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German Pages 312 [308] Year 2014
Nathalie Bredella, Chris Dähne (Hg.) Infrastrukturen des Urbanen
Band 4
Editorial Die interdisziplinäre Reihe Urbane Welten versammelt aktuelle Positionen zu einem jungen und im Entstehen begriffenen Forschungsfeld: der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung. Im Zentrum der Reihe steht das wechselseitige Bezugsverhältnis zwischen Kultur und Urbanität: Kulturen und kulturelle Artikulationen werden in urbanen Zusammenhängen stets neu konturiert. Zugleich wird Urbanität durch eine Vielfalt medialer Inszenierungen neu erschaffen und transformiert, werden städtische Wandlungsprozesse durch Medien sichtbar, hörbar, fühlbar und lesbar. Die Reihe Urbane Welten führt internationale Forschungsdiskurse der urban studies unter medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zusammen und bietet besonders jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Publikations- und Diskussionsforum. Die Reihe wird herausgegeben von Laura Frahm und Susanne Stemmler.
Nathalie Bredella, Chris Dähne (Hg.) Infrastrukturen des Urbanen. Soundscapes, Landscapes, Netscapes
Diese Publikation ist im Rahmen des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar entstanden und wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Bauhaus-Universität Weimar sowie der Universität der Künste, Berlin, gefördert.
SCHRIFTEN DES INTERNATIONALEN KOLLEGS FÜR KULTURTECHNIKFORSCHUNG UND MEDIENPHILOSOPHIE Band 16 Eine Liste der bisher erschienenen Bände findet sich unter www.ikkm-weimar.de/schriften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: The Exiles, Kent Mackenzie. © Milestone Films, mit freundlicher Genehmigung von Milestone Films. Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2092-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Susanne Hauser | 7 Einleitung
Nathalie Bredella und Chris Dähne | 13
S OUNDSCAPES Die audio-visuelle Komposition des bewegten Raums. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt und neue Urbanität Chris Dähne | 21 Soundscape Nashville. Tonbandgeräte-Milieus um 1974 Jan Philip Müller | 47 Das Genre der Soundscape. Eine Kritik und Verteidigung der Soundscape im 21. Jahrhundert Holger Schulze | 85 Towards an Urban Soundscaping Michael Fowler | 105
LANDSCAPES Der Blick aus dem Seitenfenster. Nicht-Orte und Begegnungen in Historias mínimas und
Un mundo menos peor Maria Imhof | 129 Networking the Landscape. E-Utopian Visions for the Twentieth Century Carlotta Darò | 151
Excursions in the Landscape. Nancy Holt’s Audiovisual Experiments circa 1970 Alena J. Williams | 169 Straßen-Bilder-Verkehr. Der Film Night on Earth als filmische Theorie der Wahrnehmung auf der urbanen Straße David Sittler | 187
NETSCAPES Zur Montage urbaner Imaginationen. Von der Baustelle im Film und dem Traume der Stadt in Gueríns En Construcción Marius Böttcher | 209 Mobilität des Urbanen. Reyner Banham Loves Los Angeles Nathalie Bredella | 233 Neue Mischungsverhältnisse. Zum Gebrauch von Infrastrukturen Christa Kamleithner | 253 Die verborgenen Städte. Entwürfe eines urbanen Gegenkinos in The Exiles Laura Frahm | 275 Abstracts | 295 Autorinnen und Autoren | 303
Vorwort S USANNE H AUSER
Film und Stadt haben Affinitäten, die noch lange nicht ausgelotet sind. Frühe und recht bekannte Anmerkungen dazu stammen von Walter Benjamin, der die Wahrnehmung der großen, industriell geprägten Stadt und die des Films gleichermaßen durch Flüchtigkeit, Zerstreutheit und „Chockwirkungen“ gekennzeichnet sah. Diese Beobachtung, die im weiteren Zusammenhang seiner Beschreibung von Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts steht, legte schon Fragen nahe, die erst in den letzten Jahren in Bezug auf Architektur und Städtebau eine vermehrte Aufmerksamkeit gefunden haben: die nach den Medien, in denen Bewegung und Beweglichkeit in Städten aufgefasst und beschrieben werden, die nach den Techniken der Wahrnehmung und Aufzeichnung, über die Dynamiken begriffen und notiert werden können, die Frage auch nach den Schärfen und Unschärfen, die eine adäquate Beschreibung von Städten verlangt. Eine bis heute mit Bewegtmedien verbundene Hoffnung lässt ebenfalls an Walter Benjamin denken, nämlich die, dass mit ihnen eine Erkundung des Gezeigten möglich ist, die über das Wahrnehmen mit unbewaffneten Sinnen hinausführt. Benjamin ging davon aus, dass sich über die damals noch neu zu deutenden Apparaturen und Technologien des Films, über Schnitt, Montage, Großaufnahme und Zeitlupe, Kamerafahrt und Rhythmisierung auch das zwar immer schon Wahrnehmbare, aber nicht Registrierte zeigt, dass sich also das „Optisch-Unbewußte“ offenbart. Das Vertrauen in das Potenzial von Apparaturen, Unerkanntem zur unmittelbaren sinnlichen Erkenntnis zu verhelfen, ist heute über die Einsicht in die Historizität der Konstruktion von Sichtbarkeit und Hörbarkeit geschwunden. Die Erwartung aber, dass in den bewegten Bildern, in den Klängen und Geräuschen
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des Films Städte oder gar die Stadt neu zu erfahren sind, ist von hoher Aktualität. Versuche, aus Überlegungen zum Potenzial des Films Konsequenzen für die Analyse, die Planung und den Entwurf der Stadt zu entwickeln, sind noch rar, wenngleich sich das in den letzten Jahren deutliche Interesse an den Medien der Stadtbeschreibung und Stadtanalyse auch auf Bewegt(bild)medien erstreckt. Untersuchungen dazu kommen aus Kultur- und Medienwissenschaft wie aus der Architektur- und Stadtforschung. Ihre medientheoretisch gestützte Aufmerksamkeit gilt allen Aspekten von Bewegung in der Stadt und bezieht sich auch auf die Infrastrukturen, die sie unterstützen und mit erzeugen. Diese werden selbst als Medien verstanden und damit unter dem Gesichtspunkt ihrer raumkonstituierenden Mittlerrolle und in ihrer Bedeutung für die Erfahrung der Stadt aufgefasst. Mit seinen exemplarischen Untersuchungen bietet der hier vorliegende Band, der zwölf Beiträge aus den Medien- und Kulturwissenschaften wie der Architektur versammelt, weitere Aufschlüsse zu diesem weiten Forschungsfeld, vor allem aber zu den Relationen, in denen sich die Affinitäten von Stadt und Film entfalten. Der Gegenstand dieser Aufsatzsammlung sind die vielschichtigen Beziehungen von Medien, Städten und Landschaften. In Analysen ausgewählter Filme und an der Untersuchung von Soundscapes, in Bezug auf konkrete architektonische Konzepte und städtische Umgebungen, zeichnen die Beiträge dieses Bandes die Entwicklung einer über das gesamte 20. Jahrhundert bis heute zu beobachtenden Aufmerksamkeit für Bewegungsformen in Städten nach. Zwei Fragestellungen orientieren die Perspektiven auf die Beziehung von Stadt und Medien. Die eine Frage gilt der Erzeugung von Sichtbarkeit und Hörbarkeit städtischer Phänomene in Bewegtmedien. In dieser Perspektive werden Filme und Soundscapes auf ihre Konstruktion von Seh- und/oder Hörereignissen wie auch im Hinblick darauf untersucht, welche Rollen in ihrem Entstehungsprozess spezifischen Medienpraktiken und -apparaturen zugekommen sind. Die zweite Perspektive richtet sich auf das Eindringen von Medien in die Materialität der Stadt, auf jene langfristige und bis heute nicht abgeschlossene Entwicklung, in der die Funktionalität der städtischen Umwelt ihre Abhängigkeit von Verkehrsinfrastrukturen und informationellen Prozessen steigert. Viele der ausgewählten Beispiele bieten die Möglichkeit, beide für die Geschichte der Beziehung von Stadt
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und Medien gleichermaßen aufschlussreichen Fragestellungen miteinander zu verknüpfen. Die Auswahl der Beispiele zeichnet zwei Umgebungen und zwei Zeiträume aus, in denen sich die Relationen von Stadt und Medien, Stadt und Infrastrukturen grundlegend verändern und damit auch die Beziehungen, die Bewegtmedien zu städtischen Umgebungen aufnehmen. Die erste dieser Phasen hat ihren Ort im Europa der Zwischenkriegszeit, dessen Avantgardebewegungen bis in die 1930er Jahre den Raum, die Architektur wie die technisch avancierte Umgebung in Großstädten, vor allem in Berlin, neu lesen, zeigen und entwerfen. Chronologisch stehen am Anfang der Themen des Bandes also die Faszination des frühen europäischen Kinos durch die Stadt und die Faszination vieler europäischer Architekten durch den Film. Beides kann als Reaktion auf die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts noch neue Erfahrung der Dynamisierung des städtischen Lebens verstanden werden. Zahlreiche Momente, von denen sich einige bereits im 19. Jahrhundert angekündigt hatten, trugen zu dieser Erfahrung bei. Neben dem explosiven Stadtwachstum und Rationalisierungsprozessen in der industriellen Fertigung sind es jetzt vor allem der Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen, die die Städte verändern: die Ausweitung des Eisenbahnnetzes, später die Erfindung und absehbare Durchsetzung des Automobils, die Einrichtung und Verbreitung von neuartig schnellen Kommunikationsmedien, der Telegrafie, der Rohrpost, des Telefons, des Fernschreibers. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzen sich diese beschleunigenden Prozesse mit weiteren Investitionen in Verkehrsinfrastrukturen, weiteren Rationalisierungsprozessen, der Zunahme des Handels und der Verdichtung von Kommunikationsprozessen nicht nur in Europa und den USA fort. Bis in die 1970er Jahre erscheint der Film weiterhin als das kongeniale Medium, das diese Entwicklungen begleitet und reflektiert. Zur Feier der Moderne und der in Aussicht gestellten Verbesserung des Lebens durch Konsum trägt nun unter anderem der filmische Blick auf die Straße bei, die zu Fahrten in die Ferne und in eine optimistisch beurteilte Zukunft einlädt. Sie ist Ort und Sinnbild der Freiheit und des Fortschritts, gelegentlich allerdings auch Szene des Scheiterns großer Erwartungen. Filme der 1960er und 1970er Jahre entdecken das Auto und damit die Straße auch in ihrer Affinität zum Arrangement des Kinos, als Medien im Medium des Films: Die Windschutzscheibe erweist sich als Leinwand oder Bildschirm, die Auto-
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fahrt als Kamerafahrt, und das Anhalten wie das langsame oder schnelle Fahren erlauben differenzierte Kontaktaufnahmen mit Details unterschiedlicher Größenordnungen. Enge Beziehungen zur Straße und zum Auto unterhalten und gestalten Filme, die in den 1970er Jahren schnell wachsende Agglomerationen in den Blick nehmen, deren Vernetzung und Funktionalität auf Automobilität und landschaftsprägende Highways angewiesen sind. Abgesehen von einigen kurzen Referenzen auf das europäische Kino konzentriert sich die Auswahl der Beispiele, die das Bild der Beziehung von Bewegtmedien und Stadt für die Zeit von 1950 bis in die 1970er Jahre in diesem Band bestimmen, auf US-amerikanische Filme und Soundscapes, US-amerikanische Landschaften und Städte. Wirkmächtige neue Beschreibungen und Konzeptualisierungen von Raum und Landschaft, Infrastrukturen und den mit ihnen verbundenen Dynamiken entstehen durch die in vielen Gebieten der USA situierten Landart-Projekte, die bevorzugt über New Yorker Galerien kommuniziert werden. Ein anderer und für die Geschichte der Beziehungen von Stadt und Medien, Stadt und Infrastrukturen bedeutenderer Brennpunkt der Entwicklung liegt in Kalifornien. Hier werden alternative Lebensentwürfe erprobt und schon in den 1960er Jahren politische Kämpfe um die Stadt geführt. Vor allem aber gibt es in Kalifornien eine politisch wie ästhetisch einflussreiche Filmindustrie sowie die alle bekannten Stadtbilder negierenden und Stadtgrenzen ignorierenden Siedlungen und Autobahnkonstruktionen um Los Angeles, die besonders in den 1970er Jahren Architekten und Architekturkritiker, Filmemacher und Klangspezialisten gleichermaßen anziehen. Gegen Ende der 1970er Jahre und nach dem Zusammenbruch vieler traditioneller Industriezweige in Europa und den USA stellt sich eine neue Art der breiten künstlerischen Aufmerksamkeit für Infrastrukturen ein: die für ihren Stillstand. Es ist vor allem die Fotografie, die die für dynamische Wirtschaftsprozesse angelegten und nun ruhenden Wassertürme und Gasbehälter, Telegrafen- und Signalmasten, Industriebahnen und -straßen, Häfen und Lager entdeckt. Damit trägt sie zur Reflexion über zeitliche Phänomene und zur Entstehung des heute umfassenden Interesses an Infrastrukturen bei. Doch während die alten Industrien aufgegeben werden, entsteht eine neue Beziehung zwischen Städten und Infrastrukturen, die geprägt ist durch den Aufstieg digitaler Technologien, die ihrerseits neue räumliche Effekte erzeugen. Für die Auswahl der Beispiele in diesem Band
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spielt der damit angezeigte Bruch keine direkte, wohl aber eine indirekte Rolle. Mit der postindustriellen Phase enden in diesem Band die klaren Verortungen von entscheidenden Entwicklungen von Architektur, Städten und Infrastrukturen, auch die der sie reflektierenden Bewegtmedien. Das mag in Teilen den speziellen Interessen der Autoren und Autorinnen geschuldet sein und hat doch repräsentative Bedeutung. Die prägnanten Beispiele aus den letzten drei Jahrzehnten, deren Untersuchung aufschlussreiche Ergebnisse zu den zentralen Fragestellungen des Bandes beisteuern, zeichnen sich aus durch große Heterogenität. Die Texte führen filmische Auseinandersetzungen mit im postindustriellen Umbau veränderten Städten und Straßen vor, sie verlassen Europa und die USA und charakterisieren die kinematografische Befassung mit Beweglichkeit und Stillstand auf Straßen zwischen Dörfern, oder sie befragen aktuelle Aneignungen und Umgestaltungen obsoleter Infrastrukturbauten auf ihre Ästhetik. Die Beiträge dieses Bandes sind vorwiegend historisch orientiert, und doch ist es kein antiquarisches Interesse, das seine Zusammenstellung motiviert. Er führt vielmehr in die komplexen Beziehungen ein, die zwischen gebauten Umwelten, die mit der steigenden Bedeutung von Infrastrukturen immer deutlicher mediale Züge annehmen, und den sie analysierenden und reflektierten Medien bestehen. Die Texte dieses Bandes betreiben insofern eine archäologische Arbeit, die Voraussetzungen für heutige Auseinandersetzungen mit Städten und Landschaften erzeugen will. Heute erscheint die Aufmerksamkeit für Bewegungen, für die Zeitlichkeit und Qualitäten des Wahrnehmens in Städten und urban geprägten Landschaften dringender denn je. Denn Infrastrukturen und die mit ihnen verbundenen Dynamiken haben für den alltäglichen Gebrauch wie für die Wahrnehmung urbaner Umgebungen weiter an Bedeutung gewonnen. Geht man davon aus, dass die unterschiedlichen Formen der Bewegungen und Vernetzungen in den heutigen Agglomerationen für ihre bauliche wie ästhetische Weiterentwicklung konstitutiv sind, liegt es nahe, sich der bisherigen Beziehungen von Bewegtmedien und Städten zu versichern und darüber zu einer Erweiterung der analytischen und entwerferischen Zugänge zu kommen. Gesucht sind Aufzeichnungsverfahren, die neben den räumlichen die raum-zeitlichen Aspekte alltäglicher Wahrnehmungen und Bewegungen mit den Potenzialen von Medien in angemessene Relationen setzen. Und so regt sich das Interesse an der Rolle, die die angewandte Akustik für räumliche Entwürfe spielen kann, an der Erzeugung von Soundscapes
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wie auch an den Optionen, die audio-visuelle Bewegtmedien bieten. Ihre derzeit an mehreren Architekturfakultäten erprobte Adaption geschieht in der Hoffnung, dass mit ihnen eine neue Präzision in die medienästhetische Auseinandersetzung von Architektur und Städtebau mit den heutigen Städten eingeführt werden kann. Die Versuche zur projekt- und entwurfsorientierten Bestandsaufnahme über das bewegte Bild und über die Aufzeichnung von Klängen in Analysen urban geprägter Landschaften befinden sich im Stadium des Experiments. Nach wie vor sind daher auch für Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung die ohne Bindung an Gestaltungsprojekte entstandenen älteren und neueren, fiktionalen und dokumentarischen Filme und Soundscapes, die dieser Band vorstellt, von hohem Interesse. Denn sie bringen die Dynamiken der Städte und Landschaften, die Funktion der Infrastrukturen und ihre komplexe Verwobenheit zur Wahrnehmbarkeit, vermitteln eine Ahnung von den vielschichtigen Verbindungen von Stadt und Medien und stellen die Ästhetik der Stadt zu ihrer Überarbeitung aus.
Einleitung N ATHALIE B REDELLA UND C HRIS D ÄHNE
Infrastrukturen gelten nach der Definition im Lexikon als materielle Strukturen, als organisatorischer und technischer „Unterbau“, der für die wirtschaftliche Entwicklung eines Raumes erforderlich ist. Darunter fallen die im Boden liegenden Rohrleitungen und Kabel der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, die Einrichtungen des Fernsprech- und Fernmeldewesens, deren Netzwerke verschiedene Orte miteinander verbinden, sowie die Verkehrsnetze und -systeme,1 welche die Entwicklung und Erfahrung von urbanen Räumen bestimmen und auf die der folgende Band die Aufmerksamkeit richtet. In der Architekturtheorie werden Infrastrukturen vor allem als technische Artefakte erfasst, sodass die mit ihnen verbundenen sozialen, politischen und kulturellen Räume in den Hintergrund geraten. In Filmen dagegen können Infrastrukturen in ihren die Wahrnehmung und Kommunikation prägenden Eigenschaften sichtbar werden, insbesondere dann, wenn sie für die Stadterfahrung an Bedeutung gewinnen. Den Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes bildet die Annahme, dass die Wechselwirkungen zwischen den kinematischen Verfahren und den Bewegungen, welche durch Infrastrukturen ermöglicht werden, neue Perspektiven für die Stadtforschung eröffnen können.
1
Vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 12, Manheim/Wien/Zürich: Lexikon 1974, S. 586 und Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Bd. 10, 19. völlig neu bearbeitete Aufl., Mannheim: Brockhaus 1974, S. 501.
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Die sich Anfang des 20. Jahrhunderts durch Technologien der Kommunikation, des Straßenbaus und der Bauindustrie verändernde Großstadt wird in Filmen analysiert und neu konstruiert. Die Techniken des Films erlauben es, zwischen Maßstäben zu wechseln und heterogene Aktivitäten des Urbanen in Relation zu setzten. Ezra Pound und Georg Simmel beschreiben, wie die Physiognomie der Großstadt und deren Erfahrung dem kinematografischen Verfahren der Montage gleicht. Georg Simmel begegnen „mit jedem Gang über die Straße“ sich aufdrängende Impressionen „als rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder“.2 Die Kamera erfasst mit dynamischer Bewegung („entfesselte Kamera“) und ungewöhnlicher Einstellung (Kadrierung der Bilder) urbane Räume, die in der Montage anhand topografischer und infrastruktureller Gegebenheiten neu zusammengefügt werden. Nicht nur die Kamera des Films, sondern auch die schnelle Bewegung auf den Straßen erzeugt einen ähnlichen kinematografischen Effekt, mit dem sich laut Walter Benjamin „optische Zufahrtsstraßen in das Wesen der Stadt [eröffnen] wie sie den Automobilisten in die neue City führen“.3 Die Affinitäten zwischen dem Film, der Stadt und Architektur lassen einen Synergieeffekt erahnen, der für die Stadtanalyse und die Planbarkeit von Städten bedeutsam werden kann. Der Architekturhistoriker Reyner Banham fokussiert im Kapitel Autopia seines 1971 geschriebenen Buchs Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies das Transportnetz von Los Angeles. Die Entwicklung von Pfaden, Schienenanlagen und Highways wird in Verbindung zu den Gebäuden und Stadtteilen nachgezeichnet, um das Moment der Bewegung und die durch das Verkehrsnetz bedingten Veränderungen der Stadt als wesentliche Momente des Urbanen zu erfassen. Der von Julian Cooper gedrehte Film Reyner Banham Loves Los Angeles (USA 1972) zeigt Banham, wie er dem Zuschauer seine Perspektive von Los Angeles vorstellt. Dies geschieht fahrend aus einem Auto heraus. Die kinematografische Erfahrung von Los Angeles wird mit historischen Bildaufnahmen der Stadt und historischen Filmausschnitten montiert. Die Technik des Films produziert hier den Ansatz einer Stadtgeschichte, die von den Relationen der Bewegungen auf dem Highway, den Handlungs-
2
Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben [1903], Frankfurt a.M.:
3
Benjamin, Walter zit. n.: Berg-Ganschow, Uta; Jacobsen, Wolfgang: ...Film
Suhrkamp 2006, S. 9. ...Stadt...Kino..., Berlin: Argon 1987, S. 40.
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räumen der Bewohner, dem Hollywoodkino und der Popkultur bestimmt ist. Ein ähnliches Konzept liegt Thom Andersens Essayfilm Los Angeles Plays Itself (USA 2003) zugrunde. Aufs Engste mit der Entwicklung von Film und Stadt verbunden, konstruiert er anhand von Ausschnitten aus Hollywoodfilmen die Geschichte von Los Angeles. Im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Stadt werden neben den Infrastrukturen und Architekturen, die Los Angeles einst zum Vorbild für andere Großstädte machten, ebenso die politischen Konfrontationen zum Thema. Die Filme von Cooper/Banham und Andersen lassen erkennen, wie kinematografische Räume die Erfahrung des Urbanen erforschen können. Die Beiträge dieses Bandes gehen der Frage nach, mit welchen Verfahren Filme Infrastrukturen erfahrbar werden lassen und setzten sich mit den dynamischen Beziehungen zwischen Landschaft und Stadt auseinander. Dabei wird sichtbar, wie technische Mittel der Fortbewegung, soziale Entwicklungen, politische Ereignisse und ästhetische Formen ineinandergreifen und in ihrem Zusammenspiel die Entwicklungen des Urbanen bestimmen. Die Beiträge des Bandes sind in drei Abschnitten zusammengefasst: Soundscapes, Landscapes und Netscapes. Die Aufteilung in verschiedene Scapes verfolgt das Ziel, Aspekte des Tons, der Landschaft und der sozialen Netzwerke zu fokussieren. Soundscapes: Thematisiert die Klanglandschaft der Stadt und ihre Gestaltung. Klänge, Geräusche und Sprache des Urbanen produzieren eine Soundscape, die in den Beiträgen zu den Filmen Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (D 1927) und Nashville (USA 1975) diskutiert werden. Da es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch keinen Ton im Bild gab, komponiert der Film von Berlin eine nicht hörbare, dafür visuell sich entfaltende Sinfonie. Geschaffen wird eine audio-visuelle Komposition des bewegten Raums, deren Konsequenzen für den Entwurf einer neuen Ästhetik für Architektur und Städteplanung Chris Dähne in ihrem Beitrag nachgeht. Die Erfahrung des Urbanen erweitert und vermittelt der Film mittels Inszenierung rhythmischer und architektonischer Komponenten, um ein harmonisch Ganzes zu gestalten. In dem Film Nashville werden Räume und Räumlichkeiten von Sound verhandelt. Jan Philip Müller fragt in seinem Beitrag nach den auditiven Medien, insbesondere den im Film verwendeten Tonbandgeräten und ihren Milieus und stellt Altmans Porträt der politischen und kulturellen Situation Amerikas über den Entwurf der Tonspuren dar. Müllers Analyse
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arbeitet das Problem des Sich-Gehör-Verschaffens heraus, das von den Auseinandersetzungen zwischen harmonischer Komposition und einbrechendem „Noise“ gekennzeichnet ist. Holger Schulzes Beitrag stellt das Genre der Soundscape, die Gestalt und Form von Klang(umgebungen) vor und formuliert aus kulturhistorischer und künstlerischer Perspektive eine Kritik und Verteidigung der Soundscape im 21. Jahrhundert. Schulze zeigt, wie die sich in den 1960er Jahren etablierende Soundscape Documentation anfänglich ein Erlebbarmachen der klingenden Landschaft beabsichtigte, was jedoch nicht nur mit einer bloßen Dokumentation von Sounds, sondern mit einem subjektiven Eingreifen hörbarer Soundscape-Kompositionen verbunden war: Wahrnehmungsleitende ökologische, sensorische und psychologische Aspekte prägen die Komposition und liefern letztendlich einen entscheidenden Beitrag für eine sich im 21. Jahrhundert akustisch gestaltende Architektur und Stadtplanung. Wie Sound als Vermittler zwischen Zuhörer/Benutzer und seiner Umgebung formgebend agieren kann, stellt Michael Fowler in seinem Beitrag heraus. Beispielhaft werden Projekte untersucht, in denen Soundscape-Studien Denkansätze für gegenwärtige städtische Entwurfspraktiken liefern. Weniger jene sich hinter der visuellen Oberfläche von Architektur verbergende oder sie verkleidende Soundscape wird hier dargestellt, vielmehr zeigt Fowler das Entstehen einer Aural Architecture auf, die von den Interpretationen der Klangwelten bestimmt ist und mit Werkzeugen und Techniken anderer Disziplinen (zum Beispiel akustische Ingenieurswissenschaften) entworfen wird, um Identitäten urbaner Räume nachhaltig zu verändern. Landscapes: Auf welche Weise Infrastrukturen urbane Landschaften strukturieren, diskutieren die Beiträge des zweiten Teils. Dass Straßen als sowohl funktionale Durchgangsräume, nach Marc Augé benannte NichtOrte, als auch als Identifikationsräume fungieren, stellt Maria Imhof in ihrem Beitrag dar. Mit dem Blick aus dem Seitenfenster beschreibt sie Nicht-Orte und Begegnungen in Historias minimas und Un mundo menos peor. In beiden, in Argentinien 2002 und 2004 gedrehten Roadmovies, fungiert die Straße als Element, das die dünn besiedelte Landschaft strukturiert und (Fort-)Bewegung entstehen lässt. An den von ihr erschlossenen Räumen mit Durchgangscharakter entwickeln sich Geschichten und zwischenmenschliche Beziehungen, welche die Räume zu Gedächtnisorten transformieren. Während die Straßen den Vordergrund der Filme bilden, bleiben die Städte gesichtslos oder werden nur angedeutet. Der Beitrag von David
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Sittler reflektiert über den Straßen-Bilder-Verkehr im Film Night on Earth und entwickelt eine Theorie über die Wahrnehmung auf der Straße. Die Straßen-Bilder von Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki des Jahres 1991 bilden die Schauplätze des Films. Sittler diskutiert die Präsentation der Städte, die einerseits von dem Blick aus dem Taxi auf die Straße geprägt sind und sich andererseits mittels der Figuren und ihren Dialogen, vom Taxi aus, entfalten. Die Städte, mit ihren wechselnden Straßen-Bühnen und Betrachtern, erschließen in einem Interaktionsvorgang zwischen Wahrgenommenen und Wahrnehmenden neue Bedeutungen, die ihren Infrastrukturen zukommen. Carlotta Darò setzt sich in ihrem Beitrag mit der Relevanz von Technologien der Telekommunikation (Telegraf, Telefon und Radio) in den Stadttheorien von Lewis Mumford, Frank Lloyd Wright und Le Corbusier auseinander. Die Differenzen zwischen den urbanen Utopien der „vernetzten“ Landschaften in den USA und Europa zeigt Darò anhand der jeweils anders gelegten Schwerpunkte der Stadtplanung auf. Alena Williams untersucht in ihrem Beitrag die Arbeiten der US-amerikanischen Künstlerin Nancy Holt. In Holts Land-Art Projekten, die sich mit dem Verhältnis von Kunst, Architektur und Zeit-basierten Medien auseinandersetzen, spielt der Begriff audio-visuell eine zentrale Rolle. Die Bedeutung des Begriffs für die Konzeption des Verhältnisses von Landschaft und Raum arbeitet Williams heraus und richtet die Aufmerksamkeit darauf, wie Holt die Materialität des Kunstwerks und den Status des Autors in Frage stellt. Netscapes: Die Beiträge beschäftigen sich mit den sozialen und materiellen Netzwerken des Urbanen und ihren politischen Implikationen. Die filmische Darstellung von Abläufen auf der Baustelle, die insbesondere im Moment des Abrisses das Verborgene der Stadt zum Vorschein bringen, untersucht Marius Böttcher in seinem Beitrag über die Montage urbaner Imaginationen. Er geht darauf ein, wie José Luis Gueríns Film En Construcción (E 2001) – der vom Abriss eines Arbeiterviertels in Barcelona und dem Neubau eines Apartmentkomplexes handelt – mit Mechanismen des Verschwindens und Verdrängens operiert. Auf welche Weise der Film für die Stadtgeschichte an Bedeutung gewinnen kann, zeigt Nathalie Bredella an der Analyse von Julian Coopers Film Reyner Banham Loves Los Angeles (USA 1972). Sie geht der Frage nach, auf welche Weise sich der Film der Historiografie der Metropole und ihren Darstellungen nähern kann. Den spezifischen Wirkungen der Medien, welche Banham im Film heranzieht: Fotografien, Ausschnitte aus Hollywoodfilmen und Kartenmaterial sowie
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deren Collage, gilt besondere Aufmerksamkeit, da sich in ihnen die dynamischen Praktiken der Stadtgeschichte konstituieren. Gegen einen determinierten Gebrauch von Infrastrukturen argumentiert Christa Kamleithner in ihrem Beitrag und zeigt, dass sich erst im Gebrauch das spezifische Moment von Infrastrukturen entwickeln kann. Sie zeichnet Interventionen der 1990er Jahre im städtischen Raum nach, die neue Formen alltäglicher Kommunikation ermöglichen und setzt sie in Bezug zu Nicolas Bourriauds „relationaler Ästhetik“ sowie Jacques Rancières Konzept der „Aufteilung des Sinnlichen“. Mit Blick auf die verborgenen Räume der Großstadt beleuchtet der Film The Exiles (USA 1961) die städtischen Umbruchprozesse in Los Angeles der fünfziger und sechziger Jahre. Laura Frahm geht in ihrem Beitrag auf den stadtgeschichtlichen Kontext und die filmhistorische Dimension des Films ein und zeigt, wie der Film einerseits – vor dem Hintergrund des Bunker Hill Urban Renewal Project – einer im Stadtteil Bunker Hill beheimateten Jugendkultur Sichtbarkeit verleiht und reflektiert andererseits über filmische Zuschreibungen, die den Ort charakterisieren. Nach Frahm zeichnet The Exiles eine neue filmische Karte von Los Angeles, in der sich die ‚verborgenen Städte‘ der Stadt- und Filmgeschichte wechselseitig hervorbringen und reflektieren. *** Wir bedanken uns für die großzügige Förderung der Publikation bei Prof. Dr. Carsten Ruhl, Lehrstuhl Theorie und Geschichte der modernen Architektur der Bauhaus-Universität Weimar. Unser besonderer Dank gilt den beiden Direktoren des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) an der Bauhaus-Universität Weimar, Prof. Dr. Lorenz Engell und Prof. Dr. Bernhard Siegert für die Unterstützung der Publikation. Der Universität der Künste Berlin und dem Frauenförderfonds der Bauhaus-Universität Weimar möchten wir des Weiteren für die Förderung danken. Für das inspirierende Vorwort danken wir Prof. Dr. Susanne Hauser. Den Autorinnen und Autoren möchten wir für die fruchtbare Zusammenarbeit danken. Für Hinweise und Unterstützung bei der Konzeption der Film- und Vortragsreihe, in deren Zusammenhang dieser Band entstanden ist, danken wir Dr. Laura Frahm. Für Korrekturen und Anregungen bedanken wir uns bei Daniela Fabricius; Stefanie Müller danken wir für die Korrekturen und Layoutgestaltung.
Soundscapes
Die audio-visuelle Komposition des bewegten Raums Berlin. Die Sinfonie der Großstadt und neue Urbanität C HRIS D ÄHNE
Voller Erleuchtung tritt Carl Mayer nach Sichtung Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin auf die Straße und äußert seine Begeisterung für die bewegte Lebenswelt. Mitten im Verkehrsgewühl vor dem UFA-Palast am Zoo in Berlin stehend, ersinnt er die Idee eines Drehbuchs. Diese setzt der Regisseur Walter Ruttmann um, indem er aus den urbanen Bewegungen Die Sinfonie der Großstadt Berlins (1927) montiert. Prägnant sind Dynamik und Rhythmus, die im Film musikalischen Kompositionsprinzipien folgen. Es ist die Musik, die auch den Architekten Erich Mendelsohn zum Fassadenentwurf des Verlagshauses des Berliner Tageblatts (1921-23) inspiriert. Unter ihrem akustischen Eindruck fertigt er die entscheidende Skizze an, überträgt Klänge (Hören) in eine Zeichnung (Sehen) und letztendlich in ein neuzeitliches Bauwerk. Es befindet sich am Eckpunkt zweier Straßen der Berliner-Mitte und soll ein lebendiges Bewegungselement des urbanen Raumes sein. An der Infrastruktur, den Bewegungen auf den Verkehrsnetzen sowie deren Wahrnehmung, erkennen die Film- und Baukunst eine veränderte Urbanität. Mit der Stadtsinfonie und einer Architektur des Neuen Bauens reagieren sie auf Tempo und Bewegung der beschleunigten Zeit, mit denen Raum sinnlich wahrgenommen und schöpferisch generiert wird. Ausgehend vom Erleben des urbanen Raums, das nahezu filmische Eindrücke produ-
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ziert, versucht auch die Baukunst ihre Entwürfe in Bewegtbilder und Be1 griffe der Kinematografie zu fassen. Diese beschreiben kinematische Effekte und Eindrücke von Ruhe und Bewegung, Zusammenfügung und Teilung, Gliederung und Komposition und fließen daher in den Entwurf von Architektur und Städtebau ein. Rhythmus wird als Maß der Bewegung zum wesentlichen Charakteristikum gebauter Räume. Er wird in eine das Werk ordnende und gestaltende Komposition mit der Absicht übertragen, organische und lebendig empfundene Räume zu schaffen. In diesem Prozess wird die Wahrnehmung auf eine andere künstlerische Ausdrucksform übertragen: hier auf den Film und die Architektur. Ihre schöpferische Gestaltung erfolgt mittels Ordnungs- und Strukturprinzipien der Musik: die Sinfonie (Ruttmann) und die Fuge (Mendelsohn). Mit diesem formalen Konzept gelingt es, die rhythmischen Bewegungen urbanen Raums in eine nahezu audio-visuelle Komposition zu übersetzen. Erst als theoretische Überlegung, Skizze und Entwurf findet der bewegte Raum letztendlich zu architektonischer Gestalt. Vom Film dokumentiert und rezipiert, gleichsam analysiert und produziert ist er Ausdruck des allgemein so erlebten physischen Raums. In diesem Beitrag wird angenommen, dass der Entwurf von bewegtem Raum auf einer sinnlichen Wahrnehmung dynamischer Umgebung beruht. Dabei schreiben sich Fortbewegungsmittel und Verkehrsnetze in die schöpferischen Werke ein, wie die gewählten beiden Beispiele von Berlin aus den 1920er Jahren, die Stadtsinfonie und das Verlagshaus Rudolf Mosse, es darstellen sollen. Hierfür werden Theorien, Entwurfs- und Gestaltungsprinzipien unter anderem von Walter Gropius, Peter Behrens und Erich Mendelsohn skizziert, die zu analytisch-kritischen Überprüfungen führten. Dies erfolgt im Hinblick der bestehen Analogien zwischen Ton- und Bildwelt, mit denen die Bau- und Filmkunst den Zeitgeist und Fortschritt moderner Räume postulieren.
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Krausse, Joachim: Raum aus Zeit – Architektur aus der Bewegung; in: Arch+, Nr. 32 (1999), S. 22-29.
D IE AUDIO - VISUELLE K OMPOSITION DES
U RBANE K LÄNGE
UND
BEWEGTEN
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B ILDER
Ergriffen von der visuellen und akustischen urbanen Szenerie Berlins produzieren Ruttmann und der Komponist Edmund Meisel einen Film. Zum Sujet wird die Stadt, deren dynamische Aktivitäten sich in der Chronologie eines Tagesverlaufes vollziehen. Von den Quartieren bis zum kleinsten Detail der Maschinen, Gebäudefassaden oder auch Verkehrszeichen werden sie mit herantastenden Maßstabssprüngen und unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln aufgespürt: der Straßen- und Stadtbahn, dem Zug, Automobil, Flugzeug oder auch Boot. Dadurch entsteht ein nahezu vollständiges Porträt großstädtischer Bewegungen und Dynamiken, die eine infrastrukturelle Landschaft rahmt. Ihre ungestellten Bilder kennzeichnet eine auf Fragmentierung ausgerichtete polyperspektivische, kontinuierlich wechselnde Betrachtung der Objekte. In kontrastreichen Aufnahmen wird das Thema Bewegung und Dynamik signifikant, was durch die Aufnahme selbst (Kamerafahrt, Neues Sehen und Neue Sachlichkeit), die bewegten Objekte (Verkehrsmittel, Maschinen und Passanten) und letztendlich Schnitt und rhythmische Montage umgesetzt wird. Ihnen gehen Ideen voraus, die Ruttmann als Kartei in einer Kartothek mit genauer Bezeichnung der Aufnahme, Skizze sowie Angaben über Länge und Stimmungsgehalt, genauer grafischer Kurve des Tempos 2 und der Bewegung der Szene angelegt hat. Danach ordnet und montiert er bildähnliche und konträre Motive und Bewegungen sachlich und assoziativ. Die Technik der Montage verleiht den Motiven wie Straßen und Gebäuden, laut Béla Balász, einen „optischen Rhythmus [...], der nicht weniger aus3 drucksvoll ist als eben Musik“. Die Musik, die Ruttmann als Kompositionsprinzip seiner Bilder wählt, ist die Sinfonie. In langsamer (Andante) bis schneller (Allegro) Aufeinanderfolge der Filmbilder erzeugt die Sinfonie die Dialektik wechselnder Themen und kontrastierender Wirkungen mittels variierenden Satzfolgen, Wiederholungen und Steigerungen. Gleiche Bewegungsvorgänge und grafische Formen werden im Film vom langsamen bis hin zum schnellen Rhythmus der musikalischen Komposition getragen. Sie prägt ein den Tageszeiten entsprechender Rhythmus, der sich im
2
Vgl. Georgen, Jeanpaul: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin: Freunde der Deutschen Kinemathek 1989, S. 27.
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Balázs, Béla: Der Geist des Films, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 50.
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Gesamtbild der Stadt und auch in deren Erfahrung manifestiert. Diese Erfahrung ist gebunden an die veränderte Wahrnehmungsweise vom urbanen Raum, der nach einer neuen Betrachtungs- und Darstellungsart verlangt. Für den Filmkünstler Ruttmann findet sie als sogenannte Stadtsinfonie ihren künstlerischen Ausdruck. Mit dieser besonderen Filmform gelingt die Komposition visueller und akustischer Impressionen nach dem Ordnungsund Strukturprinzip der Sinfonie. Sie stellt ein harmonisch ‚zusammenklingendes‘ Gesamtwerk her, welches durch ein Hauptmoment angeregt das 4 Empfinden jedes Einzelnen individuell ansprechen soll. Insofern liefert die Musik, eine „artikulierte Zeit, nämlich Rhythmus“, die Hans Richter als 5 „innere Struktur“ betrachtet. Sie definiert den Konstruktionsplan der Elemente, nach dem sich das Filmbildkontinuum zusammenfügen soll. Die Vorgabe macht daher die musikalische Komposition, welche laut Regisseur Sergej Eisenstein den ‚Baumeister‘ „vor formaler Willkür ebenso wie vor abstrakter Voreingenommenheit“ bewahrt, und ihm die Möglichkeit gibt, „sich auf immer neue Art, fernab von Schablonen und Routine, dem leben6 digen Stoff des Werkes zu nähern“. Auf Grundlage der musikalischen Kompositionsmethode produziert Ruttmann seinen stummen Film, für den Edmund Meisel letztendlich eine deskriptive Filmmusik schreibt. Dafür ergänzt er das Instrumentarium des herkömmlichen Orchesters (Geige, Cello, Trompete, Trommeln) mit einem 7 „Geräuschtisch“. Auf ihm versammelte einfache Gegenstände wie Kokosnussschalen oder Kämme mit Seidenpapier dienen der experimentellen Erforschung musikalischer Elemente einer technischen Epoche. Den Geräuschtisch, welchen der Autor der Berliner Volks-Zeitung vermeintlich als
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Vgl. Finscher, Ludwig: Symphonie, in: ders.: Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil 9, 2. Aufl., Kassel [u.a.]: Bärenreiter [u.a.] 1998, S. 16-153.
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Richter, Hans: Der Mann mit der Kamera, in: Institut für Theater, Film- und Medienwissenschaft; Institut für Theaterwissenschaft (Hg.): Maske und Kothurn. Dziga Vertov zum 100. Geburtstag, H. 1, 42. Jg. (Wien 1996), S. 23-25, S. 24.
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Eisenstein, Sergej: Ausgewählte Aufsätze, Berlin: Henschel 1960, S. 462. Zielesch, Fritz: Beim Schöpfer der Filmmusik (26. Februar 1928), wiederabgedruckt in: Sudendorf, Werner (Hg.): Der Stummfilmmusiker Edmund Meisel, Frankfurt a. M.: Dt. Filmmuseum 1984, S. 61.
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„Musikmaschine zur Erzeugung von Maschinenmusik“ bezeichnet, benutzt der Komponist um „eine akustische Ausdrucksmöglichkeit für die 9 Tonwelt des modernen Alltags zu finden“. Sie besteht aus Bahnhofsgeräuschen, der An- und Abfahrt eines Zuges, oder auch Maschinengeräuschen, mit denen er eine „Maschinenmusik“ komponiert. Die als minimalistisch zu bezeichnende Musik reflektiert eine klangliche Alltagswelt, bei der die Grenzen zwischen musikalischem Rhythmus und rhythmisierenden Geräuschen aufgehoben werden. Dies gelingt dem Komponisten durch Betonung struktureller Ähnlichkeiten, wie zum Beispiel die Kombination exakter Marschrhythmen mit lebhaften Geräuschkulissen der Großstadt Berlin. Für eine solche Inszenierung lauscht er „Stunden um Stunden in den Großstadtlärm hinein, notierte [...] die Tempi der Geräusche, das Klingeln der Straßenbahnen, das Hupen der Autos, den Rhythmus nächtlicher Schienen10 arbeit“. In Analogie zu Ruttmann benutzt Meisel die Geräusch- und Tonwelt der Stadt, um das Erleben ihrer dynamischen Filmbilder zu verstärken. Neben der Synthese von Bild und Ton führt die so produzierte Stadtsinfonie auch deren Synästhesie, das heißt die gleichzeitige sinnliche Wahrnehmung der modernen Großstadt, herbei. Der bildhafte und akustische Rhythmus der Stadt verankert und überlagert sich im – nach Kompositionsstrukturen der Musik montierten – urbanen Material. Somit wird der physischen Realität eine zweite Textur verliehen, mit der sich die raumbeschreibende Dokumentation zu deren raumkonstruierenden Interpretation verschiebt.
V ERKEHRSRÄUME
UND - NETZE
„Durch die Entwicklung der modernen Verkehrsmittel“, schreibt der Architekt John B. Hambrook 1914, „[hat die Straße] einen ungeahnten Aufschwung genommen [...]. Ihr ist die Bedeutung zugefallen, die verschiedenen Stadtteile zu verbinden, und durch ihre lange Bahn tosen die Elektri-
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Ebd., S. 61.
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Ebd.
10 Ebd., S. 62.
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sche, das Automobil, die Fahrräder und Droschken“. Mit dieser Aussage zur Straße spricht der Autor gleich zwei sich bedingende Veränderungen der wachsenden Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts an: die Entwicklung des mechanisierten Verkehrs und seine Auswirkungen sowohl auf den Städtebau als auch auf die Lebenszustände der Großstadtbevölkerung. Beide Veränderungen manifestieren sich einerseits physisch im Stadtkörper und ändern andererseits auch dessen psychische Empfindung. Die neuen Verkehrsmittel und -anlagen führen die Umgestaltung des urbanen Raumes herbei und verlangen nach städtebaulichen Ordnungs- und Vernetzungssystemen, die in Berlin nach dem Vorbild ringförmiger und strahlenförmiger Bahnliniennetze bereits Ende des 19. Jahrhunderts angelegt werden. Der Ausbau geht mit einer allgemeinen Verdichtung des Verkehrsnetzes einher, bei der Straßen und Gleise mehrstöckig übereinander geordnet werden oder sich in den Stadtkörper eingravieren. Diese Maßnahmen erzeugen Stadtbilder, die weltweit für Diskussionen sorgen. „Die einen wollen die Großstadt senkrecht, die anderen wagrecht aufgebaut wissen“, konstatiert Gustav Böss, in den zwanziger Jahren amtierender Bürgermeister Berlins. „Der senkrechte Aufbau will zwei oder gar drei Städte übereinander haben. Unter der Erde spielt sich der Bahnverkehr ab, über der Erde steht die Geschäftsstadt mit dem Autoverkehr und noch darüber 12 die Wohnstadt mit dem Verkehr der Fußgänger“. Böss hält den senkrechten Aufbau der deutschen Großstadt für eine Utopie und plädiert für einen um den Stadtkern weiträumig geordneten waagerechten Aufbau Berlins. Ausgelöst von der ökonomischen Entwicklung der Stadt wird eine topografische und städtebauliche Vielschichtigkeit erzeugt, welche die Verhältnisse der Bevölkerung zu ihrer urbanen Umgebung stark verändert. Mit den Straßen- und Schnellbahnen, Untergrund- und Hochbahnen, Bussen und Kraftwagen erhöht sich die Geschwindigkeit und Dichte der Verkehrsmittel, mit denen neue Räumlichkeiten erschlossen werden. Dies geschieht aufgrund der beschleunigten Bewegungsart in geringer Zeit, in der Distanzen zurückgelegt werden. Infolgedessen ist die Erfahrung von Raum eine andere geworden. Aus bisher unbekannten Perspektiven und mit rasan-
11 Hambrook, John B.: Haus oder Straße, in: Jahrbuch des deutschen Werkbundes, Der Verkehr (Jena 1914), S. 24-28, S. 27.
12 Böss, Gustav: Berlin von heute. Stadtverwaltung und Wirtschaft, Berlin: Gsellius 1929, S. 112.
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tem Tempo reiht sich eine Vielzahl von Einzeleindrücken aneinander. Sie stellen einen neuen räumlichen Zusammenhang und Gesamtraum einst heterogener Zonen her. Die Verkehrsmittel und Signalanlagen auf den Straßen und Gleisen, das Lichtspiel der Leuchtreklamen an den Gebäuden, die Maschinen und Arbeitsgeräte in den Fabriken und Büros erzeugen bewegte Momentaufnahmen, die visuell quasi als Collage wahrgenommen werden. Der Bauhauskünstler László Moholy-Nagy hat diese Erfahrung als typografische Skizze in den Jahren 1921-22 erstmalig dargestellt. Fassaden und Lichtreklamen, Verkehrszeichen und Bogenlampen des urbanen Raums werden als selektierte Motive zur Skizze eines nie verwirklichten Films 13 Dynamik der Gross-Stadt zusammengeführt. Ihre grafische Anordnung, Beschreibung und Zusammenfügung mit dem Wort „Tempo“ erinnert an die Methode Ruttmanns, mit der er großstädtische Impressionen in Form von Karteien strukturiert und geordnet hat. Die neuen Verkehrsnetze und -mittel bestimmen die Wahrnehmung urbaner Räume und beginnen sie nachhaltig zu wandeln. Gerade an die Baukunst werden dadurch neue Aufgaben gestellt, die künstlerische Gestal14 tung der Stadt, die sie flankierenden Bauten, betreffend. So sieht der Architekt und Stadtplaner Fritz Schumacher die Probleme der Grosstadt darin, dass „[die Straße] ihr Leben und ihre Bedeutung [erhält] durch die Abwägung der Massenentwicklungen ihrer Seiten und durch die Ausbildung der Punkte, zu denen sie führt. Sie ist dienendes Glied zwischen den baulichen Betonungen ihrer Abschlüsse und trägt ihren eigenen Reiz in der sorgfältig abgewogenen Anlage ihrer Wände und ihres Gang- und Fahrkör15 pers“. Der urbane Raum verlangt nach einer architektonischen Gestaltung, die für den vorbeihastenden oder -fahrenden Passanten ausgerichtet sein muss. In der Bewegung sollen seine Blicke – vergleichbar mit MoholyNagys typografischer Großstadtskizze – die Gebäudefassaden, Straßenreklamen und -signale erfassen. Aus diesen Gründen werden Dynamiken und Klänge der Verkehrsräume und -netze zum maßgebenden Thema, an dem sich sowohl Meisel und Ruttmann als auch einige Architekten der Zeit bei
13 Moholy-Nagy, László: Malerei, Fotografie, Film (1927), Reprint, 3. Aufl., Berlin: Gebr. Mann 2000, S. 122-135.
14 Vgl. Hambrook 1914, siehe Anm. 11, S. 27. 15 Schumacher, Fritz: Probleme der Grosstadt, 2. Aufl., Leipzig: Seemann 1940, S. 88-89.
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der Erschaffung ihrer modernen Werke orientieren. Die Wahrnehmung bewegter Räume wird zum Konzept und Kompositionsprinzip für die Filmund Baukunst.
B EWEGTE R ÄUME
UND
ARCHITEKTUREN
Bei der Beobachtung vom Tempo geprägter Räume gelangt der Architekt Peter Behrens zu formalen Erkenntnissen über die Baukunst. Die kurzen, perspektivischen Wahrnehmungsphasen und schnellen Bildwechsel lassen, seiner Meinung nach, einen statt formenreichen eher abstrakten und silhouettenhaften Stadtraum erkennen. Infolgedessen schlägt er unter dem Einfluss von Zeit- und Raumausnutzung auf die moderne Formentwicklung 16 (1914) eine Gestaltung der Gebäude, Quartiere und Städte mit möglichst geschlossenen und ruhigen Flächen und Formen vor. Diesem Vorschlag schließt sich Heinrich Spaemann an und plädiert dafür, auf bauliche Widerstände wie Erker, Vorsprünge und Giebel in der Architektur zu verzichten, da sie dem Auge „lauter widersinnige regellose Haltepunkte bieten und ihm 17 jede Gleitfähigkeit nehmen“. Spaemann überträgt diese visuelle Störung durch bauliche Elemente auch auf die Straßen und Wege, deren gepflasterte Oberflächen die fließende Bewegung behindern. Darum schlägt er asphaltierte Straßenbeläge vor, die eine reibungslose räumliche und dynamische Organisation ermöglichen. Der Verzicht auf den Bewegungsfluss störende, äußerlich verwendete Elemente lässt eine neue Architektur der Verkehrsräume entstehen. Sie solle sich laut Spaemann an der „Horizontalgliederung der Straße“ orientieren und „das Auge reibungsloser an noch bestehende [...] Vertikalakzente [...], wie Erker und Fensterlaibungen [...] vorbeifüh18 ren“. Auch Walter Gropius lässt sich von ebensolchen optischen Eindrücken des Stadtraums stimulieren. In seinem Aufsatz Gibt es eine Wissenschaft
16 Behrens, Peter: Einfluss von Zeit- und Raumausnutzung auf moderne Formentwicklung (1914), in: Schumacher, Fritz: Lesebuch für Baumeister: Äußerungen über Architektur und Städtebau, Braunschweig: Vieweg 1977, S. 427-431.
17 Spaemann, Heinrich: Bewegungskunst. Großstadt, in: Soz. Monatsheft (20.02.1928), S. 166-167, S. 166.
18 Ebd., S. 167.
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der Gestaltung? (1947) beschreibt er folgende, mit den Raum- und Zeitrelationen einhergehende, fordernde Beobachtung: „Wenn wir [einem Bauwerk] näherkommen, unterscheiden wir heraustretende und zurückweichende Bauteile und Einschnitte, deren Schatten das Verständnis des Maßstabs für diesen neuen Abstand vermitteln. Und wenn wir schließlich dicht davorstehen und nicht länger das ganze Gebäude überblicken können, muss das Auge von neuen Überraschungen angezogen werden, in der Form 19 kunstvoller Oberflächenbehandlung“. Anstelle von Behrens und Spaemann schließt er auf eine strukturierte Gestaltung von Architektur, die von unterschiedlichen Standpunkten aus und Geschwindigkeiten differenziert wahrzunehmen sei. Grund dafür ist die abwechselungsreiche Szenografie einer Bewegungsvorstellung. Sie wird zum Ausgangspunkt architektonischer Konzepte und führt gar zu deren Entwurf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besteht ein starkes Interesse daran, eine auf Verkehr und Dynamik ausgerichtete Baukunst, neuer Gestalt und Konstruktion, zu erschaffen. Gropius’ formuliertes Ziel ist es, ein neues Lebensgefühl und neue Lebensformen zu erzeugen: „Wir wollen den klaren organischen Bauleib schaffen, nackt und strahlend aus dem inneren Gesetz heraus ohne Lügen und Verspieltheiten, der unsere Welt der Maschinen, Drähte und Schnellfahrzeuge bejaht, der seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner Baumassen zueinander funktionell verdeutlicht und alles Entbehrliche abstößt, das die absolute Gestalt des Baus verschleiert. [...] Der neue Baugeist bedeutet: Ueberwindung der Trägheit 20 [...]“. Aus dem neuen Bewusstsein für die modernen Lebensbedingungen geht die Vorstellung eines Neuen Bauens hervor. Sie findet in der Verschmelzung von Form und Inhalt Gestalt. Diese Ideologien sind keineswegs neu und weisen Übereinstimmungen mit dem Manifest zur Futuristischen Architektur (1914) auf. Das Manifest ruft auf, eine in allen Teilen bewegliche und dynamische futuristische Stadt mit Häusern, gigantisch wie Ma-
19 Gropius, Walter: Gibt es eine Wissenschaft der Gestaltung? (1956) [orig.: Design Topics, Magazine of Art, Dez. 1947], in: Architektur. Wege zu einer optischen Kultur [orign.: Scope of total Architecture, 1955], Frankfurt a. M.: Fischer Bücherei KG 1956, S. 26-39, S. 34.
20 Gropius, Walter: Der Baugeist der neuen Volksgemeinde, in: Die Glocke, H. 1/X (1924), S. 311-315, S. 314.
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schinen, zu planen und zu erbauen. Wie die Maschinen, fordert Antonio Sant’Elia, solle auch Architektur „keine schale Kombination von Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit“ sein, sondern „eine Kunst – das heißt Synthese 22 und Ausdruck“. Seiner Meinung nach ist die Inspiration für die Baukunst auch in der neuen mechanischen Welt zu finden, die mit einer ihr entsprechenden Architektur ergänzt werden muss. Die unerlässliche Synthese von Lebenswelt und fortschreitender Technik (Verkehrs-, Ingenieurs- und Bauwesen) beabsichtigt ein einheitliches Weltbild zu erschaffen, an das Gropius 13 Jahre später anknüpft: „Der Wille zur Entwicklung eines einheitlichen Weltbildes [...] setzt die Sehnsucht voraus, die geistigen Werte aus ihrer individuellen Beschränkung zu befreien und sie zu objektiver Geltung 23 emporzuheben“. Zu dieser objektiven und einheitlichen Gestaltung wer24 den die Architekten durch „Weltverkehr“ und „Welttechnik“ veranlasst. Die Straßen und Verkehrsmittel bedingen die Funktion der Baukörper und erfordern, so beschreibt und illustriert Gropius die moderne Internationale 25 Architektur (1927), exakt geprägte Formen und gegliederte Baueinheiten. Ein Objekt, an dem sich die Beobachtungen und architektonischen Forderungen überprüfen lassen, ist das Berliner Verlagshaus Rudolf-Mosse, das auch Sujet in Ruttmanns Berlin-Sinfonie ist. In den Jahren 1921-1923 baut Erich Mendelsohn das nach Plänen von Cremer & Wolffenstein 1901-1903 mit historischen Sandsteinfassaden errichtete Gebäude um und erweitert es. Entgegen seines ersten skizzierten Entwurfs, der von starken vertikalen Linien des Altbaus in der neuen Fassadengestaltung dominiert wird, zeigt eine spätere Skizze die horizontal gegliederte Ausführung der Gebäudeecke, welche sich in allen neuen Bauteilen fortsetzt. Die Idee dazu 26 entsteht bei einer Aufführung von Bachs Matthäus-Passion , wie es das
21 SantތElia, Antonio; Marinetti, Fillipo Tomaso: Futurstische Architektur (1914), in: Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Ullstein 1964, S. 30-35.
22 Ebd., S. 34. 23 Wingler, Hans M. (Hg.): Walter Gropius. Internationale Architektur (1927), 2. Aufl., Mainz: Florian Kupferberg 1981, S. 7.
24 Ebd. 25 Ebd. 26 Stephan, Regina: Studien zu Waren- und Geschäftshäusern Erich Mendelsohns in Deutschland, München: Tuduv-Verl.-Ges. 1992, S. 64.
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Skizzenpapier belegt. Die Musik stimuliert nicht nur den Fassadenentwurf, sondern erlangt auch als Kompositionsprinzip große Bedeutung. Denn die Bach’sche Musik hatte besonderen Einfluss auf den auskragenden Baldachin (Eingang des Gebäudes), der auf heftigen Widerstand bei den Bauge27 nehmigungsbehörden stieß. In einem Brief an seine Frau schreibt Mendelsohn: „Gestern den ganzen Tag, heute noch Vormittag beim Bildhauer des Mossemodells wegen. [...] Die Seitenansicht bezw. Anschlusslösung der Baldachinbänder durch Profile. [Richard] Neutra, [Paul Rudolf] Henning – 3 Mann gleichzeitig sind zu viel, um die Lösung zu finden. Heute allein verwarf ich die Details von gestern und kam in glücklichem Moment auf das Anschlusselement, damit auch auf das Detail. Ich hoffe, ich kann vor dem Modell den Bonzen klarmachen, weshalb die Baldachine so brutal aus der Fassadenmauer herausdrängen. [...] Der Baldachin muss durchgesetzt werden, sonst fehlt der Fuge der Baß“.28
Dass Mendelsohn den Baldachin mit einer Fuge vergleicht, kann vermutlich damit begründet werden, dass er ihn als Schlussakkord der kontrapunktischen musikalischen Satztechnik beziehungsweise als Abschluss des Bauwerks versteht. Neben musikalischen Kompositionsprinzipien orientiert sich der Architekt eigener Aussage zufolge an der städtebaulichen Situation des Baukörpers: So, wie „das Haus kein unbeteiligter Zuschauer der sausenden Autos, 29 des hin und her flutendes Verkehrs“ ist, stellt Mendelsohn fest: „So wird die Straße, dem schnellen Verkehr entsprechend, zur horizontalen Leitbahn, die von Schwerpunkt zu Schwerpunkt führt; also die kommende Stadt selbst
27 Stephan, Regina: Denken von Tag zu Tag, wo Geschichte große Kurven schlägt und Hunderttausende unbefriedigt lässt. Frühe expressionistische Bauten in Luckenwalde, Berlin/Gleiwitz, in: dies. (Hg.): Erich Mendelsohn Architekt 18871953. Gebaute Welten, Ostfildern-Ruit: Hatje 1998, S. 44-63, S. 57.
28 Ebd. 29 Mendelsohn, Erich: Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion (1923), in: Klotz, Heinrich: Erich Mendel-
sohn, 2. Reprint d. Erstausg. von 1930,Braunschweig: Vieweg 1989, S. 22-34, S. 28.
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ein System von Schwerpunkten, denn sie ist, wenn man mit weitester Optik sieht, in Wahrheit das eigentliche Raumsystem“.30
Das sogenannte Raumsystem beim Mosse-Haus bildet der Schnittpunkt 31 zweier (eher zierlicher) Straßen , auf denen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vermutlich sowohl motorisierte Fahrzeuge als auch Pferdewagen verkehrten. Entgegen der Vertikalität des Altbaus betont der Um- und Erweite32 rungsbau die Horizontalität mittels Fensterbändern und Putzstreifen. Im Eingangsbereich verlaufen hervorstehende Putzstreifen in engen Abständen auf den Eingangsbereich horizontal zu. Ihre kleinteilige, keramische Oberfläche wird vom vorbeilaufenden Passanten – ebenso wie das Vordach – differenziert wahrgenommen. Im Gegensatz dazu zeigen die oberen und nur aus der Distanz sichtbaren Fassadenteile die gleiche horizontal ausgerichtete Gestaltung, die schmale rechteckige Fensterbänder noch ergänzen. Anders als im unteren Gebäudeteil sind die Abstände im oberen größer und die Materialien der Fensterbänder und Putzstreifen glatter. Sie werden zu Stilelementen des Neuen Bauens, die dem schnelllebigen Zeitgeist einen dynamischen Ausdruck verleihen. Es ist ein äußerlicher Eindruck, der am Mosse-Haus erzeugt wird, denn eine Übereinstimmung von innerer Organisation und äußerer Gestalt liegt nicht vor. Eher kann man hier von dekorativen Elementen oder mit Worten Gropius’ von einer kunstvollen Oberflächenbehandlung sprechen, welche ein fließendes Linienspiel erschafft, das die Form des Baukörpers nachzeichnet und betont. Aber eine gewünschte Verbindung von Form und Programm geht das Gebäude nicht ein. Von der Straße, dem schnellen Verkehr und seiner ästhetischen Erscheinung, schöpft Mendelsohn seine architektonischen Ideen. An den neuen Fortbewegungsmitteln (Automobil, Ozeandampfer, Flugzeug und Unterseeboot) interessieren ihn die Stromlinienformen ihrer bildhaften und formalen Gestalt, woraus er seine Dynamik der Horizontalen entwickelt. Die kraft- und schwungvolle Horizontale taucht als (Strömungs-) Linie, später
30 Ebd. S. 33. 31 Vgl. Jessen, Heinrich: Dem Herrn der Horizontale, in: Archithese 1 (Januar/Februar 1988), S. 77-78, S. 77.
32 Mendelsohn hatte die Aufgabe, die seitlichen Gebäudeflügel um zwei Geschosse zu erhöhen, die Ecke des Baues wiederherzustellen und um drei Geschosse aufzustocken.
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als (Fenster- und Putz-) Band auf, mit der eine Strukturierung des Baukörpers vorgenommen wird. Sie lässt sich als architektonische Interpretation 33 von Albert Einsteins Aussagen zur Kinematik verstehen. Denn was Einstein mit Eindrücken von Ruhe und Bewegung beschreibt, findet in der Architektur Mendelsohns in Form von geschichteten horizontalen Elementen (Fenster- und Putzflächen in Anlehnung an Film- und Lichtstreifen) seine Umsetzung. Zudem zeigt die Architektur aufgrund der stadträumlichen Situation, an der Straßenecke beziehungsweise -kreuzung, eine Rundung. Die einst kantige Ecke hat eine Rundung erfahren, die in der Detaillierung als Relief den Blick nach oben lenkt. Die von Spaemann bereits bekannte „Horizontalgliederung der Stra34 ße“ wird zur Leitidee der architektonischen Komposition, die horizontale dunkle Fensterbänder und helle Putzstreifen widerspiegeln. In Analogie zur Straße sind sie die „große[n] Horizontalen, Gleitbahnen des Verkehrs, Umführungen um die Ecke, die den Stadtgänger an dem Haus vorbeiziehen wie 35 die Schienenstränge auf dem Pflaster“. Von dieser, den Verkehr, seine horizontale Bewegung und Dynamik, aufnehmenden Komposition verspricht sich Mendelsohn eine Entlastung des reizbaren Nervensystems: „Der Mensch unserer Zeit, aus der Aufgeregtheit seines schnellen Lebens, kann nur in der spannungslosen Horizontalen einen Ausgleich finden. Nur durch den Willen zur Wirklichkeit wird er Herr über seine Unruhe, nur durch die vollendetste Schnelligkeit überwindet er seine Hast“.36
33 Krausse, Joachim: Vom Einsteinturm zum Wunder von Jena. Einsteins Weltbild und die Architektur, in: Neumann, Thomas: Zeitmontage. Albert Einstein, Berlin: Elefanten Press 1989, S. 58-67, S. 66-67.
34 Spaemann 1928, siehe Anm. 17, S. 167. 35 Richard Hamann: Wege zur ,Neuen Sachlichkeit‘ (1933), in: Schumacher, Fritz (Hg.): Lesebuch für Baumeister, unveränd. Nachdr. der neu bearb. Aufl. vom Juli 1947, Braunschweig [u.a.]: Vieweg 1977, S. 467-472, S. 470.
36 Mendelsohn 1989, siehe Anm. 29, S. 24-25.; Vgl. auch Schumacher, Fritz: Das bauliche Gestalten, in: Handbuch der Architektur, IV. Teil, 1. Halbband: Architektonische Komposition, 4. Aufl., Leipzig: Gebhardt 1926, S. 5-63, S. 23 „Alles Betonen des Horizontalen bedeutet Ruhe; alles Betonen des Vertikalen bedeutet Streben“.
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Damit schließt er sich der allgemein so gesehenen Wahrnehmungstendenz an, bei der alles Betonen der Horizontalen Ruhe bedeutet. Hier am MosseHaus von einer spannungslosen Horizontalen zu sprechen ist nur bedingt nachvollziehbar, da diese Bänder die Fassade strukturieren und konstruieren, sie in der schwebenden Form halten. Wie es bereits angeklungen ist, weist das Gebäude eine unterschiedlich stark ausformulierte Detaillierung seiner Gliederungselemente auf, die aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich empfunden und erlebt werden. Mit diesem Konzept zeigt der Mosse-Bau Übereinstimmungen mit den Entwurfsgedanken Gropius’: Vom Erdgeschoss und Straßenniveau wird dem Fußgänger eine feingliedrige Ausarbeitung der Fassade des Verlagshauses aus nächster Nähe sichtbar, hingegen das Obergeschoss, nur aus der Distanz vom fahrenden Auto erfassbar, grobgliederiger und großflächiger strukturiert ist. Diese Besonderheit wird erst in der dynamischen Bewegung ersichtlich. Die architektonische Komposition wirkt eingebettet in die Dynamik einer städtebaulichen Gesamtkonzeption. Wesentlich bei der Gestaltung von Stadt und Architektur ist die Wahrnehmung eines Objektes in und mit der Bewegung, wie sie Gropius beschreibt. Bei der Bewegung gibt das Verkehrsnetz, hier die Straße, die Wahrnehmungsrichtung vor, ebenso die Standpunkte und Perspektiven, von denen aus es gesehen werden kann. Der Raum und seine Architektur erschließen sich daher vorbestimmt in der Zeit und mit wechselnden Stand37 punkten, dynamisch und fließend. Aus diesem Grund kommt MoholyNagy in seiner Schrift der raum [architektur] (1922) vermutlich zu der Erkenntnis, dass sich der Raum zu einem kontinuierlichen Beziehungssystem verwandelt hat. Der einst statische Raum hat die Wahrnehmungsfähigkeit in Bewegung versetzt. Angesichts dieser Veränderung sollen die Elemente eines Bauwerks sich zu einem Raumgebilde fügen, das „uns zum raumerle38 ben werden kann“. In der Realisierung bedeutet dies, laut Gropius, dass die Architekten versuchen sollten, mit ihren Bauten den sie „bestimmenden
37 Vgl. Pahl, Jürgen: Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit-Räume, München [u.a.]: Prestel 1999, S. 41.
38 Moholy-Nagy, László: der raum (architektur), in: ders.: von material zu architektur (1929), Reprint, 2. Aufl., Berlin: Gebr. Mann 2001, S. 193-236, S. 196.
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Einfluss der Zeitdimension und ihres Spiegelbildes, der Bewegung, auf39 [zu]zeigen“. Die Dimensionen Zeit und Bewegung werden in die Entwurfsgedanken von Architektur eingeführt. Am Verlagshaus des Berliner Tageblatts wird eine Fassadengestaltung geschaffen, deren Bewegungsästhetik per Definition Gropius’ an einen Verkehrsbau erinnert. Denn seine Aufgabe ist es, „den Verkehr aufzunehmen und zu ordnen, in einem klar übersehbaren rhythmisch gegliederten Gehäuse [zu] charakterisieren, das keine Zweifel 40 in seine Bestimmung aufkommen lässt [...]“. In der Überprüfung des Bauwerkes sind die horizontalen Elemente dafür angelegt, den Fluss der Verkehrsbewegungen zu befördern. Damit entspricht das Gebäude dem geforderten Gestaltungsausdruck der Zeit. Eine weitere Übereinstimmung lässt sich hinsichtlich seiner Form finden, die in Anlehnung an das „Automobil und Eisenbahn, Dampfschiff und Segeljacht, Luftschiff und Flugzeug – förmlich zu[m] Sinnbild[...] der Schnelligkeit geworden [ist]. [Seine] klare, mit einem Blick erfassbare Erscheinungsform lässt nichts mehr von der Kompliziertheit des technischen Organismus ahnen. Technische Form und 41 Kunstform sind darin zu organischer Einheit verwachsen“. Beide sprachlichen Bilder verkörpern das architektonische Objekt, das 42 Mendelsohn zum „mitwirkenden Bewegungselement“ des Städtebaus erklärt. Seine Wirkung begründet sich nicht aus der Tatsache, dass „trotz aller Bewegungstendenz [das Bauwerk] als unverrückbarer Pol in der Bewegt43 heit der Straße“ steht. Es sind Form, Gestaltungselemente und Materialitäten des Gebäudes, die der Stahlbeton bildnerisch und konstruktiv als dünnwandige Ausführung tragender Elemente ermöglicht. Die rhythmischdynamische Erscheinung der Architektur verstärkt somit das allgemein beschleunigte Empfinden der Großstadt und wird daraufhin mit den Worten Mendelsohns zum Mitspieler – sprich zum Akteur der Bau-Kunst – als solchen ihn auch der Filmemacher Ruttmann benutzt. Ihn interessiert die Betrachtung des Objektes aus der Perspektive von unten nach oben, aus der er
39 Gropius 1956, siehe Anm. 19, S. 36. 40 Gropius, Walter: Der stilbildende Wert industrieller Bauformen, in: Der Verkehr (1914). Jahrbuch des deutschen Werkbundes. Jena, S. 29-32, S. 32.
41 Ebd. 42 Mendelsohn 1989, siehe Anm. 29, S. 28. 43 Ebd.
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den neu errichteten Gebäudeteil als Standbild wahrgenommen wissen möchte und abbildet. Den allgemeinen Rhythmus lässt der Filmemacher weniger an der dynamisch wirkenden Architektur als im querschnitthaften Porträt der Gesamtstadt erspüren.
K OMPOSITIONSPRINZIPIEN : B EWEGUNG , R HYTHMUS UND Z EIT Eines der wichtigsten ästhetischen Phänomene der frühmodernen Künste ist die sich in der Zeit vollziehende Bewegung und ihr Rhythmus. Der folgende Abschnitt versucht dessen Relevanz in Bau- und Filmkunst und vor allem die Methode der Komposition einer an sich bewegungslosen Architektur zu erklären. Dabei wird der Fokus auf das Beziehungsgeflecht von motorischer Bewegung im urbanen Raum und seiner baulichen Gestaltung gerichtet. Das in diesem Kontext zu nennende Denkbild des fließenden Raums, das Ulrich Müller in seiner Abhandlung zu Raum, Bewegung und 44 Zeit im Werk von Walter Gropius und Mies van der Rohe (2004) beschreibt, findet bei dieser Darstellung keine Berücksichtigung. Vielmehr sollen hier die von der Baukunst zuvor genannten Theorien in Ansätzen argumentiert und überprüft werden. Denn sie werfen folgende Fragen auf: Wie wird Bewegung am immobilen Objekt erlebbar? Wie gelangt das Rhythmische in die Architektur? Das Erleben von Architektur, welches Gropius aus der fahrenden Bewegung heraus beschreibt, lässt zwei Vorgänge unterscheiden: das Sehen der gebauten Umgebung und die motorische Bewegung.45 Den Anspruch, den Mendelsohn an seine moderne Architektur erhebt, dass sie selbst zu einem Bewegungselement werden soll, setzt einen die Bewegung spürenden Impuls voraus. Diesen Impuls, der eine innere Bewegungsempfindung auslöse, behauptet Herman Sörgel, legt der Raumschöpfer selbst in den
44 Müller, Ulrich: Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin: Akademie Verlag 2004. 45 Aus der schnellen Wahrnehmung und Analyse von Raum mit dem Verkehrsmittel werden Entwurfsparameter für Architektur- und Stadtplanung abgeleitet. Eine Methode, die Venturi, Scott Brown, Izenour in: Learning from Las Vegas (1972) und Lynch in: The View from the Road (1964) anwenden.
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Raum. Die Bewegungen regen laut seiner Vorstellung, die dreidimensiona46 len Maßverhältnisse Höhe, Breite und Tiefe des Raumes an. Aus diesem Grund erfolgt die Wahrnehmung eines solchen körperlichen Raums immer zeitlich und bewegt. Bei diesem Vorgang „erlebt unser Anschauungsvermögen [...] einen Bewegungsvorgang“, wenn „die Anordnung [eines Gebildes] so [ist], daß ein Teil [der Gesamtwirkungsform eines Gebildes] immer aus dem vorhergehenden sich entwickelt, durch ihn bedingt wird, ihn fortsetzt, für die Erfassung des ganzen künstlerischen Komplexes das Auge und die rezeptive Vorstellung diese Entwicklung immer von neuem verfol47 gen muß [...]“. Raum entsteht also aus der stetigen Bewegung heraus und wird daher bereits beim Entwurf bedacht. Schon die Gedanken beim Ent48 wurf eines Grundrisses (1915) werden laut Oskar Strnad, weniger aus der Perspektive eines Architekten als aus der des Regisseurs entwickelt. Er entwirft ein Szenario, eine Wegführung durch einen Raum, die aus der Empfindung des Sich-Bewegens entsteht. Die Raumvorstellung entwickelt sich daher aus der Bewegungsvorstellung (Stufensteigen, Gehen, Wenden, etc.) des Entwerfers. Sein über die Zeichnung wandernder Blick entwirft im zweidimensionalen Grundriss eine dreidimensionale Raumvorstellung. Beide, die Bewegungsvorstellung und Grundrissentwicklung, basieren daher auf einer Verknüpfung von Ereignissen, welche Joachim Krausse als kine49 tisch-kinematografische Verfahren versteht. Denn vergleichbar zur Architektur lenkt auch der Filmemacher, die Bewegungsvorstellung des Betrachters seines Films durch die Kamerafahrt sowie Schnitt und Montage. Raum wird in der Aufeinanderfolge seiner optischen Bilder bewegt und dies, im Vergleich zur Architektur, von einem festen Standpunkt aus. Film tastet Raum optisch ab und unterstützt so die Vorstellung eines imaginären 50 Raums. Beim kinematografischen Verfahren wird Raum beweglich hin-
46 Vgl. Sörgel, Herrmann: Architekturästhetik [Nachdruck der 3. erw. Aufl. München, Piloty & Loehle 1921], Berlin: Mann 1989, S. 150.
47 Brinckmann. Albert E.: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, 2. erw. Aufl., Frankfurt a. M.: Frankfurter Verl.-Anst. 1921, S. 63.
48 Strnad, Oskar: Gedanken beim Entwurf eines Grundrisses (Manuskript o.J.), in: Eisler, Max: Oskar Strnad, Wien: Gerlach u. Wiedling 1936, S. 56-57.
49 Krausse 1999, siehe Anm. 1, S. 25. 50 Vgl. Sörgel 1989, siehe Anm. 46, S. 329; Vgl. auch: Krausse 1999, siehe Anm. 1.
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gegen das Auge des Betrachters fest gebunden bleibt (mechanisches Kameraauge); in der leibhaften Erfahrung wiederum bleibt der Raum statisch und 51 das Auge ist beweglich, stellt Sörgel fest. Der Betrachter oder Nutzer von Raum wird quasi zum Seher eines Films. In Anbetracht dieser bekannten Parallelen zwischen Film- und Baukunst spricht Paul Virilio von einer 52 Wahrnehmung, bei der sich „die Optik und die Kinematik vermischen“. Seine Aussage bezieht sich auf die Arbeitsweise des Filmemachers Dziga Vertov, der ab 1918 als Mitglied der Moskauer Wochenschau Kinonedelja (Filmwoche) u. a. einen „Übertragungswagen“ zu filmischen Zwecken nutzt. Bei seiner Art der filmischen Dokumentation urbanen Raums verbinden sich die automobile und (audio-)visuelle Wahrnehmung, was wiederum an Gropius’ mobile Beobachtung der Lebenswelt erinnern lässt. Insofern sieht auch die Baukunst die motorische Bewegung und visuelle Wahrnehmung auf der Straße derart mit der baulichen Gestaltung verwoben, dass sie rhythmische Strukturen einführt. Dafür wird Bewegung übersetzt in eine räumliche Ausdehnung unterschiedlich weiter, enger, hoher, niederer Raumabschnitte oder in eine flächenhafte Anordnung differenter Elemente innerhalb eines gleichmäßig wiederkehrenden Raummaßes. Dann entsteht Rhythmus in der Architektur, der laut des Kunsthistorikers Erwin Panofsky einer stetigen „Ordnung optischer oder akustischer Eindrücke in der Zeit [...]“ entspricht. „Das Zustandekommen des rhythmischen Erlebnisses [setzt] einerseits eine relative Unterschiedenheit einzelner Elemente (Glieder des rhythmischen Ganzen), andererseits aber ihre Verwandtschaft (das 53 heißt also entweder ihre Gleichheit oder ihre Ähnlichkeit) voraus“. Die immer wiederkehrenden Methoden der Reihung, Verbindung, Teilung, Proportion erzeugen einen Rhythmus in der Architektur, wie der Schnitt im Film, um das Starre der Architektur aufzulösen. Und das ist nach dem Kunsthistoriker August Schmarsow die Funktion des Rhythmus, die „Erlö-
51 Vgl. Sörgel 1989, siehe Anm. 46, S. 330. 52 Virilio, Paul: Rasender Stillstand, Frankfurt a. M.: Fischer-TaschenbuchVerl. 1997, S. 41.
53 Panofsky, Erwin: Albrecht Dürers rhythmische Kunst, in: Aufsätze: Jahrbuch für Kunstwissenschaft (1926), S. 136-192, S. 136. https://www.digi-zeitschrif ten.de/dms/toc/?PPN=PPN487857054_1926 (05.06.2013).
