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German Pages 300 Year 2014
Adrian Itschert Jenseits des Leistungsprinzips
Gesellschaft der Unterschiede | Band 10
Adrian Itschert (Dr. phil.) lehrt Soziologie an der Universität Luzern. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie und politische Soziologie.
Adrian Itschert
Jenseits des Leistungsprinzips Soziale Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft
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Inhalt
Dank | 7 Einleitung | 9
Positionen und Individuen | 9 Plan des Buches | 23 Das Meritokratiemodell und die Ungleichheitssoziologie | 27
Das Meritokratiemodell | 27 Die Mehrdimensionalität der Rationalitätsfrage | 32 Die verschiedenen Strömungen des Meritokratiemodells | 35 Mobilitätsanalyse und Meritokratie | 40 Die Nähe der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse zum Meritokratiemodell | 44 Das Meritokratiemodell als ambivalente Semantikstruktur zwischen Moderne und Alteuropa | 61
Semantikanalyse des Meritokratiemodells | 61 Gesellschaftliche Rationalität und funktionale Differenzierung | 67 Schichtung als Ordnungsgarantie und die Entwicklung der Ungleichheitssoziologie | 74 Die Unterscheidung der Mikro-, der Meso- und der Makrobene in der Soziologie | 79 Zusammenfassung | 89 Zum Verhältnis von Schichtung und Differenzierung | 90 Theorien, die von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen | 94 Theorien, die von einem Primat von Schichtung ausgehen | 99 Theorien, die auf Primatannahmen verzichten | 100 Die klassische Mobilitätsanalyse | 103
Die revidierte Humankapitaltheorie | 106 John Goldthorpe | 122 Goldthorpes Schichtungstheorie | 128 Peter Saunders „Unequal But Fair“ und die Folgen | 138
Michael Hartmann | 143 Zusammenfassung | 150 Randall Collins | 153
Das radikal konflikttheoretische Modell des Statuszuweisungsprozesses | 153 Sozialtheoretische Komplikationen | 161 Pierre Bourdieu | 169
Die Sozialtheorie Bourdieus | 169 Bourdieu und das Verhältnis von Schichtung und Differenzierung | 182 Bourdieus Modell des Statuszuweisungsprozesses | 193 Kritische Diskussion | 211 Niklas Luhmann: die radikal differenzierungstheoretische Perspektive des Statuszuweisungsprozesses | 219
Sozialtheorie | 219 Schichtung und Differenzierung | 227 Luhmanns Theorie des Statuszuweisungsprozesses | 237 Luhmanns Karrierebegriff als Brückenkonzept | 239 Die systemtheoretische Kritik am Meritokratiemodell | 243 Das systemtheoretische Modell der Reproduktion sozialer Klassen | 260 Zusammenfassung | 268 Zusammenfassung und Ausblick | 271
Das Verhältnis der Positionsstrukturen und der Mobilitätsstrukturen | 274 Die Mehrdimensionalität der Rationalitätsfrage | 280 Literatur | 285
Dank
Ich danke Prof. Dr. André Kieserling für viele wichtige Anregungen. Ebenso möchte ich mich bei den Kollegen am soziologischen Seminar für viel Unterstützung bedanken. Il-Tschung Lim, Martin Petzke und Luka Tratschin danke ich für das Korrekturlesen und viele anregende Diskussionen. Daniela, Fathima und Ismael danke ich für viel Geduld und emotionale Unterstützung.
Einleitung
P OSITIONEN
UND I NDIVIDUEN „Der Grund dieser Empfindung dürfte der sein, dass solche Kollektivgebilde freilich ihrem einzelnen Teilhaber gegenüber eine relative Ewigkeit besitzen, dass sie gegen seine Besonderheit gleichgültig sind und sein Kommen und Gehen überleben (worüber nachher zu sprechen ist). Dadurch rücken sie in die Kategorie des Gesetzes, das unabhängig von seinen einzelnen Verwirklichungen gilt, der Form, deren ideelle Bedeutung von aller Mannigfaltigkeit ihrer materiellen Erfüllung unberührt bleibt. Allein diese Verwandtschaft mit dem überhaupt Zeitlosen gewinnen diese Gebilde so nur vom Standpunkt des Individuums aus, dessen fluktuierendem und vergänglichem Dasein sie als Beharrendes und immer Überlebendes gegenüberstehen.“ GEORG SIMMEL/SOZIOLOGIE
Das Simmel-Zitat, das diesem Text als Eingangsmotto vorangestellt ist, eignet sich hervorragend, um ein fundamentales Problem jeder Mobilitätsanalyse zu verdeutlichen: Die Diskrepanz zwischen der relativen Permanenz von sozialen Einheiten wie den Schichtungsstrukturen, den gesellschaftlichen Funktionssystemen oder den formalen Organisationen und der naturgegeben Kürze des individuellen Lebens. Ständig werden Individuen in die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft hineingeboren und andere scheiden mit ihrem Tod aus ihr aus, aber die Schichtungsstrukturen der Gesellschaft bleiben davon relativ
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unberührt. Dasselbe gilt ebenso für die funktionssystemspezifischen Leistungsrollen und die Stellenordnungen in den Arbeitsorganisationen. Wie Simmel richtig beschreibt, handelt es sich dabei ohne Zweifel auch um eine perspektivische Illusion der Individuen. Denn einerseits steht die Existenz dieser sozialen Einheiten ebenso in jedem Moment auf dem Spiel wie das organische Leben der Individuen. Ständig müssen Arbeitsorganisationen Insolvenz anmelden und auch die Teilsysteme der Gesellschaft wie die Wirtschaft, die Politik, das Recht oder die Religion müssen die Anschlussfähigkeit ihrer Kommunikationen in jedem Moment erneut realisieren oder sie verschwinden. Andererseits unterliegen diese sozialen Einheiten im Verlauf längerer Zeitperioden einem ständigen Wandel. Weder erklärt sich die Reproduktion der Makrostrukturen von selbst, noch darf die Konstanz dieser Strukturen überschätzt werden. Dennoch wird aus dieser Perspektive ein fundamentales Problem dieser sozialen Einheiten sichtbar. Denn auch für die Gesellschaft als Ganze stellt die Diskrepanz der unterschiedlichen „Lebenserwartungen“ großer sozialer Einheiten und individueller Persönlichkeiten eine nicht leicht zu bewältigende Diskontinuität dar. Nicht alle historischen Gesellschaften waren beispielsweise in der Lage zwischen Person und Rolle zu unterscheiden, d.h. rollenspezifische Erwartungen konstant zu halten, obwohl sie von unterschiedlichen Trägern ausgefüllt wurden. Besonders deutlich wird die Riskanz dieses sozialen Arrangements, wo die soziale Einheit durch ein bestimmtes Individuum verkörpert wird wie in der Figur des Königs oder des Fürsten. So hat das Mittelalter die Zweikörperlehre entwickelt, um dieser Gefahr zu entgehen. „Den Gesamtgefahren der Personalität, insbesondere denen der möglichen Intervalle zwischen den Persönlichkeiten sucht man in den politischen Gruppen durch den Grundsatz zu begegnen, dass der König nicht stirbt. Während im frühen Mittelalter die Tradition galt, daß, wenn der König stirbt, sein Friede mit ihm stirbt, ist in jenem Prinzip die Selbsterhaltung der Gruppe gleichsam verkörpert.“ (Simmel 1992: 571)
Auch ganze Gesellschaften müssen lernen, ihre eigene Permanenz im Angesicht der natürlichen Fluktuation der an ihnen partizipierenden Individuen fassbar zu machen. Dieses Problem kann in vielen Regionen der Welt bis heute nicht als vollständig gelöst angesehen werden. Viele Staaten der modernen Welt sind beispielsweise bis heute nicht in der Lage, die friedliche demokratische Machtübergabe in den politischen Führungspositionen zu gewährleisten. Dort wird das politische Spitzenpersonal noch oft durch Putsch aus dem Amt entfernt. Gerade in den ethnisch gespaltenen Staaten muss die Bevölkerung, die den bisherigen Füh-
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rer unterstützt hat, oft mit Diskriminierungen oder gezielten Racheakten seitens der neuen Machthaber rechnen (Horowitz 2000: 331ff.). Dennoch fällt heute viel eher die Austauschbarkeit der Individuen ins Auge. Die Wirtschaftsunternehmen sind ständig auf der Suche nach Technologien, durch die sich Personal einsparen lässt, weil das Personal in gewisser Hinsicht nur noch ein Kostenfaktor unter anderen ist. Glücklicherweise erzeugt der Austausch des Personals aber auch Kosten, so dass die Wirtschaftsunternehmen wenigstens Teile der Belegschaft immer noch dauerhaft an sich zu binden versuchen (Williamson 1985: 242ff.). Doch selbst das Führungspersonal lässt sich meist problemlos austauschen, ohne dass die Routinen des Wirtschaftsunternehmens deshalb unterbrochen werden müssten. So gehen viele Wirtschaftsunternehmen so weit, bei Glaubwürdigkeitskrisen das eigene Führungspersonal als Sündenbock zu behandeln, durch dessen Entlassung man das Ansehen des Unternehmens zu verbessern versucht. Die moderne Gesellschaft hat neben den politischen Wahlen (Luhmann 1983: 155ff.), den Kommissionen zur Besetzung von Professuren (Kühl 2007) oder dem Casting in den Massenmedien eine Vielzahl von Institutionen entwickelt, durch die sich einzelne Individuen austauschen lassen, ohne dass dadurch die Kontinuität dieser sozialen Einheiten in Frage gestellt würde. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass im Laufe der soziokulturellen Evolution Kommunikationsmedien wie Schrift, Buchdruck oder Telekommunikation entstanden sind, durch die sich die zentralen gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen wie die Ämterstrukturen der Teilsysteme oder deren spezifische Entscheidungsprogramme wie Gesetze, politische Programme, wissenschaftliche Theorien und Methoden oder Regelstrukturen des modernen Sports auch unabhängig vom individuellen Gedächtnis aufrechterhalten lassen (Luhmann 1997: 202ff.). Während die vormodernen Gesellschaften eher mit dem Problem zu kämpfen hatten, wie sie ihre zentralen Strukturen angesichts der beständigen Fluktuation der Individuen aufrechterhalten können, gewinnt in der modernen Gesellschaft ein anderes Problem an Bedeutung: Wie verteilt man die Individuen auf die Positionsstruktur der Gesellschaft? In der vormodernen Gesellschaft wurde eher das Vakuum zwischen den aufeinanderfolgenden Individuen zum Problem, wie die zahllosen Erbfolgekriege im feudalen Europa belegen (Tilly 1993: 80). Die Erblichkeit der meisten Ämter kann auch als Mechanismus verstanden werden, durch den eine automatische Sukzession des Nachfolgers sichergestellt oder wenigstens der Kreis der Konkurrenten um ein Amt eingeengt werden sollte. Starb aber der designierte Nachfolger, bevor er das Amt antreten konnte, brachen oft heftige Kämpfe aus. In der modernen Gesellschaft durchlaufen die Individuen hingegen komplexe Erziehungs-, Sozialisations- und Selektionsprozesse, die da-
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zu führen, dass sie erst relativ spät im Leben eine dauerhafte Position erreichen (Luhmann 1985: 147). So einfach es geworden ist, Individuen in bestimmten Ämtern auszutauschen, so aufwendig fällt der Prozess aus, durch den bestimmt wird, wer welche Position übernimmt. Gesellschaftstheoretisch lassen sich zwei Veränderungen im Laufe der soziokulturellen Evolution für diese Tendenz verantwortlich machen. Im Übergang von den segmentierten zu den stratifizierten Gesellschaften kommt es zu einer dramatischen Zunahme sozialer Ungleichheit, die auch im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr abgebaut wird (Lenski 1966). Schichtung als mehrdimensionale konsistente Verteilungsstruktur sozial hoch bewerteter Güter wie Einkommen, Bildung oder Personalmacht führt zur Differenzierung mehr oder weniger privilegierter Schichtpositionen (Kreckel 1997: 75ff.). Die Verteilung der Individuen auf die Schichtpositionen wirft aber ganz neue gesellschaftliche Legitimationsprobleme auf (Luhmann 1997: 689ff.). Der Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft wiederum lässt sich unter anderem an einem Prozess der Rollendifferenzierung beobachten, der differenzierungstheoretisch auch als Zunahme gesellschaftlicher Arbeitsteilung beschrieben worden ist (Durkheim 1977: 314ff.). Die Ausdifferenzierung in spezialisierte Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht oder Massenmedien, die spezifische gesellschaftliche Bezugsprobleme bearbeiten, treibt dabei die Anforderungen an die Träger der funktionssystemspezifischen Leistungsrollen hoch. Einerseits führt dies dazu, dass die Figur des Weisen verschwindet, der das gesellschaftliche Wissen seiner Zeit noch in einer Person verkörpern konnte (Hahn 2000: 346). Man kann heute nur Experte in einem Feld sein, in den anderen gesellschaftlichen Feldern wird man immer Laie bleiben, denn die Übernahme der Leistungsrollen setzt neben der Kenntnis einer Vielzahl teilsystemspezifischer Entscheidungsprogramme das Vertrautsein mit den teilsystemspezifischen Konfliktlinien und Entwicklungstendenzen voraus (Bourdieu 1997: 194ff.). Die Teilsysteme entwickeln immer spezialisiertere Anforderungsprofile an die Rollenträger. Dabei geht es nicht nur um leicht erlernbare Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auch um tieferliegende Persönlichkeitsstrukturen1. Die Teilsysteme werden zunehmend selektiver in der Auswahl geeigneter Individuen. Die Funk-
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Bourdieu denkt hier beispielsweise an das Gespür für das Timing von Karrieren, an die Akzeptanz der feldspezifischen Verteilungsregeln, an den Glauben an die Doxa des Feldes. Er geht davon aus, dass die Individuen im Laufe ihrer feldspezifischen Karriere einen feldspezifischen Habitus entwickeln, der ihre Wahrnehmung und Kategorisierung der Welt steuert (Bourdieu/Wacquant 1996: 127ff.).
