sagt nicht: zerbrochen!). Das heißt, ich rechne jetzt mit einer geschichtlich völlig neuen Situation, einer geschichtlich völlig neuen Erfahrung, der ich jetzt ein eigenes neues Recht geben muß. Und dieses „jetzt“, das heißt nicht, daß ich das Alte vergessen kann, das heißt nicht, daß das Alte jegliche Verbindlichkeit verliert. Aber ich habe jetzt zwei Sachen. Ich habe einerseits das Alte, das mich ja immer noch mitbestimmt, sehr stark vielleicht sogar. Daneben habe ich aber nun auch diese ganz neue Erfahrung von Herausforderung und Hoffnung. Und ich weiß, daß es mir unglaublich weh tut, wenn dann jemand kommt und sagt, das ist nichts — ob er mit seiner Negation nun das Alte oder das Neue meint. Das tut mir enorm weh. Und ich, ja glauben Sie mir, ich habe diese Erfahrung – mit Erinnerung und Hoffnung und Kränkung sei ja gar nichts – auch gemacht. Wir alle haben diese Erfahrung wahrscheinlich gemacht. Und von daher kommt es ganz stark darauf an, daß ich das packe, daß ich das beides anerkennen kann: Das Alte, jawohl, muß ich anerkennen und das Neue. Das Neue, d. h. diesen ganz neuen Zustand meines Lebens, neuen Zustand der Arbeit, neuen Zustand der Liebe, neuen Zustand der gesamten Gesellschaft. Ich darf mir die Augen davor nicht verschließen lassen, und zwar ohne den legitimen Anspruch des Alten deswegen zu schmälern; dafür hab’ ich ja zwei Augen! Und das setzt mich in eine gewaltige Spannung, die ich unbedingt aushalten muß,71 — und eben das meint der Begriff der ‚Dialektik des Entspringens‘.“

71 Vielleicht muß man aufpassen, daß man das geforderte Aushalten nicht zu passivisch und damit unfreiwillig einmal mehr quasi fatalistisch versteht. Denn es ist kein Aushalten wie das des Gegendrucks (gegen einen natürlichen oder künstlichen Zusammenhalt) wie bei der berühmten Versuchsanordnung der ,Magdeburger Halbkugeln‘ Otto von Guerickes (1654) zur Demonstration der Kohäsionskraft eines Vakuums. Wenn man diese beiden vakuumierten Kugelhälften mit der Kraft von Pferdestärken (vermittels gegenstrebiger Gespanne) auseinanderzureißen suchte, so war es dieselbe

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So der Schluß der quasi-prophetischen Rede meines Mitstreiters über die permanent drohende Verhaftung im Ursprung und das doch so nötige Flüggewerden ihm gegenüber, wobei die andere Doppelung immer mitzudenken ist, die uns an der merkwürdigen Verwandtschaft zwischen der Popularität des Staatsgründers Atatürk und der Intimität der Mutter-Kind-Dyade aufgegangen ist: Das objektive Äußere geht mit dem subjektiven Inneren immer Hand in Hand. Politische Konzepte wie der homogene Nationalstaat würden ohne die affektive Besetzung, wie sie sich im Psychischen ausdrückt, gar nicht funktionieren. Abschließend können wir feststellen, daß die Wißbegier und Spontaneität der Fortbildungsgruppe und auch ihre Bereitschaft, über Ängste zu sprechen,72 es möglich gemacht hat, die fiktive Partner- und Elternschaftsbeziehung zwischen Mine und Cemil unter Bedingungen etwas reduzierter Geschlechterspannung (an unserem Kurs hatten ja

Technik, mit der einstmals die scheußliche Hinrichtungsmethode der sog. „Vierteilung“ besorgt wurde. Nein, so ein Aushalten ist hier keinesfalls gemeint, vielmehr die Zumutung zu einer aktiven Balance zwischen den beiden – wie wir hörten: gleich legitimen, ja gleich notwendigen – Ansprüchen des Erinnerns und Zugebens der Haltekraft des Ursprungs/Alten einerseits und des Sich-Lösens und -Befreiens von eben dieser zum erst noch herauszufindenden Unerhörten/Neuen anderseits, womit die Welt, weit davon entfernt, auf eine eiserne Ration zusammengepreßt zu werden, sich vielmehr erst auftut und heiter und weit wird. 72 Bei der Behandlung der Themen „Das Baby verstehen“ und „Die Bedürfnisse des Kindes aufnehmen und dem Kind die Welt eröffnen“ (in Sitzung 3 und 4) wurden wir immer wieder mit den Ängsten einzelner Kursteilnehmerinnen konfrontiert (etwa Ängsten vor pädophilen Männern, die ihren kleinen Töchtern auf dem Spielplatz nachstellen würden, vor antiislamischen Ressentiments in Schulen und solchen vor Angriffen wegen ihrer muslimischen Kleidung). Wir konnten zwar den Motiven und Ursachen dieser Ängste nicht im einzelnen nachgehen, aber es gelang uns, diese genügend gut aufzunehmen, so daß phobische Züge nicht überhandnehmen und den Zusammenhalt der Gruppe beeinträchtigen konnten.

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die Väter nicht teilgenommen) als „geteilte Geschichte (shared history)“ zu rekonstruieren. Beim Versuch, auch solche (historischen) Erfahrungen zur Sprache zu bringen, die bisher nur unzureichend in das herrschende Geschichtsbewußtsein integriert werden konnten, kam es unter uns teilweise zu Kommunikationsstörungen, nämlich Abwehrmechanismen wie Idealisierung, Verleugnung oder Spaltung. Zur Aufklärung dieser Mechanismen haben wir zumal mit den drei besagten Instrumenten – mit der ‚Dialektik des Entspringens‘ von Paul Tillich, der ‚Rêverie‘ von Wilfried Bion und der ‚Identifikation mit der Ideologie einer sozialen Rolle‘ von Paul Parin – gearbeitet, die ich Ihnen in diesem Überblick über das Modellprojekt kurz vorstellen und nahebringen wollte.

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D ISKUSSION F1 (Interkultureller Integrationsverein „Iranisch-deutsche Brücke“): Sie haben in Ihrem Bericht erwähnt, daß es Ablehnung gegenüber Islam im Westteil und im Ostteil (Berlins oder Deutschlands?) mit so und so viel Prozent gab. Meine Frage dazu: Wird da dann auch nach Kulturen oder Ländern analysiert beziehungsweise sortiert, wie groß die Ablehnung jeweils ist? Denn, wie Sie wissen, ist der Islam die einzige Religion, die in jedem Land, in dem er Fuß gefaßt hat, anders ausgelegt und erlebt und befolgt wird. Das ist meine Frage. RH: Meines Wissens wurde diese Untersuchung in Deutschland gemacht, und es wurde, glaube ich, gefragt nach dem Islam, wie er hier in Deutschland auftritt. Also es wurde nicht nach dem Iran oder anderen Ländern gefragt, sondern danach, wie die Menschen hier dazu stehen, daß der Islam „zu uns gehört“, wie Herr Wulff, unser Ex-Bundespräsident, vor einigen Jahren schon sagte. F2: Also ich habe versucht, Ihnen zu folgen. Es war für mich nicht leicht, ich würde es gerne irgendwann mal nachlesen können. Ja? Aber ich denke, ich habe so einige Sachen aufgenommen: Ursprungsmythos, Verarbeitung von Traumata, nachwirkende Geschichte. Wir sind ja hier in Deutschland. Und die Deutschen sind bekanntlich ein Volk voller Traumata; es geht hierzulande ja nicht nur um Türken und daß es da Konflikte zwischen Kemalisten und Islamisten gibt. Es geht ja hierzulande auch um Konflikte mit der eigenen Geschichte und deren Spätfolgen wie gesagt: Noch nicht einmal ganze siebzig Jahre ist der Zweite Weltkrieg erst her. Inwieweit spielt das eine Rolle und wird das reflektiert in ihrer Arbeit? Ich denke mal, ein großer Teil dessen, was da ansteht, müßte doch Fragen betreffen wie: Was ist eigentlich Deutschland? und: Wo steht eigentlich die deutsche Gesellschaft? RH: Eine kurze Antwort darauf: Selbstverständlich haben auch wir uns das gefragt, haben auch vor der eigenen Tür gekehrt. Als „historische Abspaltung“ in Deutschland analysieren wir gerade, daß wir, was unsere Haltung zu den eingewanderten Fremden angeht, in einer Spaltung leben: daß wir nämlich einmal die ‚Exotisierung‘, d. h. die

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Idealisierungen des Fremden/Exotischen (und entsprechender Eingewanderter) haben und auf der andren Seite die ablehnend-fremdenfeindlichen Einstellungen. Und diese Spaltung verstehen wir als eine „historische Abspaltung“ — von einem unverarbeiteten NS nämlich. Ich habe das Problematische beider Haltungen bereits im Vorfeld des hier vorgestellten Modellprojekts in einem eigenen Vortrag behandelt und kann das jetzt auch nicht weiter ausführen. Aber wir haben auch danach geschaut, ob und wie diese Spaltung sich etwa in unserem Unternehmen bemerklich gemacht hat. Tatsächlich erst auf dem Wege einer vorgängigen Analyse der Nachwirkung des NS auf uns unmittelbar Nachgeborene konnten wir den Dauerkonflikt zwischen Kemalisten und Islamisten als eine Form historischer Abspaltung erkennen. LW: Vielleicht kann ich noch ergänzen: Frau Haas hat doch über das Konzept des Ursprungsmythos gesprochen. Das ist von Paul Tillich in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem heraufziehenden Nationalsozialismus ausgearbeitet worden. Sie finden dieses Konzept sehr prägnant und konzise formuliert in der Einleitung zu seinem Buch „Die sozialistische Entscheidung“, einer Art Rückblick auf seine Vergangenheit als religiöser Sozialist und gleichzeitig einer eindringlichen Analyse (und Herausforderung) der gleisnerischen Werbungs- und Verführungsstrategie des sich bereits etablierenden Nationalsozialismus mit seinen massiv ursprungsmythischen Zügen. Paul Tillich zeigt sich in diesem (im Jahre 1933, dem Jahr der ‚Machtergreifung‘ erschienenen) Buch also als Zeitdiagnostiker, ja Detektor einer ideologischen Richtungswahl zwischen dem Neuen, dem prophetisch Neuen der Sozialdemokratie, an der er festhalten will, und dem Relapse, dem Rückfall in einen massiv ursprungsmythisch überhöhten Nationalismus nach Maßgabe der NS-Ideologie. Und da kann ich nur sagen: Hätten das damals nur die Leute gelesen, wäre für uns das Trauma, das der NS und der Zweite Weltkrieg – wenn beides schon nicht verhinderbar war – schließlich hinterlassen haben, etwas leichter und um einiges besser bearbeitbar gewesen.

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F3: Ich höre, wenn es in Deutschland oder gerade in Berlin um Probleme von oder mit Ausländern geht, immer nur von Arabern und Türken. Aber es leben hier doch auch viele andere Ausländer aus vielen anderen Ländern. Geht denn mit diesen andern alles glatt? Und wo liegt eigentlich das Problem? RH: Ich glaube, das Problem sind wir alle in unserer Unfähigkeit, Heterogenität und Ungleichzeitigkeit erstmal einfach auszuhalten und dann gut aufzunehmen. Daß wir uns jetzt in diesem Kurs – nicht nur, aber in der Mehrzahl – an junge Frauen mit türkischem Migrationshintergrund gewendet haben, hatte folgende Gründe: Zunächst den persönlichen, daß ich gerne wissen wollte, was aus den andern Kindern geworden ist, die zusammen mit meinen eigenen in den Jahren zwischen 1985 und 1992 eine deutsch-türkische Kindertagesstätte besucht haben und heute um die dreißig Jahre herum alt sind. Mit einem Teil der jungen Frauen aus diesem Kreis haben wir Interviews geführt, und ein paar davon haben dann später an unserem Kurs teilgenommen. Mein weiterer biographischer Bezug zu dieser KiTa – nun nicht nur als Mutter, sondern auch als Sozialwissenschaftlerin und Ethnologin – lag darin, daß ich in diesen Jahren dort im Vorstand gearbeitet und später über das Verhältnis und die Konflikte zwischen deutschen und türkischen Erzieherinnen in dieser KiTa promoviert habe. So gab es einfach starke gewachsene Bezüge zu diesen jungen Frauen, weshalb wir uns mit dem Gedanken an ein solches Modellprojekt zunächst an sie gewendet haben und unsere Gruppe dann natürlich ebenfalls interkulturell besetzt war: Das waren fünf Frauen türkischer, eine Frau arabisch-palästinensischer Herkunft, und vier Frauen waren, wie unser beliebter Bürgermeister auch mal sagen kann, ‚Biodeutsche‘. So wurde aus unserer Zusammenarbeit, wie ich in meinem Vortrag dargestellt habe, ein Stück weit eine Analyse der von ihnen mehrheitlich mitgebrachten türkischen Geschichte, — weil wir uns erstmal auf das deutsch-türkische Verhältnis konzentriert haben, in welchem wir einfach auch besser Bescheid wußten. Das heißt nicht, daß andere Gruppen keine Probleme hätten oder für unser Modellprojekt weniger interessant gewesen wären; das nicht.

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F4: Ich möchte dazu noch einen anderen Aspekt in die Diskussion bringen: Die ersten Einwanderer waren, glaube ich, Italiener, dann kamen Spanier, dann kamen Griechen, dann kamen Jugoslawen. Und die brauchten ziemlich lange, bis sie einigermaßen wohlgelitten und anerkannt waren oder wenigstens nicht mehr – heute würde man sagen – gemobbt wurden. Also, ich kann mich noch gut daran erinnern, daß die ersten Italiener erstmal willkommen geheißen wurden mit netten Schlagern und allem möglichen, aber dann machte sich ganz schnell eine eher geringschätzige Meinung breit: Italiener hießen Ittaker, Spaghetti- oder Knoblauchfresser und waren kulturlos, ja, ausgerechnet Italien; und die italienischen Männer hatten alle ein Messer in der Hand und fielen über Frauen her. Das hat sich dann im Laufe der Jahre geändert; aber dafür kamen andere, die diesen Platz der Geringschätzung sozusagen übernehmen mußten. Und bei denen, die schon länger da waren, stellte man, wenn ich jetzt noch einmal das Beispiel Italien nehme, so langsam fest: Aha, die haben ja eine Kultur, da ist nicht nur (vom beliebten Teutonengrill der ersten Auslandsferien bekannt) Rimini, sondern ja, wie gesagt, Kultur. Und da möchte ich jetzt gerne mal einen Bogen schlagen zum Heute. Seit einiger Zeit fangen wir ja an, wahrzunehmen, daß auch unsere Türken eine Kultur haben, daß da Filmemacher sind, daß da Künstler sind, daß da Philosophen und Schriftsteller sind. Das haben wir ja über lange Zeit gar nicht wahrgenommen. Und dann noch etwas zu uns hier, zu uns Deutschen. Sie nehmen ja vorwiegend Bezug eben auf Paul Tillich und damit auf eine Zeit unverschämten Nationalstolzes hierzulande, aber in der Nachkriegszeit der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, da – wie soll man sagen? – sind wir national gewissermaßen identitätslos gewesen. Also es gab kein größeres Kompliment für mich, als ich mit sechzehn Jahren in England war, als wenn man mir gesagt hat, man merkt gar nicht, daß du Deutsche bist. Na wunderbar, weder an der Aussprache noch an meinem Gehabe oder sonstwie. Was wollten wir mehr? Und das hat sich lange gehalten: Immer und überall im Ausland, wenn man in einer Runde saß, wurde

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festgestellt, die Deutschen sind schrecklich; und alle Deutschen stimmten zu. RH: Ja, das ist ein wichtiger Aspekt, die emotionale Verleugnung der Nationalzugehörigkeit, der Verschiß des Nationalgefühls. Das, denke ich, ist auch Folge der NS-Geschichte, ein Erbe des NS, das uns immer noch zu schaffen macht. F6: Ich arbeite beim Jugendhilfeträger in Steglitz-Zehlendorf. Was ich hier sagen möchte, bezieht sich auf diesen Begriff des Ursprungsmythos, und zwar in bezug auf eine ganz andere Kultur, die spanische. Und da habe ich Erfahrungen gemacht mit spanischen Elternvereinen und Kulturvereinen im Ruhrgebiet, die sich mit der Frage auseinandersetzten und sich dabei schwertaten: Wie können wir die Erfahrungen des Franco-Regimes innerhalb der spanischen Gemeinde aufarbeiten? Dies das eine. Und das andere: Die doch fast beglückende Erfahrung, wie es umgekehrt in Deutschland inzwischen möglich ist, so breit und so differenziert über Faschismus, seine Ursprungsquellen und wie es dazu kommen konnte, zu sprechen, um kollektiv mit sich über die belastende Vergangenheit ins reine zu kommen, das war schon erstaunlich. Aber entscheidend für die Erklärung der in diesem Zusammenhang gemachten Erfahrung, warum das auf der einen Seite besser klappt als auf der anderen, fand ich einen ganz interessanten Aspekt, nach welchem ich Sie jetzt auch fragen möchte: Das ist sozusagen die intergenerationelle Überspringung. Will sagen: es war viel einfacher möglich, daß über diese Zeit Enkel und/oder Enkelin(nen) mit ihren Großmüttern und/oder Großvätern, die nicht in dieser Art und Weise involviert waren und zu Tätern und Opfern geworden sind, sprechen konnten, als es zwischen den Vätern und Müttern und ihren unmittelbaren Kindern möglich war. Deswegen meine Frage: War das für Sie vielleicht auch ein Aspekt Ihrer Untersuchung und Ihrer Arbeit? Oder sind Sie vielleicht eher zu dem resignativen Schluß gekommen: Wir müssen, was das Verhältnis zwischen den Generationen und zu den Herkünften angeht, einfach konstatieren, daß da jetzt eine Generation von sehr regressionsanfälligen (um nicht zu sagen: regressionssüchtigen) Enkeln heranwächst, die – ich sage es jetzt mal ganz platt und

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banal – sich nach dem einfachen Leben in der Türkei oder in anderen Ländern zurücksehnen, und daß man sich dahin zurückziehen kann und muß, um den vielfältigen Anforderungen einer so komplexen Gesellschaft wiederum zu entgehen. RH: Soll ich gleich antworten? Wir haben diesen Aspekt auch mit einbezogen. So haben wir auch einige türkische Großeltern interviewt, um ihre Sichtweise besser kennenzulernen. Und wir kennen hier auch junge Frauen, die genau das machen, was Sie gerade erzählen, d. h. bei denen es zu einer starken Idealisierung der Herkunftskultur gekommen ist. Wir haben aber auch andere Sichtweisen kennengelernt, wo sich junge Frauen genau angucken und überlegen: Was möchte ich von der Erziehung meiner Eltern übernehmen, was hat mir gut getan, was möchte auch ich (noch) nicht aufgeben, selbst wenn ich ein paar Jahre später vielleicht sehe, das war nicht so gut, oder mir sage, das möchte ich weiter machen? Und es gab auch Eltern, junge Eltern, die gesagt haben: Bestimmte Sachen machen wir so nicht weiter!, und haben sich mit ihren Eltern ins Benehmen gesetzt, und zwar – was für uns sehr erstaunlich war – meist mit dem Ergebnis einer Verständigung, so daß es nicht zu einem Bruch kam. Wenn eine junge Mutter gesagt hat: Nein nein nein, das war zu deiner Zeit wohl das Übliche und einzig Richtige, aber wir möchten unsere Kinder anders erziehen, dann hat die Großmutter gesagt: O. k., wenn du meinst, dann mach’ du das, wie du es für richtig hältst. Also wirklich, wir waren manchmal fast neidisch, wie gut diese Mütter mit ihren eigenen Müttern sprechen konnten. Ich konnte das seinerzeit nicht. Ich habe meinen Eltern, die m. E. noch direkt mit dieser NS-Erblast beladen waren, nicht viel zugetraut. Überhaupt haben wir uns bekanntlich ja sehr kritisch aufgeführt und uns gegen dies und noch manches andere gewehrt, was natürlich auch wieder Folgeschäden hatte. Soviel dazu. F7: Ich bin von der iranischen Gemeinde in Deutschland, Sitz in Berlin. Meine Frage an Sie wäre: Wir wissen ja, daß die Existenz nach der Vorstellung von Heidegger auf Angst und Furcht basiert. Sie haben vom Ursprungsmythos gesprochen. Meinen Sie wirklich, daß viele der Konflikte hier zwischen deutscher Bevölkerung und Ausländern, zum