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sung aus dem Beharren in die Bewegung des Lebens“. Die rhythmische Gestaltung baulicher Objekte nimmt der Architektur ihre statische Erscheinung, wenn das Sehen und die motorische Bewegung miteinander verbunden sind. Voraussetzung für die Empfindung einer bewegten Architektur, unter der Moholy-Nagy die „gestaltung von lagebeziehungen der körper (volu55 men)“ versteht, sind die körperlichen visuellen, akustischen, kinetischen 56 und taktilen Sinne. „von seite des subjekts aus“ , betont er, wird der Raum unmittelbar durch die Bewegung erlebt. Das Ineinandergreifen von Bewegung und sinnlicher Erfahrung führt eine harmonische oder kontrapunktische Komposition herbei. Das Konzept der architektonischen Komposition 57 ist dem einer Musikpartitur ähnlich, konstatiert Strnad , wo Maßbeziehungen oder Proportionen in Intervalle und Zahlenverhältnisse wie 2:3 (Quin58 te), 3:4 (Quarte) oder auch 4:5/5:6 (Terz) analogisiert werden können. Die geistig verwandten Vorgänge in Musik und Architektur scheinen auf eine Sehnsucht hinzudeuten, aus der allein sich der reine Gedanke und die 59 begründete Ordnung einer ästhetischen Form ableiten ließen. Sie gleicht einer Suche, welche der Dichter und Schriftsteller Paul Valéry in seinem Dialog zwischen Sokrates und Eupalinos oder Der Architekt im Jahr 1923 formuliert. „Durch den Zusammenhang mit Schritten, Arbeitsbewegung und den Ordnungssinn, welcher durch den Rhythmus zum Ausdruck kommt“ gehen laut Sörgel große ästhetische, das Gefühl anregende Reize aus, bei der die 60 „Erinnerung an die Musik eine große Rolle [spielt]“. Musikalische Intervalle und Begriffe werden aus der Musik entnommen, um visuelle Maßver-
54 Schmarsow, August: Rhythmus in menschlichen Raumgebilden, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 14.Bd. (Stuttgart 1920), S. 171-187, S. 175.
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Moholy-Nagy 2001, siehe Anm. 38, S. 195. Ebd. Strnad 1936, siehe Anm. 48, S. 56-57. Vgl. Sörgel, Herrmann: Die einfachsten Grundelemente musikalischer und architektonischer Wirkungen, in: Baukunst, H. 7, (München 1925), S. 174.
59 Válery, Paul: Eupalinos oder Der Architekt, eingeleitet von Rainer Maria Rilke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 44.
60 Sörgel 1989, siehe Anm. 46, S. 277.
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hältnisse und bauliche Zusammenhänge zu erzeugen. Der Architekt Mendelsohn und auch der Filmemacher Ruttmann arbeiten mit Begriffen der Fuge, Bass und Sinfonie. So nutzt Ruttmanns Stadtfilm die Sinfonie, um „reinen Rhythmus und reine Gegenständlichkeit“ der Bilder kontrapunk61 tisch zu komponieren. Mendelsohn arbeitet mit aus der Musik entliehenen Begriffen, Bass und Fuge, zur Erschaffung einer dynamisch-modernen Architektur. Seine Methode, Musik auf Architektur zu übertragen, „bedeutet horizontale Führung etwa das Nebeneinandersetzen von Ton und Ton zur Melodie, vertikale Führung die aufeinandergetürmte Konstruktion von Akkorden. Beides im Gegensatz zur kontrapunktischen Führung, die etwa wie in einem Fugenthema von Bach, horizontal und vertikal also Melodie 62 und Konstruktion vereint“. Dennoch ist Rhythmus, auch wenn so vom Künstler insistiert, per se am Objekt nicht wahrnehmbar. Paul Zucker behauptet in seinen Ausführungen zum Begriff der Zeit in der Architektur (1924), dass „rhythmisch aufeinanderfolgende Eindrücke erst [entstehen], wenn wir uns an ihm [Peripteros] entlang bewegen. Ein gleiches gilt für den Innenraum eines gotischen Münsters, der in seiner unerfüllten existenten Totalität nichts Rhythmisches hat, usw. Der in beiden Fällen entstehende Eindruck ist aber etwas höchst Subjektives und kann durch willkürliche Tempoänderungen von uns variiert und zerstört werden“.63
Das Empfinden von Rhythmus beruht nicht auf den baulichen Elementen – wie etwa dem genannten Säulenkranz eines antiken Tempels – sondern dem Raum, seiner Komposition, an sich. Der Betrachter von gebauter oder (im Film) imaginierter Architektur kann Rhythmus nur erleben, wenn er von ihm ergriffen wird. Für Ruttmann war genau diese Wirkung Hauptanliegen seines Films:
61 Balász 2001, siehe Anm. 3, S. 50. 62 Mendelsohn, Erich: Harmonische und kontrapunktische Führung in der Architektur (1925), zit. n.: Heinze-Greenberg, Ita; Stephan, Regina: Erich Mendelsohn 1887-1953. Gedankenwelten. Unbekannte Texte zu Architektur, Kulturgeschichte und Politik, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2000, S. 65.
63 Zucker, Paul: Der Begriff der Zeit in der Architektur, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 44, Berlin (1924), S. 237-245, S. 241-242.
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„Ich glaube, dass die meisten, die an meinem ‚Berlin-Film‘ den Rausch der Bewegung erleben, nicht wissen, woher ihr Rausch kommt. Und wenn es mir gelungen ist, die Menschen zum Schwingen zu bringen, sie die Stadt Berlin erleben zu lassen, dann habe ich mein Ziel erreicht und damit den Beweis gegeben, dass ich recht habe“.64
Mittels der genannten Operationen von Raum entsteht eine Komposition, die spezifischen rhythmischen Prinzipien der Künstler folgt. Mit ihnen werden Raum und Zeit geordnet, was zu einer schöpferischen Komposition führt. Zusammenfassend stellt Sörgel fest: „Die genauere Gliederung und abwägende Maßbestimmung bringt dann die Komposition, welche alles an seinen richtigen Platz rückt, mit Ökonomie das Überschüssige wegnimmt, das Fehlende ergänzt und durch Proportionierung, Scheidung und Kontrastwirkung Ordnung schafft“.65
F AZIT Der Entwurf von Architektur wendet ein nahezu choreografisches Verfahren, ausgehend von der Bewegungsempfindung oder -vorstellung, an. Um dann aber zu einer schöpferischen Gestaltung zeitgenössischer Räume zu gelangen, bedienen sich die Film- und Baukunst hier musikalischer Kompositionsprinzipien. Erst aus der Einheit von sinnlicher Wahrnehmung, imaginärer Vorstellung und gelebter Erfahrung urbaner Lebensräume können moderne Raumkonzepte generiert werden. Das gilt sowohl für den Entwurf filmischer als auch realer Räume, da eine Verschränkung beider Medien stattfindet. Film erweitert die medialen Wahrnehmungsmöglichkeiten und schult die Fähigkeit, ungewöhnliche Aspekte und Prozesse der Realität mit dynamisch-beweglichen Blicken zu erfassen. In diesem Sinne fordert Film zu einer mobilisierten Wahrnehmung auf, mit der sich eine ästhetische Umgestaltung und Modernisierung des Alltags herbeiführen lässt. Als künstlerisch-technisches Massenmedium sorgt er außerdem zur Verbreitung experimenteller Ideen und Vorstellungen großstädtischer Realität.
64 Georgen 1989, siehe Anm. 2, S. 73. 65 Sörgel 1989, siehe Anm. 46, S. 237.
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Dies ist das Besondere an der Stadtsinfonie: Ihre audio-visuelle Komposition urbaner Räume wird zum Instrument, mit dem raumzeitliche Relationen und städtebaulich-architektonische Dimensionen reflektiert und erschlossen werden. Dabei wird nicht nur die Bedeutung und Funktion vom gebauten Raum, sondern auch seine Wahrnehmung und Erfahrung thematisiert. In diesem Sinne lässt sich auch die Architektur des Neuen Bauens verstehen; Fortbewegungsmittel und Verkehrsnetze, Industrie und mobilität-erzeugende Techniken werden zu konstituierenden Elementen der Baukunst, die ebenso von der Gefühlsempfindung der „beschleunigten Zeit“ bestimmt ist. „wenn verkehr, bewegung, hör- und sichtbarkeiten in dauern66 der spannung ihrer räumlichen beziehungen erfaßt sind [...]“ , kann, laut Moholy-Nagys Meinung, Architektur nichts Starres, sondern Bewegtes sein. Diese These geht mit einer angestrebten harmonischen Verbindung zwischen innerem Zustand (Empfindung) und äußerer Umgebung (Gestaltung) einher. Sie sieht der Architekturhistoriker Sigfried Giedion um 1908 gegeben, als die futuristischen Künstler und kubistischen Maler die Bewegung erforscht und sie in die Gestaltung der modernen Stadt als künstleri67 sches Element eingeführt haben. Vergleichbares ist in der Architektur zu beobachten: Sie sollte Ausdruck ihrer beschleunigten Zeit des 20. Jahrhunderts werden und wurde deshalb in Bewegung versetzt. Die Zusammenstellung theoretischer Argumente Behrens’, Gropius’ und Mendelsohns sowie entsprechender Bauwerke verdeutlicht, dass auf die moderne Architektur ein dynamisches Moment projiziert wird. Ebenso wie die Malerei stellt die Architektur kein naturalistisches Abbild von Bewegung dar, sondern ist mit ihrer Gestalt, laut Giedion, als „Ausdruckswert 68 der Bewegung“ anzusehen. Ihn definieren schwungvoll geführte Formen und Linien, die mit audio-visuellen Kompositionsmethoden in die Architektur Momente spezifischer Dynamik einschreiben. Die „beschleunigte Zeit“ hatte – und hat noch stets – einen maßgeblichen Einfluss auf die moderne Architekturtheorie, mit der vereinheitlichte
66 Moholy-Nagy 2001, siehe Anm. 38, S. 197. 67 Vgl. Giedion, Siegfried: Raum-Zeit-Konzeption in Kunst, Konstruktion und Architektur, in: ders.: Raum, Zeit, Architektur, Zürich/München: Verlag für Architektur Artemis 1976, S. 277-287.
68 Giedion, Sigfried: Die Herrschaft der Mechanisierung, 2. Aufl., Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994, S. 133.
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Kompositionsprinzipien und sogenannte „verzeitlichte Architekturen“ geschaffen werden. Der Wert und Charakter der infrastrukturellen Umgebung im hoch technisierten und digitalisierten 21. Jahrhundert hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte stark verändert. Repräsentative architektonische Hüllen, unter denen reale und virtuelle Ereignisse vernetzt sind, verbergen ihre jedoch zum größten Teil raum- und zeitbasierten Gestaltungsprozesse.
B IBLIOGRAFIE Balázs, Béla: Der Geist des Films, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2001. Behrens, Peter: Einfluss von Zeit- und Raumausnutzung auf moderne Formentwicklung (1914), in: Schumacher, Fritz: Lesebuch für Baumeister: Äußerungen über Architektur und Städtebau, Braunschweig: Vieweg 1977, S. 427-31. Böss, Gustav: Berlin von heute. Stadtverwaltung und Wirtschaft, Berlin: Gsellius 1929. Brinckmann, Albert E.: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, 2. erw. Aufl., Frankfurt a. M.: Frankfurter Verl.-Anst. 1921. Eisenstein, Sergej: Ausgewählte Aufsätze, Berlin: Henschel 1960. Finscher, Ludwig: Symphonie, in: ders.: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil 9, 2. Aufl., Kassel [u.a.]: Bärenreiter [u.a.] 1998. Georgen, Jeanpaul: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin: Freunde der Deutschen Kinemathek 1989. Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur, Zürich/München: Verlag für Architektur Artemis 1976. Giedion, Sigfried: Die Herrschaft der Mechanisierung, 2. Aufl., Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994. Gropius, Walter: Gibt es eine Wissenschaft der Gestaltung? (1956) [orig.: Design Topics, Magazine of Art, Dez. 1947], in: Architektur. Wege zu einer optischen Kultur [orig.: Scope of total Architecture, 1955], Frankfurt a. M.: Fischer Bücherei KG 1956, S. 26-39. Gropius, Walter: Der Baugeist der neuen Volksgemeinde, in: Die Glocke, H. 1/X (1924), S. 311-315. Gropius, Walter: Der stilbildende Wert industrieller Bauformen, in: Der Verkehr (1914). Jahrbuch des deutschen Werkbundes. Jena, S. 29-32.
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Hamann, Richard: Wege zur ,Neuen Sachlichkeit‘ (1933), in: Schumacher, Fritz (Hg.): Lesebuch für Baumeister, unveränd. Nachdr. der neu bearb. Aufl. vom Juli 1947, Braunschweig [u.a.]: Vieweg 1977, S. 467-472. Hambrook, John B.: Haus oder Straße, in: Jahrbuch des deutschen Werkbundes, Der Verkehr (Jena 1914), S. 24-28. Jessen, Heinrich: Dem Herrn der Horizontale, in: Archithese 1 (Januar/Februar 1988), S. 77-78. Krausse, Joachim: Raum aus Zeit – Architektur aus der Bewegung, in: Arch+, Nr.32 (1999), S. 22-29. Krausse, Joachim: Vom Einsteinturm zum Wunder von Jena. Einsteins Weltbild und die Architektur, in: Neumann, Thomas: Zeitmontage. Albert Einstein, Berlin: Elefanten Press 1989, S. 58-67. Mendelsohn, Erich: Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion (1923), in: Klotz, Heinrich: Erich Mendelsohn, 2.Reprint d. Erstausg. von 1930, Braunschweig: Vieweg 1989, S. 22-34. Mendelsohn, Erich: Harmonische und kontrapunktische Führung in der Architektur (1925), zit. n.: Heinze-Greenberg, Ita; Stephan, Regina: Erich Mendelsohn 1887-1953. Gedankenwelten. Unbekannte Texte zu Architektur, Kulturgeschichte und Politik, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2000. Moholy-Nagy, László: Malerei, Fotografie, Film (1927), Reprint, 3. Aufl., Berlin: Gebr. Mann 2000. Moholy-Nagy, László: von material zu architektur (1929), Reprint, 2. Aufl., Berlin: Gebr. Mann 2001. Müller, Ulrich: Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin: Akademie 2004. Pahl, Jürgen: Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit-Räume, München [u.a.]: Prestel 1999. Panofsky, Erwin: Albrecht Dürers rhythmische Kunst, in: Aufsätze: Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 1926, S. 136-192. https://www.digi-zeit schriften.de/dms/toc/?PPN=PPN487857054_1926 (05.06.2013). Richter, Hans: Der Mann mit der Kamera, in: Institut für Theater, Filmund Medienwissenschaft; Institut für Theaterwissenschaft (Hg.): Maske und Kothurn. Dziga Vertov zum 100. Geburtstag, H. 1, 42. Jg. (Wien 1996), S. 23-25.
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Sant’Elia, Antonio; Marinetti, Fillipo Tomaso: Futurstische Architektur (1914), in: Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Ullstein 1964, S. 30-35. Schmarsow, August: Rhythmus in menschlichen Raumgebilden, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 14. Bd., Stuttgart 1920, S. 171-187. Schumacher, Fritz: Probleme der Grosstadt, 2. Aufl., Leipzig: Seemann 1940. Schumacher, Fritz: Das bauliche Gestalten, in: Handbuch der Architektur, IV. Teil, 1. Halbband. Architektonische Komposition, 4. Aufl., Leipzig: Gebhardt 1926, S. 5-63. Sörgel, Herman: Architekturästhetik, Nachdruck der 3. erw. Aufl., München: Piloty & Loehle 1921, Berlin: Mann 1989. Spaemann, Heinrich: Bewegungskunst. Großstadt, in: Soz. Monatsheft (20.02.1928), S. 166-167. Strnad, Oskar: Gedanken beim Entwurf eines Grundrisses [Manuskript o.J.], in: Eisler, Max: Oskar Strnad, Wien: Gerlach u. Wiedling, 1936, S. 56-57. Stephan, Regina: Studien zu Waren- und Geschäftshäusern Erich Mendelsohns in Deutschland, München: Tuduv-Verl.-Ges. 1992. Stephan, Regina: Denken von Tag zu Tag, wo Geschichte große Kurven schlägt und Hunderttausende unbefriedigt lässt. Frühe expressionistische Bauten in Luckenwalde, Berlin und Gleiwitz, in: dies. (Hg.): Erich Mendelsohn Architekt 1887-1953: Gebaute Welten, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1998, S. 44-63. Válery, Paul: Eupalinos oder Der Architekt, eingeleitet von Rainer Maria Rilke, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Virilio, Paul: Rasender Stillstand, Frankfurt a. M.: Fischer-TaschenbuchVerl. 1997. Wingler, Hans M. (Hg.): Walter Gropius. Internationale Architektur (1927), 2. Aufl., Mainz: Florian Kupferberg 1981. Zielesch, Fritz: Beim Schöpfer der Filmmusik (26. Februar 1928), wiederabgedruckt in: Sudendorf, Werner (Hg.): Der Stummfilmmusiker Edmund Meisel, Frankfurt a. M.: Dt. Filmmuseum 1984. Zucker, Paul: Der Begriff der Zeit in der Architektur, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 44, Berlin 1924, S. 237-245.
Soundscape Nashville Tonbandgeräte-Milieus um 1974 J AN P HILIP M ÜLLER
1975 kommt Robert Altmans Spielfilm Nashville in die Kinos. Und 1973 erscheint ein Set aus zwei Schallplatten und einem Buch unter dem Titel The Vancouver Soundscape1, eine Produktion des von Raymond Murray Schafer initiierten World Soundscape Project.2 Außer ihrer zeitlichen Nähe haben Nashville und The Vancouver Soundscape schon auf den ersten Blick zweierlei miteinander zu tun. Erstens Stadt: Nashville im US-Staat Tennessee und Vancouver in British Columbia, Canada. Im Folgenden wird es um Städte und allgemeiner um verschiedene Räume und Räumlichkeiten gehen. Zweitens Sound: „Soundscape“ ist eine von Schafer geprägte Kreuzung aus sound und landscape,3 die mittlerweile zum kanonischen Vokabu-
1
Schafer, Raymond Murray: The World Soundscape Project. The Vancouver Soundscape (LP), Vancouver, B.C.: Ensemble Productions Ltd. (EPN 186) 1973. Für die Arbeit am folgenden Aufsatz lag nur die gekürzte und veränderte Wiederauflage auf CD vor: The World Soundscape Project. Soundscape Vancouver (2 CDs), CD 1: The Vancouver Soundscape 1973, Burnaby, BC: Cambridge Street Records (CSR-2 CD 9701) 1973/1997.
2
Vgl. Breitsameter, Sabine: Hörgestalt und Denkfigur – Zur Geschichte und Perspektive von R. Murray Schafers Die Ordnung der Klänge, in: Schafer, R. Murray: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens (1977), Mainz: Schott 2010, S. 7-28, S. 7. Siehe auch: The World Soundscape Project: http://www.sfu.ca/~truax/wsp.html (05.06.2013).
3
Vgl. Breitsameter 2010, siehe Anm. 2, S. 15.
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lar von Diskursen namens „Sound Studies“ oder „auditive Kulturen“ gehört. Auch der Film Nashville handelt ganz zentral davon, Sounds zu produzieren. Zunächst bedeutet das in Nashville Musik; Nashville (die Stadt) ist so etwas wie die Hauptstadt des Country-Musik-Business. Aber unter „Sound“ ist, und das spielt hier eine wichtige Rolle, genauso auch Sprache und Geräusch zu verstehen. Wenn es darum geht, was Nashville zu einem Markstein des als „New Hollywood“ diskutierten Kinos der 1960er und 1970er Jahre macht, werden regelmäßig gerade die Mischungen von unterschiedlichen Sounds auf der Tonspur genannt. Ein dritter Aspekt ist auf den ersten Blick nicht ganz so offensichtlich: Tonbandgeräte. Tonbänder sind Medien, mit denen für The Vancouver Soundscape und Nashville Sounds jeweils aufgezeichnet, transportiert, geordnet und bearbeitet wurden. Darüber hinaus werden technische akustische Medien, wie Radios oder eben Tonbandgeräte, in Schafers und Altmans Verhandlungen der Räume von Sound aber auch zum Thema und zum Problem. Tonbandgeräte bilden deswegen hier den medienhistorischen Angelpunkt, an dem Nashville, The Vancouver Soundscape und ihr Verhältnis zueinander etwas gedreht und gewendet werden soll; gewissermaßen als Versuche, über den Satz: Um 1974 kristallisiert sich ein spezifisches Milieu des Tonbandgeräts heraus. Um Tonbandgeräte ziehen sich in Altmans Nashville und Schafers Soundscapes auf ähnliche Weise verschiedene Räume (beziehungsweise Räumlichkeiten) zusammen und dabei zeichnen sich ähnliche Spannungsverhältnisse zwischen diesen Räumen als Probleme des Sounds ab.4 Hier kommen Diskurse und Praktiken zusammen, die die Räumlichkeiten von Sound als Milieu denken lassen. Jedoch führt das Schafer und Altman zu unterschiedlichen Schlüssen.
4
In letzter Zeit ist der Begriff des Milieus vermehrt aufgetaucht in der Auseinandersetzung mit Gilbert Simondons verallgemeinerter Konzeption von „Individuation“. Die folgenden Überlegungen sind dadurch angeregt. Vgl. Simondon, Gilbert: Das Individuum und seine Genese. Einleitung (1964), in: Blümle, Claudia; Schäfer, Armin (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, S. 29-45; zu Kristallen, Milieus und Spannungen vgl. insbesondere S. 31, S. 33f.
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M ILIEU Der Begriff „Milieu“ hat eine gewundene und verzweigte Geschichte seiner Übersetzung (zum Beispiel als Äther, Medium, Ambiente, Umwelt etc.) durch verschiedene Sprachen und Wissensbereiche hindurch.5 Er ist entsprechend unscharf und problematisch. Aber er soll hier trotzdem verwendet werden – beziehungsweise gerade deswegen: Was Modelle des Milieus nämlich interessant macht, ist gerade, dass die verschiedensten (physische, soziale, psychische etc.) Materien und Räumlichkeiten darin vorkommen können. Eine Schnittmenge vieler dieser Modelle besteht jedoch grob gesagt darin: Es geht dabei um Stoffwechsel-, Wirkungs-, und/oder Kommunikationsverhältnisse zwischen einem Individuum und dem es umgebenden Milieu, die sich so gegenseitig konfigurieren und reproduzieren unter den Aspekten eben jener Dimensionen, in denen sie miteinander kommunizieren. Was ein Individuum sei und was seine Umwelt, wäre dann nicht unbedingt von einer der beiden Instanzen aus zu entscheiden, sondern dort, wo sich Differenzen (von Wirkungen, Stoffdichten etc.) bilden, wo Unterbrechungen (Grenzen, Intervalle, Übersetzungen) den Übergang zwischen Milieu und Individuum, das heißt zwischen dem Innen und dem Außen eines Individuums bestimmen. Mediengeschichten, wie die des Tonbandgeräts, als eine der Verhältnisse zwischen technischen Individuen und ihren Milieus aufzufassen, eröffnet die Möglichkeit, diese Geschichten als Prozesse der Entstehung, Stabilisierung und Destabilisierung von bestimmten Welten und deren Räumlichkeiten zu beschreiben.6 Schafers Soundscapes ließen sich dann beispielsweise als Moment in den Austausch- und Konfigurierungsprozessen auffassen,
5
Zur Geschichte und den Problemen des Milieubegriffs siehe: Canguilhem, Georges: The Living and Its Milieu (1952), übersetzt von John Savage, in: Grey Room, Nr. 2 (Frühling 2001), S. 6-31; Spitzer, Leo: Milieu and Ambiance. An Essay in Historical Semantics, in: Philosophy and Phenomenological Research, Bd. 3, Nr. 1 (Sept. 1942), S. 1-42 und Bd. 3, Nr. 2, S. 169-218; Brandstetter, Thomas; Harrasser, Karin; Friesinger, Günther (Hg.): Ambiente. Das Leben und seine Räume, Wien: Turia + Kant 2010.
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Eine Anwendung des Milieubegriffs auf „technische Objekte“ unternimmt Simondon in: Simondon, Gilbert: Die Existenzweise technischer Objekte (1958), Zürich/Berlin: Diaphanes 2012, siehe insbesondere S. 47-60.
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bei denen Tonbandgeräte Sounds mit ihrer Umwelt austauschen und dabei beeinflussen, was in den sie umgebenden theoretischen, ästhetischen und technischen Diskursen und Praktiken eigentlich unter „Sound“ verstanden wird, was und wo man mit Tonbändern aufnimmt und wiedergibt, was also ein Tonbandgerät ist oder sein könnte, und was für Probleme dabei aufgeworfen werden. Daraufhin werden wiederum neue, veränderte Tonbandgeräte gebaut und so weiter. Eine solche Geschichte der Eigendynamik von Tonbandgeräten als Individuen wirft aber die kritische Gegenfrage auf: Wie verhalten sich Tonbandgeräte zu den Milieus von Menschen, an welchen Positionen stehen sie darin? Sind Tonbandgeräte also Medien des Menschen? Für die (Sound-)Milieus, die Schafer und Altman entwerfen, sind das beunruhigende Fragen, denn hier entscheidet sich, ob Milieus die menschlichen Individuen einbetten und orientieren, ihnen Identität geben und sie stabilisieren und ihnen so eine geregelte Kommunikation mit der Umwelt ermöglichen. Oder, ob diese Milieus ihre Identität gefährden und desorientieren, Unterbrechungen aufheben, das sie umgebende Außen einbrechen und Kommunikation in Rauschen untergehen lassen. Und nicht zuletzt geht es darum, was sich dann in solchen instabilen Situationen tun lässt.
S OUNDSCAPE Mit The Vancouver Soundscape7 werden Murray Schafers Konzeptionen von Soundscape und Acoustic Ecology, die das um 1970 an der SimonFraser University in Vancouver gegründete World Soundscape Project antreiben, einem breiteren Publikum bekannt. Für die Frage nach dem Milieu des Tonbandgeräts sind drei sich in diesen Konzepten kreuzende Diskurslinien, auf die Schafer verweist, besonders hervorzuheben, die sich schlagwortartig umreißen lassen mit: 1. McLuhans „Acoustic Space“, 2. Tonband, Geräusch, Musik und John Cages 4‘33“ sowie 3. selbststabilisierende Ökosysteme.
7
Vgl. die ausführlichere Beschreibung in diesem Band: Fowler, Michael: Towards Urban Soundscaping, S. 105-126.
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Schafer studiert in den 1950er Jahren Musik in Toronto. Zu dieser Zeit lehrt dort auch Marshall McLuhan an der University of Toronto.8 McLuhans Kippfiguren medium/message und acoustic/space9 erlauben es – im gestalttheoretischen Schema von Figur/Grund,10 dem wahrnehmungspsychologischen Verwandten der Relation Individuum/Milieu – sehr weitreichende Konsequenzen sich verändernder auditiver/akustischer Umwelten zu verhandeln. Medien beziehungsweise Gefüge von Medien bilden nach McLuhan Milieus, in denen wahrgenommen, kommuniziert, gedacht und gehandelt wird:11 „Environments are not just containers, but are processes that change the content totally. New media are new environments. That is why the media are the message“.12 Weil das Verhältnis von „Erweiterungen“ und „Betäubungen“ der (Sinnes-)Organe des Menschen in verschiedenen Mediengefügen jeweils anders ausfällt, strukturiert es mit McLuhan als Verhältnis der Sinne zueinander sehr unmittelbar auch Weltzugang, Den-
8
Vgl. Gillmor, Alan M.; MacKenzie, Kirk; King, Betty Nygaard: Schafer, R. Murray, in: Encyclopedia of Music in Canada, Historica Foundation, http:// www.thecanadianencyclopedia.com/articles/emc/schafer-r-murray (05.06.2013). Zu den Korrespondenzen zwischen McLuhan und Schafer vgl. Cavell, Richard: McLuhan in Space. A Cultural Geography, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press 2002, S. 153-156; Breitsameter 2010, siehe Anm. 2, S. 9, 11, 15, 17, 23, 27.
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Schafer betont an der Wortzusammensetzung „acoustic space“: „its hybridity, marking it as transitional, caught between two cultures“. Schafer, R. Murray: Acoustic space, in: Seamon, David; Mugerauer, Robert (Hg.): Dwelling, place, and environment. Towards a phenomenology of person and world, Dordrecht: Martinus Nijhoff Publishers 1985, S. 87-98, S. 88.
10 Vgl. Sprenger, Florian: (Be-)gründungen und Figurprobleme. Marshall McLuhans Denken über Medien und seine Folgen, in: Wentz, Daniela; Wendler, André (Hg.): Die Medien und das Neue. 21. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium, Marburg: Schüren 2009, S. 81-95, S. 83-89. 11 Ebd., S. 81f.; Grampp, Sven: Marshall McLuhan. Eine Einführung, Konstanz: UVK 2011, S. 129, S. 134f. 12 McLuhan, Marshall: The Invisible Environment. The Future of an Erosion, in: Perspecta, Bd. 11 (1967), S. 163-167, S. 165.
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ken und Gesellschaft.13 „Acoustic Space“ heißt dann nicht einfach Sound im ansonsten selben Raum, sondern in einer anderen Räumlichkeit (und einer anderen Zeitlichkeit) zu denken als im „Visual Space“ der vorherrschenden Schrift- und Bildkultur:14 „[Auditory space is] a sphere without fixed boundaries, space made by the thing itself, not space containing the thing. It is not pictorial space, boxed in, but dynamic, always in flux, creating its own dimensions moment by moment“.15
Wenn sich in einer solchen Logik des „Acoustic Space“ Klang mit dessen Hintergründen rückbinden lässt, kann der Einsatz von Musik als Gestaltung von Welt und Gesellschaft verstanden werden. Im klassischen Sinne von Musik als Harmonie- und Kompositionslehre spricht Schafer von „der Welt als eine[r] makrokosmische[n] musikalische[n] Komposition“16 und schließt damit an eine lange Geschichte der Analogien zwischen Musik und Welt, von der Sphärenharmonie (siehe Abbildung 1) über chinesische Philosophien des Ausgleichs bis Hermann Hesses Glasperlenspiel an. Im 20. Jahrhundert aber eröffnen akustische Medien wie Radios und später Tonbandgeräte, die (beispielsweise im Gegensatz zu Notenschrift) keinen
13 Vgl. Sprenger 2009, siehe Anm. 10, S. 88. Richard Cavell spricht von „McLuhan’s contention that the sensus communis is at once sensory and social“. Cavell 2010, siehe Anm. 8, S. 20. 14 Vgl. Cavell 2010, siehe Anm. 8, S. 20-23. 15 McLuhan, Marshall; Carpenter, Edmund: Acoustic Space (1960), in: McLuhan, Marshall: Media Research. Technology, Art, Communication, Amsterdam [u.a.]: G & B Arts 1997, S. 39-44, S. 41. 16 Schafer, R. Murray: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens (1977), Mainz: Schott 2010, S. 38. Schafers Buch erschien zuerst 1977 als The Tuning of the World und wurde 1994 unter dem Titel: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World wiederaufgelegt. Eine erste deutsche Übersetzung wurde 1988 unter dem Titel: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens herausgegeben. 2010 erschien dann die vollständige, von Sabine Breitsameter neu übersetzte und herausgegebene deutsche Fassung Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens aus der, wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, im Folgenden kurz als Schafer 1977 zitiert wird.
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Unterschied zwischen musikalischen Klängen, Sprache oder Geräuschen machen, Mittel und Wege, diese Gebiete des Hörbaren auf neue Weise – zum Beispiel in einer „musique concrète“ – zu durchkreuzen.17 John Cage beschreibt 1937 unter dem Eindruck von Filmtontechniken die „Zukunft der Musik“, in der der zentrale Streitpunkt nicht mehr zwischen Konsonanz und Dissonanz bestehen würde, sondern „zwischen Geräusch [noise] und sogenannten musikalischen Klängen“.18 Notfalls müsse man sich halt von der Bezeichnung Musik verabschieden und durch den „aussagekräftigeren Term ‚Organisation von Sound‘ ersetzen“.19 Cages Stück 4‘33“ von 1952 besteht darin, dass für 4 Minuten und 33 Sekunden ein Musikinstrument nicht gespielt wird, sodass in dem so eröffneten Zeit-Raum auf alles gehört (relative) Stille.20 Mit McLuhan kann 4‘33“ als reflexives „Anti-Environment“ von Musik im Milieu des Tonbandgeräts bezeichnet werden, weil dabei die Frage aufgeworfen wird, was musikalische Klänge unter diesen Bedingungen von ihrem auditiven Hintergrund absetzt.21 Dadurch, dass Töne einer Notenschrift gespielt werden? Durch eine Bühne und die Institution des Konzerts? Durch eine bestimmte Haltung der Hörenden? In den 1960er Jahren unterrichtet Schafer Musik in einem sehr ähnlichen Sinn als Übungen des Hörens, als Bewusstmachung von unbewusstem „noise“, die die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel alles Hörbaren in verschiedenen Umgebungen verlagern sollte: „(1) Try taping the following discussion (2) Afterwards play back the tape. Concentrate on listening to the sounds you did not intend to record. What other sounds
17 Vgl. Kittler, Friedrich: Grammophon-Film-Typewriter, Berlin: Brinkmann und Bose 1986, S. 39f.; Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 38. 18 Cage, John: The Future of Music. Credo (1937), in: Cox, Christoph; Warner, Daniel (Hg.): Audio Culture. Readings in Modern Music, New York/London: Continuum 2007, S. 25-28, S. 26 [Übersetzung des Autors]. 19 Ebd. [Übersetzung des Autors]. 20 Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 38. 21 Vgl. Cavell 2010, siehe Anm. 8, S. 194-196; McLuhan 1967, siehe Anm. 12, S. 165. Zu 4’33” als Anti-Muzak vgl. Kahn, Douglas: Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts, Cambridge, Mass.: MIT Press 2001, S. 178-181.
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Abbildung 1: The Tuning of the World. Robert Fludds Versinnbildlichung der kosmischen Harmonie von 1617 inspiriert Schafers The Tuning of the World und ist dem Buch vorangestellt.
(noises) do you notice? (3) Question for discussion: If you do not like a piece of music is it noise?“22
Solche Übungen ordnen sich dann in ein umfassendes, globales Projekt ein, das Schafer 1977 in seinem Buch The Tuning of the World 23 ausformuliert. Und der Buchtitel lässt in seiner Mehrdeutigkeit von passiv/aktiv (Hat die Welt schon eine Stimmung, auf die es zu hören, sich einzustellen gilt, oder muss sie erst gestimmt werden? (Mit Abbildung 1 gefragt: Was bedeutet diese Hand?) und musikalisch/technisch (Heißt „Tuning“ musikalische Stimmung, Einstellen der Empfangsfrequenz wie bei einem Radio oder
22 Schafer, R. Murray: Ear Cleaning. Notes for an Experimental Music Course. Don Mills, Ontario: BMI Canada 1967, S. 7. 23 Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16.
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technische Optimierung wie bei einem Auto?) auch schon das „Oszillieren“ und die „Paradoxien“24 dieses Projekts anklingen, auf die Sabine Breitsameter hingewiesen hat.25 Schafers Konzept einer Acoustic Ecology reagiert vordringlich auf das „weltweite Problem“ der Lärmverschmutzung („[n]oise pollution“26) moderner Soundscapes durch die „immer zahlreicheren und stärkeren Laute“27, insbesondere der „industriellen“28 und der „elektrischen Revolution“.29 Das Anliegen Schafers besteht dabei darin, „die Aufmerksamkeit auf Missverhältnisse zu lenken, die gesundheitsschädigende oder andere schädliche Wirkungen“ auf die in einer Soundscape „lebenden Geschöpfe“30 haben. Zentrale Motive der Acoustic Ecology, von der Harmonie oder Balance eines sich dynamisch konfigurierenden Acoustic Space und dem Bild der Erde als umfassende und gleichzeitig begrenzte Sound-Sphäre, korrespondieren dabei mit der in den 1960er Jahren Fahrt aufnehmenden Umweltbewegung und dem darauf und darüber hinaus wirkenden Modell von Ökosystemen als – in bestimmten Grenzen – selbststabilisierende „komplexe Zusammenhänge gekoppelter Kreisläufe“31.32 Die hier verwendeten kybernetischen Konzepte dynamischer Stabilität versprechen, wie Claus Pias bemerkt hat, „[u]nter der Behauptung einer strukturellen Homologie technischer und natürlicher Systeme“33 die wissen-
24 Breitsameter 2010, siehe Anm. 2, S. 16. 25 Vgl. ebd., S. 9, S. 16. Zur Mehrdeutigkeit des „Tuning“ vgl. auch den Aufsatz in diesem Band: Fowler, Michael: Towards Urban Soundscaping, S. 105-126. 26 Schafer, R. Murray: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World (1977), Rochester, Vermont: Destiny Books 1994, S. 3. Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 35f. 27 Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 35. 28 Vgl. ebd., S. 137-161. 29 Vgl. ebd., S. 162-181. 30 Ebd., S. 432f. 31 Pias, Claus: Paradiesische Zustände. Tümpel – Erde – Raumstation, in: Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer, Medien der Stagnation, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, S. 47-66, S. 47. 32 Vgl. Golley, Frank Benjamin: History of the Ecosystem Concept in Ecology. More Than the Sum of the Parts, New Haven, Conn.: Yale University Press 1993, S. 62-69; Pias 2007, siehe Anm. 31, S. 47-50. 33 Pias 2007, siehe Anm. 31, S. 50.
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schaftlich begründete technische Beherrschbarkeit von Natur. Gleichzeitig liefern aber solche Konzepte des Ökosystems auch die Grundierung für „alternative kulturelle Programme“ von „Stabilität statt Fortschritt, Gleichgewicht statt Ausbeutung, Kooperation statt Konkurrenz, Nachhaltigkeit statt Konsum, Diversität statt Monokultur usw.“.34 Beide dieser Tendenzen, die auf den ersten Blick nicht so leicht miteinander vereinbar sind, durchziehen The Tuning of the World. Nach Schafer sind Soundscapes akustische Indikatoren der (Un-)Gleichgewichtsverhältnisse von Gemeinwesen und ihre gute Gestaltung – Acoustic Design – sollte vom „Verständnis für die ausgleichenden Mechanismen, die eine aus dem Ruder gelaufene Soundscape wieder zu sich selbst führen können“35, geleitet sein.36 So gelangt Schafer, wenn er in der Soundscape Musik, Natur, Technik und Gesellschaft kurzschließt, zu einem Programm interdisziplinärer Soundscape Studies, die sich wissenschaftlich und künstlerisch der Dokumentation, Erforschung und Reflexion von Soundscapes widmen, und gleichzeitig formuliert sich hier ein dezidiertes Wertesystem, das Acoustic Ecology und Acoustic Design als gestalterischen, pädagogischen und politischen Einsatz bestimmt.37
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Die Aufnahmen für The Vancouver Soundscape wurden mit einem Tonbandgerät vom Typ Nagra IV-S (S = Stereo) gemacht.38 Der Unterschied, den Geräte wie die Nagra III (seit 1957) und die Nagra IV (seit 1969) ausmachten, lässt sich im Zusammenspiel von Raum-, Infrastruktur- und
34 Ebd. 35 Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 384. 36 Vgl. ebd., S. 41; Breitsameter 2010, siehe Anm. 2, S. 13. 37 Vgl. LaBelle, Brandon: Background Noise. Perspectives on Sound Art, New York/London: Continuum 2006, S. 202. 38 Vgl. World Soundscape Project Tape Library Vancouver/BC Collection, http://www.sfu.ca/sonic-studio/srs/Van.html, 01.09.2012, und The World Soundscape Project: Soundscape Vancouver, CD 1: The Vancouver Soundscape 1973, siehe Anm. 1, Booklet der CD.
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Sound-Qualitäten beschreiben.39 Ihre Aufnahmequalität reichte an professionelle, kostspielige und immobile Studiotechnik heran und versprach damit Hi-Fi, kurz für High Fidelity, also „hohe Treue“, wenn nicht sogar, so die Verkaufsrhetorik von Audiotechnik, Transparenz zu einem aufgezeichneten ursprünglichen Soundereignis – als wäre man im Wohnzimmer mitten im Geschehen. Gleichzeitig erlaubten das tragbare Gewicht, wie auch die Robustheit und Zuverlässigkeit dieser Geräte, sich zu und mit einem Geschehen zu bewegen. Und: Mit den aus dem vielfältigen Klanggeschehen der Welt herauspräparierten Aufnahmen ins Archiv (zum Beispiel des World Soundscape Project) zurückzukehren, sie an einem Ort oder, mit Bruno Latour, in einem „Berechnungszentrum“ zusammenzuziehen, zu vergleichen und zu bewerten, zu montieren und zu mischen.40 Um die so gefundene „Ordnung der Klänge“ dann von dort aus, durch auditive Medien wie Schallplatte und Radio, wiederum zu verbreiten. Aber dieselben Audiotechniken führen in die Soundscapes neue Verhältnisse und ein Identitätsproblem ein; sie sind mit einem Begriff Schafers „schizophon“, weil sie den Klang von seiner Quelle und seinen natürlichen Zusammenhang abspalten.41 Mit der Möglichkeit des Zusammenkommens aller dieser kontextlosen Sounds an einem Ort geht, so Schafer, deswegen auch die Gefahr der Nivellierung von Sounds in zusammenmontierten, unlogischen, „surrealistische[n]“ Soundscapes einher.42 „Schallwände“, wie die „audioanalgetische“ Muzak in Einkaufszentren oder die Radios, mit denen sich Teenager Rückzugsterritorien schaffen, führen zu einer „allgemeinen Abgrenzung“ und zur Fragmentierung der Soundscape.43 Während sich Menschen in der „akustischen Gemeinschaft“44 mit dem eigenen Kör-
39 Vgl. Whittington, William: Sound Design and Science Fiction, Austin, Tex.: University of Texas Press 2007, S. 31f. 40 Vgl. LaBelle 2006, siehe Anm. 37, S. 203-205; Latour, Bruno: Drawing Things Together, die Macht der unveränderlich mobilen Elemente (1990), in: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 259-307, zum „Berechnungszentrum“ vgl. insbesondere S. 296-301. 41 Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 165. 42 Ebd., S. 171f. 43 Ebd., S. 174-179. 44 Vgl. ebd., S. 350-353.
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per, ihren Ohren und der Reichweite ihrer Stimmen selbst vertreten, ist die technische Ausweitung durch elektroakustische Verstärkung Medium eines „akustischen Imperialismus“45, der große Räume und fremde Gesellschaften dominiert. Diese technischen Medien verschärfen deswegen im knapper werdenden Raum auch das Problem der modernen „Lo-Fi“- (also Low-Fidelity-) Soundscape,46 die Schafer in einer bemerkenswerten Übersetzung eines technischen Qualitätskriteriums für Hi-Fi-Geräte, dem Signal-RauschVerhältnis, in die Wahrnehmungsökonomie der Soundscape definiert: Während es in der transparenten „Hi-Fi-Soundscape“ wegen des niedrigen Pegels von Umgebungsgeräuschen möglich ist, einzelne Geräusche deutlich herauszuhören und als Hinweise auf „Veränderungen in der Umgebung zu lesen“, geht diese Tiefe in der Oberflächlichkeit der „Lo-Fi-Soundscape“ verloren, weil die einzelnen Sounds in den kakophonischen „Breitbandgeräuschen“ der vielen sich überlappenden und vermischenden Laute untergehen.47 Die ambivalente Rolle von „noise“, als Geräusch, Rauschen, Störung oder Lärm,48 in der Konzeption der Soundscape lässt sich am SignalRausch-Verhältnis entfalten, denn einer der entscheidenden Ausgangspunkte Schafers besteht gerade in der Wendung gegen die Setzung einer „hierarchische[n] und einander ausschließende[n] Beziehung“49 zwischen relevantem, bedeutendem Signal und zu vermeidendem „noise“, das die Übertragung des eigentlichen Signals stört. Eine Wendung, die sich mit Cage und McLuhan und gegen eine eingeschränkte, auf die Optimierung von Nachrichtenkanälen als Transportmittel gerichtete Ingenieursperspektive, wie sie das Kommunikationsmodell von Claude Shannon und Warren Weaver nahelegt, nachvollziehbar wird.50 Soundscapes sind in diesem Sinne Medien,
45 Vgl. ebd., S. 144f., S. 166f. 46 Vgl. ebd., S. 167, S. 349. 47 Vgl. ebd., S. 91f. 48 Vgl. LaBelle 2006, siehe Anm. 37, S. 203, 210f., S. 214f. Zu den verschiedenen Bedeutungen von „noise“ vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 298-300. 49 Breitsameter 2010, siehe Anm. 2, S. 15f. 50 Vgl. Breitsameter 2010, siehe Anm. 2, S. 15f., Cavell 2002, siehe Anm. 8, S. 5. Tatsächlich ist es in Shannons Modell etwas komplexer als so eine „Ingenieursperspektive“ nahelegt, denn dort findet sich eine Vertausch- und Verwechsel-
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die die Botschaft sind. Denn potentiell sind alle Sounds Anzeichen für irgendetwas in der Soundscape und gleichzeitig Teil eines Hintergrunds, vor dem sich andere Sounds abheben können oder müssen. Die Qualität einer Soundscape zeigt sich deswegen erst im Zusammenspiel aller darin auftretenden Sounds, die sich so gegenseitig konfigurieren. Mit dem polemischen Einsatz Schafers für die gute Hi-Fi-Soundscape gegen die schlechte Lo-FiSoundscape wird allerdings wiederum ein quasi-technisches Optimierungsproblem eingeführt, das jedoch jetzt auf einer höheren Systemebene operiert: Auf der Ebene der Soundscape, die Aspekte von Kultur, Natur und Technik mit einschließt.51 Besonders auf dieser Ebene leitet Schafer dann sehr entschieden her, wann eine Umwelt für die Individuen schädlich ist und was bedeutsame Klänge sind.52 Was zur Folge hat, dass – quasi in Gegenrichtung zum Anfangsimpuls der Relativierung von „noise“ – in der Acoustic Ecology letztlich auf „noise“ überwiegend negativ Bezug genommen wird.53
S OUNDSCAPE -P OLITIK Von wo wird also die Welt gestimmt? (siehe Abbildung 1) Ist Acoustic Ecology, wie Schafer immer wieder betont, ein Projekt, das nur in der Partizipation aller Beteiligten angegangen werden kann,54 als politische Aus-
barkeit der verschiedenen Instanzen des Modells (besonders von Sender und Störquelle), an die ein kulturwissenschaftliches Interesse für „noise“ dann anknüpft, schon angelegt. Vgl. Siegert, Bernhard: Die Geburt der Literatur aus dem Rauschen der Kanäle. Zur Poetik der phatischen Funktion, in: Franz, Michael et al. (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 5-41, S. 11f. und Kittler, Friedrich: Signal-Rausch-Abstand (1988), in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 161-180, S. 163-168. 51 Zum Problem einer „Hi-Fi-Norm“ vgl. auch Holger Schulze in diesem Band, S. 85-104. 52 Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 384, S. 49. 53 Vgl. LaBelle 2006, siehe Anm. 37, S. 203. 54 Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 386, S. 39; Breitsameter 2010, siehe Anm. 2, S. 13f.
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handlung mit definitionsgemäß offenem Ausgang oder ist es die Entdeckung naturgegebener Prinzipien der Harmonie selbststabilisierender Soundscapes, die als Fakten und im Interesse der Menschheit den Dissens darüber aus dem Raum der politischen Verhandlung ausschließen?55 Wenn Soundscapes gleichzeitig Gegenstand und Raum der Aushandlung bilden, wenn also ihre Verhandlung selber Lärm macht, spitzen sich Paradoxien dieser Art, anstatt sich aufzulösen, sogar noch zu. Das muss nicht unbedingt immer so sein: Beispielsweise müsste über die Gesundheitsschädlichkeit des Lärms niedrig fliegender Jumbojets und dessen sehr geringes Maß an nützlicher Information vermutlich kaum gestritten werden. Und über die Vermeidbarkeit von Fluglärm müsste sicher nicht in der Lautstärke von Flugzeugen verhandelt werden. Aber der globalisierende Impuls Schafers, bezogen auf den Raum wie auch auf Sound, der mehr ist als Sprache, mehr als Musik und gleichzeitig auch mehr als Akustik, nämlich Anzeichen, Ausdruck und Milieu von Individuen, legt die Möglichkeit einer solchen Zuspitzung nahe. Wie können die Vertreter einer Acoustic Ecology dann den Lärm und die Kakofonie der modernen Soundscape „tunen“, wieder ins Gleichgewicht bringen, wenn sie sich dazu in eben dieser Soundscape (zum Beispiel mit The Vancouver Soundscape) Gehör verschaffen müssen? Denn das hieße dann ja gleichzeitig, selber in die Kakofonie einzustimmen, zum Lärm beizutragen.56 Eine Lösung, die Schafer dabei anbietet, ist, Differenzen zu machen, Aufteilungen einzuführen:57 Zwischen verschiedenen Räumen, die jeweils lokal spezifisch ausbalanciert sind, wo alle Sounds ihre
55 Zur Kritik des Ökosystemkonzepts als politisches Argument vgl. Martin, Reinhold: Environment, c. 1973, in: Grey Room, Nr. 14 (Winter 2004), S. 78-102, S. 82 sowie polemisch stark zuspitzend: Curtis, Adam: All watched over by machines of loving grace, pt II: The use and abuse of vegetational concepts, TVDokumentation, GB: 2011. Eine sehr fundamentale Kritik des „zwei Häuser Modells” von Politik und Wissenschaft entwickelt: Latour, Bruno: Politics of Nature. How to Bring the Sciences into Democracy, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 2004, S. 9-52. 56 Zum Lärm des Kollektivs vgl. Serres, Michel: Der Parasit (1980), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Vgl. Siegert 2007, siehe Anm. 50, S. 5-16. 57 Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 353.
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angemessenen Orte und Zeiten haben.58 So wäre eine Diversität und Abwechslung der Klänge möglich, in der jeder Sound deutlich gehört werden kann.59 Und zwischen Sounds, die ihren eigenen Ort und die richtige Zeit einnehmen und solchen, die das nicht tun, die „noise“ im Sinne von Störung und Lärm sind. Nur, wer entscheidet dann über diese Aufteilungen, beziehungsweise wo wird das entschieden? „Noise“, Schafer sagt das selber sehr deutlich, ist ein Problem von Machtverhältnissen.60 Und dieses Problem artikuliert sich an Tonbandgeräten, die einerseits die („systematischen“) Unterschiede zwischen Sprache, Musik und Geräusch fraglich und andererseits Sounds im („geografischen“) Raum mobil machen. Dadurch machen Tonbandgeräte Soundscapes als auditives Milieu hörbar und so können Soundscapes als Thema in einen Raum der Verhandlung getragen werden. Aber aus den gleichen Gründen machen Tonbandgeräte die Grenzen eben solcher Räume der Verhandlung (im systematischen wie im geografischen Sinne) unsicher.
ALTMANS N ASHVILLE Robert Altman beginnt seine Laufbahn als Regisseur um 1950 beim Fernsehen, zum Beispiel für Alfred Hitchcock Presents oder Bonanza.61 Den Durchbruch als Filmregisseur erlebt er allerdings erst 1970 mit M*A*S*H, einer bösen Satire auf den Koreakrieg. Er findet sich damit in Entwicklungen des Aufbrechens bestimmter Strukturen wieder, die das Bild der USA in den 1960er Jahren prägen. Verschiedene Konfliktlinien, die sich in der Bürgerrechtsbewegung, den Protesten gegen den Vietnamkrieg, der Frauenemanzipation oder den Studentenunruhen von 1968 manifestieren, polarisieren die amerikanische Gesellschaft, was nicht zuletzt vor dem Hinter-
58 Vgl. The World Soundscape Project. Soundscape Vancouver, CD 1: The Vancouver Soundscape 1973, siehe Anm. 1, Track 10: On Acoustic Design. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 141-146, S. 161, S. 166. 61 Vgl. Self, Robert: Robert Altman, in: Senses of Cinema, Nr. 34 (08.02.2005), http://sensesofcinema.com/2005/great-directors/altman (05.06.2013).
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grund des Kalten Krieges zu verstehen ist.62 Und aus der Kritik an autoritären Verhältnissen, Kapitalismus und Konsumkultur formuliert eine „Counterculture“ alternative Lebens- und Gesellschaftsentwürfe. Nachdem Mitte der 1960er Jahre das klassische Studiosystem in eine Krise schliddert, können Filme des sogenannten „New Hollywood“ mit unabhängigeren Produktionsweisen, experimentelleren Filmästhetiken, kritischen Haltungen und den „Vibes“ der Counterculture einige Erfolge verzeichnen.63 1974 aber scheint dieser Aufbruch leerzulaufen. Amerika hat sich aus dem Vietnamkrieg, in dem es eine alles andere als heroische Rolle gespielt hatte, zurückgezogen und die Watergate-Affäre – in der es um Abhörwanzen und Tonbänder ging – wird zum Symbol eines falsch funktionierenden politischen Systems, von dem keiner mehr so genau weiß, von wo es gesteuert oder reguliert wird, falls es so eine Stelle überhaupt gibt.64 Wie kann man da noch die eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika aus einer Perspektive erzählen?65 In dieser Situation dreht Robert Altman Nashville. Nashville ist eine Art Flickenteppich der Geschichten von 24 verschiedenen Charakteren aus den verschiedensten Milieus, die an fünf aufeinanderfolgenden Tagen an diversen Orten (auf einem Flughafen, an Konzertbühnen, in einem Krankenhaus, bei einem Barbecue, in Musikclubs, Restaurants, Hotelzimmern, Einfamilienhäusern…) von Nashville, der Hauptstadt der Country-Musik, kurz vor der 200-Jahrfeier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1976,
62 Vgl. Durham, Chris Louis: „We Must Be Doing Something Right To Last Two Hundred Years“. Nashville, Or America’s Bicentennial as Viewed by Robert Altman, in: Wide Screen, Jg. 2, Nr. 1 (Juni 2010), http://widescreenjournal.org/ index.php/journal/article/view/40/72 (05.06.2013), S. 1-6; Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild (1983), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 276. 63 Vgl. Elsaesser, Thomas: Robert Altman’s Nashville. Putting on the Show, in: ders.: The Persistence of Hollywood, New York/London: Routledge 2012, S. 201-211, S. 201f. 64 Vgl. Sawhill, Ray: A Movie called „Nashville“ (27.06.2000), http://www. salon.com/2000/06/27/nashville_2/ (05.06.2013); Durham 2010, siehe Anm. 62, S. 6; Deleuze 1983, siehe Anm. 62, S. 280f. 65 Vgl. Melehy, Hassan: Narratives of Politics and History in the Spectacle of Culture. Robert Altman’s Nashville, in: Scope, Nr. 13 (Feb. 2009), http://www. scope.nottingham.ac.uk/article.php?issue=13&id=1097 (05.06.2013).
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auf der Suche nach Ruhm, Anerkennung, Aufmerksamkeit, Verständnis, Liebe oder Macht, ihre Wege kreuzen, aufeinanderprallen, wechselnde Konstellationen bilden, sich verfehlen, begegnen und wieder trennen. Eine sich durch viele dieser Szenen ziehende Handlungslinie erzählt davon, wie John Triplette (Michael Murphy), der Wahlkampfmanager der unabhängigen „Replacement Party“ versucht, Musiker für eine Veranstaltung seines Präsidentschaftskandidaten Hal Phillip Walker66 zu gewinnen. Und so kommen zum Finale des Films (fast) alle wieder bei einem Konzert vor dem Parthenon von Nashville zusammen, das in den aus dem Publikum abgegebenen Schüssen auf die Sängerin Barbara Jean (Ronee Blakley) gipfelt. Das ist aber nicht im Sinne einer Vorgängigkeit der Erzählhandlung oder einer sozialen Situation zu verstehen, die dann in bewegten Bildern und Sounds repräsentiert wird. Was Altman, oder besser: Was Nashville hier macht, ist gleichzeitig auf der Ebene von Optischem und Akustischem, Bildern und Sounds zu denken, die in Nashville/Nashville zirkulieren, sich verbreiten, überlagern, transformieren, aufgenommen und wiedergegeben werden, verdrängt oder unterbrochen werden.67 In einer auf jene Schüsse zulaufenden Szene schreit Barnett (Allen Garfield), der Manager der nervlich labilen Barbara Jean, den PR-Mann Triplette an: „What the hell are you hollerin’ about in front of all these people, then, huh? You’re trying to embarrass me?“ Und der antwortet: „I’m trying to be heard. I’m trying to be heard“. Das könnte das Motto sein, unter dem hier nachvollzogen werden soll, wie einige der Probleme, die Soundscapes stellen, in Nashville durchgespielt werden. Dabei geht es gerade nicht darum, das Vokabular der Soundscape zu verwerfen, sondern darum, dessen kritische Momente zu betonen. Am Ende steht dann wiederum die Frage, ob es so etwas wie einen demokratischen Soundmix geben kann oder ob das auf Kakofonie und letztlich auf eine Katastrophe hinauslaufen muss.68
66 Die Reden Walkers wurden geschrieben und gesprochen von Thomas Hal Phillips. Vgl. Byrne, Connie; Lopez, William O.: Nashville, in: Film Quarterly, Bd. 29, Nr. 2 (Winter 1975/76), S. 13-25, S. 24. 67 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild (1985), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 42-47. 68 Vgl. Altman, Rick: Eine Narration der 24 Ton-Spuren? Robert Altman’s Nashville (1991), in: Müller, Jürgen E.; Vorauer, Markus (Hg.): Blickwechsel. Ten-
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Die Anzahl der 24 Charaktere, die durch Nashville hindurch verfolgt werden, kann als eine Referenz auf die Mehrspurtonbandtechnik gelesen werden, die in der Musikindustrie seit den 1950er Jahren zunehmend zum Einsatz kam und von Robert Altman in die Filmproduktion übertragen wurde.69 Rick Altman zeigt das sehr überzeugend anhand einer Szene gleich zu Beginn des Films, in der ein Song des Country-Sängers Haven Hamilton („We must be doing something right to last 200 years“) produziert wird, die das spezifische räumliche und technische Dispositiv der Mehrspuraufnahme – sein „Acoustic Design“ – in einem Tonstudio vorführt.70 Solche Anordnungen sind zunächst darauf gerichtet, den akustischen Raum zu „entmischen“71 (siehe Abbildung 2). Die durch Wände und Glasscheiben isolierten Sounds werden durch Mikrofone und Kabel zu einer zentralen Kontroll-, Aufzeichnungs- und Mischungsinstanz – einem „Berechnungszentrum“72 – übertragen, um sie dort zu koordinieren, zu hierarchisieren und zusammenzufügen.73 Derartig harmonisch orchestriert ist die Musik dieser Szene auch zu hören.74 Sie wird jedoch von Haven Hamilton unterbrochen, der eine Unbekannte mit einem tragbaren Tonbandgerät des Raumes verweist, die unterdessen das Studio betreten hat. Die folgende Auseinandersetzung mit der Frau, die sich als BBC-Reporterin namens Opal (Geraldine Chaplin) vorstellt, ist dagegen kaum harmonisch, sondern eher „ein für alle offener Dialog simultaner Rede und undisziplinierten Gebrabbels“.75 Damit wird, so schließt Rick Altman, das Tonstudio zum Modell von Nashville, in dem zwei „Modalitäten“ des Sounds konkurrieren: „die hierarchisierte Modalität sorgfältig gemischter Musik und die kakofone Modalität von sich
denzen im Spielfilm der 70er und 80er Jahre, Münster: Nodus Publikationen 1993, S. 21-43, S. 32. 69 Vgl. ebd., 21f. 70 Vgl. ebd., S. 22-26. 71 Ebd., S. 28. Vgl. Robert Altman im Interview, in: Byrne; Lopez 1975/1976, siehe Anm. 66, S. 13-25, S. 15. 72 Vgl. Latour 1990, siehe Anm. 40, S. 296-301. 73 Vgl. Altman 1991, siehe Anm. 68, S. 26. 74 Vgl. ebd., S. 22. 75 Ebd., S. 24.
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Abbildung 2: Aufnahmestudio in Nashville
überlagernden Dialogen“.76 Hamiltons Anweisung, seine Stimme lauter zu stellen – „I want to hear a little more Haven in this one“ – macht deutlich, worum es geht: Wer entscheidet wo, was zu hören ist.77 Der Film verweist so auch auf die Position Robert Altmans als „Ingenieur der Ingenieure“, der wie der Toningenieur in seiner Kabine, die Bilder und Sounds von Nashville mischt und ins Verhältnis setzt.78 Der klassische Hollywoodfilm wird in der Regel durch eine klare Hierarchisierung und Ordnung der Klänge nach narrativen Funktionen gekennzeichnet: Sound teilt sich dabei in die Kategorien Sprache, Musik und Geräusch auf, denen unterschiedliche Stellen in der Produktion des Films zugewiesen werden. Dabei steht die Verständlichkeit von Sprache im Vordergrund, dann kommen Musik (besonders zur Übertragung von Emotionen) und Geräusche, die zuvorderst als narrative Signale dienen.79 Auf der Zeitachse ergibt die Fokussierung auf jeweils genau ein hörbares Element, während alle anderen, potenziell störenden gleichzeitigen Sounds möglichst weit ausgeblendet oder ganz unterbrochen werden, eine „intermittierende“
76 Ebd., S. 26. 77 Vgl. ebd., S. 24. 78 Ebd., S. 26. 79 Vgl. ebd., S. 29-31; Flückiger, Barbara: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, Marburg: Schüren 2001, S. 34-38, S. 60.
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Tonspur sich abwechselnder Sounds.80 Aber mit neuen Tontechniken, wie dem Dolby System, das den Frequenzgang, den Signal-Rausch-Abstand und damit insgesamt die Auflösung des Sounds im Kino verbessert, und experimentellen Praktiken der Tonmischung entsteht eine Hi-Fi-Kultur des Filmsounds, zum Beispiel als „Sound Design“81. Das von Robert Altman zusammen mit dem Tontechniker James Webb entwickelte Mehrspurverfahren ist dabei allerdings sehr spezifisch. Ein Arrangement mehrerer Funkund anderer Mikrofone, die an verschiedenen Stellen des Sets und an den Körpern der Schauspieler versteckt waren, erlaubte ein über den Raum verteiltes Geschehen, das herkömmlicherweise auf die Stelle fokussiert ist, wo eine einzige Mikrofonangel über die Szene gehalten wird, simultan aber weitgehend „entmischt“ auf verschiedenen Spuren aufzunehmen.82 Und so lässt sich das konventionelle Verhältnis zwischen dem Bildfeld als statische Totalität gleichzeitiger Elemente und einer linear-eindimensionalen und fragmentierten (intermittierenden) Tonspur umdrehen.83 Durch diese Möglichkeit der Vervielfältigung und Enthierarchisierung der einen Tonperspektive entstehen auf der Tonspur von Nashville Überlagerungen gleichzeitiger Dialoge und Geräusche verschiedenster Quellen. Die Lautstärkenverhältnisse sind zwar einer Regie wechselnder, geradezu flanierender Tonperspektiven folgend abgemischt, ermöglichen es aber trotzdem, häufig auch einer anderen Ton-Spur zu folgen, die gerade nicht im Fokus der Kamera steht. Was auf der horizontalen Ebene der Narration die nur lose motivierte Folge von Szenen und Handlungen ist, findet sich damit als vertikale Nichtlinearität auch in den einzelnen Szenen wieder.84
80 Altman 1991, siehe Anm. 68, S. 30. 81 Vgl. Schreger, Charles: Altman, Dolby, and the Second Sound Revolution, in: Weis, Elizabeth; Belton, John (Hg.): Film Sound. Theory and Practice, New York: Columbia University Press 1985, S. 348-355, S. 350-352; Whittington 2007, siehe Anm. 39, S. 31f., S. 21, S. 34-37; Flückiger 2001, siehe Anm. 79, S. 34f. 82 Vgl. Altman 1991, siehe Anm. 68, S. 27-29. 83 Vgl. Brophy, Philip: Historical Markers of the Modern Soundtrack 6: California Split (o.J.), http://www.philipbrophy.com/projects/mma/CaliforniaSplit.html (05.06.2013). 84 Vgl. Deleuze 1983, siehe Anm. 62, S. 277.
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Das Publikum wird in diesen Momenten selbst an die Stelle des Mischpults versetzt, insofern dort die verschiedenen Spuren, egal wie unverbunden sie auch seien mögen, in ihrer Gleichzeitigkeit zusammenkommen, sodass das Publikum sich dazu jeweils verhalten und seine Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes richten muss.85 Oder wie Joan Tewkesbury, die Drehbuchautorin von Nashville, sagt, „das Publikum kommt als fünfundzwanzigster Charakter ins Kino“.86 Oder mit Schafer: Die Tonspur bildet eine Lo-Fi Soundscape, die mit der Aufmerksamkeit des Publikums zwischen Figur und Grund experimentiert. Das Kritischwerden von SignalRausch-Verhältnissen wird so zum Thema des Films. Dazu trägt auch die Fülle von auditiven Medien bei, die in Nashville zum Einsatz kommen. „Nashville ist auch ein Film über den Lärm, diesen besonderen amerikanischen Lärm aus Musik und Sprache und Verkehr und Reklame aus Radio und Fernsehen“.87 Aber es ist nicht nur der Lärm, diese Medien, zum Beispiel auch Telefone, Mikrofone, Lautsprecher und Tonbandgeräte, prozessieren alle möglichen Arten von Verbindung und Unterbrechung in und zwischen den Räumen und Räumlichkeiten von Nashville.
P OLITIK -S OUNDSCAPE Wenn der Lautsprecherwagen der „Replacement Party“ immer wieder durch Nashville – durch den Stadtraum und durch das Filmbild – fährt, um sich Gehör zu verschaffen („trying to be heard“), dann kehren die oben umrissenen Probleme von Soundscapes als Gegenstand der Politik, hier als Schwierigkeit, in Soundscapes Politik zu machen, wieder. Die Rhetorik der „Replacement Party“ zielt darauf, jene Stelle des Präsidenten, von der aus für und an die ganze Nation gesprochen wird, mit jemandem (eben Hal Philip Walker) zu besetzen, durch den das Volk selber spricht, während das politische Establishment die Stimme des Volkes, statt ihr Kanal zu sein,
85 Vgl. Altman 1991, siehe Anm. 68, S. 39. 86 Joan Tewkesbury im Interview, in: Byrne; Lopez 1975/76, siehe Anm. 66, S. 18 [Übersetzung des Autors]. 87 Wenders, Wim: Nashville. Ein Film, bei dem man Hören und Sehen lernen kann (1976), in: ders.: Emotion Pictures. Essays und Filmkritiken 1968-1984, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1988, S. 102-112, S. 104.
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zugunsten eigener Interessen gewissermaßen rauschunterdrückt. In Walkers Worten: „Who do you think is running Congress? Farmers? Engineers? Teachers? Businessmen? No, my friends, Congress is run by lawyers. A lawyer is trained for two things and two things only: To clarify... that’s one... and to confuse... that’s the other thing“.
Das Problem Walkers besteht jedoch nicht einfach darin, dass seine Stimme von einem „Ingenieur der Ingenieure“ ausgeblendet wird. Vielmehr ist das Problem, dass in der Lo-Fi-Soundscape Nashville unklar wird, ob seine Rede von anderen Stimmen und Geräuschen gestört wird, oder ob nicht andersherum der Lautsprecherwagen eine der Störquellen ist, die eine andere, eigentliche Kommunikation stören, wenn er als eine Art Running Gag durch die Peripherien nur lose verbundener Szenen fährt. So wie auch die Orte dieser Szenen eher ein unverbundenes Nebeneinander bilden; insofern besteht ganz Nashville nur noch aus Peripherie.88 Unklar wird dann auch, ob es sich bei der „schizophonen“ Stimme Walkers, der selber nie sichtbar in Erscheinung tritt, um „akustischen Imperialismus“ durch technische Verstärkung handelt, oder um den Versuch, einen gemeinsamen politischen Raum Nashvilles durch dessen Bewusstmachung überhaupt erst herzustellen: „Let me point out two things. Number one: All of us are deeply involved with politics, whether we know it or not and whether we like it or not. And number two: We can do something about it…“ Walkers Reden drohen jedoch immer auf Klischees hinauszulaufen, wie: „Does Christmas smell like oranges to you?“ Solche Trivialitäten bilden kommunikationstheoretisch gesehen gewissermaßen die Rückseite der Verstärkung des Signals gegenüber seiner kakofonischen Umgebung. Denn wenn „in Anwesenheit von Rauschen“ auf der Seite der Empfänger unsicher wird, was vom ankommenden Signal eigentlich gesendet wurde und was davon Störungen sind, die das Signal auf seinem Weg erlitten hat, kann mit einer redundanten Codierung der Nachricht erreicht werden, dass sich die Empfänger den Rest weitgehend selber denken können.89 Mit zunehmender Redun-
88 Vgl. Deleuze 1983, siehe Anm. 62, S. 277, S. 280f. 89 Vgl. Shannon, Claude Elwood: A Mathematical Theory of Communication, in: The Bell System Technical Journal, Bd. 27, Nr. 3/4 (Juli/Oktober 1948),
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danz rückt aber die bloße Behauptung eines gemeinsamen Kanals – die „phatische“ Kommunikation – gegenüber der Übertragung von Information, die sich die Empfänger nicht schon selbst hätten denken können, immer weiter in den Vordergrund, das Rauschen wandert so in die Sprache ein.90 In den Teufelskreisen von eskalierendem kakofonischem Lärm und zirkulierenden Klischees sind „Sender“, „Empfänger“ und „Kanal“ eben nicht einfach gegeben und statisch, sondern mehr oder weniger (in-)stabile Größen von Prozessen, in denen sich die Soundscape als Milieu und die Identität der in ihr lebenden Individuen gegenseitig destabilisieren und desorientieren.91 Nashville handelt von solchen Instabilitäten und von Individuen, die sich anschreien, um sich zu behaupten oder zusammenbrechen, die zu Klischees ihrer selbst werden, die mehr damit beschäftigt sind, Räume der Kommunikation zu beschwören oder überhaupt erst herzustellen als Informationen auszutauschen. Auf einem solchen Zirkelschluss beruht auch das Paradox oder die Ironie von Walkers Wahlslogan „New Roots for the Nation“ der, wie Pauline Kael anmerkt, mindestens genauso gut auf die Country-Musik Nashvilles passt, die die symbolische Aufrechterhaltung einer unversehrten amerikanischen Identität und traditioneller Werte zu einer trivialen Kulturindustrie gemacht hat.92 Politik wird hier dem Show-Business zum Verwechseln ähnlich:93 „Wait a minute, Hal Phillip Walker looks exactly like Connie White“.94 Weil die Musik dieses Geschäft besser beherrscht als die Politik, or-
S. 379-423, S. 623–656, S. 410; Schafer, R. Murray: Radical Radio (1982), in: Strauss, Neil (Hg.): Radiotext(e), New York: Semiotext(e) 1993, S. 291-298, S. 294. 90 Vgl. Siegert 2007, siehe Anm. 50, S. 13-16; Wenders 1976, siehe Anm. 87, S. 109. 91 Vgl. Siegert 2007, siehe Anm. 50, S. 8f. 92 Vgl. Kael, Pauline: The Current Cinema. Coming. „Nashville”, in: The New Yorker, 03.03.1975, S. 79-83, S. 80. 93 Vgl. Elsaesser 2012, siehe Anm. 63, S. 202f. 94 Vgl. Ching, Barbara: Sounding the American Heart. Cultural Politics, Country Music, and Contemporary American Film, in: Robertson Wojcik, Pamela; Knight, Arthur (Hg.): Soundtrack Available. Essays on Film and Popular Music, Durham/London: Duke University Press 2001, S. 202-225, S. 208 und Chings Anmerkung dazu auf S. 223.
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ganisiert der Kommunikationsmanager Triplette ein gemeinsames Konzert, um seinem Präsidentschaftskandidaten eine Bühne zu verschaffen. Wenn die hier beschriebene Situation Nashvilles als Lagebestimmung Amerikas zu verstehen ist, dann stellt sich allerdings die Frage, wie sich der Film Nashville, der selber Produkt der Unterhaltungsindustrie Kino ist, der selber die Lo-Fi Soundscape mit Hi-Fi-Technik reproduziert und die zirkulierenden Klischees ein weiteres Mal in Umlauf bringt, zu dieser Lage verhält.95
M IT M USIK HANDELN Mit 24 Personen und ihren Wegen durch Nashville breitet der Film ein ganzes Tableau der Möglichkeiten aus, sich in solchen instabilen Situationen zu verhalten. Ähnliche Schwierigkeiten, wie die des Lautsprecherwagens, artikulieren sich in der Musikszene Nashvilles, in der es eben darum geht, eigene Klänge zu verbreiten (Wer tritt bei welchem Konzert auf, wer wird im Radio gespielt, wer verkauft mehr Schallplatten etc.), besonders paradigmatisch an den Übergängen zwischen Bühne und Publikum sowie zwischen einem affektiven/emotionalen Innen und Außen der Individuen.96 Alle Charaktere wechseln dabei zwischen den Positionen „Sender“, „Empfänger“, „Ingenieur“ und „Rauschquelle“, nutzen irgendwen aus und wer-
95 Vgl. Deleuze 1983, siehe Anm. 62, S. 281. Tatsächlich beginnt der Film selber mit einer lautstarken Anpreisung seiner selbst als Unterhaltungsprodukt. Vgl. Philipowski, Günther: „It don’t worry me“. Nashville von Robert Altman – seine Strukturen, seine Kritik und Strukturkritik, in: PhiN – Philologie im Netz, Nr. 35
(2006), http://web.fu-berlin.de/phin/phin35/p35t3.htm (05.06.2013),
S. 32-59, S. 52. 96 Zur Allgegenwärtigkeit der Bühne in Nashville vgl. Elsaesser 2012, siehe Anm. 63, S. 308. Zur Unterscheidung emotional/affektiv vgl. Massumi, Brian: The Autonomy of Affect (1995), in: ders.: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham/London: Duke University Press 2002, S. 23-45, S. 25-28.
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den ausgenutzt.97 Es muss einerseits immer eine Bühne hergestellt werden, die sich von der Umgebung absetzt und dadurch diejenigen auf dieser Bühne und deren Äußerungen in den Mittelpunkt stellt, während andere zum Publikum werden. Andererseits muss diese Trennung gleichzeitig wiederum überbrückt werden, darüber hinweg ein Kontakt zum Publikum aufgebaut, etwas übertragen werden.98 Und mit der Verbreitung der „eigenen“ Klänge geht immer der Verdacht der Enteignung dieser Klänge einher: Der Konflikt zwischen Trivialisierung – um ein möglichst großes Publikum zu erreichen – und Authentizität, die in der Country- wie auch in der alternativen Folk-Musik ein entscheidendes Relevanz-Kriterium bildet, insofern sie die Ursprünglichkeit der Sounds aus dem Milieu der Hörer anzeigt,99 stellt die Personen auf der Bühne immer wieder neu vor das Problem, sich selbst (nur) darzustellen oder tatsächlich etwas von sich preiszugeben, sich selbst treu zu bleiben oder sich zu verkaufen. Gerade zwischen Barbara Jean und ihrem „Replacement“100 Connie White werden zwei unterschiedliche Weisen, sich zu Affekten zu verhalten, vorgeführt; Affekte, die auf die eine oder andere Weise nicht ihre eigenen sein können, die eher kontrolliert, gefiltert oder moduliert werden (müssen), statt einfach ausgedrückt zu werden. Dabei kann Connie White als PromQueen-Typus auf der Seite geschlossener Oberflächen, des äußerlichen Scheins und des Konkurrenzverhaltens eingeordnet werden. Sie lächelt nur genau so lange wie Fotoapparate oder die Blicke des Publikums auf sie gerichtet sind, und sie singt: „I’d like to tell you how I feel, but I don’t know what to say“.101 Die hochsensible Barbara Jean verkörpert dagegen eine Art Hi-Fi-Medium ihrer Herkunft aus „einfachen“ – das heißt eigentlich komplizierten und rauen – Verhältnissen und ist damit die glaubwürdigere und erfolgreichere der beiden. Während die selbst kontrollierte Connie White
97 Vgl. Siegert 2007, siehe Anm. 50, S. 8f.; Kolker, Robert: A Cinema of Loneliness (1980), Oxford [u.a.]: Oxford University Press 2011, S. 402. 98 Vgl. Elsaesser 2012, siehe Anm. 63, S. 207. 99 Vgl. Kael 1975, siehe Anm. 92, S. 80. 100 Vgl. Ching 2001, siehe Anm. 94, S. 208. 101 Vgl. ebd.
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ihre Oberflächlichkeit verinnerlicht hat, kann Barbara Jean zwischen Innen und Außen kaum unterscheiden.102 Eben diese Durchlässigkeit führt in rückgekoppelten, sich aufschwingenden Resonanzen zu ihrem Nervenzusammenbruch auf der Bühne des Opryland-Vergnügungsparks, als sie nach einem Song zu einer jener Erzählungen aus ihrer Kindheit ansetzt, die ihren Auftritten einen persönlichen, heimeligen Rahmen geben, sich aber, statt zum nächsten Song überzugehen, in weitgehend unzusammenhängenden Episoden verliert. „They’re the same kind of stories that have gone into her songs, but without the transformation they’re just tatters that she clings to – and they’re all she’s got“.103 Bis ihr Ehemann und Manager Barnett die Kontrolle übernimmt, das Konzert unterbricht, sie gewissermaßen entmündigt und sie unter Buhrufen von der Bühne führt. Um das Publikum zu besänftigen, lässt er sich dazu hinreißen, ihren Auftritt auf dem kostenlosen Konzert vor dem Parthenon zu versprechen, obwohl er ihre Vereinnahmung durch die Replacement Party bis dahin strikt abgelehnt hatte.104
S CHAFER /ALTMAN : S OUND AFFECTS Am Verhältnis von Emotionen und Musik lässt sich unterdessen ansetzen, um Schafers Acoustic Ecology und Altmans Nashville voneinander abzuheben:105 Am Anfang von The Tuning of the World beschreibt Schafer zwei grundlegende Auffassungen von Musik, ein „dionysisches“ Modell irrationaler, subjektiver Musik der „Temposchwankungen, dynamische[n] Schattierungen, Ton- und Geräuschfarben“, in dem „innerer Klang“ aus der „menschlichen Brust hervorbricht“, und ein „apollinisches“ Modell, in der
102 „She has driven herself to the point of having no identity except as a performer. […] [S]he’s a true folk artist; the Nashville audience knows she’s the real thing and responds to the purity of her gift. […] But she isn’t using the emotion as other singers do: it pours right out of her – softly“. Kael 1975, siehe Anm. 92, S. 81. 103 Ebd. 104 Vgl. Kolker 1980, siehe Anm. 97, S. 402. 105 Auch wenn ein Vergleich zwischen beiden wegen ihres ganz unterschiedlichen Status freilich eine prekäre Angelegenheit ist.