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tionssysteme müssen eigene Karrierestrukturen entwickeln, in deren Verlauf sich die Individuen nach und nach mit den Anforderungen in diesen spezifischen Kontexten vertraut machen. Neben der Komplexität steigt aber auch die Kontingenz des Statuszuweisungsprozesses. An erster Stelle ist hier die Umstellung von Askription auf Leistung zu nennen (Parsons 1964: 196, Luhmann 1997: 692). In den stratifizierten Gesellschaften wurden die Individuen aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit einer bestimmten Schicht zugeordnet. Dasselbe galt für die Berufswahl und die Wahl des Heiratspartners. In diesen Gesellschaften wurde der Statuszuweisungsprozess von den adligen Haushalten dominiert (Luhmann 1997: 697). In diesen Haushalten haben Individuen verschiedener Schichten zusammengelebt. Neben der Familie des Adligen waren dies nichtadlige Individuen, die aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit dem Haus zugeordnet gewesen sind. Die adligen Haushalte waren zudem multifunktionale Einheiten der wirtschaftlichen Produktion, der politischen Herrschaft und der Rechtsprechung. Der männliche Haushaltsvorstand hatte deshalb auch die zentralen gesellschaftlichen Führungsrollen in einer Person inne. Das Heranwachsen im Haushalt hat den Nachwuchs des Adels aus diesem Grund auch wirkungsvoll für alle gesellschaftlichen Führungspositionen sozialisiert. Im Laufe der Zeit sind dann neben den Adelshäusern die Ämterstrukturen des Staates und der Kirche entstanden (Schwinn 2001: 259). Hier entwickeln sich die ersten Karrierestrukturen, die sich von den adligen Haushalten emanzipieren konnten2. Doch noch bis weit ins neunzehnte und teilweise bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein blieben die Führungspositionen in der Politik und der Kirche für den Adel reserviert (Kaelble 1978). Im Übergang zur modernen Gesellschaft verliert der adlige Haushalt seine Monopolstellung im Statuszuweisungsprozess. Je weiter die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme fortschreitet, je mehr verliert der adlige Haushalt viele seiner früheren Funktionen. Im Absolutismus haben die Haushalte ihre militärische Funktion eingebüßt. Den Staaten ist es nun gelungen auf ihren Territorien genug Steuern einzunehmen, um große Söldner- oder Berufsheere zu schaffen
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Hier sind die Institutionen des Zölibats und das Verbot der Simonie hervorzuheben. Das Zölibat verhindert dass die Geistlichen ihre Ämter an ihre Kinder vererben können, da sie keine erbberechtigten Kinder haben können und das Verbot der Simonie verhindert, dass die Könige geistliche Ämter vergeben können (Simmel 1992: 584). Im absolutistischen Frankreich entsteht der Adel der Robe, der seine Zugehörigkeit zum Adel, seiner Position in den entstehenden staatlichen Verwaltungen verdankt und nicht umgekehrt das Amt seiner adligen Geburt.
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(Elias 1983: 229ff.). Im Laufe der Industrialisierung verlieren die adligen Häuser zudem immer mehr ihre wirtschaftliche Produktionsfunktion3. Da mehr und mehr Funktionen in ausdifferenzierte Funktionssysteme ausgegliedert werden und diese kontinuierlich an Komplexität gewinnen, verlieren die adligen Häuser auch ihre Sozialisations- und Erziehungsfunktion. Stattdessen kommt die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems in Gang. Dabei liegt die Funktion der entstehenden Schulen und Universitäten noch einige Zeit vor allem in der Adelserziehung (Stichweh 1991: 51). Wie im Fall der Politik und der Religion hält sich noch recht lang eine privilegierte Beziehung zur Oberschicht. So bildet das Erziehungssystem bald interne Subsysteme wie das Gymnasium und die Volksschule aus. Das Gymnasium betrachtete sich dabei selbst noch lange als Schule der bürgerlichen Oberschichten und die Volksschule war noch lange Zeit genau das: eine Schule für das normale Volk (Schelsky 1965: 133). Erst allmählich geht das Erziehungssystem dazu über, die Individuen stärker aufgrund ihrer schulischen Leistungen auf die verschiedenen Zweige der Sekundarstufe zu verteilen. Die Kontingenz des Statuszuweisungsprozesses nimmt einerseits zu, weil die Individuen von den askriptiven Bindungen bei der Berufs- und Ausbildungswahl befreit werden und andererseits, weil die am Statuszuweisungsprozess beteiligten sozialen Einheiten eigene Programme der Personalselektion ausbilden (Luhmann 2000: 103ff.). Der Statuszuweisungsprozess kommt nun als Relationierung der Selbstselektion der Individuen und der Fremdselektion durch das Erziehungssystem und die Arbeitsorganisationen zustande. Die Schulkarrieren gewinnen an Kontingenz durch die Ausdifferenzierung interner Subsysteme, auf die die Schüler dann aufgrund pädagogischer Selektionen verteilt werden müssen (Luhmann/Schorr 1988: 258ff.). Doch dieser Prozess setzt sich in den Arbeitsorganisationen fort. Die Arbeitsorganisationen weisen in vielen Feldern ein erstaunliches Größenwachstum auf. Sie bauen ihre zentralen Rangstrukturen aus und ergänzen ihre Stellenordnung um viele Stabsstellen. Die Wirtschaftsunternehmen fusionieren zunächst mit Organisationen aus derselben Branche und dann sogar mit Organisationen aus anderen Wirtschaftsbranchen (Pfeffer/Salancik 2006. 114ff., Fligstein 1993: 259). Damit nehmen aber die Möglichkeiten zu, die Mitglieder im Laufe ihrer Karriere zwischen den verschiedenen Stellen zu bewegen. Sie können aufsteigen, absteigen oder stagnieren (Strauss 1971: 163ff.). Sie können im Verhältnis zu anderen Mitglieder eher
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In einigen Wirtschaftsbranchen hat sich aber zumindest das Familienunternehmen noch gehalten wie in der Gastronomie.