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Beispiel den Türken (die Sie vor allem im Blick haben), wirklich ihren Ursprung darin haben, daß da ein Mythos, zum Beispiel der türkische Mythos, gegen den deutschen Mythos aufgeboten wird? RH: Nun, das von uns vorgestellte und empfohlene Konzept der ‚Dialektik des Entspringens‘ appelliert einfach an die Bereitschaft zur Entwicklung der Fähigkeit, die Spannungen auszuhalten zwischen dem, wovon ich herkomme, und dem, wo ich neu hin möchte. Diese Spannung auszuhalten, meint konkret: Ich muß die Konflikte genau angucken, die es in meiner Erziehung gegeben hat, und genau überlegen: Wo möchte ich hin? Und nicht so sehr der Ursprungsmythos ist der Konflikt, sondern daß sehr viele diese Spannungen nicht aushalten und durcharbeiten und es statt dessen kollektiv zu Projektionen kommt, dergestalt, daß man dann dem anderen etwas anlastet, was eigentlich die eigene Spannungsunfähigkeit ist. Deshalb habe ich zu Beginn meines Vortrages den Begriff der projektiven Identifizierung von Melanie Klein gebracht. Er ist kompliziert, aber man kann sagen, er ist insofern sehr wichtig für jede Analyse von Kulturkonflikten, weil wir dadurch einsehen lernen, wie das, was wir in uns selbst nicht bewältigen können, einmal in negativer Weise auf den anderen projiziert wird, ein andermal aber auch in positiver Weise (denn wir haben oder machen auch positive projektive Identifizierungen). Das ist das Tragende, also das kommt schon von und mit der Eltern-Kind-, ja zuerst und zumal mit der Mutter-Kind-Beziehung: Wir projizieren positive Aspekte wie auch negative. Und ich glaube, bei diesem Ursprungsmythos, der sich im Hintergrund aufbaut, als wäre eigentlich alles Wesentliche auf ihm aufgebaut, ist es so (oder scheint es so zu sein), daß die Angst, von der Sie sprechen, gerade nicht als die eigene Angst wahrgenommen, sondern als Aggression an anderen bekämpft wird. LW: Vielleicht kann ich noch ergänzen: Ursprungsmythos, das ist ja nicht nur etwas, das in irgendwelchen heiligen Schriften steht oder im Kult praktiziert wird, sondern das ist viel elementarer. Das ist meine Anhänglichkeit an einen homogenen Raum. Ich will, daß das so bleibt, daß die Bäume so aussehen, daß die Frauen so aussehen, daß die Fahrzeuge so aussehen, daß die Häuser so aussehen. Da fühle ich mich da-

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heim und im Lot, denn das ist meine Heimat, und da gehöre ich hin. So, und nun kommt da eine Gruppe – oder komme ich zu ihr, gleichviel – von Menschen, die das alles gar nicht kennen und die ganz andere Formen des Ausdrucks, Umgangs usw., erstmal eine ganz andere Sprache und Lebensweise haben. Und das macht Angst. Und eben diese Angst wird, wie Renate mit Recht sagt, in Aggression verwandelt. Und schon haben wir es, das Problem. Und dann müssen wir natürlich überlegen und uns – nach der Goldenen Regel aller vernunftbegabten Lebewesen – sagen, daß wir den andern das, was wir von ihnen erwarten, auch selber zugestehen müssen. Und was sehen wir (so gleichsam mit den Augen der andern)? Ja, auch diese Fremden (die ja eigentlich hier daheim, und denen wir fremd sind, aber mit denen wir nun zusammen sind und uns vertragen wollen), die haben natürlich auch ihre eigenen eingefleischten Vorstellungen und Empfindlichkeiten, die hängen ja auch an ihren Bildern von einem homogenen Raum und finden gerade diese Homogenität durch uns (Heterogene, d.h. Von-woanders-her-Gekommene) erstmal auch mehr oder weniger gestört. Und da haben Sie dann das Problem auf beiden Seiten. (Das ist beim Sich-ins-Benehmen-Setzen zwischen Familien nicht anders als bei dem zwischen größeren Verbänden wie auch zwischen Sitten, Religionen und Kulturen.) F8: Danke, also wenn ich Sie richtig verstanden habe, meinten Sie ja, wie ich es auch verstehen würde, daß genau der eigene Ursprung, also Vater und Mutter und was da alles dahinter steht, daß das schon mal das erste Problem ist. Und die Sichtweisen, Einstellungen und Gesetze, die man da von zu Hause mitbekommt, eben die irgendwann auch zu hinterfragen und so nach und nach seinen eigenen Standpunkt und seinen eigenen Platz in der Welt zu finden, das ist ja vielleicht die größte Leistung, die man vollbringen muß in seinem Leben. [Es folgen verschiedene kontroverse Voten zu diesbezüglichen Spannungen, Auseinandersetzungen und Enthüllungen der rezenten und jüngeren Vergangenheit: Nachwehen der Franco-Diktatur in Spanien, Günther Grass als zeitkritischer Geist mit lange verschwiege-

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ner jugendlicher SS-Mitgliedschaft, geständige und aufgeflogene Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR u. a.] RH: Also wir sind mit einer permanenten Nicht-Aufarbeitung und einer permanenten Aufarbeitung beschäftigt. Ja, und so haben auch wir in unserem Modellprojekt versucht, geerbte historische – jetzt schon über neunzig Jahre oder noch länger währende – Spaltungen oder Polarisierungen eben anzugucken, zu analysieren und zu verstehen, in der Hoffnung – und das ist ja auch ein Stück weit gelungen –, daß darüber unsere Kursteilnehmerinnen miteinander noch mal anders ins Gespräch kommen können. Nämlich indem wir uns – wie Lorenz Wilkens gerade gesagt hat – die Frage stellten: Was ist das, woran ich hänge? Was möchte ich nicht aufgeben? Was würde mir fehlen bzw. was droht mir, wenn ich es aufgebe? Das war dann sehr erfahrungsbezogen, obwohl diese ‚Dialektik des Entspringens‘ ja ein philosophisches Modell ist. Aber man muß es eben in einer pädagogischen Arbeit in die Erfahrungsebene übersetzen, mit der wir es zu tun haben, und dabei tunlichst auch einschlägige Erkenntnisse der Ethnopsychoanalyse wie die von der Fremdenrepräsentanz berücksichtigen. F10: Interessant..., aber für mich als Europäisch-Südafrikaner in der zehnten Generation ist das natürlich schwierig, wenn ich sagen soll, wo genau meine Urgemeinschaft denn liegt. Ist das überhaupt eine reale, säkulare oder ein eher spirituelle, zugerechnete Gemeinschaft? Ist das in Afrika oder ist das in Europa? Das will ich jetzt aber nicht beantworten (müssen oder beantwortet haben), wollte vielmehr einen Sprung machen weg von der Türkei nach Amerika. Ich finde ja, dieser Konflikt, den wir hier besprechen, schwelt – heute im Westen wohl nicht mehr so stark als immer noch im islamischen Orient – im kleinen auch innerhalb jeder Person, natürlich erst recht dann im großen in der Gesellschaft, wo man in Amerika natürlich immer die Spaltung hat zwischen Traditionellen/Konservativen und Liberalen/Fortschrittlichen. Dort in den „States“, wo die indianischen Ureinwohner völlig marginalisiert sind, sind ja praktisch alle Migranten. Deswegen habe ich die Frage: Wo liegt denn für diese die Urgemeinschaft? Wo ist sie dann in solchem Fall – eben von Schmelztiegel oder „tossed salad“

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oder wie man das sonst noch nennt – zu suchen? Denn daraus – wenn wir Amerika, ich meine die USA, als Beispiel nehmen – wird doch nie und durch keine wie immer geartete Transformation eine neue einheitliche Community werden. Das ist meine Frage. Ist die Frage klar oder nicht? LW: Nun, eine Sache ist die Urgemeinschaft, eine andere Sache sind die Ursprungsmythen. Wenn Sie schon auf die USA zu sprechen kommen: In den Staaten, der sog. „Nation“, gibt es einen enormen, einen energischen Ausgangsmythos, und das ist der Ursprungsmythos von der Einwanderung der Reinen, der „Puritaner“, die ihren Namen von ihrer Reinheitsvorstellung haben. Denn was waren das für Ureinwanderer, die da als Pilgerväter nach Amerika kamen? Das waren die Nonconformists, also die in ihrem Mutterland nicht länger gelittenen Evangelisch-Reformierten, die Calvinisten aus England, die da in mehreren Wellen von unglaublich dramatischen Überfahrten nach Amerika auswanderten, das war der zweite Exodus, das war der zweite Auszug des Volkes Israel. Und der ist eben verbunden mit dieser calvinistischen, mit dieser puritanischen Ideologie. Puritanisch heißt ja: ich bestehe auf Reinheit. Und das ist ein ganz gutes Beispiel für das, was Tillich mit Ursprungsmythos meinte. Und der ist in den USA, egal ob konservativ oder progressiv, Republikaner oder Demokrat, welcher Farbe oder Ethnie oder Konfession auch immer, –– der ist weithin ungebrochen bis heute. F11: Letzter Kommentar zum Ursprungsmythos: Was mich sehr interessiert hat, war die Parallele, die Sie gemacht haben zu Atatürk, und wie er sich eigentlich dieses Ursprungsmythos bedient hat in politischer Absicht. Also nicht daß der Ursprungsmythos etwa nicht schon uralt ist und in uns drin ist, aber daß er auch politisch sich sozusagen bedienen läßt [sic!]. Und ein ähnliches Phänomen habe ich im Iran gesehen, wo auch der Schah des Irans sich dieses Ursprungsmythos bedient hat, indem er sich selbst in die Traditionslinie der alten, uralten Dynastien der Vorzeit, der Assyrer und Sumerer gestellt und damit auch das Land nach dem alten Persien neu identifiziert hat. Und wenn der Ursprungsmythos also im Konflikt steht, sagen wir mit anderen

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Mythen, religiösen oder ideologischen Vorstellungen oder anderen Wesenheiten, so wäre meine Frage: Tut oder kann er dann nicht vielleicht auch in gewisser Weise etwas auslösen, das wiederum zu einer Gegenbewegung, einer fundamentalistischen oder auch antifundamentalistischen (z. B. Islamisierung oder einer Bewegung, die zu ihr wiederum im Gegenzug steht) führt? Gibt es Überlegungen in diese Richtung, vielleicht auch schon bei Ihnen? F12: Das finde ich eine sehr gute Anregung, und überhaupt den Vortrag und die eine oder andere Intervention fand ich sehr gut. Ich spreche als Kinderpsychiater und jungianischer Analytiker und bin ziemlich viel in Osteuropa unterwegs. Zum Beispiel hatten wir vor acht Jahren eine Tagung in Frankfurt an der Oder, Talking about history, mit deutschen, englischen, russischen und polnischen Analytikern. Das war unglaublich interessant zu sehen, wie diese Ursprungsmythen – wir nennen es kulturelle Komplexe –, wie das einander komplementär ist, ganz, ganz erstaunlich: teilweise identisch, teilweise komplementär. Und diese Komplexe werden natürlich auch benutzt. Ob das jetzt Hitler war, der da sich auf irgendwas berufen hat als Gründungsmythos (was vielleicht auch erst jüngst erfunden worden ist, so wie zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain oder dann im zwanzigsten Der Mythus des 20. Jahrhunderts von Alfred Rosenberg). Oder indem Obama zum Beispiel vermieden hat, bei seiner ersten Wahl in diese Fettnäpfchen (dort nun „afrikanische Wurzeln“ oder Verkörperung der endlich erfolgreichen Verbindung von Weiß und Schwarz o. ä.) zu treten, weswegen er bei seinem Wahlvolk immer noch einen ganz guten Rückhalt hat (weil er sich auf diese Fallen gerade nicht eingelassen hat). Und heute noch erleben wir es ja täglich, wie in der Presse und den Medien unsere Politiker populistisch mit ganz gefährlichen Sachen herumwerfen und olle Kamellen wieder aufwärmen. Und das hat irgendwas mit diesem Heimatgefühl zu tun, diesem Ursprungsmythos, den man irgendwie wohl braucht, was sich aber mit der anderen Perspektive auf Zukunft und Demokratie ja nicht unbedingt so gut verträgt. Und wir müssen, denke ich, als Individuen da immer eine Ent-

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scheidung treffen. Das geht ja vom Politischen und der bürgerlichen Verantwortung bis in tägliche Dinge und Rituale hinein (etwa: wie feiert man Weihnachten oder den Geburtstag?). F13: Ich habe noch eine Frage, die in eine ganz andere Richtung zielt, weil ich am Deutschen Jugendinstitut arbeite und mich da mit pädagogischen Projekten auseinandersetze, die mit jungen Menschen arbeiten oder auch mit Eltern. Vor diesem Hintergrund würde mich noch näher interessieren, wie das zuging, was Sie vorhin erzählt haben: daß Sie in der Arbeit mit den Frauen auch mit fiktiven Figuren operiert haben, mit dem jungen Paar Mine und Cemil, nicht wahr? Und so wollte ich gerne fragen, ob Sie das mal etwas konkret machen können: Erstens dahin gehend, wie Sie das konkret gestaltet haben, welche Themen Sie da abgehandelt oder auch inszeniert haben. Das war so das erste, und das zweite: Sie hatten erzählt, daß die Frauen die Geschichte auch mitentwickelt haben. Nun würde mich einfach interessieren, wie und was da entstanden ist. RH: Wir hatten zum Beginn der Geschichte eine Sitzung angesetzt über Mine mit ihren Eltern Mesut und Hanna. Thematisieren wollten wir dabei folgende Frage: Was passiert, wenn ein junges Paar sich kennenlernt – beide noch in der Spät-Adoleszenz, also um die 25 – was passiert da? Das erste Problem, das wir beleuchtet haben: Wie lief die Ablösung Mines von ihren Eltern? und wie auf der andern Seite die Ablösung von den Eltern bei Cemil? Zu welchen Spannungen und Konflikten kam es da? Als Modell oder als theoretische Figuren für dieses Problemfeld hatten wir im Hinterkopf das Konzept des Ethnoanalytikers Mario Erdheim von den drei unterschiedlichen Adoleszenztypen mit ihren entsprechenden Ablösungsschwierigkeiten, die es da gibt, nämlich einmal von der ‚zerbrochenen Adoleszenz‘, zum andern von der ‚eingefrorenen Adoleszenz‘ und drittens von der ‚ausgebrannten Adoleszenz‘. Ohne jetzt näher ausführen zu wollen, worin diese Adoleszenztypen bestehen und wie wir sie unseren Figuren zugeordnet haben, sah es hier so aus: Mine, immer vorne weg, war bis zu ihrer Schwangerschaft eine erfolgreiche Leistungsschwimmerin und hat zusätzlich noch ein erziehungswissenschaftliches Studium in der

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Mache. Cemil war vom Typ her etwas zurückhaltender; er hat sein begonnenes Medizinstudium bereits abgebrochen. Ursprünglich wollte er auch gar nicht Medizin studieren, hatte es aber gewählt, weil sein Vater das wollte. Und jetzt haben die beiden sich getroffen und sind ein tolles Paar. Mine sammelte weiter Titel im Schwimmen, Cemil hat zu Hause gekocht und sie gern begleitet, hat parallel aber angefangen, Computerprogramme zu entwickeln, so daß er auch irgendwie so langsam selbständig wurde. Und eines schönen Tages war Mine schwanger. Und wir haben mit den Kursteilnehmerinnen überlegt, wie die beiden das wohl aufnehmen. Gut, sie wollen das Kind haben, weil sie sich lieben. Aber setzt das nicht auch Ängste? Bei Mine etwa die Vorstellung, ich werde vielleicht nie mehr Leistungssport betreiben können oder so? Also was geht in Mine vor? Und was geht in Cemil vor? Wir haben die Kursteilnehmerinnen das phantasieren lassen. Und wir hatten immer auch selber mögliche Entwicklungsszenarien im Kopf. Zum Beispiel wollten wir auf keinen Fall, daß diese Beziehung zu früh scheitert. Wir haben als Wunschziel vorgegeben: Dieses Paar hält durch und wird einmal selber Enkelkinder haben! Wir wollten dem bedrohlichen Hintergrund, daß bei uns so viele Scheidungen vorkommen, nicht zu viel Raum geben. Und was wir dafür zurückbekommen haben, waren die Phantasien der Frauen, wie die beiden ihre Konflikte lösen könnten. So haben wir das mit allen auftauchenden neuen Fragen gemacht: Wie geht es mit dem „Stillen“ des Babys Aycan Benjamin? Inwieweit greifen die Großeltern ein? Was nimmt man von ihnen auf, und wo gibt es Differenzen? Wie geht der Vater von Cemil damit um, und wie soll er damit klarkommen, daß der Sohn plötzlich so ganz eigene Wege geht? Wir haben auch solche Sachen thematisiert wie die einengenden Vorstellungen von Eltern oder Einflußnahmen von Großeltern, die eigentlich ihre eigenen Wünsche in ihren Kindern oder Kindeskindern erfüllen wollen. Und zwar haben wir einfach den Raum dafür geöffnet, daß möglichst alles Wichtige zur Sprache gebracht werden konnte. Und das waren unsere besten Kurse. So weit, so gut. Jetzt habe ich weit ausgeholt, und wir haben doch nicht so viel Zeit. Hoffentlich werden Sie die Geschichte bald nachlesen können in unse-

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rem geplanten Manual über ein interkulturelles Paar in guter Hoffnung: „Mine und Cemil. – Eine Geschichte von und für (werdende) Eltern“. F14: Wir können das, was ich zu sagen habe, auch auf später verschieben, wenn es jetzt zu viel wird. Also gut, dann doch. Ich lebe schon über 30 Jahre in Deutschland, komme ursprünglich aus Polen, und fühlte mich lange in Berlin ganz wohl. Und ich habe auch niemals das Gefühl gehabt, daß ich hier nicht willkommen bin – bis ich vor kurzem eine Umschulung gemacht habe zur pädagogischen Fachkraft als Kindererzieherin. Dazu habe ich ein dreimonatiges Praktikum absolvieren müssen und kam in eine KiTa mit Kindern aus gemischten Nationalitäten. Die Eltern waren so zufrieden mit meiner Arbeit, daß sie sich entschlossen haben, mich einfach zu übernehmen. Das hat mich unheimlich gefreut; aber die Sache ging schief, und wenn ich darüber rede, kommen mir immer noch die Tränen. Ich kam mit der neuen Leiterin, die dann kam, einfach beim besten Willen nicht zurecht. Alle haben erst gedacht: junge Kraft kommt und bringt Schwung in die KiTa. Leider ist das alles nach hinten los gegangen; und das war der Grund, daß ich, wie soll ich das sagen?, das erste Mal nach so vielen Jahren, wieder angefangen habe, Angst zu haben, in Deutschland zu sein, – denn sie hat diese ausländischen Kinder so schrecklich behandelt, die Kinder haben manchmal aus Angst eingepullert, und weil ich mich so viel um sie gekümmert habe und sie trösten wollte, wurde ich entlassen. (Tränenausbruch, und unter Schluchzen nur noch:) Entschuldigung. Und ich habe eine Frage: Wenn man diesen Beruf lernt, was soll man da besser machen, daß man diesen Haß nicht mehr findet? RH: Ja, Sie sprechen einen sehr wichtigen Aspekt an. Ich habe ja schon in meinem Vortrag die Notwendigkeit betont, auch in Institutionen die Fähigkeit auszubilden, mit solchen und ähnlichen Konflikten konstruktiv umzugehen, das heißt zu lernen, wie man die Interessen und Bedürfnisse aller angemessen berücksichtigen kann, ohne jemanden zum Sündenbock zu machen. Und wie Sie diesen Fall beschreiben, kann man nur vermuten, daß die neue junge KiTa-Leiterin erstmal selber supervisorische Hilfe gebraucht hätte, eine, die den Beteiligten

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Hilfestellung geboten oder wenigstens vermittelt hätte – um zu gucken: Was ist da los? Was überfordert sie? Warum kommt es zu einer solchen Ablehnung? Und ansonsten denke ich: Wenn jemand feststellt, daß Kinder Angstzustände kriegen aufgrund des Verhaltens von Erzieher(inne)n, dann gibt es eine KiTa-Aufsicht, und die würde ich auch einklagen wollen. Wir stehen unter einem staatlichen Schutz, und den muß man auch in Anspruch nehmen in Fällen, wo es Grenzüberschreitungen oder Rassismus oder Ausgrenzung gibt. Soviel aufs Geratewohl auf diesen Schreck. Aber ich glaube, wir haben nun wirklich eine Pause verdient: eine Viertelstunde, die nehmen wir uns jetzt.