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„äußerer Klang“ der Welt „an die Harmonie des Universums“ gemahnt, „verbunden mit den transzendentalen Visionen einer Utopie und der Harmonie der Sphären“.106 „Weil die Produktion von Klängen und Geräuschen in der Moderne so sehr als subjektive Angelegenheit gilt, ist die gegenwärtige Soundscape besonders regel- und zügellos“.107 Entsprechend gelte es, dem „apollinischen“ Modell wieder mehr Geltung zu verschaffen. Übersetzt in den Sound von Tonbandgeräten eröffnet bei Schafer die Entdeckung des unbedeutendsten, kleinsten Geräuschs (als „hörbare[…] Eigenschaften der Materialien des Universums“108) – das von der Aufmerksamkeit und der Notenschrift ausgeblendet wurde – als Musik, das heißt als Möglichkeit des Menschen einen „Gleichklang zwischen innerer und äußerer Welt“109 zu erleben, das Projekt einer vom Größten bis in Kleinste durchgreifenden Harmonie. Der Weg zu dieser Utopie verläuft dann über die (Rück-)Gewinnung und Rückkopplung dieses größeren Zusammenhangs als Wahrnehmungsgegenstand der (gewissermaßen mittelgroßen) in der Soundscape lebenden Individuen, zum Beispiel durch Kunst, die „neue Wahrnehmungsweisen [eröffnet] und […] andere Lebensformen [vorstellt]“110, sowie als diskursiver Verhandlungsgegenstand von Gemeinschaften, die sich über die Frage einigen, was als „noise“ gelten soll, zum Beispiel eben indem Soundscape Studies die verstreuten Vokabulare und Erkenntnisse zum Sound versammeln, die Diskussion darüber anstoßen und leitende Kriterien vorschlagen. Das World Soundscape Project als der Ort, an dem die mit dem Tonbandgerät gesammelten Sounds geordnet werden, um ihre jeweiligen Eigenheiten an lokale Bedingungen zurückzuverweisen, funktioniert damit als Bewegung in Richtung eines reinen Sounds. Ein Sound, der den Grund bildet, vor dem alle hörbaren und alle konkret gemachten, das heißt unvollkommenen, weil endlichen, Sounds erst als Figuren hervortreten. Ein Sound, aus dem kein „noise“ ausgeschlossen werden muss, weil er selbst reine Ordnung ist: eine positive Stille.111
106 Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 39f. 107 Ebd., S. 40. 108 Ebd., S. 39. 109 Ebd., S. 90. 110 Ebd., S. 386. 111 Vgl. ebd., S. 413-419; LaBelle 2006, siehe Anm. 37, S. 204.
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Altmans Nashville geht dagegen gerade von mittleren Größen aus, in denen alle konkreten Sounds und Situationen von der Spannung zwischen kulturellen, sozialen, sprachlichen, narrativen oder musikalischen Ordnungen und einer irrationalen „subliminalen Realität“112 durchzogen werden.113 Altmans „Realismus“ ist aber ebenso wie das utopische Projekt Schafers von Tonbandaufnahmen her zu verstehen. Zum Beispiel von einer Sprache her, in deren Hörbares „affektsemiotische[…] Aspekte“ einbrechen, „jene Schicht des sprachlichen Ausdrucks, die am unmittelbarsten mit den stummen Zeichen des Körpers verbunden ist“ 114, wie es Bernhard Siegert als Effekt akustischer Medien beschreibt, die die Unterscheidung zwischen Sprache, Geräusch und Musik unterlaufen.115 Wenn das klassische HollywoodMelodrama auf der deutlichen Trennung von Musik und Sprache beruht, insofern dort die emotionale Musik dann einsetzt, wenn Sprache als Medium des rational Verhandelbaren aussetzt, dann wird das Melodrama in Nashville „mikrophysikalisch“:116 Die Wirkung des Films, von der Kael als „orgy without excess“117 spricht und die die spezifische Weise der Involvierung des Publikums als „fünfundzwanzigster Charakter“ ausmachen würde, wäre dann nicht entweder in einer distanzierten analytischen Perspektive oder in einem empathischen Mitgerissenwerden im Geschehen zu suchen, sondern in Disparitäten dazwischen, die genau so weit ausgereizt werden,
112 Robert Altman im Interview zu Short Cuts (1993), hier zit. n.: Self 2005, siehe Anm. 61. 113 Vgl. Robert Altman im Interview, in: Byrne/Lopez 1975/76, siehe Anm. 66, S. 25; Žižek, Slavoj: Organs without Bodies. Deleuze and Consequences, New York/London: Routledge 2004, S. 6. 114 Siegert 2007, siehe Anm. 50, S. 29. 115 Vgl. ebd., S. 29-34. 116 Zum Hollywood-Melodram vgl. Palm, Michael: Was das Melos mit dem Drama macht. Ein musikalisches Kino, in: Cargnelli, Christian; Palm, Michael: Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum melodramatischen Film, Wien: PVS Verleger 1994, S. 211-232. Zu Nashville als „entprivatisiertem“ Familien-Melodrama vgl. Elsaesser 2012, siehe Anm. 63, S. 203-205. Zu einer „Quantenphysik“ der Affekte vgl. Massumi 1995, siehe Anm. 96, S. 34-37. 117 Kael 1975, siehe Anm. 92, S. 79. Zu solchen Wirkungen vgl. auch Wenders 1976, siehe Anm. 87, S. 112 und Sawhill 2000, siehe Anm. 64.
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dass sie nicht endgültig auf eine Seite kippen.118 Eine solche Intensivierung der Spannungen innerhalb von Sounds zieht sich quasi fraktal durch die verschiedensten in Nashville vorkommenden Größenordnungen: Von Barbara Jean, die zwischen der Übertragung besonders „purer“ Gefühle und dem Umkippen in sinnloses Geplapper schwankt, über das Tonstudio, dessen harmonische Klangproduktion durch eine zentrale Machtinstanz im Zweifelsfall konflikthaft durchgesetzt werden muss, bis hin zu Walkers Berufung auf einen „Common Sense“, die in der Vielzahl sich überlagernder Stimmen auf Trivialitäten hinauszulaufen droht. In Nashville zeichnet sich also nicht wie bei Schafer ein reiner Sound als Grund des Ganzen ab. Vielmehr dient die Bandbreite des Hi-Fi Sounds und die (Ent-)MischungsArchitektur des Mehrspurverfahrens hier gerade der Verringerung der Abstände zwischen Signal und Rauschen. Sounds umspielen so den Punkt einer „konstruktiven Instabilität“.119
P ARTHENON P ARADOX Von Schafers Acoustic Ecology aus gesehen mangelt es dem Film dabei jedoch an einer Utopie, auf die hin Handlungen entworfen werden können, die aus dieser Situation hinaus und irgendwo hinführen. Gerade darin, dass Nashville letztlich inkonsequent sei, treffen sich zwei prominente, von Rick Altman und Gilles Deleuze geäußerte Einwände.120 Das lässt sich an der letzten Szene festmachen, um damit zu der Frage zurückkehren, ob das Ganze auf eine Katastrophe hinauslaufen muss: Mit Triplettes Vorhaben, die wichtigsten Musikgrößen auf die Bühne seines Kandidaten zu bringen, bahnt sich diese Szene einerseits als Höhepunkt der Trivialisierung, als Konvergenz von Entertainment und Politik an, andererseits kommen hier
118 Vgl. Žižek 2004, siehe Anm. 113, S. 6; Grob, Norbert: Bruch der Weltenlinie, Bilder der Auflösung. Neun Annotationen zu Altman und New Hollywood, in: Klein, Thomas; Koebner, Thomas (Hg.): Robert Altman. Abschied vom Mythos Amerika, Mainz: Bender 2006, S. 63-77, S. 71. 119 Vgl. Elsaesser 2012, siehe Anm. 63, S. 202. 120 Vgl. Deleuze 1983, siehe Anm. 62, S. 281f.; Altman 1991, siehe Anm. 68, S. 36-43.
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mit den Pfaden der verschiedenen Charaktere durch Nashville all jene unaufgelösten Konflikte zusammen, die sich unterwegs zusammengebraut haben.121 Während Barbara Jeans Auftritt vor dem Parthenon holt ein junger Mann namens Kenny (David Hayward) einen Revolver aus seinem Geigenkoffer hervor und gibt mehrere Schüsse auf sie ab. Schlagartig getroffen kippt sie rückwärts um. In den hektischen Momenten nach diesem tödlichen Durchschuss der Trennung zwischen Publikum und Bühne ergreift Haven Hamilton das Mikrofon. Und mit den Worten „Y’all take it easy now. This isn’t Dallas, it’s Nashville. […] You show’em what we’re made of. […] Okay, everybody, sing! Come on, somebody, sing! No, I’m fine. You sing. You stay here and play“ überreicht er das Mikrofon an Albuquerque (Barbara Harris), die ihren Mann verlassen hat, um in Nashville als Sängerin Karriere zu machen. Sie beginnt also ein Lied zu singen: „It don’t worry me“. Nach einigen Takten stimmt der anwesende Gospelchor mit ein. Anstatt in Panik zu geraten, bleibt das Publikum vor der Bühne stehen, die Kamera schweift durch die Menge, zeigt einige Männer, Frauen und Kinder, die sich zur Musik wiegen, mitklatschen oder singen, bis die Perspektive zuletzt hochschwenkt von einer Totalen des Publikums vor dem Parthenon auf einen bewölkten Himmel. Nashville dient Deleuze als zentrales Beispiel dafür, wie das „Aktionsbild“ des klassischen Realismus Hollywoods in die Krise gerät, insofern sich hier die Bestimmtheit der Beziehung zwischen „Milieus“ und „Verhaltensweisen“ auflöst,122 weil es „kaum noch glaubhaft [ist], daß eine globale Situation eine Aktion, die Veränderungen bewirkt, auslösen könnte […]“.123 Altman parodiere zwar die Mechanismen dieser Krise der amerikanischen Gesellschaft, eine solche Kritik komme aber nicht darüber hinaus, in „knirschendem Leerlauf“ weiterzulaufen, weil dem amerikanischen Film ein „ästhetisches und politisches Projekt“ fehle, „das zur Begründung eines positiven Konzepts taugt“, um aus den Klischees ein „wirkliches Bild herauszulösen und es dann gegen jene zu kehren“.124 „[U]nd am Ende fin-
121 Vgl. Žižek 2004, siehe Anm. 113, S. 6; Philipowski 2006, siehe Anm. 95, S. 43-45. 122 Vgl. Deleuze 1983, siehe Anm. 62, S. 193-195. 123 Ebd., S. 276. 124 Ebd., S. 281f.
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den sich die Leute in einem abgedroschenen Lied zusammen“.125 Rick Altman, der die Enthierarchisierung und Vervielfältigung der Tonspuren als Ermächtigung der Zuschauer und als Demokratisierung von Sound auffasst, stellt fest, wie der Film gerade im Laufe der Szene vor dem Parthenon wieder auf eine konventionelle, selektiv fokussierte, intermittierende Tonmischung einschwenkt.126 „It don’t worry me“ ist „kristallklar“127 wie eine Studioaufnahme, ungetrübt vom Ort seiner Produktion zu hören; auch die Zuschauer, die offensichtlich mitsingen, sind auf der Tonspur verstummt.128 Das, was Rick Altman das „Parthenon Paradox“ nennt, interpretiert er als ein Sich-Beugen vor den Zwängen der Repräsentation und einer linearen Narration, ohne die der Film letztlich nicht zu einem Ende gelangen könne.129 Statt Schafers Vision einer Utopie produziert Robert Altman Suspense. Gerade darin zeichnet sich aber, über eine Selbst-Relativierung des Films hinaus, eine positive Figur ab.
U NTERBRECHUNGEN An verschiedenen Stellen wiederholt der Film ein Motiv „kleiner Unterbrechungen“ – Crashes, Breakdowns, Stockungen – in deren Reihe das „Parthenon Paradox“ am Ende vorgeführt wird.130 Dazu lassen sich der Zusammenstoß von Opal mit Haven Hamilton im Tonstudio und Barbara Jeans Nervenzusammenbrüche zählen, aber besonders deutlich wird dieses Motiv installiert, als bei einem Unfall auf dem Highway der reguläre Verkehrsfluss abreißt und für eine Weile dort stecken bleibt. Mit den Worten „I wish my cameraman had been here. […] he’s never around when he should be […] It’s America. Those cars smashing into each other and all those mangled corpses,“ trifft und verfehlt Opal die Situation auf die ihr eigene gran-
125 Ebd., S. 279. 126 Vgl. Altman 1991, siehe Anm. 68, S. 37-39. 127 Ebd., S. 38. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. ebd., S. 39-43. 130 Vgl. Elsaesser 2012, siehe Anm. 63, S. 207; Grob 2006, siehe Anm. 118, S. 72.
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Abbildung 3: Unterbrechung des Verkehrs in Nashville
diose Weise.131 Denn aus dieser Unterbrechung entsteht dort eine eher volksfestartige Versammlung, die zwar nicht unbedingt harmonisch und friedvoll ist, aber eine der drei Szenen, in denen (fast) alle Protagonisten von Nashville überhaupt einmal an einem Ort zusammenkommen. Wim Wenders deutet in eine ähnliche Richtung, in der Nashville mehr ist als fatalistische Ironie und die Prophezeiung einer moralischen Katastrophe der Ignoranz im Dauerzustand, wenn er Nashville als einen Film bezeichnet, „bei dem man Sehen und Hören lernen kann“ und dabei eine ethische und ästhetische „Einstellung“ findet, mit der das einhergeht:132 „Man könnte Nashville zum Genre der Katastrophenfilme zählen: nur daß er von verschütteten Gefühlen und von katastrophalen Beziehungen zwischen Menschen handelt. Aber Nashville hat diese Verschüttungen nicht schon selbst so sehr verin nerlicht, daß er sich an ihnen ergötzte […]“.133
Denn in entscheidenden Momenten schütze Altman seine Charaktere vor ihrer Bloßstellung, vor dem Gelächter, indem er einen Abstand wahrt, der
131 Vgl. Wenders 1976, siehe Anm. 87, S. 110; Ching 2001, siehe Anm. 94, S. 207. 132 Vgl. Wenders 1976, siehe Anm. 87, S. 111f. 133 Ebd., S. 111.
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es erlaubt zu verstehen, wie dieses Gelächter funktioniert.134 Und Wenders entdeckt die wahrhaftigste Kommunikation und Zuwendung gerade unter den Bedingungen eines von „großen Mühen und Fehlern“ begleiteten Sprechens zwischen der Ehefrau des ortsansässigen Anwalts Linnea Reese (Lily Tomlin) und ihren gehörlosen Kindern, die sich in einem laufenden Wechsel von Lauten, Zeichensprache und Lippenlesen, Zusehen und Zuhören vollzieht.135 Auch ohne hier wiederum nach einer reinen Sprache zu suchen,136 denn das könnte bedeuten den zweifelnden, melancholischen Ton Nashvilles zu überhören, ergibt sich aus dem Motiv der kleinen Unterbrechung vielleicht kein Projekt, aber ein analytisches Potenzial, weil dabei verschiedene Weisen des Umschaltens in ein anderes Register, in eine andere Modalität der Kommunikation durchdekliniert werden, selbst wenn diese dann nicht unbedingt unproblematischer sind.137 Die öffentlichen Räume Nashvilles, die Orte der Aushandlung und, insofern sich Nashville als Allegorie einer allgemeineren Situation gibt, das Soziale, ergeben sich hier gerade aus einer Fremdheitserfahrung, einer Störung, „noise“.138 Damit ist Nashville nicht sehr weit entfernt von der „Sound Education“, die die Soundscape Studies sind, und von der Frage der Acoustic Ecology nach „den Wirkungen einer akustischen Umgebung oder einer Soundscape auf die physischen Reaktionen oder typischen Verhaltensweisen der in ihr lebenden Geschöpfe“139, beziehungsweise besonders danach, wann diese Wirkungen schädlich werden. Und sie stoßen mit dem Problem von Räumen der Verhandlung auf komplementäre Paradoxien – in den Milieus von Tonbandgeräten.
134 Vgl. ebd. 135 Vgl. ebd., S. 110. 136 Wie Wenders das andeutet, vgl. ebd. 137 Vgl. Robert Altman im Interview, in: Byrne/Lopez 1975/76, siehe Anm. 66, S. 25; Philipowski 2006, siehe Anm. 95, S. 49-54. 138 Vgl. Siegert 2007, siehe Anm. 50, S. 7-15. An „noise“ als der Begegnung mit Fremdheit setzt auch LaBelles Analyse und Kritik der Acoustic Ecology ein. Vgl. LaBelle 2006, siehe Anm. 37, S. 214f. 139 Schafer 1977, siehe Anm. 16, S. 432f.
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Das Genre der Soundscape Eine Kritik und Verteidigung der Soundscape im 21. Jahrhundert H OLGER S CHULZE
Ein Hafen scheint auf. Ich höre das Horn eines herannahenden Schiffes; oder täusche ich mich? Ist es ein Flugzeug, das am Himmel lang vorüberzieht? Schaumige Wellen plätschern heran und davon. Ein Grundrauschen; quietschende Schiffsplanken, Möwen und Krähen. Das Rauschen, das Rauschen. Die Schiffe quietschen. Ein kleineres Motorboot startet, kommt heran und tuckert davon. Wieder die Möwen, eine Schiffssirene, eine andere. Ein kleiner Akkord. Wortwechsel am Hafen. Eine Polizeisirene. Und immer weiter Heran- und Davonrauschen der Wellen, der Seegang. Ein Propellerflugzeug fliegt über uns hinweg? Wieder eine Schiffssirene, in noch musikalischerem Akkord. Wellenrauschen. Diese unaufgeregten Klänge, etwa vier Minuten lang, bilden eine der markantesten Passagen eines etwa einstündigen Hörstücks, das einem ganzen Genre seinen Namen gab: die Vancouver-Soundscape. Aufgenommen wurde sie – gefördert vom Goethe-Institut Vancouver – von den Komponisten, Musikern und Ethnografen Howard Broomfield, Bruce Davis, Peter Huse und Colin Miles zwischen September 1972 und August 1973. Anders als oft fälschlich vermutet, enthält sie aber keine vollständige akustische Dokumentation von Vancouver, sondern eine gestaltete und abgemischte, ästhetisch komponierte Auswahl einzelner Klangsphären, die spezifische Orte, Hörerfahrungen und Situationen dieser Stadt repräsentieren: Die einzelnen Stücke sind zwischen drei und achteinhalb Minuten lang und tragen Titel wie Ocean Sounds, Harbour Ambience, The Music of Horns and
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Whistles oder Homo Ludens – Vancouverites at Play. Die Soundscape ist somit klar inhaltlich und geradezu anthropologisch strukturiert. Die künstlerische Entscheidung ist an jedem Punkt der Stücke spürbar und bedeutsam. Es ist alles andere als eine objektive Dokumentation; vielmehr ist es ein spürsinnig geführter Hörspaziergang zu ausgewählten Orten oder Momenten der Stadt: Die Stadtlandschaft wird anhand ihrer Klänge erschlossen, eine landscape durch ihre sounds begriffen. Im Jahr 1996 erschien eine re-study dieses Projektes, das nichtsdestotrotz auch den dokumentarischen wie den Erkenntniswert dieser Soundscape-Studie belegen soll.1 Was höre ich, wenn ich diese künstlerische Arbeit heute wieder höre? Und was erzählt mir dieses Stück über das Genre der Soundscape?
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Der Begriff der Soundscape2 hat eine jahrzehntelange Geschichte hinter sich. Geprägt wurde er von Raymond Murray Schafer, einem Komponisten und Musikwissenschaftler, der in den 1960er Jahren an der Simon Fraser University in Vancouver, Kanada, lehrte. Im Zuge seiner Arbeiten und seines Austausches mit anderen Kollegen – wie dem Komponisten und Kommunikationsforscher Barry Truax3 – entstand das Bedürfnis, die hörbare und klingende Welt um sie herum so aufzubewahren, wie sie zu hören ist und dadurch für künftige Generationen von Hörern wieder erlebbar zu machen: „the purpose being to invoke the listener’s associations, memories,
1
Järviluoma, Helmi; Kytö, Meri; Truax, Barry; Uimonen, Heikki; Vikman, Noora: Acoustic Environments in Change, Tampere: University of Tampere 2009.
2
Schafer, Raymond Murray: The Tuning of the World, New York: Knopf 1977. Reprinted as: Our Sonic Environment and the Soundscape. The Tuning of the World. Rochester, Vermont: Destiny Books 1994.
3
Truax, Barry: Acoustic Communication, 2nd ed., New York: Ablex Publishing 1985/2001; ders.: Soundscape, Acoustic Communication & Environmental Sound Composition, in: Contemporary Music Review 15, No. 1 (1996) S. 49-65; ders.: Genres and Techniques of Soundscape Composition as Developed at Simon Fraser University, in: Organised Sound 7, No. 1 (2002), S. 5-14.
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and imagination related to the soundscape“.4 Es sollte hierbei nicht nur um einzelne musikalische Praktiken oder kulturhistorisch bedeutsame auditive Exponate gehen; sondern die gesamte hörbare und klingende Landschaft sollte archiviert werden: die gesamte sounding landscape, die gesamte sound-scape. Der Begriff der Soundscape war nicht naiv. Er implizierte nicht, dass jede Hörerin und jeder Hörer an jedem Ort nur eine objektiv gegebene und identische Soundscape wahrnehmen könne. Die bloße soundscape documentation wurde darum von der komplexeren soundscape composition5 unterschieden: Während erstere lediglich vergleichsweise unkomponiert dokumentieren würde – wobei die medial-situative Selektion (sprich: die Wahl des Mikrofons, des Aufzeichnungsmediums, des Aufnahmeortes, der Tages- und Jahreszeit sowie der Bewegung des Aufzeichnenden und der Dauer der Aufzeichnung) eine hinreichend kompositorische Tätigkeit begründen konnte; demgegenüber – ging es bei zweiterer, der soundscape composition, darum, eine Soundscape kompositorisch hörbar und derart archivierbar zu machen: Das aber verlangte die künstlerische und komponierende Tätigkeit eines Subjekts. Die subjektive und dabei stets um Intersubjektivität und Repräsentativität bemühte Hörposition war hierfür grundlegend. Sowohl in den ersten Arbeiten als auch in den theoretischen Schriften von Schafer wie von Truax zeigt sich der hohe Anspruch an Verbindung, ja Verschmelzung von ästhetischem und ethischem, politischem Handeln. Barry Truax umreißt dies in einem jüngeren Text wie folgt: „The characteristic principles of the soundscape composition as derived from its evolved practice are: (a) listener recognizability of the source material is maintained, even if it subsequently undergoes transformation;
4
Truax, Barry: Soundscape Composition as Global Music. Electroacoustic Music as Soundscape, in: Organised Sound 13, No. 2 (2008).
5
Akiyama, Mitchell: Transparent Listening: soundscape Composition's Object of Study, in: Revue D'art Canadienne/Canadian Art Review 35, No. 1 (July 2010), S. 54-62.
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(b) the listener’s knowledge of the environmental and psychological context of the soundscape material is invoked and encouraged to complete the network of meanings ascribed to the music; (c) the composer’s knowledge of the environmental and psychological context of the soundscape material is allowed to influence the shape of the composition at every level, and ultimately the composition is inseparable from some or all of those aspects of reality; and ideally, (d) the work enhances our understanding of the world, and its influence carries over into everyday perceptual habits“.6
Diese ausdrücklichen Verweise auf ökologische, psychologische und die Wahrnehmung sensibilisierende Aspekte des Komponierens und der Komposition einer Soundscape verankern die Ästhetik der Soundscape damit kulturhistorisch eindeutig in einer Zeit beginnender Ökologiebewegung, des New Age und eines entstehenden Umweltbewusstseins im Nordamerika der 1960er Jahre. Historisch waren sie damit ein entscheidender Beitrag zu einer Neubetrachtung von Urbanismus und Architektur im Zuge der Gegenkultur jener Jahre; und gut vierzig Jahre später sind diese Anliegen bei Symposien und Festivals, Workshops und Ausstellungen, die sich dem Ansatz der Soundscape verpflichtet haben, noch immer ungebrochen virulent und dringlich7: Die Frage nach einer lebenswerten Umwelt verbindet sich unauflöslich mit dem Bemühen um ein angemessenes Hören und eine angemessen künstlerisch gestaltete Klangumwelt. Sowohl Komposition als auch Rezeption einer Soundscape wird zum therapeutischen Akt – in bester Tradition avantgardistischer Verbindung von künstlerischer Praxis und täglichem Leben: „Thus, the real goal of the soundscape composition is the reintegration of the listener with the environment in a balanced ecological relationship“.8 So beeindruckend und bewundernswert dieser avantgardistische Impetus nach wie vor erscheint, so verknüpft er sich doch mit einer – ebenfalls historisch geprägten – Technik- und Medienfeindlichkeit sowie
6
Ebd.
7
Vgl. etwa die Konferenz The Global Composition: http://www.the-globalcomposition-2012.org (05.06.2013)
8
Truax 2009, siehe Anm. 1.
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einem kaum verdeckten Antiurbanismus und einer Metropolenaversion9; eine Position, die Murray Schafer durchaus bis heute in seinen Vorträgen und Workshops vertritt. Insbesondere sein Begriff der schizophonia10 erscheint aus Sicht des 21. Jahrhunderts romantisierend bis reaktionär geprägt zu sein: Mit diesem Begriff umschreibt Schafer die Trennung von sichtbarer Klangquelle zu ausgesandtem und gehörtem Klang. Wiederholt wurde dieser Begriff von Kultur- und Medienwissenschaftlern kritisiert; für das Genre der Soundscape aber kann er ein zentrales, moralisierendes Hemmnis zur Weiterentwicklung bedeuten. Denn durch dieses reproduktionstechnologische Ressentiment, verbunden mit seinem antiurbanen Ressentiment, wird ein konstruktiver Einbezug digitaler und mobiler Medien sowie urbaner Lebensverhältnisse und dynamischer Mediennutzung im Verständnis der Hörumgebung zumindest erschwert. Soundscape-Arbeiten sind darum auch heute nicht selten dem romantischen Ideal eines vorindustriellen Naturzustandes verhaftet und idealisieren nicht-elektrifizierte Lebensweisen, indem sie (unausgesprochene Aporie aller Soundscape) die raffiniertesten Produkte der Elektroakustik und Softwareentwicklung subtil anwenden. Die elektronischen Produktionstechniken dienen mitunter dazu, ein vorelektrisches Leben zu glorifizieren. Besonders deutlich wird dies an der moralisierenden Dichotomisierung in Lo-Fi und Hi-Fi: Hörbar überladene, verhallte, scheppernde und einen Hörer orientierungslos zurücklassende Umgebungen (zum Beispiel ein Fabrikgelände, Bahnhöfe, Gewerbegebiete, Einkaufszentren) werden nach Schafer als Lo-Fi bezeichnet; dagegen gelten Umgebungen, die tief und subtil durchhörbar sind, auf allen Frequenzbändern (zum Beispiel eine Alm, ein gesprächsfreundlich gebauter und möblierter Innenraum mittlerer Größe oder ein in Nischen gegliederter öffentlicher Platz) als Hi-Fi.11 Diese Differenzierung erlaubt für bürgerlich geprägte Hörsituationen westlicher
9
Vgl. Kelman, Ari Y.: Rethinking the Soundscape. A Critical Genealogy of a Key Term in Sound Studies, in: The Senses and Society 5, No. 2 (Juli 2010), S. 212-234, S. 217.
10 „Schizophonia refers to the split between an original sound and its electroacoustical transmission or reproduction“. Schafer, Raymond Murray (Hg.): World Soundscape Project. The Music of the Environment Series, Vancouver/British Columbia: A.R.C. Publications 1973-1978, S. 90. 11 Ebd., S. 272.
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Kulturen (verankert in heteronormativ-patriarchalen Familienstrukturen und dem repräsentativen Ideal eines protodynastischen Herrschersitzes, in dem männlich geprägter Musikgenuss als Statussymbol in sitzendem Selbstgenuss zelebriert wird) und gleichermaßen für bürgerliche (und neobourgeoise) Stadtkonzeptionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (orientiert am oben angedeuteten Ideal wohlhabender Stände) eine durchaus angemessene Evaluation zum Ziele der ordnenden Organisation des Hörraumes. Wird diese Dichotomie aber auf (Sub-) Kulturen und Epochen sowie nicht- beziehungsweise antibürgerliche Lebensweisen übertragen, wird ihr essenzialistischer und historischer Charakter offenbar: Als moralisierende Unterscheidung werden alle, auch sich neu herausbildenden, Hörerfahrungen aus Richtung eines bürgerlichen Mittelstandsideals subjektbezogener und nicht-vernetzter Hörsituationen bewertet und tendenziell abgewertet. Das überlappende und verwischte Hören in Dorf- und Stammessituationen früherer und anderer Kulturen wird ebenso ausgeblendet wie die Begeisterung westlicher Subkulturen an rauschhaften Hörsituationen des Selbstverlustes, die den Lo-Fi-Charakter als begehrt gesuchte Verzerrung (zum Beispiel in Club-, Punk- oder Rockmusik) bewusst übersteigern.12 Das überdeutlich radiofon und stereofon geprägte Ideal einer objektiven Durchhörbarkeit der Soundscape wird zudem verstärkt durch die drei maßgeblichen Analysekategorien13: 1. der keynote sound als Grundton einer Soundscape; 2. das soundmark als Orientierungsklang einer Soundscape; 3. das sound signal als Klangsignal einer Soundscape. Diese drei Kategorien strukturieren den Hörraum als eine Komposition distinkter und auf Kommunikation ausgerichteter Signalisierungen; eine normative Setzung, die wiederum eine moralische ist. Der durchgängige antivisuelle Impetus der Soundscape-Bewegung belegt sich denn auch dialektisch in einer als widerständig dargestellten Audifizierung aller visuellen Anhaltspunkte der Umwelt.
12 Vgl. Sterne, Jonathan: Soundscape, Landscape, Escape, in: Bijsterveld Karin (Hg.): Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, Bielefeld: transcript 2013 (Sound Studies Serie Vol. 5). 13 Vgl. Schafer 1973-1978, siehe Anm. 10, S. 9, S. 55-56, S. 173-175, S. 272-275.
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S OUNDSCAPE S TUDIES ALS KÜNSTLERISCH WISSENSCHAFTLICHE F ORSCHUNG Im Folgenden möchte ich – eingedenk dieser eben geäußerten Kritikpunkte – das künstlerische Genre der Soundscape neu erkunden. Die Arbeiten der Soundscape-Bewegung, wie auch die Aktivitäten des World Soundscape Project14 (später bekannt als World Forum for Acoustic Ecology15) bis hin zur daran anschließenden Strömung des Field recordings, unternehmen bis heute die grenzüberschreitende Durchdringung künstlerisch-kompositorischer Gestaltungsmethoden mit technik- und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden. Je nach Komponist und Forscher, zwischen Chris Watson, Steven Feld, Hildegard Westerkamp oder Hans Ulrich Werner16 ist diese Neigung zu eher kompositions- oder wissenschaftstheoretischer Begründung stärker oder schwächer ausgeprägt; die Mischung beider Anteile begründet jedoch den besonderen Status, den die Soundscape-Bewegung für sich beansprucht: eine Bewegung jenseits der Künste und der Wissenschaften – und doch ganz durchdrungen von einem ernsthaften Ethos künstlerischen Gespürs einerseits und andererseits wissenschaftlicher Nachvollziehbarkeit. Dieser Anspruch ist es auch, der sie für Fragestellungen der Stadtplanung und des ambitionierten architektonischen Entwurfes anregend macht. Teils zeigt sie sich angelehnt an das Ethos der Stadtsoziologie (Feld, Westerkamp)17 und teils an künstlerische Strömungen des Dokumentarismus (Watson, Werner); beide Anteile zusammen jedoch prägen die Soundsape Studies, wie sie gleichfalls genannt werden. Dies erstreckt sich bis hin
14 Vgl. http://www.sfu.ca/~truax/wsp.html (05.06.2013); vgl. Schafer 1973-1978, siehe Anm. 10 (No. 1, The Music of the Environment, 1973; No. 2, The Vancouver Soundscape, 1976; No. 3, European Sound Diary, 1977; No. 4, Five Village Soundscapes, 1977 (wieder in: Jarviluoma, H. et al. (Hg.): Acoustic Environments, Tampere: University of Tampere, 2009); No. 5, Handbook for Acoustic Ecology, 1978). 15 Vgl. http://wfae.proscenia.net (05.06.2013). 16 Eine beeindruckende Übersicht samt Hörbeispielen von diesen und anderen Künstlern bietet: http://greenmuseum.org (05.06.2013). 17 Vgl. Lindner, Rolf: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a. M.: Campus 2004; sowie: Löw, Martina: Soziologie der Städte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.
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zur Nutzung technischer Apparaturen zur Aufnahme und Wiedergabe, wie auch auf die gestalterisch-selektive Tätigkeit. Worin besteht nun der konkrete Bezug zur grenzüberschreitenden Kunst- und Forschungsrichtung des artistic research?18 Artistic research stellt sich als Grundfrage: Wie lassen sich künstlerisches und wissenschaftliches Forschen, ästhetisches und epistemologisches Arbeiten so miteinander verflechten, dass ein Artefakt entsteht, das in beiden Feldern gleichermaßen bestehen kann – als Forschungsarbeit und als Kunstwerk zugleich?19 Künstlerische Forschung unternimmt hierzu den Versuch, die klischeehafte Stilisierung einer unüberwindbaren Trennung und wechselseitigen Fremdheit zwischen Kunst und Wissenschaft durch konkrete Beispiele der Verflechtung und Verfransung (Adorno)20 aufzulösen. Geteilte Gemeinplätze wie bloßes Projektmanagement, intensive konzeptuelle Reflexion oder der Bezug auf geteilte (oft wissenschaftlich widerlegte) Kreativitätstheorien reichen dabei nicht aus, um eine Arbeit schon als künstlerische Forschung
18 Ich stütze mich im Folgenden auf Publikationen, die sich kritisch und konstruktiv mit der Entwicklung dieses neuen Feldes in der letzten Dekade auseinandergesetzt haben. Besonders eine internationale Gesellschaft und die ihr zugeordnete Online-Plattform Journal of Artistic Research wie auch der Diskurs im Feld der Kunsttheorie hierzu bildet hier meine Grundlage. Vgl. Shiner, Larry: The Invention of Art – A Cultural History, Chicago: University of Chicago Press 2003; Borgdorff, Henk: The Mode of Knowledge Production in Artistic Research, in: Gehm, Sabine; Husemann, Pirkko; Wilcke, Katharina von (Hg.): Knowledge in motion: perspectives of artistic and scientific research in dance. Bielefeld: transcript 2007; sowie: Schulze, Holger: Was sind Sound Studies? Vorstellung einer neuen und zugleich alten Disziplin, in: Vorkoeper, Ute (Hg.): Hybride Dialoge. Rückschau auf die Modellversuche zur künstlerischen Ausbildung an Hochschulen im BLK-Programm „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“, Bonn: Gemeinsame Wissenschaftskonferenz 2005, S. 79-83. 19 Vgl. Holert, Tom: Künstlerische Forschung. Anatomie einer Konjunktur, in: Texte zur Kunst 21 (2011), H. 83: Aesthetic Research, S. 39-63. 20 Eichel, Christine: Vom Ermatten der Avantgarde zur Vernetzung der Künste. Perspektiven einer interdisziplinären Ästhetik im Spätwerk Theodor W. Adornos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993.
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zu qualifizieren.21 Die besten Beispiele22, wie sie etwa im Journal of Artistic Research präsentiert werden, zeigen: Artistic research entsteht im Laufe der Arbeit, wenn die Suche nach Erkenntnis durch ein künstlerisches Handeln, im Modus ästhetischer Suchprozesse einer materialbezogenen und hochreflektierten Erkundung sich vollzieht – geleitet von einer konkret benennbaren Forschungsfrage. Die Ergebnisse künstlerischer Forschung sind darum immer zugleich wissenschaftliche Forschung und künstlerische Arbeit: Sie sind zugleich ästhetische Artefakte und epistemische Traktate. Sie bemühen sich, diesem doppelten Anspruch der Künste und der Wissen-
21 Die kontroverse Diskussion künstlerischer Forschung beginnt darum bei prozeduralen Fragen der Bewertungsgrundlage akademischer Abschlüsse, sie streift begrifflich-komparatistische Differenzierungen zwischen dem englischen research, deutscher Forschung, norwegischem forskning – bis zu respektvollen Abgrenzungen norwegischer kunstnerisk utviklingsarbeid oder schwedischer konstnärlig forskning och utveckling. 22 Sissel Tolaas’ Beitrag zur ersten Ausgabe etwa, prononcierte Forschungskünstlerin der Gerüche und Düfte, An alphabet for the nose, ist Teil des sogenannten Research Catalogue, in dem künstlerische Forschungen in ihrer methodischen Vielfalt und medial ebenso vielfältigen Darstellungsformen präsentiert werden. Auf der zweidimensionalen Webpage verteilt – ohne Zwang zur linearen Lektüre, frei aleatorisierbar zu lesen – stellt sie ihr Re_search Lab vor (mit ihrem Smell Archive und ihrem Nasenalphabet NASALO) sowie die beiden Einzelprojekte SWEAT FEAR | FEAR SWEAT (2005) und FEAR/CHEES = BACTERIA/SMELL (2011, work in progress) (Tolaas, Sissel: An alphabet for the nose, in: Journal of Artistic Research 1 (2011), http://www.research catalogue.net/view/?weave=1036). Demgegenüber stellt der Klangkünstler Anders Hultqvist seine Reflexionen und Selbstreflexionen während einer Neuinterpretation von Beethovens 5. Sinfonie und Tomaso Albinonis Adagio in g-moll vor (Hultqvist, Anders: ‚Who creates the creator‘* – and the limits of interpretation?, in: Journal of Artistic Research 1 (2011), http://www.researchcatalogue. net/view/?weave=506). Die Videokünstler Daniel Kötter und Constanze Fischbeck zeigen in staats-theater neben den 19 Einzelvideos ihrer Arbeit auch einen architekturtheoretischen Beitrag sowie eine spekulative Recherche anderer Autoren (Kötter, Daniel; Fischbeck, Constanze: Staatstheater, in: Journal of Artistic Research 1 (2011), http://old.researchcatalogue.net/view/?weave=5702, 05.06.2013).
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schaften an Ästhetik und Erkenntnis zu entsprechen – und können daran selbstverständlich auch scheitern. Arbeiten der Soundscape Studies fügen sich in diese Strömung nahezu bruchlos ein: Sie gehen aus von einer künstlerischen Praxis, bewegen sich nahe an den Materialien des Hörens, des Aufnehmens, an den Orten und Situationen, an denen Klänge sich ereignen. Die Formbildungen und Klangereignisse werden mit einer künstlerischen Sensibilität, skrupulöser Situations- und Materialreflexion und unter Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden (zum Beispiel teilnehmende Beobachtung, qualitative Interviews, thick description) und technikwissenschaftlichen Errungenschaften (zum Beispiel Kunstkopfstereofonie, Wellenfeldsynthese, digitaler Postproduction) erkundet. Die Akribie und das situative, auch anthropologische Gespür, wie sie etwa das eingangs erwähnte World Soundscape Project zeigte, ähneln dabei der Vorgehensweise, die etwa für ethnografische Feldforschung nötig ist – und daher rührt auch die oben bekundete Nähe zur ethnografisch orientierten Stadtsoziologie. Unaufgelöst bleibt hierbei der innere Widerspruch, mit Methoden nahe an der Stadtsoziologie zu arbeiten, jedoch die Stadt oder Metropole als Lebensraum und in all ihren befremdlichen, aggressiven und wenig friedvollen Phänomenen letztlich abzulehnen. Dieses Kriterium an methodischer Konsistenz zumindest, das von traditioneller Wissenschaft erwartet werden darf, können die Soundscape Studies nicht erfüllen. Wenn wir Analysen und Positionen der artistic research nun allerdings genauer als Folie für Soundscape Studies hinzuziehen, so stellen wir fest: Der künstlerische Anteil an Arbeiten des artistic research ist ebenso stark schwankend wie der explizite Bezug auf wissenschaftliche Forschung. Tom Holert schreibt hierzu kritisch: „Die disziplinäre Selbstvergewisserung des sich formierenden und deformierenden Feldes der künstlerischen Forschung oszilliert dabei zwischen ontologischen Oden und epistemologischen Etüden und mehr oder weniger verbrämter Promotion. […] Zudem herrscht Spannung etwa dort, wo ein gewisser, im Kontext künstlerischer Forschung gern bemühter postfordistischer Formalismus der Netzwerke, der Kollaborativität, der Transdisziplinarität, des Essayistischen, des Relationalen, des geteilten Wissens und der offenen Ausgänge aneinandergerät mit einem Insistieren auf
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konkrete politische Anliegen, auf theoretische Inhalte und auf der fundamentalen Konfliktualität von Erkenntnisprozessen und Wissensproduktionen“.23
Soundscape Studies mit ihren ethischen Imperativen geraten darin faktisch in einen Konflikt mit Artistic Research – auch wenn dieser aus Höflichkeit kaum ausgetragen wird. Abschließend lässt sich feststellen, dass sowohl artistic research als auch Soundscape Studies eine recht starke Unschärfe in ihren Definitionen und Methoden besitzen (unbenommen der Rhetorik ‚künstlerischer/poetischer Präzision ދoder ‚wissenschaftlicher/methodischer Akribieދ, die beide als Credo wiederholt bekunden); genauso aber verbindet sie das Bemühen je unterschiedliche und unterschiedlich gewichtete Anteile wissenschaftlichen Arbeitens, wissenschaftlicher Kategorien, Methoden und Präsentationsformen zu untermengen oder zu verflechten mit Anteilen künstlerischen Arbeitens, künstlerischer Materialstudien, Versuchsanordnungen, Performanzen und Werkformen. Soundscape Studies können damit gut und gerne als ein Beispiel für artistic research gelten; doch was bedeutet das für diese Kunstform und ihre kulturelle Funktion? Könnte es nicht sein, dass eben genau dieser hybride Status zwischen Kunst und Wissenschaft ein Grund dafür ist, dass Soundscapes zwar (a) weithin ein hinreichend bekannter Begriff sind (durchaus in einem vagen Sinne, wie gleich zu zeigen sein wird), dass sie jedoch (b) als präzise künstlerische Praxis geradezu unbekannt sind und viele mystifizierende und naive Annahmen kursieren (wie über wohl fast jede Kunstform). Der Erfolg der Soundscape beruht letztlich zu einem großen Teil auf einem Missverständnis. Ein Missverständnis, das ihn allerdings zum gern genutzten Begriff macht, um Klangereignisse in die architektonische oder infrastrukturelle Planung einzubeziehen.
23 Holert 2011, siehe Anm. 19, S. 51, S. 53.
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D IE D URCHSCHLAGSKRAFT DES S OUNDSCAPE -B EGRIFFS Der Begriff der Soundscape ist (einmal abgesehen von seinen methodischen und historischen Ursprüngen und Intentionen) ein höchst erfolgreicher. Er gehört zu den wenigen Prägungen aus dem Feld der Klangkunst und der auditiven Medienkünste, die es tatsächlich geschafft haben, auch außerhalb von Vertretern und passionierten Sammlern oder Liebhabern verstanden und gebraucht zu werden. Oder wie Ari Kelman in Rethinking the Soundscape. A Critical Genealogy of a Key Term in Sound Studies schreibt: „The term’s popularity rests precisely on its ability to evoke a whole complex set of ideas, preferences, practices, scientific properties, legal frameworks, social orders, and sounds that the emerging field of sound studies is – and in truth – having a difficult time getting its collective minds around (anecdotally, have you ever tried telling someone at a party that you ‚study sound?‘)“.24
Begriffshistorisch üblich bedeutet eine solche Breitenwirkung einerseits ein Verwischen, Überdecken und Ausweiten der ursprünglich streng definierten Bedeutung (etwa im Sinne Schafers) – und andererseits eine neue und unerwartete Aufladung: Die breite Nutzung eines Begriffes verwandelt ihn im Gebrauch. Er wird massentauglich gemacht – durch die Massen, die ihn gebrauchen. Gegenwärtig, in den 2010er Jahren, wird der Begriff der Soundscape dementsprechend als ein in die deutsche Sprache übernommener Begriff in einer nahezu grenzenlos erweiterten Interpretation gebraucht: Jede Klangumgebung wird mitunter als Soundscape bezeichnet („Das ist eine schöne Soundscape hier!“, „Wie war die Soundscape dort?“); auch jede Audioproduktion, die mit Umgebungsklängen vor Ort arbeitet und diese zumindest einige Minuten lang ungeschnitten und unkommentiert überträgt wird gerne als Soundscape betitelt („Da schneiden wir eine Soundscape rein“, „Ich mag die Soundscape in dem Stück“.). Und es kann geschehen, dass in Verkennung der künstlerischen Genres jede klangkünstlerische Arbeit eine Soundscape genannt wird („Ich mochte die Soundscape!“, „Wie haben Sie diese Soundscape hergestellt?“). Soundscape ist also ein Begriff, der an seinem eigenen Erfolg durchaus krankt. Das intuitiv vermutete Ver-
24 Kelman 2010, siehe Anm. 9, S. 228.
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ständnis – das seinen Erfolg letztlich ausmacht – weicht ihn auf und lässt ihn unspezifisch werden. Eben genau diese Entspezifikation, die Verallgemeinerung dieses künstlerisch-technischen Fachbegriffes zu einem Begriff der Alltagssprache hat aber auch seine zunächst feuilletonistisch motivierte Aufspaltung und Rekombination ermöglicht: Neben der Soundscape könnte es doch auch eine Smellscape geben, eine Visualscape, eine Cityscape oder gar eine Netscape. Das universelle Suffix der Scape – wie es in den Beiträgen dieses Bandes exemplarisch untersucht wird – konnte sich so loslösen von der Konkretion des Auditiven und frei flottierend andocken an vielerlei künstlerischen Genres wie auch theoretischen Gegenständen. Im letzteren Wirt fand dieser Parasit namens Scape seine zweite Heimat: Nahezu jedes Theorieelement, das sich räumlich-landschaftlich als eine Umgebung, ein environment, eine Situation verstehen lässt, legt offenbar auch die Erweiterung um -scape nahe. Wie weit reicht aber diese Übertragung – und unter welchen Bedingungen ist sie überhaupt sinnvoll? Wenn wir die Referenz auf landscape, die Landschaft, ernst nehmen, auf der der Neologismus Soundscape hauptsächlich beruht, so wäre es terminologisch konsequent zunächst die Landschaftlichkeit, die Landschaftshaftigkeit, eines Gegenstandes zu prüfen. Doch das allein qualifiziert noch keine Begriffsverwendung, geschweige denn eine Begriffsprägung. Bedeutsamer scheint mir hier eine eher assoziative Nähe zu sein. Denn klanglich wie auch typografisch besitzt der Begriff der Scape nicht nur eine Nähe zum Begriff der shape, der Gestalt, der Form – sondern auch zur sphere, zur Sphäre, zum Umkreis. Scape, shape und sphere verbinden sich poetisch und logisch zu einem Begriffsfeld, das die neuen Technologien der audiovisuellen Darstellung seit den beginnenden 1990er Jahren an vielen Punkten durchzieht. Diese Argumentation ist wohlgemerkt keine begriffsanalytische oder aussagentheoretische, sondern eine, die sich auf kulturell und medial geprägte Konjunkturen und assoziative Felder bezieht. Die Anregungskraft und das Durchsetzungsvermögen solcher Wortmarken beruhen zu einem kaum zu überschätzenden Teil auf der historisch je wandelbaren Plausibilität und der kulturellen Akzeptanz eines neuen Begriffes. Der Begriff der Soundscape fügte sich hier somit schlüssig, anschlussfähig und anregend in das Kontinuum von Begriffen der sogenannt ‚Neuen Medien ދein, wie zuvor beschrieben: Eine auditive Medienkultur und Medienkunst konnte
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durch die Soundscape in den Diskurs der Wissenschaften und der Künste eintreten.
AURAL ARCHITECTURE ALS S OUNDSCAPE DAS 21. J AHRHUNDERT
FÜR
Die Wandlungen, die der klangökologische und klangkünstlerische Begriff der Soundscape also bislang erfahren hat – und die ich ein wenig nachzuzeichnen versuchte auf diesen Seiten –, sie verschärfen sich nochmals unter den Bedingungen einer medial hochgerüsteten und in dynamischen Datenbanken immer stärker vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts: Wie kann eine Soundscape klingen in Zeiten, da eine nicht-elektrisch verstärkte und um Lautsprecherdurchsagen und Mobiltelefon- oder Mobil-Internet-Übertragungen ergänzte Klangumgebung25 (die traditionell als schizophon und lofi, und eben darum auch als ästhetisch minderwertig gebrandmarkt werden müsste) zunehmend nur noch in romantischen Phantasmen eines wilden Aussteigerlebens auf fernen Inseln zu finden ist? Wie muss sich dann das Konzept der Soundscape verändern? Muss es sich verändern? Kann es das? Die Notwendigkeit zur Transformation des ursprünglichen Konzepts wird innerhalb der Soundscape-Bewegung anerkannt. Truax, neben Schafer der prominenteste und historisch einflussreiche Theoretiker des Feldes, schreibt in einem kürzlich erschienenen Artikel: „the portable accompaniment medium of the iPod might better be described as a voluntary embedding of one soundscape within another, with the listener controlling
25 Théberge, Paul: Any Sound You Can Imagine, Middletown, CT: Wesleyan University Press 1997; Bull, Michael: Sounding Out The City. Personal Stereos and the Management of Everyday Life, Oxford: Berg Publishers 2000; Bull, Michael; Back, Les (Hg.): The Auditory Culture Reader, Oxford: Berg Publishers 2003; Erlmann, Veit (Hg.): Hearing Cultures. Essays on Sound, Listening and Modernity, Oxford: Berg Publishers 2004; Augoyard, Jean François; Torgue, Henry (Hg.): Sonic experience. A guide to everyday sounds (translated by A. McCartney and D. Paquette), McGill-Queen’s University Press 2005.
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not only the material but the degree to which it mixes with the surrounding environment“.26
Die technologischen Entwicklungen und damit einhergehenden kulturellen und sozialen Veränderungen im Zuge der digitalen Revolution werden somit auch von Truax nicht mehr schlichtweg negiert oder kulturpessimistisch abschätzig bewertet. Es wird anerkannt, dass die kulturelle Praxis des „mobile listening“27 und des „ubiquituous sound“28 nicht allein durch kulturpessimistische Angst-Lust-Narrationen oder vulgärmarxistische Verschwörungs- und Ausbeutungstheorien wegzuerklären sind; eine letztlich wutbürgerliche Kulturkritik im Gefolge von Neil Postmans populistischem Diktum des Amusing Ourselves to Death29 aus den 1980er Jahren findet glücklicherweise immer weniger Anschlusspunkte. Truax bemüht sich, dieser Beobachtung Rechnung zu tragen und die Differenziertheit der Nutzungsweisen, wie sie in den Cultural Studies und den Popular Music Studies zuletzt betont wurden, konstruktiv in seiner Argumentation aufzugreifen. Er schreibt: „Whether using an iPod or a game device, the listener is choosing to imbed him or herself within a virtual environment that is set apart from the real world, often characterized as an escape from it. The soundscape composer on the other hand always seems to be drawing the listener back into the real world, perhaps to stress an ecological perspective, or to rejuvenate the listener’s aural sensibilities“.30
Auch in dieser Erläuterung – in der Truax ausdrücklich einen durchaus noch soundscape-untypischen, ungewöhnlich großen Respekt für iPod-
26 Truax, Barry: Sound, Listening and Place. The Aesthetic Dilemma, in: Organised Sound 17, No. 3 (2012). 27 Behrendt, Frauke: Mobile Sound. Media Art in Hybrid Spaces. PhD Thesis, Brighton: University of Sussex 2010; Gopinath, Sumanth; Stanyek, Jason (Hg.): Oxford Handbook of Mobile Music Studies, Oxford: University Press 2012. 28 Kassabian, Anahid: Ubiquitous Listening, in: Hesmondalgh, David; Negus, Keith (Hg.): Popular Music Studies, London: Arnold 2002, S. 131-142. 29 Postman, Neil: Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Business, London: Penguin Books 1985. 30 Truax 2012, siehe Anm. 26.
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Nutzer und Computerspieler zeigt – wird der mediale Klang weiterhin als unwirklich und nur virtuell bezeichnet, wohingegen Klänge der physischen Welt als wirklich nobilitiert werden. Wie kann diese eingewachsene Dichotomie der Aversion gegen technisch reproduzierte und in Massenprodukten gehörten Klänge aufgelöst werden? Wie kann der moralisierende Ansatz, der letztlich aus einer skrupulösen künstlerischen Erkundung von Bedingungen und Möglichkeiten des Hörens und Erklingens gewonnen wird, wie kann dieser Ansatz in einer Weise produktiv werden, dass er die Klangkulturen der Gegenwart und nahen Zukunft mitprägen kann? Aus meiner Hörerfahrung scheint es notwendig, vor allem den zentralen Widerspruch aufzulösen oder zumindest künstlerisch und gestalterisch zu erkunden und derart zu problematisieren, der sich wie folgt darstellt: (1) Das offene, situationsdemütige Rundumhören von Soundscape Artists, das oft sich technik-, verstärkungs- und mediatisierungsfeindlich gebärdet, ist undenkbar ohne genau die Voraussetzungen der technischen Medien für Aufzeichnung, Bearbeitung und Wiedergabe. (2) Der Anspruch, die tatsächliche Klangumgebung vor Ort intensiv durchzuhören, bleibt stets noch verbunden mit einem geradezu werkhaft-manifesten Verständnis dieser jeweiligen Klangumgebungen. Beides wäre für eine fruchtbare Anwendung in Klangkulturen und Stadtkulturen der Gegenwart anders zu denken und neu zu konzipieren. Diese neue Konzeption deutet sich seit einigen Jahren in einem Feld an, das sich – nicht wenig gespeist aus der Tradition der Soundscape Composition und Studies – unter dem Begriff der Aural Architecture etabliert. Dieses Feld, das 2006 erstmals umfassend durch Berry Blesser und Linda-Ruth Salter31 erkundet wurde, benennt begrifflich und methodisch, wie architektonische Entwürfe in ihrer klanglichen Wirkung konzipiert, analysiert und gehört werden können – jenseits bloßer Schallund Vibrationsvermeidung in traditionell gelehrter Raum- und Bauakustik und ihren entsprechenden Normen und Maßgaben. Dieses Feld der Aural Architecture integriert die situativen, körperlichen und resonanzbewussten Hörweisen, modes of listening32, der Soundscape Studies und überführt sie begrifflich und methodisch (durch Begriffe
31 Blesser, Barry; Salter, Linda-Ruth: Spaces Speak, Are You Listening? Experiencing Aural Architecture, Cambridge, Mass.: MIT Press 2006. 32 Chion, Michael: Audio-Vision. Sound on Screen, Columbia: Columbia University Press 1994.
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wie acoustic horizon oder Hörhorizont beziehungsweise sonically illuminated oder klanglich aktiviert) in das Feld der Architektur und der Stadtplanung.33 Die romantisierende Scheu der traditionellen Soundscape-Bewegung sich tatsächlich mit den urbanistischen und mediatisierten Gegebenheiten der Gegenwart in ihrer Konflikthaftigkeit auseinanderzusetzen und darin als resonierender Virus aktiv zu werden, diese Scheu wurde hier abgelegt. Aural Architecture ist eindeutig eine Gestaltungsdisziplin, die sich der auditiven Techniken des Genres der Soundscape bedient und sie für Entwürfe in der Stadtplanung und Architektur produktiv machen will. Soundscape Studies und Soundscape Composition als Beispiele eines Artistic Research avant la lettre könnten somit zu einer Ergänzung der überlieferten Entwurfspraxis in Architektur und Stadtplanung beitragen, in der neuen Disziplin der Aural Architecture.
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33 Thompson, Emily: The Soundscape of Modernity, Cambridge, Mass.: MIT Press 2002.
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Schafer, Raymond Murray: The Tuning of the World, New York: Knopf 1977. Reprinted as: Our Sonic Environment and the Soundscape: The Tuning of the World, Rochester: Destiny Books 1994. Schulze, Holger: Was sind Sound Studies? Vorstellung einer neuen und zugleich alten Disziplin, in: Vorkoeper, Ute (Hg.): Hybride Dialoge. Rückschau auf die Modellversuche zur künstlerischen Ausbildung an Hochschulen im BLK-Programm „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“, Bonn: BLK Geschäftsstelle 2005, S. 79-83. Shiner, Larry: The Invention of Art – A Cultural History, Chicago: University of Chicago Press 2001. Sterne, Jonathan: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham: Duke University Press 2003. Sterne, Jonathan: Soundscape, Landscape, Escape, in: Bisjterveld, Karin (Hg.): Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, Bielefeld: transcript 2012 (Sound Studies Serie Vol. 5) Théberge, Paul: Any Sound You Can Imagine, Hanover, NH: Wesleyan University Press 1997. Thompson, Emily: The Soundscape of Modernity, Cambridge, Mass.: MIT Press 2002. Tolaas, Sissel: An alphabet for the nose, in: Journal of Artistic Research 1 (2011), http://www.researchcatalogue.net/view/?weave=1036 (05.06. 2013). Truax, Barry: Acoustic Communication, 2nd ed., Westport, Conn.: Ablex Publishing 1985/2001. Truax, Barry: Soundscape, Acoustic Communication & Environmental Sound Composition, in: Contemporary Music Review, No.15 (1996), S. 49-65. Truax, Barry: Genres and Techniques of Soundscape Composition as Developed at Simon Fraser University, in: Organised Sound, No. 7 (2002), S. 5-14. Truax, Barry: Soundscape Composition as Global Music. Electroacoustic Music as Soundscape, in: Organised Sound 13, No. 2 (2008), S. 103109. Truax, Barry: Sound, Listening and Place. The Aesthetic Dilemma, in: Organised Sound 17, No. 3 (2012), S. 193-201. World Soundscape Project: The Music of the Environment Series, Schafer, Raymond Murray (Hg.), Vancouver, British Columbia: A.R.C. Publica-
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tions 1973-1978 (No. 1, The Music of the Environment, 1973; No. 2, The Vancouver Soundscape, 1976; No. 3, European Sound Diary, 1977; No. 4, Five Village Soundscapes, 1977, (wieder in: Acoustic Environments in Change, H. Jarviluoma et al. (Hg.), University of Tampere, 2009); No. 5, Handbook for Acoustic Ecology, 1978).
Towards an Urban Soundscaping M ICHAEL F OWLER
I NTRODUCTION In the 1960s, Canadian composer and activist R. Murray Schafer forwarded the concept of ‘soundscape’ (as a derivation of the word landscape) as a means to place a greater emphasis on sound as a mediator between an auditor and their environment. Schafer had instigated the term as a provocation against the contention that a landscape constitutes all objects within the visible environment – a soundscape then represents all auditory phenomena within a given environment. Since the first publication of Schafer’s landmark 1977 book The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World and the creation of the discipline of soundscape studies at Simon Fraser University (Vancouver, Canada), the ensuing years have seen a diverse number of approaches to the analysis, reconstruction and design of aural environments, though the majority of these have been primarily within a musical or sound art context. This is somewhat in deference to Schafer’s original impetus for the theory of soundscape as a potentially paradigm-shifting framework for approaching design in the urban realm. An emphasis placed on the auditory qualities of an urban or architectural design and the communicative power of sound to convey meaning to users within a design represents a considerable departure from contemporary urban design practice. But given the 2007 announcement by the United Na-
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tions1 that for the first time in history a population inversion has occurred between communities living within rural environments to those within urban environments, a newfound urgency has emerged in regards to questions about the sustainable design of contemporary urban space. What still remains unaccounted for however is the potential impact of Schafer’s theories on soundscape as a provider of acoustically sustainable approaches to spatial design within the urban environment. In this chapter I will examine Schafer’s theories in the context of some recent urban design projects, and will also explore some of the criticisms of his terminology. I will also discuss the phenomena of the urban soundscape system (an embedded loudspeaker array for public presentations of electro-acoustic music or sound art) as the seemingly utopian vehicle towards which much of the traditional artistic focus of soundscape studies seems pointed.
T HE
TERMINOLOGY OF ACOUSTIC ECOLOGY
With the current increases in urban population densities and the inherent health risks associated with long-term sound levels even nominally elevated above 75dB,2 the traditional analytical role of soundscape studies has involved the identification of classes of sounds within an environment and the investigation into the semiotics of these sounds as they relate to a group of listeners, or an acoustic community. Such acoustic communities may naturally favour or place greater value on certain sounds over others or have particular acoustic expectations. The methodology used by soundscape researchers thus seeks to identify such preferences with the greater aim of eliminating, attenuating or designing new auditory experiences that are sustainable and engage a community in a positive manner. “Acoustic Ecology” as a discipline had its origins at Simon Fraser University in the late 1960s as a multi-disciplinary research team headed by Schafer. The
1
United Nations, State of World Population. Unleashing the potential of urban growth, New York: UNFPA 2007, http://www.unfpa.org/public/publications/ pid/408 (05.06.2013).
2
Information on health effects of noise and international guidelines for noise policy are published by the WHO, http://www.who.int/docstore/peh/noise/Com noiseExec.htm (05.06.2013).
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group initially sought to interrogate the notion of noise pollution within cities and propose new approaches to urban sound design through education and documentation of various natural and industrialized environments. The field grew from this research group, as did the construction of a new acoustic terminology and analysis methodology to describe the sounding environment. The ongoing investigation into the sounding environment via the World Forum for Acoustic Ecology3 has been further codified through two models of inquiry established by Barry Truax: the “energy transfer model” and the “communicational model”.4 These two approaches have been variously integrated by the acoustic ecology movement as a means to understand soundscape not only in terms of quantitative site conditions (that is, of the measurement of auditory phenomena through standardized acoustic metrics), but similarly the qualitative communication of meaning from sound as a signifier. Schafer nominates three primary terms of acoustic ecology that are used to investigate the typology of a particular soundscape: soundmarks, keynote sounds and signals. Any contemporary urban soundscape invariably contains all three phenomena, though the content and relationships between each are contingent on cultural paradigms. Like soundscape, the term soundmark is a derivative meaning “a community sound which is unique or possesses qualities which make it specially regarded or noticed by the people in that community”.5 Typical soundmarks may include church/temple bells, AdhƗn (Muslim call to pray), town square clocks and foghorns. The term keynote is based on the musical notion of key center or home tonality. It is a means to describe an anchoring sound within a soundscape: “Keynote sounds are those which are heard by a particular society continuously or frequently enough to form a background against which other sounds are perceived”.6 Such sounds are also described as drones and examples include the sounds of the sea for maritime communities, air conditioner or fan
3
World Forum For Acoustic Ecology, http://wfae.proscenia.net (05.06.2013).
4
Truax, Barry: Acoustic Communication, Westport: Ablex Publishing 2001,
5
Schafer, Raymond Murray: The Soundscape. Our Sonic Environment and The
6
Truax, Barry: The Handbook for Acoustic Ecology, Burnaby: Cambridge Street
page 110. Tuning of the World, Rochester: Destiny Books 1977, page 10. Publishing 1999. http://www.sfu.ca/sonic-studio/handbook/ (05.06.2013).
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noise as well as traffic sounds. Jean François Augoyard describes drones present within an acoustic environment as not only the ground against which the figure is distinguished, but also as an indicator of the qualities of a space and the impact of modernity on the urban condition.7 Akin to Schafer, Augoyard contends that within the modern city the urban drone has come to a saturation point due to vehicular traffic, while Emily Thompson sees the growth, proliferation and common acceptance of such phenomena as an inheritance from nineteenth-century notions of human progress: “Most nineteenth-century Americans celebrated the hum of industry as an unambivalent symbol of material progress. Complaint might be voiced, but few were willing to slow the machines to appease the complaints. This association of noise with progress and prosperity echoed into the twentieth century”.8
The third key term used by Schafer for auditory classification is signal. Signals are regarded as foreground sounds within the soundscape and form auditory warnings of that community within urban acoustic ecologies. In the twenty-first century such warnings have become predominately electronically generated (sirens, horns etc.) and allow for complex layers of information to be communicated to a members of an acoustic community. Schafer’s terms for generating the taxonomy of an acoustic ecology have been further supplemented with The Handbook for Acoustic Ecology by Truax.9 This extensive manual of terms from traditional room acoustics, noise engineering and music gives explicit definitions of acoustic phenomenon together with appropriate recorded sound examples as they relate to the discipline of soundscape studies. But of the three primary terms themselves, it is the soundmark that has been the focus of much of the activist arm of soundscape studies. One of the first major projects completed by
7
Augoyard, Jean François; Torgue, Henry: Sonic Experience. A Guide to Everyday Sounds, trans. Andrea McCarthy and David Paquette, Montreal: McGillQueen’s University Press 2005.
8
Thompson, Emily: Noise and Noise Abatement in the Modern City, in: Zardini, Mirko (ed.): Sense of the City, Montréal: Canadian Centre for Architecture, 2006, page 191.
9
Truax 1999, see footnote 6.
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Schafer was the CD The Vancouver Soundscape (1973), a document of the soundmarks of Vancouver together with spoken word commentary on notions of good and bad acoustic design in the context of the local environment of Vancouver. This was later followed up in 1996 with the Japanese Association for Sound Ecology and the Japanese Environmental Protection Agency launching 100 Soundscapes of Japan, a project in which the general public could nominate important soundmarks or soundscapes that deserve preserving, all of which were documented through photographs and sound recordings and made available through a publicly-accessible database. The popularity of this project was the catalyst for The Finnish Society for Acoustic Ecology’s 2005 project One Hundred Finnish Soundscapes that similarly involved a public consultation and documentation program that became available through the World Wide Web.
T HE
CRITICAL RECEPTION TO SOUNDSCAPE STUDIES
That architecture might harness the sounding environment as a design construct whose auditory content delivers meaningful experiences that augment a building’s narrative has been an ongoing yet somewhat tangential desire of architectural phenomenologist’s such as Stephen Holl and Juhani Pallasmaa.10 For Holl and other architects such as Peter Zumthor, the larger role of the multi-sensory as a design parameter for new experiences of architecture has been an important catalyst for driving architectural design towards a deeper embrace of those other senses that exist beyond the visual.11 Indeed Bjorn Hellström’s critique that “hitherto, architectural research has largely ignored the sound[ing] environment”12 suggests that Schafer’s conceptualization of sound within the context of the modern city as an
10 For example see works such as: Pallasmaa, Juhani: Eyes of the Skin, Chichester: Wiley-Academy 2005 and Holl, Stephen: Educating our Perception, in: Magic Materials II, London: Daidalos 1995. 11 Zumthor, Peter: Thinking Architecture, Berlin: Birkhäuser 2006. 12 Hellström, Bjorn; Nilsson, Mats; Becker, Peter: Acoustic Design Artifacts and Methods for Urban Soundscapes, in: Proceedings of the ICSV'08 (5th International Congress on Sound and Vibration), Daejeon/Korea, July 6-10, 2008, page 423.
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acoustic ecology is now appearing for the first time as a theme for architectural discourse. Ted Sherriden has similarly called for a more auditoryaware approach to design given that “aural interpretations provide additional layers of meaning to the architectural experience, and the potential to influence the evolution of architecture’s visual form as well”.13 These views have been similarly echoed most famously by Pallasmaa who emphasizes that: “a space is understood and appreciated through its echo as much as through its visual shape, but the acoustic percept usually remains as an unconscious background experience”.14 But the recent theories of Barry Blesser and Ruth-Linda Salter have distinguished what they call an aural architecture from a soundscape by the relationship of sounds to their context: “Aural architecture requires the presence of sound sources to illuminate the space […]. With a soundscape, the sounds are important in themselves”.15 This distinction is perhaps the reason why soundscape studies have not gained a greater influence in shaping discourses in other spatial disciplines. Indeed, Paul Carter suggests that within soundscape studies itself there has been a bifurcation between composers, sound artists and ecological activists in one camp, and historians, anthropologists, acousticians and scientists in the other. Certainly, the focus many acoustic ecologists place on the documentation and preservation of soundscape through audio recordings relegates much of their methodological practice as technocentric. Because of this, Carter argues that the camp of composers, artists and activist’s implicit objective is to ameliorate and draw attention to “a neglected dimension of the everyday world, and, by appealing to the listener’s musical sensibilities, to enlist support for its preservation and protection”.16 Indeed Schafer’s original intentions for soundscape studies were to situate it within
13 Sherriden, Ted; van Lengen, Karen: Hearing Architecture, in: Journal of Architectural Education 57, no. 2 (November 2003), pages 37-44. 14 Pallasmaa 2005, see footnote 10, page 50. 15 Blesser, Barry; Salter, Ruth-Linda: Spaces speak are you listening, experiencing aural architecture, Boston: MIT Press 2007, page 16. 16 Carter, Paul: Auditing Acoustic Ecology, in: Soundscape, the journal of acoustic ecology 4, no. 2 (2003), page 12.
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“a middle ground between science, society and the arts. From acoustics and psychoacoustics we will learn about the physical properties of sound and the way sound is interpreted by the brain. From society we will learn how mankind behaves with sounds and how sounds affect and change this behavior”.17
But as Sophie Arkette has noted, when Schafer declares “the world to resemble an orchestrated composition, he invites us to take assertive action to change its form and content”18 without understanding or suggesting the greater difficulties of actually implementing sound design into any environment outside of the electronic music studio. Arkette’s critique highlights the fundamental interests common to Truax, Schafer and Westerkamp as composers: that the creative focus of the founders of soundscape studies has largely remained within the conceptual realm of electro-acoustic musical composition seems to suggest that soundscape compositions (that is, musical compositions pieced together from edited field recordings) themselves are just one tool for ecologically aware listening, though an overwhelmingly favored one. Truax explains that soundscape compositions place prime importance on maintaining the “listener recognizability of the [captured] source material,” and that such compositions therefore ought to invoke the listener’s “knowledge of the environmental and psychological context”. Many of the electronic soundscape compositions of Truax and Westerkamp19 thus function as virtual acoustic experiences in that they suggest acoustic spaces that may never be completely formed, built or realized outside of the electronic music studio – space then becomes constructed through the sounds, and potentially acquiescent to a preconceived musical narrative. Truax also suggests that for the soundscape composer, “knowledge of the environmental and psychological context must duly influence the shape of the composition at every level”.
17 Schafer 1977, see footnote 5, page 4. 18 Arkette, Sophie: Sounds like City, in: Theory, Culture & Society, no. 21 (2004), page 161. 19 For example see Westerkamp's Into the Labyrinth (2002) a work generated from field recordings of urban areas in India, Darren Copeland's Memory (1997) from recordings of Stockholm and surrounds, and Truax's Pacific Fanfare (1996), a number of sound scenes composed from 10 soundmarks of Vancouver.
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As such, “the work must enhance our understanding of the world and carry its influence into our everyday perceptual habits”.20 But it is perhaps the broad definition of the word soundscape itself that has presented the most criticism, particularly from anthropologist Tim Ingold. For Ingold the experience of the landscape is one that is multisensory: “the environment that we experience, know and move around in is not sliced up along the lines of the sensory pathways by which we enter into it”.21 For Ingold there is no need for a de-contextualization of sound from the landscape given that the systems of an ecology that constitute an environment will always be intimately interconnected. But further to this point is Ingold’s critique of what Carter has also identified as the focus of many within the field of soundscape studies to rely on audio recording techniques for the documentation of sounding environments. Ingold notes that this represents a trap which is “analogous to thinking that the power of sight inheres in images, of supposing that the power of hearing inheres in recordings. For the ears, just like the eyes, are organs of observation, not instruments of playback”.22 Robert Curgenven also notes that: Soundscape has a tendency to become a form of category which draws in additional issues not necessarily tied to the continuity of landscape: description, documentation, interpretation – analytical or subjective vectors arising from the creation of ‘objects’ (as drawn out by the unfortunate Kantian opposition of the ‘subject’). These decontextualizations limit the relations around the pervasiveness, specificity and spatially evocative qualities of sound...23 Originally conceived as a derivation from the notion of landscape, Schafer’s conception of soundscape has come to be defined as any sounding environment, and may pertain to sound sources within tangible manifestations within architecture and the urban environment, or equally experi-
20 Truax details the tenets of the soundscape composition manifesto on his website: http://www.sfu.ca/~truax/scomp.html (June 5, 2013). 21 Ingold, Tim: Against Soundscape, in: Carlyle, Angus (ed.): Autumn Leaves: sound and the environment in artist practice, Paris: Double-Entendre 2009, page 10. 22 Ibid., page 11. 23 Curgenven, Robert: Sound, Landscape and the bastard child Soundscape. How could it be that ‘soundscape’ could become so disconnected from ‘sound’ and ‘landscape’? in: Lo Squaderno, No. 10 (2008), page 45.
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enced through intangible electro-acoustic music compositions, virtual acoustic simulations or the sounds of nature. Barry Truax only places an emphasis on the notion of soundscape as something that involves listening within it. An auditor is placed in an environment of sound (sonic environment) with emphasis on “how the individual or society as a whole understands the acoustic environment through listening”.24 The primary ‘visibility’ then of soundscape studies has been most frequently communicated through the dissemination of the discipline as a musical endeavor in which electro-acoustic compositions, like those of Hildegard Westerkamp, Barry Truax and Darren Copeland,25 commonly based on recordings obtained from various natural or urban environments are invariably presented (in edited form) via traditional concert hall settings or art gallery installations. This idealization, particularly when pristine natural environmental soundscapes are used, reinforces the further goal of acoustic ecology to demechanize the sounds of contemporary cities in an effort to bring the sounding environment back towards a more natural paradigm – that is, ‘to tune the world.’ The notion of tuning though has not been limited to those goals sought by the acoustic ecology movement. Indeed it is a notion that has already been explored outside of the auditory realm of soundscape studies in what may seem like an historical confirmation of the immediacy and importance that architectural design has placed on visual manifestations of form. One of Archigram’s more iconic projects, “Tuned Suburb” (1968) explores what might initially seem in contemporary parlance as the act of ‘modding’ as applied to the built environment of the suburban dwelling in which material additions, new facade elements and signage compliment the vernacular. But as Simon Sadler notes, “ethically and aesthetically, Archigram regarded strictly modular building systems as a mixed blessing, partly an overstated ‘demonstration’ of prefabrication that might be better combined with other
24 Truax 2001, see footnote 4, page xviii. 25 For example see Westerkamp's Into the Labyrinth (2002) a work generated from field recordings of urban areas in India, Copeland's Memory (1997) from recordings of Stockholm and surrounds, and Truax's Pacific Fanfare (1996), a number of sound scenes composed from 10 soundmarks of Vancouver.
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building elements or tacked onto structures already in situ”.26 Here then, the notion of tuning serves purely an architectonic or aesthetic function, though given the scope of what Blesser and Salter have identified as the potential of numerous materials to act as passive aural embellishments and thus change the acoustic identity of a space, it would seem that there was an unseen (or perhaps unheard) consequence to Archigram’s use of ‘kit architecture’ to transform a suburb. But for Ursula Franklin27, the concept of tuning is also applicable in a contrary manner to the architectonic augmentations of Archigram in that tuning may also imply the radical diminution of (acoustic) space. Franklin identifies that countering the technological forces that are creating ever more decreasing acoustic spaces (perhaps best embodied in headphone listening) requires a paradigm shift. Here, the antidote is more widespread silence in the urban environment such that the unplanned and unprogrammed might be given a chance to flourish. For Arkette, such a position represents a form of urban prejudice in which the dynamics of cities spaces have been significantly misread.28 Carter similarly warns against “any research program that takes a notion of harmony or reharmonization as its ground” as one that “risks recapitulating the nostalgic trope” that as early as the 17th century had been identified by Francis Bacon in the empirical sciences as concerned with the goal of restoring paradise.29 This divide between the natural and artificial, and the desire for readjustment within urban soundscapes is clearly articulated through Barry Truax’s conceptualization of acoustic spaces as either lo-fi (low fidelity) environments or hi-fi (high fidelity) ones. Lo-fi soundscapes are defined as “one[s] in which [sound] signals are overcrowded, resulting in masking and [a] lack of clarity,” while hi-fi sound environments those in which “all sounds may be heard clearly without being crowded or masked by other sounds and noise”.30 Typically, Truax contends that lo-fi sound environments occur in cities due to traffic
26 Sadler, Sam: Archigram. Architecture Without Architecture, Boston: MIT Press 2005, page 103. 27 Franklin, Ursula: Silence and the Notion of the Commons, in: Soundscape, the journal of acoustic ecology 1, no. 2 (Winter 2000) pages 14-17. 28 Arkette 2004, see footnote 18, pages 161-162. 29 Carter 2003, see footnote 16, page 12. 30 Truax 1999, see footnote 6.
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and construction noise, as well as competing background music from retail shops. That natural environments like rainforests are acoustically stratified in terms of the frequency spectrum of signals from wildlife (allowing each species to operate within frequencies niches)31 is suggestion enough for acoustic ecologists for an auditory return to Eden. But recent research has supported the notion that mechanisation within urban environments has had impacts beyond the human categorization of noise pollution as a purely discomforting factor. In 2011, Parris, Mulder and Potvin 32 found that the species of small bird Zosterops lateralis had significantly changed their pitch and tempo calls in urban environments compared to their rural cousins. As a significant evolutionary adaptation, the ambient background noise of traffic and other cities sounds was found to be inhibiting the birds ability to communicate within its auditory niche, thus requiring them to sing higher and slower to be understood. In a sense then, the urban environment has tuned the birds, rather than the sounds of birds being used as a parameter for tuning an urban environment. This instance of observable evolutionary change highlights the fact that the natural environment is ever changing and therefore neither an idealised nor permanent one. It also perhaps supports Ingold’s notion that any ecology is a total framework in which a diverse range of sub-systems may influence and direct how a soundscape behaves or evolves. Thus, any natural acoustic ecology is bound by the dynamics of its landscape context and those external forces that shape it. But for Zosterops lateralis the impetus for rapid adaptation was primarily to maintain a favourable signal-to-noise ratio and thus continue to inhabit what Truax calls a hi-fidelity environment. Such motivations though
31 Kubke, M. Fabiana; Carr, Catherine E.: Development of the Auditory Centers Responsible for Sound Localization, in: Popper, Arthur; Fray, Richard (eds.): Sound source localization, New York: Springer 2005, pages 179-237, see also Krause, Bernie: Bioacoustics. Habitat Ambience in Ecological Balance, in: Whole Earth Review, No. 57 (1987), pages 14-18. 32 Potvin, Dominique A.; Parris, Kirsten M.; Mulder, Raoul A.: Geographically pervasive effects of urban noise on frequency and syllable rate of songs and calls in silvereyes (Zosterops lateralis), in: Royal Society of London Philosophical Transactions – Biological Sciences 278, No. 1717 (2010), pages 2464-2469.