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langsamer oder eher schneller aufsteigen. Und sie können laterale und vertikale Bewegungen in der Organisation miteinander verbinden. Mit der Zahl der Karriereoptionen nimmt der Entscheidungsdruck ebenso zu wie die Möglichkeit, Fehler zu machen. Auch die ungleichheitssoziologische Lebenslaufforschung scheint die These der historisch anwachsenden Kontingenz und Komplexität der Berufsbiographien zu stützen. Die ungleichheitssoziologische Lebenslaufforschung wählt dabei eine andere historische Periodisierung als die Differenzierungstheorie. Sie beginnt mit der vormodernen Agrargesellschaft, die dann von der frühindustriellen Gesellschaft abgelöst worden sei, die ihrerseits von einem fordistischen Arbeitsregime überformt worden sei, das schließlich in der Gegenwart in ein postfordistisches Arbeitsregime übergegangen sei. Auch in dieser Forschungstradition geht man davon aus, dass die Familie den Statuszuweisungsprozess in der vormodernen Gesellschaft dominiert hat und ebenso wird auf das Fehlen getrennter Ausbildungsphasen außerhalb der Familie hingewiesen. Die hohe Abhängigkeit von einer als unkontrollierbar erlebten Natur habe gerade in der Unterschicht eine psychische Disposition zum Fatalismus und zur Religiosität geprägt (Mayer 2004: 170). Die frühindustrielle Lebensphase zeichne sich immer noch durch große Armut innerhalb der Arbeiterklasse aus, die nur während relativ kurzer Lebensphasen durchbrochen worden sei. Zwar sei in dieser Phase die schulische Ausbildung für die Individuen aller Klassen obligatorisch geworden, doch gerade in der Arbeiterklasse sei diese Ausbildungsphase sehr kurz ausgefallen. Die fordistische Phase hingegen zeichne sich durch klar getrennte Lebensphasen aus, die auf die Erwerbsarbeit hin zentriert worden seien: Schule, Berufsausbildung, Erwerbsphase und Rente. Diese historische Phase sei durch langfristige Arbeitsverträge, seltene Wechsel des Arbeitgebers und ein langes Arbeitsleben geprägt gewesen. Die in dieser Phase etablierten Sozialversicherungen hätten die Individuen vor unvorhersehbaren Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit geschützt (Kohli 2002). Selbst die Familien aus der Arbeiterklasse seien oft in der Lage gewesen, Wohneigentum zu erwerben. Der von Generation zu Generation steigende Wohlstand habe sich in zunehmender Bildungspartizipation und sozialem Aufstieg niedergeschlagen. Die postfordistische Phase zeichne sich hingegen durch eine hohe Entstandardisierung des Lebenslaufs aus. Einzelne Lebensphasen wie die Ausbildungsphase würden einerseits verlängert, andererseits nehme die Varianz des Alters beim Berufseinstieg und beim Ende der Erwerbsarbeit zu, und ferner nehme die saubere Trennbarkeit dieser Lebensphasen ebenso ab, wie die strikte Sequentialität der Lebensphasen. Auch wenn die ungleichheitssoziologische Lebenslaufforschung auf einer anderen historischen Periodisierung beruht, kommt sie zum selben Ergebnis: Im
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Laufe der letzten 200 Jahre nimmt die Komplexität des Statuszuweisungsprozesses zu, weil immer mehr Institutionen sich an der Regulierung des Lebenslaufes beteiligen: Familie, Schule, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Wohlfahrtsstaat. In dieser Forschungstradition wird die These vertreten, dass es zunächst zu einer Ausdifferenzierung der verschiedenen Lebensphasen kommt, wobei der Sozialstaat in der fordistischen Phase versucht habe, die Vorhersehbarkeit des individuellen Lebenslaufes auf der einen Seite durch Standardisierung und auf der anderen Seite durch die Einführung von Sozialversicherungen, die gegen unerwartete negative Ereignisse absichern sollen, zu vergrößern. In der postfordistischen Phase würden die individuellen Lebensläufe aufgrund des Abbaus des Sozialstaates, der Inklusion der Frauen in die Erwerbsarbeit und aufgrund der Globalisierungsprozesse in der Wirtschaft entstandardisiert. Dadurch nehme die Unvorhersehbarkeit und Riskanz der Lebensläufe deutlich zu. Auch hier findet man die These der gleichzeitigen Steigerung der Komplexität und Kontingenz des Statuszuweisungsprozesses wieder. Die frühen soziologischen Analysen des Statuszuweisungsprozesses haben sich aber erstaunlich wenig für die Zunahme der Komplexität und Kontingenz des Statuszuweisungsprozesses interessiert. Diese Forschungstradition hat vor allem die These vertreten, dass der Statuszuweisungsprozess im Übergang zur modernen Gesellschaft vor allem an Rationalität dazugewonnen habe (Warner 1959, Kerr et al. 1960, Bell 1973). Während die vormodernen Gesellschaften die Besetzung gesellschaftlicher Führungspositionen dem Zufall der Geburt überlassen hätten, durchliefen die Individuen in der modernen Gesellschaft von der Schule bis zur Pensionierung eine an universalistisch spezifischen Kriterien orientierte Konkurrenz, die dafür sorge, dass die Individuen genau auf die Positionen platziert würden, auf denen sie ihre individuellen Fähigkeiten am besten einsetzen könnten. An diese Rationalitätsannahme wird meist aber auch eine These zur Durchlässigkeit der korrespondierenden Schichtungsstrukturen angeschlossen. Weil die Schulen sich nur noch an der Intelligenz der Kinder und an deren Leistungsbereitschaft orientierten, sei nun die Chancengleichheit in den Schulkarrieren gewährleistet. Die Komplexität der in den Arbeitsorganisationen verwendeten Technologien setze aber voraus, dass die Individuen die dafür benötigten Kompetenzen in ihren Schulkarrieren erlangt hätten. Die Rekrutierungsentscheidungen in den Arbeitsorganisationen orientierten sich deshalb fast ausschließlich an den Bildungszertifikaten. Die Karrieren in den Arbeitsorganisationen spiegelten dann vor allem die Leistungen der Mitglieder wieder. Die moderne Gesellschaft baue alle herkunftsbedingten Mobilitätsbarrieren ab, so dass die Individuen ihre Schichtposition als gerechten Ausdruck ihrer Leistungs-
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fähigkeit zu betrachten hätten. Kurzum: Es handelt sich bei dieser Forschungstradition um das Meritokratiemodell sozialer Ungleichheit. Gerade die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse hat die Herausforderung durch das Meritokratiemodell dankbar angenommen. Man übertreibt nicht, wenn man die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse als empirische Meritokratiekritik bezeichnet. Das Meritokratiemodell konstruiert das Phänomen strukturierter sozialer Ungleichheit als das Ergebnis einer rationalen Belohnungsstruktur, die gesellschaftlich bedeutende Leistungen durch die Verteilung von Einkommen und Prestige belohnt (Davis/Moore 1944). Die gesellschaftlich bedeutendsten Positionen werden danach am höchsten belohnt und der rationale Statuszuweisungsprozess sorgt dafür, dass die Intelligentesten, die Leistungswilligsten und die am besten Ausgebildeten auf diesen Positionen landen. Die Ungleichheitssoziologie bricht mit dieser Vorstellung, indem sie die sozial hoch bewerteten Ressourcen wie das Einkommen, die Bildungszertifikate oder die Personalmacht in Organisationen nicht nur als Belohnungen, sondern auch als überaus potente Waffen in der Konkurrenz um knappe soziale Güter und Aufstiegsmöglichkeiten versteht (Kreckel 1997: 17ff.). Die Gesellschaft muss dann als permanenter Kampf um die Verteilung knapper Ressourcen verstanden werden. Aus mobilitätssoziologischer Perspektive ist dabei von entscheidender Bedeutung, dass diese Ressource nicht nur als Instrumente in den Verteilungskonflikten eingesetzt werden können, sondern gerade den Individuen aus der Oberschicht Mittel an die Hand geben, ihrem Nachwuchs in der Konkurrenz des Statuszuweisungsprozesses deutlich bessere Startbedingungen zu bieten. Diese in der aktuellen Mobilitätsanalyse dominierende Forschungstradition hat eine kaum mehr überschaubare Zahl an vorwiegend empirischen Analysen hervorgebracht, die keinen Zweifel daran lassen, dass die moderne Gesellschaft keine „Leistungsgesellschaft“ ist (Glass 1954, Bourdieu/Passeron 1971, Collins 1979, Goldthorpe et al 1980, Erikson/Goldthorpe 1993, Hartmann 2002, 2007). Eine ganze Reihe von Studien hat gezeigt, dass die moderne Gesellschaft immer noch deutliche Mobilitätsbarrieren aufweist. Andere Studien haben gezeigt, dass die am Statuszuweisungsprozess beteiligten sozialen Einheiten wie die Schulen oder die Arbeitsorganisationen die Individuen je nach Schichtherkunft sehr unterschiedlich behandeln (Bourdieu/Boltanski/Maldidier 1981, Bourdieu 2004 Lareau/Weiniger 2003, Hartmann 2002). Die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse hat dieses Forschungsprogramm auch dann weitergeführt als sich innerhalb der Soziologie keine Vertreter des Meritokratiemodells mehr haben aus-
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findig machen lassen4. Wie die vorliegende Studie aber zeigen wird, hat diese Forschungstradition bis heute nicht konsequent mit dem Meritokratiemodell gebrochen. In vielen Beiträgen finden sich deutliche Hinweise, dass hier nur partiell mit der Annahme der Rationalität des Statuszuweisungsprozesses gebrochen wird. Dies scheint nicht zuletzt daran zu liegen, dass die Ungleichheitssoziologie das Meritokratiemodell zwar als Gegenwartsbeschreibung der modernen Gesellschaft ablehnt, aber nicht als normativen Maßstab, der das Ideal einer gerechten Verteilungsordnung beschreiben soll. Das Meritokratiemodell lässt sich aber nicht nur aus ungleichheitssoziologischer, sondern auch aus differenzierungstheoretischer Perspektive kritisieren. Das Meritokratiemodell beschreibt den Statuszuweisungsprozess mit dem Modell einer lückenlosen Kettenrationalität, bei dem die Selektionen der verschiedenen am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systeme – wie dem Erziehungssystem, dem Wirtschaftssystem, der Politik und den Arbeitsorganisationen – reibungslos ineinandergreifen. Man sieht schnell, dass das Meritokratiemodell aus differenzierungstheoretischer Perspektive nicht weniger befremdlich wirkt als aus ungleichheitstheoretischer Perspektive. Die Theorie funktionaler Differenzierung tendiert immer mehr dazu, den geringen Integrationsgrad der modernen Gesellschaft zu akzentuieren (Weber 1988: 541). In den gesellschaftstheoretischen Beschreibungen kontrastiert dabei die These der Steigerung der Rationalität der differenzierten Teile mit der ebenso klar formulierten Absage an die Rationalität der Gesellschaft als Einheit. So hat Luhmann festgestellt, dass in der Moderne der Rationalitätsbegriff nur noch im Plural verwendet wird. Die moderne Gesellschaft kenne viele verschiedene Rationalitätsbegriffe – individuelle und kollektive Rationalität, Zweckrationalität und Wertrationalität, strategische Rationalität und kommunikative Rationalität – aber sie könne keine Begriff mehr für die Einheit des Rationalen bilden, der in der Lage sei anzugeben, weshalb zum Beispiel Zweckrationalität und Wertrationalität beide rational sein sollen (Luhmann 2008: 196). Dabei lässt sich bereits an einigen wenigen Kombinationen grundlegender mobilitätstheoretischer Begriffe demonstrieren, wie wenig Rationalität vom Statuszuweisungsprozess zu erwarten ist. Das Meritokratiemodell verspricht den perfekten „match“ zwischen den unterschiedlichen Kategorien gesellschaftlicher Positionen einerseits und den sehr heterogenen Populationen von Individuen an-
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In der Soziologie finden sich seit dem Ende der siebziger Jahre kaum mehr klare Vertreter des Meritokratiemodells. Peter Saunders scheint eine einsame Ausnahme zu sein (Saunders 1996).