Rêverie – Von dem Versuch, Ambivalenzspannung in Familie, Gesellschaft und Religion aushalten zu lernen L ORENZ W ILKENS

Während der inhaltlichen und methodischen Überlegungen des Modellprojekts „Konfliktkultur“ wuchs dem Begriff der Rêverie allmählich eine Schlüsselrolle zu. Ich möchte im folgenden darlegen, was wir darunter verstehen – woher der Begriff kommt und worin die Verbindlichkeit liegt, die er in unserer Arbeit angenommen hat. Das Wort Rêverie ist französisch, es kommt von rêve – der Traum; rêverie ist die Träumerei, ein Zustand ungebundenen, ungezielten Nachdenkens, in dem Wahrnehmungen und Erinnerungen ineinander fließen. In diesem Sinne begegnet das Wort auch in der englischen Sprache. Wahrnehmungen und Erinnerungen werden durch die Rêverie eher assoziativ als logisch miteinander verbunden. Die mit den Erinnerungen verbundenen Gefühle werden nachempfunden; manchmal führt ihre Verknüpfung mit der Gegenwart dazu, daß man an ihnen neue valeurs entdeckt. Die Rêverie ist vom pragmatischen Denken ebenso unterschieden wie von thematischer Reflexion. Ihr Gelingen drückt sich nicht in einem Ergebnis aus, das man von ihr ablösen und für sich

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definieren könnte. Ihr Gelingen ist Entspannung, darin Wiederherstellung der affektiven und intellektuellen Energien. Wir widmen unseren Alltag dem auf Ziele und Zwecke bezogenen Handeln. Wir würden ihn aber nicht durchstehen, wenn dies Handeln – Arbeit und Verkehr – nicht durch Augenblicke der Entspannung unterbrochen würde, Augenblicke, in denen das Bewußtsein von Ziel und Zweck abschweift und die Gedanken sich in einem unbestimmten Raum auflösen. Dann stellt sich unwillkürlich die Rêverie ein, der träumerisch gelöste Zustand des Bewußtseins. Er führt uns leicht dahin, daß wir die Gegenwart einer geliebten Person vorwegnehmen. Und er erinnert uns – lockend und mahnend – an unser Vermögen der Selbstbesinnung, des Zu-sich-Kommens. Nun hat der britische Psychoanalytiker Wilfred R. Bion (1897 1979) in seiner psychoanalytischen Theorie der Entwicklung des Bewußtseins dem Begriff der Reverie entscheidende Bedeutung zugewiesen.1 Ich zitiere die Zusammenfassung aus dem „Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse“ von Robert D. Hinshelwood2: „Mit dem Begriff der ‚Reverie‘, träumerisches Ahnungsvermögen oder träumerische Gelöstheit, bezeichnete Bion (1962) einen psychischen Zustand der Mutter, auf den der Säugling angewiesen ist. Die Mutter muß sich in einem Zustand ruhiger Aufnahmefähigkeit befinden, um die Gefühle des Säuglings in sich aufnehmen und ihnen Sinn geben zu können. Bion nahm an, daß der Säugling durch projektive Identifizierung eine für ihn nicht verstehbare und unerträgliche Angst und Panik (insbesondere die Angst zu sterben) in die Mutter hineinverlegt. Das träumerische Ahnungsvermögen der Mutter ist ein Prozeß, in dem sie dem Säugling ein gewisses Verständnis für diesen Zustand

1

Wilfred R. Bion. A Theory of Thinking. International Journal of PsychoAnalysis 43 (1962), S. 306 - 310. Erneut veröffentlicht in W. R. Bion, Second Thoughts. London 1967, S. 110 - 119. Siehe auch ders., Learning from Experience. London 1962, S. 36f.

2

Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Vorspohl. 2. Aufl. Stuttgart 1991, S. 593.

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vermittelt, eine Funktion, die Bion als Alpha-Funktion bezeichnet. Indem der Säugling eine aufnahmefähige, verständnisvolle Mutter introjiziert, kann er selbst die Fähigkeit entwickeln, seinen innerlichen Zuständen Bedeutung zu geben.“

Stellen Sie sich also, bitte, eine junge Mutter vor, die eben ihr Kind an die Brust gelegt hat. Sie weiß nicht, wie lange das Stillen dauern wird. Sie ist aus der Zeit-Einteilung, der Zeit-Ökonomie hinausgetreten. Ihre Gedanken zielen auf keine bestimmte Sache und halten keine fest. Sie „arbeitet“ nicht. Allerhand Erinnerungen ziehen ihr durch den Kopf mit den daran hängenden Gefühlen. In die Freude an dem Kind mischen sich Alltags-Fragen und -Sorgen und verbinden sich mit ihr zu einer – sei es auch leicht elegisch getönten – Atmosphäre allgemeinen Wohlseins. Es ist ein Zustand offenen, unfixierten Bewußtseins. Ihre hin und her fließenden Gedanken werden von dem Gefühl des kindlichen Saugens begleitet. Es geschieht, daß es durch einen Biß unterbrochen oder durch eine ruckartige Bewegung und einen Schrei beendet wird. Die Mutter beantwortet beides mit Zärtlichkeit. Sie nimmt das Kind in die Arme, sucht mit ihrem Blick liebevoll seine Augen auf und redet ihm begütigend zu. Es ist der Augenblick, in dem die Reverie sich bewährt. Die Mutter fühlt die Angst und Aggression des Kindes und gibt sie ihm verwandelt – man könnte sagen: ‚entgiftet‘ – zurück. Dadurch entsteht in ihm die Ahnung, daß sie nicht alles sind, und darin der Impuls, sie in Gedanken zu verwandeln. Auf diese Weise äußert sich die Energie, die von Bion nüchtern genug als AlphaFunktion bezeichnet und als Element gesunder psychischer Entwicklung erkannt wurde. Und nun zu der Annahme über die Reverie, der wir in unserem Konzept von „Konfliktkultur“ zentrale Bedeutung zuerkannt haben: Die Reverie ist nicht auf das Verhältnis und Zusammenspiel zwischen Mutter und Säugling beschränkt; und so wird es auch ihre heilsame, sozusagen entgiftende Wirkung nicht sein. Wenn wir darauf achten, wie sie uns in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens begegnet, so kommen wir bald mit dem Umstand in Verbindung, daß

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darin einige Institutionen vorhanden sind, in denen die Reverie nicht nur unwesentlich beiherspielt, sondern zu den zentralen Zwecken gehört. Ich nenne drei solcher Institutionen: den Markt, die Künste (vor allem Musik und Dichtung), die Religionen. Zu 1) Ich betrete den Wochenmarkt der holsteinischen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Viele Stände auf engem Raum, viele Menschen drängen durcheinander, viel Unruhe. Man hat wenig Zeit, man ist auf der Hut vor zu hohen Preisforderungen; man wird sich nicht übers Ohr hauen lassen. Da sehe ich am Rande des Platzes zwei Alte in ruhiger Betrachtung der Lage. Ihr Gespräch wird durch lange Pausen unterbrochen. Der eine sagt zu dem anderen: „Minsch, wat’n Lüüd!“ Das heißt auf hochdeutsch: „Mensch, was für Menschen – wie viele!“ Der andere schweigt bestätigend – Reverie. Sie setzen der zielstrebigen, leicht paranoiden und nervösen Aktivität der Käufer und Händler eine Nachdenklichkeit entgegen, die sich ungezielt ausbreitet. Sie nehmen die sich drängende Masse ohne Scheuklappen wahr; aber sie sind – wohl eben deshalb – von deren Unruhe frei. Sie behalten das Ganze im Blick; so können sie die Öffentlichkeit des Marktes repräsentieren. – Jahre später komme ich nach Rom. Ich logiere in der Nähe der Piazza S. Apollonia in Trastevere. Ich betrete morgens um 9 Uhr den Platz. Er ist noch fast leer. Dann sehe ich wieder zwei Alte, für einen Augenblick glaube ich, es seien dieselben wie damals in meiner Heimatstadt. Sie kommen aus einer Seitengasse und setzen sich umständlich und behutsam, mit langsamen Bewegungen, als wandelten sie im Schlaf, auf Stühle eines der am Rande des Platzes gelegenen Cafés. Der Tag kann beginnen – die Repräsentanten des Marktes, die Garanten seiner Institution sind da. Ihr ruhiger Überblick ist – als Café – selbst zur Institution geworden. Zu 2) Musik und Malerei: Es gibt ein Klavierstück von Robert Schumann namens „Träumerei“ – Reverie; es gehört zu dem Klavierzyklus „Kinderszenen“ (von 1838); es trägt die Nummer 7, befindet sich also genau in dessen Mitte. Meine Damen und Herren, ich muß gestehen, es war die Identität dieses Titels mit dem von Bion in die psychoanalytische Theorie eingeführten Begriff, die uns den entschei-

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denden Wink gab, seine Beschreibung des heilsamen Zusammenspiels zwischen der Angst und Aggression des Kindes und der gelösten Nachdenklichkeit seiner Mutter auf gesellschaftliche Institutionen zu übertragen, namentlich die Künste und die Religionen. – Das Stück trägt seinen Namen zu Recht: Wie unschlüssig tastend geht die Oberstimme die Stufen des Dur-Akkords hinauf, will darnach auf der Tonleiter zurückkehren. Dabei widerfährt ihm, wie erratisch, ein Sprung bis fast zurück zum Ausgangspunkt, dem Grundton. Er verfehlt ihn um einen Ton. Das Spiel muß neu beginnen. Dabei fällt der Aufstieg nun zu hoch aus; er endet in einem Sprung um sechs Töne hinauf und kommt somit eine Terz höher, als er soll – zwei Töne über die Oktave hinaus. Diese Verfehlungen mögen auf das Konto der Gelöstheit, der ungezielten Bewegung, gehen. Der zuletzt erwähnte Sprung führt aber zu einem Akkord von unvermittelt großem Umfang – mehr als drei Oktaven –, ohne ihm die Mittel an die Hand zu geben, in das symphonische Pathos überzugehen, den ihm sein Umfang nahe legt. Er verfällt darauf, die Baßstimme ebenfalls um zehn Töne (eine Oktave und eine Terz) zu sich hinaufziehen, welche freilich dadurch in die Region einer anderen Tonart gerät (die Dominante immerhin der parallelen Molltonart). Diese wie unfreiwillige Dramatik – es scheint sich um einen plötzlichen Anflug begeisterter Emphase zu handeln – versetzt das Bewußtsein in einen anderen Zustand: Wenn es derart, nach außen drängend, seine Stärke zeigt, muß es auch Schmerztöne ertragen können. Sie kommen wie aus seinem Inneren und doch wie fremd: Im siebenten Takt des Stücks begegnet zweimal ein Abstieg um nur einen halben Ton, einmal in der oberen Mittelstimme, darnach – imitatorisch – in der zu moderater Lage zurückgekehrten Oberstimme. Hier erscheint – ertönt – die Nähe dieser Musik zu dem von Bion als Reverie bezeichneten Zustand der Mutter mit ihrem Kind: Der Schmerzton, der fremde Ton, kommt wie von innen. Doch kommt er von demselben Subjekt? Anscheinend nicht, denn er wird von diesem wie durch ein Echo bestätigt, durch Versetzung um eine Quinte höher verstärkt, damit aber zugleich als Schritt zu der beruhigten Region der Schlußkadenz gebraucht und mithin gewissermaßen ‚entgiftet‘. Ein Dialog

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zwischen dem unwillkürlichen, unscheinbaren Schmerzlaut und dem seine Wahrnehmung bestätigenden, ihn annehmenden und teilenden Bewußtsein ist erreicht.3 Und nun unsere Überraschung: Nachdem wir das Stück den Teilnehmerinnen des Kurses zweimal vorgespielt hatten, stellte sich heraus, daß sie alle – auch die Migrantinnen unter ihnen – es kannten. Einige von letzteren benutzten Aufnahmen davon, um ihren kleinen Kindern in den Schlaf zu helfen. Die folgende Diskussion hinterließ jedoch in uns die Frage, ob wir es vermocht hatten, sie mit dem Klavierstück auf jene Interaktion aufmerksam zu machen, die nach Bions Auffassung für die Reverie charakteristisch ist, oder ob ihnen nur an seiner entspannenden, beruhigenden Wirkung gelegen war. Wir entschlossen uns daher, in einer weiteren Sitzung auf das Thema der Reverie zu sprechen zu kommen – diesmal mit Hilfe von drei Bildern: einer jungen Frau mit Kind von Auguste Renoir, einer byzantinischen Madonna mit Kind, einer sehr jugendlichen Frau, die sich mit innigzartem Ausdruck über ihr Kind beugt; die Köpfe von Mutter und Kind von funkelnd goldenem Nimbus umfangen –, und der sog. „Madonna degli Alberetti“ (‚Madonna mit den Bäumchen‘) von Giovanni Bellini (1487). In diesem Bild hat der Maler die bezeichnete dialektische Natur der Reverie unzweideutig hervorgehoben: Maria thront zwar in entspannt-aufrechter Haltung vor dem grünen Vorhang, den sie – wie Christus – vom Ritual des römischen Kaisers übernommen hat. Ihr Ausdruck ist gelöst, leicht melancholisch. Doch ihr Kopf ist etwas nach rechts geneigt, und die Augen sind – anders als das ikonologische Decorum verlangt – gesenkt und – anders als ihr Kopf – nach links gerichtet — zum Kind. Hier mischt sich – sei es auch nur momentan, in diesem Augenblick – Sorge in die von dem Bildtypus geforderte repräsentative Nachdenklichkeit. Die Mischung aber entspricht ganz der

3

Siehe auch Hans Pfitzner, Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. In: ders., Ges. Schriften Bd. II. Augsburg 1926, S. 189f.; sowie: Alban Berg, Die musikalische Impotenz der „Neuen Ästhetik“ Hans Pfitzners. In: Musikblätter des Anbruchs. Jg. 02, Wien 1920. S. 399ff.

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Art, wie Bion die Reverie beschreibt. Einige Teilnehmerinnen erkannten denn auch in dem Bild Bellinis ihre eigene mütterliche Erfahrung deutlicher wieder als in Schumanns „Träumerei“. Andere hingegen zog es am meisten zu der jungen byzantinischen Madonna, dafür war der Eindruck einer geradezu symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Kind verantwortlich. Zu 3) den Religionen: Die Reflexion auf die Bedeutung, die der Reverie in den Religionen zukommt, kann tunlich mit der folgenden Frage beginnen: Was hat es damit auf sich, daß die Kulträume der Religionen – Moscheen wie Synagogen und Kirchen, betont natürlich auch buddhistische Tempel – unverkennbar meditativen Charakter und Zweck haben, in den Konflikten zwischen den Religionen jedoch Reverie und Empathie häufig, man muß fast sagen: regelmäßig ohne Bedeutung sind und geradezu aus ihnen verbannt scheinen? Wie kommt es, daß man in dem Kultraum der eigenen Religion Reverie, gelöstes, assoziatives Nachdenken findet, nur um es draußen der anderen Religion gänzlich abzusprechen? Man möchte antworten, die Menschen suchten in ihren Kulträumen nicht sowohl Reverie als vielmehr kindliche Geborgenheit; die Religion sei in Wahrheit eine Sache kindlicher Regression. So müsse es nicht verwundern, daß mit dem kindlichen Frieden auch die kindlichen Konfliktformen und ihre Begleitumstände wiederkehrten: kindliche Verlassenheits- und Todesangst, projektive Identifizierung und also nicht- relativierbare Angst vor Fremden, moralische Schwarzweißmalerei: entweder unbedingt gut oder unbedingt böse, es gibt kein Drittes. Wenn die Religion als Mutter gilt, sind die Gläubigen nicht selbst Mütter, sondern ihre Kinder. Sie suchen in ihren Kulträumen die Rückkehr in ihre Kindheit mit der Möglichkeit der Regeneration kindlicher Lebenskraft und Phantasie. Meine Damen und Herren, so sehr diese Diagnose unseren Eindrücken und Erfahrungen mit der Religion entgegenkommen mag – sie ist am Ende doch nicht gründlich genug und daher auch nicht wahr. Denken Sie nur an das gemeinsame Erbe der drei monotheistischen Religionen – die Prophetie. Es ist anti-autoritär: Da sind in der Zeit des Alten Israel Männer aufgestanden und haben gegen die Ungerechtig-

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keiten protestiert, die aus der Einführung der Monarchie und, damit verbunden, des Landadels entstanden waren.4 Einige von den Propheten – man denke besonders an Elia – haben es gewagt, selbst dem Könige die Stirn zu bieten im Namen des Herrn, ihres Gottes.5 Auch die Anfänge der Wirksamkeit des Propheten Mohammed, der den Muslimen sprichwörtlich als d e r Prophet gilt, standen im Zeichen des Protests – gegen die Ungerechtigkeit und Korruption der die Stadt Mekka beherrschenden gens der Qoraisch, zu der er selbst gehörte. Übrigens verehren zwar die Christen, nicht aber die Juden und Muslime ihren Gott als Vater. (Es verdient bemerkt zu werden, daß Freud in seiner Religionskritik, der Theorie vom Urvater und seiner Horde, dargelegt in „Totem und Tabu“6 sowie den Essays über den „Mann Mose“7, auf diesen Umstand nicht eingeht.) Gott ist Schöpfer, aber nicht Vater – er zeugt nicht. Aus diesen Umständen folgt für die Atmosphäre der Verehrung Gottes, daß sie nicht in symbiotischen Phantasien aufgehen kann, sondern das Bewußtsein der gesellschaftlichen Differenzen und mithin der Ungerechtigkeit enthalten muß. Wenn sie es dennoch ausschließt, hat der Protest dagegen nicht nur die Aufklärung, sondern auch die gründlicher verstandenen religiösen Traditionen selbst auf seiner Seite. Demnach können wir nun eine Analogie zwischen der religiösen Atmosphäre und der Reverie erkennen: Die Begegnung mit Gott schließt das Bewußtsein der gesellschaftlichen Realität nicht aus, sondern verlangt es im Gegenteil. Dazu gehören die Empfindungen der

4

Vgl. Frank Crüsemann, Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive. München 1983.

5 6

Vgl. besonders die Geschichte von Naboths Weinberg, I Kön. 21. Sigmund Freud, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. (1913). In: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud u. a., Band 9. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1999.

7

Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1937 - 1939). In: Gesammelte Werke a. a. O., Band 16.