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for maintaining a spectral stratification of sound sources have not been limited to urban fauna. The landmark soundscape preference investigation by Wei Yang and Jian Kang found “over 6000 people […] from different countries showed a similar tendency of preferring nature and culture-related sounds and rejecting vehicle and construction sounds”.33 Here, citydweller’s aesthetic preferences for particular sound spectra placed a greater importance on them being heard: vehicle, construction and traffic sounds will tend to mask that part of the urban sound spectrum that is most meaningful to people. Catherine Guastavino’s 2006 study similarly found that “soundscapes consisting primarily of traffic noise were described as unpleasant, whereas soundscapes in which human sounds were dominant were appreciated and they were subcategorized according to the type of socialized activities performed”.34 That modern cities are increasingly finding themselves in greater mechanised densities is evidenced in the suggestions by Anita Gidlöf-Gunnarsson and Evy Öhrström that, “it has been estimated that about 80 million (approximately 20%) of the European Union’s population suffer from noise levels considered unacceptable (above 65dB in socalled ‘black area’) and an additional 170 million are living in ‘grey areas’ exposed to noise levels between 55 and 65 dB”.35 Additionally, there have been numerous studies into the link between stress effects manifested in physiological systems and psychosocial behavioral patterns,36 which also
33 Yang, Wei; Kang, Jian: Soundscape and Sound Preferences in Urban Squares. A Case Study in Sheffield, in: Journal of Urban Design 10, No. 1 (February 2005), page 63; see also ibid.: A cross-cultural study of soundscape in urban open public spaces, in: Proceedings of the Tenth International Congress on Sound and Vibration, Stockholm 2003. 34 Guastavino, Catherine: The Ideal Urban Soundscape. Investigating the Sound Quality of French Cities, in: Acta Acustica, No. 92 (2006), page 950. 35 Gidlöf-Gunnarsson, Anita; Öhrström, Evy: Noise and well-being in urban residential environments: The potential role of perceived availability to nearby green areas, in: Landscape and Urban Planning 83, No. 2-3 (2007), page 115. 36 For example see Skånberg, Annbritt; Öhrström, Evy: Adverse health affects in relation to urban residential soundscapes, Journal of Sound and Vibration 250, no. 1 (2002), pages 151-155; Clark, Charlotte; Stansfeld, Stephen: The Effect of Transportation Noise on Health and Cognitive Development. A Review of Recent Evidence, in: International Journal of Comparative Psychology 20, no. 2
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indicate that the effect of the quality of the urban soundscape is an important contemporary health issue.
U RBAN
DESIGN
= S OUNDSCAPE
DESIGN
It is practically only within the last five years that the discourse and methodology of soundscape studies has been usurped for strategies for urban design and planning. But according to Jian Yang37, a recognized need exists for the integration of urban soundscape approaches to become design policy. Yang also notes though that this goal is currently inhibited by a lack of universal soundscape quality indicators (or metrics) and design guidance tools for the creation of noise maps or new urban design auralizations. Maria Leus similarly identifies that “planners are lacking an adequate design vocabulary such as aurally evocative concepts and tools to integrate an acoustic consciousness into the design process of urban spaces”.38 This deficit is also described by Mags Adams et al. as due to the current situation in which “there is no standard way to include such subjective concepts as sound aesthetics into the planning process”39 which consequently rejects such aesthetic concerns due the prevailing standard of scientific rationality. As such, those few documented and published projects that have integrated concepts of the soundscape discourse have varied considerably in their methods. For the UK-based architecture practice Liminal (Frances Crow and David Prior), the urban development of Warwick Bar in Birmingham was a chance to integrate Hildegard Westerkamp’s ecological practice of sound-
(2007), pages 145-158; Schwela, Dietrich H.; Berglund, Birgitta; Lindvall, Thomas (eds.): World Health Organisation, Guidelines for Community Noise, Geneva: WHO 1999. 37 Kang, Jian: From Understanding to Designing Soundscapes, in: Frontiers of Architecture and Civil Engineering in China 4, No. 4 (2010), pages 403-417. 38 Leus, Maria: The Soundscape of Cities. A New Layer in City Renewal, in: Brebbia, Carlos; Beriatos, Elias (eds.): Sustainable Development and Planning V, Southampton: WIT Press 2011, page 356. 39 Adams, Mags et al.: Sustainable Soundscapes. Noise Policy and the Urban Experience, in: Urban Studies 43, No. 13 (2006), page 2389.
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walking. For Westerkamp, a soundwalk involves a technologically unmediated listener or group of listeners whose movement through an environment is enacted in silence and without communication so that a heightened auditory awareness allows for a deeper connection between listener and place.40 Truax considers such a listener-based approach as an important “counter to the types of soundscapes that produce a non-listening habituated response to the acoustic environment”.41 Crow and Prior used soundwalking as a means to aurally investigate the site themselves regarding the prominent soundmarks and educate the partner project architects (Architects Kinetic AIU) as well as the general public on the acoustic qualities of the site. They also used a questionnaire to develop a noise/tranquility indicator from the soundwalkers and integrated existing Birmingham City Council noise maps of local traffic patterns to generate a predicative acoustic model that tracks the impact of new architectural and landscape interventions.42 For Bert De Coensel et al.,43 an urban re-development in Antwerp in 2010 similarly used a questionnaire to assess local inhabitants’ attitudes towards annoyance and noise sensitivity together with extensive long-term climactic (wind direction, wind speed and temperature) and acoustic measurements (SPLA) of the site. Numerous planning scenarios were developed concurrently by the architects, planners and acousticians and were guided closely by the qualitative survey results and quantitative acoustic measurements. Additionally, noise maps of the scenarios distinguished each in terms of soundscape quality and impact on residents from local transport infrastructures. Though the assessment of interview data was initially not a widely used technique for soundscape studies, whose focus relied more on expert user
40 Westerkamp, Hildegard: Soundwalking as Ecological Practice, in: Torigoe, Keiko; Imada, Tadahiko; Hiramatsu, Kozo (eds.): The East Meets West in Acoustic Ecology. Hirosaki: Hirosaki University 2006, pages 84-89. 41 Truax, Barry; Barrett, Gary W.: Soundscape in a Context of Acoustic and Landscape Ecology, in: Landscape Ecology 26 (2011), page 1202. 42 For more details see Liminal’s web page http://www.liminal.org.uk /documents/ (05.06.2013). 43 De Coensel, Bert et al.: The Soundscape Approach for Early Stage Urban Planning. A Case Study, in: Internoise 2010, Noise and Sustainability, Lisbon, Portugal 13-16 June 2010.
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assessments of in situ or pre-recorded multi-channel sound media, the obvious connection between the development of Schafer’s acoustic terminology and user perception of an acoustic environment has become more widely incorporated in recent studies into urban sound quality. As such, Per Hedfords and Per Berg44 relied purely on an extensive interview technique in their examination of experienced listener responses to two distinct landscapes in Sweden (a pasture in the Håga valley and Linnéträdgården in Uppsala). The interviews allowed for the development of a framework for urban planners based on a pattern language of ‘sonotypes.’ Their research suggests that preliminary tools for landscape architects and urban planners must utilize descriptive characterizations of both what is heard (for extant or future conditions) and the sources that generate them. This approach is similarly espoused by Guastavino who notes that “people organize sounds and soundscape according to the meaning attributed to the acoustical signal as a semantic cue pointing to a source rather than on the basis of abstract physical properties”.45 Hedfords and Berg equally suggest that landscape architects and planners integrate words that express emotions and atmospheres, onomatopoeia, words that are technical or neutral and to include value judgments about whether the sonic conditions are suitable or not to the specific site under planning consideration. In a similar approach to the early audio-visual analysis work on urban spaces by Michael Southworth,46 the 2004 soundscape design project by Hoon Shin et al.47 at the Ttangkkeut observatory park in Korea examined the perception site users had between visual and auditory elements. By classifying the acoustic ecology through a user survey and tagging particular acoustic behaviors of landscape and architectonic elements to the site
44 Hedfors, Per; Berg, Per: The Sounds of Two Landscape Settings. Auditory Concepts for Physical Planning and Design, in: Landscape Research 28, No. 3 (2003), pages 245-263. 45 Guastavino 2006, see footnote 34, page 950. 46 Southworth, Michael: The Sonic Environment of Cities, in: Environment and Behavior 1 (1969), pages 49-70. 47 Shin, Hoon; Song, Hyuk; Nam, Gi-Bong; Jang, Gil-Soo: Soundscape design for the memorial space with seaside view - focused on the seaside park with observatory located in Ttangkkeut, in: Proceedings of the 18th International Conference on Acoustics, Kyoto: ICA 2004.
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sounds, the final design attenuated all mechanical and artificial sounds in an attempt to harmonize the natural sound sources (birds, the sea, insects etc.) to the natural landscape topography the site is embedded within.
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SOUNDSCAPE SYSTEMS : TOWARDS A NOISY FUTURE ? That those projects I have briefly outlined above have drawn heavily on the traditional approaches used in quantifying the perception of room acoustic parameters (through listening tests and surveys), is not surprising given that most of the work published on soundscape studies, as it relates to issues of contemporary urban design or planning is emanating from journals and conferences from the disciplines of acoustics or noise engineering. While the early pioneers of soundscape studies, Truax, Schafer and Westerkamp, openly invited input from these disciplines, the majority of their design work has been generated and disseminated through electro-acoustic compositions or theoretical discourses. While the phenomena of public art projects incorporating an auditory element are too numerous to mention here,48 the recent investment by Melbourne City Council (Australia) in a large loudspeaker array within a public site (or urban soundscape system) presents an interesting conundrum in relation to the traditional focus of soundscape studies towards the generation of rarefied electro-acoustic works – how to manage a technology capable of delivering designed electro-acoustic content to an urban site without compromising the desire to perpetuate a sustainable noise-reduced future soundscape? Franklin has similarly identified this quandary for soundscape studies in which modern technology has both created and destroyed opportunities for a better soundscape experience. She notes that the impact of technology has produced “a good number of problems related to the soundscape, and to the way society as a whole adjusts, copes with and possibly ameliorates sounds”.49 But in many ways an urban soundscape system, recast within a cybernetic framework (that is, with sig-
48 For an overview of Australian sound art and kinetic sculpture see Bandt, Ros: Sound Sculpture. Intersections in Sound and Sculpture in Australian Artworks, Sydney: Fine Arts Press 2001. 49 Franklin 200, see footnote 27, page 14.
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nal input, processing and output capabilities), also presents a rebuttal to Arkette’s critique that the acoustic environment of the city, as an orchestrated composition, can be reassembled, cleaned and recycled. Such systems may also be read as an infrastructure capable of delivering Kevin Lynch’s suggestion that urban spaces should have provisions for noise control (through masking) and “the introduction of desirable sounds or ދacoustic perfume.”ތ50 The urban soundscape system developed by Melbourne City Council, called signal51 is housed in a site parallel to both a major rail infrastructure (Flinders street station) and waterway (Yarra river). It uses 18 paired loudspeakers controlled via an electronic music studio housed in an adjacent former train signalling box to deliver audio content to a thin landscaped thoroughfare. Lawrence Harvey52 notes that the aspiration of the project was always for the re-activation of the site, specifically through the use of sound as an architectural program, and in particular, as a place for young people to engage with an urban art form. But the deeper issues that arise from implementing content in an urban soundscape system, in light of the core ideals of the acoustic ecology movement as against a noisy future, remains such systems ތpotential as an ally to the rapid technological saturation (and visual noise) currently encountered in urban spaces through smart facades, interactive video screens, and other advertising platforms. That Asia has been a hotbed for such urban computing technologies is further evidenced in the urban soundscape system incorporated in the city of Hakodate (Hokkaido, Japan). Unlike the signal soundscape system, its much older Japanese counterpart is primarily usurped for high volume consumer advertising for local businesses in what Schafer might deem a situation of intensified schizophonia. Nevertheless, the potential of the urban soundscape system to deliver pristine, considered
50 Lynch, Kevin; Banerjee, Tridib; Southwort, Michale (eds.): City Sense and City Design. Writings and Projects of Kevin Lynch, Boston: MIT Press 1995, page 310. 51 More information on the initiative can be found at http://www.melbourne. vic.gov.au/signal/Pages/Signal.aspx (05.06.2013). 52 Harvey, Lawrence: Melbourne’s Urban Electroacoustic Soundscape Systems, a discussion and strategy paper, available from http://www.rmit.edu.au/ architecturedesign/sial/soundstudio/projects/urbansoundscape (05.06.2013).
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or ideally composed sound compositions (which might further become local soundmarks) must certainly be a driving ideological factor for any potential soundscape composer. The ultimate question regarding these systems may of course become one raised by Mags Adams et al. of “what it means to [local residents to] have a local soundscape, who can legitimately decide what is valued and how decisions can be reached regarding what is a positive and negative soundmark in order to determine what should be preserved”.53 In the case of the signal system, the Melbourne City Council very much placed it within the context of a deliverer of sound art rather than an activation device for an ecologically-aware listener, or compositional tool for acoustic ecologists. In any case, Schafer’s conceptualisation of the tuning of the world may have found a small but viable instrument for experimentation.
C ONCLUSIONS It is perhaps premature to suggest that Schafer’s theories on soundscape have yielded negligible results in relation to stimulating new discourses in design theory and design praxis. Certainly, in terms of scientific investigations into soundscape preference, the implementation of soundscape concepts into urban planning models and the greater awareness within design and architecture of the semiotics of sound as a design tool or design guide, there have been direct and tangible inroads. If the terminology of soundmark, keynote and signal have been less the instruments through which aural design becomes activated within the urban sphere it is perhaps only due to the consequences that Ingold places on soundscape studies as solely focused on acoustics rather than ecology. That the subjective technique of critical listening, soundwalking and the audio recording of an environment have been a recent compliment to the traditional objective analysis of acoustic measurement, noise mapping and user perception studies means that the tools and techniques available to architects and designers of contemporary urban space have indeed grown. This growth too is in a fashion that reflects the ideology of soundscape studies that a soundscape involves an auditor listening within it. But the rapid increases predicated in world
53 Adams et al. 2006, see footnote 39, page 2396.
TOWARDS AN URBAN SOUNDSCAPING | 123
populations within the next 30 years, particularly in urban areas, means that the threat of a noisy future is a creeping reality. Schafer’s conceptualisation of a tuning of the world, however much a quaint product of the idealized milieu of the 1970s, now has an increasing contemporary resonance for shifting urban design theory into new sustainable directions regarding the everyday acoustic experience of the built environment.
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Landscapes
Der Blick aus dem Seitenfenster Nicht-Orte und Begegnungen in Historias mínimas und Un mundo menos peor M ARIA I MHOF Es ist unheimlich schwierig, in Patagonien einen Film zu machen, ohne dass ein Roadmovie daraus wird.1 (Carlos Sorín)
B EWEGUNG , R AUM , O RT Patagonien, jene karge Landschaft im Süden Argentiniens, avanciert seit einigen Jahren zur Kulisse für die Filme jüngerer argentinischer Regisseure. Die Thematik dieser Filme kreist häufig um die Reise quasi ans Ende der Welt und um die Begegnungen, die dort stattfinden. Alejandro Agresti drehte seinen hochgelobten Kinofilm El viento se llevó lo que/Das letzte Kino der Welt (1998) in einem Dorf in Patagonien, Pablo Trapero Teile von Mundo grúa/Welt der Kräne (1999), und Carlos Sorín schließt sich mit Historias mínimas/Intimate stories (2002), El perro/Bombón. Eine Geschichte aus Patagonien (2004) und Días de pesca (2012) an. Kleinste Geschichten über Reisen im Niemandsland erzählt er; in Historias mínimas ist es die Geschichte von drei Menschen aus dem kleinen Straßendorf Fitz Roy. Sei-
1 „Es dificil filmar en la Patagonia sin terminar haciendo una Roadmovie“; Carlos Sorín in Bezug auf Historias mínimas, vgl. http://www.cinebso.com/lector. php?articulo=200211318233049&mes=11&year=2002 (05.06.2013).
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ne Spielorte entdeckt er beim Blick aus dem Seitenfenster des fahrenden Autos: Es sind Raststätten, Transit-Geschäfte und Tankstellen am Straßenrand, Nicht-Orte am Rande des Nichts.2 Nach Marc Augé sind Nicht-Orte nicht zum Verweilen geplant und bilden keine persönlichen Relationen aus. In Roadmovies und Reisefilmen aber, so die These, bilden sie nicht nur die Hauptspielstätten, sondern unterliegen auch einer bedeutsamen Transformation: Da diese Filme gerade an den unpersönlichen Durchgangsorten mit ihren Geschichten ansetzen und dort die Begegnungen der Figuren inszenieren, werden Nicht-Orte zu Gedächtnisorten transformiert. Sie haben besonders im lateinamerikanischen Roadmovie eine tief greifende Wirkung auf Handlungsstruktur und Figuren; sie werden für die Figuren zu individuellen und emotional besetzten Orten, denen Erinnerungen eingeschrieben werden. Argentinien, und dort allen Gegenden voran Patagonien, bietet als ein ziemlich leerer Raum die ideale Kulisse für die Entwicklung von Gedanken zu Nähe, Distanz und Räumlichkeit; schon Ezequiel Martínez Estrada wusste davon zu berichten, dass das Hauptproblem Argentiniens die Größe des Landes sei, die Entfernungen und die Leere, da diese unweigerlich das Problem des Transports und das der Einsamkeit nach sich zögen.3 Nach Martínez Estrada ist es der Raum selbst, der den Menschen zwingt, sich in Bewegung zu setzen; insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Bewohner dieses Landes nomadisch veranlagt sind. Die topografischen Gegeben-
2
Zum Nicht-Ort, siehe: Augé, Marc: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992; die deutsche Übersetzung: Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, aus dem Französ. von Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Fischer 1994; zu Historias mínimas: Glombitza, Birgit: Die letzte Reise, in: Die Zeit, Nr. 35 (21.08.2003).
3
Martínez Estrada, Ezequiel: Radiografía de la Pampa, hrsg. von Leo Pollmann, Nanterre: Archivos 1991, S. 69: „El problema fundamental de nuestra vida económica es el transporte, porque el problema fundamental de nuestra vida son las distancias, las cantidades, los tamaños y la soledad“. („Das grundlegende Problem unserer Wirtschaft ist der Transport, weil das Hauptproblem unseres Lebens die Entfernungen sind, die Größe des Landes, das Format und die Einsamkeit“.) Ähnliche Gedanken über die Einsamkeit und das Nomadentum lateinamerikanischer Nationen formuliert Octavio Paz im Bezug auf Mexico in: El laberinto de la soledad (1950), Madrid: Cátedra 2004.
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heiten bilden die Grundlage für diese Eigenart. Denn Patagonien besitzt beinahe die Fläche Europas, doch es leben nur etwa 1 Mio. Menschen dort. Die Pampa mit ihren steppenartigen Ebenen bestimmt über weite Teile die Landschaft, Dörfer und Städte sind spärlich gestreut.4 Bei derartigen natürlichen Voraussetzungen und den – nach Martínez Estrada – daraus resultierenden Bewegungszwängen aber muss die Straße eine bedeutsame Rolle spielen. So bildet das filmische Analogon der Gedanken des Essayisten das Roadmovie – das Genre, in dem der Mensch sich beständig fortbewegt, und das diese Fortbewegung zum zentralen Thema macht.5 Argentinien zwingt offensichtlich nicht nur den Menschen, sich in Bewegung zu setzen, sondern auch den Filmemacher. Und Carlos Sorín hat recht, wenn er bemerkt, man käme nicht umhin, ein Roadmovie zu drehen, wenn man in Patagonien drehe.6 Gehen aber bedeutet, den Ort zu verfehlen, sagt Michel de Certeau, fahren erst recht.7 De Certeau grenzt den Ort vom Raum ab und geht davon aus, dass der Raum durch Bewegung, durch Praktiken in ihm erzeugt wird,
4
Zu Patagonien in historischer und literarischer Perspektive: Haase, Jenny: Patagoniens verflochtene Erzählwelten, Tübingen: Niemeyer 2009, bes. S. 45-64; eine kurze Übersicht über Landschaft und Provinzen gibt http://www.argentinaargentinien.com/ml/patagonien.php (05.06.2013).
5
Das US-amerikanische Roadmovie bezieht sich auf den Western, verweist damit auf einen spezifisch filmischen Referenzhorizont. Das argentinische Roadmovie scheint sich direkt aus dem Land selbst herzuleiten und einen Bezug zur literarischen Tradition aufzuweisen: Zum Gaucho-Mythos einerseits und zur Essayistik andererseits; vgl. dazu auch Bertelsen, Martin: Roadmovie und Western. Ein Vergleich zur Genrebestimmung des Roadmovies, Mammersbek/Hamburg: Verlag an der Lottbek 1991 sowie meine Gedanken zum argentinischen Roadmovie in: „Die Straße und das Nichts. Roadmovie, Raum und Transport bei Carlos Sorín und Pablo Giorgelli“, erscheint in: von Hagen, Kirsten; Thiele, Ansgar (Hg.): Transgression
und
Selbstreflexion.
Roadmovies
in
der
Romania
als
(neo-)pikareske Narration. Siegener Forschungen zur romanischen Literaturund Medienwissenschaft, Tübingen: Stauffenburg (in Vorbereitung). 6
Carlos Sorín im Interview zu Historias mínimas, vgl. http://home.snafu.de/fskkino/archiv/Historias%20Minimas.htm (05.06.2013).
7
Certeau, Michel de: Praktiken im Raum (1980), in: ders.: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 179-238.
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dass Raum nicht einfach da ist, sondern durch Bewegung oder Handlung produziert wird. Der Raum ist bei Certeau als ein dynamisches Ensemble verstanden, der durch die Bewegung des Menschen in ihm konstituiert wird, er ist „ein Resultat von Aktivitäten“.8 Der Ort hingegen zeigt sich als mehr oder minder stabiles Gefüge von festen Punkten und Strukturen. Der Raum bringt also nicht nur den Menschen in Bewegung, sondern wird selbst erst durch die Bewegung konstituiert, wird so vom Ort zum Raum. In den Filmen Soríns und Agrestis sind Raum und Bewegung zudem an die Entwicklung kleiner oder gar kleinster Geschichten gebunden. Die Kamera zeigt bisweilen die Leere und darin kleine sich bewegende Punkte, Autos oder Menschen, die erst allmählich Form bekommen. Die Darstellung der Landschaft selbst rückt stark in den Fokus; diese etabliert sich als gleichsam unabhängiger Raum, der zur Darstellung kommt und bereits durch seine Struktur Geschichten zu erzählen weiß. In der Technik, aus diesem leeren und selbstmächtigem Raum heraus Figuren zu entwickeln und Geschichten entstehen zu lassen, zeigt sich die Fähigkeit des argentinischen Kinos, zusätzlich die reziproke Verbindung von Bewegung und Raum zu inszenieren. Die Leere, inszenierbar als materielles und eigenständiges Objekt der Kamera oder zusätzlich als setting einer Handlung, füllt sich in gleichem Maße, wie Bewegung vollzogen wird, mit Leben und Bedeutung; in der Fiktion der erzählten Handlung ist es gleichzeitig die Leere selbst, die die Figuren zwingt, sich in Bewegung zu setzen. Diese Bewegung ist daher im argentinischen Roadmovie mehr noch als im US-amerikanischen Roadmovie eine an Zufälligkeiten geknüpfte. Eher selten entwirft das argentinische Roadmovie eine Handlung, die von ernsthaften und folgenreichen Grenzüberschreitungen ausgelöst und von der Etablierung klar voneinander abgegrenzter semantisierter Teilräume, wie Stadt – Land oder Straße – Dorf strukturiert ist. Das US-amerikanische Roadmovie ist an der Handlungsbildung durch derartige Grenzüberschreitungen viel mehr interessiert, da oft ein Verbrechen – also eine Grenzüberschreitung sozialer Normen – den Auslöser für die Wanderbewegungen der US-amerikanischen Roadmovie-Helden bildet.9 Die Handlung des Roadmovies, das in
8 9
Ebd., S. 217. Zu der Semantisierung von Räumen in der Literatur und der Bedeutung der Grenze siehe Lotman, Jurij: Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973; nach Lotman entsteht Handlung, das von ihm so be-
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Patagonien gedreht wird, entsteht viel eher durch die Bewegung der Figuren auf der Straße selbst, einer Bewegung, die einem Vektor auf einer Landkarte gleicht; sie richtet sich auf ein Ziel, auch wenn dieses oft zugunsten der Reise selbst ins Hintertreffen gerät.10 Die Stadt, die als Gegenraum zu der Leere jenseits der Grenze etabliert werden könnte, kommt in einigen Filmen beinahe gar nicht zur Darstellung. San Julián in Historias mínimas gewinnt kein Gesicht, und der Sommerfrische-Ort Mar de Ajo erscheint in Un mundo menos peor als ein relativ unverbundenes Ensemble einiger Häuser. Die Straße stellt stattdessen als dominantes Moment der Landschaft sowohl die unbewegliche Infrastruktur bereit, auf der Bewegung erst entstehen kann, als auch ein Element der Umgebung dar, das durch Funktionalität und Durchgangscharakter definiert ist.11 Jede Bewegung verdankt sich
nannte ‚Sujet‘, im literarischen Text durch eine Grenzüberschreitung einer beweglichen Figur, die von einem zuvor etablierten Teilraum in einen anderen versetzt wird; er bringt das Beispiel des Märchens, in dem es den Raum des dunklen Waldes und den des sicheren Dorfes gibt: Nur der Held der Geschichte ist in der Lage, diese Grenze zu überwinden und so die Handlung auszulösen. Zum Film als lesbarem Text: Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien. Mit einer Einführung in Multimedia (erweiterte Neuausgabe), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009. 10 Nach Lotman bildet sich Sujet, wenn eine vorher etablierte Grenze überschritten wird. Die Straße könnte als eine Grenze gefasst werden, da sie die Landschaft durchschneidet und zwei voneinander unabhängige Teilräume schafft. Im Roadmovie bewegen sich die Figuren aber meist auf genau dieser Grenze und überschreiten sie nicht; ebenso wenig werden den durch sie entstandenen Teilräumen bedeutungstragende Eigenschaften zugeordnet. Lotman beschreibt aber die Wirkung eines auf einer Landkarte eingezeichneten Pfeils als sujetbildend. Diese Form der Sujetbildung scheint analog zur Bewegung im argentinischen Roadmovie zu sein; vgl. dazu Lotman 1973, siehe Anm. 9, S. 327-361; zur Straße als Grenze vgl. auch Seitter, Walter: Die Strasse, in: ders.: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar: VDG 2002, S. 125-143, S. 134. 11 Zu dem Gedanken, dass jeder Bewegung eine unbewegliche Infrastruktur zugrunde liegt: Latour, Bruno: Les moteurs immobiles de la mobilité, in: Flonne-
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einer unbeweglichen Grundlage. In Argentinien, wo Roadmovie und Reisefilm von der Topografie quasi vorgegeben werden, ist die Wüste oft Schauplatz der Filme, sie ist Ausgangs- oder Endpunkt der Handlung; dabei interessiert die Regisseure nicht selten eine Stelle, an der die bereitgestellte Infrastruktur versagt, die Straße plötzlich endet, und der Protagonist in eine Baugrube fällt (vgl. Mundo Grua/Welt der Kräne, Pablo Trapero 1999; El viento se llevó lo que/Das letzte Kino der Welt, Alejandro Agresti 1998). Damit wird auf die normalerweise nicht wahrgenommene materielle Grundlage verwiesen, auf der die Fortbewegung erfolgt. Die Straße dient eigentlich lediglich dazu, von A nach B zu kommen, und verfügt über keinen Selbstzweck, aber der Film lässt sie bisweilen auf sich selbst verweisen und rückt sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit.12 Das ist auch insofern interessant, da die Straße als Durchgangsraum den Prototyp eines Nicht-Ortes darstellt, der durch genau diese Eigenschaften − die Funktionalität und den Durchgangscharakter − gekennzeichnet ist.13 Die Straße strukturiert die leere Landschaft, aber sie kerbt sie nicht ein, weil sie ein Nicht-Ort ist.14 Sie ist nicht als Ort der Begegnung geplant, aber genau das wird sie plötzlich im
au, Mathieu; Guigueno, Vincent (Hg.): De l´histoire des transports à l´histoire de la mobilité?, Rennes: Presses Universitaires 2009, S. 7-10; auch Walter Seitter, der die verschiedenen Schichten der Straße untersucht: Seitter 2002, siehe Anm. 10, S. 125-143, bes. S. 135-143. 12 Zur Straße als Grundlage und Element der Beschleunigung durch Verkürzung der Wegstrecke und Verbesserung des materiellen Untergrundes vgl. Virilio, Paul: Fahren, Fahren, Fahren, Berlin: Merve 1978. 13 Zum Highway vgl. Schlögel, Karl: American Space. Die Poesie des Highway, in: ders.: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Hanser 2003, S. 379-292. 14 Zum Nicht-Ort Augé 1992, siehe Anm. 2; zu glatten Räumen wie der Wüste und gekerbten Räumen siehe: Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Das Glatte und das Gekerbte, in: dies.: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1992, S. 658-694. Die dimensionale Ausbreitung der Bewegung ist danach dem Gekerbten zugeordnet, während die nomadische Linie im Glatten dominiert. Don Justo erschließt sich den Raum haptisch, er wandert zu Fuß los und niemand weiß, ob er je im 300 km entfernten San Julián ankommen wird. Aus dieser Perspektive scheint es eine Analogie zu geben zwischen glattem Raum/Wüste und Leinwand. Die Figuren schreiben sich und ihre Geschichten quasi in den glatten Raum ein.
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Roadmovie. So zeigt der Film sie wieder in ihrer ursprünglichen Funktion als materielle Grundlage zur Übermittlung von Informationen, Gütern und Menschen, als wahres Kommunikationsmittel.15
N ICHT -O RT
UND
R OADMOVIE
Marc Augé entwickelt ein Konzept von zwei verschiedenen Ortstypen, da ihm im Gegensatz zu de Certeau der Ort als ein konkreterer Untersuchungsgegenstand erscheint als der Raum. Bei Augé ist der Gedächtnisort oder anthropologische Ort durch Ereignisse und Relationen charakterisiert und emotional besetzt, er hat eine Geschichte und entwickelt individuelle Beziehungen; der Nicht-Ort hingegen ist ein Konstrukt, das von der übermodernen Gesellschaft hervorgebracht wurde und durch seinen rein funktionalen Charakter definiert ist. Nicht-Orte zeichnen sich durch Geschichtslosigkeit und mangelnde Relationen aus; als räumlicher Ausdruck der von Augé so benannten Übermoderne mit ihrer Anhäufung von Ereignissen und Sinnstrukturen sind Nicht-Orte Durchgangsräume, die keine Individualität zulassen – Autobahnen, die nur dazu da sind, jeden beliebigen Fahrer von A nach B zu bringen, Flughäfen, die Passagiere in Flugzeuge unterschiedlicher Destination schleusen und abtransportieren lassen, große Kaufhäuser, Autobahnraststätten, Tankstellen. Nicht-Orte lagern sich gerne an Durchgangsstraßen an und weisen große Parkflächen auf. Alles ist darauf ausgerichtet, möglichst schnell wieder fortzukommen. Augé etabliert Nicht-Orte in Opposition zu anthropologischen Orten, also geschichtsträchtigen Orten; dieser Gegensatz ist inzwischen auch von ihm selbst modifiziert worden. Moderne Einkaufszentren nämlich, die in einem Gebäude unterschiedliche Geschäfte beherbergen, scheinen oberflächlich schon wieder von dem Nicht-Ort-Image fortzustreben: Zwar bieten auch sie große Parkhäuser und lagern sich an Ausfallstraßen an, und eigentlich sind sie auch gesichts- und geschichtslose Orte, aber sie nehmen Cafés und Sitzecken in ihre Struktur auf, sodass dem Kunden die Möglichkeit des Verweilens nahegelegt wird – natürlich nur, um sich nach einer Pause durch weitere Geschäfte schleusen
15 Marshall McLuhan fasst die Straße als eines der älteren Medien auf; Walter Seitter folgt ihm hierin, vgl. McLuhan, Marshall: Understanding media, Corte Madera: Gingko 2003, S. 125-144; Seitter 2002, siehe Anm. 10, S. 130-132.
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zu lassen. Der Nicht-Ort scheint trotz weiterhin massenhafter Ausbreitung einen Imageverlust hinnehmen zu müssen. Die Gesichtslosigkeit wird nun maskiert, und der Nicht-Ort gibt sich als quasi-anthropologischer Ort aus, an dem die Laden- und Werbeschilder den potenziellen Kunden mit dem vertraulichen Du ansprechen. Im Roadmovie scheinen von jeher die Nicht-Orte eine relevantere Rolle in der Inszenierung von Begegnungen zu spielen als anthropologische Orte, eine Tatsache, die zunächst verwundern könnte, wenn man Nicht-Orte als Durchgangsräume im Augé’schen Sinn begreift. Aber beim Roadmovie erscheint ein Nicht-Ort schon in der Bezeichnung des Genres: die Straße. Der Highway, seine Raststätten und Tankstellen sind rein funktionale Orte, aber genau dort setzt das Roadmovie seine Geschichten an. Was dabei auffällt, ist die Tatsache, dass Augés typische Nicht-Orte – Autobahnraststätten und die Straßen selbst – im Roadmovie häufig mitnichten geleckte, rein funktionale Durchgangsräume darstellen, durch die sich Menschenmassen drängen. Im Gegenteil, sie scheinen oft ihre besten Tage hinter sich zu haben und heruntergekommene Absteigen für einige wenige Trucker zu sein.16 Mehr noch als im US-amerikanischen Roadmovie, das viel vom Rausch der Geschwindigkeit handelt und von der Freiheit, sind in Filmen, die in Patagonien spielen, die Absteigen niemals voll besetzt und lebendig, sondern immer schon in ihrer Leere zu unterscheiden von prinzipiell gut gefüllten Kaufhäusern oder zu Verstopfung neigenden Highways. Die übermodernen Nicht-Orte haben ihre Funktion also zum Zeitpunkt, an dem sie Kulisse des Roadmovies werden, schon teilweise eingebüßt. Da sie sich aber noch in Gebrauch befinden, stellt sich die Frage, ob es sich bei ihnen überhaupt noch um Nicht-Orte handelt. Karl Schlögel schlägt dazu die Differenzierung heißer und kalter Nicht-Orte vor.17 Er unterscheidet Orte aufgrund des Aggregatzustandes ihrer Energie, der Frage also, ob und wie viel Energie
16 Auch hier zeigt sich die Verwandtschaft des Roadmovie zum Western, der die staubigen Absteigen und quasi toten Städte als Kulisse für Auseinandersetzungen und Begegnungen ebenfalls kennt, zur Verwandtschaft des Roadmovie und des Western vgl. auch Grob, Norbert; Klein, Thomas: Das wahre Leben ist anderswo … Road Movies als Genre des Aufbruchs, in: dies. (Hg.): Road Movies, Mainz: Ventil 2006, S. 8-20, bes. S. 10f. 17 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Hanser 2003.
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an ihnen fließt. Dabei richtet sich diese hauptsächlich nach der Anzahl der Menschen, die sich an diesen Orten bewegen. So ermöglicht er die Unterscheidung heißer Nicht-Orte (wie Flughäfen und Einkaufszentren) von kühlen, an denen nicht viel los ist, auch wenn sie der Klassifikation nach NichtOrte sind: „Der Nichtort lebt von der Hitze, von der Energie, und er hört auf zu existieren genau in dem Augenblick, da die Energie verschwunden ist. Der Nichtort ist dann buchstäblich Nicht-Ort: Leere, Wüste, Brache − vielleicht von einer Neonröhre beleuchtet oder von einem Hinweisschild geziert“.18
Nach Schlögel können Orte demnach erkalten, wenn sie ihrer Funktion beraubt und verlassen werden, und sie können wieder erhitzt werden, wenn man sie wieder in Gebrauch nimmt. Die frühen Schriften Augés beschreiben als Nicht-Ort fast ausschließlich die heiße Variante, Indizien einer übermodernen Gesellschaft, die in Anonymität und Funktionalität ihren progressiven Charakter feiert. Ein leerer Raum ohne Energie aber, eine von Schlögel beschriebene Wüste oder Brache, wäre ein Nicht-Ort im Endstadium. Dieser ist mit Wolfram Nitsch als terrain vague zu fassen, als ein Ort, der als Nicht-Ort geplant war, aber seiner Funktion inzwischen beraubt ist: eine Leerstelle im städtischen Plan.19 Verlassene Lagerhallen, abgerissene Häuser oder nicht mehr funktionsfähige Bahnhöfe stellen städtische terrain vagues dar; auch diese ehemaligen Nicht-Orte kommen im Film zu ehren: Sie dienen dem Gangsterfilm als Kulisse, da es zum städtischen Gangster und seinen Untergrund-Aktionen passt, Strukturen der Stadt zu gebrauchen, derer die Stadt sich nicht mehr recht erinnert. Der Nicht-Ort der Roadmovies hingegen ist ein kühler, wenngleich noch nicht völlig erkalteter Nicht-Ort. Die Raststätten sind heruntergekommen und schlecht
18 Ebd., S. 299. 19 Zum terrain vague siehe Nitsch, Wolfram: Terrain vagues und Nicht-Orte. Städtische Räume in Les Ruines de Paris, in: Mahler, Andreas; Nitsch, Wolfram (Hg.): Rédas Paris, Passau: Stutz 2001, S. 31-49; Nitsch, Wolfram: Terrain vague. Zur Poetik des städtischen Zwischenraums in der französischen Moderne, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 758 (2012), S. 638-644.
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besucht, die Straßen neigen nicht gerade zur Verstopfung, an Tankstellen im Niemandsland muss man nicht warten. Dass Nicht-Orte häufig die Spielorte des Roadmovies stellen, hat visuell auch viel mit dem Blick des Autofahrers zu tun, da der Blick durch die Windschutzscheibe wenig Abwechslung kennt – die Perspektive auf die Straße verändert sich kaum – der Blick aus dem Seitenfenster aber die ständig wechselnden Orte möglicher Begegnung entdeckt: Orte, die sich an den Straßenrand anlagern, oder, besser gesagt, Nicht-Orte. Sorín arbeitet in Historias mínimas mit den Gegebenheiten vor Ort in Patagonien, um seine Geschichten zu entwickeln, Agresti hingegen wählt als Spielort für Un mundo menos peor einen Sommerfrische-Ort zur Nebensaison-Zeit, einen vorübergehend energielosen, also temporär kühlen Nicht-Ort.
K LEINSTE G ESCHICHTEN Historias mínimas erzählt und verknüpft die Geschichten dreier Personen aus dem Niemandsland irgendwo in Patagonien. Der alte, von seinem Sohn als inkontinent bezeichnete Don Justo macht sich eines Tages von seinem Stammplatz auf dem Sofa vor seinem Ladenlokal am Straßenrand auf nach San Julián, um seinen verschwundenen Hund Malacara wiederzufinden, den jemand dort gesehen haben will. In Bergschuhen und mit gestohlenem Geld wandert er zunächst die Straße entlang, bis er sich mehr oder weniger widerwillig von einer jungen Biologin mitnehmen lässt. Er braucht die Vergebung des Hundes, der ihn vor Jahren verließ, weil Malacara Zeuge eines Autounfalls wurde, bei dem Don Justo einen Überfahrenen einfach auf der Straße liegen ließ. Roberto, ein Vertreter, der ständig on the road ist und jedem seine überflüssigen Waren aufschwatzen will, ist ebenfalls auf dieser Straße – wohl der einzigen in der Gegend – nach San Julián unterwegs. Er hat eine Torte in Form eines Fußballs im Gepäck, die er für den Geburtstag eines Kindes namens René hat herstellen lassen, dessen Mutter er verehrt. Leider kommen ihm bald Zweifel, ob es sich bei René um einen Jungen oder nicht vielleicht doch um ein Mädchen mit Namen Renée handelt. Roberto, ein Freund der Improvisation, versucht nun bei jedem Stopp Helfer für die Umgestaltung der Torte zu finden, bis diese schließlich als Schildkröte genderunabhängig vermittelbar erscheint. Die dritte Reisende ist María, die in einer Hütte weit draußen an einer stillgelegten Bahnlinie
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lebt und in Abwesenheit ihres Ehemannes mit ihrem Kind den Bus nach San Julián besteigt, nachdem ihr eine Nachbarin erzählt hat, sie sei in die letzte Runde einer Gewinnshow eingeladen. Dort gibt es die verheißungsvolle Multiprocesadora zu gewinnen, von der man nie erfährt, was genau das ist, und die María, die sie letztlich gewinnt, auch gar nicht behalten kann, da ihr Haus über keinen Stromanschluss verfügt. Don Justo findet am Ende einen Hund, der Malacara sein könnte oder auch nicht, und fährt wie María mit dem Bus zurück. Während sie einen prüfenden Blick in den Spiegel wirft – ebenfalls in Form einer Schildkröte −, fasst die Kamera auch den auf der Rückbank des Busses in sich zusammengesunken Don Justo ins Bild, den Hund an seiner Seite, durch die Heckscheibe des Busses sieht man wieder die karge Landschaft. Roberto hingegen isst in einem Wutanfall wegen eines vermeintlichen Nebenbuhlers seine Torte selbst, gewinnt aber dafür nach der Aufklärung des Missverständnisses die Sicherheit, dass er nicht ungern gesehen ist in dem Laden seiner Angebeteten. Was verbindet unsere drei Protagonisten? Nicht viel. Sie kennen sich vom Sehen, weil sie aus demselben Straßendorf Fitz Roy stammen. Sie bewegen sich auf derselben Straße. Ihre Wege kreuzen sich aber immer wieder, wodurch Sorín die Verbindung herstellt, die seinen Film zu einem komplexen Ganzen werden lässt. Mit einigen rudimentären Drehbuchfragmenten und zwei Super-16-Kameras machte sich der Regisseur nach Patagonien auf, um auf der Straße Laiendarsteller für sein Projekt zu finden. Diese spielen zum großen Teil sich selbst, und die beiden einzigen professionellen Schauspieler fallen über weite Strecken kaum auf.20 Soríns Art, kleine Geschichten zu sammeln und zu präsentieren, entspricht dem selektiven Blick aus dem Seitenfenster. Historias mínimas ist ein episodischer Film. Alle Figuren bleiben irgendwie auf der Straße hängen. Eine frühe Einstellung im Film nimmt zunächst die Perspektive des Nicht-Ortes ein, sie zeigt die daran vorbeifahrenden Autos quasi aus der Perspektive des alten Don Justo, der unbeweglich vor seiner Raststätte an der Straße in Fitz Roy sitzt. Die Leere der Landschaft um einige Häuser, die mitnichten als festes Gefüge oder gar Dorf erscheinen, bildet den Ausgangspunkt des Films und einer Bewegung der Figuren in Richtung ‚Stadt‘, die im Film
20 Vgl. Pester, Nora: Filme aus Argentinien. Historias mínimas, in: Quezal Online magazin, Nr. 35 (Frühjahr 2004); http://www.quetzal-leipzig.de/rezensionfilm/historias-minimas-filme-aus-argentinien-19093.html (05.06.2013).
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beinah unsichtbar bleibt, da die Figuren sie nicht wirklich betreten. Wir sehen von San Julián nur eine Straßenecke und einen Laden, ein Motel und das Filmstudio – in dem eine erbärmlich schlechte Gewinnshow produziert wird – wieder eine Ansammlung von Nicht-Orten, die San Julián genauso gesichtslos erscheinen lassen wie das Dorf Fitz Roy. Lebendig erscheint lediglich die Straße, auf der die Figuren sich fortbewegen. Diese bildet den roten Faden des Films und dient den Figuren, die sich auf ihr treffen, als Kommunikationsmedium. Die Bewegung selbst geht in Argentinien langsamer und bedächtiger vonstatten als im US-amerikanischen Roadmovie, weil die Autos meist alt und klapprig sind oder man gar mit dem Bus fahren muss. Von der in den US-amerikanischen Roadmovies viel beschworenen Freiheit ist nichts zu spüren, und auch mit Geschwindigkeitsrausch haben die Figuren wenig zu tun: Die junge Biologin Julia, die Don Justo auf der Straße aufliest, liebt gemäßigte Tempi. Deshalb erspäht sie auch im Vorüberfahren den alten Mann, der gerade dabei ist, sich den Raum im wahrsten Sinne des Wortes haptisch zu erschließen: Er wandert zu Fuß ins 500 km entfernte San Julián.21 Inmitten der Leere und der Unpersönlichkeit entwickelt sich ein erstes Gespräch zwischen den beiden, während die Biologin langsam neben Don Justo herfährt, um ihn zum Einsteigen zu bewegen. An einer Tankstelle trinken sie gemeinsam Justos Mate, Julia erzählt Justo von ihrer persönlichberuflichen Umbruchsituation, und wenig später beginnt Justo, ihr von Malacara zu erzählen. Er überwindet die Grenze zur San Julián nicht, sondern trifft am Rande der Stadt auf eine Gruppe von Straßenwarten, die in einer Baracke musizieren und feiern. Sie laden ihn ein, über Nacht zu bleiben und mit ihnen einen schönen Abend zu verbringen. So wird die Notunterkunft der arbeitenden Männer zum Ort der vertrauensvollen Begegnung und freundschaftlichen Wärme. Die im Straßendienst arbeitenden Männer, eigentlich unbedeutende Nebenfiguren ohne handlungsorientierte Funktion, werden von Firmín, dem Vorsteher, sofort mit ihren Namen vorgestellt und damit aus einer anonymisierenden Position herausgelöst, die sie nur als Elemente von argentinischem Lokalkolorit inszenieren würde. Ganz im Gegensatz zu theatralen Formen eben dieser Tradition, die das ‚einfache
21 Deleuze und Guattari zeigen als typisch für die nomadische Linie und die Bewegung im glatten Raum das Haptische in der Raumerfassung auf. Don Justo nimmt das sehr wörtlich.
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Volk‘ und seine Gebräuche, Musik und Trachten zeigt, vertreten die Figuren in dem Container nicht nur einen bestimmten gesellschaftlichen Stand, der auf eine zentrale Eigenschaft oder Funktion reduziert wird: festgelegte Typen beispielsweise wie den „Trucker“, den „Straßenwart“, den „Musiker“, den „Zigeuner“.22 Sie werden im Gegenteil sofort zum persönlichvertrauten Figureninventar und damit zum Kontrapunkt eines zunächst unwirtlichen und unpersönlichen Ortes. Von außen ein schäbiger Container im Niemandsland zwischen Land und Stadtgrenze erweist sich der Schlafund Aufenthaltsort der Straßenangestellten innen als Schlaraffenland mit Unmengen von gegrilltem Fleisch, mit Wein im Überfluss, Musik und wärmendem Feuerschein. Die Figuren selbst nehmen Don Justo sofort in ihre Mitte auf. Hier vertraut Don Justo dem Vorsteher Firmín seine Schuld am Tod eines Fußgängers an, den er aufgrund seiner altersbedingten Kurzsichtigkeit übersehen hat, und seine Bemühungen, nun Malacara zur Rückkehr zu bewegen, der ihn am Tag nach dem Unfall vor drei Jahren verlassen hat. Die Halle erweist sich als intimer Ort, als Wohnzimmer, der unbekannte Firmín als verschwiegener und solidarischer Freund. Das Gespräch über die Schuld erleichtert den alten Mann bereits, und als er am nächsten Tag von Firmín zu einem kleinen Haus am Meer gebracht wird, ist es nicht mehr entscheidend, ob der Hund, den er dort bekommt, tatsächlich Malacara, oder doch ein anderer Hund namens Rata ist. Don Justo sieht in der Anwesenheit des Hundes die Möglichkeit, Vergebung zu erhalten, und so hat sich sein Weg gelohnt. In San Julián erfolgt eine ähnliche Transformation eines unpersönlichen Ortes: Die Straßenecke, an der sich der Laden der von Roberto verehrten Witwe befindet, wird zum Ort einer innigen Begegnung und einer verheißungsvollen Zukunft. Roberto erfährt in einem kurzen Gespräch, dass der
22 Zum Costumbrismo als Gattung in Spanien: Gumbrecht, Hans Ulrich; Sánchez, Juan-José: Der Misanthrop, die Tänzerin und der Ohrensessel. Über die Gattung Costumbrismo und die Beziehungen zwischen Gesellschaft, Wissen und Diskurs in Spanien von 1805 bis 1851, in: Link, Jürgen; Wülfing, Wulf (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Sprache und Geschichte, Bd. 9, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 15-62; Wenzl, Stefanie: Der costumbrismo als Selbstvergewisserung in Antwort auf Fremdprojektionen, München: GRIN 2007.
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angebliche Nebenbuhler nur der Bruder der Frau war, und wird von ihr aufgefordert, wiederzukommen. Er solle auch ihren Geburtstag nicht vergessen, nachdem er sich sogar an den des Kindes erinnert habe. Während die Frau ihm verlegen lächelnd nachsieht, verlässt Roberto sehr erleichtert den Laden und fährt wieder in die Leere. San Julián, die nicht gesehene Stadt erscheint zwar personifiziert auf einem Schild auf einer Düne jenseits der Stadtgrenze („San Julián te espera“/San Julián wartet auf Dich), aber da fährt Roberto schon wieder zurück ins Nichts, und der Wegweiser erscheint wie ein leerer Hinweis auf einer Landkarte. Der Highway hat den „Gedächtnisort“ schon wieder geschluckt, und das Schild wird von Roberto als eine Metapher für die geliebte Frau gelesen, als er lächelnd und „Strangers in the Night“ singend María übersieht, die auf den Bus nach Fitz Roy wartet. Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen, vor allem aber den Gedächtnisort. Vielleicht bekommt San Julián deshalb kein Gesicht. Die Stadt jenseits der Grenze steht in einem starken Gegensatz zu den Raststätten der Straße. Die Menschen im Fernsehstudio haben keine Zeit für die Fragen Marías und schleusen nur diverse Komparsen und Visagisten durch die Gänge. In einem Restaurant ist im Gegensatz zu den Gaststätten an der Straße einiges los, die Leute werden am Salatbuffet vorbeigeleitet und von einem arroganten Kellner im Schnellverfahren bedient. Die Szenen in San Julián wählen wiederum nur Nicht-Orte als Schauplätze, diese aber nun in der heißen Variante. Auf der Straße außerhalb der Stadt hingegen bilden sich freundschaftliche Beziehungen heraus. An den kühlen Nichtorten ist genug Raum und Zeit für Begegnung. In der Raststätte, die Don Justos Sohn nun betreibt, ist ebenso wenig los wie in den vielen anderen, die Roberto auf seiner Reise aufsucht. All diese Nicht-Orte werden von sehr freundlichen und hilfsbereiten Menschen als quasi an den Straßenrand ausgelagerte Wohnzimmer genützt, wie das auch bei Don Justo der Fall ist, der meist auf einem großen Sofa vor der Tür der Raststätte sitzt. Die angelagerten Orte sind offen für den Reisenden, der Hilfe oder Unterhaltung sucht. Mit der Gattin eines Konditors unterhält sich Roberto über seine gescheiterte Ehe, als sie im Laden die Wartezeit überbrücken, indem sie gemeinsam eine gerade laufende Telenovela ansehen. Die Frau strickt, Roberto vertilgt einige Kekse, so als befänden sie sich nicht in einem öffentlichen, sondern einem privaten Raum. Ähnlich verhält es sich wenig später mit der Station eines Straßenwarts, der in seinem Campingstuhl am Straßenrand sitzt und gemütlich eine Pfeife raucht. Er schickt den Vorbeifahrenden, der Hilfe bei
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der Umdekorierung seiner Torte benötigt, geradewegs zu seiner Schwiegermutter. Eigentlich fragt Roberto nach einer Konditorei, aber in der Wohnung der alten Dame wird endlich die Lösung für das Tortenproblem gefunden, und der Fußball liebevoll zu einer Schildkröte umgestaltet. Roberto sieht währenddessen im Wohnzimmer fern. Geld will die alte Dame für das beeindruckende Ergebnis ihrer Bemühungen nicht, das nächste Mal soll er einfach die Torte gleich bei ihr bestellen. Strahlend küsst der erleichterte Roberto sie. Selbst in der ziemlich vollen medizinischen Versorgungsstation, in der eine ruppige Schwester die Verletzten notdürftig zusammenflickt, findet sich Zeit für Persönliches. Roberto darf die Torte vorübergehend in den Kühlschrank zu den Medikamenten stellen, und ein halb toter jugendlicher Schwerverletzter zwinkert Don Justo zu, als die Nachricht kommt, sein Sohn käme gleich vorbei, ihn abzuholen und zurück nach Fitz Roy zu bringen: „Hau ab, jetzt, wo Du gerade noch kannst“, heißt das für Don Justo, und das tut er denn auch (00:37:47). Visuell reflektiert der Film das Episodische als Erzählform ebenso wie die Bewegung und allmähliche Transformation der Figuren. Linear erzählte Episoden, beispielsweise Gespräche im Auto, dehnen den Augenblick und rücken die Gegenwart in den Fokus. Visuell entspricht ihnen der Blick nach vorne durch die Windschutzscheibe, der die Fortbewegung selbst in den Fokus rückt. Das Episodische der Gesamtstruktur des Films entspricht dem Blick aus dem Seitenfenster des fahrenden Autos.23 Die dort zu Spielstätten transformierten Orte benötigt das Roadmovie, um an Zwischenstopps Begegnungen zu inszenieren, die Grund zum Weiterfahren geben. Der Blick durch das Seitenfenster erlaubt je nach Geschwindigkeit des Vehikels nur verwischte oder flüchtige Eindrücke der Umgebung. Diese Art der Wahrnehmung wird nach dem Massenmedium des 19. Jahrhunderts panoramatisch genannt;24 sie ist auch für die Wahrnehmung des Zugreisenden festgestellt worden, der aufgrund des als flach empfundenen Bildes auf dem Zug-
23 Glombitza 2003, siehe Anm. 2. 24 Zum panoramatischen Blick aus dem fahrenden Objekt: Schivelbusch, Wolfgang: Das panoramatische Reisen, in: ders.: Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt a. M.: Fischer 2000, S. 51-66; sowie zum Panorama als Massenmedium: Sternberger, Dolf: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Hamburg: Goverts 1938.
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fenster den Eindruck einer verringerten Tiefenschärfe der Welt empfängt. Durch das beschleunigte Vorbeiziehen der Bilder erinnert der Blick durch das Seitenfenster auch an durch den Projektor laufende Filmstreifen. Es ist der flüchtige, episodisch angelegte Blick durch das Seitenfenster, der den selektiven Blick des Auteur-Regisseurs und die in Montage zusammen geschnittenen Filmbilder reflektiert, die Landschaft in gerahmte Einzelelemente zerteilt. Sorín, ursprünglich Werbefilmer, präsentiert die Reisebewegungen der drei Figuren angelehnt an die Struktur der Daily Soap, in der sich die Geschichten verschiedener Protagonisten in der Montage ablösen. Die Struktur des dabei herausgekommenen Filmes Historias mínimas zeigt die Praxis des Sammelns und Improvisierens ebenso auf wie diese Anordnung und die visuelle Gestaltung der Episoden. In der Ausschnitthaftigkeit und der Verknüpfung der drei erzählten Reisen lässt Sorín auch die Schnitttechnik der Montage aufscheinen, die er seinem Film zugrunde legt.
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Auf andere Weise, aber mit ähnlicher Wirkung, arbeitet auch Alejandro Agresti in seinem Film Un mundo menos peor mit der Transformation des Spielortes von einem Nicht-Ort in einen Gedächtnisort. Beide Filme setzen auf der Straße und an Durchgangsorten mit ihren Erzählungen an, an gesichtslosen Orten. Die visuelle Umsetzung des Konzeptes, an Nicht-Orten Relationen zu entwickeln, erfolgt bei Agresti in Anlehnung an André Bazins Ausführungen zur mise en scène. Statt der Montagetechnik verwendet Agresti Schwenks, Totalen und Einstellungen, die nur langsam aus der Totalen allmählich den Raum erschließen. Die Kamera sucht und findet durch die Bewegung des Zoomens allmählich ihre Figuren, die in manchen Einstellungen auch der Zuschauer nicht sofort entdeckt.25 Der leeren Fläche in Patagonien vergleichbar ist der leere Strand und der graue Himmel des in Winterstarre befindlichen Mar de Ajo.
25 Bazin, André: Entwicklung der kinematografischen Sprache (1958), in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 2003, S. 256-274, auch Rivette, Jacques: Cinemascope. Das Zeitalter der metteurs en scène, in: ders.: Schriften fürs Kino, München: Institut Français 1990, S. 59-65.
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Mar de Ajo ist als Sommerfrischeort eine Durchgangsstation an sich: Selbstverständlich kommt der Reisende hierher, um zu zahlen und wieder davonzuziehen. Doch Un mundo menos peor spielt außerhalb der Saison, und in dieser Jahreszeit ist Mar de Ajo ein gottverlassenes Nest, in dem die Restaurants und Pensionen völlig leer sind; Agresti nützt wie Sorín den erkalteten Nicht-Ort, um seine Geschichte zu entwickeln. Diese besteht darin, dass Isabel an den Ort kommt, um ihren tot geglaubten, von der Militärdiktatur verschleppten Mann Cholo nach 20 Jahren wiederzusehen. Er hat sich als Bäcker dort niedergelassen und verdrängt mit seinen Erinnerungen an Gefangenschaft und Folter auch sein gesamtes früheres Leben. Mar de Ajo wird im Film von dem trostlosen Endpunkt einer traumatisierten Reise zu einem Ort transformiert, an dem das Unmögliche möglich ist. Und dies nicht nur für die Hauptfiguren. Auch der Lehrer Miguel ist nach dem Scheitern seiner Ehe nach Mar de Ajo gefahren, um sich neu zu orientieren und findet eine neue Liebe in Isabels und Cholos Tochter Sonia. Lalo, der von Selbstvorwürfen geplagte Ex-Pilot des Regimes findet Freunde und bei Isabel Verständnis für seinen Schmerz. Cholo wiederum entdeckt einen Weg, seine stumme Abwehrhaltung der traumatischen Vergangenheit gegenüber zu überwinden, und einen Neuanfang mit Isabel zu wagen. Sprechen ist in Un mundo menos peor von zentraler Bedeutung. Miguel befreit Isabel und Cholo aus dem Schweigen, das ihrer erneuten Begegnung im Wege steht. Dabei ist der Nicht-Ort Auslöser und Ermöglichung für die Entwicklung des Dialogs. Durch die emotionale Bindung, die im Laufe des Filmes im grauen Mar de Ajo aufgebaut wird, wandelt sich auch der NichtOrt in Un mundo menos peor zu einem Gedächtnisort. Deutlich wird der bewusste Akt der Transformation vor allem an zwei Szenen, die ihrerseits wieder in einem öffentlichen Raum, einer Gaststätte situiert sind; die eine befindet sich an der Autobahn irgendwo zwischen Buenos Aires und Mar de Ajo, die andere in Mar de Ajo selbst. In der ersten Szene befindet sich Isabel mit ihren Töchtern in einer gesichtslosen Autobahnraststätte, die – natürlich – sehr leer ist. Als ein Nicht-Ort, an dem gerade keine oder nur wenig Energie fließt, gestattet sie es Isabel, sich an die Zeit zu erinnern, als sie mit Cholo in ebendieser Gaststätte gegessen hat. Während sie den Blick durch den leeren Raum schweifen lässt, projiziert sie ihre visuellen Erinnerungen der sich durch den Raum drängenden Menschenmengen und der schmackhaften Medialunas auf ihn, evoziert gar die Gerüche, die charakte-
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ristisch für den Ort waren: „Y el olor...sigue siendo lo mismo...“ (Und der Geruch...da ist noch immer dieser Geruch...; 00:02:39). Dem Ort wird so nicht nur ein virtuelles Gesicht verliehen, das sich wiederum in Isabels Gesicht spiegelt, sondern auch ein olfaktorischer Gehalt zugesprochen, der ihn unverwechselbar erscheinen lässt und so aus seiner Anonymität herauslöst. Allein durch den Akt des „Besprechens“ des Nicht-Ortes erfolgt seine Transformation zu einem emotional besetzten Ort. Die Raststätte ist eigentlich kein romantischer Ort des Verweilens, sondern eine ungemütliche kalte Kantine; aber die Kamera und die verbalisierten Erinnerungen Isabels transformieren sie in einen Ort, der die Liebe zwischen Isabel und Cholo reflektiert und für immer mit dieser Liebe in Verbindung steht. Gleichzeitig thematisiert Isabel, dass sie selbst es ist, die dem Ort ihre Erinnerungen einspricht und ihn somit als Gedächtnisort konstituiert. So wird ein Nicht-Ort zum anthropologischen Ort. Analog dazu erfolgt die Familienzusammenführung ebenfalls in einer Gaststätte, die der zu Beginn des Filmes die Erinnerungen auslösenden Kantine vergleichbar ist. Cholo, der sich schließlich entschließt, seinen schützenden Widerstand gegen die Vergangenheit aufzugeben und mit Isabel und den Kindern einen Neuanfang zu wagen, muss dazu zunächst seine Wohnung verlassen. Er findet die drei in einem öffentlichen, ebenfalls völlig leeren Restaurant. Auch hier wählt Agresti einen kühlen Nicht-Ort, der die ideale Folie zu der emotionsgeladenen Szene darstellt. Die Energie, die hier fließt, geht dann von den Figuren aus, die sich in ihnen bewegen. Verstärkt wird diese Wirkung von der Tatsache, dass Kommunikation und Energie durch eine Fensterscheibe hindurchfließen. Cholo betritt das Lokal nicht, sondern klopft von außen an die Scheibe. Aber selbst die nonverbale Kommunikation zwischen Cholo und Isabel durch die Fensterscheibe hindurch ist ausreichend, um die Informationen zu übermitteln und ein gutes Ende herbeizuführen. Dabei erscheint die Fensterscheibe wie bei Sorín die Windschutzscheibe oder das Seitenfenster als ein rahmendes Bild, das die Figuren und den Ort wie die Kamera selbst transformiert.
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Nicht-Orte sind typisch für Roadmovies und Reisefilme. Selektiv ist der Blick, der die Geschichten wie gerahmte Bilder bei dem Blick durch das Seitenfenster präsentiert. Aber sie unterliegen einer bedeutungsvollen Transformation: Das Roadmovie verwandelt den Nicht-Ort in einen anthropologischen Ort, einen Ort, an dem Relationen entstehen, und der emotional gefüllt werden kann. Autobahnraststätten, und die Straße selbst scheinen wenig dazu angetan, zum Verweilen einzuladen und emotionale Bindungen an den Ort auszubilden. In den Filmen der argentinischen Regisseure aber ist es genau der Nicht-Ort, der Geschichten und Relationen zwischen Figuren entstehen lässt; der Durchgangsraum ist dort ein Raum, der möglicherweise so sehr zum Alltag und zur gewohnten Landschaft gehört, dass er im Sinne einer emotionalen Besetzung transformiert werden kann. So stehen in Historias mínimas Sofas am Straßenrand immer bereit, die Reisenden zum Verweilen, zum Gespräch und zum Mate einzuladen. Die Figuren in Historias mínimas leben quasi auf der Straße, sie haben ihre Wohnzimmereinrichtung an den Straßenrand verlagert und können so jederzeit mit jedem Fahrer oder Reisenden in Kontakt treten; in Un mundo menos peor sind es die Orte, die den Menschen dazu bringen, sich zu erinnern oder zu sprechen, und werden so selbst wiederum mit Erinnerungen und Emotionen aufgeladen. Soríns Bonmot über Patagonien trifft auch auf den Nicht-Ort im argentinischen Reisefilm zu: Wie ein Film, der in Patagonien spielt, fast zwangsläufig zu einem Roadmovie wird, so scheinen NichtOrte im Reisefilm oder Roadmovie fast zwangsläufig zu anthropologischen Orten transformiert zu werden und damit Begegnung, Individualität und historias erst zu ermöglichen.
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Agresti, Alejandro: Un mundo menos peor/Todo el bien del mundo/A less bad world, AR: 2004. Sorín, Carlos: Historias mínimas/Intimate stories/Minimal stories, AR: 2002. Sorín, Carlos: El perro/Bombón: Eine Geschichte aus Patagonien, AR: 2004. Sorín, Carlos: Días de pesca, AR: 2012. Trapero, Pablo: Mundo Grúa/Welt der Kräne, AR: 1999.
Networking the Landscape E-Utopian Visions for the Twentieth Century C ARLOTTA D ARÒ “I believe that in the future wires will unite the head offices of Telephone Companies in different cities and a man in one part of the country may communicate by word of mouth with another in a distant place”.1 (Alexander Graham Bell)
On March 25, 1878, just two years after his invention of the telephone, Alexander Graham Bell pictured an imminent future where people in every part of the world would communicate via a massive network of telephone wires. The telephone was in its embryonic stage, connecting only local places; yet Bell foresaw his invention – a device, a machine, a network – becoming an immaterial bridge between cities and countries, to say nothing of peoples and nations. Forced to compare the telephone to the already advanced telegraph system of his day, Bell insisted on the universality of his instrument because the immediacy of the speaking voice would obviate the need for experts translating electrical signals into meaningful words. The ease-of-use offered by the telephone, as well as the more intimate relations between users, fostered, for Bell, the hope of the diffusion of a universal –
1
Mackenzie, Catherine Dunlop: Alexander Graham Bell, the Man Who Contracted Space, Boston/New York: Houghton Mifflin Company 1928, pages 202206. Following quotations by Bell are extracts from the same letter, published by Mackenzie in 1928.
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and universalizing – technology, one based on the establishment of a reliable communications infrastructure stretching far across the Earth. Trying to sell his invention to a British company, Bell suggested the development of a centralized system linking different locations to central offices able to dispatch multiples connections. He predicted that as perfect networks of gas and water pipes were outlining the ground of contemporary cities, one day telephone wires “could be laid underground or suspended overhead, communicating by branch wire with private dwellings, Counting Houses, shops, Manufactories, etc…” Further in his letter he remarked: “I am aware that such ideas may appear to you Eutopian and out of place, for we are met together for the purpose of discussing not the future of the telephone but its present”. The British company would never reply to this letter, leaving to Bell’s own entrepreneurship the privilege of developing a telephone system in the United States. Of course, Bell’s fantastic ideas were simply describing the dawn of a revolutionary age of telecommunications. Yet, Bell made a crucial distinction: he consciously described this future as Eutopian and not Utopian. He thought that the ability to connect over long distances would create an Eutopia, a very real region of achievable happiness and good order, and not necessarily the idealized but undefined “no-where” of Utopia. This distinction reveals Bell’s belief in the possibilities of technology as social catalyst. Trust was to be placed in the idea that a better future could be realized by reforming present society from inside, by way of direct communications, and not by reinventing a newly imagined world. Bell thus concludes his letter: “By bearing in mind the great objects to be ultimately achieved, I believe that the Telegraph Company can not only secure for itself a business of the most remunerative kind but also benefit the public in a way that has never previously been attempted”.
Here was surely a kind of technological optimism. It was not, however, the isolated thoughts of an inventor; it was to help generate both ideological beliefs and fundamental research by other key modern thinkers. Along with the telephone, the Western world simultaneously went through a massive process of electrification, causing a radical and everlasting transformation of our real and imagined horizons. The worldwide and permanent installa-
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tion of cables, wires, and poles was to create a “machine in the garden”, to borrow Leo Marx’s evocative expression, an ultimate announcement of modern and mechanized societies.2 Beyond an ubiquitous – but overlooked – presence in our daily lives, this networked landscape represents the dream of a conquest of technology over nature with the transmission of sound, power, and information through infinite space. These ideas generated an utopian perspective heralding the Twentieth century. Introducing his Urban Utopias of the Twentieth Century, historian Robert Fishman identifies three urban planners, each of whom tried to advance the ideal city of the technologically-advanced twentieth century as one combining “the power and beauty of modern technology and the most enlightened ideas of social justice”: Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright and Le Corbusier.3 His book traces a parallel analysis in the work of these three planners and observes how their utopian visions combined the use of technology with an ideal of social and economic balance. Their fascination with technology was both deep and selective. Largely seen through the prism of the nineteenth century, these thinkers found that modern technology had outstripped the antiquated social order; the result was social chaos, injustice, and strife. In their ideal cities, however, technology would fill its proper role. They believed that an industrial society could be inherently harmonious, an ultimate form which, when achieved, would banish conflict and bring order and freedom, prosperity and beauty. In this paper, I will explore the way technologies of telecommunication such as telegraph, telephone and radio inhabited discourses by modernist thinkers and how the functioning of these infrastructures reflected visions for future cities, whether utopian or eutopian. I will focus particularly on three major figures – Lewis Mumford, Frank Lloyd Wright, and Le Corbusier – observing in projects designed to establish better living conditions
2
Marx, Leo: The Machine in the Garden. Technology and the Pastoral Ideal in America, New York: Oxford University Press 1964.
3
Fishman, Robert: Urban Utopias in the Twentieth Century: Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright, and Le Corbusier, Cambridge: MIT Press 1982, page 3. It is worth noting that it is Lewis Mumford, rather than the father of the Garden City movement, Ebenezer Howard, who is the focus of this paper. This choice is dictated by the extremely significant and explicit role played by telecommunications systems in Mumford’s discourse.
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different processes for the assimilation of the technological landscape. By choosing these three representative thinkers, I will also explore the tension between the American and the European avant-garde traditions: Mumford and Wright adopted regionalist principles extended to a territorial scale in seeking to make room for the individual’s initiative, as opposed to the concentrated technocratic model developed by Le Corbusier. Historian and philosopher of technology Lewis Mumford applied his optimistic belief in technological change to develop regionalist theories for urban development. He thought that the capitalist system led to a dangerous concentration of men and materials into financial centers and that the next stage of the historical process should consist in a planned distribution of urban settlements based on regionalist principles.4 Infrastructures of transportation and telecommunication were, for Mumford, the key to this “urban stretching”. Thus, the automobile offered individuals freedom of mobility, allowing people to live and work in separate areas; similarly, the telephone allowed for the establishment of long-distance connections with other individuals. More than the prevailing train and the telegraph, these new technologies, combined with sensible urban planning, would guarantee the possibility of improved living conditions, wellness, and a balanced social nucleus. If engineering telecommunication propaganda mainly celebrated the way new technologies like the telegraph and telephone represented revolutionary systems and “annihilators of space”, contracting huge distances “to the scale of local neighborhoods”, then Mumford’s discourse rather inverses that point of view.5 According to him, telecommunications would partic-
4
See Mumford, Lewis: The Fourth Migration, in: Survey Graphic 7, May 1925, and Regional Planning, 8 July 1931 (Address to Round Table on Regionalism, Institute of Public Affairs, University of Virginia); both reprinted in: Sussman, Carl (ed.): Planning the Fourth Migration: The Neglected Vision of the Regional Planning Association of America, Cambridge: MIT Press 1976, pages 55-64 and 199-208.
5
On the telecommunication engineering rhetoric and its recurrent myths see Marvin, Carolyn: Annihilating Space, Time, and Difference, in: Marvin, Carolyn: When Old Technologies Were New: Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York: Oxford University Press 1988, 191-235 and Mosco, Vincent: When Old Myth Were New, in: The Digital
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ipate in a process of distending space through an extended system of networks. Urban concentration would no longer necessarily be a model for economic production, and the neighborhood scale would cease to be the perfect condition for human communication. Mumford’s idea was even more radical and revolutionary than the telecommunications rhetoric, as economic and social models would have been transformed by the introduction of innovative technologies. As a result, the notion of “space” remained, for Mumford, a real and empirical one, as opposed to the constituted “idea of space” put forth by media discourse. For example: radio. This popular device was, for Mumford, also a “potentially a distributive and decentralizing agency”.6 Instead of continuing to support the individual in accessing public spaces in order to get news, gossip, or music, radio allowed for the audible distribution of information within a localized region, whether a home living room or a moving automobile.7 Radio broadcasting stations, like universities and museums, would represent an autonomous and local aspect of cultural life proper to specific cities. These cities, however, would also be part of a regional system offering a complete range of options for social and cultural life. Moreover, unlike other technologies belonging, for instance, to the factory system, radio expanded the American imagination regarding the potential of technology to build a better, perhaps even a perfect, future.8 Wireless power evoked a range of prophecies of a world improved through radio. For example, Douglas mentions late nineteenth-century engineer-in-chief of the British Post Office, William Preece; in 1898, at the dawn of radio development, Preece imagined that through wireless telepho-
Sublime: Myth, Power, and Cyberspace, Cambridge/London: MIT Press 2004, pages 117-140. 6
Mumford 1925/1931, see footnote 4, page 63.
7
The way new media made mobility possible in the privacy of one’s own home was later theorized by Raymond Williams and named “mobile privatization”. See Williams, Raymond: Television: technology and cultural form, London: La Fontana 1974.
8
Douglas, Susan: Amateur Operators and American Broadcasting. Shaping the Future of Radio, in: Corn, Joseph J. (ed.): Imagining Tomorrow: History, Technology, and the American Culture, Cambridge: MIT Press 1986, pages 35-57.
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ny – the first application of radio transmission – it would be possible to communicate with people from Mars, assuming there were any. In this, the translation from science fiction as the means for constructing a future reality was central. Luxembourg-American inventor Hugo Gernsback, otherwise well-known as the publisher, since 1926, of original science fiction magazine Amazing Stories, imagined an ideal society under a regime of “radiocracy”. His fascination with the power of radio developed in different ways from the very beginning of wireless technology’s diffusion; in 1922, he published a nonfiction treatise entitled Radio for All.9 However, he formally explored the idea of a perfect society based on radio power – a “radiocracy”– in the 1944 publication of a short “Christmas card” story, written while witnessing the disastrous fallout of World War II. From the Greek “Kratos” for power, we might argue that as democracy designates the power of people, radiocracy would refer to ruling power as embodied in or through radio. According to Gernsback, radio was to be a social and political catalyst leading to a peaceful balance within nations (see figure 1). “Already radio, through broadcasting, has broken down old boundaries and imaginary geographical lines. Soon, with actual power added, radio energy may be taken out of the skies for the use of all mankind. […] When this is accomplished, humanity will rise higher than ever before, while the waging of wars will be made much more difficult. Radio-electronic power will make countries more dependent upon each other than ever. It will give all peoples of the world unprecedented prosperity, consequently they will hesitate long to make war upon each other”.10
9
In 1909, Gernsback opened the world’s first radio store. By the following year, he had formed the first amateur radio society, also publishing both the Wireless Bluebook and the first book on radio broadcasting, The Wireless Telephone. See Moskowitz, Sam: Hugo Gèrnsback. Father of Science Fiction, New York: Creterion Linotyping & Printing Co. 1959, page 20.
10 Gernsback, Hugo: Radiocracy (Christmas and New Year card story for 1944), George H. Clark Radioana Collection, Archives Center, National Museum of American History, Smithsonian Institution, page 3.
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Figure 1: Christmas Card “Radiocracy”.
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Gernsback was fascinated by the omnipresence of radio waves, with their invisible but distributed range and power, imagining them as a form of energy capable one day of animating any kind of technological object. From cooking devices to flying automobiles – called “radiotronicars” – to antiburglar devices and keyholes viewers, radio would provide energy for any manner of revolutionary technological instrument. This source of power would create worldwide harmony, would protect people from injustice, holding back the potential for future war and devastation. Radiocracy was a totalizing vision for the future: radio power becoming a unifying factor between individuals and nations. These ideas were not unfamiliar to Mumford. His earliest publications, while still a high school student, were in a 1911 issue of Modern Electrics, the first popular electrical magazine in America, published by Gernsback himself.11 However, for Mumford, the world he foresaw was beyond any kind of science fiction utopianism; it was, rather, firmly rooted in the existing socio-economic and historical context. In 1926, while actively involved in the Regional Planning Association for America, Mumford contributed to the Report of the New York State Commission of Housing and Regional Planning, as well as to the experience of two community planning cities developed during the late 1920s and 1930s: Radburn in New Jersey and Sunnyside in New York.12 Regionalist principles were, for Mumford and his colleagues, realistic steps toward a necessary reform of the capitalistic
11 In particular, Mumford sent to the journal ideas for inventions like an “improved electrolytic detector”, Modern Electrics, (April 1912), 40; “a portable receiving outfit” (April 1911), page 29-30; and the “ultimate crystal set” (June 1911), page 179. See Molella, Arthur P.: Mumford in Historiographical Context, in: Hughes, Thomas; Hughes, Agatha (eds.): Lewis Mumford: Public Intellectual, New York/Oxford: Oxford University Press 1990, pages 21-42. 12 The Report of the New York State Commission of Housing and Regional Planning to Governor Alfred E. Smith, Albany: J. B Lyon Co., 7 May 1926; reprinted in Planning the Fourth Migration: The Neglected Vision of the Regional Planning Association of America, pages 145-194. Among the RPAA members, Clarence S. Stein chaired the New York State Commission, while Mumford and Benton MacKaye conducted studies for it and Henry Wright contributed the essential ideas and illustrations. Stein was also chief architect for the cities of Radburn and Sunnyside, Wright serving as co-planner.
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concentration of power and its urban degeneration. The RPAA inspired, nearly a decade later, the social programs of the Roosevelt administration’s New Deal, including the Tennessee Valley Authority and the Rural Electrification for America program. Mumford, therefore, maintained a distance from utopianism. As much as utopian ideals played a central role in his writings, Mumford nevertheless denied, somewhat paradoxically, being a utopian thinker himself.13 Mumford’s first book, 1922’s The Story of Utopias, reveals his initial interest in the human condition and its ideal organization. Near the book’s conclusion, however, Mumford introduces the term of “eutopia” – again, a better society that could justifiably be realized in the present. He believed in the betterment of society “through sound design in architecture, practical reforms in housing, and comprehensive planning on the regional level”.14 Physical change and urban design, though, would not lead to a substantially better quality of life unless accompanied by generous ideals between individuals. Mumford’s large-scale thinking, based on notions of urban decentralization and regionalism, were grounded in the need to give value to the “human scale” of buildings, cities, towns, regions and the entire nation.15 Regional planning would work, he argued, as a social vehicle between individuals; however, thanks to modern technology, this unifying process
13 Wojtowicz, Robert: Lewis Mumford and American Modernism. Eutopian Theories for Architecture and Urban Planning, Cambridge/New York: Cambridge University Press 1996, page 1. 14 Ibid. as Wojtowicz notes: “In his writings, he [Mumford] repeatedly attempted to guide the reader not toward an impossible utopia, but rather toward ‘eutopia’, the good place, brought down from the clouds and planted firmly on the ground”. 15 Segal, Howard P.: Mumford’s Alternative to the Megamachine. Critical Utopianism, Regionalism, and Decentralization, in: Hughes, Thomas; Hughes, Agatha (eds.): Lewis Mumford. Public Intellectual, New York/Oxford: Oxford University Press 1990, pages 100-109. In particular, Segal speaks about “critical utopianism” to describe Mumford’s position: “Mumford is both less ambivalent and more consistent about utopianism than he is about technology: he believes not in the possibility of genuine utopias in the sense of literally perfect societies but rather in the utility of utopias. He allows that, whether as written blueprints or as actual communities, utopias can change existing societies. I call this ‘critical utopianism’”.