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dererseits. Die Analyse beginnt mit der Positionsstruktur, um daraus die Regeln der Zuteilung der Individuen abzuleiten, aus denen wiederum Schlussfolgerungen für die tatsächlich beobachtbaren Mobilitätsströme gezogen werden. Dahinter verbirgt sich der Glaube an die Rationalität des Statuszuweisungsprozesses. Die einschlägige Forschung hat jedoch gezeigt, dass man Rationalitätsannahmen dieses Typs ein gesundes Maß an Skepsis entgegenbringen sollte. Unter dem Begriff „adverse selection“ wird beispielsweise in der Wirtschaftswissenschaft das Phänomen nichtintendierter Handlungsfolgen bei der Personalrekrutierung in Wirtschaftsunternehmen diskutiert (Picot et al 1997: 85). Danach besteht immer das Risiko, dass gerade die Programme, die sicherstellen sollen, dass die zu besetzende Stelle mit dem qualifiziertesten Kandidaten besetzt wird, die gewünschten Personen abschrecken. Man sollte jedoch nicht nur die Rationalitätsannahmen im Verhältnis von Positionsstruktur, Zuweisungsregeln und Mobilitätsströmen kritisch hinterfragen, sondern bereits die darin enthaltene Hierarchisierung dieser drei Konzepte problematisieren. So finden sich in der einschlägigen Literatur genügend Beispiele, dass sich die Zuweisungsregeln auch ändern können, wenn die Positionsstruktur dieselbe bleibt. So hat die Bildungsexpansion den Pool der für Führungspositionen formal geeigneten Individuen vergrößert, ohne das die Zahl der entsprechenden Stellen zu diesem Zeitpunkt mitgewachsen wäre (Bourdieu 1988: 232ff.). Anstelle der erwarteten Zunahme der Raten von Aufstiegsmobilität kam es zu einer Entwertung der betroffenen Bildungszertifikate (Bourdieu 1987: 241ff.). Ebenso können aber auch natürliche oder politische Katastrophen die nach den bis dahin geltenden Regeln für eine spezifische Position bestimmte Population von Individuen dezimieren. So wies der erbliche Adel der Feudalzeit in Kriegszeiten höhere Mortalitätsraten auf, so dass nach Kriegsende häufig nichtadlige Individuen im Schnellverfahren nobilitiert werden mussten (Luhmann 1997: 703). Im Zweiten Weltkrieg wurden ganze Alterskohorten dezimiert, so dass die Nachkriegszeit eine Reihe von sonst unwahrscheinlichen Aufstiegskarrieren zu verzeichnen hat. Man kann hier aber auch an die Entwertung individueller Karrieren beim Übergang von Diktaturen zu demokratischen Staaten denken (Deutschland 1949, 1989). John Goldthorpe hat wiederum den Fall beschrieben, dass sich die Mobilitätsraten ändern, wenn sich die Positionsstruktur ändert, ohne dass es zu einer Änderung der Statuszuweisungsregeln gekommen wäre. Im zwanzigsten Jahrhundert nehmen die Raten der Aufstiegsmobilität zu. Die Vertreter des Meritokratiemodell haben diese Daten als Bestätigung gelesen, dass die Schichtpositionen immer mehr aufgrund meritokratischer Zuweisungsregeln vergeben worden seien. Goldthorpe et al. (1980) haben dann gezeigt, dass es tatsächlich nur zu einer Vermehrung der Oberschichtspositionen
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gekommen ist, ohne dass die Individuen aus der Arbeiterklasse, bei den relativen Chancen aufzusteigen, auf die Mitglieder der Oberschicht Boden gut gemacht hätten. In der modernen Gesellschaft beschleunigt sich zudem der Wandel der Makrostrukturen. Das gilt auch für die gesellschaftlichen Positionsstrukturen. Bestimmte Kategorien von Positionen expandieren (beispielsweise die Oberschichtspositionen in der Nachkriegszeit, Goldthorpe et al. 1980), andere schrumpfen (Arbeitsplätze in der Landwirtschaft), einige Positionen verschwinden ganz, andere kommen neu dazu, oder die Positionen verändern ihre wechselseitigen Relationen, weil beispielsweise bestimmte Positionen gegenüber anderen Positionen an Bedeutung verlieren. Diese Veränderungsprozesse werden oft von einer Neujustierung der Zuweisungskriterien begleitet sein. Das heißt aber, dass dieselben Individuen plötzlich an anderen Kriterien gemessen werden (Abbott 2001: 150). Bis dahin getätigte Bildungs- oder Karriereinvestitionen werden entwertet, oder bisher ausgeschlossenen Individuen werden völlig neue Aufstiegschancen eröffnet (beispielsweise den Frauen seit den sechziger Jahren). Die Expansion von Oberschichtspositionen (beispielsweise durch die Zunahme von Managementpositionen in Organisationen), kann schnell dazu führen, dass plötzlich Individuen in diese Positionen aufrücken, die ihrem Alter, ihrer Reputation oder ihren Bildungszertifikaten nach den bisherigen Stelleninhabern unterlegen sind. Sie sehen sich mit dem Makel eines „illegitimen Aufstiegs“ konfrontiert und stehen dann unter besonderem Rechtfertigungsdruck, ihre Befähigung nachzuweisen. In Übereinstimmung mit dem Meritokratiemodell geht aber ein Großteil der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse davon aus, dass die moderne Gesellschaft in der Lage sein sollte, einen rationalen Statuszuweisungsprozess einzurichten, der allen Individuen dieselben Aufstiegs- und Abstiegschancen bietet. Auch wenn Autoren wie Goldthorpe davon ausgehen, dass der Modernisierungsprozess nicht automatisch meritokratische Mobilitätsstrukturen hervorbringt, so gehen sie doch davon aus, dass die moderne Gesellschaft prinzipiell die Bedingungen geschaffen hat, unter denen sich das Meritokratiemodell realisieren ließe, wenn nicht bestimmte partikularistische Kräfte dies verhindern würden, oder dem Staat die Einsicht oder der Wille fehlen würde, die dafür notwendigen politischen Interventionen zu ergreifen. Dieser Zweig der Mobilitätsanalyse versucht seit über dreißig Jahren den archimedischen Punkt ausfindig zu machen, an dem politische Maßnahmen ansetzen müssten, um die moderne Gesellschaft in eine echte Leistungsgesellschaft zu verwandeln (Goldthorpe et al. 1980: 21).
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Auch innerhalb der Ungleichheitssoziologie ist diese Forschungstradition immer wieder in Frage gestellt worden. So hat es immer wieder Soziologen wie Michael Young (1961) oder Reinhard Bendix und Seymour Martin Lipset (1967) gegeben, die die Frage aufgeworfen haben, ob wir wirklich in einer perfekten Meritokratie würden leben wollen. Sozialphilosophen wie John Rawls haben zu zeigen versucht, dass dem Meritokratiemodell eine höchst fehlerhafte Gerechtigkeitstheorie zugrunde liegt (Rawls 1979, Marshall 1997). Diese sehr heterogene Kritik an der klassischen ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse lässt sich nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, aber sie bringt ein deutliches Unbehagen an der großen Nähe der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse zum Meritokratiemodell zum Ausdruck. Es lassen sich aber weitere problematische Konsequenzen dieses Forschungsprogramms ausmachen. Meistens vergleichen die Ungleichheitssoziologen die gemessenen Mobilitätsraten der Individuen mit den Mobilitätsraten, die nach dem Meritokratiemodell zu erwarten wären. Die Abweichung der gemessenen Raten von den nach dem Meritokratiemodell Erwarteten wird dann auf das illegitime Handeln partikularistischer Gruppen oder auf die Effekte purer Verteilungsungleichheiten zugerechnet. Man sieht, hier wird das Meritokratiemodell auch als methodologisches Instrument verwendet, um illegitime soziale Ungleichheiten sichtbar zu machen. Adam Swift hat aber gezeigt wie problematisch es ist, wenn man das Konzept der gemessenen Mobilititätsraten mit dem Konzept der tatsächlichen Mobilitätschancen gleichsetzt, denn manche Menschen steigen beispielsweise nur deshalb nicht auf, weil sie nicht aufsteigen wollen (Swift 2004). Das Forschungsprogramm der klassischen Mobilitätsanalyse drängt außerdem zur scharfen Alternative, die Mobilitätsstrukturen der Gesellschaft entweder auf die rationale Platzierung der Individuen oder auf den punktuellen Eingriff partikularistischer Gruppen zurückzuführen. Dabei hat die Status-Attainment-Forschung seit den Arbeiten von Christopher Jencks gezeigt, dass beispielsweise die Varianz des Berufsstatus und des Einkommens von Brüdern fast so hoch ausfällt wie in der Gesamtbevölkerung. Weder aufgrund der Schulbildung noch aufgrund des schichtspezifischen Familienhintergrunds lässt sich der künftige Schichtstatus eines Individuums zuverlässig vorhersagen. Die Status-Attainment-Forschung macht aber nicht nur den relativ hohen Grad der Unvorhersehbarkeit in den individuellen Karrieren sichtbar, sie hat auch gezeigt, dass die Karrieren der Individuen von den unterschiedlichsten Variablen abhängen, von denen sich viele weder in das Meritokratiemodell einfügen lassen noch zu den einfacheren Modellen der Ungleichheitssoziologie passen (Jencks et al. 1973, 1979, Bowles/ Gintis/Osborne 2001). Es scheint fast so, als ob die klassische ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse sich zu sehr dem Meritokratiemodell angenähert
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hat, indem sie die überzogenen Rationalitätserwartungen an den Statuszuweisungsprozess übernommen, aber die Komplexität und Kontingenz des Statuszuweisungsprozesses unterschätzt hat. Es finden sich aber sowohl konflikttheoretische Modelle in der Ungleichheitssoziologie als auch radikale Versionen der Differenzierungstheorie, die sehr viel konsequenter mit dem Meritokratiemodell gebrochen haben als die klassische Mobilitätsanalyse. Das Meritokratiemodell geht davon aus, dass die Leistungsrollen in den Funktionssystemen und die Stellen in den Arbeitsorganisationen ihrer Bedeutung im jeweiligen System nach hierarchisch angeordnet werden können und das daraus wiederum die Zuweisungsregeln dieser Positionen abgeleitet werden können. Randall Collins hingegen geht davon aus, dass die festen Stellen in den Organisationen ein Weg sind, mit dem die Individuen versuchen, der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu entkommen. Dass die Arbeitsorganisationen komplexe Hierarchien in ihren Stellenordnungen ausbilden und für viele Stellen knappe Bildungszertifikate verlangen, spiegelt für Collins nur den Kampf der Statusgruppen um knappe Ressourcen in den Arbeitsorganisationen wieder (Collins 1975, 1979). An die Stelle des rationalen Statuszuweisungsprozesses tritt hier eine Myriade mikropolitischer Verteilungskonflikte, in denen sich keine Gruppe entscheidend durchsetzen kann und in denen es zu laufend wechselnden Koalitionen unterschiedlicher Statusgruppen kommt. Es findet sich aber auch ein differenzierungstheoretisches Modell, das radikal mit der Idee der einheitlichen Rationalität des Statuszuweisungsprozesses bricht und an deren Stelle die losen Kopplungen autonomer Funktionssysteme setzt (Luhmann/Schorr 1988, Luhmann 2000). Diese beiden Varianten der Mobilitätsanalyse weisen beide sehr viel mehr Sensibilität für die Komplexität und Kontingenz des Statuszuweisungsprozesses in der modernen Gesellschaft auf als das Meritokratiemodell oder die klassische Mobilitätsanalyse. Ich möchte in der folgenden Diskussion zeigen, dass die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse sich bis heute in weiten Teilen nicht vom Meritokratiemodell lösen konnte. Viele ungleichheitssoziologische Modelle des Statuszuweisungsprozesses brechen nur an bestimmen Punkten mit dem Meritokratiemodell. Viele Modelle leiden immer noch an den überzogenen Erwartungen an die Rationalität der sozialen Einheiten, die an der sozialen Platzierung der Individuen beteiligt sind. Sehr oft wird immer noch die Komplexität und Kontingenz dieser Prozesse unterschätzt. Dies ist umso erstaunlicher, als die Ungleichheitssoziologie die Analyse des Statuszuweisungsprozesses bis heute als Kritik des Meritokratiemodells führt. Dies gilt interessanter Weise teilweise noch für die raffiniertesten Analysen wie sie sich beispielsweise in den Werken Pierre Bourdieus finden, der dem Meritokratiemodell noch in seiner radikalen Inversion verhaftet
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bleibt (Elster 1981). Das wirft die Frage auf, worin die Widerständigkeit des Meritokratiemodells liegt, der man nur so schwer beizukommen scheint. Ich werde mich deshalb dem Meritokratiemodell auch aus wissenssoziologischer Perspektive nähern, um herauszufinden, was dieses Modell so schwer angreifbar macht. Dabei möchte ich zeigen, dass das Meritokratiemodell eine eigenwillig ambivalente Semantikstruktur ist, die sowohl aus typisch modernen wie aus klassisch vormodernen Elementen besteht und daraus eine ganz eigentümliche Verführungskraft bezieht. Außerdem werde ich die Diskurse in der Gesellschafts- und Sozialtheorie daraufhin untersuchen, welche Mittel sie zu Verfügung stellen, um mit diesem Modell konsequent zu brechen. Auf dieser theoretisch-begrifflichen Grundlage werden dann die meines Erachtens wichtigsten Beiträge zur Mobilitätsanalyse wie die von John Goldthorpe, Randall Collins, Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann einem Theorievergleich unterzogen, und zwar im Hinblick darauf, inwiefern sie Mittel liefern, die Mobilitätsanalyse aus dieser verfahrenen Situationen zu befreien.