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Schuld und des Schmerzes über zugefügte und erlittene Kränkung, Verkennung und Ungerechtigkeit. Sie können gehalten werden, sie sollen gehalten werden um der Möglichkeit ihrer Entgiftung willen – Entgiftung durch Gott, den Richter und Erbarmer. Ich kenne keine Formulierung, die dies Zugleich von Richter und Erbarmer deutlicher ausdrücken würde als die Begründung des – für Juden und Muslime, aber auch für den Calvinismus verbindlichen – Bilderverbots in dem biblischen Buch Exodus: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Vorfahren heimsucht an den Nachkommen bis in die dritte und vierte Generation, bei denen, die mich hassen, der aber Gnade erweist tausend Generationen, bei denen, die mich lieben und meine Gebote halten.“ (Ex 20, 5f.) Man beachte die Asymmetrie, das Ungleichgewicht zwischen Verfolgung der Schuld und Gnade, Huld: Verfolgung bis zur dritten und vierten Generation, Gnade für tausend. Man möchte darin die Lineatur der Reverie wiederfinden: In Habitus und Umfang überwiegt die Gnade, die Huld – das hebräische Wort chesed bedeutet eigentlich Liebreiz, Grazie8 –, man kann also sagen: In Habitus und Umfang überwiegt der Lebensreiz, wie ihn die Mutter in der Reverie verkörpert; doch der Lebensreiz ist an Offenheit gebunden, daher kann und will er die Aufmerksamkeit auf Unrecht und Leid nicht aus sich ausschließen. Es zeigt sich überraschend, daß die Atmosphäre der Gottesverehrung mit der Reverie als Element des allgemeinen Bewußtseins von der Realität übereinkommt: Darin ist die Kraft des Haltens, des holding9, mit der Anweisung auf

8

Siehe Wilhelm Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. 10., verbesserte und vermehrte Auflage bearbeitet von F. Mühlau und W. Volck. Leipzig 1887, art. chesed.

9

Vgl. Donald W. Winnicott, Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums. Aus dem Englischen übersetzt von Irmela Köstlin, Stuttgart 1990, und darin insbesondere: Verschiedene Formen der Therapie (1961), S. 117: „Einen großen Teil dessen, was eine Mutter mit ihrem Kind tut, könnte man als ‚Halten‘ bezeichnen. Nicht nur das ganz konkrete Halten des Kindes ist sehr wichtig und eine delikate

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intellektuelles wie emotionales Wachstum und intellektuelle Freiheit verbunden. Meine Damen und Herren, nun sollte man meinen, wenn die Prophetie, das gemeinsame Erbe der monotheistischen Religionen, den ihnen eigenen Habitus zur Reverie bestimmt, und wenn es sich bei der Prophetie wirklich um ihr gemeinsames Erbe handelt, so müßte es möglich, es sollte geradezu geboten sein, daß sie in gemeinsamer Reverie die Grenzen, die sie voneinander trennen, überschreiten. Wenn es sich aber so verhält, wie kommt es dann, daß sich in Geschichte und Gegenwart dieser Religionen weithin das Gegenteil behauptet – das Schema einer unüberbrückbaren Fremdheit und selbst Feindschaft zwischen ihnen? Offenbar ist die Reverie in den Religionen kein unproblematisch verfügbarer Besitz; sie scheint vielfach gefährdet zu sein, vielleicht prinzipiell gefährdet. Indessen ist sie auch in der Mutter nicht ohne weiteres vorhanden, nicht ohne weiteres abrufbar. Sie ist auch in ihr gefährdet. Dazu zitiere ich erneut aus Hinshelwoods „Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse“: „Ein Zustand, in dem die Mutter ihrer Funktion des träumerischen Ahnungsvermögens nicht hinreichend gerecht werden kann, mag verschiedene Ursachen haben:

Sache, die nur von den richtigen Leuten empfindsam getan werden kann, sondern ein großer Teil der Versorgung des Kindes insgesamt gehört zu der sich stetig erweiternden Interpretation des Wortes ‚Halten‘. Halten bedeutet schließlich jegliche Form körperlichen Kontakts, soweit er den Bedürfnissen des Kindes angepaßt ist. Nach und nach lernt das Kind es schätzen, wenn es losgelassen wird, und so ist es auch mit der Vermittlung des Realitätsprinzips, das zunächst mit dem Lustprinzip zusammenstößt (Omnipotenz wird aufgehoben). Die Familie setzt dieses Halten fort; die Gesellschaft hält die Familie.“ Siehe dazu auch: Caroline Neubaur, Übergänge. Spiel und Realität in der Psychoanalyse Donald W. Winnicotts. Frankfurt a. M. (Athenäum) 1987.

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1)

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Das unzulängliche äußere Objekt: Die Mutter kann innerlich mit anderen Sorgen vollauf beschäftigt und infolgedessen für den Säugling nicht präsent sein. Der psychische Zustand der Mutter stellt für den Säugling also einen wichtigen Aspekt der äußeren Welt dar.

2)

Neid: Unter Umständen greift der Säugling die Container-Funktion, von der er abhängig ist, an und beschränkt auf diese Weise seine Möglichkeiten, ein gutes und verständnisvolles Objekt zu introjizieren.

3)

Der Container, der Bedeutung zunichte macht: Der Säugling kann über einen anomal hohen Neidanteil verfügen; wenn dieser in das Objekt projiziert wird, verwandelt der Säugling es in seiner Phantasie in einen neidischen Container, der seine Projektionen jeder Bedeutung beraubt.

4)

Unbegrenzte Projektionen: Unter Umständen ist die Mutter ein fragiler Container der Projektionen, so daß sie unter der Gewalt der omnipotenten projektiven Identifizierungen des Säuglings zusammenbricht. [...]“10

Und nun zwingt uns die Erfahrung zu der Annahme, daß die Reverie auch im Verhältnis zwischen der religiösen Institution und ihren Mitgliedern Belastungen ausgesetzt ist, die den von Hinshelwood angeführten ähnlich sind. Setzen Sie nur für die Mutter die Institution ein – und Sie werden unschwer erkennen, daß auch sie von diesen vier Arten von Belastungen betroffen ist, oftmals stärker noch, sozusagen systemischer als die Mutter selbst: Die Institution ist unzulänglich und zu sehr mit anderen Sorgen beschäftigt; einzelne Mitglieder der Religionsgemeinschaft oder ganze Gruppen greifen sie an – mit Recht oder aus Neid auf die in ihr enthaltene Lebensfülle; die Institution versagt, sie wird entstellt, verzerrt, sie verhärtet sich angesichts der Massivität der gegen sie gerichteten Projektionen. Bei allem spielt immer die Frage mit, was denn die Institution eigentlich sei und zu sein habe, welche Formen des Handelns und der Selbstdarstellung sie mit Recht beanspruche, welche nicht, endlich und vor allem: wer sie repräsentieren dürfe, wer nicht. Die Mutter ist unzweifelhaft physisch gegeben; die Institution hingegen – wer ist das? Sie ist nicht physisch gegeben, sie

10 Hinshelwood a. a. O., S. 593f.

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ist nur, indem sie repräsentiert wird. Und die Repräsentation muß anerkannt werden. Dazu genügt es nicht, daß ihre Formen sich gleichbleiben und auch in Zeiten gesellschaftlichen Wandels wiedererkennbar sind. Denn die Repräsentanten müssen nicht nur die Institution gegenüber den Gläubigen vertreten, sondern auch diese gegenüber der Institution. Mit einem Wort, sie müssen vermitteln. Und dies Erfordernis bringt uns wieder zur Reverie zurück, der Spannung zwischen dem von den Repräsentanten auszuübenden holding, ihrer gelösten Präsenz einerseits, und ihrer Aufmerksamkeit auf Angst, Schmerz und Aggression der Gläubigen andererseits. Wir sehen, eben die Überlegung, mit der wir uns die Schwierigkeiten klar machen, denen die Reverie in der religiösen Institution ausgesetzt ist, bringt uns am Ende zu ihrer Notwendigkeit zurück. Wie aber könnte die Fähigkeit, die die Reverie charakterisierende Spannung zu halten, besser ausgebildet und gefördert werden als durch Kommunikation mit den Fremden – fremden Priestern und Laien? Diesen beiden Gruppen kommt – besonders in Verhältnissen religiöser Pluralität, darin oft auch außerhalb der eingespielten Formen und Legitimationen – die Aufgabe zu, ihre Institution zu repräsentieren. Diese Konklusion macht vollends klar, daß die Reverie auch und besonders in jenem Teil eines Kurses zur Konfliktkultur zuständig ist, der sich mit der Begegnung der Religionen und der Auseinandersetzung zwischen ihnen befaßt. Wir hatten dabei mit der Schwierigkeit zu tun, daß die Gruppe der Migrantinnen unter unseren Teilnehmerinnen geteilt war: Vier von ihnen waren religiös wo nicht unmusikalisch, so doch unbewandert und wenig interessiert, und drei waren streng, wenn auch mit unterschiedlichem intellektuellen Anspruch, an den Islam gebunden. Von den drei deutschen Teilnehmerinnen waren zwei religiös interessiert und aufgeschlossen, aber ohne feste kirchliche Bindung. Ich glaube, daß eine derart heterogen zusammengesetzte Gruppe in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen nicht untypisch ist. Wir sahen uns durch diese Situation vor die Aufgabe gestellt, zunächst einen gemeinsamen Stand an Wissen und Diskussionsstoff herzustellen. Die dieser Aufgabe gewidmeten Sitzungen fielen aber, wie einige

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von den Migrantinnen nachträglich kritisierten, zu informatorisch aus. Man kann in dieser Kritik den Ausdruck eines empfundenen Mangels an Reverie sehen – Mangels an gemeinsamem gelösten Nachdenken. Vielleicht kann diesem Mangel dadurch aufgeholfen werden, daß man sich in methodischer Vielfalt auf jene Geschichten besinnt, die zu dem gemeinsamen Erbe der monotheistischen Religionen gehören. Das Erzählen enthält immer schon mehr Reverie als die Übermittlung von Theorie. An einigen Stellen des Unterrichts kam es übrigens zu angespannten Diskussionen zwischen der im Islam sachkundigsten Teilnehmerin und mir (als dem Religionswissenschaftler unter den Dozenten). Ich glaube, daß es dabei wenigstens ansatzweise gelang, die Tendenz zu dogmatischer Verhärtung zu lockern. – Endlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß der nach diesen Sitzungen konstatierte Mangel an Reverie in der abschließenden Sitzung des Kurses einigermaßen aufgewogen wurde. Wir sprachen dabei ein zweites Mal über die Bilder und Gegenstände, die die Teilnehmerinnen in einer der früheren Sitzungen mitgebracht hatten, um auf Kindheitserinnerungen, die sie besonders geprägt hatten, hinzuweisen. Dabei gelang kollektive Reverie – eine gemeinsame gelöste Nachdenklichkeit, die auch Erinnerungen an die ersten, der Kindheit, Erziehung und Familie gewidmeten Sitzungen wieder aufleben ließ und im übrigen unserem Kurs einen ebenso unbeschwerten wie gedankengesättigten Abschluß bescherte.

L ITERATUR Berg, Alban: Die musikalische Impotenz der „Neuen Ästhetik“ Hans Pfitzners. In: Musikblätter des Anbruchs. Jg. 02, Wien 1920. S. 399-406. Bion, Wilfred R.: A Theory of Thinking. International Journal of Psycho-Analysis 43 (1962), S. 306-310. Bion, Wilfred R.: Second Thoughts. London (Karnac Books) 1967, S. 110-119.

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Bion, Wilfred R.: Learning from Experience. London (Heinemann) 1962. Crüsemann, Frank: Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive. München (Kaiser) 1983. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1913). In: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u. a., Band 9. Taschenbuchausgabe Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1999. Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1937 - 1939). In: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u. a., Band 16. Taschenbuchausgabe Frankfurt a.M. ( S. Fischer) 1999. Gesenius, Wilhelm: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. 10., verbesserte und vermehrte Auflage bearbeitet von F. Mühlau und W. Volck. Leipzig 1887, art. chesed. Hinshelwood, Robert D.: Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Vorspohl; 2. Auflage, Stuttgart (Klett-Cotta) 1991. Neubaur, Caroline: Übergänge. Spiel und Realität in der Psychoanalyse Donald W. Winnicotts. Frankfurt a. M. (Athenäum) 1987. Pfitzner, Hans: Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. In: Gesammelte Schriften, Bd. II. Augsburg (Filser) 1926. Winnicott, Donald W.: Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums. Aus dem Englischen übersetzt von Irmela Köstlin. Stuttgart (Klett-Cotta) 1990.

D ISKUSSION F1: Ich habe eine Idee. Die Religion spielt ja auch in den Märchen immer eine Rolle; also wäre es gut, wenn man zur Deutung der Religion auch die Märchen heranziehen würde, z. B. wenn davon gesprochen wird, daß Gott auf Erden wandelt oder ähnliches. Und noch etwas: Mein Nachdenken über den Islam wurde durch die Kenntnis der Schriften von Nasreddin Hoca sehr bereichert. Wenn man Nebenpfade

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der Religionen kennenlernt, wird auch das Verständnis für die anderen Religionen erweitert – auf einer eben nicht fundamentalistischen Ebene. LW: Ja, vielen Dank, das ist völlig richtig. F2: Wir Iraner waren während der letzten dreißig bis fünfunddreißig Jahre ganz stark in negativem Sinne von der Religion betroffen. Wir wußten, daß, wenn politische Macht mit religiöser Macht verschmilzt, es zu einer Katastrophe kommen muß. Sie ist eingetreten und hat uns viele Schmerzen eingetragen. Darunter haben besonders unsere Frauen sehr gelitten; ihr Leiden dauert bis zum heutigen Tage an. Aber ich will noch einen anderen Punkt erwähnen, der mit der Religion zu tun hat; denn Sie sind ja Religionswissenschaftler. Ich bin der Meinung, daß bei der Entstehung der Religion zwei Komponenten eine wichtige Rolle spielen: die Unwissenheit der Menschen und ihre Angst. Angst haben die Menschen; sie wissen nicht, woher die Dürre kam, die Vulkane, die Erdbeben und so weiter. Sie haben die Wirklichkeit nicht analysiert und den Zusammenhang des Seins nicht erkannt. Von da zu meiner Frage: Müssen wir nicht eines Tages mit der Religion fertig werden? Ich hoffe, daß wir Iraner durch unsere schmerzhaften Erfahrungen dazu fähig werden, um dann unbelastet nach vorne gehen zu können. Meinen Sie nicht auch, daß wir, wenn wir den Menschen mehr Freiheiten, mehr Möglichkeiten geben, ihnen ihre Angst nehmen können? Auf der anderen Seite sollten wir mehr in die Bildung investieren; dadurch können wir uns langfristig von der Religion befreien. Teilen Sie mit mir diese Meinung? LW: Nicht ganz. Ich habe tiefen Respekt vor dem was Sie sagen, was den Iran betrifft. Diese wirklich düstere Verbindung von Staat und Religion im Iran – da stimme ich Ihnen ohne jede Einschränkung zu. Ich nehme auch Ihre aufklärerische Perspektive gerne auf. Die Religionen sind aber ihrerseits Weltdeutungen. Da ist nicht nur Unwissenheit im Spiel, sondern auch ungeheure intellektuelle Anstrengung. Und bei den intellektuellen Anstrengungen, mit denen die frühen Weltdeutungen entstehen, vor denen ich Respekt habe, kann es dazu

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kommen, daß zwar physikalisch wenig gewußt wird, menschlich aber enorm prägnant gesprochen werden kann, weil jene frühen Weltdeutungen den Erfahrungen der Menschen sehr nahe sind. Auf diesen Schatz sollten wir nicht verzichten. Auch dann, wenn wir mit Recht – da stimme ich Ihnen ja vollkommen zu – wenn wir mit Recht sagen, Staatsgewalt und religiöse Autorität müssen getrennt werden. Aber gerade dann können wir es ja auch besser. Und da kommt ja vielleicht dann auch wieder dieser Sinn für die Reverie ins Spiel. Die Religionen malen ja gar keine heile Welt, das ist falsch, das tun sie nicht. Die Religionen haben eine Weltdeutung, die ist widersprüchlich, die ist dialektisch, die treibt von sich selbst über sich hinaus. Die Religionen sind nichts Statisches. Der Islam um fünfzehnhundert ist ein anderer als der Urislam, und im einundzwanzigsten Jahrhundert wieder ein anderer, oder: es existieren gleichzeitig mehrere Bilder von der Religion. Das ist nicht nur irritierend, das ist auch sehr produktiv – diese Vielfalt. F3: Mir fällt dazu noch ein Wort von Fritz Steppat, Islamwissenschaftler an der FU zu meiner Studentenzeit, ein. Er hat, als damals bei uns die Islamophobie aufkam, gesagt: Der Islam hat wie alle großen Religionen viele Möglichkeiten. LW: Das ist genau der Tenor; daran denke ich auch. Oder denken Sie daran, was ich vorhin in meinem Vortrag gesagt habe: Ein Grundbegriff der Religion Israels, der jüdischen Religion, fälschlich immer übersetzt mit ,Gnade‘, ,Herablassung‘ (des Fürsten), ist chesed. Er bedeutet in Wahrheit ,Liebreiz‘, ,Anmut‘. So etwas können wir neu entdecken, und wenn wir es einmal wiederentdeckt haben, mögen wir es nicht wieder verlieren. Also wir brauchen gerade um der Aufklärung willen die genauere, die sorgfältigere Erinnerung an die Religionen. F4: Ich möchte etwas dazu sagen, da auch ich ursprünglich aus dem Iran komme. Jemand hat Bertolt Brecht gefragt: Sage mir, soll ich an Gott glauben oder nicht? Und Brecht hat geantwortet: Wenn du ohne diesen Glauben das Gute vom Schlechten unterscheiden kannst, dann brauchst du ihn nicht. Aber wenn du das nicht kannst, dann brauchst du ihn. Ich glaube, es hängt dann, wie Sie sagten, immer davon ab, wer eine Religion repräsentiert, ob er Papst ist oder ein Mullah

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von der Art der iranischen, oder ein Scheich wie die in Saudi-Arabien. Wir wissen, Martin Luther hat sich gegen die damalige Macht im Vatikan gewehrt. So lange eine Religion den Glauben nicht dazu benutzt, sich von den anderen Völkern abzuheben und sie zu unterdrücken, ist sie berechtigt. Aber wir sehen auch, der Mensch ist bis jetzt nicht in der Lage gewesen, sich solchen Mißbrauchs der Religion zu enthalten. Denken Sie an die Kreuzzüge, oder denken Sie an das gegenwärtige Syrien. Die Mullahs im Iran schicken Leute nach Syrien; dort kämpfen sie gegen die Salafisten, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Leider Gottes hängt alles von den Menschen selbst ab. LW: Exakt. Ich möchte noch mal ganz kurz erinnern: Ich hatte von der Alpha-Funktion gesprochen. Und nun können Sie mir mit Recht entgegenhalten, wer Alpha sagt, muß auch Beta sagen. Das tut Bion auch. Ich will noch einmal zurückkommen auf das Thema der Reverie. Bion spricht von Beta-Elementen. Das ist eine sehr interessante Sache: Die Beta-Elemente sind Gedanken, die nicht produktiv sind, weil sie gar nicht wissen, daß es Gedanken sind. Es sind verdinglichte, virulente Phantasien und ebenso viele Ursprünge psychischer Krankheiten. Und nun können Sie versuchen, das Konzept der Beta-Elemente auf die Gesellschaft zu übertragen, auch auf die Religion; das sollten Sie meines Erachtens tun. Dann sehen Sie, zu welcher Differenzierung Sie gezwungen sind. Sie hätten gern Schwarzweißmalerei: hier die heile Welt, in der man sich geborgen fühlt, dort die Religion, der düstere Machtapparat. Das sind die beiden Extreme. Es gibt diese extremen Zustände, aber fast nie beschreibt man mit dem Verweis auf sie die Realität erschöpfend. Sondern in der Religion sind die Zustände gemischt. Da sind ungesondert die progressiven, produktiven, die Alpha-Elemente, und die Beta-Elemente, die düsteren, im Grunde psychotischen, massenpsychotischen Phänomene. Wie entgeht man diesen letzteren ? Endlich würde ich auch zu Ihnen noch einmal sagen: Das Bündnis zwischen Religion und Aufklärung steckt in den Religionen selber drin. Man sieht es besonders deutlich, wenn man auf die Prophetie achtet. Die Propheten waren keine religiösen Beamten. Sie hatten weder mit dem Kult noch mit der sozialen Kontrolle zu tun. Sie waren in

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erster Linie Analytiker der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation ihres Landes. Ihre Kritik besagte: Der Zustand des Landes ist nicht der, den der Bund mit Gott voraussetzt und verlangt. Er ist im Gegenteil durch ein Übermaß von Ungerechtigkeit gekennzeichnet. Die Ungerechtigkeit ist die Folge des Eigennutzes der herrschenden Klasse und ihrer daraus folgenden politischen Verblendung. Die Intention auf das Gute ist nicht zu trennen von der Verpflichtung auf die genaue Erforschung der Wirklichkeit, der politischen nicht minder als der religiösen.