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would happen without any need for dense concentration of population, nor for the furthering of inhuman conditions of life. In a different vein, Frank Lloyd Wright proposed another idealization of the American suburb, one based on the positive use of modern technologies. As for the RPAA members, Wright thought that the present urban landscape, a product of the industrial system itself, was a dangerous consequence of the capitalist regime and that planning for a new type of urban settlement would build up a healthier society based on democratic principles. From 1932 to 1958, Wright worked on Broadacre City, an urban vision founded on the idea that decentralization would hold people together in a project for a new community plan. One acre of land per person: this was the basis for an equal redistribution of goods and capital.16 The oneacre-per-person model became the driving design principle for Broadacre, itself an extended grid of urbanization connected by individual motor cars and powerful communication networks. The rapid transit made possible by the automobile defined the spatial distribution of Broadacre, a continuous system spread across the nation. If realized, Broadacre’s encounter between nature and infrastructure would have designed the technological landscape of America. What Wright called “electrical intercommunication”, was for the architect an incentive for personal exchange between people. Radio, telephone, and telegraph would contribute to the reconstruction of individual identities, directly opposed to the de-individualization of the working class driven by the capitalist system. Thus the rise of the “usonian” – the uniquely American inhabitant of this idealized structure, with his cultural, political, and social needs, becomes the standard for this new community organization.17 Public utilities and government itself would be owned by the people of Broadacre City. Surprisingly, the airplane – as used in Wright’s own age – was not part of the picture, and would be substituted by a self-contained
16 See Wright, Frank Lloyd: The Disappearing City, New York: W.F. Payson 1932; ibid.: When Democracy Builds, Chicago: University of Chicago Press 1945; ibid.: The Living City, New York: Horizon Press 1958. 17 “Birds sing for him, grass grows green for him, rain falls for him on his growing crops while wheels of standardization and money-making invention no longer turn dead against him. All turn now for his majesty, the American citizen!” Lloyd Wright 1958, see footnote 16, page 153.
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mechanical unit he argued was “sure to come”: an aerator capable of rising straight up and by reversible rotors able to travel in any given direction under radio control. Drawings of this futuristic shuttle bear similarities to science fictional machines like Gernsback’s radiotronicar (except for the source of power used by the respective flying machines). Indeed, Wright was not immune to the sensational aspects of popular visionary literature even if he was, to a degree, somewhat sentimental in his view of the ideal home and its occupant. In fact, Wright removed any collective means of transportation to restore to the citizen both temporal and spatial freedom of movement. The only fixed transport trains in Broadacre are long-distance monorails traveling at 220 miles per hour.18 So far, we have seen how Mumford and Wright’s ideas support the spirit of the unifying American nation, proposing through their urban theories a model for the political future of their country. In both cases, infrastructure serves both as the instrument for a national democratization and as a reaction to capitalist concentration of power and wealth: in short, infrastructural development is at the core of their urban eutopias. We use the prefix eu-, and not u-, in a somewhat unique sense, tied to aspects of the uniquely American context of both projects, implicated as they are in key political, social and economic conditions.19 These more-or-less visionary ideas were not just abstract projections; in fact, beyond the physical urban plans, they aimed to respond to local realities. At the same time in Europe, modern progress produced other modes of technological utopianism, in particular within the technocratic legacy of Saint-Simonian socialist ideas of the nineteenth century. According to this political thinking, industrialization and modern science would have restructured society, engaging men in useful common work and leading to a system of “true equality”. These socialist ideals are different from American
18 Lloyd Wright, Frank: Broadacre City. A New Community Plan [1935], in: Roth, Leland M. (ed.): America Builds. Source Documents in American Architecture and Planning, New York: Harper & Row 1983, page 487. 19 On the contextual specificity of American utopianism, its strong connection to rapidly advancing technological development, and related social and cultural phenomena during the late nineteenth and early twentieth century, see Segal, Howard P.: Technological Utopianism in American Culture, Syracuse: Syracuse University Press 2005.
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eutopianisms, mainly gambling on the initiative of the free individual; despite this, they share in the hope that technological change can serve as an engine for social transformation. Parallel to the American explorations of eutopia, Le Corbusier, the avant-garde Swiss-French architect, would also react to the uncontrolled growth of capitalist cities. Beginning in the 1920s with a series of plans for the rebuilding of Paris, starting with his Contemporary City for Three Million People projected in 1922, Le Corbusier would culminate his thinking in his Ville Radieuse, or Radiant City, posited in 1935 as an idealized city for modern society.20 The Radiant City was the representation of an ideal city based on the exploitation of modern technology and infrastructure. While Mumford and Wright developed a model scattered and integrated to the natural landscape, Le Corbusier brought to a fever pitch the process of urban concentration. The Radiant City would articulate his urban and political ideas, inserted as it was in its present time and context: the rise of dictatorial regimes in Europe. This model aimed to reconcile human civilization and nature through an organized distribution of glass and steel skyscrapers set in parks. People were to live in apartment blocks – called Unités – assigned on the basis of family size and need instead of economic status. Facilities would be shared equally amongst the population outside of any hierarchical order – a key reason why concentration would be the appropriate way to exploit these common goods. Le Corbusier’s first public presentation of the Radiant City was in 1930 at Brussels CIAM (International Congresses of Modern Architecture). That Congress’ topic was garden cities – the decentralized urban model proposed by Ebenezer Howard in 1898 – as opposed to urban concentration. The garden city model that served as a source of inspiration for modernist thinkers like Mumford and Wright, was otherwise for Le Corbusier a form of social degeneration:
20 Le Corbusier: The Radiant City; Elements of a Doctrine of Urbanism to Be Used as the Basis of Our Machine-Age Civilization, New York: Orion Press 1967. (The original publication is: Le Corbusier: La ville radieuse, Boulognesur-Seine: éditions de l’Architecture d’aujourd'hui 1935.) Le Corbusier presented the Contemporary City for Three Million People at the Salon d’Automne in 1922; it was his systematic first attempt to formalize his ideas on urban planning.
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“The garden city leads to individualism. In reality, to an enslaved individualism, a sterile isolation of the individual. It brings in its wake the destruction of social spirit, the downfall of collective forces; it leads to annihilation of collective will; materially, it opposes the fruitful application of scientific discoveries, it restrict comfort; by increasing the amount of time lost, it constitutes an attack upon freedom”.21
According to Le Corbusier, urban concentration favors the introduction of what he calls “communal services”. These communal services are the technological infrastructures that connect dwellers to the means of modern life: telephone, gas, electricity, and water. Vertical urban concentration allows inhabitants to exploit common networks while remaining connected, both visually and via other sensory experiences, with the natural landscape around the monolithic urban settlements. Le Corbusier argues: “I believe that the population densities of our present cities – 300 or 400, even 600 (overpopulated zones) per hectare – should be raised to 1000 by the prodigious resources of modern technique. Then communal services can be multiplied, then genuine freedom can be achieved in the hearth of family life, freedom instead of domestic slavery”.22
If Le Corbusier thought that urban planning would be crucial for the realization of his ideal society, this was not the only condition. The SwissFrench architect featured a political organization combining an ideal search for personal freedom with principles of cooperation, aspects of authoritarianism with syndicalist values. As Robert Fishman has noted, Le Corbusier begins La Ville Radieuse stating that plans for social organization “rest on individual liberty”. However, the book itself is dedicated “To Authority”.23 As a matter of fact, the political structure of his model society was established on a technocratic hierarchical system, his belief remaining that “only a government equipped with dictatorial powers could inaugurate the age of harmony”. Le Corbusier was, at that stage in his life, looking for a kind of benevolent totalitarianism, one based on a technocratic model of managing
21 Ibid., page 38. 22 Ibid. 23 Fishman 1982, see footnote 3, page 236.
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society. This was tied to his Universal Syndicalist beliefs, and thus to the impact Saint-Simonianism had on him.24 Hope invested in authoritarian systems should be considered also in relation to the particular European political context of the 1930s, and Le Corbusier’s wish to find a government capable of adopting and applying his urban plans in toto. If compared to the manner in which telecommunications corporations developed during the early twentieth century, aiming to apply universal systems leading to the constitution of sound monopolies, then Le Corbusier’s search for totalitarian structures in order to sustain the progress and achievements of modernity, proves to be somewhat insightful. However, beyond Le Corbusier’s complex relationship with political power, the Radiant City represents an alternative society very much representative of its time. Adopting a very different urban model, as compared to Mumford and Wright, Le Corbusier thought that the harmonious organization of an ideal society is based on the functioning of modern technologies, or what he named ‘communal services’; that technology would both allow and reflect the ruling order and solidify its social structure. As a concluding question, then: how may we consider the function of, and the belief in, telecommunications systems as a utopian project? Were Mumford, Wright, and even Le Corbusier somehow indebted to Alexander Graham Bell’s notion of a coming “eutopia”, a “good place”, which would be constructed not only through the phenomenal effects of telecommunication technology, but also through the materialization of these very effects into architectural and, indeed, infrastructural forms? For Wright and Le Corbusier, the first step was to posit an ideal urban arrangement – one that would, in its very layout, foster and enable a new social contract. Wright’s Broadacre City was really a kind of Jeffersonian ideal, with each plot expressing the primacy of the individual, of the citizen. Le Corbusier’s plan was that of a technocratic management of space, a result of his own residual Saint-Simonianism. Mumford and the RPAA, on
24 Le Corbusier believed in both the concentration of capital and the control of its power by a Syndicalist society. On Le Corbusier’s involvement with French Syndicalism and Saint-Simonian legacy see Frampton, Kenneth: The City of Dialectic, in: Architectural Design 39, October 1969, pages 541-543 and 545546; (reprinted in: Serenyi, Peter (ed.): Le Corbusier in Perspective, Englewood Cliffs: Prentice-Hall Inc. 1975, pages 139-143).
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the other hand, proposed no such urban entity – but they did dream on an even more colossal scale, imagining infrastructures for accelerating the decentralization of urban populations into cities, towns, villages, and hamlets, all connected by power grids and resource networks. What unites these three modern architects and thinkers is their belief that technology could bring about the binding together of peoples. Their respective criticism of the status quo, achieved through contrasting models, depended not only on an ideal arrangement of space, but also on thinking about how technologies like the telephone could be made meaningful – that is to say, how they could equally empower the very populace that would inhabit the future city or region. At the same time, the urban form reflected the way these three planners looked at infrastructural organization. Regional systems for Mumford, free one-to-one communications for Wright, and shared services for Le Corbusier: each of these three models shapes their respective urban distribution. As much as the spatial visions proposed by Mumford, Wright, and Le Corbusier were utopian, it was in their bundling together of architecture, urbanism, infrastructure, and technology, this bringing-together of material, technical, and informational scales that was nothing less than an attempt to see human settlement as a “whole”: a unifying form to be shared by all and built for a greater good. These were three deeply modernist, eutopian projects, precisely because they sought to create a unified body politic. In this sense, they remain instructive, not least given our own contemporary phenomenon of the “splintering” of cities and of public space. This process is the result of a widespread movement toward privatization and liberalization of infrastructures. As geographers Stephen Graham and Simon Marvin have argued, we are witnessing an ongoing infrastructural division, one reserved for “high value” users, a kind of pay-to-play scenario of urban life.25 Infrastructures, then, since their first netting to nowadays’ epoch, seem to reflect different cultural, political and historical models, from their unifying utopian original role, to a less ideologized contemporary perception of them. Despite Bell’s belief, technology perhaps doesn’t provide insomuch a univocal better
25 Graham, Stephen; Marvin, Simon: Splintering Urbanism: Networked Infrastructures, Technological Mobilities and the Urban Condition, London/New York: Routledge 2001.
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place to live, but rather a frame for interpreting the evolution of time and society.
F IGURE Hugo Gernsback, Radiocracy (Christmas and New Year card story for 1944). Cover. George H. Clark Radioana Collection, Archives Center, National Museum of American History, Smithsonian Institution.
B IBLIOGRAPHY Douglas, Susan: Amateur Operators and American Broadcasting. Shaping the Future of Radio, in: Corn, Joseph J. (ed.): Imagining Tomorrow. History, Technology, and the American Culture, Cambridge, Mass.: MIT Press 1986, pages 35-57. Frampton, Kenneth: The City of Dialectic, in: Architectural Design 39 (October 1969), pages 541-543, 545-546; (reprinted in: Serenyi, Peter (ed.): Le Corbusier in Perspective, Englewood Cliffs: Prentice-Hall Inc. 1975, pages 139-143.) Fishman, Robert: Urban Utopias in the Twentieth Century. Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright, and Le Corbusier, Cambridge, Mass.: MIT Press 1982. Gernsback, Hugo: Radiocracy (Christmas and New Year card story for 1944), George H. Clark Radioana Collection, Archives Center, National Museum of American History, Smithsonian Institution. Graham, Stephen; Marvin, Simon: Splintering Urbanism. Networked Infrastructures, Technological Mobilities and the Urban Condition, London/New York: Routledge 2001. Le Corbusier: The Radiant City; Elements of a Doctrine of Urbanism to Be Used as the Basis of Our Machine-Age Civilization, New York: Orion Press 1967. Le Corbusier: La ville radieuse, Boulogne-sur-Seine: éditions de l’Architecture d’aujourd'hui 1935. Mackenzie, Catherine Dunlop: Alexander Graham Bell, the Man Who Contracted Space, Boston/New York: Houghton Mifflin Company 1928.
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Marvin, Carolyn: Annihilating Space, Time, and Difference, in: Marvin, Carolyn: When Old Technologies Were New. Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York: Oxford University Press 1988, pages 191-235. Marx, Leo: The Machine in the Garden. Technology and the Pastoral Ideal in America, New York: Oxford University Press 1964. Molella, Arthur P.: Mumford in Historiographical Context, in: Hughes, Thomas; Hughes, Agatha (eds.): Lewis Mumford. Public Intellectual, New York/Oxford: Oxford University Press 1990, pages 21-42. Mosco, Vincent: When Old Myth Were New, in: ders.: The Digital Sublime. Myth, Power, and Cyberspace, Cambridge/London: MIT Press 2004, pages 117-140. Moskowitz, Sam: Hugo Gèrnsbac. Father of Science Fiction, New York: Creterion Linotyping & Printing Co. 1959. Mumford, Lewis: The Fourth Migration, in: Survey Graphic 7 (May 1925), pages 130-133. Segal, Howard P.: Mumford’s Alternative to the Megamachine. Critical Utopianism, Regionalism, and Decentralization, in: Hughes, Thomas; Hughes, Agatha (eds.): Lewis Mumford. Public Intellectual, New York/Oxford: Oxford University Press 1990, pages 100-109. Segal, Howard P.: Technological Utopianism in American Culture, Syracuse: Syracuse University Press 2005. Serenyi, Peter (ed.): Le Corbusier in Perspective, Englewood Cliffs: Prentice-Hall Inc. 1975, pages 139-143. Sussman, Carl (ed.): Planning the Fourth Migration. The Neglected Vision of the Regional Planning Association of America, Cambridge: MIT Press 1976. Williams, Raymond: Television: Technology and Cultural Form, London: La Fontana, 1974. Wojtowicz, Robert: Lewis Mumford and American Modernism. Eutopian Theories for Architecture and Urban Planning, Cambridge/New York: Cambridge University Press 1996. Wright, Frank Lloyd: The Disappearing City, New York: W.F. Payson 1932. Wright, Frank Lloyd: When Democracy Builds, Chicago: University of Chicago Press 1945. Wright, Frank Lloyd: The Living City, New York: Horizon Press 1958.
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Wright, Frank Lloyd: Broadacre City. A New Community Plan (1935), in: Roth, Leland M. (ed.): America Builds. Source Documents in American Architecture and Planning, New York: Harper & Row 1983, page 487.
Excursions in the Landscape Nancy Holt’s Audiovisual Experiments circa 19701 A LENA J. W ILLIAMS “By its novelty, a poetic image sets in motion the entire linguistic mechanism. The poetic image places us at the origin of the speaking being”.2 (Gaston Bachelard)
A series of concrete poems – Detach Here (1967), Hometown (1969), Hammond (1969), Untitled (Disconsolate) (ca. 1970), The World Through a Circle (ca. 1970) – constitutes an unusual beginning for an artist known primarily for her work in shaping landscapes, views, and public spaces. But perhaps it is not so unusual, considering Nancy Holt’s own admission that the sixties were perhaps the “null” years of her art production, the period in which she searched for bearings during the heady years of Conceptualist practice. And yet, what one can trace back to this period, in which “nothing” took place, is active research, reading, thinking, rethinking, and most significantly, conversation, all of which influenced the trajectory of her later work and played a constitutional role in a range of projects we might
1
A previous, unabridged version of this text was published as: Williams, Alena J.: Concrete Traces. Nancy Holt’s Speaking Media, in: Williams, Alena J.: Nancy Holt. Sightlines, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2011, pages 183-202. © 2011 by Alena J. Williams. Published by the University of California Press. Used with permission.
2
Bachelard, Gaston: The Poetics of Space, Boston: Beacon Press 1994, page xxiii.
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provisionally call time-based media. Holt’s refusal to articulate statements in the form of a physical work of art in those early years situated speech and open-ended forms of written communication as her most viable means of entering into any kind of field of production. Although there is an emphasis in this essay on a notion of media, my use of this term is by no means restricted to a conventional understanding of mass communication. Rather, I am interested in the diverse modes of communicative address Holt carried out in the form of written texts, audio, film, video, photography, and even site-specific sculpture and installation. By way of a range of technical media, like the typewriter in the creation of concrete poems, the audiotape recorder for the playback of her voice, and the video camera, Holt negotiated around this impasse of non-production through an exploration of language. Her engagement with language in relation to both natural and built landscapes situated her work at the fulcrum between the early Minimalist imperatives of Carl Andre and Robert Morris, on the one hand, and to the materials, temporality, and processes found in the Postminimalist work of Robert Smithson and Eva Hesse, on the other.
T HE R ELUCTANT C ONCEPTUALIST When Holt first started composing her poems, she was working part-time as the assistant literary editor at Harper’s Bazaar. It was 1966, shortly before the publication of Fluxus artist Emmett Williams’s 1967 An Anthology of Concrete Poetry, which featured Eugen Gomringer’s poems among the work of scores of international poets who began working with language in both visual and semantic terms.3 Holt’s writing emerged directly out of this tradition, but her approach, in contrast to much of the existing examples of this poetry, was tied from the beginning to place and context. Deciphering Hometown (1969), for example, involves setting the work’s title out in relation to a cluster of proper nouns – Nutley, Hackensack, Bloomfield, Totowa, Paterson, Garfield, Lodi, Montclair, Clifton, Rutherford, and Passaic – which hover loosely at the center of a white page. Inscribed with a manual typewriter, these names of places would appear to be organized at ran-
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Williams, Emmett (ed.): An Anthology of Concrete Poetry, New York: Something Else Press 1967.
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dom if it were not for the word “CLIFTON” rendered in capital letters near the center of the page. In the absence of any kind of clear topographical grid, the mere inscription of the names stands in for geographical features, or lines denoting roads, or dots signifying that they are, indeed, centralized municipalities. The configuration was hardly useful as a standard road map but was very much in keeping with what one might call a mental picture of northeastern New Jersey. Of relevance here is that Holt was born in Worcester, Massachusetts, but had relocated once within New Jersey from Bloomfield to Clifton before she started high school, often returning to Clifton, where her parents lived until 1959. In contrast, in another poem from 1969 titled after the Hammond mapmaking company, unique series of numbers accompany each occurrence of the word “Hammond,” as it appears on eleven different lines. The recurring word is listed as one might find it in the index at the back of an atlas, where both words on a page and geographical sites serve to direct the user to particular locations. Like Hometown, ideas migrate from one conceptual realm to the next, establishing connections that can be traced from numerical notation, to map, to topographical grid, and ultimately to the landscape itself. That Holt would first cultivate her interest in geographical locations and sites through the placement of textual elements on paper was telling. Influenced by the conversation-based work of Ian Wilson, whose exhibitions offered the viewer a purely mental “object” for contemplation, she resisted embracing the full materiality and permanence of the work of art. Holt’s exploration of reproducible media did represent the continuation of a Conceptual thread in her work; however, this is not to say that she was a Conceptual artist, nor that she was strictly beholden to any particular set of aesthetic guidelines or principles that defined the movement. Rather, she was interested in the shape and constitution of the physical world and in drawing attention to its details through words. But unlike other forms of poetry with a very strong oral tradition, concrete poetry was created for visual consumption rather than for reading aloud or for being heard. Crucial then is understanding what it meant for her to “speak” – to locate, develop, and exert an authorial voice within a given field of production – at the very moment when the materiality of the work of art, and the author who deposed it, were in question. The tenets set forth in Sol LeWitt’s landmark “Sentences on Conceptual Art” identify what was actually at stake in Conceptual practice in those
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years – namely, the evidentiary status of the work of art and what it might mean for an artist like Holt to engage in that discourse. In 1969, LeWitt wrote: “Ideas alone can be works of art; they are in a chain of development that may eventually find some form. All ideas need not be made physical”.4 The modernist imperative of leaving behind definitive marks and traces, which originated from the hand of the artist in the tradition of Jackson Pollock, was – with the exception of Joseph Kosuth – renounced by Conceptualists in favor of systems of dialogic exchange and hypothetical objects brought into being through the imagination of the reader. However, assuming a definable position within that field required asserting oneself as “author” – an act that was ultimately at odds with the post-structural discourses on authorship that engulfed Conceptual art at that time. Certainly this heralded the moment when the work of the theorists Roland Barthes and Michel Foucault called into question the author’s privileged position of authority over the text. Benjamin H. D. Buchloh has suggested that the work of Conceptual artists like LeWitt resulted in a more pervasive “redistribution of author/artist functions” across the entire visual field, assisting in the decoupling of artistic practice from any conventional understanding of visuality altogether.5 While concrete poetry was by no means the strictest example of how language operated under this paradigm, it did reflect a common sensibility with regard to aesthetic reception, through its direct engagement with the reader and its suggestion that the defining and completion of the work of art as such might be carried out by anyone but the author. By privileging viewer interaction, Holt’s assembly of words on the page, her poetic “constellations” (a visual metaphor that also recurs in the materiality of her outdoor sculptural work) represented a subversion of traditional forms of aesthetic reception.6 This hints at two dominant tenden-
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LeWitt, Sol: Sentences on Conceptual Art, in: Alberro, Alexander; Stimson, Blake (ed.): Conceptual Art. A Critical Anthology, Cambridge, Mass.: MIT Press 1999, pages 106-108, page 107.
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Buchloh, Benjamin H. D.: Conceptual Art 1962–1969. From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions, in: October, No. 55 (Winter 1990), pages 105-143, page 140.
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As Gomringer writes: “The constellation is the simplest possible kind of configuration in poetry, which has for its basic unit the word; it encloses a group of
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cies in her concrete poems – the first being, following Gomringer, Holt’s crucial moment of “finding, selecting and putting down these words” to create “‘thought-objects,’” and the second, her desire to leave “the task of association to the reader, who becomes a collaborator and, in a sense, the completer of the poem”.7 In The World Through a Circle, for example, the words “sun,” “moon,” “water,” “sky,” “earth,” and “star” typographically render the outer contours of a circle; the very process of reading organizes one’s gaze around an aperture that is “[c]oncentrated, encompassed,” encapsulating a view.8 The spatial organization of these words on paper, and the movement between them, signifies the reader’s active role in their completion.9 At times, the invitation to complete the work was more overt in works like Detach Here and Crossword Work (1966), which make use of
words as if it were drawing stars together to form a cluster”. Gomringer, Eugen: From Line to Constellation (1954), in: Solt, Mary Ellen (ed.): Concrete Poetry. A World View, trans. Mike Weaver, Bloomington/London: Indiana University Press 1968, page 67. Reprinted from Eugen Gomringer: From line to constellation, trans. Mike Weaver, in: Image (November/December 1964), Special Issue: Kinetic Art: Concrete Poetry (London: Kingsland Prospect Press, 1964), pages 12-13. 7
Gomringer, Eugen: as quoted in Williams, Emmett (ed.): An Anthology of Concrete Poetry, New York: Something Else Press 1967, unpaginated.
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This poem was later exhibited at the “Language III” show at the Virginia Dwan Gallery in New York in 1969, and eventually submitted as a contribution to a catalogue for a Sol LeWitt exhibition at the Wadsworth Atheneum Museum of Art in Hartford, Connecticut; however, this section of the publication, for which responses from numerous artists were solicited, was never published by the Wadsworth Atheneum.
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Empty holes and voids were fraught terms in the late 1960s and early 1970s – think of Mary Miss’s sequence of disappearing concentric circles cut out of wood bulwarks in Battery Park Landfill (1973), or even Smithson’s discussion of Lewis Carroll’s void map in The Hunting of the Snark and Jo Baer’s “empty” paintings in the essay “A Museum of Language in the Vicinity of Art” (1968) or Smithson’s consideration of “false windows (frames)” in the text “Some Void Thoughts on Museums” (1967). Both of Smithson’s texts are reprinted in Flam, Jack: Robert Smithson. The Collected Writings, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1996, pages 41-42, pages 78-94.
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the modernist grid while departing from its rubric. The former – a poem with the instructions “Detach Here” emblazoned in capital letters around a square rendered with dotted lines – proposes a gap or void in the perceptual field; to complete the work would bring about its absence, leaving behind the mere trace of an action. The latter – an actual crossword puzzle, based on Lucy Lippard’s 1966 “Eccentric Abstraction” exhibition at the Fischbach Gallery in New York – introduces connections between artists and Holt’s own social field through linguistic channels of identification and naming.
P ATTERNS
OF
R EFERENCE
AND
AUTHORIAL T RACES
In the late 1960s, what could or could not be accomplished in language, and by whom, must have meant very different things to Holt and to a poet and Minimalist sculptor like Carl Andre. In Holt’s personal archive, copies of her concrete poems and text collages sent to Andre can be found, as well as Andre’s whimsical notes, drawings, and poems on tourist and announcement postcards to both Holt and Smithson. It includes serial photographic narratives, like an eleven-part work by Andre entitled “The Lily-Tulip Cup Case,” which he sent to Holt on eleven nearly consecutive days in 1974. Andre’s investment in the material possibilities of the written word, from his exploitation of the manual typewriter’s graphic register in the alignment of letters to the use of different colored inks, demonstrated the semiotic arbitrariness of the sign as well as its optical nature.10 To be sure, Holt was finding her own voice through critical reflection – reading the work of such writers as T. S. Eliot, Gaston Bachelard, and Carl Jung and discussing it with her peers. But a level of cynicism can be read in a sentence Andre jotted down on a wine list during one of their frequent talks in the art bar at Max’s Kansas City: “Poetry is composed by those who believe they can accomplish nothing else in language,” suggesting that poetry is the ideal form of communication when all other attempts fail. Certainly, Andre was not the only one to tacitly question the overwhelming
10 In his 1964 poem “In Quincy Island,” for example, he broke words down into individual letters, the most elemental unit of language, underscoring their status as graphical marks prone to manipulation and reorganization.
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weight of words – think of Smithson’s textual drawing A Heap of Language (1966), which organizes synonyms for “language” into the shape of a pyramid, capturing the futility of signification.11 But given that Andre’s own relationship to textual inscription, though critically overlooked until recent years,12 was very much established even by the early 1970s in exhibitions and publications dedicated to the subject, the precision with which Andre’s statement may have touched upon Holt’s period of existential actualization as a writer and artist is crucial to a consideration of the centrality of the oral and written communication in her work. Holt’s epistolary exchanges with Andre, for example, reveal not only the significance of two-way communication to her working process (a process she sought to capture through new technologies like the magnetic tape of audio and video recording) but also the possible relation of language to material form. Indeed, quite a bit can be accomplished in language, but what of the poet’s own relationship to that process? Although Holt’s interest in exploring perception did not necessarily position her project squarely within the realm of Conceptual art, her entire exploration of voice reflected two different modes of thinking. On the one hand, we have the Conceptualist, who eschewed modernist forms of aesthetic reception through an exploration of language, while on the other hand, we have the Postminimalist, who was increasingly interested in the work of art’s relationship to its environment and its process of production. Through her work, Holt sought to filter any information that might interfere with its viewers’ direct perceptions of the relationship between singular objects and their contexts. In this, she was at odds with some of the veins of Conceptual art. For example, according to Adrian Piper’s later consideration, Ian Burn of the British Art & Language group in the mid-1960s sought to “disentangle” perceptual concerns from cognitive ones through the use of numerical systems and transparent surfaces in paintings and wall objects, as
11 Richard Sieburth aptly analyzes Smithson’s own relation to language and vision in Sieburth, Richard: A Heap of Language. Robert Smithson and the American Hieroglyphics, in: Tsai, Eugenie: Robert Smithson, Los Angeles: Museum of Contemporary Art with University of California Press 2004, pages 219-223. 12 For a comprehensive examination of Carl Andre’s engagement with the written word, see James Meyer’s Introduction in Meyer, James (ed.): Cuts. Texts, 1959-2004, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005, pages 1-26.
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well as reflective surfaces.13 But Holt, rather than removing the spoken word from her works, integrated recordings of her voice into them, something she had begun doing long before she began working with the moving image. The first of Holt’s interventions, called Stone Ruin Tour, took place in June 1967. She guided a group of friends through a wooded landscape and the remains of a stone mansion in the Little Falls area of Cedar Grove, New Jersey, far removed from the institutions of New York City. What survives of the outing are a series of black-and-white photographs and an unfinished transcription of her monologue, which highlights various sites. Her words have the rhythm of basic walking directions: “As you walk on the paved road you will see a sign that says West Mount and you will see another sign in the distance – a white sign with blue letters and then on your left there is a sign Great Notch – Cedar Grove. Keep Right. Just keep walking[,] on your right will be trees, on your left Route 3 with a lot of cars going up and down. Also a Sunoco station and West’s diner to the left across the highway...”14
Although the remaining tour instructions capture only a fraction of the experience of being on-site, their syntax gives us an indication of the tour’s choreography and how the artist’s voice was constitutional to the work. Assembled alongside Instamatic photographs depicting sights and the walking party as they explore the stone ruin, these material traces reorganize Holt’s “author/artist functions” as a series of snapshots and typewritten notes, which have a much more proximal relation to the problems of the ar-
13 See Piper, Adrian: Ian Burn’s Conceptualism, in: Art in America (December 1997), pages 72-79, page 106. Burn’s own statements on language and perception include: “1 – Artists are exploring language to create access to ways of seeing,” and “3 – Language reduces the role of perception and brings into use new material, areas for ideas and processes beyond previous perceiving”. See: Burn, Ian: Dialogue, in: Alberro, Alexander; Stimson, Blake (ed.): Conceptual Art. A Critical Anthology, Cambridge, Mass.: MIT Press 1999, pages 110f., page 110. 14 Excerpt from a typewritten transcript of Stone Ruin Tour, 1967. Ink on paper, 11x8,5 inches. The Papers of Nancy Holt, Galisteo, New Mexico.
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chive than to a traditional work of art.15 Leaving the participants free to develop their own perceptions and associations, Holt’s authorial trace is almost exclusively represented by the pragmatic acts of denotation, disclosure, and indication. Language is decidedly referential for Holt, whereas for writers and poets like Andre and Smithson words were “material” and could be freely organized and combined, or they were metaphorical, at times entirely detached from reality. A comparison could be drawn here to Smithson’s Site/Nonsite dialectic, as in the discontinuity between the postindustrial landscape and its representation within institutions via the slide lecture of Hotel Palenque (1969), for example, or the systems of distribution through art journalism in Monuments of Passaic (1967) that represents a similar interplay between textual and photographic documents. However, those texts were resolutely monologic: the “I” of the Monuments’ firstperson narrative – which suggests a definitive and primary point of view – was exactly what the implied “you” of Holt’s communication of directions or gestures in the landscape emphasized, breaking asunder the author’s hold on the work of art and the text. By 1969 the tenor of Holt’s poetic voice turned from abstraction to direct reference – a gesture that expanded her relationship to language into both natural and built space. Site specificity operated paralinguistically in her practice, representing an entirely different approach to participatory engagement than one typically encounters in Land art of this period. Holt’s Buried Poems series (1967–71), for example, a project almost entirely represented by traces – textual clues, imagery, and photographic artifacts – refers to a specific geographical site. After selecting a recipient, Holt composed a unique poem and buried it in the ground inside a thermos at a location that she associated with the person. She then prepared a booklet containing travel instructions, a series of photocopies of increasingly detailed maps of the site, photographs of the immediate environment, and information about the local flora and fauna. The “work” of the poetry consisted not just of words, but of an entire complex of correspondences between the artist, the viewer/reader, and the material object or site – thus, epitomizing
15 Ines Schaber elegantly discusses this problematic in: Schaber, Ines: The Claims She Stakes. A Reading of Nancy Holt’s Archive, in: Williams, Alena: Nancy Holt: Sightlines, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2011, pages 162-181.
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Ludwig Wittgenstein’s understanding of semantic meaning emerging not purely from intention but from its use. If the recipient of a Buried Poem chose to accept the invitation, thinking, planning, reading, traveling, looking, digging, reading again, and reflecting all became activities that constituted the work. Through something as simple as directing attention to elements in a landscape, the reader of the poem was transformed into a viewer in space.
C ONTEXTUAL R ELATIONS
AND
AUDITORY C UES
In her 1979 essay “Sculpture in the Expanded Field,” Rosalind Krauss describes the difficulty of reconciling a number of aesthetic strategies from the previous decade – strategies that were carried out in the landscape or in rooms as site-specific installations – with any notion of modernism or even conventional categories like sculpture; as she writes, “the category [of sculpture] has now been forced to cover such a heterogeneity that it is, itself, in danger of collapsing”.16 Holt’s approach to production in the early 1970s epitomized this shift away from clearly defined artistic mediums. In contrast to much Minimalist sculpture, for example, her ‘sculptural’ works were activated through perception – such that the viewer’s act of looking became a central part of what constituted the work, intensifying the phenomenological relations between the viewer and the natural environment. One early example is Missoula Ranch Locators: Vision Encompassed (1972): eight galvanized-steel cylinders, mounted on posts like telescopes, stood equidistant from one another on the eight points of the compass (N, NE, E, SE, S, SW, W, NW) on a ranch in Montana. They created a circular ring around which site visitors could orient themselves to observe different aspects of the landscape and the work itself. While other Land artists of the time re-purposed elements, like dirt, rocks, and plants as artistic media, the Missoula Ranch Locators made a much more conceptual proposition: they offered up the landscape purely as a view without any physical or aesthetic modification. When peering through the locators from inside the ring, one
16 Krauss, Rosalind: Sculpture in the Expanded Field, in: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge, Mass.: MIT Press 1986, pages 276-290, page 279.
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could survey discrete areas of the surrounding terrain; and from the outside of the ring looking in, one could see not only the landscape but also the opposing locators. Therefore, the locators effectively served a functional role when in use, bringing the viewer’s attention to the surrounding context and the visitors’ perceptual acts on site. Visitors were invited to walk from one locator to the next in order to experience the work in its entirety, an experience well captured in a short film that Holt produced on the occasion of the work’s installation. The verisimilitude of the Missoula Ranch Locators’ spatial construction to the Kaiserpanorama, a circular viewing platform for the collective reception of moving images popularized at the turn of the twentieth century, signals the work’s relevance for the history of mediated perception. In its exploitation of variable viewing positions, the locators expanded the dispositif of cinema into the realm of sculpture.17 However, in contrast to the binocular construction of the Kaiserpanorama’s stereoscopic views, which Jonathan Crary describes as having presumed an “immobile and absorbed” spectator, Missoula Ranch Locators only temporarily exclude the greater social and geographical context from view.18 They opted against completely substituting the “real” for an immersive illusion: one need not squint through the apparatus, shutting one eye and leaving the other one open; if
17 Here I am referring not only to Baudry’s writings on the “cinematic apparatus” but also to Gilles G. Deleuze’s reception of Foucault. Baudry, Jean-Louis: The Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus, in: Mast, Gerald; Cohen, Marshall; Braudy, Leo (ed.): Film Theory and Criticism. Introductory Readings, New York: Oxford University Press 1992, pages 302-312 and Deleuze, Gilles G.: What is a dispositif? (1992), in: Armstrong, T. J. (ed.): Michel Foucault. Philosopher, New York: Harvester Wheatsheaf 1992, pages 159-168. 18 Although Crary’s discussion focuses on this model of viewing as indicative of the transition from premodern forms of popular culture, principally the carnival, toward more restricted forms of spectacle reception, it is important to consider the means by which the overall design of Holt’s project refers to this model at the same time that it subverts it. Their monocularity encourages the viewer to verify the view, rather than predisposing the viewer to new methods of control. Crary, Jonathan: Géricault, the Panorama, and Sites of Reality in the Early Nineteenth Century, in: Grey Room, No. 9 (Fall 2002), pages 5-25, page 8.
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both eyes are open, the view would be bifurcated, so that one is always aware of being oriented in real time and space. Significantly, viewers would continually find themselves negotiating between two different modes of sensory knowledge while visiting the site: visual and somatic. This, coupled with the inevitable movement of the viewer from one locator to the next, meant that their experience of the work was fundamentally tied to a specific rural context and the body’s movement within it. In the same year that Missoula Ranch Locators was completed, Holt began recording her tours on audiotape so that they could be played back on demand. These included tours at Work Space at 10 Bleecker Street, Holt’s studio in the Greenwich Street loft she and Robert Smithson shared, the John Weber Gallery, Franklin Furnace, the washroom of the P.S.1 Museum in New York, to the Art Center at the University of Rhode Island. Predating the audio work of Janet Cardiff and George Bures Miller, who developed new narratives within preexisting locations, these recorded tours – some of which she referred to as Visual Sound Zones (1972–79) because they were played back on a loop on loudspeakers – offered the listener a detailed description of phenomena within a given space, and even beyond the environment beyond it through windows and doorways. Holt’s voice laid bare each outdoor location as if it were an open, living book, shaping the participant’s understanding of their own sensory experience. Departing from her early real-time monologues and descriptions of outdoor sites, which were unique and ontologically bound to the given temporal context, now Holt’s recorded or transcribed voice could be replayed, repeated, or reread. Multiple listeners could partake of the work collectively or on their own. However, this relationship to the environmental context was fragile because site specificity was indeed significant for these works as well. These audiotapes were “performative,” never to be repeated the same way, or as the same artwork, again. If these recordings were played back at a point when none of the visual cues were visible or when one or more aspects of the location had been altered in some way, they would lose their direct “sense,” or meaning by being detached from the immediate environment.
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L OCATING V OICE At the start of this essay, I discussed the implications of Holt’s formal approaches to language – namely poetry, which posit the viewer’s response to her denotative cues as the principal generative means of artistic production. The term “audiovisual” – most often employed to invoke the synchronized merging of the moving image with sound recording in film or video – takes on new meaning in her work. When Holt brings the visual and the aural registers together, these works operate very much like the viewing apparatuses of her Locators series, directing the viewer’s gaze linguistically onto visual details at a particular site – ranging from written signs, to building (infra-)structures, to artworks within a gallery. Listening to her descriptions and directions required the viewer to move around a site and visually “read” the space along with her. This interrelation of voice and image gained greater complexity in the videotapes Holt began making in the early 1970s. In tapes like Zeroing In (1973) and Going Around in Circles (1973), for example, she invited participants to comment on different views she displayed in real-time on the screen. In contrast to the ephemeral nature of her first unrecorded tours. Video enabled the artist to wed immediate visual perceptions with conversational exchange. When watching the videotapes, one sees that Holt assumed an instructive role, controlling how closely and under what conditions the images were seen. With a black board in front of the camera, she defamiliarized what would otherwise have been unimpeded, open views of two different landscapes by revealing different areas of the image through five apertures (each one staking out a different detail of the overall scene). The resulting documents, which consist of the visual recording of the view that she and the participants saw in real time and their commentary about them, represent a curious assembly of visual and rhetorical information. In Zeroing In, Holt and Ted Castle discuss the phenomena found in the urban landscape of New York City as they peer through the apertures at multistory office buildings, a large public field, and a busy four-lane avenue that cuts diagonally across the image. However, they make an effort to suspend judgment before quickly assimilating what they see to any known object or experience. Here, spoken communication plays a definitive, epistemological role, illustrating the way that discourse frames the visual. At one point, Castle reflects, “Why do we want to say that this is a building,
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and smoke? We want to imagine, I suppose, something else, because after all we are looking at nothing but a light source”. In Going Around in Circles, Bruce Kurtz’s art students at Hartwick College in Oneonta, New York, armed with scripts and walkie-talkies, follow a prearranged choreography between five positions in an open field on the campus that correspond to the views Holt has placed in front of the camera. Later, while viewing the work two different times on a monitor, the students compare their direct experience of the landscape with the camera’s abstracted view, noticing how the circle – as a kind of nucleus referring back to the camera’s lens – transforms their understanding of the footage. As they move between different locations on the inclined lawn, their apparent size changes in relation to their distance from the camera’s focal point. These off-camera discussions between Holt and her participants underscore the gap between the world and its representation, producing a complex interplay between the viewer’s space of mental contemplation, the space of communication in which perceptions are shared, and the spatial context of the site itself. The technological interventions possible in video (including the artist’s use of visual props to obscure the image and automatic, real-time feedback techniques) redefine the nature of subjectivity through the radical collision of the multiple points of view captured in the conversations on the soundtrack. This form of aesthetic reception created a simultaneous space of thought and action that is, to borrow Mikhail Bakhtin’s phrase, “heteroglossic” in nature: thoughts and the sharing of ideas, perceptions, and information are what, in fact, articulate the contexts in which these videotapes are recorded, shaping them and giving them meaning.19 This approach is exemplified in the site-specific video installation, Points of View (1974), which Holt created for the Institute for Art and Urban Resources’ Clocktower Gallery in New York. Each of the images on the four monitors corresponded to a different rooftop view of Lower Man-
19 It is worth noting that Holt’s conception of poetry fundamentally differs from that of Bakhtin’s – he described poetry as having lost its “link with concrete intentional levels of language and then with specific contexts”. Bakhtin, Mikhail: Discourse in the Novel (1935), in: Bakhtin, Mikhail: The Dialogic Imagination. Four Essays, trans. Caryl Emerson and Michael Holquist, Austin: University of Texas Press 1981, pages 259-422, page 276, page 293.
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hattan (North, South, East, and West), which related dialectically to the urban matrix outside. On the soundtrack, artists and critics, in partners of two – Richard Serra and Lucy Lippard, Liza Bear and Klaus Kertess, Carl Andre and Ruth Kligman, Bruce Boice and Tina Girouard – comment on the partial view of the landscape they see. Inside, the monitors were mounted into a rectangular structure at the center of the gallery space, with the screens facing outward, while outside, the viewer could access an outdoor walkway encircling the uppermost floors of the high-rise municipal building. Although Holt obscured these images with the same masking technique as Zeroing In and Going Around in Circles, each of the videotapes in Points of View positioned the viewer between “being there” in the gallery and on the viewing platform outside, producing a simultaneous space of technological surveillance, empirical observation, and mental reflection. “Much like the reversal that was taking place in the experimental feminist cinema of figures like Chantal Akerman in the 1970s – whereby the female subject wrests autonomy from the interiority of the work through voice-over narration – the externalized, off-screen voice found in many of Holt’s audio and video recordings asserts her authorial position, at the same time that it opens up a communication channel between a multiplicity of speakers and listeners”.20
Holt’s voice constituted and guided the tours, but these auditory cues were resolutely relational and contextual, leaving behind the barest authorial traces in the form of photographic fragments and incomplete notes. The “making” of such works, therefore, relies upon the subjective activity of the reader. This is why the process of identifying the exact nature of her “work” is not as simple as designating a set of objects or a specific site, or even a single idea in the vein of Conceptual art. Indeed, the difficulty in defining the locus of Holt’s creative endeavor stems from her active advancement of dialogic relations, which collapse the thoughts and utterances of her participants/listeners/viewers upon each other. It is a process that reflected a referential correspondence between the work – the artist’s denotation of details and the listener’s/viewer’s interpretation of them – and the
20 For a discussion of the female voice, authorship, and cinema, see Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror. The Female Voice and Psychoanalysis in Cinema. Bloomington: Indiana University Press 1988.
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environment. This tendency, which diverged from the approaches found in Land art in those early years, effaced her authorship at the same time that it offered a radically different conception of it.
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Straßen-Bilder-Verkehr Der Film Night on Earth als filmische Theorie der Wahrnehmung auf der urbanen Straße D AVID S ITTLER „We learn who we are as private individuals and public citizens by seeing ourselves reflected in images, and we learn who we can become by transporting ourselves into images“.1 (Marguerite Helmers, Charles A. Hill)
Wie das Eingangszitat verdeutlicht, fußen die folgenden Überlegungen auf der Annahme, dass soziale Identitäten niemals schlicht vorhanden sind, sondern wir diese immer wieder neu erlernen – wenn auch im Laufe des Lebens nicht mehr von Grund auf. In einem ständig zu aktualisierenden Aushandlungsprozess mit unseren Gegenübern werden durch vielfache, von unserer Umwelt beeinflusste Selbst- und Fremdzuschreibungen dynamische Selbstbilder erzeugt. Diese Bildgebung ist nicht nur sprachlicher Natur, sondern funktioniert unter urbanen Bedingungen – über Bewegungen durch symbolische und materiell gestaltete Straßenräume – wie der Film Night on Earth (1991) zeigt. Die Straßensettings, die einzelne Straßenabschnitte kennzeichnen, sind nicht nur durch Verkehrszeichen, Beschriftungen auf Schildern, Fahrzeugen und Hauswänden markiert, sondern auch mit Erinnerungen an Ereignisse oder Begegnungen verbunden, die eben hier stattge-
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Helmers, Marguerite; Hill, Charles A. (Hg.): Defining visual Rhethorics. Introduction, London: Routledge 2004, S. 1.
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funden haben, bevor diese Orte von dem Kameraauge erfasst wurden. In den von Night on Earth dargestellten Taxifahrten erproben die Protagonisten, stellvertretend für unzählige weitere Verkehrsteilnehmer, ihr Verständnis von sich selbst und ihrer Rolle in der Welt. Gleich in der ersten Episode des Films, die sich in Los Angeles abspielt, wird die Begegnung der zwei Protagonistinnen, als verkehrstechnisch ermöglichte Überschneidung zweier individueller Verkehrswege deutlich. Für die jugendliche, lässig gekleidete Taxifahrerin ist die Fahrt lediglich ein Abschnitt ihres Arbeitstages, der sich aus einer Unzahl von Fahrten auf den Straßen der Stadt zusammensetzt. Die Mitfahrerin wird zuerst gezeigt, wenn sie aus dem Flugzeug steigt und am Handy telefonierend über das Rollfeld läuft. Die elegant gekleidete Frau wird durch ihre Aussagen als Dame aus dem Filmgeschäft erkennbar, die sich auf einem Abstecher nach Hause befindet, bevor sie wieder beruflich unterwegs ist. Sie wechselt die Verkehrssphäre vom bodenfernen und verkehrsarmen Flugraum, in dem sie vermutlich nur sehr wenig interagieren musste, in den dichten Strom des Autoverkehrs auf der Straße mit all den mit einer Taxifahrt verbundenen Eindrücken. Die Zuschauer sehen die beiden Protagonistinnen der Los Angeles-Episode kurz vor ihrem Zusammentreffen am Ausgang des Terminals bezeichnenderweise gleichzeitig telefonierend. Sie äußern sogar identische Worte „ok“ oder ähnliche Floskeln wie „take it easy“ beziehungsweise „don’t worry ’bout nothing“. Nachdem beide scheinbar synchron jeweils zu sich selbst aber hörbar „shit“ gesagt und sich in dieser Situation verdutzt angeblickt haben, bietet die Taxifahrerin der anderen eine Mitfahrt an. Daraufhin stellt die Angesprochene als erstes den Status ihres Gegenübers als Taxifahrerin infrage. Der skeptische Blick der Reisenden zeigt diesen Zweifel ebenfalls an. Es bleibt aber unausgesprochen bis unklar, an welchem Aspekt der Erscheinung ihres Gegenübers überhaupt gezweifelt wurde: der geringen Körpergröße, dem jugendlichen Auftritt mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballkappe oder dem Fehlen einer uniformartigen Kleidung? Schon beim Einladen und Einsteigen werden die unterschiedlichen Bewegungstempi und -arten der beiden deutlich, da die Dame die Fahrerin zur besonderen Vorsicht mit dem Gepäck anmahnt und beim Einsteigen nicht so schnell im Fahrzeug ist, wie es die Fahrerin angenommen hatte und verfrüht versucht, die Tür zu schließen. Im Taxi verlaufen trotz gegenseitiger kommunikativer Bemühungen die Wahrnehmungen voneinander nur selten synchron. Entscheidend ist die offenkundig werdende Differenz zwischen
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Selbstbild einerseits und Wahrnehmung durch das Gegenüber andererseits. Die Unmöglichkeit, einander in der engen Kapsel zu ignorieren, wird über die Fahrtdauer besonders deutlich. Dies provoziert wiederum Aufmerksamkeit füreinander und stellt andererseits die Schwierigkeit heraus, welche die beiden haben, einander zu verstehen. Diese Szene macht bereits – wie auch die gesamte Gestaltung des Films – anschaulich, dass erst durch eine Synchronisierung der multiplen Wahrnehmungen verschiedener Menschen auf der Straße und den dabei aufeinandertreffenden, nicht zuletzt visuellen Signalen, deren Identitätsvorstellungen eine transsubjektive eigene und aktuelle Wirklichkeit bekommen. Der Film stellt diese im Alltag übersehenen ständig synchron verlaufenden Sichtweisen als solche anschaulich heraus. Die Zuschauenden können sich auf diese Meta-Ebene des Gezeigten konzentrieren, statt sich einfühlend auf die einzelnen Protagonisten einzulassen. Keiner der Protagonisten wird uns Zuschauenden zur Identifikation stärker nahe gelegt als ein Anderer. Aufbau und Rahmenhandlung des Films können wie folgt skizziert werden: In mehreren Episoden begleiten wir Taxikunden auf ihren scheinbar rein funktionalen Durchgangsreisen zwischen öffentlichen und privaten Orten. Die Zuschauer erleben mit, wie sich die verschiedenen Personen transportieren lassen und welche Bilder glücklicher oder unglücklicher, souveräner oder ohnmächtiger, über- oder unterlegener Menschen oder Gegenüber sie dabei vermitteln. Der filmische Blick auf die zum Teil erzwungene Interaktion, der durch das Taxi gerahmt ist, legt offen, wie die Verkehrsteilnehmer auf der Straße flüchtig und auf der Basis von erlernten Erwartungen ihre Gegenüber einschätzen und von weiteren Verkehrsteilnehmern eingeschätzt werden. Am deutlichsten wird dies an dem Kunden des römischen Taxifahrers, dem der Fahrer unterstellt, zum Vatikan zu wollen, da er wie ein Geistlicher gekleidet ist. Dieses Erfahrungswissen ist nicht ein persönliches der im Film gezeigten Beteiligten, sondern vor allem ein erworbener Bildervorrat, ein Repertoire an Stereotypen, der nicht in einem neutralen oder geschichtslosen Raum, sondern im jeweils unterschiedlich gestalteten und genutzten Stadtraum entstanden und erworben worden ist.2 Gleiches gilt auch für Ortsnamen wie „Piazza Quadrata“, von
2
Der Begriff Bildervorrat ist einerseits im Sinne einer Ikonografie aufzufassen, wie sie Erwin Panofsky und Aby Warburg Anfang des 20. Jahrhunderts zu untersuchen begannen. Andererseits ist er als Äquivalent zu Thomas Luckmanns
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der in dem Funkgespräch des Fahrers die Rede ist; eine Bezeichnung, die umgangssprachlich anstelle der offiziellen Bezeichnung in Stadtplänen benutzt wird.3 Es sind nicht nur die Bilder der Menschen, sondern auch der Straßenraum selbst wird als begehbare Ansammlung von bildhaften Konfigurationen als solcher en passant immer wieder neu hervorgebracht. Den Film und diese Analyse interessieren die Prozesse der Bildgebung und Vermittlung. Es geht um die Operationen, welche die jeweiligen Straßen und ihre Benutzer als solche ermöglichen und die im Film gezeigten materiellen Rahmenbedingungen des ‚Bilder-Verkehrs‘ auf der Straße – oder eben des ‚Straßen-Bilder-Verkehrs.‘ Durch diesen Begriff wird die ständige Bewegtheit der vor Ort evozierten, projizierten und rezipierten Bilder betont. Auch die scheinbar statischen baulichen Elemente der Straßenlandschaft sind in diesem Sinne bewegt beziehungsweise, sie sind bewegte Bilder. Denn die Infrastruktur der Straße und die Situierung durch das Taxi bestimmen diesen Vorgang des Zusammenführens von Einzelwahrnehmungen nicht nur, sondern werden zugleich von diesem Prozess in unterschiedlich wirksamem Maße verändert. Mit dem Begriff Infrastruktur ist in diesem Falle der Abstand zwischen den sich wahrnehmenden Protagonisten gemeint, der wiederum durch die Rahmungen der Straße perspektiviert wird. Die Materialität dieser Infrastruktur wird ebenso wie die Interaktionen, die sie hervorbringt, im Alltag nur zu einem sehr geringen Teil bewusst als Verkehrs- und Kommunikationsmittel wahrgenommen. Denn sie bedarf zumeist nur geringer Aufmerksamkeit und ist zudem nicht selbst Ziel der Aufmerksamkeit, so lange die intendierte Fortbewegung – in diesem Falle in zweifachem Sinne automatisch – funktioniert.4 Die Sphäre der Straße sowie der durch das Taxi umschlossene Binnenraum sind ebenso Teil der Wahrnehmungsprozesse der Protagonisten, wie die Montage des
„Wissensvorrat“ zu verstehen. Vgl. Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK 2003, S. 147-153. 3
Ein Beleg ist der folgende Blogeintrag zu diesem Thema: http://www.06blog.it/ post/2797/le-piazze-di-roma-hanno-piu-di-un-nome (05.06.2013).
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Diese Auffassung geht nicht zuletzt auf Marschall McLuhan zurück und wird von Walter Seitter treffend beschrieben. Vgl. Seitter, Walter: Physik der Medien, Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar: VDG 2002, S. 130; aber auch insgesamt der Abschnitt zu Straße als Medium, S. 125-143.
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Films von der Wahrnehmung der Zuschauenden nicht zu trennen ist. Die Fenster der Fassaden und Fahrzeuge, die Beschaffenheit der Fahrbahnoberflächen, der Straßenverlauf und die (Ver-)Kleidung der Verkehrsteilnehmer prägen als bildhaftes Ensemble auch die Erscheinung der an ihnen vorbei, durch sie hindurch oder über sie hinweg bewegten Körper. Dieser Bildgebungsprozess beginnt nicht erst durch die Anwesenheit einer Kamera, sondern existiert bereits aufgrund der Gestaltung des urbanen Straßenterrains und die dadurch gelenkten Blicke der vielen Passanten. Das filmische Zusammenführen von Blicken der Protagonisten auf der Straße und die Lenkung des Zuschauerblicks können darüber hinaus als eine zweifache Bewegung von Bildern verstanden werden, die ihren eigenen Zeit-Raum hervorbringen.5 Der Film macht deutlich, dass mithilfe der infrastrukturell vorliegenden materiellen Straßen-Konstellationen der Städte Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki ständig vorgeformte Bilder dieser Schauplätze und Vorstellungen der Protagonisten auf der Straße transportiert werden. Night on Earth spielt das Aufeinandertreffen differenter Wahrnehmungen zwischen Taxifahrern, Mitfahrenden und den dabei involvierten Straßenräumen der Städte, die sie durchfahren, anschaulich mehrfach durch. Die bereits erwähnten sowie weitere der im Folgenden untersuchten Szenenstücke werden als filmische Aussagen zu einer Theorie urbaner Wahrnehmung begriffen. Diese besagt, dass die Einführung in die jeweilige Stadt über Gemeinplätze der urbanen Straßenausstattung und strukturelle Aspekte der jeweiligen Stadtimages funktioniert, die ohne verbale Erklärung auskommt.6 Dennoch erschöpft sich die filmische Schilderung nicht in der Montage einzelner Fahrbahn- und Straßenrandmotive. Die Protagonisten und die Zuschauer können vielmehr in mehrere sich überkreuzende Bilderströme einsteigen, in Bewegungen des ‚Straßen-Bilder-Verkehrs‘, der aus einer ganzen Reihe sich in unterschiedliche Richtungen bewegender Perso-
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Vgl. Frahm, Laura: Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld: transcript 2010, S. 351 ff.
6
Ebd., S. 353. Laura Frahm spricht in Bezug auf Night on Earth davon, dass das „Generische der Städte herausgestellt [werde], indem immer wieder ähnliche räumliche Versatzstücke aufgerufen werden“. Dennoch werde an der dadurch suggerierten „Ununterscheidbarkeit“ gerade ihr jeweils „anderes Gesicht“ deutlich.
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nen und Dinge besteht. Trotz aller, durch den Straßenverlauf und den Bildrahmen kanalisierten, virtuellen Körpermitbewegungen durch die Straßenräume hindurch, wird den Zuschauern durch die Kameraperspektiven, die nicht den Blicken der Protagonisten entsprechen, Raum gelassen, ihre eigenen Erwartungen und ihren Vorrat an ‚Straßen-Bildern‘ mit einzubringen. Sie setzen so indirekt aktiv den ‚Bilder-Verkehr‘ fort. Der Film zeigt, dass sich Personen in bereits existierenden beziehungsweise an oder auf der Straße anzutreffenden ‚Straßen-Bildern‘ – im Sinne von bildhaften Szenen – wiederfinden können, dass sie in diesen Bildern andere erkennen können, oder, dass sie diese bildhaften Eindrücke als neues Bildmaterial ihres Erwartungsrepertoires registrieren. Als Verkehrsteilnehmer können die Taxifahrenden die Bilder, die sich ihnen auf der Straße zeigen, aber auch schlicht nach kurzer Erfassung ignorieren, wenn sie sie nicht für ihre Situation oder ihre Person als bedeutungsvoll auffassen. Im ‚Bilder-Verkehr‘ werden nicht nur durch häufige Reproduktion tradierte Bilder transportiert und ausgetauscht, sondern aus und mit ihnen entstehen zugleich neue oder aktualisierte Bilder, die hier ‚Straßen-Bilder‘ genannt werden. Bei ihrem Entstehen wirken aktuelle Signale, Gesten und Bewegungen auf der Fahrbahn und dem Gehsteig mit. In ihnen können sich „Vor-Bilder“7 vorangegangener ‚Er-Fahrungen‘ überlagern und schließlich selbst als stabilisierte ‚Straßen-Bilder‘ in verschiedener Form – erzählt oder als Teil des erweiterten persönlichen Bildervorrats – weiter transportiert werden. Der Film spielt mit Vorstellungsbildern und Stereotypen, wenn die Kamera Detaileigenschaften der gezeigten Personen wie beispielsweise die Größe der Sonnenbrille der Taxifahrerin in Los Angeles oder das auf ein binäres Weltbild anspielende schwarz-weiße Oberteil der Mitfahrerin hervorhebt. Durch die Kameraführung wird deutlich, dass auch die gezeigten Umgebungen der Taxis und die Beschriftung der Fahrbahn auf diese Weise mit Bedeutungen aufgeladen werden können. Die Fahrbahnbeschriftung, die als stiller warnender Appell an das Fahrverhalten der Fahrzeugführer installiert ist, wird für einen winzigen Augenblick just in dem Moment für
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Siehe zu dieser Thematik: Macho, Thomas: Vorbilder, München: Fink 2011. Macho spricht dort nicht nur von Vorbildern als normative Figur sondern, wie es hier gemeint ist vom „antizipierenden Entwurf“ und „dem Versuch einer visuellen Repräsentation von Zukunft“.
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die Filmzuschauer sicht- und lesbar, als die Fahrerin von der Planung ihres Lebensweges und von möglichen eigenen Kindern spricht: Auf der Fahrbahn folgen zufällig synchron zu diesen Aussagen die in großen Lettern aufgemalten Worte „SLOW, SCHOOL, XING“ aufeinander. Dieser Resonanzeffekt des Straßenumfeldes mit den Dialogen mag unbeabsichtigt sein, steht aber für die vielen von den Protagonisten und anderen Verkehrsteilnehmern sowie von einem Teil des Filmpublikums nicht bewusst bemerkten, potenziellen Sinnträger der Straßenlandschaft. Die reflexive Distanz dieser Szenen gelingt gerade dadurch, dass die subjektiven Blickwinkel der einzelnen Protagonisten in ihrer Widersprüchlichkeit gezeigt werden. Der Film hebt diese unterschiedlichen Perspektiven hervor; statt sie zu glätten, unterstreicht er die Erfahrung des Missverständnisses. Dem Zuschauer wird vor Augen geführt, dass die Opazität der ‚Straßen-Bilder‘, nicht erst von der filmischen Präsentation hervorgebracht wird, sondern bereits für die Straße und den dortigen ‚Bilder-Verkehr‘ kennzeichnend ist. Egal ob sich die auf der Straße reproduzierten sozialen Selbst- und Fremdbilder nun auf ein Individuum, eine Gruppe, eine Stadt oder eine ganze Gesellschaft beziehen, sie müssen erst durch Interaktion mit einer – hier urbanen – Umwelt erfahren und weiterhin ständig reproduziert werden. Selbst wenn eine Bedeutungsprojektion eine starke Wirkung entfaltet, wird sie erst durch die ständige Reproduktion in einem Bilder-Austausch stabil. In der Paris-Episode wird dies am Merkmal der dunklen Hautfarbe durchgespielt. Nachdem die ersten zwei Fahrgäste, die wie der Fahrer dunkle Haut haben, sich selbst mehrfach betont herablassend verbal von diesem abgrenzen und dabei gerade rassistische Diskurse ehemaliger weißhäutiger Kolonialherren bemühen: „Wir kommen nicht aus dem selben Dschungel“, verweist der Fahrer sie deswegen des Autos. Umso irritierter ist er, als gerade die dann folgende blinde Mitfahrerin, die seine Herkunft aufgrund der Aussprache treffsicher errät, in diesem Merkmal keinen relevanten Unterschied oder gar ein relevantes Identitätsmerkmal zu erkennen bereit ist. Trotz dieser Relativierung gibt es Inhalte und Beurteilungen, die mit verschieden hoher Wahrscheinlichkeit an den gezeigten Orten mit Blick auf sozialgeschichtlich anders markierte Gruppenangehörige auf der Straße abrufbar werden. Sie liegen in unterschiedlich starken, medialen und zugleich materiellen Formen des Gedächtnisses entlang der Straße vor. Oder sie werden als Teil des Bildervorrates der Protagonisten mitgebracht. Letzterer zeigt sich in Projektionen, die zum Teil als Einschätzung des Gegenübers verbalisiert werden. Nur zu
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einem kleinen Teil werden solche Stereotypen mit einzelnen straßenszenischen Gestaltmerkmalen verbunden und bewusst in den ‚Straßen-BilderVerkehr‘ eingebracht. Hinzu kommt, dass man mehrere Identitäten oder identitätsrelevante Rollen zugleich vertreten kann, beispielsweise die einer Taxifahrerin, einer zukünftigen Mechanikerin oder einer Jugendlichen. Als Element eines ‚Straßen-Bildes‘ treten sie stärker oder schwächer in den Vordergrund. Deutlich wird dies, wenn die Taxifahrerin aus der Los Angeles-Episode die Ermahnung der Mitfahrerin, sie rauche zu viel, mit der ironischen (Schein-) Bestätigung quittiert: „Sure Mom“. Die Anwendung der in dieser Situation inadäquaten Verwandtschaftsbezeichnung gegenüber der Fremden benennt das asymmetrische Rollenverhältnis sowie die Übertretung der Grenze zur Privatsphäre. In den Augen der Mitfahrerin ist die Formulierung so treffend, dass sie diese selbst später als Reaktion auf die guten Wünsche der Fahrerin zum Abschied zitiert. Aufmerksamkeit erregt das durch die Wahrnehmungen und die Handlungen auf der Straße erzeugte Setting der Straßenlandschaft ebenso wie bewusst als kommunikative Gesten und Signale gedachten Verhaltensweisen. In der Rom-Episode ist es sogar ein Pärchen beim Geschlechtsverkehr am Rand der Straße, das den Fahrer veranlasst anzuhalten und kurz zurückzusetzen. In diesem Fall erleben wir ein zufälliges erotisches Amüsement des Fahrers im Vorbeifahren, das zu anderen Tageszeiten von Darstellerwie Zuschauerseite als öffentliches Ärgernis vermutlich nicht zustande gekommen oder geduldet worden wäre. Die bisher thematisierten Möglichkeiten des Films, Wahrnehmungsräume des Urbanen zu eröffnen, sollen nun mit Blick auf einige der vom Film vorgeführten ‚Straßen-Bilder‘ noch genauer erläutert werden. Die konkreten Erfahrungen und ‚Straßen-Bilder‘ im Kopf der Protagonisten können – wie Night on Earth zeigt – auch geografisch automobile‚ Erfahrenheiten‘ sein. Dies wird gerade am Beispiel einer bewusst abenteuerlichen Fahrt entgegen mehrerer Einbahnstraßen deutlich. Plötzlich und unerwartet findet der Fahrer eine Wand vor der Windschutzscheibe vor. Trotz seiner Gewissheit, die Straßen für sein riskantes Spiel genau genug zu kennen und sich auf die Bilder aus seiner eingekerbten mental map verlassen zu können, stößt er hier wortwörtlich an eine Grenze. Die Windschutzscheibe wird zwar nicht schwarz, aber sie sendet kein weiterführendes Bild mehr. Eine solche Störung der Routine des Fahrers macht gerade den Reiz
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des Spiels aus, dessen Zeuge das Publikum wird. An diesem Nichtfunktionieren der bildhaften Orientierung wird besonders deutlich, dass Straßenbilder ständig in fast automatischer Geschwindigkeit abgerufen werden. Sie können falsch eingeprägt worden sein oder auch ihre Geltung verloren haben, wie der Fahrer es in diesem Fall vor sich selbst zu rechtfertigen sucht. Statt seinen Fehler einzuräumen, behauptet er ironisch dem Zuschauer gegenüber, dass diese Mauer noch am Tag zuvor nicht an eben dieser Stelle gewesen sei. Er vergleicht sein Verhalten zudem mit dem Kirmesvergnügen eines Auto-Scooters, bei dem es gerade der provozierte Unfall ist, der das Ziel der Fortbewegung ist. Das durch Routine erworbene Wissen über die Eigenschaften des Straßenraums führt in dieser Szene dazu, dass dieser nicht mehr detailliert wahrgenommen wird, für die Taxifahrer als Straßenroutiniers jedoch immer wieder neu wahrgenommen werden muss. Die späte Abendzeit und Enge der Einbahnstraßen lassen das Auftauchen anderer Fahrzeuge für den römischen Taxifahrer als unwahrscheinlich genug erscheinen, um diese Regel mit Selbstverständlichkeit zu verletzen. Dieses Verhalten wirkt jedoch nur so lange situativ absurd, bis es fast zu einem Unfall kommt. Die Darstellung des Straßenraumes involviert auch den nicht zuletzt filmisch geprägten Bildervorrat der Zuschauer, die meinen zu wissen, wie die Städte Paris, New York etc. aussehen.8 Wie der Film durch seine Montage-Struktur und Sequenzierung betont, verlaufen Wahrnehmungsprozesse auf der Straße – strukturanalog zum Film Night on Earth – durch verschiedene Rahmen und Filter ab und machen Orte zu Schauplätzen. Dabei wird auch das Taxi (in der Los Angeles-Episode von der Firma „Ray cabs and co“, was als (Licht-)Strahlen, Taxis und so weiter gelesen werden kann) in Night on Earth zur automobilisierten Verkehrung und zum Sinnbild des Kinos. Bereits der Vorspann des Films stellt eine Analogie zum Kino her: Im schwarzen Weltraum, in dem der Film einsetzt und in dem die Welt einzig als Ganzes sichtbar werden kann, nähert sich die Kamera der Erde. Letztere ist nicht einfach gegeben, sondern sie wird durch ein Annähern und Heranzoomen nahe gebracht und medial vermittelt. Die Weltkugel unterstreicht diesen Vermittlungsprozess in seiner lebensprakti-
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Kilb, Andreas: Night on Earth (1991), in: Reinecke, Stefan (Hg.): Jim Jarmusch, Berlin: Bertz 2001, S. 213-226, S. 223.
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schen Relevanz noch einmal, wenn sie sich schließlich als Globus erweist.9 Damit wird zugleich klar, dass unsere jetzige Vertrautheit mit dem älteren Medium des Globus vorausgesetzt werden kann. Oft sind Globen sogar von innen beleuchtet, wie es die Montage des Films ebenfalls nahe legt, indem die jeweils angesteuerte Metropole zunächst als Lichtpunkt erscheint. Kamerafahrt und Montage lassen die Städte zu hellen Gucklöchern in das Innere der Welt werden. Die Bildausschnitte kanalisieren unsere Blickbewegung und betonen zugleich, dass der Weltraum auch als Kinoraum verstanden werden kann. Die Stadtwelt wird ebenso über eine Lichtprojektion eröffnet, die in Analogie zur Kameraprojektion steht. Die Straßen der Metropolen führen die Rahmungskaskade des hier beschriebenen Vorspanns fort, die in der Kapsel des Taxis beziehungsweise seiner Fensterausschnitte eine Weiterführung findet. Das Taxifahren, das im Zentrum des Films steht, und das wechselseitige Einander-Taxieren der Protagonisten geschehen in der Dunkelkammer dieses Transportmittels und Vermittlungsmediums. Dabei werden jeweils unterschiedliche Bilder von den Gegenübern entwickelt und das Taxi stellt, so könnte man sagen, Funktionsweisen des Kinos dar. Von den vielen möglichen, nicht gleichgerichteten und ungleich schnellen asynchronen Bewegungen auf den Straßen unterscheidet sich der fokussierte Taxi-Zeit-Raum, durch seine technisch-architektonisch erzwungene körperräumliche Nähe zwischen den Fahrzeuginsassen. Für die Protagonisten und für die Zuschauer wird diese Bewegtheit auf je unterschiedliche Weise nur über die Straßenrandbebauung erfahrbar, die trans-subjektiv gedacht phänomenal vergleichsweise unbewegt vorliegt. Diesen unbewegten Hintergrund der ‚Straßen-Bilder‘ sehen wir als Zuschauer durch die Autofenster. Sie rahmen den Blick und erzeugen in der Fahrt bewegte Bilder. Deren ‚BewegtbildHaftigkeit‘ oder filmische Wirkung wird im Film durch den Sonderfall einer parallel fahrenden Limousine anschaulich unterstrichen, die für den winzigen Moment, als sie sich gleichschnell wie das Taxi fortbewegt, im
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Zu dieser Einstellung des Films mit Abbildungen siehe auch: Frahm 2010, siehe Anm. 5, S. 351. Frahm betont, dass hierdurch „das kontinuierliche ‚Mitdenken der Welt‘ als dritte Position, die von außen an den filmischen Raum herangeführt wird, ohne jemals gänzlich in diesem aufzugehen“ verdeutlicht werde und bemerkt, dass der Film „in seinem Verlauf diese übergreifende Bewegung der Kamera genau umkehren“ wird.
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Bildrahmen des Autofensters des letzteren stillsteht – im Unterschied zu anderen weiterhin bewegten Hintergrundelementen.
S IND
DIE AUFTRETENDEN P ERSONEN ÜBERHAUPT P ROTAGONISTEN ? U ND UNTER WELCHEN U MSTÄNDEN ? Die Personen im Taxi identifizieren sich gegenseitig unter anderem dadurch, dass sie die jeweiligen Mitfahrenden betrachten. In der Los AngelesEpisode beobachtet die Mitfahrerin die Fahrerin mehrfach länger im Rückspiegel, wobei die Zuschauer jeweils den Spiegel als Medium dieses Blickvorgangs gezeigt bekommen. Besonders intensiv ist dies auch in der ParisEpisode: Der Taxifahrer beobachtet seinen blinden Fahrgast über den Rückspiegel. Diese Einstellung betont noch einmal die Vermitteltheit der getauschten Blicke, die durch die Spiegelung noch einmal explizit als reflektierte hervorgehoben werden. Über die Spiegelungen nehmen die Protagonisten jeweils neue Bildeindrücke mit, die im Verlauf den weiteren ‚Bilder-Verkehr‘ bedingen. Dabei wird deutlich, dass die Personen im Film, die sich gegenseitig unbekannt sind, nur bedingt als Protagonisten zu verstehen sind und nur das Nötigste für eine Erzählung preisgeben wollen. Sie werden in gewissem Sinne als Statisten in den jeweiligen Wahrnehmungsbereich ihres Gegenübers eingeführt, den wir als Zuschauende wiederum von außen sehen und geradezu im engeren Sinne geschildert und nicht erzählt bekommen. Die letzte Episode des Films Night on Earth aus Helsinki macht das Fehlen einer Gesamterzählung und seine analytisch darstellende Natur gerade dadurch deutlich, dass der Taxifahrer selbst eine lange traurige Geschichte erzählt. Die Dialoge zwischen den idealtypisch – wenn nicht stereotyp – erscheinenden Repräsentanten der Städte, betonen ihre jeweils spezifischen Sichtweisen. Dies erfolgt, indem die Ignoranz beziehungsweise die Missverständnisse dargestellt werden, die aufgrund irriger Vorstellungen vom Gegenüber zustande kommen. Alle Beteiligten sind einerseits wahrnehmende Darsteller und andererseits ständig auf einer zweiten Ebene zugleich Darsteller ihrer Wahrnehmungsweise. Die Protagonisten machen dies deutlich, indem sie verbal ausdrücken, wie sie den anderen sehen beziehungsweise nicht sehen. So ignoriert der römische Taxifahrer trotz eines verbal
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expliziten Widerspruchs, dass es sich bei seinem Mitfahrer nicht um einen Bischof handelt. Da die Kamera hier und die meiste Zeit des Films frontal auf das Geschehen in den Taxis gerichtet ist und manchmal sogar das Fahrzeug für eine Einstellung von außen auf der Straße fahrend zu sehen ist, wird der Abstand zwischen den Personen im Taxi und dem komplexeren Geschehen wie die Zuschauer es sehen, deutlich gemacht. In der folgenden Szene versteht das Publikum das Geschehen, zum Teil auch in seinen kausalen Wirkungszusammenhängen, anders als die Protagonisten. Dass der Fahrer seinen Mitfahrer komplett ignoriert, hat in diesem Falle sogar tödliche Folgen für letzteren. Obwohl er für den Fahrer über den Rückspiegel oder einen Schulterblick potenziell sichtbar ist, ignoriert der Fahrer den Mitfahrenden als Person. Die Fahrweise sowie die Wirkung der unebenen Fahrbahn bewirkt das plötzliche Erschüttern der Hand des Mitfahrers, auf die er seine lebenswichtigen Tabletten gelegt hatte. Bevor er sie einnehmen kann, verliert er diese und verstirbt. Der Fahrer hat die misslungene Tabletteneinnahme gar nicht mitbekommen und reagiert erst, als er schließlich bemerkt, dass sein Mitfahrer nicht mehr lebt. Mangels einer Erklärung folgert er, er habe seinen Fahrgast mit seinem – für einen Geistlichen schockierendem – erotischen Geständnis umgebracht. Die Zuschauer bekommen das Straßengeschehen in der Vielheit seiner Signale – also des Lichts, der Uhrzeit, der Körperhaltung gezeigt, die sich erst in ein Narrativ fügen, wenn die Zuschauer sich dem Film als aktives Blickgegenüber oder „Leihkörper“ zur Verfügung stellen. Die Filmphilosophin und Medienanthropologin Christiane Voss10 hat mit diesem Begriff die Bedeutung des sitzend bis zu einem gewissen Grade still gestellten Publikums herausgearbeitet, das emotional sowie wahrnehmungstechnisch doch zugleich körperlich aktiv in die Realisierung des (Kino-) Filmgeschehens einbezogen ist. Für das Auftreten auf der Straße gilt dies allerdings erst recht, wie der Körpereinsatz des römischen Taxifahrers noch einmal unterstreicht, als er die Leiche des Fahrgastes in einem Kraftakt auf einer Bank am Straßenrand platziert. Diese Inszenierung des alten Mannes – als passiver Zuschauer am Straßenrand – soll der Intention des Fahrers nach geringe Auffälligkeit erzeugen, und den Zusammenhang zu (s)einer „Täterschaft“
10 Voss, Christiane: Filmerfahrung und Illusionsbildung. Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos, in: Koch, Gertrud; Voss, Christiane (Hg.): Kraft der Illusion, München: Fink 2000, S. 71-86.
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vertuschen. Der tote Körper bewegt sich jedoch wenige Augenblicke nach der Abfahrt des Taxis noch einmal selbstständig und geradezu eigensinnig aus der inszenierten Haltung heraus, indem er zur Seite sackt. Solche vorgeführten Inszenierungs-Praktiken, die den Zuschauern Vorstellungen der Protagonisten nahebringen, sind Bestandteil von unabgeschlossenen Prozessen, die auf der Straße ständig ablaufen. Der ‚StraßenBilder-Verkehr‘ beginnt nicht erst mit dem Einstieg in die hier herausgelöste und fokussierte Taxi- sowie Taxierungserfahrung und endet auch nicht mit dem Aussteigen aus dem Taxi oder dem Film. Das machen gerade die im Film verfolgten Taxifahrten deutlich, die exemplarisch gerade die unterschiedlich intensive Signal- und Datenflut der Straßenlandschaft bewusst machen.