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Ich möchte im Folgenden rekonstruieren, wie es dazu gekommen ist, dass die klassische ungleichheitssoziologische Mobilitätssoziologie sich so sehr auf das Meritokratiemodell fixieren konnte, dass sie die Analyse des Statuszuweisungsprozesses mit der Widerlegung des Meritokratiemodells gleichzusetzen scheint. Dabei werde ich zunächst das Meritokratiemodell detailliert in seinen verschiedenen Strömungen darstellen, da man auf diese Weise leichter nachvollziehen kann, weshalb dieses Modell in der Ungleichheitssoziologie so viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Des Weiteren werde ich darstellen, welche Beschränkungen aus diesem Forschungsprogramm resultieren. Welche Strukturen des Statuszuweisungsprozesses können aus dieser Perspektive sichtbar gemacht und welche Strukturen werden durch diese Theorieausrichtung abgedunkelt? Im zweiten Kapitel werde ich das Meritokratiemodell einer Semantikanalyse unterziehen. Herausgearbeitet wird dabei, dass es sich beim Meritokratiemodell um eine seltsam ambivalente Semantikstruktur handelt, die typisch moderne Elemente mit dem Harmonieversprechen vormoderner Weltbeschreibungen verbindet (Luhmann 1997: 913). Es scheint gerade dieses Amalgam sehr heterogener Semantiken zu sein, das die Attraktivität des Meritokratiemodells ausmacht. Der Fortschritt in der Gesellschaftstheorie, und das gilt für die Schichtungstheorie ebenso wie für die Differenzierungstheorie, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, wie konsequent in diesen beiden Theorietraditionen der Gesellschafts-
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theorie die harmonistischen Gesellschaftsbeschreibungen der Vormoderne dekonstruiert werden. Erst wenn man diesen Schritt nachvollzogen hat, kann man feststellen, wie konsequent die einschlägigen Beiträge zur Mobilitätsanalyse mit den Plausibilitäten des Meritokratiemodells gebrochen haben. Das Meritokratiemodell verwendet aber nicht nur harmonistische und überintegrierte Beschreibungen der funktional differenzierten Institutionenstruktur und der Schichtungsstrukturen, sondern scheint denselben Fehler auch in Bezug auf die Mikro-, Meso- und Makrounterscheidung zu begehen. Deshalb wird auch dieser Diskurs kurz dargestellt. Das Kapitel endet mit dem Theorieproblem, wie man sich das Nebeneinander von Schichtung und funktionaler Differenzierung vorstellen kann. Dieser Diskurs darf in einer Mobilitätsanalyse nicht übergangen werden, da der Statuszuweisungsprozess immer beide Aspekte der modernen Gesellschaft betrifft. Das dritte Kapitel behandelt drei verschiedene Ansätze, die sich der klassischen Mobilitätsanalyse zurechnen lassen. Ich werde mit einer Analyse der Humankapitaltheorie einsteigen, die zu Beginn zentrale Beiträge zum Meritokratiemodell geliefert hat (Schultz 1961, Becker 1975), sich aber in ihrer revidierten Version, wie man sie bei Daniele Checchi (2003) findet, deutlich auf die Ungleichheitssoziologie zubewegt hat. Anschließend werde ich John Goldthorpes Beiträge zur Mobilitätsanalyse darstellen, die erstaunlich große Ähnlichkeit mit der revidierten Humankapitaltheorie aufweisen (Goldthorpe et al. 1980, Erikson/Goldthorpe 1993). Goldthorpe hat ohne Zweifel in mehreren Werken die Mobilitätsanalyse empirisch wie theoretisch revolutioniert. Dennoch fällt auf, dass er lange Zeit nur partiell mit der Logik des Meritokratiemodells bricht. Doch gerade Goldthorpes Spätwerk zeigt, dass er selbst diese Probleme deutlich gesehen hat und wichtige Hinweise zur Überwindung des Meritokratiemodells geliefert hat (Goldthorpe/Breen 2002, Goldthorpe/Jackson/Mills 2005). Während die revidierte Humankapitaltheorie sowie John Goldthorpe die Abweichungen vom Meritokratiemodell vor allem darauf zurückführen, dass die schichtspezifischen Einkommensungleichheiten zu unterschiedlichen Bildungskarrieren führen, sieht Michael Hartmann die entscheidenden Mobilitätsbarrieren vor allem im Zugang zu den Führungspositionen in den Arbeitsorganisationen (Hartmann 1996, 2002). Dieses Kapitel soll zeigen, dass die klassische Ungleichheitssoziologie letztlich an der Komplexität und Kontingenz des Statuszuweisungsprozesses scheitert und sich in immer größere interne Inkonsistenzen verstrickt. Das vierte Kapitel behandelt zwei zentrale Beiträge zu einer radikal konflikttheoretischen Mobilitätsanalyse, die das Meritokratiemodell sehr viel grundlegender in Frage stellen als die zuvor besprochenen Ansätze. Es handelt sich dabei einerseits um die Radikalisierung der konflikttheoretischen Argumentations-
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figur durch Randall Collins und den sehr komplexen und vielschichtigen Ansatz von Pierre Bourdieu. Im fünften Kapitel wird Niklas Luhmanns radikal differenzierungstheoretisches Modell vorgestellt. Luhmann beschreibt die moderne Gesellschaft als lose integrierte Einheit unvereinbarer System/Umwelt-Perspektiven. Da fast alle Funktionsystem und viele Arbeitsorganisationen am Statuszuweisungsprozess beteiligt sind, betont Luhmann gerade die Irrationalität und Unberechenbarkeit dieses Prozesses. Zum Schluss werde ich den Ertrag des Theorievergleichs präsentieren und zeigen, welche Konsequenzen sich daraus für die Mobilitätsanalyse ziehen lassen.
Das Meritokratiemodell und die Ungleichheitssoziologie „Die Zivilisation hängt eben nicht von der Masse ab, vom ,homme moyen sensuel‘, sondern von der schöpferischen Minorität, von dem Erfinder oder Rationalisator, der auf einen Schlag die Arbeit von zehntausend Mann einzusparen versteht, von den wenigen glänzenden Köpfen, die mit jedem Blick zugleich fragen und forschen, von der rastlosen Elite, die die Mutation nicht nur zu einer biologischen, sondern auch zu einer soziologischen Tatsache gemacht hat“. MICHAEL YOUNG/ES LEBE DIE UNGLEICHHEIT
D AS M ERITOKRATIEMODELL Das Meritokratiemodell ist ohne Zweifel eine der erfolgreichsten Semantiken der modernen Gesellschaft. Es gibt kein Funktionssystem, indem es nicht von Zeit zu Zeit als Ideal beschworen oder zur Begründung von Personalentscheidungen herangezogen wird. Das Meritokratiemodell liefert aber auch den Standpunkt aus dem die Praktiken des Statuszuweisungsprozesses sich kritisieren lassen. Man fürchtet Vetternwirtschaft, Seilschaften und Diskriminierung. Es taucht regelmäßig in den Diskursen des Erziehungssystems, der Wissenschaft, des Sports, der Wirtschaft oder der Politik auf. In der Politik wird es von sozialdemokratischen Politikern fast ebenso oft vertreten wie auf der liberalen oder konservativen Seite des politischen Spektrums. Innerhalb der Wissenschaft finden sich in allen wichtigen Disziplinen der Sozialwissenschaft Vertreter des Meritokratiemodells: die Humankapitaltheorie in der Ökonomie, Eysenck, Herrnstein oder
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Murray in der Psychologie, Daniel Bell (Bell 1973), Clark Kerr, John T. Dunlop, Frederick Harbison und Charles Myers (Kerr et al. 1960) in der Soziologie oder C. Lloyd Warner (Warner 1950) in der Anthropologie. Das Meritokratiemodell hat dabei im Verlauf dieser unzähligen kontextspezifischen Aktualisierungen die unterschiedlichsten Modifikationen erfahren und dennoch hat sich ein bestimmter Kern von Annahmen durchtradiert, an dem man Vertreter des Meritokratiemodells leicht identifizieren kann. Es ist wichtig, sich die Widerstandsfähigkeit dieser gesellschaftlichen Semantik vor Augen zu führen, denn das Meritokratiemodell ist auch eine extrem kontrovers kommentierte Semantik, die ebenso oft als Illusion oder als Ideologie bezeichnet wird (Bourdieu 1971, Collins 1979). Ich möchte deshalb zunächst den stabilen Bedeutungskern dieser Semantik herausarbeiten, An welchen Merkmalen erkennt man die Vertreter des Meritokratiemodells? Es lassen sich drei Grundannahmen anführen, die in den meisten Fällen durchgehalten werden. Zunächst ist dies ein deutlicher elitentheoretischer Bias. In den meisten Versionen des Meritokratiemodells hängt das Wohl und Wehe der modernen Gesellschaft davon ab, dass die Elitepositionen in den Funktionssystemen mit den am besten geeigneten Individuen besetzt werden1. Meist wird dies mit einem Modell plausibilisiert, das von der ökonomischen und militärischen Konkurrenz nationalstaatlich verfasster Gesellschaften ausgeht, die vor allem durch den Grad der Rationalität der Elitenrekrutierung in den konkurrierenden Nationen entschieden werde. Zweitens gehen fast alle Versionen davon aus, dass die für diese Positionen benötigten Talente knapp sind. Daraus werden dann hohe Anforderungen an die Rationalität der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsysteme abgeleitet, die nicht nur zuverlässig die überproportional vorhandenen unqualifizierten Individuen aussieben müssen, sondern auch den knapp bemessenen Pool geeigneter Bewerber ausfindig machen sollen. Viele Vertreter des Meritokratiemodells leiten daraus dann auch noch die These der perfekten Durchlässigkeit der modernen Schichtungsstrukturen ab. Dieser Zweig des Meri-
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„Die Zivilisation hängt eben nicht von der Maße ab, vom ,homme moyen sensuel‘, sondern von der schöpferischen Minorität, von dem Erfinder oder Rationalisator, der auf einen Schlag die Arbeit von zehntausend Mann einzusparen versteht, von den wenigen glänzenden Köpfen, die mit jedem Blick zugleich fragen und forschen, von der rastlosen Elite, die die Mutation nicht nur zu einer biologischen, sondern auch zu einer soziologischen Tatsache gemacht hat“ (Young 1961: 17). Michael Young bringt hier unübertroffen die Heroisierung des genialen Individuums zum Ausdruck, die besonders charakteristisch für das Meritokratiemodell ist.