Familie, Gemeinschaft, Staat: Strukturprinzipien in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften S USANNE E NDERWITZ

Die Frage, die sich jedem Wissenschaftler stellt, der sich mit den Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas beschäftigt, lautet: Sind diese Gesellschaften von Familienstrukturen geprägt, die sie grundsätzlich von anderen Regionen (Westeuropa zum Beispiel) oder auch Religionen (dem Christentum zum Beispiel) unterscheiden? Gibt es eine spezifische patriarchale Tradition, die sich als arabisch oder als arabisch-türkisch-persisch definieren ließe? Oder kann man sogar von einer islamischen patriarchalen Tradition sprechen, die dann mit einem noch weit größeren Radius alle islamisch geprägten Länder mit einschlösse? Die beiden letzten Fragen sind besonders schwer zu beantworten, weil es ja beides gibt: die jahrhundertealte enge Verzahnung von Gesellschaft und Religion und ihr Gegenteil. Es gibt das Beispiel Ägypten, wo die „pharaonische Beschneidung“ von Mädchen, die weit aus vorislamischer Zeit stammt, von vielen muslimischen Gelehrten als „islamisch“ sanktioniert wird. Ebenso gibt es aber auch den umgekehrten Fall, etwa die Minankabau auf der indonesischen Insel Sumatra, die sich zum patriarchal ausgerichteten sunnitischen Islam bekennen, in ihrem Gewohnheitsrecht aber einer matrilinearen Ord-

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nung folgen und deshalb ihren Besitz in der mütterlichen Linie von Frau zu Frau vererben. In dem Sammelband „Women and the Family in the Middle East“, der 1985 von der amerikanischen Ethnologin Elizabeth Warnock Fernea herausgegeben wurde,1 wird tatsächlich einmal zu der „islamischen“ Antwort gegriffen. Fernea selbst, die in den sechziger/siebziger Jahren lange Zeit im Irak gelebt hatte und deshalb als eine sehr gute Kennerin arabischer Gesellschaften gelten kann, nähert sich ihrem Gegenstand im Vorwort mit einer Aussage, die allerdings weder ethnologisch noch soziologisch, sondern eher apologetisch klingt. Sie schreibt: „Wenn der Koran die Seele des Islam ist, dann könnte die Institution der muslimischen Familie vielleicht als sein Körper bezeichnet werden.“2 In diesem Satz und seinem Umfeld kommen weder Heiratsbeziehungen noch Produktionsbedingungen zur Sprache, vielmehr scheint sich der Geist der islamischen Offenbarung unmittelbar in der muslimischen Familie materialisiert zu haben. Bedeutet das nun auch aus der Sicht der amerikanischen Wissenschaftlerin, daß die Struktur der muslimischen Familie sakrosankt ist, eine „islamische“ Familie konstituiert, die unwiderruflich in das religiöse System eingebettet ist? Und kann man diesen Satz deskriptiv oder muß man ihn normativ verstehen, so daß es sich letztlich um eine göttlich gewollte Familienstruktur handeln würde? Zum Glück, möchte ich sagen, halten weder Fernea noch – und schon gar nicht – ihre Autoren die Aussage dieses Satzes wirklich durch. Auf der einen Seite ist in dem Sammelband mehr von der arabischen (türkischen, persischen) Familie die Rede als von der muslimischen (oder gar „islamischen“) Familie, und auf der anderen Seite scheint mir die Aussage des Satzes selbst eher eine gezielte Provokation zu sein. Der Sammelband „Women and the Family in the Middle East“ entstand nämlich am Scheideweg zwischen zwei Paradigmen der

1

Fernea, Elizabeth (ed.): Women and the Family in the Middle East. New Voices of Change. Austin (Univ. of Texas Pr.) 1985.

2

Fernea, Vorbemerkung zu Part II. in: Dies., Women, S. 25.

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Betrachtung nahöstlicher Gesellschaften, einerseits der westlich geprägten Modernisierungstheorie der sechziger und siebziger Jahre und andererseits des anti- oder postkolonialen Authentizitätsdiskurses in den neunziger und zehner Jahren. Weil die Linsen, durch die wir die Familienstrukturen im Nahen Osten betrachten, so überaus entscheidend sind für das Bild, das wir uns von diesen Familienstrukturen machen, möchte ich im folgenden vor allem auf diese beiden Paradigmen eingehen und zeigen, wie sich in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten der Blick verändert hat.

D IE M ODERNISIERUNGSTHEORIE

ALS

P ARADIGMA

Zu Anfang der siebziger Jahre, als ich mein Studium am Institut für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin aufnahm, seinerzeit eines der ganz wenigen deutschsprachigen Institute, an denen der moderne Islam gelehrt wurde, stand in den Sozialwissenschaften ganz klar die Modernisierungstheorie im Vordergrund. Sie ging von einer linearen, weltweiten und allenfalls zeitlich versetzten Entwicklung hin zur Moderne mit einer allmählichen Angleichung der Lebensbedingungen, einer fortschreitenden Säkularisierung des Alltagslebens sowie einer ebenfalls schrittweisen Entwicklung der Frauenrechte aus. Im Zuge von Industrialisierung, Dekolonialisierung und Demokratisierung, so die seinerzeit praktisch unwidersprochene Annahme, würden sich unter den Bedingungen von wirtschaftlicher Entwicklung, wachsendem Wohlstand und staatlicher Regulierung alle Gesellschaften unweigerlich dem westlichen Vorbild annähern. Das gelte auch und gerade für die Familienstrukturen, in deren Rahmen die Frauenrechte gestärkt würden und über deren Rahmen hinaus Frauen auch auf dem Arbeitsmarkt sowie in Politik und Wirtschaft größere Chancen bekämen. In den Sozialwissenschaften der sechziger und siebziger Jahre glaubte man fest an die universale „Umwandlung der Familie“ (family transition), die auch in den islamischen Ländern bereits eingesetzt habe. Diese „massive Umwandlung“ (greater transition) wurde mit zunächst

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kaum wahrnehmbaren Veränderungen des Familienlebens begründet, wozu zum Beispiel die allmähliche Heraufsetzung des Heiratsalters von Mädchen, die tendenzielle Abnahme von Zwangsehen und die wachsende Bedeutung der Kleinfamilie gehörten, nicht zu vergessen die allgemeine Individualisierung der Familienbeziehungen, wo vorher noch rollenkonformes Verhalten den Alltag bestimmt hatte, und damit auch eine größere Freiheit der Familienmitglieder.3 Auch wenn die Herausgeberin und einige ihrer Autoren bereits Zweifel an der Modernisierungstheorie äußern, wird diese Auffassung durchaus noch in etlichen der Aufsätze des Sammelbandes vertreten. Ich beziehe mich hier besonders auf den ersten, programmatischen Aufsatz von Halim Barakat, der bezeichnenderweise nicht die Muslime, sondern die Araber im Titel trägt und „The Arab Family and the Challenge of Social Transformation“ heißt. Anders als Fernea in ihrem Vorwort macht Barakat zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen also nicht die Religion, sondern er subsumiert Muslime, Christen und Juden unter die gemeinsame ethnisch-kulturelle Bestimmung „Araber“ und verlegt seine Betrachtungen damit mehr ins Diesseits und infolgedessen auch in die Geschichte hinein. Unter „arabischer Familie“ versteht Barakat den „Idealtypus“ der erweiterten Familie, in der mehrere Generationen auf patrilokaler Basis zusammen leben, der patriarchalen Familie, die vor allem nach Alter und Geschlecht hierarchisch organisiert ist, sowie der arbeitsteiligen Familie, die als sozioökonomische Produktionseinheit die Keimzelle der Gesellschaft darstellt. Diese traditionelle Familienstruktur ist, so der Autor, in den vergangenen hundert Jahren jedoch auf vielen Feldern unter Druck geraten. Ganz im Stil der Modernisierungstheorie argumentiert er, daß ihr die einsetzende Industrialisierung, die zunehmende Urbanisierung, der wachsende Markt, staatliche Dienstleistungen und eine verbesserte Infrastruktur stark zugesetzt und dazu

3

Yount, Kathryn und Rashad, Hoda: Introduction. In: Dies. (eds.): Family in the Middle East. Ideational Change in Egypt, Iran, and Tunisia. London / New York (Routledge) 2008, S. 3.

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beigetragen hätten, daß sich die Familie eben nicht mehr automatisch als Produktionsgemeinschaft formiere, daß damit das patriarchale System allmählich seine Legitimation verliere und daß auch Frauen in außerhäusliche Lebensbereiche vordrängen. So weit, so bekannt, aber nun baut Barakat eine Beobachtung ein, die ihn von der Modernisierungstheorie wegführt. Das ist auch nicht verwunderlich, denn 1985, als der Sammelband mit seinem Aufsatz erschien, hatte sich der Nahe Osten bereits stark verändert. Nasser und mit ihm sein starker Staat waren seit 15 Jahren tot, auch in Syrien und im Irak hatten die Regierenden viel von ihrem sozialistischen Sexappeal verloren, und im Libanon herrschte seit 10 Jahren ein desaströser Bürgerkrieg. Die Großmachtpolitik der USA, die Abhängigkeit vom Weltmarkt und das Wuchern der Privatwirtschaft schürten den Unmut. Überall ertönte der Ruf nach dem Islam als einer Lösung aller anstehenden Probleme, die Forderung nach Wiedereinführung der Scharia wurde laut, und die „islamische Kleidung“ war auf dem Vormarsch. Insgesamt sehnte man sich nach der Rückkehr von Verhältnissen, wie sie in der Realität wohl nie – jedenfalls nicht so konfliktfrei – bestanden hatten. Man träumte von einer Epoche, als noch Zeit für die Familie gewesen war, das Gehalt des Mannes zur Deckung ihrer Bedürfnisse ausreichte und die Werte der Tradition hochgehalten wurden. In diesem Zusammenhang ist Barakats Beobachtung zu verstehen, daß sich die Strukturen im Nahen Osten, auch das Verhältnis von Familie, Gemeinschaft und Staat, zwar deutlich und ganz aktuell verändern, daß diese Veränderungen jedoch nicht automatisch auch zu mehr Autonomie oder einem größeren Gestaltungsspielraum für das Individuum führen. Er stellt diese Beobachtung jedoch nicht in den Rahmen der historischen Situation der siebziger Jahre, sondern bleibt auf der systemischen oder strukturellen Ebene. Für ihn hat die Modernisierung im Sinn einer Emanzipation des Individuums genau dort eine Grenze, wo sie das Familiensystem bedroht; anders gesagt, setzt sich die arabische Familienstruktur gegen alle ökonomischen, sozialen oder sonstigen Tendenzen ihrer Auflösung letztlich durch. Ich zitiere ihn:

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„Die heutige arabische Familie ist normalerweise nicht im eigentlichen Sinn groß; nur selten leben drei oder mehr Generationen in einem Haushalt. Die Urbanisierung, die Industrialisierung, die Ausbildung, Bekanntschaft mit der entwickelten Welt und die Herausbildung einer Mittelschicht haben einen gewissen Einfluß, und neue Studien zeigen einen anhaltenden Trend zur Kleinfamilie. Doch trotz der abnehmenden Bedeutung der Großfamilie bleiben Verwandte normalerweise in einem Netz persönlicher Beziehungen gefangen, das nur wenig Spielraum für Unabhängigkeit und Privatsphäre bereit hält. Auch weiterhin bleiben sie nah beieinander wohnen, heiraten untereinander, kommen als Verwandte zusammen und erwarten voneinander Unterstützung. Diesen Beziehungen kann nicht einmal Emigration oder eine Trennung infolge von Krieg oder Umsturz etwas anhaben.“4 Nun gibt es aber noch einmal eine Wendung in Barakats Aufsatz, denn er hängt der Modernisierungstheorie insoweit weiter an, als er den von ihm als erfolgreich beschriebenen Widerstand arabischer Familienstrukturen gegen ihre Modernisierung unter ausschließlich negativen Aspekten wahrnimmt. Die arabische Familie befördert ihm zufolge eine Persönlichkeitsstruktur, die sich durch Abhängigkeit, Sentimentalität und Selbstverleugnung auszeichnet, in den VaterKinder-, Mutter-Sohn- und Bruder-Schwester-Beziehungen an Morbidität grenzt und eine Loslösung oder Integration der einzelnen Familienmitglieder in den gesellschaftlichen oder politischen Raum praktisch verunmöglicht. Ist zum Beispiel ein Sohn Beamter oder in einer anderen öffentlichen Funktion tätig, erwartet die Familie, daß er seine Position zu ihrem Wohl benutzt, was Vetternwirtschaft gewissermaßen zum Regelfall macht.5 Damit nicht genug, sieht Barakat in der arabi-

4

Barakat, Halim: The Arab Family and the Challenge of Social Transformation. In: Fernea, Women, S. 37.

5

Dieses Beispiel, das hier zur Illustration von Barakats Gedankengang herangezogen wird, stammt nicht aus Barakats Aufsatz, sondern aus dem Beitrag von Suad Joseph „Familism and critical Arab Family Studies“ in: Yount / Rashad, Family, S. 30.

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schen Familie die Matrix aller weiteren sozialen Beziehungen, die sie in jeweils größerem Rahmen widerspiegeln. Familie, Religion und Staat folgen alle derselben patriarchalen Ordnung, wonach der Vater, Gott oder der Herrscher über ihren als Kinder oder (Schaf-)Herde imaginierten Abhängigen thronen und über ihr Wohl oder Wehe bestimmen. Danach ist die arabische Gesellschaft nur eine erweiterte Form der Verwandtschaft, und die Familie ist die Gesellschaft im kleinen. Beide stehen in einem unablässigen Austausch miteinander, und keine kann unabhängig von der andern oder von der zwischen ihnen vermittelnden Religion betrachtet werden.6 Man kann aus Barakats Analyse den pessimistischen Schluß ziehen, daß zumindest im arabischen Raum die sozialen Subsysteme Familie, Religion und Staat einander auf eine Weise stützen und stärken, daß in näherer Zukunft weder an eine Zivil- oder Bürgergesellschaft noch an eine Verweltlichung des Alltagslebens noch an eine Emanzipation der Frauen zu denken sei. Gerade über den letzten Punkt gehen in dem Sammelband von Fernea, in dem auch Barakats Aufsatz erschien, die Meinungen jedoch durchaus auseinander. Während eine Autorin zu dem Urteil kommt, daß auch gutausgebildete, beruflich erfolgreiche und bestens verdienende Frauen in ihrer Familie und Ehe genauso gegängelt werden wie seit eh und je,7 will die Herausgeberin ein besonderes Lebensgefühl bei arabischen Frauen generell erkannt haben, das sie gemeinschaftlicher und weniger individualistisch denken und handeln läßt als ihre westlichen feministischen Schwestern..8

6

Barakat, Arab Family, S. 46.

7

Mohsen, Safia: New Images, Old Reflections: Working Middle-Class Women in Egypt. In: Fernea, Women, S. 56-71.

8

Fernea, Introduction. In: Dies., Women, S. 2.

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P OSTKOLONIALISMUS UND AUTHENTIZITÄTSDEBATTE In den neunziger Jahren des vergangenen und den zehner Jahren des gegenwärtigen Jahrhunderts gingen die Ansichten von Modernisierungstheoretikern und Authentizitätsverfechtern so weit auseinander, daß sie auch beim besten Willen nicht mehr in einem gemeinsamen Sammelband unterzubringen gewesen wären. Die Modernisierungstheoretiker interpretierten das unübersehbare Vordringen des Islam in die Genderbeziehungen, die Familie und die Politik als Schwäche, nicht als Stärke der traditionellen Strukturen, als letztes Aufgebot oder letzte Bastion der Modernisierungsverlierer und -verhinderer, die grundlegende Umstrukturierung der arabischen und/oder islamischen Gesellschaften noch aufzuhalten. Das ist sicher eine ganz legitime Interpretation, wenn man an das Beispiel der Personenstandsgesetzgebung denkt, die Fragen von Familie, Ehe, Polygamie, Scheidung und Erbe regelt. Während bereits im Ausgang des 19. Jahrhunderts praktisch alle anderen Rechtsbereiche auf der Basis säkularen und zumeist europäischen Rechts neu formuliert wurden, überließen die Kolonialmächte diesen einen Rechtsbereich dem Gutdünken der einheimischen Bevölkerungen. Tatsächlich stellt bis heute in den meisten arabischen und islamischen Ländern (mit Ausnahme der Türkei und Tunesiens) die Scharia die Grundlage dar, die bis in ganz praktische Überlebensfragen hinein die Männer begünstigt und die Frauen benachteiligt. Legitim ist jedoch auch die Frage, ob der Modernisierungstheorie nicht von Anfang an ein manifester „Orientalismus“ oder „Eurozentrismus“ innewohnte, der uneingestanden den europäischen Weg der vergangenen zweihundertfünfzig Jahre zur Norm erhebt, an der sich am Ende alle messen lassen müßten. Hier setzte der Authentizitätsdiskurs ein, den Warnock Fernea in ihrem Sammelband schon ein Stück weit vorweggenommen hatte: Die nahöstlichen Gesellschaften besitzen mit ihrem Verwandtschafts- und Familialsystem und dessen Verhältnis zu Religion und Staat eine Struktur, die sie von europäischen Gesellschaften substantiell unterscheidet und daher auch keine gemeinsame Ver-

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gleichsbasis zuläßt. Dieser Authentizitätsdiskurs wurde, anders als die Modernisierungstheorie, zunächst nicht primär in den Wissenschaften, sondern in den Medien geführt, auch und vielleicht vor allem entlang der Kopftuchfrage. Natürlich wurden auch in den Wissenschaften wieterhin Hunderte von Artikeln und Büchern über Frauen, Familie und Staat geschrieben, aber es dauerte fast 25 Jahre, bis 2008 ein weiterer Sammelband zu „Family in the Middle East“ erschien, der, von den beiden amerikanischen Soziologinnen Kathryn Yount und Hoda Rashad herausgegeben, wie seinerzeit der von Fernea herausgegebene Sammelband den „State of the Arts“ zu umreißen versucht.9 An diesem Sammelband ist interessant, daß er offenbar mit der Ambivalenz seines Vorgängers aufräumen möchte und deshalb gleich zu Beginn die Modernisierungstheorie auf den Misthaufen der Wissenschaftsgeschichte wirft. Dazu heißt es dezidiert: „Eine dynamische Spannung zwischen der Kontinuität von Familienstruktur und Wandel widerlegt die Annahme, daß ,eine massive Umwandlung der Familie‘ (greater family transition) bei makro-ideologischem und strukturellem Wandel unweigerlich eintritt.“10 Auch hier möchte ich mich wieder auf den ersten, dezidiert programmatischen Aufsatz konzentrieren, nämlich „Familism and critical Arab family studies“ von Suad Joseph.11 Wie Halim Barakat, so stammt auch Suad Joseph aus dem syro-libanesischen Raum, wie er ist sie Sozialwissenschaftler/in, und wie er hat sie als Professor/in in Amerika Karriere gemacht. Altersmäßig liegen die beiden auch gar nicht so weit auseinander, und man kann den Eindruck gewinnen, Joseph habe Barakats Aufsatz über die Familie sogar zu ihrem Ausgangspunkt genommen. Was die beiden im wesentlichen unterscheidet, ist insbesondere Josephs Anliegen, dem von ihr „Fami-

9

Zu den bibliographischen Angaben siehe Anm. 3 bzw. die Bibliographie im Anhang.

10 Yount, Kathryn, und Rashad, Hoda: Historical Orientations to the Study of Family Change. In: Yount / Rashad, Family, S. 12. 11 Joseph, Suad: Familism and critical Arab Family Studies. In: Yount / Rashad, Family, S. 25-39.