S PEZIFISCHE B EDINGUNGEN INTENSIVER B LICKWECHSEL AUF DER S TRASSE Für einen Blickaustausch müssen sich zunächst die Bewegungen der Körper und der Blicke an konkreten Orten zu bestimmter Zeit – in Night on Earth dem Taxi – kreuzen. Dies funktioniert durch verdichtete Konstellationen und nahe Positionierungen von Verkehrsteilnehmern zueinander. Die Straßenkonstellationen sind in Night on Earth nicht weniger wichtig als die Personen, die der Film zeigt, und sie interessieren im Rahmen dieses Beitrags besonders. Statt durch Vorgeschichten der beteiligten Personen, werden wir von diesem Film an die jeweiligen Schauplätze der Taxi-Fahrzeuge und ihrer Umgebung zum Teil über Aufzählungen typischer urbaner Straßenmerkmale herangeführt. So werden in Los Angeles Schilder, Telefonzellen, Tankstellen, mobile Eisverkäufer, überlebensgroße Werbefiguren, Digitalanzeigen etc. gezeigt. In Helsinki erfasst die Kamera Stadtplätze wie den Platz vor der Kathedrale am Aleksanderinkatu, den der Zuschauer jedoch zunächst nur sehr ausschnitthaft gezeigt bekommt und nur als diesen erkennt, wenn er bereits vor Ort war. Später wird derselbe Platz erneut und dieses Mal durch die Fenster des Taxis gerahmt gezeigt, wobei das ganze stadtlandschaftliche Panorama der architektonischen Einfassung inklusive des Wahrzeichens der Kathedrale und auch erst das Ausmaß des Platzes deutlich werden, als das Taxi, die große Statue in der Mitte des Platzes umrundet. Die Gebäude werden zugleich als bewegte Bilder aus dem Taxi her-
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aus wahrgenommen. Am Anfang und im Verlauf der Episoden sehen wir nicht wahllos Städte-Clichés und -Topoi, auch wenn zum Beispiel die römischen Treppen oder die Brooklyn Bridge in New York nicht fehlen. Auf letztere wird der Fahrer sogar – entgegen der gängigerweise angenommenen Ortskundigkeit von Taxifahrern von seinem Fahrgast hingewiesen, interessanterweise jedoch nicht primär aus touristischen oder lokalpatriotischen Gründen, sondern um dessen Blick von der Verwandten des Mitfahrers auf der Rückbank abzulenken. Es werden Blicke auf die Straßen der gerade befahrenen Metropole, durch die Fokussierung auf Straßenschilder und Leuchtreklamen geschildert. Dass diese auch nicht einfach pars pro toto zu verstehen sind, wird in der Los Angeles-Episode daran deutlich, dass eine Einstellung auf die beschädigte Leuchtreklame eines Clubs mit dem Namen „Cameo“ gerichtet ist, an dem das Taxi vorbeifährt. Cameo ist nicht nur ein Begriff für das sehr kurze Auftreten einer bekannten Person in einem Film, sondern war auch der Name eines berühmten 1991 nicht mehr in Betrieb befindlichen 1910 gegründeten Kinos am Broadway der Stadt, woran Jim Jarmusch hiermit ‚straßen-bildlich‘ erinnert. Schon die menschenleere Straße selbst sendet in diesem Sinne ‚Straßen-Bilder‘, die mögliche Bild-, Blick- und damit auch Handlungsfolgen haben können. Die jeweiligen Taxis sehen wir zunächst erst einmal nur von außen und auf der Fahrbahn fahrend. Durch einen Schnitt wird deutlich akzentuiert, dass wir die Taxis daraufhin noch einmal sehen, während sie in den Kader des ‚Straßen-Bildes‘ unserer spezifischen, aktuellen Straßenwahrnehmung einfahren. Die ‚Straßen-Bilder‘ verleihen den Städten im Film eine sichtbare Identität oder „ein Gesicht“11, das sich daran orientiert, was jeweils von der Straße beziehungsweise von ihr aus zu sehen ist. Zwischen den unterschiedlichen Straßen der Metropolen besteht eine strukturelle Analogie. Das Geschehen an diesen auf der Welt verteilten Schauplätzen ist als gleichzeitig zu verstehen, wie wir zu Beginn und zwischen den Episoden immer wieder explizit mithilfe einer Reihe von Uhren gezeigt bekommen, die entsprechend synchron auf die Zeit des Einsetzens der Episoden zurück‚gestellt‘ werden. Die Nacht-Zeiten unterscheiden sich zugleich aufgrund der variierenden Positionierung der Städte auf dem Globus lokal dadurch, dass diese Situierung eine unterschiedliche Ausleuchtung und Atmosphäre erzeugt. Trotz aller Unterschiede in Bezug auf die jeweilige Verortung im
11 Vgl. Frahm 2010, siehe Anm. 5, S. 354.
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jeweiligen Abend- oder Nachtabschnitt folgt die Darstellung der einzelnen Städte jeweils sehr ähnlichen Blick-, Bebilderungs- und Interaktionsregeln. Außerdem gleichen sich alle Straßen durch die dem Fremden und (westlich geprägten) Betrachtenden zum Teil inhaltlich unverständlichen Symbole, Beschriftungen, Namen und Bedeutungen. In der New York-Episode hebt die Kamera unter anderem chinesische Bild-Schrift-Zeichen auf Läden und die Straße säumenden, parkenden Fahrzeugen hervor, die zum Teil von Graffiti begleitet beziehungsweise überschrieben sind und für nicht in die lokalen Codes oder die chinesische Schriftsprache Eingeweihte unlesbar sind. Wegen dieser Nichtentschlüsselbarkeit fallen sie in ihrer Eigenschaft als Zeichen potenziell stärker auf als die anderen schriftlichen Markierungen an der Straße. Dennoch werden sie als sinnlos erscheinende Störsignale oder Verunstaltungen zumeist als Teil des urbanen Signaldschungels einfach ignoriert. Die gezeigten Straßen verschwimmen deshalb jedoch nicht, sondern werden in ihren Eigenheiten – römischer Prunk, Helsinkis winternächtliche Tristesse vorgeführt. Durch die Episoden werden aber auch die jeweiligen Städte in ihrem Kontrast zueinander gezeigt. Die jeweiligen vermittelten Beschaffenheiten der Straßenlandschaften werden im Film als potenzielle Kulissen zunächst in jeder Episode in den Vordergrund gestellt. Durch diese Fokussierung werden die Regeln, denen alle Straßen gehorchen, als übergreifende, globale Codes der Straße zur Schau gestellt. Nur durch die zeitliche Länge – im Sinne einer erfahrbaren Dauer der gleichbleibend gerahmten Fahrt – entsteht überhaupt eine fremd-intime Interaktion und ergänzt als Schauspiel die Kulisse der Straßenkanäle. Die dadurch erzeugte Konfrontation und Interaktion ist spezifisch mit dem Urbanen und der Straße verbunden – spätestens seit Georg Simmels berühmtem Essay Die Großstadt und das Geistesleben.12
12 Simmel, Georg: Die Großstadt und das Geistesleben, in: Petermann, Theodor: Die Grossstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Bd. 9, Dresden: v. Zahn & Jaensch 1903, S. 185-206, auf: http://socio.ch/sim/sta03.htm (05.06.2013).
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W ER
ODER WAS INTERAGIERT HIER ?
Der Film liefert eine Antwort darauf: Wenn nicht jeweils aktiv eine Übersetzung oder Übertragung des Verkehrsteilnehmers in die Blickwelt des Gegenübers auf der Straße vorgenommen wird, laufen die jeweiligen Sichtweisen der Protagonisten zwar in der gemeinsamen Sphäre des Straßenkanals ab, fließen allerdings asynchron aneinander vorbei. Selbst innerhalb der Kapsel des Taxis, die mit geringem Widerstand durch den Verkehrsstrom gleitet, existiert eine sphärische Trennung zwischen den Insassen: Die Rückenlehne oder gar eine Trennscheibe des Fahrzeugs drückt diese architektonisch aus, beziehungsweise macht sie sogar als körperräumliche Grenze spürbar. Wenn diese im Taxi nicht durchbrochen wird, verlaufen auch hier die Wahrnehmungsvorgänge asynchron. Selbst im Falle eines Durchbrechens ist die Grenze nicht aus der Welt, sondern wird lediglich ex negativo im Nachhinein noch einmal bestätigt. So reicht in der Los Angeles- und Paris-Episode die Fahrerin beziehungsweise der Fahrer den Mitfahrenden ein Feuerzeug über die Rückenlehne des Fahrersitzes. Dass (englisch) „lighter“ und damit metaphorisch – in der zweiten Wortbedeutung aufgefasst – Beleuchter zum Einsatz kommen, unterstreicht diesen medialen Vorgang als solchen zusätzlich. In der ersten Szene der New YorkEpisode kommt eine weitere wesentliche Bedingung für Aufmerksamkeit und Wahrnehmbarkeit der Straße – und dieses Mal des Verkehrsflusses als solchem – durch eine Störung ins Bild. Bemerkte Ereignisse auf der Straße benötigen Unterbrechungen des ständigen Verkehrsflusses, der aus vielen unterschiedlich starken Strömungen der Bewegung in variierende Richtungen besteht sowie aus den Sichtweisen der Verkehrsteilnehmer. Auch die Stillstehenden sind nach diesem Verständnis Teil des Verkehrs – allerdings nicht unbedingt in der von ihnen gewünschten Weise. In diesem Fall wollen die gerufenen Taxis nicht für den New Yorker Protagonisten des Films anhalten, der alle ihm denkbaren üblichen und weniger üblichen Gesten und Zeichen aufbietet, die ihn als guten Kunden kenntlich machen sollen. Schließlich fragt sich der Protagonist mit schwarzer Hautfarbe angesichts dieser anscheinend nicht vollkommen überraschenden Missachtung: „Am I invisible man?!“13 Da wir, während er sich diese Frage stellt, auf seine auf
13 Das Zitat entstammt Night on Earth. Diese Szene wird auch in einer Sozialgeschichte des Taxifahrens in New York kommentiert: „The fare is grateful to
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der Fahrbahn tänzelnden Füße sehen, wird das damit versteckte Zitat des amerikanischen Romantitels Invisible Man von Ralph Ellison14 zu einer sichtbaren Fußnote im Bildsinne für uns Betrachter. Diese Konnotation der Situation des gezeigten Protagonisten unterstreicht die kritisch-reflektierte Perspektive des Films. Denn Ellison hatte sich in diesem Text mit dem Thema der durch Rassismus hervorgerufenen sozialen Unsichtbarkeit von Schwarzen auf der Straße befasst. Zu der in dieser Szene gezeigten Störung der Erwartung des Protagonisten, in Bezug auf seine reibungslose und damit als gleichberechtigt erfahrbare Teilhabe am funktionierenden Taxiverkehr in New York, kommt die anschließende Störung des Flusses der schließlich aufgenommenen Fahrt durch die verkehrte Betätigung der Schaltung des Fahrzeugs hinzu. Denn der deutsche Taxifahrer weiß diese nicht zu bedienen, sodass die Fortbewegung des Taxis – genauso wie seine fremdsprachlichen Bemühungen – immer wieder ins Stocken gerät. Unabhängig davon, ob es bei den ‚Bilder-Verkehren‘ zu einer Bestätigung, Anerkennung, Duldung, Ablehnung, einem Ignorieren oder einem Missverständnis zwischen den Protagonisten kommt, finden immer Blickkontakte und eine Veränderung der Situation und des Verhältnisses der Verkehrsteilnehmer zueinander statt. Kein Beteiligter und auch kein Schauplatz innerhalb der Sphäre des Films kann sich dem vollständig entziehen. Noch nicht einmal die Sehkraft ist für solche Bilderaustausche ausschließliche Bedingung. Die blinde Kundin in der Paris-Episode erweist sich im übertragenen Sinne nicht als blinde Passagierin. Sie kann zwar selbst nicht sehen, aber am ‚Straßen-Bilder-Verkehr‘ der Vorstellungsbilder ebenso teilhaben wie die Sehenden und zwar vor allem durch die olfaktorischen, haptischen und akustischen Dimensionen der Wahrnehmung, die der Film ebenfalls anreißt. Vor allem kann sie sogar ihren eigenen Anblick für andere gestalten, indem sie sich schminkt und bezeichnenderweise gerade dadurch, dass sie ihre Blindheit nicht – wie es nach wie vor verbreitet ist –
the driver for being willing to take him out to Brooklyn, a plot device that turns on the familiar problem of New York cabdrivers refusing fares to blacks, especially those going to the outer boroughs“. Hodges, Graham Russel Gao: Taxi! A social history of the New York City Cabdriver, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2007, S. 167. 14 Ellison, Ralph: Invisible Man, New York: Vintage International 1952.
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durch eine Sonnenbrille überblendet, sondern geradezu symbolisch auf eine solche ‚Verkleidung‘ verzichtet.
S CHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE T HEORIE URBANER I NFRASTRUKTUREN Die Vorstellung, Infrastrukturen, die wie urbane Straßen von Menschen verwendet werden, seien in Absehung von ihrer Wahrnehmung erfassbar, verfehlt das entscheidende Zusammenspiel von Mensch und Umwelt. Erst aus diesem heraus, lässt sich eine Infrastruktur überhaupt erst im Wortsinne als „Zwischen-Struktur“ bezeichnen, die zwischen zwei oder mehr Polen hergestellt wird. Auch als Mittel zu verschiedensten Zwecken – von der Fortbewegung bis hin zur Information und Unterhaltung – bergen Infrastrukturen nur die Bedeutungen, die durch den ‚Bilder-Verkehr‘ erzeugt werden. Eine zeitgemäße Theorie urbaner Wahrnehmung muss nicht nur den aktuellen technischen Anwendungen Rechnung tragen, sondern auch der durch Filme wie Night on Earth vorgeführten und affirmierten Heterogenität der Wahrnehmungswelten. Für letztere sollte eine urbane Infrastruktur genügend Spiel-, Interpretations- und sonstigen Nutzungs-Raum lassen, ohne deswegen auf ein Mindestmaß an regulierender Gestaltung der Synchronisierung zwischen den Wahrnehmungswelten zu verzichten, die für ein grundsätzliches Verstehen und Zusammenleben entscheidend ist. Wie die Analyse gezeigt hat, funktionieren einerseits auch Dinge, die dafür nicht eigens gestaltet wurden – wie beispielsweise ein Taxi – ganz von selbst als Kino der ‚Straßen-Bilder‘. Andererseits erhalten gestaltete Plätze und Denkmäler über ihre Funktion als Wegmarken und Treffpunkte hinaus eine Bedeutung durch die Aneignung der Menschen im Straßenraum. Die Infrastruktur ist selbst Aneignung der Welt durch die Anlage privilegierter Zugangsweisen und präferierter Blicke auf diese. Sobald Menschen in die Sphäre der Infrastruktur eindringen, treten sie immer wieder in einen Wahrnehmungsaustausch mit ihr, der mit ihrer Entstehung zusammen bereits begonnen hat. Die materielle Beschaffenheit der Infrastruktur und die Fülle des durch ihre Nutzer erfahrenen Bildervorrats entfaltet sich wahrnehmungstechnisch entlang der Konfrontationen von Blick und Erblicktem, die durch die multiplen Rahmungen durch Gebäudeprofile, Gesichtsfelder
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und die am Beispiel verdeutlichte Beschaffenheit von Verkehrsmitteln wie dem Taxi rhythmisch ermöglicht werden.
B IBLIOGRAFIE Ellison, Ralph: Invisible Man, New York: Vintage International 1952. Frahm, Laura: Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld: transcript 2010. Helmers, Marguerite; Hill, Charles A. (Hg.): Defining visual Rhethorics. Introduction, London: Routledge 2004. Hodges, Graham Russel Gao: Taxi! A social history of the New York City Cabdriver, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2007. Kilb, Andreas: Night on Earth (1991), in: Reinecke, Stefan (Hg.): Jim Jarmusch, Berlin: Bertz 2001, S. 213-226. Macho, Thomas: Vorbilder, München: Fink 2011. Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK 2003. Seitter, Walter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften Weimar 2002. Simmel, Georg: Die Großstadt und das Geistesleben, in: Petermann, Theodor: Die Grossstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Bd. 9, Dresden: v. Zahn und Jaensch 1903, S. 185-206. http://socio.ch/sim/sta03.htm (05.06.2013). Sittler, David: Snamenskaja Platz – Platz des Aufstands. Ein (Schau-) Platz des Alltags und der „Revolution“, in: Schlögel, Karl; Schenk, Frithjof Benjamin; Ackeret, Markus (Hg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt a. M.: Campus 2007, S. 273-285. Voss, Christiane: Filmerfahrung und Illusionsbildung. Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos, in: Koch, Gertrud; Voss, Christiane (Hg.): Kraft der Illusion, München: Fink 2000, S. 71-86. http://www.06blog.it/post/2797/le-piazze-di-roma-hanno-piu-di-un-nome (05.06.2013).
Netscapes
Zur Montage urbaner Imaginationen Von der Baustelle im Film und dem Traume der Stadt in Gueríns En Construcción M ARIUS B ÖTTCHER
E RSTE V ERORTUNGEN EINER B AUSTELLENKINEMATOGRAFIE Rom. In Antonionis Filmen gibt es fast immer einen Ort, der noch abseitiger ist als alle anderen. So werden in L’eclisse (1962) die Nicht-Orte dem flanierenden Blick einer Kamera unterzogen und suchend konglomeriert, um letztlich im Fragmentarischen und Flüchtigen einer Baustelle eine Dauer zu finden, die nie aufgelöst werden kann. Scheinbar stillgelegt pausiert die Arbeit und so wird die Baustelle zum bedeutungsschweren Freezeframe des Urbanen. Als Zwischenraum und das Abseitige sind sie in diesem Film Orte der Fremde und gleichzeitig der Heimkehr, wenn sich Vittoria und Piero hier immer wieder zusammenfinden. Die Kulisse der verlassenen Baustelle zeichnet dabei nicht nur den Stillstand nach, sondern bildet einen Freiraum aus, der scheinbar anders funktioniert als die übrigen Räume der Stadt: Die im Film bereits entmächtigten Subjekte, die unterbrochenen Handlungen, entkoppelten Zeitfolgen und die darin beziehungslosen und freigestellten Objekte lösen sich nun gänzlich auf, Bestimmungen verschwinden und die Geschlossenheit verliert sich in verschiedenartigen Entwürfen eines Wahrnehmungsraums. Grande Dixence. Godard verortet seinen ersten kinematografischen Blick inmitten der mächtigen Schweizer Alpenlandschaft, als er in seinem Kurzfilm Opération béton (1954) den Bau einer Staumauer dokumentarisch
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verfolgt. Das Bauwerk zeigt sich in seiner Entstehung aus dem Material der Natur, wenn riesige Maschinen ganze Gebirgsbrocken aus der Landschaft reißen, Erdmengen trennen und damit ein ständiges Ab- und Übereinanderschichten von Material eröffnen, das bewegt, aussortiert, herangefahren und vermengt wird. Der Film zeigt die Arbeit am Bau als morphologischen Prozess – und das in doppelter Hinsicht – montiert stetig Bilder der Bewegung und Zerlegung, des Mengens und Zusammenwerfens im Bild einer Materiallogistik und verfolgt schließlich deren einzelne Schritte auf diesem Wege. Teile der Gebirgslandschaft werden zerkleinert und in eine sichtbar homogene Form gebracht. Godard verfolgt diese Arbeitsschritte über die Abbaubagger, die meterlangen Fließbänder und hoch hängenden Seilbahnen, die Transportwege und riesigen Herstellungsanlagen aus allen Perspektiven vor Ort und montiert die Sichten und Schichten bis hin zu ihrer Rückkehr an die Stelle der Staumauer, die aus dem eigenen Landschaftsmaterial wieder zusammengebracht wird. Diese Montage zeigt einerseits nicht nur Einschreibung der Materialspuren und Aggregate als lesbares Gedächtnis der stattgefundenen Transformation, sondern situiert die Baustelle auch filmisch als amorphen Umschlagsplatz von Raumschichten. Montage in Film und Material der Baustelle wird hier zum Bild der Transformation. Berlin. Mit dem Abriss eines geschundenen Altbauhauses beginnt Carows Die Legende von Paul und Paula (1973) inmitten einer Staubwolke, die sich zwischen den konkurrierenden Differenzen der neu gebauten Plattenbauten und den zum Verschwinden zu bringenden Restbeständen des Vergangenen drängt. Die Plattenbauten, die sich bedrohlich um die ruinös lebendigen Häuser stellen, bekommen mit dem leitmotivisch eingesetzten Bild des gesprengten Hauses ein gewalttätiges Moment, das sich gegen alles Vergangene stellen will. So baut der Neubau den Raum nicht nur um, sondern der Prozess des Entstehens ist dabei so sehr von Zukunft geprägt, dass das Vergangene keinen Platz zugewiesen bekommt. Die Baustelle verschwindet, sobald das errichtete Gebäude steht. Bis zum Bau weist der Ort der Baustelle auf die Momente des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen und eröffnet damit einen Ort, der zum einzigen Fluchtpunkt von Paul und Paula wird. In diesem Sammelpunkt zwischen Utopien und Traumorten des Verschwundenen wird ein sonderbarer Möglichkeitsort gezeigt, der zum Schauplatz einer Liaison des sozialistischen Realismus mit poetischen Traumsequenzen wird.
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Der hier versuchte Dreischnitt als fragmentarische Verortung der Baustellenkinematografie in Rom, Grande Dixence und Berlin strukturiert sich auffällig unentschieden zwischen dem anderen Raum der Heterotopie, des Transformationsraumes und der Passage. Diese Orte der Utopien und Träume werden jedoch allesamt wiederum stringent mit Operationen des Verschwindens gekreuzt. Dabei wird die Baustelle in diesen Filmen als signifikante Doppelfigur platziert: Als Ort der Entstehung und des Aufbaus zeigt sie sich zuallererst um die Strategie der Verdrängung bemüht, wenn die filmischen Bilder des Baus nicht selten mit Abriss und Zerstörung beginnen und sich dann wiederum in der Sinneinheit von Erscheinen und Verschwinden in einem gleichsam kinematografischen Grundprinzip aufstellen. Die Baustelle, die den Vor-Ort verdrängt, sollte sich im besten Falle am Ende auch gleichsam selbst beseitigen, um damit ihre eigentliche und einzige Aufgabe zu erfüllen: zu verschwinden. Doch in diesem Modus des Verschwindens erscheint ein Zwischenstatus, der zwar temporär, aber grundlegend überlagert ist. Gleichzeitig um Ort und Raum bemüht, sind darum im Film Transformationsprozesse beobachtbar, die die Stadt in ihrer Bewegung wiedergeben und eine sonderbare Maschinerie anwerfen, deren Bilder von einer Arbeit der Sichtbarmachung geprägt sind, die sich als urbane Imagination beschreiben lassen.
E N C ONSTRUCCIÓN In Gueríns Film En Construcción (E 2001) wird diese Praxis nun mehrfach montiert und verbaut. Innerhalb der dreijährigen Drehzeit werden die Bauarbeiten eines Apartmentkomplexes verfolgt, das das Arbeiterviertel der Seemänner, Prostituierten und Dealer Barcelonas durch Abriss und Neubau in ein besseres Milieu verwandeln will. Dabei blickt Guerín auf das Entstehen und Verschwinden von Geschichten und Gebäuden und führt so vom Abriss zum Bau eines Fremdkörpers, der, umringt vom Alten, einen sonderbaren Wahrnehmungsraum urbaner Imagination eröffnet. Sind die Bilder des Abrisses nun vielmehr Bilder der Arbeit des Verdrängens, erheben sich die folgenden Sequenzen am Ort der Baustelle im Sinne Freuds als Bilder des Traumes und überkreuzen sich im selben Moment in ihrer Bestimmung. So zeigt sich die Stadt mit Blick durch den durchlöcherten und fragmentierten Bau als Nachbild des Alten und der Utopie. Dabei wird aber
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nicht nur eine Neuorientierung von An- und Abwesenheit der Schichten des Alten und des Neuen vorgeführt. Die Bruchstellenarbeit, der hier nachgegangen werden soll, befindet sich auf der Spurenlese zwischen Sprengungen, Mauerfragmenten und Schutthaufen. Es sind diese Architekturreste, die sich im Bild als ein Nebeneinander ausbreiten und übereinander schichten, sodass an den Rändern betonierter Baustrukturen, zwischen Neubauten und ruinenhaften Altbaubeständen, es gerade diese amorphen Überlappungen und Lücken sind, die einen anderen Blick auf die Baustelle werfen wollen und sie damit als Traummaschine des Urbanen herausarbeiten.
M ECHANISMEN
DER
V ERDRÄNGUNG
Einzig und allein dem eigenen Verschwinden gewidmet, verschwindet nicht nur die Baustelle an sich, wenn ihre Arbeit getan ist, sondern ebenso der Raum, der zuvor noch war oder auch die Dinge, die dort eben noch Platz hatten. So wird eine Geschichte der Baustelle darum auch im Film nicht selten mit Abriss, Sprengung oder Zerstörung der Dinge begonnen, bevor diese wieder eine neue Form finden. Zwischen Verschwinden und Erscheinen steht das Verschieben ihrer Teile, ihre Umordnung, die Spaltung: Alles, was dazwischen stattfindet, zwischen zwei Zerstörungen, ist ein Bild der Baustelle. In diesem Sinne soll auch Barcelonas Arbeiterviertel El Raval zur Milieuverschönerung in seinen alten Teilen zum Verschwinden gebracht werden, um das Viertel der Seemänner und Lebenskünstler in eine gutbürgerliche Gegend zu transformieren. Die Praktiken des Verschwindens folgen dabei einem vorgefertigten stadtplanerischen Konzept, das mit einer Zerstörung einhergeht. Teile des Altstadtgebietes sollen von ihren heruntergekommenen Fassaden befreit und mit Gebäudekomplexen für Hotels, Museen und Universitäten aufgewertet werden. Das Hafenviertel, zwischen Sprachvermischung, Chaos, Bars und Glücksspielen, war einst ebenso als Barrio Chino bekannt und Nische für Künstler und Bohème. Doch bereits seit Mitte der 1990er Jahren ist die Stadtverwaltung bemüht, das Desolate und Marode, das Studenten und Lebenskünstler in das Viertel zog, auszutreiben und im Gentrifizierungsprozess mit umfangreichen Sanierungsprogrammen gleichsam die Ansiedlung neuer und damit vor allem besser verdienender Bevölkerungsgruppen zu befördern, um somit den Immobilien-
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markt als auch den Tourismus weiter voranzutreiben. Durch Komplettabrisse ganzer Häuserreihen wurden bereits stattliche Boulevards geschaffen, komfortable Mietwohnungen gebaut und schicke Bars und Restaurants untergebracht, die das städtebauliche Bild immer mehr prägten und so auch recht schnell den Eigensinn austrieben. In diesem Prozess, bei dem das Gesicht eines ganzen Stadtviertels verschwindet, zeigen sich die Abrissarbeiten und Baustellen als prägnantes Bild eines ambivalenten Transformierungsprozesses, den Guerín hier in seinem Film beobachtet. Das gesamte Viertel scheint einer einzigen Baustelle zu gleichen. Einzelne, eingefallene Mauerwerke geben einen Einblick in den privaten Kern des Hauses, lassen in das Innere blicken, das schon längst zum Außen geworden ist. Metallgerüste müssen Fassaden stützen, damit die Reste nicht auseinanderfallen. Staub und Dreck umhüllen den verschwindenden Ort, sodass sich eine seltsam entrückte Atmosphäre inmitten des Arbeiterviertels zeigt. Es sind eben jene Arbeiter, die hier zuvor noch wohnten, die nun ihre eigenen Spuren beseitigen müssen. In monströsen Containern gesammelte, aussortierte Habseligkeiten werden von Passanten wieder aussortiert, mitgenommen und womöglich in ihr eigenes Heim getragen, um die Dinge auf Wanderschaft zu schicken. Derweil werden die in den Wohnungen allein gelassenen Möbelstücke ohne weitere Verwendung von Entrümplern aus den Fenstern geworfen, so wie auch die Fenster selbst, deren Glas zerschlagen wird und in Splittern das Haus verlassen muss. Der nun durchlöcherte Bau spuckt aus allen Öffnungen und muss sein ganzes Innenleben preisgeben. Halbe Häuser lassen auf Tapetenreste blicken, die nun die neuen Fassaden bilden. Simse, Fliesen, Steine werden abgehauen, sodass die Schuttberge vor den Türen der Architekturstümpfe immer höher werden und die Häuser immer kleiner. In den letzten Schritten schließlich zerreißen Bagger die übrig gebliebene Form, zertrennen Flächen und teilen sie in ihre Materialitäten auf. Guerín beobachtet dies nicht nur mit der Kamera aus unterschiedlichen, den Blick ebenso zerlegende Perspektiven, sondern blickt immer wieder gemeinsam mit Zaungästen durch die Maschendrahtzäune der Baustelle, die in ihrer Anordnung des Drahtgeflechts das Bild wiederum selbst zerlegen und in ihren Einzelteilen nebeneinander montieren. Das Bild (und letztlich auch der gesamte Film) folgt in seinem Aufbau der Organisation der Baustelle, wenn Teile der Stadt zerlegt, einige entfernt, andere neu zurecht gerückt und dann wiederum zu einem neuen Ganzen montiert werden. Somit zeigt sich hier die Montage und Anordnung der Bilder
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im Zusammenhang von (De-) Montage, der Materialzusammensetzung und ihrer Zerlegung. Die Entscheidung, was vom Bau abgetragen und wie verwendet wird, wird dabei zu einer Entscheidung zwischen Verschwinden-Machen der Zerstörung und Verschwinden-Machen des Vergangenen. Verschwinden und Verschwinden-Machen können dabei in ihrem dichotomen Verhältnis zueinander gleichgesetzt werden mit Erinnerung und Vergessen versus Vergessen-Wollen und Verdrängung. Konstituiert Freuds Begriff der Verdrängung an erster Stelle die fundamentale Aufspaltung in eine Differenz (die er bekanntlich in Bewusstsein und Unbewusstsein auflöst), schlägt er das Material dann schließlich auf eine dieser beiden Seiten. So zertrümmert eine erste Urverdrängung das Ganze, um in einzelnen Teilen abgewehrte und verdrängte Inhalte als entmaterialisierte Form abzuschieben und zu verschließen. Es findet ein Abriss des Gedächtnisbildes statt. Die zweite Stufe der Verdrängung (die eigentliche Verdrängung) bezieht sich dabei auf jene übrig gebliebenen Reste, die nachgedrängt und damit ebenso zum Verschwinden gebracht werden sollen, um zu verhindern, dass sie wieder an die Oberfläche kommen und sichtbar werden.1 Die Verdrängung will dabei das Vergangene vergessen lassen und erzeugt damit „einen Zustand geschichtsloser Schwebe“.2 Die Ersatzbildung schafft dagegen etwas Neues, um mittels Mechanismus der Verschiebung gegen das Verschwinden zu arbeiten und stattdessen einen neuen Zusammenhang herzustellen und zu montieren. Die stattfindenden Transformationen während des Abrisses in diesem Sinne als Verdrängungsarbeit zu fassen, würde nicht nur das Verschwinden beschreiben wollen, sondern ebenso die Verschiebung verfolgen, um sie gleichsam wiederkehren lassen zu können: „Die Ambivalenz, welche die Verdrängung durch Reaktionsbildung gestattet hat, ist auch die Stelle, an welcher dem Verdrängten die Wiederkehr gelingt“. 3 Meint die Verdrängung also weniger das Vergessen als ein Nicht-Erinnern-Wollen, so erklärt sie die ständige Arbeit daran (die Arbeit des Abrisses) als eine
1
Vgl. Freud, Sigmund: Die Verdrängung, in: ders.: Studienausgabe, Bd. III. Psy-
2
Grossklaus, Götz: Das zerstörte Gesicht der Städte, in: Böhn, Andreas; Mielke,
chologie des Unbewußten, Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 103-188, S. 109f. Christine (Hg.): Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, Bielefeld: transcript 2007, S. 101-114, S. 119. 3
Freud 1975, siehe Anm. 1, S. 117.
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Gegenfigur zum Gedächtnis, ist Verdrängung nicht Vergessen, sondern Arbeit des Verschwinden-Machens. Die Mechanismen der Verdrängung sind in ihrer Abwehr aber oftmals unvollständig und hinterlassen somit selbst wiederum Spuren. Genauer: Es ist die Wiederkehr des Verdrängten, das Scheitern des Vernichtungsversuches, das diese Symptome hervorbringt.4 Freud lässt an dieser Stelle träumen: Denn schlägt das Verdrängen fehl, kehrt das verdrängte Ding als Symptom wieder und lässt das hervortreten und erscheinen, was zerstört werden sollte. Überbleibsel, Reste und Fragmente legen sich als Spur des Materials gegen das Verschwinden über die Arbeit des Verdrängens und treten als Traum der Dinge wieder auf. Bei Benjamin erhielt in diesem Sinne das Gedächtnis die Funktion des „Medium[s] des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt“.5
V OM F INDEN
EINER
B AUSTELLENARCHÄOLOGIE
Plötzlich unterbricht ein Fundstück in der Baugrube jäh den Fortschritt der Arbeit in Barcelonas Stadtteil El Raval, als der Abriss und das Abtragen der Erdschichten Skelette aus dem 6. Jahrhundert freilegt. Zurück zum Film: In mannigfaltigen Perspektiven wechseln sich die Bilder der Freilegung der Menschenreste und die der beobachtenden Menschen ab, die versuchen das Gefundene auf vielfältige Weise zu interpretieren und Geschichten darin zu finden, was sie im Material versammelt sehen. Eine bunt durchmischte Passantengruppe trifft um die Bauzäune zusammen und beobachtet, redet und assoziiert. Sie ist auf der Spurensuche materieller Hinterlassenschaften, als Gedächtnis der Dinge, um gleichzeitig die Arbeit des Verschwindens als solche freizulegen. Gerade in der Unvollständigkeit des Verschwindens und der dauernden Reste als Zeuge dieser Zerstörungen zeigt sich auf der Baustelle die Aufdeckung der Verdrängung. Es ist die Suche nach dem Verborgenen und der Versuch ihrer Sichtbarmachung. Die Archäologie als Agent
4
Vgl. ebd., S. 114.
5
Benjamin, Walter: Berliner Chronik, in: ders.: Gesammelte Schriften Band VI, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 465-519, S. 486f.
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gegen das Verschwinden, als Praxis der Entdeckung und der Bildwerdung des Abwesenden und Verdrängten, die sich mittels Operationen der Freilegung, Montage und Assoziation bemüht, um aus den gefundenen Teilen wieder ein Ganzes zu machen, kann sich nur helfen, indem sie die Dinge in ihren Zusammenhängen nachträglich rekonstruiert. Die Montage der Dinge vollzieht sich auf der Baustelle und besonders im Film in ähnlichem Maße und gesellt sich an dieser Stelle nicht nur zufällig dazu. So wird sich hier scheinbar der gleichen Instrumentarien wie im Film bedient; Vielheiten werden zu einem Ganzen montiert, erinnert, gespeichert, Schichten werden freigelegt und Lücken repariert. Sind die hier zu beobachtenden Prozesse des Verschwindens also allesamt nicht vollständig, sind es die Reste, die sich einschreiben und schließlich unverkennbar im Jetzt bemerkbar machen. Die Idee, den menschlichen Abdruck als eine Geschichte im Material zu lesen, tritt dabei in verschiedenen Bildern von En Construcción auf. So sind es nicht nur die offensichtlich auszugrabenden Skelette, die unter dem Abrisshaus als nicht sichtbare Geschichte verborgen lagen und nur noch als Spuren übrig blieben. Bereits im ersten Bild des Films blickt ein überdimensioniertes Graffito-Auge einer Häuserwand als establishing shot zurück in die Kamera, als transzendierter menschlicher Abdruck auf der architekturalen Oberfläche, der alsbald zerberstet, als die Bagger später im Film beginnen eben diese Mauer einzureißen. Der Blick löst sich dabei auf, wird zerteilt und demontiert – zeitgleich wird der Mauer ihre Materialität entzogen und der Mensch von der Architektur getrennt. Zeitverschoben malen Kinder mit Kreide auf die nackten Betonwände der Baustelle, um sich wieder einzuschreiben, malen Häuser, Gärten und Wiesen, übertragen ihre Wünsche auf die Objektoberflächen und setzen damit das Augengraffito als Gegenblick fort, ein Blick auf den Möglichkeitsort der Baustelle, der aber dennoch auffällig menschenleer bleibt. Wahrscheinlich sind es auch dieselben Kinder, deren ummalte Handabdrücke auf den Tapeten eingerissener Häuserwände zu sehen waren, bevor die Wand vor den Augen der Kamera zerschlagen wird und damit die materialisierten Teile einer Familiengeschichte mit dem verlassenen Heim verschwinden. In dieser Rücklesbarkeit des Verschwindens zeigt sich sodann die Archäologie als Strategie der Sichtbarmachung eben dieser Baustellenphänomene, die aus dieser Perspektive mittels verschiedener Konzepte betrachtet werden kann. Von Foucault als die Suche nach „einer ganzen Geschich-
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te“6 bezeichnet, zeigt sich die Archäologie als Materialarbeit von mehreren Seiten als Lesart des Montierens und Sichtbarmachens. Darum bilden Freuds Archäologie der Seele und Benjamins Archäologie der Moderne weitere Eckpfeiler dieser Anordnung, die die Strukturen des tatsächlich und bisher Verborgenen ausgraben wollen. Die Passagenarbeit, die Archäologie einer Geschichte des anderen Raums, sowie die Aufdeckung einer Traumarbeit sollen an dieser Stelle als Techniken zur Betrachtung der Baustelle herangezogen werden und gleichsam durch Gueríns Film führen.
Z WISCHEN
DEN
D INGEN
Alles ist im Verschwinden begriffen. Alles ist offen, zerlegt, zerrissen und demontiert. Und alles befindet sich im Übergang. Bagger reißen tiefe Wunden in die urbane Oberfläche, bringen das Material durcheinander, ordnen neu und sortieren um. Die verstreuten Elemente scheinen dabei gegeneinander zu arbeiten. Der eigentlichen Ordnung einer Baustelle, der durchdachten Logistik, der komplexen Planung und Strukturen der Arbeitsprozesse steht die laute und wirre Außenwahrnehmung gegenüber, die Unordnung von schweren Maschinen, Schmutz und Dreck. So wirkt die Baustelle an dieser Stelle fast organisch und wild wuchernd. Die Baustelle weitet sich aus, verteilt die kleinsten Teile und Geräusche in die Umgebung und erumpiert in den urbanen Raum. Zwischen all diesen aufeinandertreffenden Teilen bildet sich die Baustelle als Übergangsraum aus, der die sonst säuberlich getrennten Dinge konglomeriert. So beginnt Guerín mit Bildern von Abrissarbeiten, zeigt, wie die Abrissbirnen neue Lücken reißen, Mauerwerke entfernen und Decken einschlagen. Doch diese Öffnungen legen nicht nur neue Blickachsen und erzeugen so eine neue Sichtbarkeit, sondern öffnen gleichsam das Abrisshaus hin zum Stadtraum und legen neue Zwischenräume frei. Die Baustelle zeigt sich in En Construcción damit mehrfach im paradoxen Zwischenraum sowohl als Produzent des Gegensätzlichen als auch als Maschinerie der Differenzverdrängung. Die Abrissarbeiten beginnen damit an eben diesen Stellen des Übergangs, wenn die Fenster entfernt, die Innenwände eingeschlagen, Fliesenspiegel und Verkleidungen
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Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 197.
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abgehackt und schließlich ganze Mauerwerke aufgerissen werden, die endgültig das Innen nach Außen kehren und noch tragende Innenwände zu Außenwänden umfunktionieren. Guerín lässt dabei in das Innere der Zimmer blicken, wenn Tapeten, Reste und Bruchstücke des privaten Interieurs zerborsten am Häuserrand hängen. Somit beinah als umgekehrte Rückspielautomatik lesbar, zeigen sich diese Operationen zum Ende des Films in den Szenen der Baustelle als Gegenspieler und bald in doppelter Hinsicht als Verdrängungsmechanismus. Denn nachdem der Bau in En Construcción immer weiter Gestalt annimmt, beschweren sich in Barcelona nicht nur die Treppenbauer, während die Maurer eine Wand hochziehen, um das Treppenwerk zu kaschieren: Ihre Arbeit würde zum Verschwinden gebracht, auch die Mauer selbst wird verputzt und so die Trennungslinien der ebenso aneinander montierten Steine unsichtbar gemacht. Die Montage funktioniert dabei als Wiederherstellung der Homogenität der Dinge an sich, wobei – gleichsam in der Unterscheidung zu den anderen Dingen – das Differenzsein wiederbelebt wird. Durch das Aufstellen der Mauer werden so im gleichen Maße sowohl Ausschlüsse als auch Verschmelzungen produziert. Es werden Räume getrennt, doch auch Montageanschlüsse derart kaschiert, dass eine blinde Synthese stattfindet. Das Offene der Rohbauten wird durch die fortschreitende Arbeit immer geschlossener. So stellen sich Mauern zwischen die Lücken, füllen sie aus, verbinden Träger und schaffen eine Abgrenzung zum Außen. In Nahaufnahmen werden plötzlich Blick und Bild versperrt, Ausschnitte zerschnitten, neu kadriert und Durchblicke beseitigt. Der Film montiert Bilder der Montage, des Aufbaus von Mauern, Verschalungen und Zwischenwänden, bis die Fläche des Bildes verdeckt und durch ein Ganzes ersetzt wird. Stein für Stein wird so das Bild „zugemauert“ und durch das Raster der Montage der Durchblick zum Verschwinden gebracht. Während sich an der einen Stelle die Mauern hochziehen und Räume abgrenzen, bleiben an anderer Stelle Auslassungen und Ausstanzungen für Fensterblicke. So finden sich derartige Kollisionen genau in ihrem Gegenbild wieder und werden ebenso in bildhaften Durchsichten immanent, wenn noch unverglaste Fensteröffnungen innen/außen gänzlich aufheben, indem das Innen nur noch semipermeabel abgrenzbar vom Außen bleibt und vielmehr das Außen ins Innen holt. Diese Überschneidung im Bild wird von Guerín noch einmal gedoppelt, wenn er das Baugeschehen aus einer Reihe verschiedener Fenster gegenüberliegender Wohnungen beobachtet. Jeder
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Blick mit einem eigenen Fenster versehen, wird von jeweils unverkennbar individuellen Fensterkreuzen durchschnitten. So bildet der Rahmen des Fensters gleichzeitig eine klare Dopplung der Kadrierung entlang der Ränder des Kamerabildes. Durch die Glasscheibe getrennt, werden das Innen und das Außen aneinandergeführt, durch Spiegelungen gedoppelt und reflektiert. Vom alten Fertigen (und schon wieder Verfallenden) wird auf das Entstehende geblickt, das Bild selbst geteilt und als Differenz zerlegt. Die über den ganzen Film verteilten und niemals mehrfach auftretenden Fensterblicke setzen sich zum Ende hin fort, wenn der Blick nun umgekehrt wird, und die Kamera aus dem Rohbau heraus durch die noch nicht verglasten Fensterlöcher blickt und die gegenüberliegenden Altbauten in charmanten Postkartenausschnitten kadriert. Die Kadrierung durch das (offene) Fensterloch bildet eine Öffnung aus. Neben dem Spannungsverhältnis von hier und dort und der Identität mit dem unmittelbar präsenten Raum beschreibt sich dieser Blick der Schwelle als „Konstruktion eines Wahrnehmungsraums jenseits der schroffen Trennung von Innen und Außen“.7 So gibt das Fenster der Baustelle den Blick auf die Stadt frei und stellt sich selbst als Beobachter zwischen die Dinge und platziert diese zugleich präsent in Raum und Zeit. So ist die Baustelle in allen Teilen durchsetzt von Differenzen: Das Unfertige und das geplante Ganze, Ordnung und Chaos und die Auflösung von innen und Außen unterwandern stetig urbane Wahrnehmungskonfigurationen. Ist die Baustelle Allegorie für die Beherrschung der Natur, Ausdruck der Urbanisierung, des Fortschritts und Verkörperung von Dynamik und Veränderung, so hat sie dennoch ein widerspenstiges Verhältnis zur Stadt. Sie imaginiert das, was sie nicht ist und blickt auf das, was sie werden will. Sie ist der Riss im Urbanen, zeigt sich als Materialhaufen in alle Elemente zerlegt, uneinig mit sich selbst und erst recht mit dem Rest der Stadt. Die Baustelle ist das Noch-Nicht der Stadt, ist der visionäre Blick in das Offene eines geschlossenen Fassadensystems, ist das, was übrig bleibt nach dem Verschwinden, ist transitorisches Moment. Baustelle ist der Übergang zwischen dem, was war und dem, was noch nicht ist, zeigt sich im Entstehen und weist auf die Lücke. Genau zwischen diesen Aggregaten schafft sich die Baustelle einen Schwellenbereich, der als Verortung einer Baustellen-
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Mennighaus, Winfried: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 26.
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kinematografie im Urbanen seinen Platz findet. Damit ist der Riss des Urbanen, so wie er zu sehen war, (erstens) nicht nur der Ort der Differenz, oder (zweitens) der Riss der Oberflächen im räumlichen Gefüge, sondern eröffnet darin (drittens) die Differenz zwischen den Rändern, zwischen Innen und Außen als die Leitdifferenz des Raums, die wiederholt unterwandert und durch eben diese Schwelle als eigener Wahrnehmungsraum erfahrbar wird. Ute Holl verweist in ihrem phänomenologischen Rekurs der Raumwahrnehmung im Kino auf Merleau-Pontys Das Kino und die neue Psychologie, wenn sie schreibt: die „Wahrnehmung organisiert sich unter den Dingen und im Raum stets so [...], dass sie die ‚Homogenität des Feldes wiederher[…]stell[t].‘ [Meleau-Ponty 1945: 65]“8 Die Wahrnehmung als Organisation der Welt vor den Augen des Betrachters bewegt im Hinblick auf die Dinge nicht nur selbst, sondern lässt auch ein Wechselverhältnis entstehen: als ein Wirken „einer Ganzheit, einer Struktur oder Gestalt, die sich qualitativ anders als die Summe ihrer einzelnen Elemente zur Wahrnehmung und damit den Beobachtenden verhält“.9 Die Integration der Elemente in den Techniken der Sichtbarkeit lässt Merleau-Ponty, so Holl, zwar immer wieder auf ein „nicht-zerlegbares Ganzes“ weisen, doch „das halluzinatorische Synthetisieren des Kinos, so polymorph und unmenschlich es wird, [erweist sich stets als] unhintergehbar“.10 Die Fusion der Dinge als Montagepraxis des Kinos zeigt sich hier in reger Affinität mit den Arbeitstechniken der Baustelle, seitdem diese die Materialien auseinanderriss, um so dann eine neue Ordnung anzurichten und in eigenen (Durch-) Sichten einen neuen Raum bietet. Die Baustelle als urbane Imagination wird beinah zum Kino-Ort. Die Praktiken des Schneidens und Montierens als paradigmatische Techniken der Raumbildung am Ort der Baustelle fallen damit umso mehr ins Filmische. Denn nach Deleuze ist auch im Film der Synthese zu einem neuen Ganzen die Zerstörung und Spaltung vorangestellt.11 So ist Montage
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Holl, Ute: Risse und Felder. Zur Raumwahrnehmung im Kino, in: Günzel, Stephan (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 85-98, S. 95.
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Ebd.
10 Ebd., S. 96. 11 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996.
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im filmischen Sinn weniger die Zusammensetzung der Teile, als der Schnitt in ein Ganzes, die Einführung der Differenz.12 Dieser ebenso genuine Transformationsraum überführt die Dinge in ihre filmische Sichtbarkeit, sodass der Film, so wie ihn Laura Frahm an anderer Stelle beschreibt, „einen Bereich des Räumlichen [erschließt], in dem das Transformative, das Bewegte und das Dynamische den Ausgangspunkt jeglichen Raumdenkens bildeten“.13 Auch Baustellenmontage beschreibt damit nichts weniger als das Zusammenführen der Dinge mittels Montagetechniken, als Schnitt in ein Ganzes, um mittels Transformation und Bewegung einen anderen Raum zu denken. Die Reorganisation der Dinge als Wiederherstellung eines homogenen Wahrnehmungsraums gewinnt durch selektive Synthese wieder an Sichtbarkeit. So mag sich auch die Baustelle auf keine der beiden Seiten schlagen, zerschlägt sie erst den Raum, um dann das Material zu einem neuen Ort zusammenzufügen.
D ER
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Räume werden zusammengelegt: Dinge kommen von außen auf das Gelände und werden neu montiert. Durch Konstruktion, Akkumulation und Anordnung der Dinge wird das offene Feld erst als Raum (wieder) in die Präsenz geholt. Es ist ein Raum, der sowohl durch eine klar definierte Logistik mit der übrigen Stadt als Ganzes verbunden ist, im Dasein als Baustelle jedoch faktisch hierarchisch organisiert ist, dessen Strukturen sich im Laufe der Zeit entlang der Aus- und Einschlüsse auch die Verbindung zur übrigen Stadt revidieren. Nach dem schrittweisen Rückbau des Gebäudes folgt die Baustelle, der Rohbau, der als wucherndes Gebilde und Gemenge sich immer weiter ausbreitet, neue Dinge versammelt, wächst und um sich greift. Gerüste und Zaunanlagen, die in ständiger Veränderung auf- und abgebaut werden, grenzen den Bau mal ein oder weiten ihn auch horizontal wie vertikal aus. In den Arbeitsabläufen und Materialaustauschprozessen dicht mit
12 Vgl. Engell, Lorenz: Die Liquidation des Intervalls, in: ders.: Ausfahrt nach Babylon. Essays und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar: VDG 2002, S. 183-206, S. 187. 13 Frahm, Laura: Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld: transcript 2010, S. 190.
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der Stadt herum vernetzt, ist die Abgrenzung jedoch eine semipermeable. Materialien werden abgetragen, ausgesondert und verlassen die Baustelle. Der Raum der Baustelle wird damit im Wesentlichen durch Aneignung und Ausschluss bestimmt. Die Öffnung und Schließung des Systems, „das sich gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht“14, zeigt sich dabei als anderer Raum im Sinne Foucaults. Als wahrgenommene Störung in der Ordnung der Stadtlandschaft führt die Baustelle entlang der Transformationsräume und Foucaults Heterotopien zu einem Ort, der sich widersetzt, „in gewisser Weise sogar auslösch[t], ersetz[t], neutralisier[t] oder reinig[t]“15, wenn er sich zuallererst zerstören muss, um sich in der Montage mit neuer Ganzheit zu zeigen. Im Moment der Baustelle trifft dieser Prozess zusammen. Es entstehen Gegenräume, als Negationen des Raumes, die bei Foucault die Gegensätze zu den nicht auffindbaren Utopien sind. Dennoch wollen sie ausgrenzen und bilden sodann eine in sich geschlossene andere Welt, die temporär auftritt und im Laufe ihrer Geschichte wieder zum Verschwinden gebracht wird. Ist die Baustelle nunmehr Gegenraum, wird sie jedoch an anderer Stelle – und das wurde bereits gezeigt – gleichsam als Passage lesbar, als Übergang und Schwelle im Dazwischen. Die Dialektik des Dazwischen zeichnet nach Benjamin begriffen eine strukturelle Überschneidung mit der Baustelle vor und führt geradewegs in das Abseitige des Traumhaften: Denn die Passage wird bei Benjamin zu einem „poetisch[en] Wahrnehmungsraum, dem sich die Wahrnehmungsweisen des Traums, des Rausches, [...] einbilden lassen; ein Raum, in dem ‚die Dinge aus ihrer gewohnten Welt‘ (VI, 564) gelockt werden“16 und sich damit „vor beziehungsweise jenseits von Innen und Außen, Selbst und Welt“17 stellen. Ist der Gegenraum bei Foucault noch ortloser Ort der Träume, wird die Passage zum greifbaren Raum sich überschneidender Wahrnehmungen. Das Auswerfen der Dinge aus den
14 Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1992, S. 34-46, S. 44. 15 Ebd., S. 47. 16 Brüggemann, Heinz: Passagen, in: Opitz, Michael et al. (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 573-618, S. 578. 17 Menninghaus, Winfried: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 26.
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gewohnten Zusammenhängen zeigt dabei eben jenen Wahrnehmungsraum des Übergangs, der sich an der Baustelle zu zeigen scheint. Benjamin folgte mit der Anwendung des Traummodells auf die Gesellschaft den Surrealisten, „die in Betrachtung der Wachwelt durch die Optik des Traumes die empirische Wirklichkeit zu entmächtigen trachteten“.18 Die Bilder des kollektiven Unbewussten deuteten für Benjamin auf eine Moderne im Dornröschenschlaf, indem die Artefakte eines technischen Fortschritts sich gegen den Zustand der Gesellschaft stellten und sich hierin „das Jahrhundert den neuen technischen Möglichkeiten nicht mit einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zu entsprechen vermochte“.19 Dieser Wahrnehmungsraum wird zum Schauplatz „ästhetische[r] Gegenwelten in der gleichzeitigen Moderne von Technik und urbaner Entwicklung“ und zeigt damit „Anschauungsformen der surrealistischen Moderne als Elemente einer historisch-theoretischen Konstruktion des Augenblicks der Moderne“.20 Die Baustelle als Fundort der Reste des Verschwundenen, als Ort der Bildproduktion eines anderen Stadtraums und gleichsam präsenter Ort für Utopie und Traum urbaner Entwicklung bricht sich an eben diesem Gegensatz des Fortschritts und der Trauerarbeit um den verschwundenen Raum und den Riss als Wunde des Urbanen. Wird die Passage zum Austragungsort ästhetischer Diskurse, „mit den beiden Ekstasen der revolutionären Utopie und des surrealistischen Eintauchens ins ‚Unbewußte‘, [sowie den] Schlüsseln zur ‚Öffnung [...] [einer] eigenen Welt‘“21, zeigt sich auch der Schwellenraum der Baustelle als Einblick in das Imaginäre der Stadt. Benjamin benutzte die Passage als Bild des Übergangs und der Schwelle, in dessen Grenzbereichen sich auch die Psychoanalyse aufmachte. In Analogie zu Bewusstmachungstechniken verdrängter Vergangenheitssplitter zeigt sich Benjamins Methode als Prozess der Freilegung: Die Schwelle ist damit
18 Stögner, Karin: Traum-Zeit Moderne – das ewige Bild der Weiblichkeit. Eine Annäherung an Walter Benjamins Passagen-Werk, Wien: Braumüller 2004, S. 18. 19 Tiedemann, Rolf: Anmerkungen des Herausgebers – Paralipomena, Überlieferung und Textgestaltung, in: Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Band V-2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 1206-1350, S. 1257f. 20 Brüggemann 2000, siehe Anm. 16, S. 574. 21 Ebd., S. 575.
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nicht mehr nur als Verortung, sondern vielmehr als Handlung zu beschreiben, die, an Schwellenerfahrungen gebunden, zwischen Praktiken der Wiederherstellung und Sprengung zu finden ist.22
M ECHANISMEN
EINES
T RAUMS
Die in den Abrissen und Demontagen beobachteten Verdrängungsstrukturen des Films weisen somit nicht nur auf eine Wiederkehr des Materials mithilfe der Sichtbarmachungstechniken der Freilegung, der Montage und der Assoziation hin. Vielmehr zeigt En Construcción, dass gerade die Struktur, die Praxis und die Bildmaschinerie der Baustelle selbst einen Ort des Zwischenraums einnimmt, der entlang der Beobachtungen und Deutungen Benjamins in den Passagen des 19. Jahrhunderts das Entstehen und Verschwinden des Arbeiterviertels El Raval ebenso noch ins 20. Jahrhundert fortträgt. Das Eintauchen in das Unbewusste der Stadt zur Öffnung der eigenen Welt vollzieht sich dabei an eben jener Linie zwischen dem, was ist und dem, was war, zwischen den eingerissenen Mauern und noch nicht geschlossenen Fenstern, den Schwellen zum Zukünftigen am Ort des noch lesbaren Vergangenen. Die konkreten Transformationsprozesse der Demontage und des Neuaufbaus als Verschiebungs- und Verdrängungsmechanismen setzten sich in vielfacher Hinsicht im Materialen und Strukturalen fest. Nach der Urverdrängung und der zweiten Phase der Verdrängung tritt als QuasiFehlleistung nun der Ausdruck des Unbewussten in Form einer Wiederkehr des Verdrängten zutage. Die Wiederkehr des Verdrängten in ihren Resten findet sich als Symptom der Verdrängung, in den Bildern des Traums, wieder. Gegenwelten und andere Ordnungen beobachtete Freud im Traum als eine Umkehrbewegung.23 So tritt im Traum nicht nur das Verdrängte wieder auf, sondern wird „verbaut“ präsentiert. Der Traum ist somit Zwischenraum zwischen dem Verdrängten und dem Ort seiner Arbeit daran und ruft dementsprechend spezifische Bilder hervor. Dennoch ist er an erster Stelle eine Apparatur der Vergegenwärtigung, heißt es hier Abwesendes anwe-
22 Vgl. Menninghaus 1986, siehe Anm. 17, S. 8f. 23 Vgl. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 187.
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send zu machen: Im Falle des Traumes vornehmlich das Vergangene, was nicht beginnen will Vergangenes zu sein. Vergegenwärtigung ist hier jedoch auch paradoxerweise Strategie zur Vergangenmachung, will vergessen, was vergangen ist und es eben nicht weiter erblicken. Das Vergangene ist nur solange (re-)präsent, solange es erinnert wird, solange es anwesend gemacht wird. Wird es nicht erinnert und bleibt dabei vergangen, verschwindet es.24 Ist wirklich jeglicher Traum schlichtweg Wunscherfüllung, so aktualisiert die Baustelle womöglich eben nicht das Fertige, sondern die Schwelle zwischen Vergangenem und Zukünftigem, dem Möglichkeitsort des Urbanen, der als offenes Gebilde die Differenzen unterläuft. Macht aber der Traum, was er will, bringt er das eigene Bild von sich zum Verschwinden, tut so, als sei er nie da gewesen und taucht nie wieder auf. So wie es die einzige Aufgabe der Baustelle ist, sich selbst zum Verschwinden zu bringen und das Vergangene an seinen eigenen Platz zu weisen, steht am Ende die Selbstauflösung. Interessant dabei ist die Baustelle – der Ort der Transformation – anhand des Films als Traumarbeit des Urbanen zu beschreiben. In ihrem Zwischenzustand blickt sie dabei sowohl auf Relikte vergegenständlichter Erinnerung als auch auf die eigenen Utopien. Dieses Zusammentreffen als Bildkonglomerat macht die Baustelle zum Ort urbaner Imagination. Doch durch den Film wiederum wird dies erst erfahrbar. Träume als widerständige und eigensinnige Gebilde aus dem Reich eines anderen Zustands beinhalten eigenartige fragmentierte Kompositionen, haben eigene Strukturen und Logiken. Der Begriff der Traumfassade wird für Freud besonders stark, wenn er den Inhalt des Traums mit dem Dahinter abgleichen will und die Lesart des Manifestierten dem latenten Traumgedanken entgegensetzt.25 Die Übersetzung des Latenten in einen manifestierten Gedanken obliegt der Traumarbeit, die Freud in verschiedenen Werkarbeiten wie Verdichtung und Verschiebung, als die beiden Grundelemente, untergliedert. Die Verdichtung beschreibt Freud entschieden als eine aktiv erzeugte Verschmelzung. Mittels Verschiebung dagegen wird das Eigentliche zum Abseitigen, durch ein Neues und Anderes ersetzt. Werden die Teile des Ortes der zukünftigen Baustelle somit abgetragen,
24 Vgl. Türcke, Christoph: Philosophie des Traums, München: C.H.Beck 2008, S. 69. 25 Vgl. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 284f.
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abgerissen und die Form wieder in ihre Materialien überführt, zerfällt die Gestalt und verschiebt sich in die übrig gebliebenen Bruchstücke, die nur noch in Teilen und in neuer Form auf das Abgerissene verweisen. Mit dem Bau beginnt das Anderssein des vergangenen Raums, der vergessen gemacht werden will. In regen Transformationsprozessen werden die Dinge umgewandelt, verbaut, umgegraben, verschüttet, Neues hinzugefügt und fest zementiert. Doch Differenzen lassen sich nicht einfach verändern, sie benötigen eine Verwandlung.26 Abseits der Verschiebung und Verdichtung wird im Prozess der Transformation des Latenten in einen manifesten Trauminhalt eine dritte Traumarbeit interessant: die „Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder“.27 Sie lässt die Imagination und die Baustelle näher aneinander rücken. So lässt sich mit der Baustelle nicht nur die Idee, Planung und Ausführung eines Baus verbinden, sondern ein regelrechter Bildwerdungsdrang, der Ideen in Bilder übersetzt, verschiedenartige Imaginationsstadien durchläuft und schließlich den eigenen Blick auf die Stadt in Durchsichten kadriert, um diese dann selbst ins Bild zu rücken. Diese Bilder wiederum wären dann die Symptome des Verschwindens des Alten, während sie selbst die Genese des Neuen visualisieren. Die Baustelle zeigt sich dabei traumhaft kodiert. In den Gefilden des Traums gedacht, überrascht es nun nicht mehr, auf der Baustelle gestützte Fassaden zu finden, Gerüste und Halterungen, Kräne, Hammerwerkzeuge und Ähnliches, denen Freud allesamt phallischen Charakter zuweisen würde. Dagegen ist die Baustelle selbst immer auch aufgebrochener Hohlraum, an dem sich überall Öffnungen und Schluchten auftun, die den weiblichen Sexualsymboliken zugehören. Eine Interpretation über die Vereinnahmung alles Männlichen auf der Baustelle im Verschlingen durch das Weibliche würde an dieser Stelle erneut den anderen Raum als Ort der Verschmelzung und Hervorbringung des Neuen fokussieren. Doch mehr noch als die Konzentration auf derartige Symboliken soll der Blick weiter auf die Bildwerdung selbst gerichtet werden, um sich vorsichtig der Bildmaschine der Baustelle nähern zu können.
26 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, hrsg. von Günter Figal, Berlin: Akademie Verlag 2007. 27 Freud 1991, siehe Anm. 23, S. 182.
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B ILDMASCHINEN
UND URBANE
E IGENWELTEN
Als zum Ende von En Construcción die Bauarbeiten inzwischen soweit fortgeschritten sind, dass nur noch vereinzelt Lücken nach außen blicken lassen, beginnt es plötzlich zu schneien. Wie eine leinwandartige Schicht legt sich der Schnee über die Öffnungen, die später einmal zu Fenstern werden sollen, und verhängt sie gleichsam. Doch wirkt dies nicht nur wie eine bloße Verhüllung, sondern grenzt die Baustelle vielmehr ab und zeigt sie als verträumten Ort inmitten einer Glaskugel, geschützt wie ein Schneekugelsouvenir, das, geschüttelt, eine eigene, in sich geschlossene Welt bildet. Die Glaskugel als Bild einer geschlossenen, vollständigen und idyllischen Welt, abgeschirmt vom Außen und dennoch für den Betrachter als Ruhepol zugänglich, wirkt dabei beinah als Kommentar zu einer eigenen Welt des Anderen: Die Baustelle wird damit nicht nur traumhafter Ort eines idyllischen Kitsches, sondern wird Bild, Leinwand und Weltentwurf mittels Traummechanismen. Traum als Ausdruck eines Weltentwurfs führt bei Ludwig Binswanger zur Konstruktion von Welt überhaupt. Interessant ist dabei, dass es ihm dabei vermehrt um bewegte, dramatische Bilder ging. Träumen als Erfahrung des Einzelnen wird Zuwendung zur eigenen, bewegten Welt, die als Bilder des je eigenen Erfahrens entstehen. Baustellen als Bildmaschinen sind damit Stadt-Ansichten in Bewegung. So wie die Baustelle auf die Stadt blickt, schafft die Stadt die Baustelle als ihre eigene Imagination. Vollzieht die Baustelle in ihrer Realisierung verschiedene Imaginationsstadien, ist es nun die Stadt, die von der Baustelle entworfen wird. Der Wahrnehmungsraum der Baustelle produziert eine urbane Imagination. Dabei wird gerade das Bildhafte, das die Baustelle stetig zu produzieren drängt, zum konkreten Weltentwurf und als Traumort des Urbanen beschreibbar. Mit der Baustelle träumt sich die Stadt, wie sie einst werden will und ist für einen kurzen Moment Ort alles Möglichen, gleichwohl sich dieser Ort von der Umgebung abgrenzt, eigenwillig und organisch selbst organisiert und wuchernd um sich greift. Das Bild, von Foucault in seinem Vorwort zu Traum und Existenz als „Arretierung und Entfremdung der Imagination gedeutet“28
28 Siegel, Elke: Bildersturm. Imagination und Traum bei Binswanger und Foucault, in: Peters, Sybille et al. (Hg.): Intellektuelle Anschauung. Figurationen
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dringt dabei in diese Eigenwelt vor, die jenseits der Trennung von Objektivität und Subjektivität aus der Zusammengehörigkeit von Bild und Gefühl, zur Erschließung einer eigenen Welt, führt. Elke Siegel führt diesen Abgleich von Bild und Traum fort: „Träumen [...] heißt, eine Erfahrung zu machen, die von eigener Konstellation aus Bild und Stimmung bestimmt ist“29 und so „schon immer die des Träumers gewesen ist, zu der er sich jedoch dann in einem gewissen Sicherheitsabstand hält, der durch das Bild gegeben ist“.30 Die Beziehung von Stadt und Baustelle scheint damit in ihrer eigenen Ambivalenz beschrieben. Wer aber das Bild verstehen will, so Foucault, müsse den Traum verstehen, der nicht einfach bereits konstituierte Bilder liefert, sondern eben diese selbst hervorbringt. Der Traum reiht sich damit nicht in die Bilder ein, sondern produziert die Bilder selbst: „Das Träumen ist nicht eine Modalität der Imagination, sondern deren erste Möglichkeitsbedingung“31 und weist im gleichen Schritt das Bild in seinen Wahrnehmungsrückstand. Foucault bezieht sich auf Gaston Bachelard, um zu bekräftigen, dass die Imagination demnach nicht Bilder formt, sondern Wahrnehmungen deformiert und damit „immer schon inmitten der sogenannten Wirklichkeit am Werk“32 ist. Die Imaginationsstadien der Baustelle sind nunmehr nicht nur Bilderfolgen einer Stadtentwicklung, sondern der Stadtwahrnehmung geschuldet. Die Baustelle wäre somit diejenige Bildmaschine, die Bilder der Stadt produziert und diese zu sich selbst zurückwirft. Die Baustelle ist der Traum der Stadt und macht diese damit erst erfahrbar. Der Ort der Baustelle verschachtelt bei Guerín nun diese Modalitäten und Operationen der Sichtbarmachung und der Imagination. So wird die Baustelle zur Leinwand ihres eigenen Bildes, als in einer Nachtszene die Schatten der Arbeiter vom Flutlicht des Neubaus an die Häuserwand des gegenüberliegenden Altbaus geworfen und in langen Sequenzen beobachtet werden. Damit findet sich hier nicht nur Platons Höhlengleichnis wieder, sondern auch vielmehr ein Verweis auf den Ort des Kinos und die Techni-
von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld: transcript 2006, S. 258275, S. 260. 29 Ebd., S. 262. 30 Ebd., S. 267. 31 Foucault, Michel: Einleitung, in: Binswanger, Ludwig: Traum und Existenz, Bern/Berlin: Gachnang & Springer 1954, S. 7-91, S. 78. 32 Siegel 2006, siehe Anm. 28, S. 271.
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ken der Bildprojektion und Leinwände. Dieses Licht wird dann aber auch wieder zurückgeworfen und medientechnisch transferiert, wenn in einer montierten Serie von Blicken in die bewohnten Nachbarhäuser die flimmernden Fernsehgeräte aus den Fenstern heraus leuchten und allesamt die Schlussszenen Howard Hawks Land of the Pharaohs (1955) zeigen. Die Schatten der Arbeiten am Neubau, die auf den bedrohten Altbau als Verdunklung und Wegnahme des Lichts geworfen werden, sehen sich hier in ihrer Umkehrung, dem Leuchten aus den Fenstern heraus und den Bauarbeiten von Pyramiden im Monumentalfilm, entgegen. Die Pyramide als das stabilste Bild der Dauer von Architektur kommentiert an dieser Stelle die einander gegenübergestellten Bauten im Viertel El Raval, die sich stattdessen in wechselhafter Bewegung befinden. Die Schlussszene des Films aus dem Jahr 1955 zeigt den Tod und Einschluss des Pharaos im gerade fertiggestellten Grabbauwerk, das Zuschütten mit Sand und der Versiegelung von außen. Die ineinander verschmolzene Sequenz, die mit den Schnitten die Fensterblicke wechselt und auch erst mit dem End-Screen endet, zeigt die Baustellen in wechselseitigen Richtungen als Bildmaschine. Doch mit der Einblendung des End-Screens wird gleichsam auch der Abschluss einer Dauer präsentiert, die die Baustelle vor Ort nicht einhalten kann. So blickt die Baustelle auf eine Homogenität, die die Stadt im gleichen Moment außer Kraft setzt und der Film dieses Bild wiederum noch einmal mehr zerteilt, wenn er die verschiedenen Blicke auf die Fernsehapparate nebeneinander montiert. An diesen Stellen wird die Realität der Imagination einer Baustelle als Folge von Bildproduktionen mit der Praxis des Filmblickes verschränkt. Die Baustelle wird damit nicht nur zum Wahrnehmungsraum dieser Begegnung, sondern gleichwohl zur Produktionsstätte dieser Bilder.33 Diese (Wieder-)Herstellung der Homogenität von Stadt in der Sicherung von Beziehungsgeflechten folgt womöglich den Gedanken Elisabeth Lenks, wenn sie davon spricht, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Großstädten zum Albtraum geworden ist und darum auch nur der Traum selbst das Sinnliche wieder herzustellen vermag, das nur noch aus
33 Der Ort der Baustelle lässt dabei eben diesen genauen Blick zu, so wie die Stadt schon immer den Blicken der Beobachter entgegnen musste, von Graffiti-Augen zu Beginn des Films bis hin zu den offenen Fensterlöchern, deren Bilder nun zurückgeworfen werden.
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der Distanz jenseits des zerstückelten Tagesbewusstseins als Korrektiv wirkt.34 Der Verlust des Zwischenmenschlichen, die Entfremdung und die „blicklose[n] Geistermengen“35 werden gerade in diesem Traum des Urbanen, der sich in der Baustelle wiederfindet, aufgefangen. Die ReKonstituierung des Blicks und des Bildes wirken dabei auf eben diesen Ort. Die Situierung der Baustelle zwischen den Dingen und der Unterwanderung der Dichotomien ist damit nicht nur als bloßer Übergangsraum zu rauschhaften Schwellenerfahrungen lesbar, sondern ersehnt womöglich das, was zwischen den Menschen verloren scheint und mit der Dingwelt und ihrer Verschmelzung, dem Zusammenbringen der Gegenwelten und der Maschinerie der Umordnung wieder sichtbar wird. So versammelt die Baustelle in En Construcción paarweise Konstellationen, die sich bald auch in den Figuren des Films und den Menschen des Viertels fortsetzen. Der Film erzählt Geschichten von einem Pärchen, von Gesprächen der beobachtenden Zaungäste, von Männerfreundschaften bis hin zu Arbeitern, die auffällig oft in Zweierkonstellationen zusammenfinden und ihre Arbeit mit alltagsphilosophischen Gesprächen über Gott und die Welt füllen. Der Film stellt in allen seinen Bildern Beziehungen zu verschiedenen Anordnungen her, stellt sie gegenüber um sie gleichsam zusammenzubringen, versammelt Dinge und Menschen und löst beides im Bild auf. Von Schatten und Abbildern, Innen und Außen, Beobachtern und Beobachteten (Arbeitern), Abriss und Neubau, Entstehen und Verschwinden verweist Guerín auf eine urbane Eigenwelt der Montage, verdichtet und verschoben in eine idyllische Glaskugel, die alsbald dann verschwindet, wenn der Schnee sich gelegt und die Baustelle ihre Aufgabe erfüllt hat.
B IBLIOGRAFIE Benjamin, Walter: Berliner Chronik, in: ders.: Gesammelte Schriften Band VI, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 465-519.
34 Vgl. Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München: Matthes & Seitz 1983, S. 288f. 35 Ebd., S. 294.
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232 | M ARIUS BÖTTCHER
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Mobilität des Urbanen Reyner Banham Loves Los Angeles N ATHALIE B REDELLA
Nachdem Reyner Banhams Buch Los Angeles. The Architecture of four ecologies – eine Stadt- und Architekturgeschichte von Los Angeles – 1971 erschienen war, produzierte Malcom Brown für die BBC innerhalb der Reihe One Pair of Eyes den von Julian Cooper gedrehten Dokumentarfilm Reyner Banham Loves Los Angeles. Während das Buch in 13 Kapiteln von der Entwicklung der Stadt erzählt und durch die vier ‚Ecologies‘: ‚Surfurbia‘, ‚Foothills‘, ‚The Plain of Id‘ und ‚Autopia‘ strukturiert wird, zeigt der Film Reyner Banham Loves Los Angeles Banham selbst, wie er sich im Auto durch Los Angeles bewegt, dabei als Reiseführer fungiert und die Zuschauer zu jenen Orten führt, welche aus seiner Perspektive für die Stadtgeschichte von Bedeutung sind. Fotografien, Interviews, Ausschnitte aus Hollywoodfilmen und Filmsequenzen, die Raumeindrücke von Gebäuden durch sich zur Musik kaleidoskopartig entfaltender Bilder zeigen, unterbrechen die Fahrt auf dem Freeway. So rücken das Verkehrsnetz und die mit ihm verbundene Bewegung ins Zentrum des Films. Es ist einerseits Voraussetzung für die Erschließung und Weite der Stadt, den urban sprawl und fungiert andererseits als narratives Element, das Geschichten der Bewohner und Darstellungsformen der Stadt in ein Zusammenspiel treten lässt. Mobilität wird somit nicht ausschließlich in Bezug auf die durch den Freeway ermöglichte physische Bewegung aufgefasst, sondern findet vielmehr ihren Ausdruck in den Relationen zwischen der Geografie des Ortes, der Architektur, den im Hollywoodfilm produzierten Bildern und den Einzelwelten der Bewohner.
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Auf diese vom Austausch bestimmten Bewegungen bezieht sich auch der bereits im Titel des Buches vorkommende Begriff ecology. Nach Anthony Vidler wirft Banham mit der Verknüpfung von Architektur und Ökologie eine ganze Reihe miteinander verwobener Fragen auf: „What had architecture to do with ecology, what might be an ecology of architecture, and even more important, what would be the nature of an architecture considered in relation to its ecology?“1 Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, rückt Banham die ganze Struktur der urbanen Region und ihre Bewohner in den Blick und schließt auch die Architektur der vernacular architectures2 – jene regionale, alltägliche und ohne Architekten gebaute Architektur – sowie das Design der Surfboards und Autos mit ein. Von besonderer Bedeutung für die Frage nach dem Verhältnis von Infrastruktur und Film sind somit die Relationen zwischen den Räumlichkeiten des Urbanen und den Dynamiken, die sie innerhalb des Films entfalten. Mittels des Materials, welches Banham heranzieht – Karten, historische Fotografien, Fotografien singulärer Architekturen, Pop-Art und Hollywoodfilm – werden Design-, Architektur- und Stadtgeschichte miteinander verschränkt und in verschiedenen Maßstäben sowie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Dabei lässt die Montage die von Wechselwirkungen bestimmten Praktiken des Urbanen zur Geltung kommen. Reyner Banham Loves Los Angeles ist aber auch eine Reflektion über die Medien der Stadtgeschichte, die der Film in ihren spezifischen Wirkungen hervortreten lässt. Wie also kann die Historiografie von Los Angeles durch die Technik des Films erfahren werden?
1
Vidler, Anthony: Introduction. Los Angeles. City of the Immediate Future, in: Banham, Reyner: Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies (1971), Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2001, S. xvii-xxxiii, S. xix.
2
Eine Definition der vernakularen Architektur, die im Besonderen auf die Wohntypen Kaliforniens eingeht, gibt Charles Moore in: Moore, Charles A.: Introduction, in: Smith, Kathryn; Becker, Peter (Hg.): Home sweet Home. American Domestic Vernacular Architecture, New York: Rizzoli 1983.
MOBILITÄT DES URBANEN | 235
Z UR S TRUKTUR
DES
F ILMS
Reyner Banham Loves Los Angeles dokumentiert, wie bereits erwähnt, Banhams Autofahrt durch Los Angeles, in der er die Rolle des Stadtführers übernimmt und dem Zuschauer seine Sicht auf Los Angeles vorstellt. Am Anfang des Films zeigt die Kamera aus der Vogel- beziehungsweise Hubschrauberperspektive Banham am Flughafen, während er zu dem von ihm gemieteten Auto läuft. Kommentiert werden die Bilder von ihm selbst: „That’s Los Angeles Airport. You can always recognize it by the palm trees. And that’s me, Reyner Banham, crossing the road. I’m professor of the history of architecture at University College London“. Auf die Frage: „You might wonder what I am doing in Los Angeles, which makes nonsense of history and breaks all the rules“ antwortet er: „Well, I love the place with a passion that goes beyond sense or reason“. Darauf folgt die Einstellung, die ein billboard mit dem Titel des Films Reyner Banham Loves Los Angeles zeigt. Es sei hier angemerkt, dass One Pair of Eyes – die Serie der BBC – einen Ort darstellte, an dem – so formulierte es der Produzent Malcom Brown – „people were allowed to air their obsessions“.3 Ganz nach diesem Prinzip baut der Film auf Banhams Faszinationen von Los Angeles auf.4 Bereits in seiner bei Nikolaus Pevsner geschriebenen und 1960 veröffentlichten Dissertation Theory and Design of the First Machine Age hatte Banham einen Ansatz entwickelt, in welchem er propagierte, Design als sozialen Diskurs, der über Formen und Stile hinausgeht, zu denken. Banhams Enthusiasmus für die amerikanische Pop Kultur ist nach Nigel Whitely wesentlich für seine Architekturgeschichte, in der er den Form-Stil Diskurs nicht verlässt, sondern ihn vielmehr durch populistische Aspekte erweitert und den Fokus der Betrachtung von den Dingen zu den Situatio-
3
Malcom Brown in: Dimendberg, Edward: The Kinetic Icon. Reyner Banham on Los Angeles as Mobile Metropolis, in: Urban History, Vol. 33 (01.05.2006), S. 106-125, S. 112.
4
Die BBC hatte bereits 1968 vier Radio Sendungen im Third Program ausgestrahlt, in denen Banham von seinen Eindrücken in Los Angeles berichtete. Die entsprechenden Artikel: „Encounter with Sunset Boulevard“, „Roadscape with Rusting Nails“, „Beverly Hills, too, is a Ghetto“ und „The Art of Doing your Thing“ wurden in der hauseigenen Zeitschrift The Listener publiziert.
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nen verschiebt.5 Diese Herangehensweise bestimmt dann auch die Zugriffe auf die Stadt in Reyner Banham Loves Los Angeles, auf die im Folgenden das Augenmerk gerichtet werden soll.