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tokratiemodells geht davon aus, dass die Oberschichtsfamilien nicht mehr in der Lage sind ihrem Nachwuchs per Sozialisation oder über die Gene ihrem Nachwuchs positive arbeitsmarktrelevante Eigenschaften mit auf den Weg zu geben. Im Folgenden möchte ich den zentralen Bedeutungsgehalt des Meritokratiemodells idealtypisch darstellen, um dann zu zeigen, welche Variationen des Grundmodells sich in seinen verschiedenen Strömungen ausmachen lassen. Im Meritokratiemodell wird der Statuszuweisungsprozess von den Personalanforderungen der rekrutierenden Funktionssysteme und Arbeitsorganisationen her rekonstruiert. Die Leistungsrollen in den Funktionssystemen und die Führungsrollen in den Arbeitsorganisationen müssen danach von den am besten geeigneten Individuen übernommen werden, oder diese Institutionen werden ihr volles Innovationspotential nicht ausschöpfen können. Betrachtet man die am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssysteme wie die Familien, das Erziehungssystem und die rekrutierenden Funktionssysteme und ihre Arbeitsorganisationen, dann fällt zunächst auf, das sich ein System einer rationalen Koordination dieser Teilsysteme sperrt: die Familie. Die Vertreter des Meritokratiemodells machen dafür den Partikularismus der Eltern und die schichtspezifischen Unterschiede in der Ressourcenausstattung der Familien verantwortlich. Der Partikularismus der Eltern führe dazu, dass in den Oberschichtsfamilien überzogene Bildungsinvestitionen in unbegabte Kinder getätigt würden. Die schichtspezifischen Unterschiede in der Ressourcenausstattung der Familien wiederum verhinderten eine faire Konkurrenz im Erziehungssystem und führten dazu, dass in den Unterschichtsfamilien eine ausreichende Förderung der begabten Kinder nicht gewährleistet werden könne. Das Resultat sei eine massenhafte Fehlinvestition in das gesellschaftlich verfügbare Humankapital und eine mangelhafte Ausschöpfung der Begabungsressourcen der Bevölkerung.2 Die wichtigste Voraussetzung für eine meritokratische Ordnung liege deshalb in der perfekten Ab-
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Michael Young lässt die Karikatur eines Meritokraten in seiner Satire „Es lebe die Ungleichheit“ in folgende Tirade ausbrechen: „Das Bildungssystem war bei weitem noch nicht auf den Gedanken des Leistungswertes abgestimmt. Die Folge war, dass so manches Kind, dass vielleicht die Befähigung für das Amt des Staatsekretärs gehabt hätte, gezwungen war, mit fünfzehn Jahren von der Schule abzugehen und Briefträger zu werden. „Staatssekretäre“ trugen Briefe aus – es ist kaum zu glauben! Andere Kinder, die weniger Verstand, aber mehr Protektion hatten, kamen zwar in Eton oder Balliol mit Ach und Krach zur Reifeprüfung; nach einigen Jahren kamen sie aber dennoch zu hohen Stellungen im auswärtigen Dienst. Welche Tragikomödie: Briefträger Talente stellten diplomatische Noten zu“ (Young 1961: 23).
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kopplung der Familie vom Statuszuweisungsprozess. Dies betreffe vor allem das Verhältnis von Familie und Schule. Hingegen muss das Erziehungssystem in seinen berufsvorbereitenden Zweigen seinen Output an zertifizierten Schulabgängern perfekt auf die Leistungsanforderungen der rekrutierenden Funktionssysteme und Arbeitsorganisationen einstellen. Das setzt unter anderem voraus, dass die Inhalte der Ausbildungsprogramme direkt auf die Anforderungen in den Leistungsrollen dieser Funktionssysteme vorbereiten.3 Die wichtigste Theorie in diesem Bereich ist die Humankapitaltheorie (Becker 1964). „Humankapital oder Einkommenserwerbskapital ist die Summe der Erfahrungen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Individuums, einer Gruppe, oder der Erwerbsbevölkerung einer Volkswirtschaft, welche im Produktionsprozess aktiv eingesetzt werden kann“ (Kamaras 2003: 12.). Die Aufgabe des Erziehungssystems besteht dann darin, diejenigen Fähigkeiten und Kenntnisse anzutrainieren, die man nicht mehr „on the job“ in den Arbeitsorganisationen erlernen kann. Ebenso wichtig ist aber, dass die Zahl der zertifizierten Schulabgänger in etwa der Zahl der freien Stellen in den rekrutierenden Systemen entspricht.4 Es muss gelingen, das Erziehungssystem sowohl in seinen Sachprogrammen wie in seiner zeitlichen Rhythmik mit der Nachfrage nach entsprechend qualifiziertem Personal in den Wirtschaftsunternehmen, den staatlichen Bürokratien, den Krankenhäusern oder den Kirchen zu koordinieren. Die Vertreter des Meritokratiemodells haben allerdings an keiner Stelle eine Lösung für dieses Problem geliefert.
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Meistens wird diese Anforderung einfach als Selbstverständlichkeit kommuniziert: „Industrialism requires an educational system functionally related to the skills and professions imperative to its technologies“ (Kerr et al 1962: 36). So Kerr et al., die das Erziehungssystem auch als „handmaiden of industry“ bezeichnen. Seltener wird dies begründet wie in der Humankapitaltheorie, die ausgehend von der Annahme rationaler Arbeitsmärkte feststellt, dass rationale Individuen schulspezifische Humankapitalinvestitionen in der Form entgangener Lohnzahlungen nur dann tätigen werden, wenn die Ausbildung ihre Produktivität erhöht. Die Tatsache, dass die zertifizierten Individuen in der Regel besser bezahlte Jobs erhalten, belegt dann, dass die in der Ausbildung erworben Kenntnisse und Fähigkeiten auf die Anforderungen in diesen Stellen vorbereiten.
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Es gehört zur Standardkritik an der Humankapitaltheorie, dass sie nur die Angebotsseite des Arbeitsmarktes analysiert und nicht auch die Nachfrageseite (Thurow 1976: 75ff., Breiger 1990: 6).
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Dieser rationale Prozess der Personenallokation muss aber in einer wirklich meritokratischen Ordnung durch die Arbeitsorganisationen und Funktionssysteme fortgesetzt werden. Das Modell der zweckrationalen Organisation würde dies sicherstellen. Die Sachprogramme der verschiedenen Stellen einer perfekt zweckrationalen Organisation lassen sich aus der Dekomposition des obersten Organisationszwecks in rationale Teilzwecke ermitteln. An der Leitungsposition muss der Gesamtplan der Organisation durchschaut werden. Auf den darunterliegenden Stellen müssen die Mitglieder jeweils ihre eigenen Aufgaben wie die Überwachung und Leitung aller darunterliegenden Stellen beherrschen. Daraus ergibt sich das Bild einer aufgabenkontinuierlichen Organisation (Offe 1970: 25), in der der Vorgesetzte neben seinem eigenen Stellenprogramm immer über alle Fähigkeiten seiner Untergebenen verfügen muss. In diesem Modell bildet die zentrale Hierarchie einen logischen Beförderungsweg, da die jeweils direkt darunter liegende Stelle perfekt auf die darüber liegende Stelle vorbereitet. Wenn sichergestellt werden kann, dass jeweils der leistungsfähigste Kandidat bei einer freiwerdenden Stelle von unten nachrückt, wäre eine meritokratische Karriereordnung in der Organisation sichergestellt. Neben den organisationsspezifischen Karrieren dürfen aber die funktionssystemspezifischen Karrieren nicht übersehen werden. Ein Politiker muss sich nicht nur in der Parteibürokratie durchsetzen, er muss auch Wahlen gewinnen. In der modernen Erwerbsgesellschaft, in der die meisten Leistungsrollen auch Mitgliedschaftsrollen in Arbeitsorganisationen sind, muss dann aber auch gewährleistet sein, dass sich die Karrieremechanismen in den Funktionssystemen und Arbeitsorganisationen reibungslos ergänzen. Der erfolgreiche Wahlkämpfer muss auch in den parteiinternen Karrieren bestehen, der reputierte Wissenschaftler muss mit den Leitungsaufgaben in einer Universität fertig werden5 und die Individuen, die die Karriere in den Wirtschaftsorganisationen durchlaufen haben, müssen sich als entscheidungsfreudige Unternehmer erweisen (Schumpeter 1993: 227 ff.). Auch dieses Problem wird von den Vertretern des Meritokratiemodells komplett ausgespart. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass hier
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Nach Pierre Bourdieu hat die Differenz der Anforderungen an den Forscher einerseits und den Wissenschaftsmanager andererseits dazu geführt, dass in Frankreich die einen durch Reputation und die anderen durch Stellenmacht glänzen. Den Forschern bleibt die organisationsinterne Karriere versagt und den Wissenschaftsmanagern fehlt die wissenschaftliche Reputation. Man sieht an dieser Stelle, wie wenig selbstverständlich die harmonische Ergänzung funktionssystemspezifischer und organisationsspezifischer Karrieremechanismen ist (Bourdieu 1998: 31ff.).
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meistens mit dem Modell der zweckrationalen Organisation gearbeitet wird, indem die Organisationen als passive Instrumente extern gesetzter Zwecke verstanden werden. In diesem Modell existieren keine Spannungen zwischen den Arbeitsorganisationen und den Funktionssystemen, die deren dominante Umwelt bilden. Das Meritokratiemodell stellt den Statuszuweisungsprozess als lückenlose Ketterationalität der nahtlos ineinandergreifenden Karriereselektionen im Erziehungssystem, in den Arbeitsorganisationen und Funktionssystemen dar. Dadurch soll ein Höchstmaß an Rekrutierungsrationalität gewährleistet werden. In seiner Satire „Es lebe die Ungleichheit“ lässt der Autor Michael Young eine meritokratische Elite die Partnerwahl bei der Familienbildung nach eugenischen Regeln steuern (gleiche Intelligenz der Partner). Durch diese Maßnahmen soll das Problem der Knappheit von Intelligenz und Talent gelöst werden, denn nur so ließe sich der Genpool elitetauglicher Individuen vergrößern.6 In diesem Modell wird sogar noch die Familie der einheitlichen Logik des Stauzuweisungsprozesses eingegliedert. Das ist sicher Science Fiction aber die Annahme einer lückenlosen Rationalität des Statuszuweisungsprozesses gehört ohne Zweifel zu den Kernannahmen des Meritokratiemodells. Die Mehrdimensionalität der Rationalitätsfrage Ich hatte jedoch in der Einleitung darauf hingewiesen, dass eine realistische Evaluation der Rationalität des Statuszuweisungsprozesses um eine Berücksichtigung weiterer Bezugsprobleme nicht herumkommt. Wenn man sich bei der Personalrekrutierung nur an den konstanten Merkmalen der Individuen wie ihrer Intelligenz, ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse orientiert, dann ruiniert man die Leistungsmotivation in der Position. Wenn zum Beispiel das Bildungszertifikat oder die getestete Intelligenz tatsächlich die ganze restliche Karriere determinieren würde, gäbe es für die Positionsinhaber keinen Grund in ihren Leistungen über das formal Durchsetzbare hinauszugehen. Im Statuszuweisungsprozess
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In der wissenschaftlichen Literatur wurde diese Erweiterung nur in der psychologischen Intelligenzforschung weiterverfolgt. In der politischen Praxis des 20. Jahrhunderts hat man diese Ideen tatsächlich umzusetzen versucht. Der Nationalsozialismus hat im Namen ähnlicher Ideen die Euthanasie geistig behinderter Kinder gerechtfertigt. Aber erschreckender Weise wurden diese Ideen auch in sozialdemokratisch regierten Länder wie Schweden in der Form der Sterilisierung nicht für tauglich gehaltener Eltern praktiziert (Niemann-Findeisen 2004: 18).