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lismus“ genannten Phänomen, also der starken Familienorientierung unter Arabern, einen „authentischen“ und damit per definitionem positiven Charakter zuzuschreiben. Wir hatten ja schon bei Halim Barakats Aufsatz aus den 80er Jahren gesehen, daß er der Ansicht ist, die vielfältigen Zwischenbeziehungen und Überlappungen von Familie, Staat und Religion im Nahen Osten ließen es schwerlich zu, die Familie in Isolation von den anderen Subsystemen der Gesellschaft zu betrachten. Dieser Gedanke findet sich bei Suad Joseph wieder, die einen großen Unterschied sieht zwischen den westlichen Gesellschaften mit ihren „Sphären“ (der sozialen, politischen, ökonomischen, privaten oder auch öffentlichen „Sphäre“) und den nahöstlichen Gesellschaften. Wenn es, so ihr Argument, Grenzen zwischen den genannten „Sphären“ auch in nahöstlichen Gesellschaften gibt, so wurden sie durch den Kolonialismus eingeführt und durch die Staatenbildung weiter begünstigt, ersetzten jedoch nicht gänzlich eine Tradition, in der die Grenzen zwischen den „Sphären“ flexibler als in den westlichen Gesellschaften sind und überdies die Familie keinen kleineren, sondern einen größeren Raum einnimmt, der sich bis hinein in das staatliche Gemeinwesen erstreckt. Im Westen, so ihr Argument, fand mit dem Heraufziehen der Moderne tatsächlich eine Verlagerung von der Verwandtschaft auf das Individuum statt, während sich im Osten die Verwandtschaftsgruppe als zentrale Einheit des Staates erhalten konnte und auch heute noch die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Staat und Zivilgesellschaft oder Religion und Säkularismus verwischt bzw. transzendiert. Anders als der westliche „Gesellschaftsvertrag“ (contrat social), der zwischen autonomen und geschlechtsneutralen Individuen geschlossen wird, folgt der nahöstliche „Sippenvertrag“ (kin contract) einer alters- und geschlechterbedingten Hierarchie, um in einer komplementären Verteilung von Rechten und Pflichten seine Gemeinschaftsaufgaben zu erfüllen. Darüber hinaus geht dieser Vertrag dem Staat nicht nur zeitlich voran, sondern überrundet ihn auch in rechtlicher Hinsicht. Zur Unterstützung dieser These verweist Joseph auf die Verfassungen der meisten arabischen Länder, die nicht im

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Individuum, sondern in der Familie die grundlegende Einheit des Staates sähen. Daraus folge, daß sich das Individuum nicht per se, sondern erst in seiner Eigenschaft als Mitglied einer Sippengemeinschaft als Bürger für den Staat qualifiziert. Dieser Vorrang der Sippengemeinschaft vor dem Staat bringe es mit sich, daß er weniger soziale Sicherungssysteme errichte, so wie umgekehrt die Familie tendenziell staatliche Funktionen an sich ziehe. Von Männern im Staatsdienst oder in öffentlichen Ämtern werde deshalb ganz selbstverständlich erwartet, daß sie ihre dort erworbenen Privilegien zuallererst in den Dienst ihrer Familie stellen, und deshalb sei der Ruch der „Vetternwirtschaft“ eher ein von außen diktiertes Verdikt. Frauen wiederum entwickelten nur einen begrenzten individuellen Freiheitsdrang, weil sie ihrer Verpflichtungen als Mütter, Töchter oder Schwestern gegenüber den anderen Familienmitgliedern eingedenk blieben, und deshalb solle man keine Krokodilstränen über den ausbleibenden arabischen Feminismus vergießen. Tatsächlich befinde sich die individuell emanzipierte Frau ebenso wie der unbestechliche Beamte oder der individualistische Nestflüchter nicht nur in einem emotionalen Vakuum, wenn sie oder er sich von ihrer oder seiner Familie löse, sondern verliere auch den ganz realen Schutz, den, wenn nicht die Familie, dann auch nicht die Öffentlichkeit, Polizei und Justiz garantierten. Suad Joseph bringt in ihrem Aufsatz eigentlich keine Argumente, Gesichtspunkte oder Sachverhalte vor, denen wir nicht schon in dem viel älteren Aufsatz von Halim Barakat begegnet wären, und trotzdem schlägt sie einen völlig anderen Ton an. Nicht nur versucht sie, das „Familiensystem“ der nahöstlichen Gesellschaften historisch so zu begründen, daß es inkompatibel mit dem Familiensystem der westlichen Gesellschaften erscheint, sondern sie identifiziert sich offenkundig auch mit diesem System. Seht her, scheint sie sagen zu wollen, was immer ihr Westler für richtig haltet, wir aus den nahöstlichen Gesellschaften kennen, sehen und empfinden das eben nach anderen Wertekategorien. Ein bißchen bösartig kann man einwenden, daß eine christliche Libanesin aus einer kosmopolitischen Familie mit westlicher

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Orientierung leicht von der emotionalen Geborgenheit in arabischen Familien schwärmen kann, während zum Beispiel eine libanesische Schiitin aus dem armen Süden über ihre arrangierte Ehe wahrscheinlich weniger Gutes über nahöstliche Familienstrukturen zu berichten hätte. Deshalb möchte ich mich in einem dritten und letzten Schritt dem modernen arabischen Roman zuwenden, da er seit Beginn des 20. Jahrhunderts das bevorzugte Medium ist, in dem die arabischen Gesellschaften miteinander übereinander kommunizieren.

L ITERATUR UND F AMILIE Der arabische Roman hat keine lange Tradition in der arabischen und schon gar nicht in der islamischen Literatur, sondern wurde gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Europa importiert und an die arabischen Verhältnisse adaptiert. Es war zunächst allerdings eine eher kleine, gebildete und säkularisierte Mittelschicht, die sich als Produzenten und Publikum des arabischen Romans annahm. Sie nahm auch keinen Anstoß daran, daß der europäische Roman, der den europäischen Individualisierungsprozeß begleitet und befördert hatte, in seinen wesentlichen Zügen einem sehr unarabischen/unislamischen Muster folgte: Ein junger Held setzt sich von seiner angestammten Gemeinschaft ab, um in der Anonymität der Großstadt sein Glück zu suchen, und obgleich er in gefährliche Situationen gerät und andere Prüfungen meistern muß, ist sein Streben am Ende von Erfolg gekrönt. (Wer dabei sogleich „Aladin und die Wunderlampe“ aus der arabischen Sammlung „1001 Nacht“ assoziiert, dem sei gesagt: Antoine Galland, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts die erste französische Übersetzung von „1001 Nacht“ herausbrachte, hatte nicht nur ein altes Manuskript aus der Bibliothèque Nationale zur Verfügung, sondern auch einen in Paris lebenden syrischen Informanten, der ihm die arabische Sammlung aus dem Gedächtnis ergänzte. Weil die Geschichte von Aladin und der Wunderlampe aus diesem zusätzlichen Material stammt und etliche untypische Motive aufweist, wurde über

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ihre „Echtheit“ bereits viel spekuliert. Es ist also nicht von der Hand zu weisen, daß sie in der Form, in der sie in Gallands Übersetzung Eingang fand, von vornherein auf den Geschmack des europäischen Publikums abgestellt war.) Einer der ersten und ganz bestimmt der meistgelesene arabischsprachige Roman des 20. Jahrhunderts, der 1926 veröffentlichte erste Band der literarischen Autobiographie von Taha Hussain mit dem Titel „Die Tage“ (al-Ayyam),12 folgt ziemlich genau diesem Muster. Taha Hussain wurde als mittleres Kind einer kinderreichen Bauernfamilie in Oberägypten geboren und erblindete noch vor seinem siebten Lebensjahr vollständig. Weil er als Blinder nicht Bauer werden konnte, schrieb man ihn in die Koranschule des Dorfes ein, damit er seinen Lebensunterhalt später als Koranrezitator fristen könne. Er durchlief die Koranschule, strebte aber zugleich an die hochangesehene religiöse alAzhar-Universität in Kairo. Nachdem ihm der Wechsel gelungen war, zog es ihn an die neu (1908) gegründete Kairoer Universität, die erste staatliche und säkulare Universität in Ägypten. Im Besitz eines Abschlußzeugnisses in Literatur bewarb er sich danach um ein Stipendium an der Sorbonne in Paris, wo er einen Doktortitel erwarb und dank seiner mit noch nicht dreißig Jahren als Professor wieder an die Kairoer Universität zurückkehrte. Danach brachte er es zum Dekan, zu einem Posten im Erziehungsministerium und schließlich zum Erziehungsminister, bevor er sich nach der ägyptischen Revolution von 1952 weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Die literarische Autobiographie „Die Tage“ über den märchenhaften Aufstieg eines mittellosen und darüber hinaus blinden Bauernjungen in allerhöchste Staatsstellungen, die überdies nicht nur ein entworfenes, fiktionales, sondern tatsächlich gelebtes Leben beschreibt, wurde allerdings nicht wirklich zum Vorbild für spätere Generationen ägyptischer oder überhaupt arabischer Romanschriftsteller. Ein erstes

12 Hussain, Taha: Autobiographie in drei Bänden: Kindheitstage, Jugendjahre in Kairo, Weltbürger zwischen Kairo und Paris. Meerbusch (Edition Orient) 1985-1989.

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Beispiel zur Illustration dessen ist Nagib Machfus, der 1911 geboren wurde und der Generation nach Taha Hussain entstammte. Auch die fiktionalen Helden von Nagib Machfus, die manchmal immer noch ein Stück weit autobiographische Züge tragen, zieht es hinaus aus den traditionellen Verhältnissen in die neue und unerhörte Welt des modernen Kairo, aber allzu erfolgreich sind sie dort nicht. Fast können sie von Glück sagen, wenn sie an den Verhältnissen nur scheitern und ihren Wagemut nicht mit dem Leben bezahlen müssen. Nagib Machfus erweist sich als durch und durch literarischer Pessimist: Auch seine jungen Männer hält es nicht in der traditionellen Familie, sie müssen hinaus ins moderne Leben, und dort werden sie mit einem ziemlich feindlichen Gestus empfangen. Aber es gelingt ihnen nicht, die gesellschaftlichen Hürden zu nehmen, und das liegt weniger an ihnen als an der Gesellschaft. Die meisten landen in einer Sackgasse zwischen überkommenem familiären Patriarchat und neuen autoritären Machtstrukturen, die das alte patriarchale System reproduzieren, sogar verrohen, aber jedenfalls nicht überwinden helfen. So zeigt uns der ägyptische/arabische Roman, obwohl er sich ganz auf die Seite des säkular denkenden, politisch fortschrittlichen und persönlich ambitionierten Individuums stellt, daß die familiären, gesellschaftlichen und politischen Umstände seiner Autonomie mehr als nur ein wenig entgegenstehen. Das gilt schon für Nagib Machfusʼ berühmte „Trilogie“ (Bain al-Qasrain, al-Sukkariya, Qasr al-Shauq) aus den Jahren 1956/57,13 und es gilt – wieder eine Generation später – noch für Alaa al-Aswanis Roman „Der Jakubijân-Bau“ (Imarat alYa'qubiyan) von 2002.14 Hier ist die traditionelle patriarchale Familie zwar schon gar kein Thema mehr, umso mehr jedoch korrupte oder autoritäre Zirkel und Gemeinschaften, die in unterschiedlicher und manchmal schwer durchschaubarer Gestalt die Gesellschaft unter sich aufgeteilt haben. al-Aswanis junger Held scheitert an den Militärs, die

13 Machfus, Nagib: Kairoer Trilogie: Zwischen den Palästen, Palast der Sehnsucht, Zuckergässchen. Zürich (Unionsverlag) 1996-1998. 14 Aswani, Alaa al-: Der Jakubijân-Bau. Basel (Lenos) 2007.

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sich in der Nasserzeit herausgebildet haben, an den Neureichen, die seit Sadat und Mubarak die Privatwirtschaft beherrschen, und an den Politikern, die den Staat als Selbstbedienungsladen begreifen. Im Gegenzug gerät er in die Hände von Rattenfängern, die ihn für ihre islamistischen, anti-modernen und anti-staatlichen Zwecke verheizen. Er wird zum Opfer der Verhältnisse, bevor er sich überhaupt eine Existenz hat aufbauen und das hat tun können, was alle jungen Ägypter umtreibt: eine eigene Familie zu gründen. Wenn die bisher erwähnten Romane einen Abgesang auf die traditionellen Familienstrukturen im Nahen Osten darstellen, indem sie sich für das Schicksal der Söhne und nicht der Väter interessieren, so führen andere Romane zurück zur Familie, die nunmehr allerdings auch von den Söhnen kontrolliert wird. Es sind vor allem Schriftstellerinnen, die den Blick zurück auf das Schicksal der traditionellen patriarchalen Familie lenken, auf der seit etlichen Jahrzehnten ein immenser politischer, ökonomischer und sozialer Druck lastet. In diesem Zusammenhang finde ich den Roman „Das Tor“ (Bab al-Saha) der Palästinenserin Sahar Khalifa sehr eindrücklich, der bereits 1990 erschien und eine Extremsituation beschreibt, die drei Jahre vorher zur Intifada geführt hatte.15 Überall ist das arabische Patriarchat in der Krise, aber ganz besonders in Palästina, und die Intifada von 1987 wird in diesem Roman nicht nur als Aufstand gegen Israel, sondern auch gegen die eigenen Väter beschrieben. Diesen Vätern, die unter israelischer Aufsicht, unter israelischer Repression und in israelischen Gefängnissen zermürbt worden waren, wollten die Jungen zeigen, wie man einen organisierten, anhaltenden und erfolgreichen Kampf gegen die Besatzer in Gaza und der Westbank führt. Es gelang ihnen nicht, ebensowenig wie den Generationen der Kriege von 1948 und 1967, und in der Folge wurde aus dem Kampf der Jungen gegen Israel und die Väter ein Kampf der Jungen gegen die Frauen. Sahar Khalifa romantisiert und heroisiert die Intifada denn auch in keiner Weise, ganz im Gegenteil. Sie zeigt vielmehr den Terror der „Jungen“ (shabab), die die entstan-

15 Khalifa, Sahar: Das Tor. Zürich (Unionsverlag) 1992.

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dene Lücke väterlicher Autorität damit füllten, daß sie ihre Schwestern, Mütter und Nachbarinnen in Angst und Schrecken versetzten. Die Shabab-Milizen im Roman setzen all diese Frauen wahllos oder nach eigenem Gusto dem Verdacht der Prostitution, der Kollaboration mit dem Feind und der Pietätlosigkeit aus und verdammen sie durch ihre Denunziationen ins Haus, in die Isolation, in die Untätigkeit und manchmal zum Tod. Man kann den Tenor der arabischen Literatur bis heute als vorwiegend pessimistisch beschreiben, aber damit will ich es nicht bewenden lassen. Ausgerechnet aus dem extrem konservativen Saudi-Arabien kommen in letzter Zeit hoffnungsvollere Töne, und zwar ebenfalls von Autorinnen, die mit viel Phantasie das patriarchale System zu unterlaufen versuchen und dabei auch vor Tabuthemen wie der Sexualität nicht zurückschrecken. Aber gerade dieses Beispiel aus einer der wenigen wohlhabenden, sogar extrem reichen Gesellschaften des Nahen Ostens bringt mich zurück zur Auseinandersetzung zwischen Modernisierungstheoretikern und Authentizitätsdiskurs und damit der Frage, ob die Ökonomie, aber auch die Politik und die Gesellschaft nicht doch einen entscheidenden Beitrag zur Perpetuierung, Pervertierung oder zum Wandel traditioneller Familienstrukturen leisten.

S CHLUSS Ich bin Kulturwissenschaftlerin genug, um einer Autorin wie Suad Joseph darin zuzustimmen, daß es so etwas wie eine Eigengesetzlichkeit von Kulturen gibt und daß das Familialsystem in den Ländern des Nahen Ostens – wie auch in der muslimischen Diaspora – bis heute eine extrem wichtige Rolle spielt. Darüber hinaus stimme ich ihr auch zu, daß die Modernisierungstheorie insofern als überholt gelten muß, als sie nur eine Richtung kannte, nämlich den „Fortschritt“ durch die Liberalisierung der Wirtschaft, die Demokratisierung der Gesellschaft und die Befreiung des Individuums. Woran die Modernisierungstheorie uns jedoch im Gegensatz zum Authentizitätsdiskurs zu erinnern ver-

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mag, ist die Bedeutung der historischen Kontingenz, die auch für die nahöstlichen Gesellschaften gilt. Es gab im 20. Jahrhundert ja Aufbrüche in eine andere Zukunft, den Kemalismus in der Türkei oder den Nasserismus in Ägypten, als ein starker Staat daran ging, durch die Schaffung eines breiten Bildungsangebots, die Ausweitung des öffentlichen Sektors und Maßnahmen zur sozialen Sicherung die Vorherrschaft der Familienstrukturen zu brechen. Und als zu Beginn der siebziger Jahre in Ägypten Sadat die Nachfolge Nassers antrat, wurde dieser Prozeß auch keineswegs durch eine erneute Stärkung der Familienstrukturen unterbrochen, sondern durch etwas ganz anderes, nämlich durch die Öffnung des Marktes für ausländische Investoren und den gleichzeitigen Rückzug des Staates aus den sozialen Sicherungssystemen. Das Wiedererstarken der Familienstrukturen war also im wesentlichen nur die Kehrseite dieser Entwicklung, und ganz ähnliches gilt für die Islamisierung der Politik. Die Islamisten kamen keineswegs aus den Reihen der ewigen Modernisierungsverlierer, sondern waren die Nutznießer des Bildungssystems unter Nasser, die erst durch den Wildwuchskapitalismus unter Sadat zu Modernisierungsverlierern wurden. Ich möchte meine Überlegungen mit einer Beobachtung beenden, die auf den ersten Blick vielleicht paradox wirkt, weil ich dabei von den deutschen Verhältnissen ausgehe. Mir als Angehöriger einer Generation, die Familie für ein einigermaßen überholtes Konzept hielt, fällt heute die Familienorientierung eher meiner Studierenden ohne als derjenigen mit Migrationshintergrund auf. Auch bei den Studierenden mit deutschem oder europäischem Hintergrund scheint mir die Familie heute einen größeren Stellenwert einzunehmen, als ich dies aus den Jahrzehnten zuvor kenne. Sie wohnen nicht nur länger bei ihren Eltern, sondern gehen auch früher Ehen ein und gründen schneller eigene Familien. Es mag schon sein, daß in den nahöstlichen Gesellschaften die Familie tiefer in der Gesellschaft verwurzelt und stärker mit ihren anderen Strukturen verbunden ist als in europäischen Gesellschaften. Aber auch in europäischen Gesellschaften ist die Familie weder tot noch von Gesellschaft und Staat abgekoppelt. Wenn sich in europäischen Gesellschaften der Staat aus den sozialen Sicherungssystemen

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zurückzieht, dann müssen eben fundamentalere Solidargemeinschaften (wieder) in die Bresche springen. Nicht anders habe ich seit den siebziger Jahren aber auch die Entwicklung in Ägypten erlebt, wo den sozialstaatlichen Ansätzen der Nasserzeit peu à peu der Garaus gemacht wurde. Zu behaupten, daß in nahöstlichen Gesellschaften einfach die Zählebigkeit der Familienstrukturen dem modernen Staat Grenzen setzt, halte ich für eine unzulässige Verkürzung. Wir sehen vielmehr in nahöstlichen wie in europäischen Gesellschaften, daß die Familienstrukturen wieder umso wichtiger werden, je mehr sich der Staat den Kräften des deregulierten Marktes überläßt.

L ITERATUR Ahmed, Leila: Women and Gender in Islam. Historical Roots of a Modern Debate. New Haven (Yale Univ. Pr.) 1992. Aswani, Alaa al-: Der Jakubijân-Bau. Basel (Lenos) 2007. Barakat, Halim: The Arab Family and the Challenge of Social Transformation. In: Fernea, Women, S. 27-48. Beck, Lois, und Keddie, Nikki (eds.): Women in the Muslim World. Cambridge/Mass. (Harvard Univ. Pr.) 1978. Fernea, Elizabeth W. (ed.): Women and the Family in the Middle East. New Voices of Change. Austin (Univ. of Texas Pr.) 1985. Hussain, Taha: („Die Tage“, 1926–1955), Autobiographie in drei Bänden, auf deutsch erschienen als: Kindheitstage, Jugendjahre in Kairo, Weltbürger zwischen Kairo und Paris, Meerbusch (Edition Orient) 1985-1989. Joseph, Suad (ed.): Intimate Selving in Arab Families. Gender, Self, and Identity. Syracuse/NY (Syracuse Univ. Pr.) 1999. Joseph, Suad: Familism and critical Arab Family Studies. In: Yount / Rashad, Family, S. 25-39. Kandiyoti, Deniz (ed.): Gendering in the Middle East. Emerging Perspectives. London (Tauris) 1996. Khalifa, Sahar: Das Tor. Zürich (Unionsverlag) 1992.