K ARTE
UND
F OTOGRAFIE
Die Fahrt beginnt Richtung Century Boulevard. Wir sehen Banham, der im Auto sitzend die Audiotour der Firma Baede-Kar – eine Anspielung auf den Baedeker-Reisführer – anschaltet und seine Fahrt beginnt. Eine Frauenstimme ist zu hören: „Welcome to Los Angeles, super city of the future“. Durch den gesamten Film werden die Beschreibungen und Anweisungen der Audiotour von Banham kommentiert. Während Banham davon erzählt, dass es einer Erklärung, einer Stadtführung bedarf, um die Vorzüge von Los Angeles zu erkennen, folgt dem Blick aus der Windschutzscheibe eine Montage von Kamerafahrten. Diese zeigen aus der Hubschrauberperspektive Orte der Stadt, die Banham in Bezug auf seine Position lokalisiert: 20 Meilen nördlich die beach cities, 20 Meilen Nord-Ost das Hollywoodzeichen in den Bergen, 50 Meilen südlich die Felsen von Palos Verdes Mountain mit den Vororten, 20 Meilen Süd-Ost Long Beach mit den verkleideten Öltürmen und 50 Meilen östlich Downtown mit den ältesten Gebäuden der Stadt. Die Kamera bewegt sich über die Landschaft, zeigt Ausschnitte in der Nahaufnahme, um dann wieder aus der Hubschrauberperspektive auf die Geografie der Stadt und ihre Bebauung zu blicken. Diese aneinandergefügten Räume übernehmen die Funktion einer Karte, in der die filmische Darstellung des Raums in Spannung zu den kartografischen Koordinaten tritt. Der Wechsel unterschiedlicher Perspektiven gewinnt im Verlauf des Films für das Ergründen der urbanen Region an zunehmender Bedeutung. Dabei werden jene Blicke, so ließe sich zunächst behaupten, zwischen denen Michel de Certeau in seinem Essay Walking in the City unterscheidet – die des Voyeurs und die des sich im Straßenraum bewegenden Fußgän-
5
Whiteley, Nigel: Design and the Theory of Four Machine Ages, in: European Academy of Design (Hg.): Desire, Designum, Design. Proceedings of the Fourth European Academy of Design Conference. Portugal: Universidade des Aveiro 2001, S. 358-361.
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gers – zusammengeführt.6 Für de Certeau, der eine Analogie zwischen dem Gehen und dem Sprechakt herstellt, ermöglicht der Blick aus einem Hochhaus das Lesen der Stadt als Text.7 Der abstrahierte von oben gerichtete Blick ist gleichsam die Voraussetzung für die Kontrolle des Raums durch den Stadtplan. Dem erhöhten Standpunkt, der die kartografische Vermessung ermöglicht, stellt de Certeau die räumliche Praxis des sich in der Stadt bewegenden Fußgängers gegenüber. Ohne den Gesamtplan zu kennen, schreiben die Fußgänger mit ihren Körpern Texte in den urbanen Raum.8 Die mit ihren Handlungen verbundenen Geschichten verweben sich zu einem räumlichen Netz, das sich aus Fragmenten, die weder Autor noch Zuschauer besitzen, formt. Diese die Stadt konstituierenden Geschichten fügen sich, nach de Certeau, in den ordnenden Rahmen der Stadt ein, widersetzen sich ihm aber auch und lassen neue Zusammenhänge entstehen.9 Für den Anthropologen Tim Ingold ist menschliche Erfahrung daher auch nicht ortsgebunden, sondern ortsverbindend. Auf James Gibson Bezug nehmend, schreibt Ingold, dass sich die Wahrnehmung entlang eines „path of observation“10 entfaltet. In der Bewegung werden Dinge selektiert, in und aus dem Blick genommen.11 Die sich im Gehen entfaltenden Handlungsräume stehen, so Ingold, der Erfahrung auf dem Highway gegenüber. Denn während der Autofahrt ist der Passagier immobil. Die Bewegung im Automobil ist nicht länger eine Erfahrung, in der sich Handlung und Wahrnehmung unmittelbar miteinander verbinden, sondern sie sei vielmehr von Immobilität und einem Verlust des Sinnlichen gekennzeichnet.12 Reyner Banham Loves Los Angeles bricht jedoch, und er tut dies insbesondere durch die filmische Raumorganisation, mit der Abgeschlossenheit des Highways. Im Prozess des Fahrens wird durch Montage, Schnitt und Kame-
6
Certau, Michel de: The Practice of Everyday Life, London, England: University
7
Ebd., S. 92.
of California Press 1988, S. 92f. 8
Ebd., S. 93.
9
Ebd., S. 101.
10 Gibson, James J. in: Ingold, Timothy: Up, across and along (2007), in: ders.: Lines. A Brief History, London [u.a.]: Routledge 2008, S. 72-103, S. 87. 11 Ingold, Timothy: Up, across and along (2007), in: ders.: Lines. A Brief History, London [u.a.]: Routledge 2008, S. 72-103, S. 87. 12 Ebd., S. 102.
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raeinstellung ein Gefüge von Räumlichkeiten entwickelt, das den Highway über seine verbindende Funktion hinaus konstituiert und auch die Historie des Verkehrsnetzes in die Handlungen mit einbettet. Das Wechselspiel von Karte und bewegtem Bild, das in den ersten Sequenzen zum Einsatz kommt, wird im Folgenden variiert, wenn die Fotografie an Bedeutung gewinnt. In der letzten Sequenz der anfangs beschriebenen Kamerafahrten bricht der Bilderfluss plötzlich ab, wenn die Kamera historische Fotografien der Plaza Church und des Pico Gebäudes, die für das ‚alte‘ Zentrum von Los Angeles stehen, zeigt. Eine Unbewegtheit tritt mit den Fotografien ins Bild. Ihre Wirkung ließe sich mit Roland Barthes Bezeichnung der Fotografie als Pose beschreiben. Kennzeichnend für die Pose – die Barthes vom Film absetzt – ist ein Innehalten in einem vergangenen Augenblick, ein Gedanke an jenen Moment „als sich etwas Reales unbeweglich vor dem Auge befand“.13 In der Differenz zum Film, bei dem sich das Objekt vor der Linse bewegt, hält die Fotografie jenen Zeitpunkt fest, der „von der ununterbrochenen Folge der Bilder beseitigt oder geleugnet wird“.14 Über die Verschiedenheit der Medien hält Barthes fest: „Im PHOTO hat sich etwas vor eine kleine Öffnung gestellt und ist dort geblieben [...] im Film hat sich vor der gleichen Öffnung etwas vorbeibewegt“.15 In Reyner Banham Loves Los Angeles ergibt sich nun folgende Situation: Die Fotografie der Plaza Church wird von der Filmkamera aufgenommen und in den Bilderfluss integriert. Mit der schwarz-weißen Abbildung gelingt ein Blick in die Vergangenheit und die Momentaufnahme erzeugt Evidenz über jenen Zeitabschnitt der Geschichte, als die Gebäude des traditionellen Zentrums von Los Angeles noch zu Mexiko gehörten. Das Verweilen im Moment der Aufnahme wird kurz darauf wieder verlassen, wenn die Kamera die Kirche in Farbe zeigt und den Bezug zum bewegten Bild und dem Filmgeschehen wiederherstellt. Die Kamera schwenkt zu Banham, der, das Gebäude fotografierend, im rechten Bildvordergrund zu sehen ist. Der Rückgriff auf die Fotografie erfolgt auch in jener Sequenz, in der Banham dem Zuschauer den Ort seiner Kindheit, Norwich, vorstellt, wel-
13 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 88. 14 Ebd. 15 Ebd.
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che er als die „British Standard Cathedral City“ bezeichnet. Hier unterbricht eine Folge von Standbildern, auf denen die Kathedrale, das Schloss, der Marktplatz und die mittelalterliche Stadtmauer zu sehen sind, den Bilderfluss. Doch Norwich ist, so Banham, nicht nur „history and glamour“, und so folgen weitere Aufnahmen, die Banham auf den Straßen des Arbeiterviertels, in dem er aufgewachsen ist, zeigen. Wie im Falle des Pico Gebäudes und der Plaza Church lassen die Fotografien einen vergangenen Zustand der Stadt beziehungsweise der Gebäude hervortreten, doch vollzieht sich ihre Wirkung vor allem durch den ruckartigen Rhythmus der Montage, der sich vom bewegten Bild absetzt, beziehungsweise dieses sichtbar werden lässt.16 Gleichzeitig verlagert sich der Akzent der Darstellung des Ortes von den touristischen Attraktionen zu Banhams Alltag. Bezeichnenderweise führt die letzte Aufnahme den Zuschauer dann auch zu jenem Ort, an dem Banham Los Angeles zum ersten Mal begegnet ist, den Penny Pictures von Norwich. Die Hollywood Silences, die, so Banham „on location“ gedreht wurden, haben seine Vorstellungen von Los Angeles geprägt, bevor er die Stadt jemals besucht hatte. So leiten die Fotografien über zu Filmausschnitten aus Buster Keaton Filmen. Sequenzen, in denen Kinder zu schneller Klaviermusik auf die Straßen laufen, Menschen, die sich auf die Straßen drängen, Straßenbahnen, die ins Bild fahren und sich drehen, werden gezeigt. Es ist eine Fülle von Bewegungen, die der Zuschauer zu sehen bekommt – und in deren Zentrum die Straßenbahn steht. Diese Bilder affizieren die Zuschauer durch die Schnelligkeit der Bewegungen und durch den Rhythmus der Klaviermusik. Bewegung wird zur Attraktion.17 Standbilder und Stummfilme dienen in den hier beschriebenen Sequenzen als histori-
16 Über das Verhältnis von Fotografie und Film siehe: Kracauer, Siegfried: Theorie des Films (1960), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985 und Bazin, André: Was ist Film?, Berlin: Alexander 2004, französische Ausgabe: Qu’est-ce que le cinéma, Paris: Les Éditions du Chef 1975. 17 Tom Gunning, der den Begriff ‚Cinema of Attractions‘ für das frühe Kino geprägt hat, beschreibt, wie es im Unterschied zum späteren Erzählkino durch optische Effekte seine Zuschauer affizierte und Teil einer Schaukultur war. Vgl. Gunning, Tom: From the Kaleidoscope to the XǦRay. Urban Spectatorship, Poe, Benjamin, and Traffic in Souls (1913), in: Wide Angle, Vol. 19 (April 1997), S. 25-61.
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sche Verweise auf Los Angeles, die ihre Bedeutungen vor allem durch den verlangsamten beziehungsweise beschleunigten Bilderfluss erlangen. Wenn Banham den Zuschauern ausgewählte, singuläre Architekturen von Los Angeles vorstellt, hält das Bild einen kurzen Moment vor den Ansichten Frank Lloyd Wrights ‚Enice House‘, Richard Neutras ‚Health House‘ und Charles und Ray Eames’‚Eames House‘ an. Diese gerichteten Blicke stellen eine Zone des Übergangs zwischen der Fotografie und dem Film dar und lassen die Architekturen und ihre Autoren in den Vordergrund treten. Ihnen folgt eine Sequenz des ‚Eames House‘, in der durch Kamerafahrt und Montage Ausschnitte des Hauses gedehnt und gestreckt werden, sodass sich die räumlich figurativen Strukturen der Konstruktion auflösen. Die sich verändernden Licht- und Schattenkonstellationen lassen Stimmungen einer fantastischen Welt entstehen. Die Mittel der filmischen Raumgestaltung, die dem Entdecken von Eigenschaften in bekannten Strukturen dienen, geben nach Walter Benjamin Aufschluss über Raum- und Formfantasien.18 In der oben beschriebenen Sequenz erfasst der Film jene Aspekte der Architektur, die man nach Benjamin als das „Optisch-Unbewusste“ einer Formgestalt bezeichnen kann. Auf ähnliche Weise wird den Bewegungen der Watts Towers, die von der Stimme der Audiotour als „famous do it yourself monument“ angekündigt werden, Ausdruck gegeben. Die Kamera zeigt in wechselnden Einstellungen Blicke entlang und innerhalb der Struktur der Türme. Zur Musik entfalten sich kaleidoskopartig wechselnde Räume. Mal zeigt die Kamera Ausschnitte der Konstruktion, dann Materialien im Detail, auf denen das Licht reflektiert.19 Die Aufnahmen ermöglichen dem Zuschauer haptische Eindrücke der Türme, und die Verbindung von auditiver und kinetischer Bewegung lässt den Bezug zum Stadtraum für Momente in den Hintergrund treten. In diesen Wechseln zwi-
18 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 36. 19 Über die Erfahrung von Zeit und Raum schreibt Erwin Panofsky 1936 in seinem Essay „On Movies“: „der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an“. Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film (1936), in: ders.: Die ideologischen Vorläufer des RollsRoyce-Kühlers & Stil und Medium im Film, Frankfurt a. M.: Campus 1993, S. 19-48.
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schen Standbildern und Filmsequenzen verschränken sich dokumentarische und subjektive Zugriffe auf die Architektur. Der Stellenwert, den die Fotografie in Reyner Banham Loves Los Angeles einnimmt, unterscheidet sich von jenem, den sie in dem Buch Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies ausfüllt. Während der Film Bedeutungen der Fotografie durch ihre Verweildauer vor der Kamera, durch Rhythmus und Farblichkeit hervorhebt, tritt die Differenz und Herkunft der Abbildungen im Buch in den Hintergrund. Das gesamte Bildmaterial, darunter über 100 Fotografien von Julius Schulman, Marvin Rand, Ezra Stoller, Fotografien aus historischen Archiven, sowie aus Ed Ruschas Thirty Four Parking Lots werden durch die Qualität ihrer Abbildung, die in gleichen Grauwerten erfolgt, miteinander verwoben. Eine Hierarchisierung des Materials wird aufgehoben, was gleichsam eine Voraussetzung für Banhams Ansatz – Alltags, beziehungsweise Populärkultur in die Architekturgeschichte einzuführen – darstellt.20 Anzumerken ist, dass Teile des Bildmaterials, welches Banham im Buch für seine Argumentation einsetzt, im Film seine Bedeutung durch die Aufnahme der Filmkamera und die Platzierung im Filmgeschehen neu entfaltet.
H OLLYWOODFILM
UND DAS
B ILD
DER
S TADT
Die Rolle, die der Hollywoodfilm für die Stadtgeschichte spielt, wird im Verlauf des Films weiter ausgelotet. Dafür greift Banham die These – auf die bereits im Zusammenhang mit dem Stummfilm hingewiesen wurde –, dass der Film nicht nur die Vorstellung der Stadt, sondern auch die Erfahrung von Räumen prägt, wieder auf. Er entwickelt eine Gegenposition zu jenen Kritiken an Los Angeles, wie sie bereits Kevin Lynch in seiner Studie von 1960 The Image of the City formulierte. Lynch, der mit Hilfe von mental maps das Bild der Stadt, das sich in den Vorstellungen der Bewohner ausdrückt, erfassen wollte, um daraus Kriterien für eine bessere Stadtplanung zu gewinnen, hält in seiner Studie über Los Angeles fest, dass die
20 Bereits Sigfried Giedion nutzte die Fotografie in ihrem diskursiven Eigenwert und entwickelt in seinen Bildfolgen und Gegenüberstellungen eine Argumentation im Bild. Vgl. Oechslin, Werner: Sigfried Giedion und die Fotografie, Zürich: gta 2010.
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Bewohner aufgrund des ausgedehnten Straßennetzes Schwierigkeiten haben, sich in Los Angeles zu orientieren.21 Aus den Analysen folgert Lynch, dass Orientierung weniger durch den Austausch unterschiedlicher Aktionen als durch bauliche Markierungen erfolgt. Es sind jedoch gerade die Momente individueller alltäglicher Erfahrung, die Banham zum zentralen Motiv der Stadtplanung erhebt und die, von den im Hollywoodfilm gezeigten Bildern und Erfahrungen geprägt sind. Die Popularität des Films ermögliche es den Bewohnern, durch Filmhandlung und Bilder eine Familiarität zu der Stadt zu entwickeln, die das Bedürfnis nach Wiedererkennung traditioneller urbaner Monumente ersetzt.22 Aber nicht nur die Erfahrung der Stadträume, sondern auch jene der Architektur ist in Los Angeles wesentlich von der Filmerfahrung geprägt. Dies zeigt sich auf besonders einprägsame Weise in jener Sequenz, in der Banham ein Haus des Spanish Colonial Style besucht. Als charakteristische Merkmale der Wohnarchitektur, in der sich die Fantasien und Träume der Bewohner entfalten, führt Banham zunächst die weißen Wände, hölzernen Säulen und Ziegeldächer an. Die mit den Häusern verbundenen Fantasien sind jedoch, so Banham, derer des Hollywoodfilms nicht unähnlich. Die Beschreibung der Bauteile mündet dann auch in einer Montage von Einstellungen, in denen sich Banham dem Haus nähert, während die Filmmusik
21 In seiner Studie lässt Lynch in drei US amerikanischen Städten Boston, Jersey City und Los Angeles Befragungen und professionelle Kartierungen durchführen, um die mentalen Bilder, welche die Bewohner von ihren Städten besitzen, zu erfassen. In ihren Beschreibungen charakterisieren die Bewohner Los Angeles als „spread-out“, „spacious“, „formless“ und „without centers“. Es gibt jedoch auch Äußerungen der Bewohner, die ihre Orientierungspunkte in der Landschaft finden und alltägliche Erfahrungen beschreiben. Vgl. Lynch, Kevin: The Image of The City, Cambridge, Mass.: MIT 1960. 22 Wie die Entwicklung von Stadt und Film miteinander verbunden sind, hat Thom Andersen in seinem Essayfilm Los Angeles Plays Itself (USA 2003) erforscht. Aufs Engste mit der Entwicklung von Film und Stadt verbunden, konstruiert er anhand von Ausschnitten aus Hollywoodfilmen die Geschichte von Los Angeles und schreibt dabei, darauf hat Laura Frahm hingewiesen, die Stadt- und Filmgeschichte neu. Vgl. Frahm, Laura: Zwischen Topographie und Topologie. Los Angeles Plays Itself, in: Hölter, Achim; Pantenburg, Volker; Stemmler, Susanne (Hg.): Metropolen im Maßstab, Bielefeld: transcript 2009, S. 149-173.
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aus Hitchcocks Vertigo zu hören ist. Kadrierung und Ton bauen eine Referenz zu Vertigo und das den Film bestimmende leitmotivische Schwindelgefühl auf. Unter Verwendung verschiedener Aufnahmewinkel wird eine Betrachtungsweise der Architektur eingeführt, die fragmentierte Blicke miteinander verknüpft und in Spannung zu der vorhergehenden Bauteilbeschreibung steht. Auch jene Sehenswürdigkeiten, die Orientierungspunkte der Stadt darstellen, wie das Griffith Park Observatory, sind den Bewohnern weniger durch ihre physische Präsenz, wie Banham meint, sondern durch den Film Rebell Without A Cause bekannt. Die Überlagerung von architektonischem und filmischem Raum geschieht am Observatory durch das Einfügen von Filmmaterial aus Rebell Without A Cause: Wir sehen James Dean im orangenem T-Shirt auf den Zuschauer zulaufen und in seinen im Vordergrund stehenden Wagen einsteigen. Diese Bildausschnitte überlagern sich auf eigentümliche Weise mit jenen, die Banham in seinem Auto vorfahrend und im orange-farbenen Hemd am Observatory stehend zeigen. Die Unschärfe zwischen der Filmszene und der Dokumentation von Banhams Besuch am Observatory lässt Banham für Momente zum Schauspieler werden, und die Wahrnehmung des Ortes wird durch die Bilder und Inhalte aus Rebell Wihout a Cause erweitert. Diese Ausschnitte verdeutlichen, dass der Film selbst aktiv in die Art und Weise, wie die Bewohner die Stadt wahrnehmen, eingreifen kann. Banham weist darauf hin, dass der Mythos, der mit dem Ort verbunden ist, gleichsam durch den Film begründet ist, während der Film, so ließe sich ergänzen, das Urbane ergründet.
F REEWAY I NTERCHANGE Auf dem Freeway rückt die Erfahrung des Fahrens in den Vordergrund. Kameraeinstellungen, die Banham im Auto und die am Seitenfenster vorbeiziehende Landschaft zeigen, wechseln mit Blicken aus dem Hubschrauber, welche einen Überblick über die Region geben. Aus der Hubschrauberperspektive zeigt die Kamera verschlungene Auffahrten, und die Stimme der Audio-Tour gibt Anweisungen, wie die Fahrspuren zu wechseln sind, sodass die Fahrenden ganz in den Bewegungen des Highwaysystems aufgehen können. Bereits in Lynchs Studie bringen die Bewohner ihre Faszination an den Bewegungen auf dem Freeway zum Ausdruck, wenn sie
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von den kinetischen Erlebnissen des Fallens, sich Drehens und Aufsteigens sprechen, welche die Überführungen, Auffahrten und Kreuzungen ermöglichen.23 Lynch misst diesen Erfahrungen jedoch eine geringe Bedeutung bei, da er jene Orientierungspunkte im Stadtraum fokussiert, die durch bauliche Prägnanz einprägsame Bilder formen. Dagegen hat Siegfried Gideon bereits 1941 in Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition die Bewegung auf dem Highway als Ausdruck einer neuen Zeit beschrieben. Er stellt heraus, dass die Bedeutung des Parkways nicht in einer Ansicht oder einem Bild erfahren werden kann, sondern nur im Fluss der Bewegung, welcher durch den Verkehr vorgegeben wird. Er schreibt: „The space-time feeling of our period can seldom be felt so keenly as when driving the wheel under one’s hands, up and down hills, beneath overpasses, up ramps and over giant bridges“.24 Auch für Banham stellen die Auffahrten der Freeways einen Ort der „motorized art appreciation“ dar. Die Bewegung auf der Auffahrt zwischen dem Santa Monica und Sant Diego Freeway kann, so die Audiotour, beim Fahrenden einen „kick“ auslösen, sodass der Fahrer den Bodenkontakt für Momente verliert. Die Kamerafahrt zeichnet in dieser Szene – aus der Hubschrauberperspektive – die Form des Freeways nach, wenn sie sich zunächst parallel zu dessen Verlauf bewegt und anschließend die Bewegungsrichtung wechselt, um die kreisende Form des Kleeblatts nachzuvollziehen. In den beschriebenen Filmsequenzen tritt die Erfahrung des Richtungswechsels auf dem Freeway in den Vordergrund. Keller Easterling weist in ihrem Essay „Interchange and Container. The New Orgman“ auf die Funktionen, die Schnittstellen im Straßensystem einnehmen können, hin. Während sich, laut Easterling, Netzwerke dadurch auszeichnen, dass an ihren Schnittstellen zwischen Maßstäben gewechselt und heterogene Elemente verbunden werden, ist der Highway von einer Reduktion an Komplexität bestimmt. Trotz innovativer Ansätze aus den 1920er Jahren, welche mit Verbindungen zwischen alten und neuen Transportnetzwerken experimentierten und davon ausgingen, dass das Potenzial des Highways durch die Integration verschiedener Organisationsformen intensiviert werden könne, wurde die Bewegung auf dem Highway auf ein Vehikel, das sich mit relativ
23 Lynch 1960, siehe Anm. 21, S. 40f. 24 Giedion, Sigfried: Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1941, S. 729f.
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gleichbleibender und hoher Geschwindigkeit bewegt, reduziert.25 Ideen, die von Verschaltungen und Querverweisen sowie der Parallelität von Highway-, Schienen- und Wassersystemen ausgingen, wurden nicht weiter verfolgt, und das Ausbilden von Verbindungspunkten, in denen sich unterschiedliche Systeme miteinander verschränken, blieb somit aus. Autobahnzubringer und Knotenpunkte gewannen lediglich für den Wechsel der Bewegung an Bedeutung.26 Auch Banham hebt in seiner Darstellung der Verkehrssysteme die Abfolge ihrer Entwicklung – der Freeway hat ein unökonomisch gewordenes Schienensystem abgelöst – hervor. Die Räumlichkeit des Freeways wird jedoch auch in den Wohn- und Geschäftshäusern von Los Angeles erfahrbar. Wenn Banham am Griffith Park Observatory in das Fernrohr schaut, leitet der Blick auf die Region über zu den Gebäuden um den Wilshire Boulevard und Banham beginnt über den Typus der Bebauung, welcher für die motorisierte Bevölkerung entworfen wurde, zu sprechen. Die Einfamilienhäuser, die im Besonderen die Bebauung um die Miracle Mile und im Allgemeinen jene von Los Angeles bestimmen, begründen, so Banham, den amerikanischen Traum vom eigenen Haus.27 Während Banham betont, dass sich Infrastrukturen und Wohntypologie bedingen, zeigt die Kamera in einer schwarz-weißen Zeichnung eine Perspektive von Bloomsbury, mithilfe derer Banham die Fortbewegungsmittel Londons und Los Angeles’ noch einmal gegenüberstellt. Aufgrund der Distanzen und den Mitteln der Fortbewegung – die Bewohner in London bewegten sich zu Fuß – stellte Bloomsbury im 18. Jahrhundert den äußersten Punkt auf jener Linie, welche die Stadt begrenzte, dar. Dagegen, so Banham, besaßen die Bewohner von Los Angeles die Pacific Railway und konnten somit den Stadtraum weiter ausdehnen. Die dreidimensionale Karte von Bloomsbury leitet über zu einer Sequenz in Los An-
25 Easterling, Keller: Interchange and Container. The New Orgman, in: Perspecta, Vol. 30, Settlement Patterns (1999), S. 112-121, S. 114 ff. 26 Ebd., S. 114. 27 Über die Bungalow Bebauung nördlich des Wilshire Boulevards und deren Fabrikation durch das Unternehmen Pacific Ready Cut Homes vgl. Hayden, Dolores: The Power of Place. Urban Landscape as Public History, Cambridge, Mass.: MIT Press 1995, S. 128.
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geles; dort spürt Banham den Spuren der Pacific Railway nach.28 Noch einmal werden Ausschnitte aus Filmen von Buster Keaton, die bereits im Zusammenhang mit den Penny Pictures zu sehen waren, in den Film integriert. Im Kontext der Entwicklung des Highways fungieren sie als Verweis auf ein Schienensystem, das die Stadt einst zusammenführte und in dem der Bau des Straßennetzes und der Kult um das Automobil ihren Ursprung haben. Den an den Straßenrändern liegenden Architekturen gilt in einer weiteren Filmsequenz die Aufmerksamkeit.
V ERNACULAR A RCHITECTURES
UND
D ESIGN
Ganz im Sinne der Vernacular Architectures, die für die motorisierte Bewegung entworfen wurden, diskutiert Banham im Auto auf dem Parkplatz eines drive-in Restaurants mit dem Schriftsteller Mike Salisbury und dem Künstler Ed Ruscha über die Architektur der Stadt, in der es keine Monumente gibt. In Los Angeles gewinne jene Architektur an Bedeutung, die an den Straßenrändern steht und temporär sei – so Salisbury. Ruscha spricht von der Standardisierung der Architektur, und die Kamera zeigt im Wechsel Standbilder seiner Arbeiten über die Tankstellen Architektur und die autoorientierte (Stadt-)Landschaft.29 Den Fotografien aus Ruschas Künstlerbuch Twentysix Gasoline Stations (1963), die er auf einer Fahrt zwischen Los Angeles und seiner Heimatstadt Oklahoma aufgenommen und unter Angabe des Ortes und der Tankstellenmarke publiziert hatte, folgt eine Aufnahme seiner Arbeit Standard Station. In dem Gemälde wird die Tankstelle als dramatisches Symbol der amerikanischen Landschaft inszeniert
28 Bereits in seinem Essay Roadscape with Rusting Nails hat Banham die Erfahrung auf den Straßen in Los Angeles in Bezug auf die Entwicklung der Verkehrsnetze der Stadt beschrieben. Vgl. Banham, Reyner: Roadscape with Rusting Nails, in: Banham, Mary et al. (Hg.): A Cristic Writes. Essays by Reyner Banham, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1999, S. 124-128. 29 Über Ruschas Arbeiten, in denen er den Räumen zwischen den Highways, dem Bild der Landschaft und dem Verhältnis von Repräsentation und Abstraktion nachgeht siehe: Benezra, Neal; Brougher, Kerry: Ed Ruscha, Zürich: Scalo 2002.
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und in einer anschließenden Siebdruckserie durch Farb- und Formveränderungen variiert. Ruschas Arbeiten verdeutlichen, wie er Fotografie, Zeichnung, Malerei und Kunstbücher einsetzt, um sich der den Alltag prägenden, Architektur zu nähern. Die Dokumentation der mit den Infrastrukturen verbundenen Typologien eröffnet neue Sichtweisen auf die Strukturen und Bausubstanzen der Stadt, die im Film in ihrem ästhetischen Potenzial und in ihrer Bedeutung für die Architekturgeschichte ausgelotet werden. Ruscha und Banham sprechen aber auch darüber, dass der „indigenous modernism“ die Architektur der drive-ins durch die wachsende Standardisierung verdrängt. In diesem Zusammenhang hat Edward Dimendberg auf die Widersprüche, die mit den Äußerungen der beiden einhergehen, hingewiesen. Die Idee der Freiheit – die mit der Architektur der Freeways und Autos verbunden ist – wird hier, so Dimendberg, als eine nostalgische sichtbar, da die Stile und Gebäude, die Banham und Ruscha faszinieren, bereits am Verschwinden sind.30 Ausdruck von Freiheit und Fantasie zeigt sich auch in dem Surfkult, der für Kalifornien kennzeichnend und dessen Haupt-Artefakt das Surfboard ist. Und so fährt Banham zu jenem Ort, an dem Design, Architektur und Geografie unmittelbar in Austausch stehen: Venice Beach. Er besucht – nachdem er von der Geschichte des Stadtteils, der Entstehung der Kanäle und Brücken erzählt hat – die Bewohner von Venice: die Bodybuilder, Surfer und Künstler. Er zeigt ihre Werkstätten, in denen Skulpturen, Surfboards und Autos gefertigt, und der industriellen Produktion durch die Bearbeitung der Oberflächen Individualität verliehen wird. Die Formen der Surfboards stehen wiederum in Verbindung zu den Bewegungen der Surfer auf den Wellen am Strand von Hermosa. Indem Banham die Aufmerksamkeit auf das Design und die Produktion der Artefakte lenkt, wird noch einmal ihre Bedeutung für die Ästhetik der Architektur und ihre Verbindung zur Technologie und Landschaft hervorgehoben. Die Surfboards und Autos, die Mobilität zum Ausdruck bringen, verbinden, so Banham, Kunst und Industrie. Banhams Darstellung des Freeways ist vor allem dafür kritisiert worden, dass er die Probleme des Verkehrsstaus und der Umweltverschmutzung herunterspielt und nur jene Bewohner, die mobilisiert sind, zu Wort kommen lässt. Die Vorstellung von Los Angeles als ein alles verbindendes
30 Dimendberg 2006, siehe Anm. 3, S. 122.
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Kontinuum in dem „all its parts are equal and equally accessible from all other parts at once“,31 wie Banham schreibt, und welches den Bewohnern ein unbegrenztes Feld von Möglichkeiten bietet, lässt sich daher, so Whiteley, eher als „potentiality rather than an actuality“ verstehen.32 Dolores Hayden kritisiert an Banhams Darstellung, dass sein Fokus auf das Highwaysystem die ethnische Vielfalt der Region nicht in den Blick bekommt. In ihrem Buch The Power of Place stellt sie die Verschiedenheit einzelner Quartiere und die sozioökonomischen Strukturen heraus, welche die Auseinandersetzungen um den urbanen Raum in Los Angeles bestimmen. Wie Hayden feststellt, wird jedoch die Komplexität der Urbanität, die sich durch die Bewegungen der Bewohner konstituiert, von den Architekten und Stadtplanern nicht erfasst. Sie zitiert James Rojas, der einen Grund in den Schwierigkeiten der Architekten, verschiedene kulturelle Praktiken darzustellen, darin sieht, dass Architekten die Bedeutung, die Bewohner beim Erzeugen eines Ortes spielen, nicht wahrnehmen und sie auf die Rolle der Nutzer reduzieren. Dagegen hält er: „People are both users and creators of a place... People activate settings merely by their presence. Their bodies, faces and movements create an energy that is almost a metaphysical aesthetic, because the central core of the enacted environment is motion“.33
Wie können jedoch die hier berschriebenen Bewegungen für die Stadtentwicklung an Bedeutung gewinnen? Als eine Methode, mit der die den Ort konstituierenden Bewegungen der Bewohner erfasst und Einblicke in das Urbane ermöglicht werden, führt Hayden die kognitiven Karten an. Sie verweist auf Lynchs Studien und jene Arbeiten, die seinem Ansatz gefolgt sind, um ethnische Zugehörigkeit und die Vielfalt der Kulturen in Los Angeles zu erforschen. Die Kartierungen sind, so Hayden, gleichsam Voraussetzung für einen Diskurs über die Verhältnisse und das Verständnis des urbanen Raums. Hayden verweist auf die Grafiken einer Studie von 1971, in der die Bewohner ihre Vorstellungen von Los Angeles darstellten. An
31 Banham in: Whiteley, Nigel: Reyner Banham: Historian of the Immediate Future, Cambridge, Mass.: MIT Press 2002, S. 237. 32 Ebd. 33 James Rojas in: Hayden 1995, siehe Anm. 26, S. 87 f.
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ihnen wird deutlich, dass der Zugang zum und der Bewegungsradius im urbanen Raum zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen stark variiert und weniger von Gleichheit als von einer Ungleichheit gekennzeichnet ist.34 Mit den stadtpoltischen und sozialen Fragen setzt sich Reyner Banham loves Los Angeles nicht auseinander. Jedoch eröffnen Banhams Erkundungen von Los Angeles in und durch die Bewegung Praktiken für eine zukünftige Architektur- und Stadtgeschichte.
F ILM
UND
S TADTGESCHICHTE
VON
L OS ANGELES
Die anfangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Ökologie und Architektur beantwortet der Film dahin gehend, dass die Verschränkungen von Freeway, Hollywoodfilm, Architektur und Design in ihrer Gesamtheit eine Antwort auf die Landschaft von Kalifornien bilden. Die mit dem Film verbundenen Möglichkeiten, Zeit zu komprimieren, geografische Distanzen zu überbrücken, das Unsichtbare zu vergrößern und sich widersprechende Realitäten gegenüber zu stellen, führt Banham in die Architektur- und Stadtgeschichte ein und akzentuiert die räumlichen und zeitlichen Multiperspektiven als zentrale Bestandteile des Urbanen. Während die alltägliche Erfahrung auf dem Freeway und die angrenzenden Räume durch die filmischen Bilder seiner Fahrt festgehalten werden, sind die historischen Verweise in ihrer Differenz zum Filmbild als Fotografie und Gemälde erfahrbar. Aber auch Hollywoodfilme und Stummfilme werden als die die Stadtwahrnehmung bestimmenden Erfahrungsräume in den Film integriert. Durch die Konfiguration der Sequenzen wird besonders deutlich, dass die im Film hergestellte Räumlichkeit des Urbanen von
34 Vgl. Hayden 1995, siehe Anm. 26, S. 27 und Chavoya, Ondine C.; Gonzalez, Rita (Hg.): Asco: Elite of the Obscure. A Retrospective 1972-1987, Ostfildern: Hatje Cantz 2011. Der Ausstellungskatalog zeigt die Arbeiten der Chicano Performace-Gruppe Asco, die in ihren, in den 1970er-1980er Jahren im Straßenraum stattfindenden Aktionen, eine von der Politik und Stadtplanung verursachte Trennung der Nachbarschaften, die durch den Bau der Freeways hervorgerufen worden war, anklagten und den Ausschluss einzelner Gemeinden von öffentlichen Räumen thematisierten.
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einem Prozess des Werdens gekennzeichnet ist. Durch das wechselseitige Durchdringen verschiedener Darstellungen verweben sich Räume, und das Wissen über die Stadt wächst. So begründen die Raumkonstruktionen des Films eine Stadtgeschichte, die sich gegen die Vorstellung von Stadt und Architektur als einfassenden Raum richtet und von den Wechselwirkungen des Urbanen bestimmt ist.
B IBLIOGRAFIE Banham, Mary et al. (Hg.): A Cristic Writes. Essays by Reyner Banham, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1999. Banham, Reyner: Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2001. Banham, Reyner: Roadscape with Rusting Nails, in: Banham, Mary et al. (Hg.): A Cristic Writes. Essays by Reyner Banham, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1999, S. 124-128. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. Bazin, André: Was ist Film?, Berlin: Alexander 2004, französische Ausgabe: Qu’est-ce que le cinéma, Paris: Les Éditions du Chef 1975. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977. Benezra, Neal; Brougher, Kerry: Ed Ruscha, Zürich: Scalo 2002. Chavoya, Ondine C.; Gonzalez, Rita (Hg.): Asco. Elite of the Obscure. A Retrospective 1972-1987, Ostfildern: Hatje Cantz 2011. Certeau, Michel de: The Practice of Everyday Life, London, England: University of California Press 1988. Dimendberg, Edward: The Kinetic Icon. Reyner Banham on Los Angeles as Mobile Metropolis, in: Urban History, Vol. 33 (01, Mai 2006), S. 106-125. Easterling, Keller: Interchange and Container. The New Orgman, in: Perspecta, Vol. 30, Settlement Patterns (1999), S. 112-121. Frahm, Laura: Zwischen Topographie und Topologie. Los Angeles Plays Itself, in: Hölter, Achim; Pantenburg, Volker; Stemmler, Susanne (Hg.): Metropolen im Maßstab, Bielefeld: transcript 2009, S. 149-173.
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Neue Mischungsverhältnisse Zum Gebrauch von Infrastrukturen C HRISTA K AMLEITHNER
Infrastrukturen disponieren. Sie verbinden und sie trennen Orte, sie lenken den Verkehr zwischen ihnen und evozieren eine bestimmte Art des Gebrauchs. Infrastrukturen sind „active forms“,1 die mit Handlungsmacht ausgestattet sind und Einfluss auf Verkehrsformen und Gebrauchsweisen haben. Jedoch determinieren sie diese nicht: Sie bilden ihren Rahmen, ihren Möglichkeitshorizont. Der Gebrauch von Infrastrukturen – von Straßen und anderen Verkehrsinfrastrukturen oder auch von technischen Netzen – wird ebenso durch soziale Regelwerke und Protokolle bestimmt, die sich mit und an ihnen ausbilden. Überhaupt stellt sich die Frage, ob es nicht die Ausbildung bestimmter Praktiken beziehungsweise eine spezifische soziale, ökonomische und politische Konstellation ist, die erst zur Entstehung und Durchsetzung bestimmter Infrastrukturen führt.
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Dass Straßen – und um diese soll es im Folgenden gehen – als reine Verkehrsräume betrachtet und als solche geplant und gestaltet werden, hat eine lange Vorgeschichte, in der veränderte technische Möglichkeiten, neue
1
Easterling, Keller: Disposition and Active Form, in: Stoll, Katrina; Lloyd, Scott (Hg.): Infrastructure as Architecture. Designing Composite Networks, Berlin: Jovis 2010, S. 96-99.
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ökonomische Erfordernisse, neue Verhaltenskodizes und Vorstellungen von öffentlichem Raum gleichermaßen eine Rolle spielen. Diese Geschichte kulminiert in den Texten und Plänen von CIAM 4, dem vierten der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (1933), der der „funktionalen Stadt“ gewidmet war. Was hier als abschließendes Ergebnis des Kongresses notiert wird, fixiert die Herauslösung reiner Verkehrsräume aus der städtischen Textur.2 Straßen sind nun nicht länger vergleichsweise vielfältig nutzbare Zwischenräume zwischen Häusern, sondern sie werden zu Infrastrukturen, die für einen zügigen Verkehr optimiert werden und sich als eigenständige Baukörper aus der Umgebung herauslösen. „Eine Aufreihung von Häusern längs der Verkehrsstrasse darf aus hygienischen Gründen (Lärm, Staub, Geruch) nicht mehr zugelassen werden“, ist in den Feststellungen zu lesen. Neue Wohnbebauungen sollen in der Höhe verdichtet und durch Grünflächen von der Straße abgesetzt werden. Straßen und Verkehrsmittel sollen auf der Basis „sorgfältiger statistischer Grundlagen und Vorbereitungen“ dimensioniert, die verschiedenen Geschwindigkeiten getrennt und die Straßen entsprechend ihrer Funktion differenziert werden. „Wohnstrassen“ treten nun neben „Quartiersstrassen“ und „Hauptverkehrsstrassen“, so wie die Stadt insgesamt in Zonen für die Funktionen „Wohnen“, „Arbeit“, „Erholung“ und „Verkehr“ aufgeteilt wird. Verkehrsräume haben dabei nur einen Zweck, wie Le Corbusier in der von ihm 1943 publizierten Charta von Athen schreibt: den, die anderen drei Funktionen in nützlicher Art und Weise zu verbinden.3 Eine solche Sicht auf den städtischen Raum fällt nicht vom Himmel, sie nimmt vielmehr längst bestehende Entwicklungen auf. Denn tatsächlich
2
Feststellungen des 4. Kongresses „Die Funktionelle Stadt“, in: CIAM. Internationale Kongresse für Neues Bauen/Congrès Internationaux d’Architecture Moderne. Dokumente 1928-1939, hg. v. Martin Steinmann, Basel/Stuttgart: Birkhäuser 1979, S. 160-163.
3
„Charte d’Athènes“, Punkte 77, 78, 79 und 81, in: ebd., S. 164-165. Wie Martin Steinmann in seinem Begleittext betont, ist es diese weithin bekannt gewordene Fassung der Kongressergebnisse von Le Corbusier, die – anders als die Feststellungen – eine vollständige Trennung der Funktionen suggeriert. Tatsächlich sprechen sich beide Fassungen für eine relative Nähe zwischen den Gebieten für Wohnen und Arbeiten und eine Verringerung des Verkehrs aus – eine Forderung, die jedoch kaum je eingelöst wurde.
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zeichnet sich die Herausbildung eines funktional differenzierten Stadtgefüges lange zuvor ab: Seit 1900 setzen sich, zuerst im deutschsprachigen Raum, Zonenbauordnungen durch, die wiederum auf eine bereits Jahrzehnte dauernde Städtebaudiskussion zurückgehen.4 Und auch diese frühen Überlegungen reagieren auf bereits stattfindende Differenzierungsprozesse: darauf, dass sich in den Zentren der Handel konzentriert und dort die Bodenpreise steigen; dass die Industrie an den Stadtrand wandert, wo große und günstige Grundstücke zur Verfügung stehen; und dass sich weitläufige Villenquartiere von den dicht bebauten Gründerzeitvierteln absetzen. Wohnen und Arbeiten trennen sich, und mit dem Ausbau der Nahverkehrssysteme wird das Pendeln für immer breitere Schichten zur alltäglichen Normalität. Mit der stadträumlichen Differenzierung steigt das Verkehrsvolumen, und zuvor unbekannte Menschenmassen bevölkern den öffentlichen Raum, vor allem in den Morgen- und Abendstunden, wo sich der Berufsverkehr an den Bahnhöfen staut. Die Zerlegung der Stadt in „Funktionen“ und deren Verknüpfung durch neue Verkehrsadern hat hier – unter dem Einfluss von Bodenpreisen, Zonen- und Verkehrsplanungen – längst begonnen. Das Neue Bauen greift diese Veränderungen auf, schält die neue städtische Formation gewissermaßen aus der alten Textur heraus und gibt ihr eine sichtbare Gestalt.5 Dass Straßen nun ausschließlich für den Verkehr bestimmt sind, wird in den Plänen des Neuen Bauens baulich fixiert. Rasche Zirkulation, Reibungslosigkeit und Sicherheit sind die bestimmenden Faktoren ihrer Gestaltung, entsprechend werden Schnellstraßen kreuzungsfrei angelegt und die Fußgängerinnen in den Untergrund oder auf Überführungen verbannt. Eine solche Funktionsbestimmung der Straße schien bereits zu Beginn des 20.
4
Vgl. dazu Kamleithner, Christa: Differenzierte Interessenslandschaften. Homo oeconomicus und die Anfänge der modernen Stadtplanung, in: Nierhaus, Irene; Hoenes, Josch; Urban, Annette (Hg.): Landschaftlichkeit. Forschungsansätze zwischen Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer 2010, S. 253-263.
5
Anzumerken ist hier, dass in den Feststellungen des 4. Kongresses explizit gegen die „falschen Zonengesetze“ polemisiert wird. Während die alten Zonenbauordnungen insbesondere Villenquartiere von Industriegebieten sondern, fordern sie eine weitläufige Bebauung für alle Bevölkerungsschichten und deuten damit die zuvor auch sozial konnotierte Differenzierung in eine rein funktionale Differenzierung um.
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Jahrhunderts von einiger Evidenz. So ließ der Berliner Polizeipräsident 1910 anlässlich der Ankündigung einer Demonstration plakatieren: „Es wird das Recht auf die Straße verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige“.6 Was hier als unhintergehbare Tatsache behauptet wird, war zu diesem Zeitpunkt jedoch keineswegs in dieser Eindeutigkeit der Fall. Auch wenn sich der Verkehr als dominante Funktion abzeichnete, wurden Straßen auch anders genutzt: für höfische Veranstaltungen etwa, wie die ironischen Pressekommentare bemerkten, ebenso als Arbeitsort fliegender Händler, die einen noch erheblichen Anteil am Verkaufsgewerbe hatten, oder nach Feierabend, wenn sich in den Arbeitervierteln die Leute mit ihren Stühlen in den Hauseingängen zum nachbarlichen Plausch niederließen. Gebrauchsweisen dieser Art waren immer noch üblich, sodass sich der nämliche Polizeipräsident bei dem Versuch, eine „Gehordnung“ zu etablieren, beim Berliner Magistrat eine Abfuhr einhandelte: Eine Regelung, die auch das Verhalten der Fußgänger genau regelt, ihnen Rechtsverkehr auf den Bürgersteigen verordnet und ein Überqueren der Straßen auf kürzestem Wege vorschreibt, erschien als wenig zielführend.7 Die Straßennutzung um 1900 war nach heutigen Maßstäben immer noch vielfältig, sie hatte sich jedoch gegenüber älteren städtischen Räumen bereits erheblich reduziert. Insbesondere waren andere Nutzungen als die der Fortbewegung klassenspezifisch und anachronistisch geworden. Wer auf den Straßen seinem Gewerbe nachging oder sie als erweiterte Stube nutzte, zählte zu den ärmeren Bevölkerungsschichten und pflegte einen Lebensstil, der aus bürgerlicher Sicht nicht mehr adäquat war. Die Angehörigen des Bürgertums nutzten den Straßenraum in „zivilisierterer“ Art und Weise, und sie versuchten, dieser neuen Sicht auf den öffentlichen Raum offensiv zum Durchbruch zu verhelfen. So fand in kleineren Städten, in denen das bürgerliche Publikum das ganze 19. Jahrhundert über noch mit „mittelalterlichen“ Zuständen konfrontiert war – also damit, dass Gewerbetreibende den Straßenraum als Lagerraum und für Tätigkeiten aller Art, vom Schlachten bis zum Kaffeebrennen, nutzten, Hausfrauen ihre Wäsche aufhingen und die Fuhrwerke der Landwirte ihre Spuren hinterließen –, in den Zeitungen eine Diskussion statt,
6
Zit. n. Lindenberger, Thomas: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn: Dietz 1995, S. 11.
7
Ebd., S. 49-55, S. 80f.
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die für Ordnung und Sauberkeit plädierte und die Straße als Ort der Fortbewegung definierte. Dabei ging es auch um die Werbung für eine neue, spezifisch bürgerliche Straßennutzung: den Spaziergang, der seit Ende des 18. Jahrhunderts in Mode kam und sich erst die ihm entsprechenden Infrastrukturen schaffen musste.8 So verengt sich aus verschiedenen Gründen das Spektrum dessen, was im Straßenraum möglich ist und als passendes Verhalten angesehen wird. Die schnelleren Verkehrsmittel und die Zunahme des Verkehrsvolumens verdrängen ältere Straßennutzungen, ebenso wie neue Ansichten über öffentliche Räume und öffentliches Verhalten ihren Teil dazu beitragen. Lokale Ansprüche und stationäre Gebrauchsformen werden zurückgedrängt – zugunsten einer durchlässigeren räumlichen Erschließung, die von neuen Spazierwegen bis hin zu städtischen Boulevards reicht.9 Noch bevor sich Planungsrichtlinien durchsetzen, die wiederum diese Art der Straßennutzung einschränken, gewinnen damit Ansichten an Gewicht, dass die Straße lediglich dem Verkehr dient. Neue soziale Protokolle regeln eine Nutzung des öffentlichen Raumes, die zunehmend mobil und anonym wird. Bis heute sind Straßen klar als Verkehrsräume definiert – auch wenn die dicht bebaute Straße rehabilitiert und die Straße als sozialer Interaktionsraum wieder entdeckt wurde. Die Konzepte der funktionalen und der autogerechten Stadt sind in Misskredit geraten, und doch sind die funktionalen Trennungen, die sich mit ihnen durchgesetzt haben, noch wirksam. Tatsächlich wurden Straßen rückgebaut, Fußgängerzonen eingerichtet und die Innenstädte in durchgehende Konsumlandschaften verwandelt, die auf touristischen Besuch, Shopping, Kultur- und Kaffeegenuss hin ausgelegt sind. Die Wiederentdeckung der alten Stadt in den 1970er und 1980er Jahren führte dazu, dass auf alte Bebauungsformen zurückgegriffen und Nutzungsmischung zu einem erklärten Ziel der Stadtplanung wurde. Und dennoch ähnelt das Ergebnis eher der funktionalen Stadt als älteren Städten. Die funktionale Stadt war auch nie bloß autogerecht, und sie schloss bereits früh eine Zone für Konsum und Kultur ein. Der achte CIAM-Kongress, der
8
König, Gudrun: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780-1850, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1996, insb. S. 38, S. 96, S. 161.
9
Vgl. dazu Kamleithner, Christa: Öffentlichkeit – zum Gebrauch der Straße, in: Hauser, Susanne; dies.: Ästhetik der Agglomeration, Wuppertal: Müller + Busmann 2006, S. 128-137.
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auf Defizite der ersten Konzeption reagierte, definierte einen weiteren Bereich, der all das umfassen sollte, was als „Herz der Stadt“ angesehen wurde: eine Zone aus Hotels, Shopping Malls, Theatern, Bibliotheken, Kulturund Freizeiteinrichtungen aller Art und insbesondere einem Fußgängern vorbehaltenen, begrünten Platz, der ein Ort der zwanglosen Begegnung sein sollte.10 Das Flanieren, das Erleben von Kunst wie die spontane Interaktion haben hier ihren Ort, so wie Wohnen, Arbeiten und die rasche Zirkulation an anderen Orten vorgesehen sind. Dies ist in den Stadtlandschaften der Gegenwart nicht anders, auch sie sehen Infrastrukturen des Konsums vor und immer weitläufigere logistische Landschaften, die diese bedienen: Autobahnnetze und ihre Zubringer, Lagerhallen und Verteilerzentren, Gewerbecontainer und Industrieanlagen, die auf ein reibungsloses Funktionieren hin angelegt sind. Die verschiedenen Verkehrsformen sind hier klar sortiert, und andere, ortsgebundene Gebrauchsweisen, die den Verkehrsfluss behindern würden, auf ein Mindestmaß reduziert und streng reguliert.
DIE EICHBAUMOPER Seit einiger Zeit vermehren sich Interventionen im städtischen Raum, die diese Trennungen in Frage stellen und damit gewohnte Ordnungen durcheinander bringen. Urbane Landwirtschaft in innerstädtischen Baulücken, Frühstücken auf Verkehrsinseln oder Opernaufführungen zwischen Autobahntrassen – das sind Gebrauchsweisen des öffentlichen Raumes, wie sie uns architektonische und künstlerische Projekte seit einiger Zeit vorschlagen. Dabei mag es Projekte geben, die letztlich einem Paradigma der Festivalisierung folgen, die kommerziell nutzbar sind und die bestehende Ordnung lediglich feiner justieren, nicht jedoch über sie hinausgehen. Die zwischenzeitlich etablierte räumliche Ordnung der postfordistischen Stadt selbst hat die städtischen Nutzungen neu verteilt: In den Gehäusen von Industrie- und Hafenanlagen haben sich creative industries angesiedelt, in den Innenstädten Strände und Strandbars, und in den Cafés wird neben dem Latte macchiato der Laptop aufgeklappt. Doch diese Mischungen finden in
10 CIAM 8. The Heart of the City: Towards the Humanisation of Urban Life, hg. v. Tyrwhitt, Jacqueline; Sert, José Luis; Rogers, Ernesto, London: Lund Humphries 1952.
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engen Grenzen statt: Im Café zu arbeiten ist nur für wenige möglich; Stadtstrände gibt es, solange nicht gewinnträchtigere Nutzungen etabliert werden konnten; und in den alten Industriegebieten, in denen sich Medienunternehmen und Designstudios niedergelassen haben, ist die Industrie meist zur Gänze verschwunden. Auch künstlerische Interventionen, die heute scheinbar überall stattfinden, bleiben meist auf innerstädtische Bereiche beschränkt oder finden an genau jener Grenze statt, die zwischen kulturindustriell überformten und noch nicht in Wert gesetzten städtischen Räumen immer wieder neu gezogen wird. An Orten, an denen eine solche Inwertsetzung kaum möglich ist, tauchen sie immer noch eher selten auf. Eine solche Intervention ist die Eichbaumoper, ein Projekt, das eine im Nirgendwo eines Autobahndreiecks situierte U-Bahnstation zum kulturellen Ereignis machte. Der Knoten aus Verkehrsinfrastrukturen ist ein typisches Ergebnis moderner Stadtplanung: Zwischen Essen und Mülheim an der Ruhr gelegen, ist der Eichbaum eine Station einer U-Bahnlinie, die die Stadtlandschaft des Ruhrgebiets durchquert. Sie wird von vielen Pendlern täglich benutzt, und dennoch fehlt ihr jegliche Ausstattung, die über das Verkehrstechnische hinausgehen würde. Die ausgedehnten Räume sind kaum belebt und entsprechend mit Angst besetzt. Jedoch besitzt die Station räumliches Potenzial: Die komplexe Situation gleicht einer Bühne mit Zuschauerrängen, ein theatraler Raum, der darauf wartet, in Szene gesetzt zu werden. Die Oper, die vom Architektenkollektiv raumlaborberlin in Kooperation mit drei lokalen Institutionen, mit Komponisten und Librettistinnen, Musikern und Schauspielerinnen erarbeitet wurde, hat dieses Potenzial realisiert. Nach ausgedehnten Vorarbeiten erhielt die Station im Herbst 2008 den Schriftzug Eichbaumoper. Eine sogenannte Opernbauhütte wurde eingerichtet, ein Containerbau, der als Werkstatt, Bar, Kino, Treffpunkt wie für die Erarbeitung und Vermittlung des Projekts diente. In Diskussion mit den Anwohnerinnen und Passanten wurden Themen erarbeitet, auf deren Basis in einem kollektiven Arbeitsprozess ein dreiteiliges Stück entstand, in dem lokale Geschichten, der Lärm der Autobahn und der Takt der U-Bahn gleichermaßen ihren Raum hatten. Nach intensiven Probearbeiten bei laufendem Betrieb fand im Sommer 2009 die Uraufführung statt. Für einige Wochen verwandelte sich die Infrastrukturlandschaft so in einen Raum, in dem Alltag und Kunst eng miteinander verschränkt waren.11
11 www.raumlabor.net/?p=590 (05.06.2013)
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Abbildung 1: Eichbaumoper
Dieser Prozess verlief keineswegs konfliktfrei. Die Proben, die auch zwischen den Wartenden auf dem Bahnsteig stattfanden, wurden unterschiedlich wahrgenommen: Für manche waren sie eine Bereicherung, für andere eine Störung.12 Die enge Verschränkung alltäglicher und künstlerischer Handlungen stellte vor allem die Angestellten des Sicherheitsdienstes, die das Operninventar vor Diebstahl schützen und einen gefahrlosen Betrieb gewährleisten sollten, vor eine schwierige Aufgabe. Sie sollten die „normale“ Nutzung der U-Bahnstation nicht einschränken – doch wo genau die Grenze zu ziehen war, wenn etwa Rangeleien von Jugendlichen die Schauspieler behinderten oder zu behindern schienen, musste jeweils neu verhandelt werden. Es waren insbesondere die Jugendlichen, die sich durch das
12 Vgl. hierzu wie zum Folgenden die Texte von Katrin Klitzke, die sich mit dem Projekt als Ethnologin auseinandergesetzt hat: Vom Angstraum zum Kunstraum und zurück?, in: Die Eichbaum(op)er 3, 2010, S. 12-13; dies.: Transformieren, Intervenieren, Aneignen. Reflexionen zur Eichbaumoper von Raumlaborberlin, in: Hartmann, Doreen; Lemke, Inga; Nitsche, Jessica (Hg.): Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie, Paderborn: Fink 2012, S. 105-111.
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Abbildung 2: Eichbaumboxer
Opernprojekt gestört beziehungsweise verdrängt fühlten und die mit ihren Reaktionen zeigten, dass die Station auch im Alltag mehr als ein reiner Verkehrsraum ist. Für sie war und ist die Station kein Nicht-Ort wie für viele der Anwohner, sondern im Gegenteil ein etablierter Treffpunkt. Schon die Umkodierung der Station durch den Schriftzug Eichbaumoper stellte für sie einen Eingriff in „ihr“ Territorium dar, dem sie mit der Demontage der Buchstaben O und P begegneten – und damit sich selbst, die Eichbaum er, in Szene setzten. Über Wochen wurden Buchstaben montiert und demontiert, bis sich der Konflikt entspannte. Im Titel der Zeitung, die das Projekt begleitete, wurden beide Lesweisen grafisch integriert, und in den Workshops und Veranstaltungen, die der Eichbaumoper folgten, wurde die Station dann auch als Ort der Jugendlichen öffentlich sichtbar. In eindrucksvoller Weise verwandelte sich die Station im Herbst 2010 noch einmal in einen Bühnenraum, diesmal in einen Boxring, der mit den Jugendlichen vor Ort organisiert wurde.13
N EUE G EBRAUCHSWEISEN Ganz unterschiedliche Verkehrsformen wurden durch die Interventionen verknüpft: Eine für den Transit geplante Infrastrukturlandschaft wurde zur Plattform künstlerischer und sportlicher Performances, die Zentralität herstellten und lokale Interaktion anstifteten. Tätigkeiten, die in der Regel getrennt werden und für die es je spezifische Infrastrukturen gibt, die Sicherheit und einen ökonomischen Einsatz garantieren, teilten sich ein und den-
13 http://eichbaumcountdown.blogspot.de/2010/07/eichbaumboxer.html (05.06.2013).
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selben Raum, in dem sich anonyme Passage, ästhetische Erfahrung und sozialer Austausch überlagerten. Diese – nur temporär erfolgte – Verknüpfung ist als Vorschlag zu verstehen. Das Projekt reiht sich ein in ein Spektrum an Interventionen, die experimentell einen neuen Umgang mit öffentlichen Räumen erproben und damit fest sitzende Vorstellungen in Frage stellen: Vorstellungen von Öffentlichkeit und öffentlichem Raum, von Zentrum und Peripherie, von Verkehrssicherheit und einer ökonomisch effizienten Raumnutzung. Sie schlagen einen neuen Gebrauch von Verkehrsräumen vor, der schnellen Transit und stationäre Gebrauchsweisen verbindet – und damit neue Formen alltäglicher Kommunikation ermöglicht wie auch den individuellen Komfort erhöht. Nicht zuletzt zeigt sich darin eine politische Dimension, wird doch damit die etablierte räumliche Ordnung zur Diskussion gestellt.14 Die Bandbreite, die Interventionen dieser Art einnehmen, ist groß und kann hier nur angedeutet werden. Die Aktion Permanent Breakfast wäre ein weiteres Beispiel: 1996 durch eine Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen initiiert, wird die Idee des Frühstückens im öffentlichen Raum durch das Schneeballprinzip verbreitet. Die Aktion versteht sich als öffentliche Kundgebung; sie ruft auf, das Recht auf Versammlungsfreiheit zu testen und herauszufinden, wie es um den Status öffentlich wirkender Räume bestellt ist.15 Was sie dabei auch neu auslotet, ist das Verhältnis von privat und öffentlich: Das Frühstück hat zugleich eine private wie eine öffentliche Dimension; ein geladener Kreis trifft sich, aber auch Passanten können teilnehmen. Es eignet sich prunkvolle innerstädtische Plätze als Kulissen individuellen Tuns an, ebenso wie es verlassene öffentliche Räume an der städtischen Peripherie durch feierlich gedeckte Tafeln bereichert und zu Orten der Kommunikation macht. Eine ähnliche Haltung lässt sich bei Public Works, einer Londoner Gruppe aus Architekten und Künstlerinnen finden, die das Experimentieren mit Schwellenräumen als Kommunikationstechnik begreift. Ihre Öffentlichkeitsarbeit, die sie etwa für eine Galerie im Süden Londons unternommen haben, bestand schlicht darin, ihren Besprechungs-
14 Der Text folgt hier und im Folgenden dem von der Autorin bereits veröffentlichten Text: Gebrauchsweisen des öffentlichen Raumes, in: Heide, Angela; Krasny, Elke (Hg.): Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße, Wien: Turia + Kant 2010, S. 105-116. 15 www.permanentbreakfast.org (05.06.2013).
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tisch aus dem Galerieraum in den Straßenraum zu schieben. Das hat sie für Passanten ansprechbar gemacht und die gesuchten Kontakte ermöglicht.16 Was seit dem 19. Jahrhundert als unangemessene Auslagerung häuslicher Tätigkeiten und private Inbesitznahme des öffentlichen Raumes angesehen wird, erscheint in dieser Sicht nicht als Verhinderung, sondern gerade als Ermöglichung von Öffentlichkeit. Auch die Interventionen der kanadischen Architekten- und Künstlergruppe SYN- führen beispielhaft die Aneignung öffentlicher Räume vor. Die Gruppe stattet verlassene Resträume zwischen Verkehrsinfrastrukturen und Gewerbegroßeinheiten, ungenutzte Flächen an Schnellstraßen oder Flughäfen mit Picknickmöbeln, Tischfußball oder Billardtischen aus und reichert damit öffentliche Räume an, die rechtlich, nicht jedoch dem sozialen Gebrauch nach öffentlich sind.17 Dies bedeutet auch eine Kritik der maßgeblich von ökonomischem Denken bestimmten räumlichen Ordnung – denn eine sinnliche und kommunikative Ausstattung öffentlicher Räume gibt es nur in kommerziell lohnenden, vornehmlich innerstädtischen Bereichen, während die an die Peripherie gedrängten Flächen, die für Produktion und Distribution vorgesehen sind, von einer rein funktionalen, auf Effizienz setzenden Logik bestimmt werden. Die Produktion ist insgesamt aus dem städtischen Raum verschwunden; sie findet am Rand der Stadt, eingehaust oder durch weite Abstandsflächen isoliert statt und ist entsprechend unsichtbar geworden. Dies trifft auch auf die landwirtschaftliche Produktion zu, die in älteren Städten durchweg anzutreffen war. Gemeinschaftsgärten und künstlerische Projekte schließen in neuer Weise an diese älteren Formen städtischer Nutzung an, wenn sie die Landwirtschaft wieder als urbane Praxis entdecken. Das Atelier d‘Architecture Autogerée beispielsweise hat im Pariser Norden gemeinsam mit den Anwohnern und Anwohnerinnen in Baulücken temporäre Gärten angelegt und mit mobilen Küchen ausgestattet. Landwirtschaft wird hier als soziale Praxis interpretiert, sie wird mit Erholung und Geselligkeit verknüpft und findet mehr oder weniger öffentlich statt.18 Gärten dieser Art, auch wenn sie mittlerweile häufig geworden sind, stellen wie die anderen erwähnten Interventionen eine ganze Reihe
16 Public Works, in: Atelier d‘Architecture Autogerée (Hg.): URBAN/ACT. A Handbook for Alternative Practice, Paris: Peprav 2007, S. 106-117. 17 SYN-/Atelier d’Exploration Urbaine, in: ebd., S. 118-129. 18 Atelier d’Architecture Autogerée, in: ebd., S. 142-153.
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etablierter Ordnungen in Frage: die Ordnung der Boden- und Immobilienmärkte, die Gärten in innerstädtischen Bereichen aufgrund der hohen Bodenpreise kaum zulässt; die für viele Arbeitsfelder immer noch geltende Trennung von Arbeit, Freizeit und sozialem Austausch; und nicht zuletzt versicherungstechnisches Ordnungsdenken, das in produktiven Tätigkeiten in öffentlich zugänglichen Räumen eine Gefahrenquelle sieht.
R IRKRIT T IRAVANIJAS S TATIONS Nicht nur im städtischen, auch innerhalb des musealen Raumes findet eine Neuinterpretation des infrastrukturellen Rahmens statt. Sie hat dort eine größere Aufmerksamkeit und auch eine stärkere Theoretisierung erfahren. Bereits seit den 1970er Jahren, seit den 1990er Jahren jedoch in einer breiteren und zunehmend selbstverständlichen Weise, arbeiten Künstler und Künstlerinnen am „Dispositiv“ Museum – mit dem Ziel, das „Interface“ zwischen Institution und Publikum neu zu gestalten. Ausstellungsräume werden dabei zu multifunktionalen Plattformen umgebaut, sodass nicht nur verschiedenste Präsentationsformen ineinandergreifen, sondern auch neue Produktions- und Rezeptionsweisen möglich werden. Produktion und Rezeption, die sonst in der Regel streng getrennte Tätigkeiten darstellen, finden in ein und demselben Raum statt, und die Ausstellungsräume verändern insgesamt ihren Charakter. Sie werden wohnlicher und privater, gleichzeitig aber auch als soziale Räume gestaltet: als Lounges etwa, die nicht nur der visuellen Rezeption, sondern ebenso der individuellen Recherche, der Erholung wie dem sozialen Austausch dienen. Die Beziehungen und Prozesse selbst rücken dabei ins Zentrum der Ausstellung.19 Der Kurator und Theoretiker Nicolas Bourriaud hat diese künstlerischen Praktiken, die sich seit den 1990er Jahren in auffälliger Weise mit sozialen Beziehungen und Prozessen beschäftigen, in seinem Konzept einer „relationalen Ästhetik“ zusammengefasst. Kunst hat es, so Bourriaud, immer mit der Gestaltung von Interfaces zu tun, nun jedoch, und dies sei neu, werden ganz alltägliche Situationen und Formen des Zusammenlebens zu einem Thema künstlerischer Gestaltung. Der Raum alltäglicher Gesten wird sicht-
19 Möntmann, Nina: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green, Köln: Walther König 2002, S. 106-112.
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bar und bearbeitbar gemacht, und neue Formen der Interaktion, ja, neue Modelle von Soziabilität werden entworfen. Der Grund dieses neuen Interesses liegt Bourriaud zufolge darin, dass sich die Formen alltäglicher Interaktion selbst stark verändert haben.20 Denn auch auf dem Sektor der Kommunikation ist eine immer größere Arbeitsteilung zu verzeichnen: Kommunikation wird zu einer Dienstleistung, sie wird spezialisiert und professionalisiert; und auch da, wo sie nicht gewerbsmäßig ausgeübt wird, wird sie – unter anderem durch den Einfluss der Protokolle der neuen sozialen Medien – zu einer Aufgabe eigener Art. Informelle und beiläufige Kommunikation wird damit tendenziell zur Ausnahme, und es ist diese Veränderung, die es nahelegt, alltägliche Kommunikation als Feld von Experimenten und Interventionen zu begreifen. Die Arbeiten von Rirkrit Tiravanija sind paradigmatisch für den Ansatz der relationalen Ästhetik. Beginnend mit Untitled, 1992 (free) in der 303 Gallery in New York hat Tiravanija mehrfach in Ausstellungsräumen Küchen installiert und das Kunstpublikum bewirtet. Verschiedene Verhaltensmodi und Erfahrungen vermischen sich in diesem Setting, was eine unklare Situation erzeugt. Essen und Bewirtung sind ritualisierte soziale Akte, deren Abläufe bekannt sind; sie finden hier jedoch nicht wie gewohnt in einem privaten Rahmen, sondern in einem öffentlich zugänglichen Verkehrsraum statt. Man isst und interagiert mit Fremden – und wird dabei von anderen Besuchern beobachtet, die in der Rolle des distanzierten Betrachters bleiben und die Aktion als künstlerisches Ereignis wahrnehmen. Tiravanija erweitert damit den in Ausstellungsräumen üblichen Rezeptionsmodus, der auf ein distanziertes Gehen und Betrachten beschränkt ist. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Museum – wie der schon erwähnte Spaziergang – eine Institution, die in ein solches typisch bürgerliches Verhalten einübt. Die Kunstrezeption wird auf den Sehsinn fokussiert und von sozialen Interaktionen, von Essen, Trinken und lautstarker Unterhaltung abgelöst. Störende Gerüche und Geräusche werden aus dem musealen Raum verbannt – ein Grund dafür, dass Tiravanija bisher vor allem in Galerien und Kunstvereinen, und erst mit einiger Verzögerung in Museen, gekocht hat.21 In Untitled, 1996 (tomorrow is another day) hat Tiravanija die Vermischung von als privat beziehungsweise öffentlich angesehenen Tätigkeiten
20 Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon: presses du reél 2002, S. 7-25. 21 Möntmann 2002, siehe Anm. 19, S. 113-116.
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weitergeführt und zugespitzt. Er ließ im Kölnischen Kunstverein eine maßstabsgetreue Nachbildung seines New Yorker Appartements – eine aus mehreren Zimmern bestehende Holzkiste mit funktionstüchtiger Ausstattung inklusive Badewanne, Herd, Kühlschrank und Fernseher – installieren und lud die Besucher und Besucherinnen dazu ein, die Räume zu nutzen. Und dies taten sie auch: Sie kochten und aßen, sahen fern, badeten und schliefen; insbesondere das jüngere Publikum – aus Clubs und Wohngemeinschaften mit halböffentlichen Verhaltenscodes vertraut – beteiligte sich daran. Die Stimmung war gelöst bis exzessiv, gleichzeitig wurde die Situation aber auch theatralisiert, da sich nicht alle beteiligten und viele in der Zuschauerposition verblieben.22 Man kann dies als eine der vielen ohnehin stattfindenden Kunstparties abtun, und mancher Kunstkritik gelten die Arbeiten Tiravanijas – wie das Konzept der relationalen Ästhetik insgesamt – auch als naiv und konsumistisch. Eine kritische Dimension scheint nicht unmittelbar sichtbar, offensive Differenzen werden nicht aufgemacht.23 Dennoch sind seine Installationen befremdlich: Der museale Raum ist kein Raum, in dem normalerweise sichtbar gekocht und schon gar nicht geschlafen wird, sondern ein Raum, der der Produktion und Reproduktion enthoben ist. Tiravanija verknüpft kommunikative und re-/produktive Akte, Intimität und Distanz, Spiel und Gewohnheit in einer Weise, die den üblichen Codes zuwider läuft. Seine Interventionen testen Formen ungezwungener Koexistenz, die aus unserem Alltag verschwunden sind oder dort auch nie anzutreffen waren. Seit den 1990er Jahren hat Tiravanija zahlreiche Infrastrukturen in Ausstellungsräumen installiert, die modellhaft soziale Situationen erproben. Die Utopia Station, die Tiravanija 2003 gemeinsam mit Liam Gillick für die 50. Biennale von Venedig konzipiert hat, verlässt diesen Modellcharakter tendenziell und führt aus, was andere Plattformen oder Stations nur andeuten. Am hinteren Ende des Arsenale situiert, versammelte sie die Arbeiten zahlreicher anderer Künstler und Künstlerinnen; sie war gleichzeitig Veranstaltungsort für Lesungen, Konzerte und Performances; sie war ein sozialer Treffpunkt; und sie war ein Ort, an dem man sich von einem an-
22 Ebd., S. 120-125. 23 Bishop, Claire: Installation Art. A Critical History, London: Tate Publishing 2005, S. 116-119; Foster, Hal: Chat Rooms, in: Bishop, Claire (Hg.): Participation, London/Cambridge, Mass.: MIT Press 2006, S. 190-195.
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strengenden Tag auf der Biennale erholen konnte. Für die alltäglichen Lebensbedürfnisse war gesorgt, unter anderem standen im angeschlossenen Garten eine Hütte zum Schlafen und eine ökologische Toilette zur Verfügung.24 Kunstrezeption wird hier in eine alltägliche und kollektive Praxis überführt. Die verschiedenen Möbel und Architekturen der Utopia Station unterstützen einen solchen offenen Gebrauch; sie bilden eine „support structure“, die variabel einsetzbar ist und im Gebrauch angeeignet und verändert werden kann.25 Als Infrastruktur wirkt sie unspektakulär, gerade darin aber, dass sie in einer so selbstverständlichen Weise einen Raum schafft, in dem sich Tätigkeiten frei überlagern können, liegt ihr besonderes Potenzial.
AUFTEILUNG DES S INNLICHEN Ein Buch, auf das sich das Konzept der Utopia Station explizit bezieht, ist Jacques Rancières Aufteilung des Sinnlichen.26 Auch die anderen erwähnten Projekte lassen sich darauf beziehen, denn alle hinterfragen die Art und Weise, wie unsere gemeinsame Welt eingerichtet ist, wie die Grenzen zwischen privat und öffentlich, Zentrum und Peripherie, Kunst und NichtKunst, Wahrnehmbarem und Nicht-Wahrnehmbarem gezogen werden – und schlagen eine neue Aufteilung des Sinnlichen vor. Rancière versteht darunter jene Ebene, an der sich Politik und Kunst berühren, jene Ebene einer „primären Ästhetik“, die auf politische Setzungen zurückgeht, aber auch einer ästhetischen Bearbeitung offen steht. „Aufteilung des Sinnlichen“, sagt Rancière, „nenne ich jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden“. Und weiter: „Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betä-
24 www.e-flux.com/projects/utopia (05.06.2013). 25 Condorelli, Celine (Hg.): Support Structures, Berlin/New York: Sternberg Press 2009. 26 Nesbit, Molly; Obrist, Hans Ulrich; Tiravanija, Rirkrit: What is a Station?, www.e-flux.com/projects/utopia (05.06.2013).
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tigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist“.27 Politik im Sinne Rancières meint, diese Aufteilungen in Frage zu stellen und zu überschreiten. Und daran haben auch die verschiedenen Künste teil, tragen sie doch zu dem, was gesellschaftlich wahrnehmbar wird, wesentlich bei. Dabei muss, folgt man Rancière, zuerst der Bereich des Politischen selbst überdacht werden. Denn was überhaupt als Gegenstand der Politik und damit der öffentlichen Auseinandersetzung denkbar ist, auch was als ein möglicher Gegenstand der künstlerischen Bearbeitung betrachtet wird, wird historisch immer wieder neu bestimmt. Das heißt, es ist genau die Grenze zwischen privat und öffentlich, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, die für Rancière auf dem Spiel steht. In Absetzung von alten, bis heute – etwa durch Hannah Arendt – aufgerufenen Unterscheidungen der politischen Philosophie geht es Rancière darum zu hinterfragen, was als vorpolitisch, als häusliche und damit private Angelegenheit angesehen wird und was den politischen – und ästhetischen – Einsatz lohnt.28 Wenn architektonische und künstlerische Projekte gewohnte räumliche Aufteilungen in Frage stellen und dabei als alltäglich betrachtete Tätigkeiten in den Blick rücken, führen sie eine solche Neubewertung ein. Sie lenken gesellschaftliche Aufmerksamkeit in periphere städtische Bereiche, stellen Arbeitsvorgänge aus, siedeln produktive und reproduktive Tätigkeiten im öffentlichen Raum an und billigen ihnen so Verkehrsfähigkeit zu. Dabei geht es auch um gesellschaftliche Anerkennung. Und diese betrifft nicht nur Tätigkeiten, sondern auch soziale Gruppen, denn jede funktionale Aufteilung ist immer zugleich auch eine soziale. Die Art und Weise, in der diese grundlegenden Fragen thematisiert werden, ist oftmals subtil. Viele der Interventionen verbleiben im Bereich einer Mikropolitik, sie schaffen, so Rancière, „Mikro-Situationen, die kaum von denen des gewöhnlichen Lebens abweichen und eher auf ironische und spielerische denn auf kritische und denunzierende Art präsentiert werden“.29 Ob Rancière dies positiv vermerkt oder ob hier bereits Kritik mit-
27 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: Polypen 2008, S. 25f. 28 Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich/Berlin: diaphanes 2008, S. 8, S. 35. 29 Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen 2008, S. 31.
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schwingt, lässt sich schwer sagen; jedenfalls hat er sich der relationalen Ästhetik gegenüber immer wieder kritisch geäußert – und dies obwohl die darunter subsumierten Arbeiten paradigmatisch für die von ihm postulierte Auseinandersetzung mit der Aufteilung des Sinnlichen zu sein scheinen. Man kann sich nun natürlich die Frage stellen, ob die Arbeiten, die Bourriaud beschreibt, weit genug gehen und ob sie sich dezidiert genug äußern. Rancière scheint die grundlegende Kritik, die mit ihnen verbunden ist, nicht wahrzunehmen – für ihn sind sie lediglich Versuche, sozialen Zusammenhalt zu schaffen, Risse im sozialen Gefüge zu kitten. Sie schaffen Annehmlichkeiten und komfortable soziale Situationen, bleiben dabei aber, so Rancière, „ungenau“ und dem gesellschaftlichen Konsens verhaftet.30 Auch ästhetisch erfüllen sie seine Ansprüche nicht, ja, er erkennt in ihnen bloß soziale Bemühungen, nicht aber ästhetische Setzungen. Bourriaud hat wiederum in einer Antwort auf diese Kritik Rancière darauf hingewiesen, dass seine Beschreibungen etwa der Arbeiten von Tiravanija unpräzise bleiben und deren formale Dimension übersehen.31 Denn Tiravanija, insgesamt der relationalen Ästhetik geht es nicht darum, irgendwelche sozialen Beziehungen zu stiften, sondern darum, in einer spezifischen Weise zu intervenieren, auf das Verschwinden sozialer Formen aufmerksam zu machen und neue Formen der Interaktion zu erproben. Ob sie dabei als spezifisch künstlerische Interventionen erkennbar sind, erscheint Bourriaud nebensächlich, vielmehr betont er ihren prekären Kunststatus – es ist für ihn gerade ihre Qualität, dass sie eine solche Zuordnung in der Schwebe halten. Tatsächlich ist der Status der beschriebenen Projekte schwer bestimmbar, und in vielen Fällen arbeiten Künstlerinnen, Architekten oder auch Stadt- und Landschaftsplanerinnen zusammen. Immer geht es um ästhetische Setzungen – ob diese jedoch auf dem Feld der Kunst, des Designs, der Architektur oder des Städtebaus zu verorten sind, bleibt offen oder wird aus der Situation heraus bestimmt. Für Rancière bedeutet dies einen Verlust, denn der zumindest teilautonome Status von Kunst ist für ihn die Bedingung dafür, dass es Spielräume gibt, dass Fiktionen und Distanzierungen von der etablierten gesellschaftlichen Ordnung –
30 Ebd., S. 69; Rancière 2008, siehe Anm. 27, S. 96. 31 Bourriaud, Nicolas: Precarious Constructions. Answer to Jacques Rancière on Art and Politics, in: Open, No. 17 (2009). classic.skor.nl/article-4416-nl.html? lang=en (05.06.2013).