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müssen deshalb neben den konstanten die variablen Eigenschaften der Individuen berücksichtigt werden (Luhmann/Schorr 1988: 295). Gleichzeitig werden diese Personalentscheidungen in den Funktionssystemen und Arbeitsorganisationen selbst durch deren Mitglieder ständig beobachtet und an diesen Beobachtungen kondensieren Erwartungen an, die die Systeme unter Konsistenz und Rechtfertigungszwänge stellen. Daraus entstehen dann fast zwangsläufig Legitimationsprobleme. Der Prozess der „Formalisierung“ der Regeln im Statuszuweisungsprozess, der durch die staatlich geregelten Curricula, die formalen Übertrittsregelungen von einer Schule zur nächsten, die einheitliche Hierarchisierung der Bildungsabschlüsse, aber auch durch die Formalisierung und Standardisierung der Personalentscheidungen in den Arbeitsorganisationen vorangetrieben wurde, stimuliert Prozesse des sozialen Vergleichs, die den Legitimitätsdiskursen in den am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsystemen ständig neuen Stoff liefern. Mit der Umstellung von den askriptiven Regeln des Statuszuweisungsprozesses in den vormodernen Gesellschaften zu den modernen Karrierestrukturen, wird aber auch das Problem der strukturellen Kopplung der psychischen und sozialen Systeme viel deutlicher spürbar, denn die Karriereordnungen der modernen Gesellschaft setzen die Koordination von Selbst- und Fremdselektion voraus. Man muss sich um eine Stelle in einer Arbeitsorganisation bewerben und durch diese ausgewählt werden. Das setzt aber voraus, dass die Individuen ihre Fähigkeiten und Kenntnisse einschätzen können, dass sie vorhersehen können, welche Ausbildungszertifikate nach Beendigung ihrer Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt sein werden, welcher Berufseinstieg die besten Karriereaussichten bietet und sie müssen davon ausgehen können, dass alle bereits absolvierten Phasen der Ausbildungs- und Erwerbskarriere realistische Schlussfolgerungen für die noch möglichen Karriereoptionen zulassen. Das Besondere am Meritokratiemodell ist nun, dass es in seiner konsequentesten Form die optimale Erfüllung der Bezugsprobleme der Rekrutierungsrationalität, der Leistungsmotivation, der Legitimation und der Sozialintegration verspricht. Viele dieser Texte erwecken den Eindruck als ob die Optimierung des Problems der Rekrutierungsrationalität automatisch die Lösung der anderen Bezugsprobleme in Aussicht stellt. Auch die Vertreter des Meritokratiemodell verwenden ein mehrdimensionales Konzept zur Evaluation der Rationalität des Statuszuweisungsprozess, aber sie gehen davon aus, dass die perfekt meritokratische Gesellschaft alle Tradeoffs und Widersprüche zwischen diesen Bezugsproblemen vermeiden kann. Das gilt beispielsweise für die beiden verwandten Probleme der Rekrutierungsrationalität und der Leistungsmotivation: Da hier jede Phase der Berufsbiographie von der Schule bis zur Pension durch einen harten aber fairen Wettbewerb verschiedener Kandidaten geprägt sei, werde nicht
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nur die Fähigkeit des nach oben weiter gereichten Kandidaten sichergestellt, sondern auch dessen ständige Leistungsbereitschaft. Hier kann es keine faulen Genies geben, die ihr Talent verschleudern, aber auch keine uninspirierten Arbeitstiere, die ihre talentierteren Kollegen mit ihrem Formalismus und ihrer Einfallslosigkeit ausbremsen. Das Meritokratiemodell schlägt hier zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Meritokratiemodell stellt aber auch eine legitime Verteilungsordnung in Aussicht. Zunächst muss dabei festgehalten werden, dass das Meritokratiemodell davon ausgeht, dass die Legitimität einer Schichtungsstruktur allein durch die Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess gerechtfertigt werden kann. Denn es scheint sich beim meritokratischen Statuszuweisungsprozess um eine komplett „schuldlose“ Verteilungsordnung zu handeln, da die Individuen hier nur sich selbst für die erreichte Schichtposition verantwortlich machen können. Die Positionen, die ein Individuum in dieser Schichtungsstruktur im Laufe seiner Bildungs- und Berufsbiographie einnimmt, hängen nur von der individuellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ab. Da das Erziehungssystem perfekt von den Familien abgekoppelt ist, hat die Schichtherkunft keinen Einfluss auf den Erfolg in den Karrieren des Erziehungssystems. Da die berufsvorbereitenden Zweige des Erziehungssystems perfekt auf die Inputanforderungen der rekrutierenden Systeme zugeschnitten sind, können diese die Schulzertifikate zur ausschlaggebenden Grundlage ihrer Rekrutierungsentscheidungen machen. Die meritokratische Einrichtung der Berufskarrieren sorgt dafür, dass auch nach dem Eintritt in das Berufsleben keine schichtspezifischen Mobilitätsbarrieren zu erwarten sind. In dieser Ordnung wäre wirklich jedes Individuum seines eigenen Glückes Schmied. Zum anderen kann sich das Meritokratiemodell auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit berufen. Es gilt als fair, dass der, der mehr leistet, auch karrieretechnisch belohnt wird. Ein Zweig des Meritokratiemodells schließt deshalb von den Strukturen der funktional differenzierten Gesellschaft auf eine offene Schichtungsstruktur, die sich durch die perfekte Entkopplung von Schichtherkunft und erreichbarem Schichtstatus auszeichnet. Das erfolglose Individuum dieser Gesellschaft findet dann keine Ansatzpunkte, sein eigenes Scheitern extern zuzurechnen und wird entmutigt, aus der eigenen Unzufriedenheit mit der erreichten Stellung Protest gegen die Verteilungsordnung der Gesellschaft anzumelden. Außerdem liefert das Modell auf diese Weise noch ein eindeutiges empirisches Kriterium für seine Falsifikation und entspricht damit auch den methodischen Konventionen einer statistisch arbeitenden Sozialwissenschaft. Das Meritokratiemodell verspricht aber nicht nur die rationale Lösung der Rekrutierungs- und Motivationsprobleme der Funktionssysteme und die Legiti-
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mität der Schichtungsstruktur, sondern würde dem Individuum auch eine rationale Planbarkeit der eigenen Berufsbiographie garantieren. Sie setzt ein Erziehungssystem voraus, indem es nicht nur keine Unter- und Überforderten gibt und keine Fehler in der Leistungsdiagnose der Schüler bei den Übertrittsentscheidungen, sondern sie kennt auch keine unbeherrschbaren Risiken im Übergang vom Erziehungssystem zum Erwerbsleben. Diese Ordnung kennt nicht das Problem überqualifizierter Arbeitnehmer, keine Ungerechtigkeiten zwischen geburtenschwachen und geburtenstarken Kohorten und keine Bildungsabschlüsse, die zu Beginn noch gute Arbeitsmarktchancen zu eröffnen schienen, bei ihrer Beendigung jedoch direkt in die Arbeitslosigkeit führten. In den Arbeitsorganisationen existieren in diesem Modell keine Karriereengpässe infolge eines langfristigen Mangels freiwerdender Stellen. Das Individuum kann sich vertrauensvoll auf die Selektionen der beteiligten Organisationen und Funktionssysteme einlassen, es muss nur an die eigene Leistungsgrenze gehen und anschließend die eigenen Statusaspirationen an das eigene Leistungsniveau anpassen. Das Individuum muss keine riskanten Karriereentscheidungen treffen, da das System das Individuum zuverlässig auf die für ihn angemessene und eben auch bereitstehende Position dirigiert. Diese Ordnung kennt keine Entfremdung, keine Apathie und keinen Ausbruch kollektiver Proteste. Die Unzufriedenheit derer, die sich in der Konkurrenz um eine attraktive Schichtposition nicht durchsetzen können, stellt allerdings eine erhebliche Gefahr dar. In diesem Modell ist deshalb ein ständiges Anwachsen der Mittelschichts- und Oberschichtspositionen vorgesehen, die von Generation zu Generation weniger Verlierer kennt. Die verschiedenen Strömungen des Meritokratiemodells Ich hatte zu Beginn darauf hingewiesen, dass das Meritokratiemodell eine Reihe kontextspezifischer Modifikationen durchlaufen hat. Je nach den historischen oder den politischen Umständen wurden andere Aspekte des Meritokratiemodells betont. Gerade in den frühen amerikanischen Varianten wurde besonders der Aspekt der Legitimität durch Chancengleichheit und der Aspekt der Leistungsmotivation betont, da die freien Territorien westwärts allen Unterdrückten der Erde die Chance zu bieten schienen, sich mit den eigenen Händen emporzuarbeiten. Diese Semantik konnte noch für die frühe Phase der Urbanisierung weiterverwendet werden, als keine weitere Westexpansion mehr möglich war, aber die Märkte in den schnell wachsenden Städten jedem mutigen Unternehmer offen zu stehen schienen (Strauss 1971: 21ff.). Als die großen managementgeführten Unternehmen die meisten Branchen zu dominieren begannen, musste die Semantik des Meritokratiemodells der veränderten Situation angepasst werden.
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Mit dem zunehmenden Wachstum der Wirtschaftsunternehmen verliert die Vorstellung an Plausibilität, dass die Karriere des Einzelnen seinen persönlichen Beitrag zum Unternehmenserfolg realistisch widerspiegeln kann. An die Stelle eines Primats der Leistungsmotivation tritt nun das Problem der Rekrutierungsrationalität. Mit dem Größenwachstum der Wirtschaftsorganisationen nimmt eben auch der Grad der formalen Programmierung organisationsinterner Personalentscheidungen zu und entsprechend nimmt die Bedeutung formaler Bildungsabschlüsse zu. Die Formalisierung der Personalentscheidungen bringt auch eine Systematisierung des Vergleichs der für eine Stelle in Frage kommenden Personen mit sich. Es geht jetzt weniger darum den Tüchtigen zu belohnen, als den Qualifizierten ausfindig zu machen. Das Beharren auf Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit wird nun von manchen Vertretern des Meritokratiemodells als Sozialromantik abgetan, stattdessen werden die Zwänge der Wissensgesellschaft betont, bei der nun die Knappheit des Talents und die strategische Bedeutung optimal rekrutierter Eliten in den Vordergrund gestellt werden (Bell 1973 165ff.). 7 Außerdem variieren die verschiedenen Versionen des Meritokratiemodells mit der wissenschaftlichen Disziplin, in der sie weiterentwickelt wurden. Die Intelligenzforschung im Überschneidungsbereich von Humanbiologie und Psychologie muss sich beispielweise mit der Frage der Erblichkeit von Intelligenz beschäftigen. Ausgehend von der empirisch gestützten These, dass ein gewisser Anteil an der Varianz der Intelligenz in der Bevölkerung genetisch bedingt ist, wurde hier unter anderem eine radikale Version des Meritokratiemodells entwickelt, die in der Literatur oft als Theorie der Intelligenzklasse bezeichnet wird, und die zu belegen versuchte, dass die Erblichkeit der Intelligenz in der modernen Gesellschaft sogar stark zugenommen habe (Herrnstein/Murray 1994). In der vormodernen Gesellschaft sei aufgrund der askriptiven Statuszuweisungskriterien die Intelligenz zufällig über die verschiedenen Schichten verteilt gewesen.