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D ISKUSSION RH: Ich finde, daß Sie am Schluß eine interessante Wendung gemacht haben: dahin, daß auch hier in unserer Gesellschaft die Familie wieder mehr an Bedeutung gewinnt und der Staat sich zurücknimmt. Und das könnte dann sozusagen hier wie dort den Blick dafür schärfen, die grundlegende Differenz zwischen Gesellschaft und Familie zu erkennen, und das Interesse dafür wecken, den Staat dafür in die Pflicht zu nehmen, daß seine Institutionen nicht nach dem Modell der Familie, sondern vertragsrechtlich zu organisieren sind. So könnten dann auch Ressourcen freigesetzt werden, um individuelle Freiheiten zu ermöglichen und zur Geltung zu bringen, an die vorher nicht zu denken war. SE: Ja, ich hatte tatsächlich in diese Richtung gedacht. Nun, ich glaube schon, daß es sich hier und dort um unterschiedliche Strukturen handelt, aber ich muß sagen: Aus den inzwischen vierzig Jahren Beschäftigung mit dem Nahen Osten habe ich doch den Eindruck gewonnen, daß die Gesellschaften so unterschiedlich eben nicht sind. In meiner eigenen europäischen Gesellschaft lebend und mich permanent mit östlichen Gesellschaften beschäftigend habe ich in der ganzen Zeit das Gefühl: es ist ein bißchen anders, aber es ist nicht ganz anders. Ja, da ist so eine leichte Verschiebung gegeneinander, es ist, wie wenn man

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ein 3D-Bild ohne Brille betrachtet. (Ist es richtig, das Bild? Ich weiß nicht, ich verzichte auch gern darauf.) Also alles ist im Verhältnis leicht verschoben, die grundsätzlichen Strukturen hingegen sind natürlich nicht so von einander verschieden, wie das der von mir so apostrophierte Authentizitätsdiskurs möchte und behauptet. LW: Diese These ist mir sehr sympathisch und entspricht auch, finde ich, überwiegend den Eindrücken aus unserem Kurs. Aber die Frage wäre natürlich: Was sagst du denn zu diesem Argument, das ja fast schablonenartig vorgebracht wird, der Kapitalismus komme nun einmal vom Westen und man müsse sich endlich gegen seine Unterstellung behaupten – das ist ja das Authentizitätsverlangen –, daß die Modernisierung nur das Ergebnis einer unaufhaltsamen historischen Entwicklung mit genuin eigener Logik sei, und realisieren, daß sie von außen aufgeherrscht wird. Wie stark ist das heute noch? SE: Ich habe meinen Vortrag mit Bedacht so angelegt, daß ich es auf Paradigmen hin orientiert habe, denn ich denke: es ist immer sehr wichtig, durch welche Linse man die Verhältnisse betrachtet. Und interessant ist da, wenn junge muslimische Frauen sagen: Der Kapitalismus, dieses Grundübel, kommt aus dem Westen. Auch da möchte ich mich wieder erinnern, wie es war, als ich anfing zu studieren: Da hat man im Westen argumentiert, diese Araber, Türken, Perser, alle diese Muslime können ja auf keinen grünen Zweig kommen, weil sie nie einen Kapitalismus entwickelt haben. Und damals hat Maxime Rodinson, der große marxistische Islamwissenschaftler aus Frankreich, und danach ein Engländer namens Peter Gran mit seinem Buch „Islamic Roots of Capitalism“ versucht zu zeigen, daß schon im 16. Jahrhundert oder noch früher durchaus kapitalistische Elemente in der islamischen Wirtschaft und Gesellschaft vorhanden waren; und interessanterweise haben sie dieses Argument vorgebracht, um den Islam als Kultur gegen den Westen zu verteidigen. Also: Es kommt wirklich darauf an, wie man darauf zurückblickt. Und wir haben als Studenten diese beiden Bücher, und es gab da noch mehrere, tatsächlich auch mit großer – also wir waren antikapitalistisch – mit großer Erleichterung

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aufgenommen, weil sie eben dieses westliche Argument, Muslime „können eben nicht Kapitalismus“, entkräftet haben. F1: Vielen Dank. Ich habe nur einige Verständnisfragen. Sie haben unterschieden zwischen ‚muslimisch‘ und ,islamisch': Was heißt das genau? Und die zweite Frage: Wie ist es eigentlich mit dem Nationalismus? Wie ist das Verhältnis des Islam zur Nation? Ich frage deshalb, weil ja ,Markt‘ bei uns historisch auch etwas mit nation building zu tun gehabt hat. SE: Also zunächst zur Begriffsunterscheidung zwischen muslimisch und islamisch: Das ist eigentlich eine sehr wichtige Unterscheidung. Muslimisch ist das, was Muslime machen; islamisch ist das, was der Islam normativ vorgibt. Ja? Deshalb hatte ich diese Unterscheidung gemacht. Zum andern: die Frage nach Nationalismus (oder Nation) und Kapitalismus (oder Markt). Das ist diffizil, weil der Kolonialismus dazwischengekommen ist. Ich würde sagen, es kommt – also mein Fokus, haben Sie ja gemerkt, ist meist Ägypten – im Ägypten des neunzehnten Jahrhunderts, als die islamischen Reformbewegungen eingesetzt haben, zunächst einmal die Idee des Panislamismus auf. Ägypten steht damals auch noch unter osmanischer Herrschaft, wenn auch weitgehend unabhängig, spätestens seit Muhammad Ali, also seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts; und der Sohn von Muhammad Ali ist mit seiner Armee sogar einmal fast bis Istanbul vorgerückt, wurde dann aber hauptsächlich durch die Briten daran gehindert, den Osmanen wirklich gefährlich zu werden. Aber Ägypten hat bis zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, also bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, die Oberhoheit des Sultans anerkannt, hatte aber daneben seine eigenen Khediven (Vizekönige), kurz: war de jure Provinz des Osmanischen Reiches, de facto aber unabhängig. Und dieser Panislamismus, der sich vornehmlich in Ägypten entwickelt, spielt nun zum ersten Mal mit dem Begriff der Nation, denkt dabei auch nicht unmittelbar ans Osmanische Reich, sondern eben an die Einheit, die durch die Religion geschaffen wird und damit eine Front bilden soll gegen den kapitalistischen und kolonialistischen Westen. Dieser Gedanke des Panislamismus verbindet sich mit dem Namen Jamal al-Din al-

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Afghani, der auch mit Ernest Renan korrespondiert hat und sich selber, wie gesagt, al-Afghani (das heißt: der Afghane) nennt. Er war aber wahrscheinlich ein Perser, wollte das nur nicht so publik machen, weil er damit automatisch als Schiit zu erkennen gewesen wäre; denn er wollte doch für den ganzen Islam reden, hat sich also lieber als Afghane und damit als Sunnit ausgegeben. Er war kein Ägypter, hat aber lange in Ägypten gewirkt und war dann auch in Istanbul am Hof des Sultans usw. Mit Afghani verbindet sich eben dieser Gedanke des Panislamismus, der sich übrigens auch in Indien, wo es ebenfalls frühe nationalistische Überlegungen gab, entwickelt hat. Das ist, würde ich sagen, die früheste Form von Nationalismus. Hinzukommt dann als nächste Form der ägyptische Nationalismus. Ägypten wurde 1882 von den Briten besetzt, und entwickelte – nun gar nicht primär gegen die Osmanen, sondern gegen die Briten, also gegen die Besatzungsmacht – einen Nationalismus, der eben nationalstaatlich gedacht war, also ägyptisch. Das ist die zweite Form, die ich kenne. Die dritte, von der man gar nicht denken sollte, daß sie die letzte sei, ist der arabische Nationalismus, also die Vorstellung von einer arabischen Nation. Die kam deshalb so spät, weil man auch als Ägypter und als ägyptischer Nationalist – ich sagte ja, die Ägypter sind gar nicht so sehr gegen das Osmanische Reich gewesen als eben gegen die Briten –, weil man als Ägypter seinen ägyptischen Nationalismus sehr gut mit der Vorstellung verbinden konnte, auch weiterhin osmanischer Untertan zu sein. Also hier war die Konfliktlinie nicht. Sie trat erst auf, als 1907 die jungtürkische Revolution innerhalb des Militärs, des türkischen versteht sich, stattfand, und die Jungtürken die Vorstellung einer türkischen Nation mit ihren Wurzeln in Zentralasien und der wünschenswerten Eingemeindung aller Turkvölker propagierten, also schon vor dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, ungefähr vierzehn Jahre vorher, einen türkischen Nationalismus vertraten. Dieser hat dann wiederum einen arabischen Nationalismus stimuliert, also die Propaganda der Vorstellung: Diese Türken haben uns eh immer nur kujoniert, die Perser haben uns die Homosexualität gebracht, mit all denen wollen wir nichts zu tun haben, wir sind Araber. Und das waren

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dann die Anfänge des arabischen Nationalismus. Zum Markt möchte ich noch sagen: Die Überlegungen zum Kapitalismus überhaupt, zur Einbindung ins Weltsystem des Handels usw. laufen teils damit verbunden, teils aber auch unabhängig davon, weil Ägypten, auch unter starker Beteiligung der europäischen Mächte, vor allem der Franzosen und Briten, seit Muhammad Ali so automatisch in den Weltmarkt eingebunden war, daß das eigentlich nicht zum Gegenstand gemacht und also nicht theoretisiert wurde. Nationalismus und Verstaatlichung sind tatsächlich erst mit der Revolution von 1952 miteinander gekoppelt worden – unter Nasser. F2: [Eine Stimme der demokratischen Linken aus dem Iran, die dort „einen Kampf zwischen dem/den Alten und dem/den Neuen innerhalb dieser Kultur“ im Gange sieht mit leicht diffundierenden Aspekten: Alte und Junge, Rechte und Linke, Stadt und Land, Volk/ Bevölkerung und Intellektuelle, Eigenes und Fremdes. Vor allem die richtige Stellung zum Westen bzw. den Europäern, d. h. wie man am besten vom modernen Ausland lernen und etwas aufnehmen bzw. wie man sich vor drohenden schädlichen Einflüssen schützen kann, scheint das Problem zu sein, das nach einer Lösung und erstmal einer Strategie verlangt.] SE: Ich würde gerne zu beiden Dingen, die Sie angesprochen haben, etwas sagen; ich habe dazu zwei Assoziationen gehabt. Zunächst einmal haben Sie gesagt: „Islam kennt keine Grenze – geographisch, ethnisch, politisch und ökonomisch nicht.“ Damit sprechen Sie ja das Problem des Verhältnisses zwischen Islam und Politik an. In der Tat hat der Islam nie die Trennung von Staat und Kirche vollzogen. Entstanden ist er ja in einem Umfeld, wo Mohammed zunächst als Prophet auftrat und dann in Medina ein Gemeinwesen gegründet hat, zu dessen Führer er auch wurde. Also insofern hat man „im Islam“ – ich setze das jetzt mal in Gänsefüßchen – ursprünglich diese Trennung zwischen Religion und Politik nicht; sondern es hieß: „din wa daula“ (d. h. ‚Religion‘ und ,Staat‘ gehören zusammen), wie eine alte Formel lautete. Das ist eben anders als im Westen, und das ist auch immer so vertreten worden. Es spielt aber durch das ganze Mittelalter hindurch nicht so

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eine große Rolle. Zumal ja auch das Kalifat (also die Instanz eines religiös legitimierten politischen Oberhaupts) immer stärker delegitimiert worden ist durch Tyrannen und ungerechte Herrscher, und so weiter und so fort. Die Behauptung, daß der Islam, jetzt als normatives System betrachtet, eine Einheit von Politik und Religion geradezu fordere, ist ein Gedanke, der überhaupt erst so richtig im 19. Jahrhundert aufkam. Und der ist auch in den islamischen Ländern nicht unwidersprochen geblieben. Es ist – ich muß jetzt wieder auf Ägypten kommen – dort um 1924 herum ein Buch erschienen von Ali Abd alRaziq, in dem er zu zeigen versuchte, daß der Islam eben nicht Politik sei, jedenfalls nicht seinem Ursprung nach, sondern daß der Prophet eine religiöse Gemeinschaft vor Augen gehabt und einer religiösen Gemeinschaft vorgestanden, aber eben nicht Politik als integralen Teil des Islam begriffen habe. Zwar habe er als Führer fungiert, aber den Islam selber nur als Religion begriffen. Dafür kriegte der besagte Abd al-Raziq sehr viel Prügel von seiten der Ulama (der religiösen Gelehrten), und praktisch ist dieser Ansatz auch wieder fallengelassen worden. Ich will damit nur sagen, daß das durchaus ein strittiger Punkt, ein Diskussionspunkt gewesen ist, auch innerhalb einer muslimischen Gesellschaft. Der zweite Punkt: ja, da wollte ich noch ein bißchen weiter ausholen. Also Sie sagten etwa: Es muß sich vor Ort die Gesellschaft selber darüber auseinandersetzen, welches System sie entwickeln will, soll, muß. Ganz klar. Aber diese lange Aufzählung des Scheiterns, die Sie dann gemacht haben, brachte mich auf den Gedanken, daß wir doch immer auch gut daran tun, in der Geschichte nachzusehen, ob es nicht vielleicht schon alte historische Strukturen gibt, die solches Scheitern gewissermaßen begünstigen, nämlich dieses Scheitern, das wir jetzt ja auch in Ägypten sehen. Und ich denke, man könnte zur Erklärung sagen: Es gibt keine einige, kohärente Mittelschicht, es gibt kein Bürgertum in Ägypten, wenn ich das erstmal ganz undifferenziert so sagen darf, das sich einig wäre, gegen das Militär auf der einen Seite, gegen die Religiösen auf der anderen Seite aufzutreten bzw. allererst sich zu konstituieren. Und das allerdings hat sehr alte Wur-

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zeln. Sehen Sie: Ich halte gerade eine Vorlesung über islamische Theologie, und wir sind da an einem Punkt, wo es eben darum geht, wie im 8., 9. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung die mohammedanische Tradition, also die Überlieferung vom (bzw. von den) Propheten gesammelt und kanonisiert wurde. Und wenn ich das im Unterricht behandle, frage ich mich immer wieder: Wer ist denn das? Was ist das für eine Schicht, die diese Kanonisierung der Prophetentradition trug? Es war eine Mittelschicht. Was legt uns eine solche Einschätzung nahe? Nun, wir haben aus dieser Zeit ganz viele Biographien von religiösen Gelehrten, die an der Kanonisierung eben der Prophetentradition – die ja neben dem Koran die zweitwichtigste Quelle für den Islam darstellt – mitwirkten. Und das waren ganz häufig Kaufleute, und zwar nicht irgendwelche Zwiebelverkäufer, sondern im Export und Import tätige Fernhändler, die gleichzeitig religiöse Gelehrte waren. Und daß die so etablierte Prophetentradition diese Bedeutung gewinnt, das hätte ja nicht so kommen müssen. Es hätte ja auch sein können, daß die islamische Gesellschaft sich gesagt hätte: uns reicht der Koran, wir brauchen die Prophetentradition nicht. So ist es aber nicht gewesen, der Islam hat sich verständigt dazu: Ja, wir brauchen diese Prophetentradition –– und zwar nicht zuletzt zur Entwicklung des islamischen Rechts. Ich habe immer wieder den Eindruck – habe darüber nicht geforscht, aber immer wieder den Eindruck –, daß hier eine Mittelschicht, eine mittelalterliche Mittelschicht, einen Bereich, nämlich das religiöse Recht, gewissermaßen an sich zieht, um es nicht dem Herrscher zu überlassen; daß sie dabei aber zugleich weiß: Es geht nicht auf die dezisionistische Tour (die etwa meinte: wir machen unser Recht und setzen es dem Herrscher gegenüber), sondern es muß, damit es überhaupt legitimiert ist und funktioniert, dieses Recht von einer übergeordneten Instanz kommen. Und das kann nur die Prophetentradition sein im Verbund mit dem Göttlichen. Und so, denke ich – also man kann mir gerne widersprechen, aber so denke ich –, entsteht die Scharia: Weil Leute der Gesellschaft eine Verfassung geben möchten, die eben nicht abhängig sein soll von den tyrannischen Herrschern, und dies in der Überzeugung: Diese Verfassung muß gewissermaßen auf

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göttlicher Autorität beruhen, sonst wäre sie nicht haltbar. Und ich denke – ich sage immer ‚ich denke, ich denke‘ und es ist ja auch alles nur Vermutung –, aber wenn ich mich mit dem heutigen Islamismus beschäftige, glaube ich schon, daß da ähnliche Strukturen sind. Also ich habe keine besonders großen Sympathien für den Islamismus, für den in diesem Sinne ‚politischen Islam‘. Aber der Gegner dieses politischen Islam ist gar nicht der Westen, sondern das sind die einheimischen Bourgeoisien, also jetzt wirklich Bourgeoisien, die völlig verwestlicht sind und alles Geld und sonst alles Mögliche an sich gerafft haben. Also es ist eine untere Mittelschicht, die sich gegen eine obere (oder eine Mittelschicht, die sich gegen eine Oberschicht, wie man es nennen will) zur Wehr setzt und gewissermaßen wieder, wie schon im Mittelalter, mit dem göttlichen Gesetz argumentiert, das eben auch eine Wirtschaftsethik oder überhaupt eine Ethik beinhaltet: Ihr verwestlichten Bourgeois der Oberschicht, die ihr in Südfrankreich eure Jachten liegen und überhaupt keine Moral habt und überhaupt an euer Volk nicht denkt, euch halten wir die Scharia, euch halten wir die Offenbarung und das islamische Recht entgegen. Ja, und damit versuchen wir euch zu bangen und Mores zu lehren. So, das war jetzt wohl ein bißchen ausufernd, aber es war mir wichtig. LW: Noch einmal an das Argument von vorher anzuknüpfen, nun direkt im Anschluß an Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft. Max Weber sagt ja: Nur im Westen ist diese Art von umfassendem Kapitalismus möglich gewesen, weil nur im Westen eine ganz homogene Klasse entstanden ist. Und die konnte nur entstehen durch ein Bündnis mit dem Landesherren, welcher Rechtssicherheit verbürgte. Nur sie entlastete von allen möglichen Fährnissen, Ängsten, Bindungen, und ermöglichte so die Entstehung des Kapitalismus. Und das verbindet sich in meinem Kopf mit dem, was Dugerade gesagt hast: Die Theologen oder die Ulama der islamischen Tradition sind – nicht wahr? – relativ unabhängig vom Staat. Und das bleibt in den Köpfen: Eigentlich müssen wir unabhängig sein vom Herrscher. Der Herrscher ist auch gar nicht von oben legitimiert, der ist ja nicht Kalif, der ist nur Sultan. Wir müssen unabhängig von ihm bleiben oder werden; und unabhängig

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werden wir durch den Rückbezug auf den Propheten. Eben das ist im Westen völlig anders gewesen. SE: Ja. Und denken wir auch an die Körperschaften: Im Islam gibt es keine Körperschaften. Daß etwa auch Städte sich gewissermaßen eine Verfassung geben und also auf einer rechtlichen Basis konstituieren, ist da – anders als (wie von Weber beschrieben) schon im mittelalterlichen Italien – nirgends der Fall. Es gibt Städte, natürlich, es gibt Riesen-Städte in der islamischen Geschichte, aber sie haben durchweg kein eigenes Statut. F3: Meiner Meinung nach nimmt Kultur mehr Einfluß auf Menschen als Religion. Als in meinem Heimatland Iran seinerzeit (das ist jetzt 34 Jahre her) Khomeini an die Macht kam, erklärte er: Der Islam kennt keine staatlichen Grenzen, wir sind Moslems und nicht mehr. Er wollte also nationale Gefühle ersticken. Er wollte das Fest am 20./ 21. März [Nouruz], für uns so etwas wie hier Sylvester und Neujahr, dann auch auflösen. Doch obwohl Iran also ein islamisches Land ist und verfaßt ist als Islamische Republik, ist bis heute das größte Fest für uns das Neujahrsfest; und das kommt von Zarathustra und wird groß gefeiert. Und anderswo ist es ähnlich mit dem Verhältnis von nationaler Kultur und Religion. SE: Ja sicher, da gibt es natürlich Unterschiede. Aber ich erinnere mich, daß noch zu Anfang meines Studiums – das war nicht lange vor der iranischen Revolution – es immer hieß und auch in der Wissenschaft so ein Konsens war: Ja, wenn es (ich laß’ jetzt die Türkei mal draußen, aber sehe es im Vergleich zu den arabischen Ländern) ein Land im Nahen Osten gibt, das eine tatsächliche Mittelschicht hat, die auch etwas bewirken kann, so ist es der Iran. [Nach dieser Wortmeldung folgt ein längerer Disput zwischen und mit iranischen und arabischen Diskutanten über die teils anscheinend bis zur Schulbuchlehre gediehene Vorstellung, daß nationale Spannungen zwischen Arabern (die den Islam nach Persien brachten) und Iranern (die ihn sich in der Schia adaptierten und modifizierten) zum Versuch eines Roll-Backs, ja einer Vertreibung der Araber aus der iranischen Kultur (wo nicht des iranischen Territoriums) geführt habe.