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und damit auch politischer Widerspruch – möglich sind. Dieses Beharren Rancières auf einem modernen Verständnis von Kunst als einem Ausnahmebereich ist nicht unwidersprochen geblieben – schließlich hat sich die gesellschaftliche Ordnung in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Die „normale“ gesellschaftliche Ordnung selbst ist instabil geworden, künstlerische Arbeit ist zum Modell neuer, „kreativer“ Arbeitsweisen avanciert, und „Dissensualität“ erweist sich als zunehmend konsensfähig.32 Klar bestimmbare Orte der Kunst wie der Politik sind in den postfordistischen Arbeitswelten, in deren Zentrum Kreativität, Improvisation und die Arbeit an sozialen Beziehungen stehen, kaum mehr auszumachen. Diese veränderte gesellschaftliche Situation bildet den Hintergrund der beschriebenen Interventionen, was jedoch nicht heißt, dass sie in dieser restlos aufgehen. So gering der Abstand zwischen künstlerischen Interventionen und alltäglichen Handlungen sein mag – für Bourriaud sind sie ein Werkzeug, um die Kontingenz gesellschaftlicher Abläufe und Institutionen zu zeigen. Sie dienen dazu, soziale Formen zu manipulieren, sie zu reorganisieren und einen anderen möglichen Gebrauch von Techniken, Infrastrukturen und Räumen vorzuschlagen.33 Weder in ästhetischer noch in politischer Hinsicht markieren sie einen Bruch. Sie gehen mit bestehenden sozialen Formen und technischen Strukturen spielerisch um, üben in neue Gebrauchsweisen und Verkehrsformen ein und denken über die Möglichkeit neuer Infrastrukturen nach. Die Ebene des Technischen und Infrastrukturellen entgeht der politischen Philosophie oftmals, und so auch Rancière – geht diese doch von einer scheinbar unüberbrückbaren Differenz zwischen den Akten des politischen Aufbegehrens und dem Aufbau fester Infrastrukturen aus und verabsäumt es so, über soziale und technische Strukturen nachzudenken. Geht man jedoch davon aus, dass Infrastrukturen aus dem Gebrauch entstehen, ergibt sich ein anderes Bild. Techniken und Infrastrukturen lassen sich als Verdichtungen von Praktiken begreifen – auch wenn ihre Entwicklung einer technischen Eigenlogik folgen mag, entstehen sie aus einer spezifischen sozialen und ökonomischen Situation heraus, auf die sie eine Antwort darstellen. Sie kondensieren soziale
32 Meyer, Roland: Politik der Unbestimmtheit. Jacques Rancière und die Grenzen des ästhetischen Regimes, in: kritische berichte 1, 2010, S. 19-32, insb. S. 27f. 33 Bourriaud 2009, siehe Anm. 31.
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Vorstellungen und Gewohnheiten und geben ihnen eine Gestalt.34 Und so ist es nicht auszuschließen, dass sich die mikropolitischen Akte der Umnutzung bestehender Infrastrukturen wiederholen und vermehren und dabei das infrastrukturelle Gefüge selbst verändern.
ABBILDUNGEN Abb. 1: Eichbaumoper, Juni 2009, © Rainer Schlautmann Abb. 2: Eichbaumboxer, Oktober 2010, © raumlaborberlin/Andreas Krauth
B IBLIOGRAFIE Atelier d’Architecture Autogerée (Hg.): URBAN/ACT. A Handbook for Alternative Practice, Paris: Peprav 2007. Bishop, Claire: Installation Art. A Critical History, London: Tate Publishing 2005. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon: presses du reél 2002. Bourriaud, Nicolas: Precarious Constructions. Answer to Jacques Rancière on Art and Politics, in: Open, No. 17 (2009). classic.skor.nl/article4416-nl.html?lang=en (05.06.2013). CIAM 8. The Heart of the City: Towards the Humanisation of Urban Life, hg. v. Tyrwhitt, Jacqueline; Sert, José Luis; Rogers, Ernesto, London: Lund Humphries 1952. CIAM. Internationale Kongresse für Neues Bauen/Congrès Internationaux d’Architecture Moderne. Dokumente 1928-1939, hg. v. Martin Steinmann, Basel/Stuttgart: Birkhäuser 1979.
34 Vgl. zu dieser Position: Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, insb. S. 116f. In Absetzung von technikzentrierten Medientheorien, die allein auf die Wirkungsmacht von Technik abheben und davon ausgehen, dass die Entwicklung von Techniken einer immanenten Eskalationslogik folgt, skizziert Winkler hier das Verhältnis von Techniken und sozialen Praktiken als zirkuläre, wechselseitige Einschreibung.
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Condorelli, Celine (Hg.): Support Structures, Berlin/New York: Sternberg Press 2009. Easterling, Keller: Disposition and Active Form, in: Stoll, Katrina; Lloyd, Scott (Hg.): Infrastructure as Architecture. Designing Composite Networks, Berlin: Jovis 2010, S. 96-99. Foster, Hal: Chat Rooms, in: Bishop, Claire (Hg.): Participation, London/Cambridge, Mass.: MIT Press 2006, S. 190-195. Kamleithner, Christa: Öffentlichkeit – zum Gebrauch der Straße, in: Hauser, Susanne; dies.: Ästhetik der Agglomeration, Wuppertal: Müller + Busmann 2006, S. 128-137. Kamleithner, Christa: Gebrauchsweisen des öffentlichen Raumes, in: Heide, Angela; Krasny, Elke (Hg.): Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße, Wien: Turia + Kant 2010, S. 105-116. Kamleithner, Christa: Differenzierte Interessenslandschaften. Homo oeconomicus und die Anfänge der modernen Stadtplanung, in: Nierhaus, Irene; Hoenes, Josch; Urban, Annette (Hg.): Landschaftlichkeit. Forschungsansätze zwischen Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer 2010, S. 253-263. Klitzke, Katrin: Vom Angstraum zum Kunstraum und zurück?, in: Die Eichbaum(op)er 3, 2010, S. 12-13. Klitzke, Katrin: Transformieren, Intervenieren, Aneignen. Reflexionen zur Eichbaumoper von Raumlaborberlin, in: Hartmann, Doreen; Lemke, Inga; Nitsche, Jessica (Hg.): Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie, Paderborn: Fink 2012, S. 105-111. König, Gudrun: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780-1850, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1996. Lindenberger, Thomas: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn: Dietz 1995. Meyer, Roland: Politik der Unbestimmtheit. Jacques Rancière und die Grenzen des ästhetischen Regimes, in: kritische berichte 1 (2010), S. 19-32. Möntmann, Nina: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green, Köln: Walther König 2002. Nesbit, Molly; Obrist; Hans Ulrich; Tiravanija, Rirkrit: What is a Station?, www.e-flux.com/projects/utopia (05.06.2013). Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: Polypen 2008.
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Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich/Berlin: diaphanes 2008. Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen 2008. Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.
Die verborgenen Städte Entwürfe eines urbanen Gegenkinos in The Exiles L AURA F RAHM
Wenn Thom Andersen in seinem filmischen Essay Los Angeles Plays Itself (2003) auf Kent Mackenzies Erstlingsfilm The Exiles aus dem Jahr 1961 zu sprechen kommt, so markiert er damit den Beginn eines unabhängigen, kritischen Kinos innerhalb der fast hundertjährigen Filmgeschichte von Los Angeles, die von zahlreichen und wechselvollen Phasen gekennzeichnet ist. In Andersens großer Sammlung und Aneinanderreihung einzelner Filmausschnitte, die gemeinsam ein vielschichtiges Bild ‚seiner‘ Stadt Los Angeles vermitteln, bildet The Exiles einen Umschlagpunkt, an dem sich das Verhältnis zwischen Stadt und Film noch einmal neu definiert. Denn während ein Großteil der Stadtfilme zu Los Angeles, so Andersens Argumentation, sich damit begnügt, die Stadt lediglich als Schauplatz der Handlung einzufangen und die städtischen Dynamiken im Hintergrund ablaufen zu lassen, so beginnt sich seit den späten 1950er Jahren eine Gruppe von Filmen herauszubilden, in denen die Stadt als eigenständiges Subjekt in Kraft tritt und deren Kernpunkt darin besteht, ein kritisches Bewusstsein gegenüber der Stadt zu entwickeln. Kent Mackenzies Film, den Richard Brody einmal als „one of the glories and wonders of the American cinema“1 bezeichnet hat, wurde in den
1
Brody, Richard: L.A. States of Mind, in: The New Yorker, Vol. 85, Issue 38 (November 2009), S. 14.
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Jahren 1958/59 gedreht, gelangte jedoch erst 1961 zur Uraufführung.2 In seinem (sozial-)kritischen Gestus markiert er den Beginn eines urbanen Gegenkinos, das in mehrfacher Hinsicht seiner Zeit voraus ist. Denn dieser Stadtfilm, der lange Zeit selbst eine Schattenexistenz fristete und erst im Zuge von Andersens Los Angeles Plays Itself wiederentdeckt wurde,3 verleiht einer urbanen Gegenkultur Sichtbarkeit, die bis dahin weitgehend marginalisiert geblieben war: Im Mittelpunkt des Films steht eine Gruppe ausgesiedelter Indianer aus Arizona, die sich Mitten im Herzen von Downtown Los Angeles, im Stadtteil Bunker Hill, ihr ganz eigenes Leben eingerichtet haben. In einem halb-dokumentarischen Gestus verfolgt The Exiles ihr alltägliches Leben in einem verdichteten Zeitraum von Freitagnachmittag bis Samstagmorgen und zeichnet somit ihre täglichen Gewohnheiten und Abläufe, ihre Rhythmen und Wege durch die Stadt auf präzise Weise nach, wie bereits der Pressetext aus dem Jahr 1961 ankündigt: „The Exiles is the story of one wild but typical night in the lives of three young American Indians who have left their reservations to live in downtown Los Angeles. It presents the lifestyles and actions of these people that are ‚not true of all Indians of the time ... but typical of many.‘“4
Im Folgenden wird es mir darum gehen, jenen Umbruch nachzuzeichnen, den Andersen mit The Exiles verbindet und der sich in einem veränderten, kritischen Bewusstsein gegenüber der Stadt artikuliert. Wie kann jedoch ein Film zu einer Form der filmischen Stadtkritik werden? Und welche Implikationen hat dies für die Konzeption der filmischen Stadt und ihrer Ge-
2
Nach mehreren Festivalaufführungen im Jahr 1961, so etwa in Venedig, Mannheim, London und San Francisco, erhielt The Exiles durch seinen Verleih lediglich eine limitierte Distribution im Jahr 1964.
3
Anlässlich der Restaurierung und Neuauflage von The Exiles durch Milestone Films im Jahr 2008 beschreibt Thom Andersen Mackenzies Film treffend als einen „lost film that has been hiding in plain sight for almost 50 years“. Thom Andersen: This Property is Condemned, in: Film Comment, Vol. 44, Issue 4 (Juli/August 2008), S. 38-39.
4
Die originalen Pressetexte des Films sind sowohl im Katalog der Berlinale 2010 anlässlich der öffentlichen Wiederaufführung des Films als auch im umfangreichen Zusatzmaterial der DVD von Milestone Films abgedruckt.
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schichte? Um diesen Fragen am Beispiel von The Exiles nachzugehen, möchte ich zwei Hintergrundgeschichten entwickeln, die einerseits auf den stadtgeschichtlichen beziehungsweise stadtpolitischen Kontext und andererseits auf die filmhistorische Dimension von The Exiles verweisen. Auf der einen Seite markiert Mackenzies Film einen entscheidenden Umschlagpunkt innerhalb der Stadtgeschichte von Los Angeles. The Exiles zeigt ein Stadtviertel im Umbruch, in das sich die Anzeichen einer weitreichenden Veränderung bereits eingeschrieben haben – und diese Veränderung betrifft vor allem die radikale Restrukturierung von Downtown Los Angeles, die bereits in den 1950er Jahren stark debattiert, jedoch erst im Laufe der 1960er Jahre in die Tat umgesetzt wurde. Der Film fängt damit einen Moment ein, in dem sich das Leben in Bunker Hill gerade noch auf den Straßen, in den Markthallen und in den Bars abspielt. Sehr bald, so könnte die Aussage von The Exiles lauten, wird dieses Leben jedoch von den Straßen getilgt sein, um auf ihrem Grund eine gewaltige Hochhausstadt zu errichten. Während The Exiles also dem Leben der Native Americans in Bunker Hill folgt, so dokumentiert er damit zugleich einen stadthistorisch bedeutsamen Moment, in dem die Anzeichen des Umbruchs bereits greifbar werden. Es ist ein Film, der im wahrsten Sinne des Wortes Partei ergreift – und dies nicht allein für die Gruppe der Native Americans, denen er eine neue, bisher nicht dagewesene Sichtbarkeit im Film verleiht, sondern zugleich gegen die geplanten Umstrukturierungen in Los Angeles, indem er das pulsierende, innere Leben dieses Stadtteils auf eindrückliche Weise in den Vordergrund rückt. Denn The Exiles ist, wie Saul Austerlitz schreibt, „not only a film about the interior lives of its characters; it is also, in a way, a film about the interior life of Los Angeles, a city much photographed and rarely captured“.5 Die filmische Stadtkritik, die The Exiles formuliert, ist folglich keine direkte, im Film selbst angesprochene Anklage der gegenwärtigen urbanen Situation. Vielmehr besteht seine Kritik darin, ein besonderes Bewusstsein
5
Austerlitz, Saul: A Time Capsule of Bunker Hill’s Native Americans, in: Los Angeles Times (06. Juli 2008). Auch Wesley Morris schreibt: „Kent Mackenzie’s magnificent, long-undistributed, unclassifiable first feature, The Exiles, stands as a rare consideration of the inner and outer lives of American Indians in a big American city“. Morris, Wesley: A Study of Outcasts in Their Own Land, in: The Boston Globe (26. September 2008), S. 18.
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des Ortes beziehungsweise einen bestimmten ‚sense of place‘ zu entwickeln. Indem Mackenzies Film das innere, pulsierende Leben in Bunker Hill in den Mittelpunkt rückt, zeichnet er damit zugleich ein vielschichtiges Bild der zahlreichen, sich überlagernden sozialen Infrastrukturen in diesem Stadtteil nach, die sich den damals vorherrschenden und von den zuständigen Behörden bewusst propagierten Zuschreibungen von Bunker Hill als heruntergekommenem, verlassenen Slum deutlich widersetzen.6 The Exiles entwirft jedoch nicht allein ein urbanes Gegenkino in Bezug auf sein Engagement gegen die geplante Umstrukturierung von Los Angeles, die bereits die zentrale, treibende Kraft hinter Mackenzies Studentenfilm Bunker Hill – 1956 bildete. Sein Gegenkino artikuliert sich zugleich auf einer filmhistorischen Ebene, was ich im zweiten Teil meines Beitrags zeigen möchte. In einer Zeit, in welcher die Filmproduktion in hohem Maße von urbanen Kriminal-, Detektiv- und Korruptionsfilmen dominiert ist, in welcher der Film noir mit Orson Welles’ Touch of Evil (1958) seinen (vorerst) letzten Höhepunkt erreicht,7 bildet The Exiles einen ebenso markanten wie vielschichtigen Gegenentwurf, der sich in seiner dokumentarischen Ästhetik jenseits des in den 1940er und 1950er Jahren so wirkmächtigen ‚Noir-Territoriums‘ positioniert. Insbesondere im Zuge seiner Wiederentdeckung in den letzten Jahren ist Mackenzies Erstlingswerk häufig als Vorläufer des unabhängigen Films beschrieben worden, wie er sich spätestens in den 1970er Jahren in den USA, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der sogenannten ‚L.A. Rebellion‘, entwickelt. Zugleich steht The Exiles in einer langen Tradition des Dokumentarfilms, der sich in der Nachkriegszeit schrittweise vom poetisch-lyrischen Modus, welcher insbesondere die frühen Dokumentarfilme der 1920er Jahre prägte, hin zu anthropologisch ausgerichteten, beobach-
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Vgl. hierzu etwa die Ausführungen zur ‚Verfallsgeschichte‘ des Stadtteils im sogenannten ‚Bunker Hill Implementation Plan‘ der Community Redevelopment Agency von Los Angeles (17. Dezember 2009), http://www.crala.net/ internet-site/Projects/Bunker_Hill (01.06.2013).
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Die wichtigste Publikation zum Film noir der 1940er und 1950er Jahre, insbesondere in Bezug auf seine Raumentwürfe und Stadtkonstruktionen, hat Edward Dimendberg mit seinem Buch Film Noir and the Spaces of Modernity (Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2004) vorgelegt.
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tenden und partizipativen Formen entwickelt.8 Es ist diese Vielzahl unterschiedlicher filmischer Traditionen, an denen The Exiles teilhat, die diesen Film so herausheben und zu einem wichtigen Studienobjekt machen. Will man The Exiles einen Ort innerhalb der Film- und Stadtgeschichte zuschreiben, so wäre dieser in jenen ‚verborgenen Städten‘ zu finden, die ich meinem Beitrag vorangestellt habe. Denn Mackenzies Film entwirft einen vielschichtigen Gegenraum, der sich ebenso auf der filmhistorischen wie der stadtpolitischen Ebene artikuliert. Er lässt jene verborgenen Städte wieder aufleben, die im Zuge der Umstrukturierungspläne für nichtig erklärt wurden und die dennoch in ihren stillen, unauffälligen Rhythmen im alltäglichen Leben von Bunker Hill stets präsent waren. Zugleich verleiht er einer Gruppe junger Native Americans eine neue Sichtbarkeit, die bis dahin weitgehend im Hintergrund existierten und aus dem vielmals vermessenen filmischen Territorium von Bunker Hill schlichtweg herausgekürzt wurden. Auf beiden Ebenen bringt Mackenzies Film jene verborgenen Facetten der Stadt zum Vorschein, die allein im Film und durch den Film bewahrt und gespeichert werden können.
U RBANES G EGENKINO I: B UNKER H ILL UND DAS U RBAN R EDEVELOPMENT P ROJECT Das Bestreben, eine präzise Diagnose der gegenwärtigen urbanen Welt zu liefern, mithin die Vielzahl sich überlagernder städtischer Dynamiken im Stadtteil Bunker Hill einzufangen, das dem filmischen Programm von The Exiles so untrennbar eingeschrieben ist, charakterisierte bereits Kent Mackenzies erstes Filmprojekt, den Kurzfilm Bunker Hill – 1956, den er zwei Jahre vor Beginn der Dreharbeiten an The Exiles als Studentenprojekt an der University of Southern California (USC) entwickelte und filmte. In diesem Kurzfilm, der als zentraler Grundstein und Vorbedingung für die Entstehung von The Exiles gelten kann, zeigt sich bereits Mackenzies starkes Engagement für eine vielschichtige Analyse der urbanen Situation in Downtown Los Angeles.
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Zu den unterschiedlichen Phasen des Dokumentarfilms und ihren Übergängen, vgl. Nichols, Bill: Introduction to Documentary, Bloomington: Indiana University Press 2001, S. 99-137.
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Im Zentrum von Bunker Hill – 1956 steht eine Reihe von Interviews mit den Bewohnern von Bunker Hill: Ladenbesitzern, Handwerkern, Apothekern, und insbesondere einer Gruppe von Pensionären, die in den 1950er Jahren die größte Bevölkerungsschicht dieses vormals hochherrschaftlichen Stadtviertels ausmachten. In diesen Interviews, in denen die Stadtbewohner ihre Ängste angesichts der geplanten Umstrukturierung von Bunker Hill artikulieren und über die Konsequenzen ihrer drohenden Umsiedlung reflektieren, finden sich bereits zentrale Ansätze eines kritischen urbanen Kinos, das die Geschehnisse in der Stadt nicht allein aufzeichnet, sondern mittels einer genauen filmischen Analyse, und mehr noch, dem Einfangen der Vielstimmigkeit ihrer Bewohner einen Beitrag zur übergreifenden Stadtdebatte leisten will. Und so schreibt auch Kent Mackenzie in seinem Skript zu Bunker Hill – 1956: „The film is designed to provoke critical thinking about the rehabilitation of slum areas. Bunker Hill – 1956, in the true documentary spirit, presents the viewpoint of the dweller, who, by choice or by chance has found himself in a redevelopment project. The film can be a useful discussion piece for social workers, religious leaders and teachers, or as a documentary of geriatrics“.9
Die Radikalität dieses Umbruchs, durch den ein ganzer Stadtteil, und damit zugleich ein Teil der Stadtgeschichte, schlichtweg getilgt werden, wird in Mackenzies Kurzfilm Bunker Hill – 1956 äußerst greifbar. Denn wenngleich die Zuständigen der Community Redevelopment Agency von Los Angeles im Jahr 1955 ihr vernichtendes Urteil über Bunker Hill fällen, indem sie es als Slum bezeichnen und zum Abriss freigeben, so berichtet Mackenzies Kurzfilm ein Jahr später noch von einer ganz anderen Realität. Ähnlich wie vor ihm etwa William Laurié, der in seinem Kurzfilm A Day in Bunker Hill (1948) die Abläufe eines Tages in Bunker Hill auf poetische Weise einfängt, stellt auch Mackenzies Film das alltägliche Leben und die vielstimmigen Rhythmen dieses Stadtteils in den Vordergrund.
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Mackenzie, Kent: Bunker Hill – 1956. Initial Treatment and Script, Los Angeles: University of Southern California 1956. Das komplette Script für Mackenzies Film, zum Teil mit handschriftlichen Notizen und Korrekturen im Laufe des Produktionsprozesses, ist Teil des umfangreichen Zusatzmaterials der Milestone Edition 2009.
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In ihrem beobachtenden Gestus ebenso wie in ihrem Bestreben, eine präzise Diagnose der urbanen Gegenwart zu liefern, lassen sich A Day in Bunker Hill und Bunker Hill – 1956 als frühe Beispiele einer filmischen Stadtkritik begreifen, die sich den gängigen urbanistischen Diskursen über Bunker Hill widersetzen. Insbesondere Mackenzies Film richtet sich dezidiert gegen das ‚Bunker Hill Urban Renewal Project‘ der Community Redevelopment Agency, das erste und größte Redevelopment Project in der Geschichte von Los Angeles, das seit dem ersten Beschluss im Jahr 1955 mittlerweile sechs verschiedene Transformationsstufen durchlaufen hat und dessen Abschluss für das Jahr 2015 vorgesehen ist. Von Beginn an als gigantisches Restrukturierungsprojekt geplant, in welchem die alten viktorianischen Villen von Bunker Hill, die einst für den beachtlichen Wohlstand dieses Stadtteils standen, einem funktional organisierten Ensemble an Hochhäusern und Bürokomplexen weichen, war das ‚Urban Renewal Project‘ dezidiert auf das Konzept einer autogerechten Stadt ausgerichtet. Durch die umfassende Flächensanierung von Bunker Hill wurden bis Ende der 1960er Jahre beinahe lückenlos die bestehenden Gebäude abgerissen und die Wohnviertel, die sich über den Hügel von Bunker Hill erstreckten, weitgehend planiert, um das gesamte Straßennetz nach funktionalen Kriterien neu zu gliedern. Und so heißt es auch im Untersuchungsbericht der Community Redevelopment Agency: „In preparation for the Bunker Hill Urban Renewal Plan, the City’s planning, health, and housing departments conducted surveys to document social, economic, and physical blight. They found that 82% of the housing units in Bunker Hill were deteriorated, overcrowded, unhealthy, and unsafe, resulting in the demolition of 7,310 housing units. Extensive studies concluded that a rearrangement of the topography and a realignment of the street and circulation systems would be necessary to begin correcting the prevailing blighting conditions“.10
10 ‚Bunker Hill Implementation Plan‘ der Community Redevelopment Agency, veröffentlicht am 17. Dezember 2009, Ausführung 2010-2012. Mackenzies Film nimmt darauf gleich zu Beginn von Bunker Hill – 1956 Bezug, indem er kommentiert: „Close to the City Center in Downtown Los Angeles is a small residential area known as Bunker Hill. The Community Redevelopment Agency, a city agency created to clear slums, has selected Bunker Hill for a multimillion dollar redevelopment project“. Mackenzie 1956, siehe Anm. 9.
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Während Mackenzies Kurzfilm Bunker Hill – 1956 sich unmittelbar auf diese stadtpolitische Diskussion bezieht, indem er in einzelnen Passagen die Entwicklungsstufen des Urban Renewal Projects nachzeichnet und Modelle der geplanten Bebauung sowie Skizzen zur Umstrukturierung aufzeigt, so schlägt er mit seinem ersten Spielfilm The Exiles, den er zugleich als Abschlussfilm an der University of Southern California einreichte, eine andere Richtung ein. Im Zentrum steht nun nicht mehr die direkte Adressierung der Umstrukturierungspläne, sondern vielmehr das Bestreben, die Vielfalt des Lebens in Bunker Hill in den späten 1950er Jahren am Beispiel der Native Americans einzufangen. Während der Film den alltäglichen Rhythmen und Bewegungen der drei Hauptfiguren – Yvonne Williams, einer Apache, Homer Nish, einem Hualapi, und Tommy Reynolds, einem Mexikaner – und ihren Freunden durch die nächtliche Stadt folgt, vom Grand Central Market bis zu ihrem Apartment nahe der alten Seilbahn Angels Flight, von in den ehemals glanzvollen Kinopalästen auf dem South Broadway bis in die zahlreichen Bars auf der Third und Main Street, um den Rest der Nacht schließlich auf dem Hill X zu verbringen, wird er zugleich zu einem Seismografen der verlorenen Orte der Stadt. The Exiles kreiert einen spezifischen ‚sense of place‘, indem er ein Stück der Stadtgeschichte von Los Angeles in sich speichert und bewahrt. Auf diese Weise ist Mackenzies Film, wie auch Richard Brody bemerkt, „as much an impressionistic gallery of urban landscapes as a set of intimate portraits“11, während Thom Andersen noch gezielter ausführt: „Like all the other places of refuge the Indians found in Los Angeles, Hill X didn’t survive the 1960s. The Exiles is the most detailed and concrete record we have of those doomed spaces. Mackenzie was well aware of their fragility, and this knowledge is perhaps what gives his film its special sense of place“.12
Dennoch liegt der Zielpunkt von The Exiles nicht darin, einen melancholischen, nostalgischen Blick auf die (bald) verlorenen und vergessenen Orte der Stadt zu werfen und auf diese Weise, wie Manohla Dargis schreibt, „the poetry and derelict beauty of its dilapidated buildings, neon signs, peeling
11 Brody 2009, siehe Anm. 1. 12 Andersen, Thom: The Exiles, in: ders.: Los Angeles. Eine Stadt im Film. A City in Film, Marburg: Schüren 2008, S. 138-141, S. 141.
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walls and downcast facades“13 auf Zelluloid zu bannen. Der Blick, den Mackenzie in seinen Filmen auf Bunker Hill wirft, ist keinesfalls ein verklärter, sentimentaler, auf die Vergangenheit gerichteter Blick, sondern vielmehr eine vielschichtige Analyse der urbanen Gegenwart, die sich als filmischer Gegendiskurs zur stadtpolitischen Debatte lesen lässt. The Exiles lässt sich als der Versuch begreifen, einen ungefilterten Blick auf die Lebensbedingungen und Lebensweisen der Native Americans in Bunker Hill zu werfen. Vorausgegangen waren den Dreharbeiten zu The Exiles lange Phasen der Vorbereitung, intensive Auseinandersetzungen und monatelange Gespräche mit den Beteiligten, die sich in ebenso langen Dreharbeiten in den Jahren 1958-59 fortsetzten. Das Destillat ist der Ablauf einer Nacht in Bunker Hill, die sich letztlich aus vielen Nächten und zahlreichen Filmfragmenten zusammensetzt und auf diese Weise zu einem dichten Porträt der Native Americans formt.14 Indem The Exiles einen ungefilterten Blick auf ihr Leben wirft, zeigt er zugleich ihre inneren und äußeren Konflikte auf – ihre Identitätssuche einerseits, die sich in einzelnen, in die Handlung eingelassenen Exkursen in die Vergangenheit artikuliert, und andererseits ihre Auseinandersetzungen mit einer urbanen Welt, die nicht selten zu Konflikten untereinander, zu Spannungen zwischen den weiblichen und männlichen Protagonisten, zu Trinkgelagen und Raufereien in den Bars, bis hin zum eskalierenden Konflikt auf dem Hill X im Morgengrauen führen. In dieser „near-heavenly vision of a near-hell“15 bilden die inneren und äußeren Konflikte die zentrale treibende Kraft, wenngleich der Film zu keinem Zeitpunkt beim bloßen Aufzeigen städtischer Gegensätze und binärer Oppositionen stehenbleibt, sondern vielmehr, wie auch David E. James in seiner Studie zu den ‚Minority Cinemas‘ von Los Angeles schreibt, aus diesen Konflikten heraus ein vielschichtiges Bild zu entwickeln vermag:
13 Dargis, Manohla: Despair and Poetry at Margins of Society, in: New York Times (11. Juli 2008), S. 12. 14 Robert Koehler beschreibt hinsichtlich der fehlenden finanziellen Mittel für The Exiles, dass Mackenzie teilweise sogar auf Reste von Filmstreifen angewiesen war: „He had to rely at points on bits and pieces of remaining ‘tails’ of raw negative stock that were free but absurdly short in length“. Koehler, Robert: The Exiles, in: Cineaste, Vol. 33, No. 4 (Fall 2008), S. 84. 15 Dargis 2008, siehe Anm. 13.
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„Ordered by city versus country, errant male versus female, and similar conventional binaries, Exiles nevertheless transcends its schematics. Its antitheatrical, nondramatic narrative looseness […] allows the incidental details and rhythms of urban underclass life their own texture and poignancy“.16
In seinem dezidiert sozialkritischen Gestus, der Tom Charity dazu veranlasste, Mackenzies Film treffend als „Bukowski before the fact“17 zu beschreiben, artikuliert sich eine Form der filmischen Stadtkritik, deren Zielpunkt weniger darin besteht, in eine vergangene, vermeintlich bessere Zeit der Stadtgeschichte zurückzukehren, als vielmehr mittels des Films eine eigene Variante gegenwärtiger Stadtgeschichte zu schreiben. Gegenüber den technischen Infrastrukturen als zentraler Größe der Stadtplanung, die auf die Regulierung des Verkehrs beziehungsweise die Sicherung einer autogerechten Stadt ausgerichtet sind und die den Kern des Umstrukturierungsprojekts von Bunker Hill ausmachen, entwerfen Mackenzies Filme soziale Infrastrukturen, die sich einerseits auf die Vielfalt und Vielstimmigkeit der Stadtbewohner, wie in Bunker Hill – 1956, und andererseits auf die Diversität der sich überlagernden urbanen Mikrokosmen beziehen, die The Exiles in einer neuen Intensität auf die Leinwand bringt.
U RBANES G EGENKINO II: B UNKER H ILL ALS FILMISCHES T ERRITORIUM Die Idee eines urbanen Gegenkinos artikuliert sich, wie ich bereits zu Beginn angesprochen habe, nicht allein auf einer übergreifenden städtischen Ebene, indem der Film die bedrohten Orte von Bunker Hill einfängt und damit einen Gegenpol zu den Stadtdiskursen seiner Zeit bildet. Vielmehr äußert sich sein Gegenkino zugleich in seiner inneren Anlage, oder präziser gefasst, in dem urbanen Mikrokosmos, den der Film entstehen lässt und der in seinen andersartigen Rhythmen weitgehend aus der räumlichen Ordnung
16 James, David E.: Minority Cinemas, in: ders.: The Most Typical Avant-Garde: History and Geography of Minor Cinemas in Los Angeles, Berkeley: University of California Press 2005, S. 295. 17 Charity, Tom: The Exiles, in: Sight and Sound, Vol. 20, Issue 2 (Februar 2010), S. 86-87, S. 86.
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der Stadt hinauszufallen scheint. Thom Andersen hat The Exiles einmal als ein ‚cinema of walking‘ bezeichnet – als ein Kino also, dem ein anderer Rhythmus, eine andere Form der Fortbewegung durch die Stadt zugrunde liegt. Gerade vor dem Hintergrund der geplanten Umstrukturierung von Bunker Hill entwirft Mackenzie mit seinem ‚cinema of walking‘ folglich einen Gegenraum, der als Widerlager mitten in der Stadt existiert. Er konfiguriert Bunker Hill als einen Ort, dem ein anderer Rhythmus zugrunde liegt, wie Mackenzie es bereits in Bezug auf seinen Kurzfilm Bunker Hill – 1956 äußert, wenn er schreibt, „on all sides, the city pulsates. But its rhythm does not affect Bunker Hill. Here life is almost without pace and tempo“, und er führt weiter aus: „Any city has many rhythms. Los Angeles is mostly a town of blatant growth and movement, but in the center of the downtown area, among the markets, theater marquees, stone office buildings, and the noise of the traffic, a grotesque mound rises, forcing the city-builders to tunnel for their super-highways, and perch their dwellings on crumbling sandy precipices. Here on Bunker Hill are the architectural and human remnants of a half a century ago, already weathered to a seemingly greater age by storm and sun and years“.18
Robert Koehler hat in Bezug auf The Exiles treffend von einem ‚Kino der Langsamkeit‘, einem ‚cinema of duration‘ gesprochen und damit auf den besonderen filmischen Gestus von The Exiles verwiesen, der darin besteht, die Geschehnisse dieser Nacht in Bunker Hill sich langsam und schrittweise entfalten zu lassen, ohne eine Beschleunigung der Geschehnisse oder gar eine Lenkung des Blicks vorzunehmen, was nicht zuletzt eng mit der Entstehungsgeschichte dieses Films zusammenhängt.19 Denn nachdem sich Mackenzie bereits seit 1957 in verstärktem Maße mit der Lage der ausgesiedelten Indianer in Downtown Los Angeles auseinandergesetzt hatte, war The Exiles zunächst als ein ‚anthropologischer Film‘ geplant, als eine soziale Studie also, welche die Vorgänge in Bunker Hill unbeteiligt beobachtet und das alltägliche Leben seiner Bewohner einfängt. Im Verlauf der Vorbereitungen, in die auch die drei zentralen Figuren des Films intensiv einbezogen wurden, veränderte sich die Ausrichtung des Films jedoch schritt-
18 Mackenzie 1956, siehe Anm. 9. 19 Vgl. Koehler 2008, siehe Anm. 14.
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weise und vollzog schließlich einen weitreichenden konzeptuellen Wechsel, wie Koehler schreibt, „from a documentary [...] into a poetic consideration – at its widest view – of existence itself“.20 Mackenzie ging es in The Exiles folglich nicht darum, eine bestimmte filmische Form vorzugeben, sondern vielmehr erst aus den Geschehnissen heraus die adäquate Form seines Films zu entwickeln: „The Exiles is an ‚anti-theatrical‘ and ‚anti-social-documentary‘ film. It was conceived, not necessarily in protest against those two forms of film usage, but rather in search for a true and different format, which would reveal the complex problems of the Indians in the city. Instead of leading an audience through an orderly sequence of problems-decisions-action and solution on the part of the characters, we sought to photograph the infinite details surrounding these people, to let them speak for themselves, and to let the fragments mount up. Then, instead of supplying a resolution, we hoped that somewhere in the showing, the picture would become, to the viewer, a revelation of a condition about which he will either do something, or not— whichever his own reaction dictates“.21
In seinem beobachtenden Gestus, der die Dinge und Details im Leben der ‚Exiles‘ selbst sprechen lässt, wie Mackenzie schreibt, zeichnet er eine neue filmische Karte von Bunker Hill. Die Figuren vermessen ihren städtischen Raum kontinuierlich durch ihre Bewegungen und ihre Wegstrecken und lassen somit einen haptischen Raum beziehungsweise eine ‚haptic geography‘ entstehen, wie sie Giuliana Bruno in ihrem Buch Atlas of Emotion beschrieben hat.22 In ihrem ziellosen Umherstreifen, ihrem Wechsel zwischen den einzelnen Cafés und Bars von Bunker Hill zeichnen die Figuren ihren
20 Ebd. 21 Mackenzie, Kent: Letting People Speak for Themselves, Nachdruck in: Katalog der 58. Internationalen Filmfestspiele Berlin. 7.-17. Februar 2008, http://www. berlinale.de/external/en/filmarchiv/doku_pdf/20084193.pdf, S. 5 (05.06.2013). Ein ebensolches Ringen um die bestmögliche Form zeigt sich zugleich in den zahlreichen Titelversionen, die von The Trail of the Thunderbird über Thunderbird bis hin zu The Night is a Friend, A Long Way Home und Go Ahead On, Man reichten, bis sich das Team 1960 für The Exiles entschied. 22 Bruno, Giuliana: Atlas of Emotion. Journeys in Art, Architecture, and Film, New York: Verso 2002.
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ganz eigenen Rhythmus, und damit zugleich ihre ganz eigene Karte, in den städtischen Raum ein, während ihre Wege durch die Stadt von der Musik von The Revels, Anthony Hilder, Robert Hafner und Eddie Sunrise begleitet werden. In seiner „mesmerizing marriage of poetry and prose“23 entwickelt The Exiles einen genuin filmischen Bewegungsraum, der sich jenseits der Rhythmen der Metropole Los Angeles entfaltet. In seinem spezifischen ‚sense of place‘, der sich in den kleinen Dingen und Details dieses urbanen Mikrokosmos artikuliert, widersetzt sich The Exiles zugleich den gängigen Zuschreibungen von Bunker Hill, wie sie die Filmgeschichte hervorgebracht hat. Bunker Hill reicht als Ort der filmischen Imagination tief in die Filmgeschichte zurück und erhielt seine deutlichste Prägung im Zuge des Film noir, jenen Kriminalfilmen der 1940er und 1950er Jahre also, die sich in ihren Detektiv- und Kriminalgeschichten mit den dunklen und verbrecherischen Seiten der Großstadt auseinandersetzten. Bunker Hill wurde mit seinen seltsam aus der Zeit gefallenen viktorianischen Villen und verlassenen Bauten schnell zum Inbegriff jener „lost town, shabby town, crook town“, wie sie Raymond Chandler in seinen Hard-Boiled-Novels so eindringlich heraufbeschworen hat. Und im selben Zuge wurde Bunker Hill als ein genuin filmisches Territorium entdeckt, wie Mike Davis eindrücklich schreibt: „In the beginning, Los Angeles was [...] simply a ‚bright, guilty place‘ without a murderous shadow or mean street in sight. Hollywood found its own Dark Place belatedly and only through a fortuitous amalgam of older, migrant sensibilities. Once discovered by hardboiled writers and exiled Weimar auteurs, however, Bunker Hill began to exert an occult power of place. [...] The hill was broodingly urban and mysterious—everything that Los Angeles, suburban and banal from birth, was precisely not. [...] Raymond Chandler created the noir street map of Los Angeles, which Hollywood subsequently took as its guide“.24
23 Hornaday, Ann: The Exiles, in: Washington Post (28. November 2008). 24 Davis, Mike: Bunker Hill. Hollywood’s Dark Shadow, in: Shiel Mark; Fitzmaurice Tony (Hg.): Cinema and the City. Film and Urban Societies in a Global Context, Malden, MA: Blackwell 2001, S. 33-45, S. 33. Davis hat sich intensiv mit den filmischen Zuschreibungen von Los Angeles zwischen ‚Sunshine‘ und ‚Noir‘ auseinandergesetzt; vgl. Davis, Mike: City of Quartz: Excavating the Future in Los Angeles, New York: Verso 1990.
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Gegenüber den unzähligen filmischen Vermessungen von Bunker Hill als genuines Noir-Territorium, wie es, neben zahlreichen anderen Beispielen, etwa Criss Cross (Robert Siodmak, 1949), M (Joseph Losey, 1951) und Kiss Me Deadly (Robert Aldrich, 1955) geprägt haben, zeichnet Kent Mackenzie mit The Exiles ein anderes Bunker Hill. Er lässt eine andere Stadt entstehen, die filmsprachlich weitaus mehr im Kontext des italienischen Neorealismus einerseits und in der Tradition der Dokumentarfilme von Robert Flaherty, Basil Wright und Humphrey Jennings andererseits zu situieren ist, wenngleich, wie Pauline Kael mit Blick auf den Einfluss Flahertys auf The Exiles einmal bemerkte, „instead of recreating a culture that has disappeared, Mackenzie shows us the living ruins“.25 In seiner Begründung eines kritisch reflektierenden Kinos, betritt The Exiles filmsprachlich ein neues Terrain und kann somit als Vorläufer der bereits erwähnten L.A. Rebellion in den 1970er Jahren gelten. Als Gruppe junger afro-amerikanischer Filmemacher, die gemeinsam die Film School der University of California Los Angeles (UCLA) absolvierten, richten Charles Burnett, Haile Gerima, Julie Dash, Billy Woodberry und andere ihren Blick auf intensive Weise auf die Zustände und Lebensbedingungen afro-amerikanischer Familien in Los Angeles. Zum Schauplatz ihrer Filme wird dabei weniger das in den späten 1970er Jahren bereits gänzlich umstrukturierte Bunker Hill, sondern vor allem der Stadtteil Watts in South Central Los Angeles, der im August 1965 für eine Woche zum Schauplatz vehementer Rassenunruhen, der sogenannten Watts Riots, wurde. In Filmen wie Killer of Sheep (Charles Burnett, 1977), Bush Mama (Haile Gerima, 1979) und Bless Their Little Hearts (Billy Woodberry, 1984), die auch in Andersens Film zum Markierungspunkt der Begründung eines politisch engagierten und filmsprachlich nuancierten urbanen Gegenkinos werden, das mit The Exiles seinen Anfang genommen hatte, stehen die differenzierten Betrachtungen der Figuren ebenso im Mittelpunkt wie das eindringliche Porträt einer urbanen Welt, die von den Rassenunruhen
25 Kael, Pauline: In the Tradition of Robert Flaherty. The Exiles, 1961, Nachdruck in: Katalog der Internationalen Filmfestspielen Berlin. 7.-17. Februar 2008, http://www.berlinale.de/external/en/filmarchiv/doku_pdf/20084193.pdf, (01.06.2013).
S. 6f.,
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noch stark gezeichnet ist.26 Das Zusammendenken von Stadt und Figur, bei welchem das urbane Umfeld zum Seismografen der inneren Zustände der Figuren wird, während im Umkehrschluss die Figuren mit ihren inneren Gedanken, Rhythmen und Bewegungen auf die urbane Welt zurückstrahlen, lässt sich bereits im räumlich sensiblen Kino von The Exiles entdecken, das sich als präzise, ungefilterte filmische Studie städtischen Lebens versteht, wie auch Mackenzie in seinen Aufzeichnungen reflektiert: „I tried very hard not to be attracted by the strangeness of the environment as opposed to my own, and to avoid the ‚romance of poverty.‘ I had seen many of the socalled ‚ash-can‘ documentaries in which the squalor and horror of poverty were emphasized to the exclusion of all else, and I hoped that I wouldn’t superimpose any such illusions on these people. I wanted to show their own point of view in the film if I could“.27
In seinem Bestreben, in The Exiles nicht die ‚romance of poverty‘ sprechen zu lassen, sondern vielmehr einen ungefilterten Blick auf die Geschehnisse in Bunker Hill zu werfen, bewegt sich The Exiles im Kontext der aufkommenden Bewegung des cinéma vérité, die von Filmen wie The Savage Eye (Ben Maddow/Sidney Meyers/Joseph Strick, 1960) geprägt ist und in deren Umfeld Mackenzies Film neu zu positionieren ist.28 Zugleich verwebt Mackenzie in seinem Film den dokumentarischen, beobachtenden Blick mit einer Vielstimmigkeit der Figuren, deren aufgezeichnete Kommentare und
26 Im November 2011 fand unter dem Titel L.A. Rebellion: Creating a New Black Cinema in Los Angeles eine umfassende, wichtige Retrospektive zu den Filmen der L.A. Rebellion unter Initiative der UCLA statt. 27 Mackenzie, Kent: The History of The Exiles, Nachdruck in: Katalog der 58. Internationalen Filmfestspiele Berlin. 7.-17. Februar 2008, http://www. berlinale.de/external/en/filmarchiv/doku_pdf/20084193.pdf, S. 2-4, hier S. 3 (05.06.2013). 28 Jim Ridley markiert einen ähnlichen Umbruch hinsichtlich des Jahres 1961 als „a period encompassing the nouvelle vague’s initial shock waves a world away, and roughly coinciding with the similar efforts of John Cassavetes, Lionel Rogosin and Morris Engel at home“. Jim Ridley: Soul and the City. Kent Mackenzie’s The Exiles, in: L.A. Weekly (13. August 2008).
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Gedankengänge sich immer wieder über die Bilder legen und so ein dichtes Bild des Lebens in Bunker Hill zeichnen. In seinem Porträt der Native Americans in Los Angeles bewahrt The Exiles nicht allein die verlorenen Orte der Stadt, sondern zugleich eine verlorene Zeit. Indem er seinen Blick auf einen Stadtteil richtet, der in den Jahren zuvor filmisch noch gänzlich anders besetzt war und als genuines NoirTerritorium die Ästhetik des Städtischen wie kaum ein anderer prägte, lässt Mackenzie in seinem Film immer auch die vielfältigen symbolischen Infrastrukturen mitschwingen, die einem derart oft verfilmten und wiederverfilmten Ort unweigerlich anhaften. Er lässt mit Bunker Hill einen Raum entstehen, der nicht allein aus dem übergreifenden Raum der Stadt und ihren schnelllebigen Rhythmen herausgelöst scheint, sondern der zugleich die Zeichen der Zeit anzuhalten versucht. Im Hintergrund des Films scheint sich alles zu verändern: Bunker Hill sowohl als städtischer Raum als auch als filmisches Territorium befindet sich in einem signifikanten Umbruch. Doch im Vordergrund des Films scheint alles gleich zu bleiben. Und so heißt es auch am Ende jener langen Nacht in The Exiles: „This is the story of The Exiles. There has been no change. There will be no change. Today will soon become another night“.
F AZIT : D IE VERBORGENEN UND F ILMGESCHICHTE
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„With the passing of time“, so schreibt J. J. Murphy, „Kent Mackenzie’s The Exiles has become a memory piece – an ode to a place that no longer exists“.29 In der Vorstellung der verborgenen Städte, die ich abschließend in Bezug auf Mackenzies Film diskutieren möchte, artikuliert sich stets ein Prozess des Freilegens, des Entdeckens und des Entbergens. Sie deutet eine Geschichte oder auch einen Verlauf an, in der das, was vormals verborgen war, nun an die Oberfläche gelangt, während im Umkehrschluss die vormals sichtbare Gestalt der Stadt in den Hintergrund tritt. Und in der Tat lässt sich The Exiles als ein Film begreifen, der die Frage nach den verborgenen Städten, die erst im Film und durch den Film sichtbar werden, konti-
29 Murphy, J. J.: The Exiles, http://www.jj-murphyfilm.com/blog/2008/08/ 26/theexiles/ (05.06.2013).
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nuierlich umkreist und filmisch entfaltet. Denn er bringt nicht allein jene eine verborgene Stadt an die Oberfläche, die als Stadt der Native Americans im Herzen von Downtown Los Angeles existiert, sondern er legt vielmehr eine Vielzahl der verborgenen Städte frei, die sich wechselseitig überlagern und in denen sich die bewegte Stadt- und Filmgeschichte von Los Angeles, und insbesondere von Bunker Hill, widerspiegelt. Unter jeder sichtbaren Stadt, so könnte eine der Aussagen des Films lauten, verbirgt sich eine Vielzahl der verborgenen Städte – und es ist eine besondere Fähigkeit des Films, eben diese verborgenen Städte freizulegen. Entwickelt man diese Aussage zunächst in stadthistorischer Perspektive weiter, so wird die Vorstellung der verborgenen Städte in The Exiles insbesondere in Form der unmittelbar bevorstehenden Umstrukturierung von Bunker Hill greifbar. The Exiles berichtet, wenngleich weitaus indirekter als Mackenzies Kurzfilm Bunker Hill – 1956, von dem Noch-Nicht einer urbanen Neuordnung, welche die sichtbare Gestalt der Stadt bald radikal verändern wird. Jenseits des scheinbar unveränderlichen, fortlaufenden Lebens der Native Americans artikulieren sich hier bereits die Anzeichen eines weitreichenden räumlichen Umbruchs. The Exiles umkreist jedoch nicht allein das Noch-Nicht einer neuen urbanen Gestalt, sondern er setzt sich zugleich mit dem Nicht-Mehr eines filmischen Territoriums auseinander, das wie kaum ein anderer Stadtteil von seiner filmhistorischen Bedeutung gekennzeichnet ist. In Bunker Hill verdichten sich unterschiedliche Phasen der Filmgeschichte, die allesamt im Untergrund von Mackenzies Film mitschwingen. Nicht zuletzt hat Thom Andersen in seinem Filmepos auf die besondere ‚Überdeterminiertheit‘ bestimmter Stadtteile von Los Angeles und sogar einzelner Gebäude hingewiesen, die alle ihre jeweils eigene, einzigartige Filmkarriere zu verzeichnen haben. The Exiles bewegt sich damit auf einem bekannten, filmhistorisch vielfach vermessenen Terrain, das im Hintergrund stets präsent bleibt und das er dennoch filmsprachlich in eine gänzlich andere Richtung entfaltet. Er berichtet eine Geschichte, die vollkommen aus den bisherigen Filmgeschichten von Los Angeles herauszufallen scheint und die in ihrer präzisen Diagnose der gegenwärtigen urbanen Situation bereits die Entwicklungen eines urbanen Gegenkinos vorwegnimmt. Auf diese Weise stellt The Exiles nicht allein die Frage, inwiefern wir in Bezug auf den Film von einer Form der filmischen Stadtkritik sprechen können, die sich intensiv mit stadtpolitischen Fragen auseinandersetzt, um
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auf dieser Grundlage ein kritisches Bewusstsein gegenüber der Stadt und ihren räumlichen Transformationsprozessen zu entwickeln. Vielmehr stellt er zugleich die Frage, wie wir die Geschichte einer Stadt quer durch die Filmgeschichte hinweg schreiben können, die sich als eine Geschichte der verlorenen, vergessenen und wiederentdeckten Städte lesen lässt. Die spezifische ‚Entdeckungsarbeit‘ von The Exiles – jenem über Jahrzehnte verschollenen Film, der sich auf so nuancierte Weise mit allen Spielarten des Verlustes auseinandersetzt – besteht folglich darin, eine neue Karte von Los Angeles zu zeichnen, und damit zugleich eine neue Karte der filmischen Stadt und ihrer Geschichte anzulegen.
B IBLIOGRAFIE Andersen, Thom: The Exiles, in: ders.: Los Angeles. Eine Stadt im Film. A City in Film, Marburg: Schüren 2008, S. 138-141. Andersen, Thom: This Property is Condemned, in: Film Comment, Vol. 44, Issue 4 (Juli/August 2008,), S. 38-39. Austerlitz, Saul: A Time Capsule of Bunker Hill’s Native Americans, in: Los Angeles Times (06. Juli 2008). Brody, Richard: L.A. States of Mind, in: The New Yorker, Vol. 85, Issue 38 (November 2009), S. 14. Bruno, Giuliana: Atlas of Emotion. Journeys in Art, Architecture, and Film, New York: Verso 2002. Charity, Tom: The Exiles, in: Sight and Sound, Vol. 20, Issue 2 (Februar 2010), S. 86-87. Community Redevelopment Agency, Los Angeles: Bunker Hill Implementation Plan, ausgestellt am 17. Dezember 2009, http://www.crala.net/inter net-site/Projects/Bunker_Hill (05.06.2013). Dargis, Manohla: Despair and Poetry at Margins of Society, in: New York Times (11. Juli 2008), S. 12. Davis, Mike: Bunker Hill. Hollywood’s Dark Shadow, in: Shiel, Mark; Fitzmaurice, Tony (Hg.): Cinema and the City. Film and Urban Societies in a Global Context, Malden, MA: Blackwell 2001, S. 33-45. Davis, Mike: City of Quartz: Excavating the Future in Los Angeles, New York: Verso 1990.
DIE VERBORGENEN STÄDTE | 293
Dimendberg, Edward: Film Noir and the Spaces of Modernity, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2004. Hornaday, Ann: The Exiles, in: Washington Post (28. November 2008). James, David E.: The Most Typical Avant-Garde: History and Geography of Minor Cinemas in Los Angeles, Berkeley: University of California Press 2005. Kael, Pauline: In the Tradition of Robert Flaherty: The Exiles, 1961. Nachdruck in: Katalog der 58. Internationalen Filmfestspiele Berlin. 7.-17. Februar 2008, http://www.berlinale.de/external/en/filmarchiv /doku_pdf /20084193.pdf, S. 6-7 (05.06.2013). Koehler, Robert: The Exiles, in: Cineaste, Vol. 33, No. 4 (Fall 2008), S. 84. Mackenzie, Kent: Bunker Hill – 1956. Initial Treatment and Script, Los Angeles: University of Southern California 1956. Nachdruck in der Milestone Edition, British Film Institute: London 2009. Mackenzie, Kent: Letting People Speak for Themselves, Nachdruck in: Katalog der 58. Internationalen Filmfestspiele Berlin. 7.-17. Februar 2008, http://www.berlinale.de/external/en/filmarchiv/doku_pdf/20084193, S. 5 (05.06.2013). Mackenzie, Kent: The History of The Exiles, Nachdruck in: Katalog der 58. Internationalen Filmfestspiele Berlin. 7.-17. Februar 2008, http:// www.berlinale.de/external/en/filmarchiv/doku_pdf/20084193.pdf, S. 2-4 (05.06.2013). Mackenzie, Kent: The Exiles. Press Release, 1961. Nachdruck in: Milestone Edition, British Film Institute: London 2009. Morris, Wesley: A Study of Outcasts in Their Own Land, in: The Boston Globe (26. September 2008), S. 18. Murphy, J. J.: The Exiles, http://www.jj-murphyfilm.com/blog/2008/08/26/ the-exiles/ (05.06.2013). Nichols, Bill: Introduction to Documentary, Bloomington: Indiana University Press 2001. Ridley, Jim: Soul and the City. Kent Mackenzie’s The Exiles, in: L.A. Weekly (13. August 2008).
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F ILMOGRAFIE Aldrich, Robert: Kiss Me Deadly, USA: 1955. Andersen, Thom: Los Angeles Plays Itself, USA: 2003. Burnett, Charles: Killer of Sheep, USA: 1977. Gerima, Haile: Bush Mama, USA: 1979. Laurié, William: A Day in Bunker Hill, USA: 1948. Losey, Joseph: M, USA: 1951. Mackenzie, Kent: Bunker Hill – 1956, USA: 1956. Mackenzie, Kent: The Exiles, USA: 1961. Maddow, Ben; Meyers, Sidney; Strick, Joseph: The Savage Eye, USA: 1960. Siodmak, Robert: Criss Cross, USA:1949. Welles, Orson: Touch of Evil, USA: 1958. Woodberry, Billy: Bless Their Little Hearts, USA: 1984.
Abstracts
Chris Dähne: Die audio-visuelle Komposition des bewegten Raums. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt und neue Urbanität Ausgehend von der Straße, der beschleunigten Fahrbewegung und die von ihr ausgelösten Bilder und Töne, entwirft die Film- und Baukunst ihre Vorstellungen moderner Räume. Beide Künste nehmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Angleichung ihrer filmischen und architektonischen Werke an die veränderten Wahrnehmungsstrukturen vor. Tempo und Rhythmus sind die Schlagworte der Zeit mit denen urbane Räume und ihre Architekturen nahezu audio-visuell komponiert werden. Zugrunde gelegt werden Theorien Peter Behrens, Erich Mendelsohns und Walter Gropius’, die architektonischen Raum als organisch-lebendiges und mitwirkendes Material begreifen. Der Beitrag stellt das einzigartige Filmgenre, die Stadtsinfonie: hier die von Walter Ruttmann 1927 produzierte Berlin-Sinfonie, ihrer gebauten Realität gegenüber, um das synästhetische Potenzial beider Medien darzulegen. Jan Philip Müller: Soundscape Nashville. Tonbandgeräte-Milieus um 1974 Der Aufsatz setzt Robert Altmans Film Nashville (1975) und The Vancouver Soundscape – zwei LPs, die das von R. Murray Schafer gegründete World Soundscape Project 1973 veröffentlicht – als ungefähr zeitgleiche Verhandlungen der Räume und Räumlichkeiten von Sound ins Verhältnis und fragt nach ihren auditiven beziehungsweise akustischen Medien, insbesondere nach den hier verwendeten Tonbandgeräten. Solche technischen Medien bedingen räumlich und qualitativ wie Hörbares – das heißt Geräusche, Sprache und/oder Musik – in die Verhandlung getragen, das heißt aufgezeichnet, transportiert, geordnet, arrangiert und transformiert wird,
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gleichzeitig werden sie hier aber auch in den verhandelten Räumen und den Räumen der Verhandlung zum Thema und zum Problem. In Schafers Konzeption von „Soundscape“ und „Acoustic Ecology“ als ästhetisches, wissenschaftliches und politisches Projekt, das auf das Zusammenspiel der Sounds in ihren jeweiligen Umgebungen und auf die Lärmverschmutzung moderner Gesellschaften aufmerksam machen soll, lässt sich das an der Rede von der „Schizophonie“ technischer Audiomedien und den Verhältnissen zwischen Signal und „Noise“ – das Geräusch, Rauschen, Störung oder Lärm bedeuten kann – festmachen. In der Allegorie der politischen und kulturellen Situation Amerikas in den 1970er Jahren, die Altman mit den sich verwebenden Geschichten von 24 Charakteren zwischen der Unterhaltungsindustrie Country-Musik und der Wahlkampagne eines Präsidentschaftskandidaten in Nashville entwirft, wird das am Tonband-Mehrspurverfahren, das – wie Rick Altman gezeigt hat – zu einer leitenden Metapher des Films wird, und am Problem des Sich-Gehör-Verschaffens deutlich. Zwischen subjektiven, affektiven Sounds und öffentlichen, kakophonischen Auseinandersetzungen, harmonischer Komposition und einbrechendem Noise zeichnet sich dabei ein Milieu des Tonbandgeräts um 1974 ab. Holger Schulze: Das Genre der Soundscape. Eine Kritik und Verteidigung der Soundscape im 21. Jahrhundert Dieser Beitrag erkundet das Genre der Soundscape und beschäftigt sich mit Aspekten des Urbanismus und der Architekturtheorie anhand von vier Fragestellungen: Wodurch ist das Genre der Soundscape kompositionsbestimmend? Inwiefern sind die Soundscape Studies ein Beispiel für künstlerischwissenschaftliche Forschung? Wodurch ist eine zu beobachtende Konjunktur des Begriffes der Soundscape begründet? Worin besteht das Potenzial für Soundscapes im 21. Jahrhundert insbesondere in Bezug zu Architektur und Urbanismus? Der Artikel entwirft darin Perspektiven auf das gesamte Forschungsfeld der Sound Studies mit abschließenden Hinweisen auf die Forschungsrichtung der Aural Architecture. Michael Fowler: Towards an Urban Soundscaping Der sich wandelnde Charakter urbaner Räume wird immer stärker von Technologien, die Sound und Bilder übertragen, bestimmt. Es sind insbesondere die akustischen Bedingungen, welche zeitgenössische Entwürfe und deren Theorien formen. Der Fokus der Architektur verschiebt sich von
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den visuellen Darstellungsmethoden hin zu Theorien über den akustischen Raum, zu deren bekanntesten R. Murray Schafers Konzept der Soundscapes gehört. Auch wenn es philosophische Widerlegungen zu Schafers Theorie der akustischen Ökologie und der Disziplin der Soundscape-Studien gibt, hat das gegenwärtige Interesse am räumlichen Entwurf und der angewandten Akustik zur Zunahme urbaner Gestaltungsstrukturen geführt. Diesen Ansätzen, die Sound und Soundscapes als innovative Entwurfsparameter einsetzten, geht dieser Beitrag nach. Maria Imhof: Der Blick aus dem Seitenfenster. Nicht-Orte und Begegnungen in Historias mínimas und Un mundo menos peor Historias minimas (2002) ist ein Film, der in Patagonien gedreht wurde und in einer Gegend Argentiniens spielt, in der es nicht viel gibt – außer einigen Dörfern, deren Bewohner bisweilen immer noch ohne Strom und Telefon leben, und Straßen. Es ist schwer, sagt der Regisseur Carlos Sorín, in Patagonien einen Film zu drehen, ohne dass ein Roadmovie daraus wird. Bewegung, in Patagonien topografisch bedingt, ist nicht nur typisch für das Genre Roadmovie, sondern auch ein konstitutives Element der Raumproduktion, da Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen (Michel de Certeau). Der Raum als ein dynamisches Ensemble wird durch die Bewegung des Menschen in ihm konstituiert, von Ereignissen, Begegnungen, Zufälligkeiten geformt, die Figuren schreiben sich und ihre Geschichten dem glatten Raum (Deleuze/Guattari) quasi ein. An die Straße lagern sich häufig NichtOrte (Marc Augé) an, gesichtslose, funktionale Durchgangsräume, überstrukturiert durch die Moderne, die nicht zum Verweilen gedacht sind. Das Besondere an Historias mínimas ist, dass all diese Nicht-Orte von sehr freundlichen und hilfsbereiten Menschen als quasi an den Straßenrand ausgelagerte Wohnzimmer genutzt werden; hier werden Gespräche über die Liebe geführt und kitschige telenovelas gemeinsam angesehen. Die Leere der Landschaft um einige Häuser, die mitnichten als festes Gefüge oder gar Dorf erscheinen, bildet den Ausgangspunkt des Films und einer Bewegung der Figuren in Richtung der Stadt San Julián, die im Film gesichtslos bleibt, da die Figuren sie nicht wirklich betreten, sondern quasi auf der Straße hängen bleiben.
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Carlotta Darò: Networking the Landscape. E-Utopian Visions for the Twentieth Century Der Beitrag untersucht die Bedeutung von Technologien der Telekommunikation – Telegraf, Telefon und Radio – für Architekturdiskurse der Moderne und stellt ihre Relevanz für die Funktionsweisen von Infrastrukturen, die sich wiederum in den (utopian/eutopian) Visionen von Städten der Zukunft widerspiegeln, dar. Drei Positionen werden fokussiert: jene von Lewis Mumford, Frank Lloyd Wright und Le Corbusier – und an ihren Projekten erläutert, wie sie ihre Forderung nach besseren Lebensbedingungen mit den technologischen Bedingungen verknüpften. Mit diesen drei repräsentativen Positionen soll es auch möglich werden, die Spannungen zwischen der amerikanischen und europäischen Avantgarde und ihren Traditionen darzustellen: Mumford und Wright übertrugen regionale Prinzipien auf einen territorialen Maßstab, um individuelle Ansätze zu ermöglichen; im Gegensatz dazu steht das verdichtete technokratische Modell, welches Le Corbusier entwickelte. Alena J. Williams: Excursions in the Landscape. Nancy Holt’s Audiovisual Experiments circa 1970 Die Arbeiten der US amerikanischen Künstlerin Nancy Holt können zu jenem Moment der späten 1960er Jahren zurückverfolgt werden, als sich Künstler der amerikanischen Landschaft zuwandten, um großmaßstäbliche Projekte im Außenraum zu entwickeln. Holts Skulpturen, die außerhalb der Yorker Galerien entstanden, stehen im Kontext der Land Art Bewegung, die Phänomene der Landschaft sicht- und erfahrbar machte. Der Text untersucht die Bedeutung des Begriffs audio-visuell, welchen Holt in ihren Arbeiten der 1970er Jahre für das Synchronisieren von Bewegtbild und Soundaufnahme verwendete. Ihre Gedichte, Audio- und Videoarbeiten mündeten in einer Verflechtung von Kunst, Architektur und Zeit-basierten Medien. Zentral für die Untersuchung ist eine Betrachtung von Holts Auseinandersetzung mit Strategien der Konzept-Kunst, die in ihren Arbeiten durch verwendete Echt-Zeit Aktionen, aufgenommene Statements, Archivfotos und Textfragmente dazu führt, die Materialität des Kunstwerks und den Status des Autors in Frage zu stellen.
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David Sittler: Straßen-Bilder-Verkehr. Der Film Night on Earth als filmische Theorie der Wahrnehmung auf der urbanen Straße Der Film Night on Earth von Jim Jarmusch (1991) kann als analytische Darstellung urbaner Wahrnehmung verstanden werden. Sie geht von den Straßen aus, auf welche die Figuren des Films ihre Blicke richten. Die im Film thematisierten Taxifahrten verdeutlichen, dass die gezeigten Schauplätze sich wie die Filmbilder nicht zufällig aneinanderreihen. Sie richten sich auch nicht nach einer einzigen Erzählung, sondern folgen kontingent durch die Infrastruktur vorgegeben als Straßen-Bilder aufeinander. Der Film Night on Earth präsentiert die Straßenzüge ebenso wie die gezeigten Personen als Bildträger. Die Protagonisten sind Bildelemente und zugleich Bildrezeptoren dieser Straßen-Bilder. Das Taxi als Rezeptionsort letzterer wird zum Sinnbild des Kinos. Die Protagonisten werden zugleich beobachtbar, wie sie zu dem Vorrat an Straßen-Bildern beitragen. Als StraßenBilder-Verkehr versteht der Beitrag die wechselseitig ablaufenden Ein-, Aus- und Überblendungen sowie die Praktiken der Synchronisierung verschiedener Wahrnehmungssphären und -ströme der Verkehrsteilnehmer. Marius Böttcher: Zur Montage urbaner Imaginationen. Von der Baustelle im Film und dem Traume der Stadt in Gueríns En Construcción Die Baustelle schreibt Transformationen vor, die das Entstehen und Zerfallen der Dinge als eine Produktion des Urbanen beobachtbar werden lassen. Als Ort und Stelle sich überkreuzender Raum- und Zeitschichten zeigt José Luis Guerín in En Construcción (2001) die Demontage eines Arbeiterviertels in Barcelona und den Neubau eines Apartmentkomplexes als Mechanismen des Verschwindens und knüpft sie dabei an Verdrängungsarbeiten und Verschiebungen. Dabei wird aber nicht nur eine Neuorientierung von Innen und Außen, von Sichtbarkeit und Abwesenheit vorgeführt, sondern eine andere Wahrnehmung eröffnet. Die Bruchstellenarbeit, der hier nachgegangen werden soll, befindet sich auf der Spurenlese zwischen Sprengungen, Mauerfragmenten und Schutthaufen. Es sind diese Architekturreste, die sich im Bild als ein Nebeneinander ausbreiten und übereinander schichten, sodass an den Rändern betonierter Baustrukturen, zwischen Neubauten und ruinenhaften Altbaubeständen, es gerade diese amorphen Überlappungen und Lücken sind, die einen anderen Blick auf die Baustelle
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werfen wollen und sie damit als Traummaschine des Urbanen im regen Bildwerdungsdrang herausarbeiten. Nathalie Bredella: Mobilität des Urbanen. Reyner Banham Loves Los Angeles. 1972 drehte Julian Cooper den Film Reyner Banham Loves Los Angeles, in dem er den Architekturhistoriker Reyner Banham in einem gemieteten Auto der Firma Baede-kar – von einer Audio–tour geleitet – während seiner Fahrt durch Los Angeles zeigt. Banham fährt zu jenen Orten, welche von der Audio-Tour erschlossen werden. Sie werden mit Karten, historischen Fotografien und Ausschnitten aus Hollywoodfilmen montiert. Die dem Film zugrunde liegende Frage, wie man sich der Historiografie der Metropole und ihren Darstellungen nähern kann, führt zu einer Collage, die Raumdarstellungen in ein Wechsel- und Spannungsverhältnis zueinander treten lässt. Der Film begründet – so die These – einen Diskurs darüber, welche dynamischen Praktiken des Urbanen die Stadtgeschichte von Los Angeles konstituieren. Den Bedeutungen von Fotografie, Hollywoodfilm, Design und Architektur für die Stadtgeschichte, die der Film in ihren spezifischen Wirkungen hervortreten lässt, geht dieser Beitrag nach. Christa Kamleithner: Neue Mischungsverhältnisse. Zum Gebrauch von Infrastrukturen Infrastrukturen verbinden und trennen Orte, sie lenken den Verkehr zwischen ihnen und evozieren eine bestimmte Art des Gebrauchs. Jedoch determinieren sie den Gebrauch nicht. Der Gebrauch selbst und seine sozialen Regelwerke und Protokolle können als eine aktive Kraft angesehen werden, die zur Ausbildung spezifischer Infrastrukturen führt. Dass Straßen etwa, deren Gebrauch im Zentrum des Beitrags steht, als reine Verkehrsräume betrachtet und als solche geplant und gestaltet werden, hat eine lange Vorgeschichte, in der veränderte technische Möglichkeiten, neue ökonomische Erfordernisse, neue Verhaltenskodizes und Vorstellungen von öffentlichem Raum gleichermaßen eine Rolle spielen. Diese Vorstellungen werden heute von einer sich vermehrenden Zahl an Interventionen, die experimentell einen neuen Umgang mit öffentlichen Räumen erproben, in Frage gestellt. Sie schlagen einen neuen Gebrauch von Verkehrsräumen vor, der schnellen Transit und stationäre Gebrauchsweisen verbindet – und damit neue Formen alltäglicher Kommunikation ermöglicht. Der Beitrag beschreibt einige
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dieser Interventionen, bringt sie mit jenen künstlerischen Arbeiten in Verbindung, die seit den 1990er Jahren an der Infrastruktur Museum arbeiten, und setzt sie zu Nicolas Bourriauds „relationaler Ästhetik“ sowie Jacques Rancières Konzept der „Aufteilung des Sinnlichen“ in Bezug. Laura Frahm: Die verborgenen Städte. Entwürfe eines urbanen Gegenkinos in The Exiles The Exiles (USA 1961), der erste Spielfilm von Kent Mackenzie, in dem er sich intensiv mit den Lebensbedingungen der Native Americans in Los Angeles’ Stadtteil Bunker Hill auseinander setzt, markiert den Beginn eines urbanen Gegenkinos, das die städtischen Umbruchprozesse in Los Angeles in den 1950er und 1960er Jahren auf kritische Weise beleuchtet. In einer halb-dokumentarischen Filmsprache verfolgt er das alltägliche Leben der ‚Exiles‘ und liefert somit ein dichtes Porträt einer Jugendkultur an den Rändern der urbanen Gesellschaft. Mein Beitrag konzentriert sich insbesondere auf zwei Hintergrundgeschichten, die auf den stadtgeschichtlichen Kontext und die filmhistorische Dimension dieses Films verweisen. Denn einerseits lässt sich The Exiles als filmische Intervention in die kontroversen Stadtdebatten rund um das ‚Bunker Hill Urban Renewal Project‘ begreifen, indem der Film das innere, pulsierende Leben von Bunker Hill auf vielschichtige Weise einfängt. Andererseits reflektiert er die zahlreichen filmischen Zuschreibungen, die Bunker Hill als Ort der filmischen Imagination seit jeher charakterisieren und denen Mackenzies filmische ‚Entdeckungsarbeit‘ einer marginalisierten Gegenkultur eine bisher unbekannte Facette verleiht. The Exiles bewahrt die verlorenen Orte der Stadt und zeichnet somit eine neue filmische Karte von Los Angeles, in der sich die ‚verborgenen Städte‘ der Stadt- und Filmgeschichte wechselseitig hervorbringen und reflektieren.
Autorinnen und Autoren
Marius Böttcher ist freier Filmwissenschaftler und Filmemacher. Er studierte Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar, war von 20102012 Junior-Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) und promoviert zum Thema Baustellen und Ruinen im DEFA-Film. Das Sterben und Träumen der Dinge. Seine weiteren Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie kinematografischer Objekte und Filmkritik. Nathalie Bredella ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung and der Universität der Künste (UdK) in Berlin. Forschung im Rahmen ihres DFG-Projekts ‚eigene Stelle‘ zum Thema Architektur und neue Medien. Sie studierte Architektur an der Technischen Universität Berlin und an der Cooper Union New York und promovierte in Architekturtheorie mit einer Arbeit über Film und Architektur Architekturen des Zuschauens. Imaginäre und reale Räume im Film. Von 2010–2011 war sie Research Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) an der BauhausUniversität Weimar in der Forschungsgruppe Werkzeuge des Entwerfens. Chris Dähne ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Theorie und Geschichte der modernen Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar (2005–2013), hiernach an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. tätig. Sie studierte Innenarchitektur und Architektur in Darmstadt und Delft (Niederlande) und erhielt einen Master of Science von der Delft University of Technology. Als Architektin arbeitete und lehrte sie in Rotterdam und Delft, seit 2003 ist sie Partnerin im interdisziplinären Architekturbüro ab.rm in Darmstadt. Sie war Stipendiatin der Thüringer Graduiertenförde-
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rung und promovierte Ende 2010 am Institute of History of Art, Architecture and Urbanism (IHAAU TU Delft), mit einer Arbeit zu den Stadtsinfonien der 1920er Jahre. Architektur zwischen Film, Fotografie und Literatur. Im Sommer 2012 war sie Gastwissenschaftlerin an der Waseda Universität in Tokyo. Carlotta Darò ist Kunsthistorikerin und lehrt an der Ecole Nationale Superieure d’Architecture Paris Malaquais. Sie ist Mitglied des LIAT laboratory und forscht zur Bedeutung von Soundtechnologien und Formen der Telekommunikation für moderne Architekturtheorien und Theorien des Urbanen. 2013 erschien ihr Buch Sound avant-garde in architecture: a journey through architecture, art and music in the twentieth century. 2008 war sie visiting scholar am Canadian Center for Architecture und von 2009–2011 Mellon Postdoctoral Fellow an der McGill University, Montreal. Sie ist als Kuratorin und Architekturkritikerin tätig. Michael Fowler ist Soundscape-Forscher und beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit Räumlichkeiten, in denen sich elektronische Musik, Architektur und Landschaft durchdringen. Er forscht zur Analyse, Komposition und dem Entwurf von Klang-Räumen. In Australien und den USA studierte er Musik und war Konzertpianist und Musiker für elektronische Musik. Nach einem einjährigen Studium japanischer Ästhetik in Japan nahm er eine Post-doc Stelle am Spatial Information Architecture Laboratory (SIAL), der RMIT Universität in Melbourne, Australien an. Er publizierte in einschlägigen Fachzeitschriften zum Thema der Design-Theorie, Architektur, Philosophie, Semiotik und Musik und war Stipendiat der Alexander von Humboldt Gesellschaft. Laura Frahm ist Assistant Professor of Visual and Environmental Studies an der Harvard University. Von 2008–2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar. 2005–2007 war sie Stipendiatin des Transatlantischen Graduiertenkollegs Berlin | New York „Geschichte und Kultur der Metropole im 20. Jahrhundert“ mit Forschungsaufenthalten an der Columbia University und New York University. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Schnittbereich zwischen Film-
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geschichte, Raumtheorie und Stadtforschung. Sie ist die Autorin von Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen. Maria Imhof studierte Italienische, Spanische und Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln und promovierte zur Theatralität und Beschleunigung im romantischen Theater Spaniens. Von Oktober 2010–September 2011 war sie Research Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar. Seit Oktober 2011 ist sie wissenschaftliche Assistentin am Romanischen Seminar der Universität zu Köln. Habilitationsprojekt zum argentinischen Kino: Die Straße und das Nichts. Landschaft und Bewegung im neueren argentinischen Film. Christa Kamleithner studierte Architektur und Philosophie in Wien. Sie war von 2006–2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der UdK Berlin, am Fachbereich Kunst- und Kulturgeschichte im Studiengang Architektur. Dort entstand die gemeinsam mit Susanne Hauser und Roland Meyer herausgegebene Anthologie „Architekturwissen“, die Schlüsseltexte für eine kulturwissenschaftliche Architekturforschung versammelt. Im Sommer 2011 lehrte sie als Gastprofessorin an der AdBK in Nürnberg, von 2007–2013 war sie Lehrbeauftragte am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin. Schwerpunkte ihrer Forschung sind Theorien des sozialen Raumes, medienwissenschaftliche Zugänge zur Architektur sowie Geschichte und Gegenwart der Stadtplanung. Sie arbeitet an einer Dissertation zu den Anfängen der modernen Stadtplanung, die die politischen und wissenshistorischen Voraussetzungen der Disziplin untersucht. Jan Philip Müller schloss sein Studium der Kulturwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Berlin mit einer Arbeit zur Kultur-, Medien- und Wissensgeschichte der Röntgenbilder ab. Er arbeitet an einem Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel Audiovision und Synchronisation. Sehen, Hören und Gleichzeitigkeit im Tonfilm und war 2006–2009 Kollegiat am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien der Universitäten Erfurt, Jena und Weimar, sowie 2010–2012 Junior-Fellow des Programms Theorie und Geschichte kinematographischer Objekte am Internationalen Kolleg für Kul-
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turtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar. Holger Schulze ist Gastprofessor für Sound Studies am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort das DFGProjekt Sound Studies Lab. An der Universität der Künste Berlin ist er Privatdozent für Historische Anthropologie des Klangs und leitet das DFGNetzwerk Sound in Media Culture. Er ist Gastforscher am Nordic Research Network for Sound Studies sowie Herausgeber der Buchreihe Sound Studies im transcript Verlag. Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen in der Kulturgeschichte des Klangs, in der Mediologie auditiver Medien sowie im Klang in der Popkultur. David Sittler schließt zur Zeit an der Universität Erfurt seine Doktorarbeit Die Geschichte der metropolitanen Straße als Massenmedium, Chicago 1870-1930 ab. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit der Straße als politische Arena und Medium der Masse. Von 1998–2006 studierte er Geschichte und Kunstgeschichte in Bonn und Göttingen. Er war Stipendiat im Graduiertenkolleg Mediale Historiographien – media of history – history of media der Universitäten Erfurt, Jena und Weimar. Alena J. Williams ist Reserach Fellow am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris, wo sie an der Fertigstellung ihrer Dissertation Movement in Vision. Cinema, Aesthetics, and Modern German Culture, 1915-30 arbeitet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte und Theorie des Films unter Einbeziehung anderer Künste und der Wissenschaftsgeschichte. Sie ist Kuratorin der Ausstellung Nancy Holt: Sightlines und Herausgeberin eines die Ausstellung begleitenden Buches, publiziert von der University of California Press (2011). Sie ist Ph.D. Kandidatin des Department of Art History at Columbia University und hat Stipendien der Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Alexander von Humboldt Stiftung erhalten.
Urbane Welten – Texte zur kulturwissenschaftlichen Stadtforschung Laura Frahm Jenseits des Raums Zur filmischen Topologie des Urbanen 2010, 428 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1121-2
Achim Hölter, Volker Pantenburg, Susanne Stemmler (Hg.) Metropolen im Maßstab Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst 2009, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-905-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)
Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013
Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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