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Darauf, die Gemüter einigermaßen beruhigend, die folgende nüchterne Feststellung der Referentin:] SE: Ja, da spielen natürlich auch die Rivalitäten zwischen SaudiArabien und Iran um die Vorherrschaft in der Region mit hinein, und da spielt natürlich dann der Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten eine Rolle. [...] F5: Ich würde da direkt anschließen wollen. Vielen Dank für den Vortrag, den ich sehr inspirierend fand, gerade durch den Blick über die Zeiten. Und er hat ja auch noch einmal daran erinnert, und deswegen kann ich da am Schluß jetzt ganz gut anknüpfen, daß Geschichte ja auch immer eine Geschichte der Erzählungen ist. Also das sind ja Erzählungen, die Schia und die Sunna, obschon immer in Relation zu einer historischen Wahrheit, wie auch immer man diese definieren möchte. Es geht immer, auch in der Geschichte „des“ Islam – Sie haben das vorhin auch ganz schön in Anführungszeichen gesetzt –, um Erzählungen, die außerdem gar nicht voneinander zu trennen sind. Die islamische Erzählung über den Islam, und die – wie sollen wir sie nennen? – westlich-europäische Erzählung über den Islam funktionieren ja immer auch als Reflex aufeinander. So haben wir zum Beispiel gehört, daß diese Formulierung von „al-Islam Din wa Daula“, d. h. „Der Islam ist Religion und Staat“, in der ganzen arabisch-islamischen Geschichte lange keine besonders große Rolle gespielt hat, sondern erst als die Islamisten sie (als angeblich von der Tradition verbürgte Einheit von Religion und Politik) wiederentdeckt, um nicht zu sagen: erfunden haben, und zwar erfunden als Gegenentwurf sozusagen zum Westen. Und plötzlich wurde der Westen bzw. die Säkularen zu denjenigen, die das trennen; und auf der andern Seite: „Wir wahren Moslems sind die, die das nicht trennen.“ Da plötzlich wurde das wichtig, aber nur als Gegenerzählung. Und das wurde dann, bis heute im übrigen, im Westen total perfekt aufgegriffen: „Aha“ – denn es funktioniert ja in beide Richtungen – „die Muslime sind die, die das alles ganz anders verstehen!“ Das wurde so dankbar aufgenommen, weil es im Grunde nur dazu dient, das eigene Ich, wie auch immer man das formulieren und definieren will, zu bestätigen.

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SE: Wobei ich eben dieses ihr Wort „gegen den Westen“ schon differenzieren würde. Die Muslimbruderschaft ist ja nicht dezidiert anti-westlich gewesen, sondern es geht für sie in erster Linie gegen die eigenen Eliten, d. h. gegen die eigenen verwestlichten Eliten. Nicht wahr? Also der Westen ist so, quasi al-Qaida-mäßig gesprochen, der ,weitere Feind‘. Der ,nähere Feind‘, das sind eigentlich die einheimischen Eliten, die sich bereichern und völlig verwestlicht daherkommen. Aber ich wollte doch noch mal zurück, wenn ich darf, zu dem, was Sie sagten, zu Ihrem Erzählungsbild – es rotiert bei mir –, daß die Perser sozusagen die Araber des Feldes verweisen wollten. Ich könnte Ihnen insoweit folgen, als tatsächlich in der sogenannten abbasidischen Revolution des Jahres 750 die zweite große arabische Dynastie nach den Umayyaden an die Macht kam. Denn die Abbasiden konnten nur deshalb so erfolgreich sein, weil sie sich auf Truppen aus Chorasan, also aus dem Osten (aus Persien und noch weiter), stützen konnten. Und insofern würde ich Ihnen Recht geben, als im 7. Jahrhundert mit den muslimischen Eroberungen des ehemaligen Sassanidenreiches, also des vorigen persischen Imperiums, eine große seßhafte und sehr stark bäuerlich ausgerichtete Bevölkerung erobert wurde, die eben nicht nur in einer anderen Kultur steckte, nämlich in der Kultur eines Königtums und zwar eines Gott-Königtums im Unterschied zu den nomadischen (sc. monotheistischen, stammesmäßig organisierten) Arabern von der Wüsten-Halbinsel, sondern eben auch eine andere, wesentlich bäuerliche Lebensgrundlage hatte. Und daß außerdem die Entwicklung der Schia etwas zu tun hat mit dieser Seßhaftigkeit und damit, daß das Göttliche sich für sie zum Teil in Menschen manifestiert, also hier in der Person Alis und seiner Familie sowie dann auch in den Imamen, –– diese Vorstellung könnte ich tatsächlich auch historisch in Verbindung bringen mit den Persern als einem Volk mit einer anderen Kulturtradition. Gewiß, kann man dagegen einwenden, gibt es auch so und so viele Araber und andere Völker, die sich dem dann angeschlossen haben; ich meine die Schia ist ja auch im Libanon stark und im Irak. Aber daß da eine andere Kulturtradition dahinter steckt, so weit könnte ich Ihnen folgen. Nur daß also die Perser, wie

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Sie sagen, das erfunden haben, um die Araber loszuwerden, das kann ich als Historikerin nicht unterschreiben. F6: [Der Diskutant will, als Iraner sprechend, statt dieser kulturellen (leichten) Verschiebung beim kriegerischen Export der Verehrung Allahs in den Iran einen grundsätzlichen Unterschied sehen zwischen dem iranischem Gott und dem arabischem Gott: „deren Gott ist himmlisch, unser (iranischer) Gott ist irdisch: ‚Das Paradies ist auf der Erde‘, wie Zarathustra sagt“. Und hinsichtlich der Entwicklung des islamischen Gottesbegriffs durch Mohammed möchte er die 11 Jahre der Vorbereitung mit Werbung und „Aufklärungsarbeit“ in Mekka von den 23 Jahren der Verbreitung der Herrschaftsanspruchs in Medina bis zum Angriff gegen den Iran klar unterscheiden, wobei der Islam von Anfang an für politisch expansionistische Ziele (erst der Vereinigung der arabischen Halbinsel, tendenziell der globalen Durchsetzung der Umma) eingetreten sei, wobei die arabischen Männer bisweilen „acht Monate im Jahr im Krieg gestanden, und ihre Töchter lebendig begraben haben“ sollen usw.] SE: Na ja, Mohammed hat mit den umliegenden und weiter entfernten Stämmen ein Abkommen geschlossen, welches vorsah, daß sie den Islam annähmen. D. h. er hat sie – wie er meinte – zum Islam bekehrt, zu einer religiösen Bindung. Nach seinem Tod hat es dann die sogenannten Ridda-Kämpfe (gemeint sind Kämpfe um den Abfall dieser Stämme vom Islam) gegeben, weil diese Stämme gesagt haben: Irrtum! Das war eine politische Bindung auf Widerruf! So wie wir immer Stammesbündnisse eingehen, sind wir seinerzeit mit Mohammed ein Stammesbündnis eingegangen, und jetzt, da er tot ist, ist das Stammesbündnis vorbei. Und da haben nun die Nachfolger, allen voran Abu Bakr als unmittelbarer Nachfolger von Mohammed, den Krieg mit den Stämmen geführt, um sie zum Islam zurückzubringen. Aber ob das nun Politik war – da spielen politische Aspekte gewiß mit hinein –, daß diese Stämme zum Islam konvertiert waren, oder nicht, das war eine Streitfrage, die, wie man weiß, mit eindeutigem Kriegsglück entschieden wurde. Und es ging, jedenfalls aus der Perspektive der Muslime,

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nicht in erster Linie um das politische Bündnis. Den Stämmen mag es um das politische Bündnis gegangen sein, nicht aber den Muslimen. LW: Eine Frage, die ich seit Jahren immer wieder erwäge, aber nicht richtig beantworten kann: Was ist sozusagen die gesellschaftliche, die Klassenbasis des Islamismus? Was ist sie zum Beispiel im Iran? Manchmal habe ich den Eindruck, das ist gar nicht so sehr eine bürgerliche Schicht, sondern eher die Landbevölkerung. SE: Zum Iran kann ich wenig sagen... LW: Da war es doch ein Elend, auf dem Land zu leben. Dort war eigentlich kein Bleiben. So rekrutiert sich doch hauptsächlich aus der Landbevölkerung dieser unglaublich aufgeblähte militärische Apparat im heutigen Iran. SE: Also – ich bin jetzt wirklich kein Spezialist für den Iran – das mag sein; aber in den arabischen Ländern, insbesondere für Ägypten sehe ich es ganz anders. Da sehe ich nicht die Unterschichten oder die arme Bauernbevölkerung als Träger des Islamismus, sondern... Sehen Sie: die Muslimbruderschaft wird gegründet von einem Lehrer. Von einem Kairoer Lehrer. Und Sayyid Qutb, der bis heute als spiritus rector der Muslimbruderschaft gilt, war Literaturwissenschaftler gewesen, bis er dann irgendwann sein Damaskus-Erlebnis hatte, in dem er sich – ähnlich wie einst der Pharisäerschüler Saulus zum Apostel Paulus – verwandelte (d. h. seine Meinung ganz und gar änderte) und plötzlich für die muslimische Sendung glühte; davor aber war er ganz säkular. Und so habe ich es tatsächlich selber erlebt: Als ich 1973 zum ersten Mal nach Ägypten flog, da sah man – Nasser war gerade drei Jahre tot – kein einziges Kopftuch, keine einzige Verschleierung; die Atheisten sagten, sie seien Atheisten, die Säkularisten sagten, sie seien Säkularisten. Da herrschte noch so der Geist der Nasserzeit. Und erst unter Sadat, als Sadat die sogenannte Infitah-Politik, also die der durchgehenden wirklichen Kapitalisierung, der Öffnung des Marktes für ausländisches Kapital einleitete und dann – für jedermann sichtbar – die Bauwirtschaft geradezu explodierte: Da begann es mit dem Islamismus, nicht zuletzt auf der Basis der Muslimbruderschaft, da begann es dann mit dem Islamismus auch und gerade an den Uni-

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versitäten, und ich kann auch genau sagen in welchen, nämlich den renommiertesten Fakultäten dort, also in der Medizin, im Ingenieurswesen und in Jura. Die damit anfingen, das waren die Leute, die unter Nasser noch Nutznießer eines ausgeweiteten Bildungssystems waren, die aber jetzt durch die völlige Veränderung des Marktes ihre Felle davonschwimmen sahen. Das waren die Träger der neuen Bewegung fürs Alte, also die Mittelschicht, es waren Leute, die aus kleineren Verhältnissen kamen und jetzt zum Sprung ansetzen wollten, um sich als selbständige „Professionals“ eine gute Basis zu schaffen. Die sahen sich durch diesen Turbokapitalismus in ihren Aspirationen behindert, und aus diesen Kreisen kamen die ersten islamistischen Parolen. LW: Wenn man das vergleicht mit den Verhältnissen z. B. im Iran und dem staatlich organisierten Islamismus dort, dann muß man sich doch wundern. Denn im Iran, wenn ich das richtig sehe, besteht eine unglaubliche Spannung zwischen diesem Staatsapparat und der intellektuellen Mittelschicht. Das ist ein ganz, in den letzten Jahren ja besonders, ein ganz entscheidender Konflikt. Und da sind wir dann geradezu polar entgegengesetzt dem, was duvon Ägypten sagst. Das finde ich sehr interessant. F7: Eine Frage nach den erwähnten „Stamm(es)gesellschaften“... SE: Ja, wenn wir dort von Familie reden, geht es immer auch um den Stamm; also, was ich versucht habe in der Befassung mit diesem Authentizitätsdiskurs, war: zu unterstreichen den Bezug auf die Stammesgesellschaft, auf kin contract. Wenn Sie von kin contract sprechen, dann meinen Sie ja die Sippe, den Stamm. F8: Ja, im Iran gab es auch Stämme und also so eine Art Stammesgesellschaft. Und der Vater des letzten Schah, Rezah Schah, hat sie dann alle irgendwie zerbrochen oder aufgelöst; aber in manchen Ländern sind sie wohl noch stark..., ob in Ägypten, weiß ich nicht, aber... SE: Irak ist halt so ein Fall, nicht wahr? Irak war auch für die Osmanen ein Angstgegner, weil die dortigen Stämme überhaupt nicht zu beherrschen waren, ... F8: … oder Libyen oder welche sonst von den arabischen Ländern noch davon betroffen sind...

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SE: Ja, das ist natürlich in Ägypten weniger stark, weil das auch eigentlich immer eine Bauerngesellschaft gewesen ist. Auch da gibt es natürlich Stämme, aber die haben nicht die überragende Rolle gespielt, wie über die Jahrhunderte hinweg im Irak zum Beispiel. F9: Ich bin sehr dankbar für diese ausführliche Diskussion, auch wenn sie so viel Zeit braucht. Ich will nur eine Frage noch loswerden: Schia hat also mehr etwas mit ,Seßhaftigkeit‘ zu tun, habe ich jetzt so wahrgenommen, und Sunna eher etwas mit ‚nicht seßhaft‘?! SE: Ja, das von mir so versuchsweise Gesagte könnte man vielleicht so verstehen. Aber: Nein, das würde ich so nicht sagen! F9: Ich hätte noch eine andere Frage: Gibt es traumatisierte Kulturen, also ich denke da an Mittelasien? SE: Nun, man könnte von der Schia durchaus sagen, daß sie eine traumatisierte Kultur sei. Sie sagten vorhin, Nouruz sei das höchste Fest, aber religiös gesehen ist ja das Ashoura-Fest das höchste. Genau darauf wollte ich hinaus. Die Schia feiert das Gedenken der Tatsache, daß Al-Houssein, der Sohn von Ali und damit Enkel von Mohammed, von seinen Anhängern, den Schiiten von Kufa, die ihn zu Hilfe gerufen hatten, in der Schlacht von Kerbala 680 im Stich gelassen worden war. Und deshalb wird bei den Prozessionen und Trauerspielen anlässlich dieses Gedenkfestes das Martyrium Housseins jedes Jahr als diese Selbstgeißelung re-inacted/inszeniert, und die Kunst lebt davon usw. Also das ist eine sehr, sehr, ja gerade die Selbstbezichtigung in den Mittelpunkt stellende Religion, wenn Sie so wollen –– etwas, das die Sunniten überhaupt nicht kennen. F9: Der Hintergrund meiner Frage ist, daß ja Vorurteile, oder wie man das auch nennen will – heute Vormittag war von Gründungs- oder Ursprungsmythen die Rede –, immer wieder mobilisiert werden, um Stimmung zu machen. Die Hunnen zum Beispiel, deren Gedächtnis Kaiser Wilhelm II. in seiner ominösen „Hunnenrede“ evoziert hatte, die waren irgendwie ein Steppenvolk, das offenbar traumatisiert war; das Leben in der Wüste ist ja traumatisierend, stelle ich mir vor... SE: Oh, es kann auch sehr schön sein... (Lachen)

138 | S USANNE E NDERWITZ

F9: Ich frage ja nur; ich weiß nicht, ob es da einen Zusammenhang gibt... SE: Ich würde diese Wüstenkultur jetzt nicht mit Trauma in Verbindung bringen, ehrlich gesagt, nee, nee. Da ist es tagsüber immer schön warm. Und das mit den „lebendig begrabenen Mädchen“ kann man auch nicht so stehen lassen. Das steht im Koran, ja; wir wissen aber nicht genau, was damit gemeint ist. Der Koran macht tatsächlich den vorislamischen Arabern den Vorwurf, Mädchen lebendig zu verscharren. Aber, nun ja, das haben schon ganze Generationen von Religionswissenschaftlern vergeblich zu substantiieren versucht. Erstens grenzt sich der Islam ja sehr stark von den vorislamischen Arabern ab. Und zweitens mag so etwas oder ähnliches natürlich vorgekommen sein. Das ist, bitte schön, eine prekäre Gesellschaft! Wenn da eine Dürre kommt oder plötzlich eine Flut kommt, was in den Wadis tatsächlich so passiert, dann ertrinken ja mehr Leute in der Wüste als daß sie verdursten, wenn so ein Wolkenbruch die Wadis füllt. Und drittens mag es allerdings vorgekommen sein, daß etwa in Zeiten von Katastrophen wie einer Dürre Mädchen, also wohl als Babys, getötet wurden, während die Jungen leben gelassen wurden, weil es eben auch eine Kriegergesellschaft war. Aber daß im großen Stil Mädchen umgebracht worden wären, dafür gibt es überhaupt keine Indizien. LW: Ich glaube, wir sollten jetzt langsam zur Pause kommen. Ich bin sehr froh über diesen Vortrag. Ganz herzlichen Dank. Es war sehr informativ und sehr anregend für unsere Reflexion, auch eine wunderbare Ergänzung zu dem, was wir vorher hier hatten.

Zu den Autoren und Autorinnen

Susanne Enderwitz, seit 2002 Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Heidelberg, verbrachte vorher viele Jahre in Berlin, wo sie an der FU Islam- und Religionswissenschaft studierte und sowohl ihre Promotion als auch die Habilitation erwarb. Längere Studien- und Forschungsaufenthalte führten sie nach Alexandria, Paris und Jerusalem. Ihre Schwerpunkte sind Literatur (mittelalterliche und moderne arabische), Religion und Geschichte. Für die Moderne hat sie regionale Schwerpunkte in Ägypten, Palästina und dem Libanon. Genderfragen begleiten sie seit Anbeginn ihres Studiums, was auch in ihrer Publikationsliste zum Ausdruck kommt. [email protected] Renate Haas, seit 2001 Projektleiterin am Institut für Kulturanalyse e. V., Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte: Wechselverhältnis von Migranten und Einwanderungsgesellschaft und deren Ungleichzeitigkeiten; Gewalterfahrung in der ethnologischen (Feld-)Forschung; Trauma als kulturell-historischer Tatbestand. Tätig in Beratung, Coaching und Supervision u. a. am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale. Verschiedene Publikationen, u. a.: Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen. Ein kulturanalytischer Befund, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, hg. von Werner Bohleber, Jg. 60, 2006, H. 2, S. 131-155. [email protected]

140 | FÜR EINE K ONFLIKTKULTUR IN F AMILIE UND G ESELLSCHAFT

Lorenz Wilkens, geboren 1943; Studium der evangelischen Theologie und Philosophie in Tübingen sowie der Religionswissenschaft in Berlin, hier auch promoviert und habilitiert. Schwerpunkte: Religion im säkularen Zeitalter, Beiträge zur Verständigung zwischen den monotheistischen Religionen, Philosophie und Gesellschaft, Kunst und Religion. [email protected]

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