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Die geopolitische Konkurrenz mit der Sovietunion warf aber immer wieder die Frage nach der Legitimität der „westlichen“ Welt auf. Gerade in den fünfziger Jahren warnen deshalb verschiedene Autoren wie W. Lloyd Warner oder James Bryant Conant davor, dass die gesellschaftliche Bedeutung des Ideals der Chancengleichheit nicht unterschätzt werden dürfe und beide fordern große nationale Energieleistungen um die Offenheit der Schichtungsstrukturen wieder herzustellen (Warner 1959: 141-153, Conant 1940) Conant geht so weit vorzuschlagen alle privaten Vermögen einmal in jedem Leben zu beschlagnahmen und zur Realisierung der Chancengleichheit im Zugang zum Bildungssystem zu verwenden.
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Die Verteilung der Intelligenz in den verschiedenen Schichten habe damit der Verteilung in der gesamten Gesellschaft entsprochen. Die Umstellung auf Leistung als zentrales Statuszuweisungskriterium habe aber dazu geführt, dass die intelligenten Individuen in der Oberschicht deutlich überproportional vertreten seien. Die in der modernen Gesellschaft etablierte freie Partnerwahl bei der Familienbildung verstärke zudem die Erblichkeit der Intelligenz, da die Partnerwahl in der Regel unter Individuen mit derselben Intelligenz erfolge (ebd.: 110f.). Der Versuch durch politische Maßnahmen auf eine Angleichung der Aufstiegschancen der Kinder verschiedener Schichten hinzuarbeiten, verschwende nur in der Elitenerziehung dringend benötigte Ressourcen auf eine in großen Teilen erblich stupide Unterschicht.8 In der Soziologie wäre die Theorie der Intelligenzklasse nie kommunizierbar gewesen. Schon die Betonung der partiellen Erblichkeit der Intelligenz gilt hier eher als Tabu, dass höchstens in abgeschwächter Form angeführt wird (Saunders 1996: 19f.). Die Vertreter des Meritokratiemodells sehen sich hier aber in der schwierigen Situation einerseits Chancengleichheit in Aussicht stellen zu müssen und andererseits erklären zu können, weshalb die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft nicht durch eine vollständige statistische Entkopplung von Schichtherkunft und erreichtem Schichtstatus gekennzeichnet sind. Hier finden sich zwei Verteidigungsstrategien: Man kann die Realisierung von Meritokratie in der nahen Zukunft in Aussicht stellen oder die harten empirischen Kriterien für Meritokratie durch weichere ersetzen. So mussten die Vertreter des Meritokratiemodells schon früh einräumen, dass die funktional differenzierte Gesellschaft, in einigen Hinsichten deutlich vom Meritokratiemodell abweicht, denn bis heute lassen sich erhebliche schichtspezifische Mobilitätsbarrieren feststellen, die dem Ideal der perfekt durchlässigen Schichtungsstruktur widersprechen. Lange Zeit haben die Vertreter des Meritokratiemodells diese empirischen Befunde dadurch zu entkräften versucht, dass sie darauf hingewiesen haben, dass
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Herrnsteins und Murrays „Bell Curve“ wiederholt dabei lediglich die Thesen und Irrtümer von Henry Goddard, Lewis Terman und Robert Yerkes. Eine gute Darstellung und Kritik dieser Literatur findet sich in Stephen Jay Gould „Der falsch vermessene Mensch“ (Gould 2002: 157-258). Diese Forschungstradition der Intelligenzforschung, die das Modell der Intelligenzklasse vertritt, wird von Gould als Mischung aus rassistischen und schichtspezifischen Vorurteilen und skandalösen Forschungsmethoden charakterisiert. Verfolgt man diese Ideen noch weiter zurück landet man bei der Fabian Society und Autoren wie H.G. Wells, George Bernhard Shaw und Beatrice und Sidney Webb (Niemann-Findeisen 2004).
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im Laufe der letzten 100 Jahre aber eine deutliche Tendenz in Richtung Meritokratie festzustellen sei, so dass die Realisierung perfekter Chancengleichheit in der nahen Zukunft zu erwarten sei.9 Die Vertreter des Meritokratiemodells haben von der marxistischen Revolutionstheorie die Angewohnheit übernommen, ihre Kritiker auf eine immer weiter hinausgeschobene Zukunft zu vertrösten. Andere Autoren wiederum haben auf die empirische Kritik zu reagieren versucht, indem sie die harten empirischen Kriterien für realisierte Meritokratie durch weichere zu ersetzen versucht haben. Das am schwersten zu erfüllende empirische Kriterium für Meritokratie hat John Goldthorpe aufgestellt: gleiche „odds ratios“ in den Mobilitätstafeln für die Individuen aller Schichten (John Goldthorpe 2000: 252). Dieses Kriterium wäre nur dann erfüllt, wenn die Chance eines Arbeiterkindes in die Dienstklasse aufzusteigen genauso groß wäre wie die Chance eines Kindes aus der Dienstklasse in die Arbeiterschicht abzusteigen. Peter Saunders hat hingegen darauf bestanden, dass man auch schon dann von Meritokratie sprechen könne, wenn sich die Aufstiegschancen der Kinder verschiedener Schichten angeglichen hätten (disparity ratios), auch wenn die Chancen aus der Unterschicht in die Oberschicht aufzusteigen immer noch nicht den Risiken entsprächen aus der Oberschicht abzusteigen, man also allgemein leichter aufsteige als absteige (Saunders 1996: 14f.). Aus der Perspektive des Meritokratiemodells stellt sich aber die Frage, ob man unter diesen Umständen auch davon ausgehen kann, dass der unfähige Oberschichtsnachwuchs zuverlässig aus den gesellschaftlich bedeutenden Positionen entfernt wird. Auch wenn das Meritokratiemodell in diesen Relativierungen und Modifikationen immer etwas an Geschlossenheit und Konsistenz einbüßt, so bleibt doch der wesentliche Grundzug des Modells erhalten: die Einheitlichkeit der Rationalität des Statuszuweisungsweisungsprozesse, die nicht nur die Eigenrationalitäten der verschiedenen Sozialsysteme harmonisiert, sondern auch als multifunktionale Institution sicherstellt, dass die Individuen dort platziert werden, wo sie ihre erworbenen und ererbten Fähigkeiten am besten ausleben können. Die einheitliche Rationalität des Statuszuweisungsprozesses würde aber auch sicherstellen, dass diese Individuen immer wieder bis an ihre Leistungsgrenzen gehen, dass sie ihren erreichten Schichtstatus als gerechtes Leistungssymbol ansehen und sich in dieser Ordnung angstfrei zu Recht finden. Ohne Zweifel weicht das Modell der Intelligenzklasse am weitesten von dieser harmonischen Beschreibung ab. Des-
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So verweisen W. Lloyd und James C. Abegglen 1955 darauf, dass zwar die Söhne von Bauern in der Wirtschaftselite unterrepräsentiert seien, dass sich ihr Anteil aber gegenüber der Generation ihrer Väter verdoppelt habe (Warner/Abegglen 1955: 30.).
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halb wurde es auch von Michael Young in seiner Satire „Es lebe die Ungleichheit“ verwendet um auf inhärente Widersprüche im Meritokratiemodell hinzuweisen, die vor allem aus den widersprüchlichen Anforderungen an den Statuszuweisungsprozess der modernen Gesellschaft resultieren. Michael Young spielt in seiner Satire „Es lebe die Ungleichheit“ die gesellschaftlichen und sozialen Kosten einer perfekt realisierten Meritokratie durch. In diesem Roman versucht zuerst eine sozialdemokratische und dann eine technokratische Elite eine ganz auf dem Leistungsprinzip beruhende Gesellschaft zu erschaffen. Die erste Hälfte des Romans schildert die Schwierigkeiten auf dem Weg der Umsetzung, die zweite Hälfte behandelt die Folgeprobleme einer perfekt realisierten Meritokratie. Je weiter die fiktive Gesellschaft auf dem Weg zur Meritokratie voranschreitet, desto dramatischer werden die Folgeprobleme. Michael Young wirft beispielsweise die Frage auf, ob denn die Individuen mit einer perfekt meritokratischen Ordnung zurechtkämen, wenn das zwangsläufig auch heißt, dass jeder sich die eigenen Misserfolge selbst zu rechnen muss.10 Die Attributionspsychologie hat aber deutlich gezeigt, dass fast alle Menschen dazu neigen, Misserfolge extern zuzurechnen. Wie kommt man aber damit klar dass einem alle Ausreden und Sündenböcke geraubt werden? Ebenso wirft er die Frage auf, welche psychischen und sozialen Folgekosten die Normalisierung von Long-Distance-Mobilität mit sich bringen würde. Wie kommt der minderbegabte Abkömmling einer Oberschichtsfamilie damit zurecht innerhalb einer Generation auf Underclassniveau abzusinken (Young: 145ff.) Mit Durkheim könnte man an dieser Stelle fragen, ob es dem Aufsteiger, der eine ebenso große soziale Distanz zurückgelegt hat, besser geht. Durkheim hat in seiner Selbstmordstudie festgehalten, dass nicht nur wirtschaftliche Depressionen die Selbstmordraten nach oben treiben. Starke Konjunkturaufschwünge können denselben Effekt haben. Durkheim hat dies darauf zurückgeführt, dass plötzlicher Wohlstand zur krisenhafter Anomie führen kann. Es scheint dann naheliegend zu sein, davon auszugehen, dassfür dramatische Aufstiege dasselbe gilt (Durkheim 1983: 275ff.). Die Optimierung der Bezugsprobleme der Leistungsmotivation und der Rekrutierungsrationalität auf der einen Seite lässt sich nach diesem Gedankenexperiment nicht ohne erhebliche Folgeprobleme in Bezug auf das Bezugsprob-
10 Im Roman entwirft Michael Young das Bild eine völlig demoralisierten Unterschicht, der aufgrund objektiver Tests die eigene gesellschaftliche Überflüssigkeit attestiert worden sei. Die technokratische Elite löst die damit verbundenen Gefahren durch die Propagierung von Körperkultur und der von oben stimulierten Hoffnung, dass die eigenen Kinder intelligenter sein werden (Young 1961: 144ff.).
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lem der Sozialintegration realisieren. Ein besonderer Clou des Romans ist die Idee, dass eine perfekt meritokratische Rekrutierung letztlich auch die Elite selbst verdirbt. Eliten, denen ständig „objektiv“ die eigene Überlegenheit attestiert werde, müssen nach Young kritikunfähig werden: Der Roman endet dann damit, dass die Elite beschließt, dass die aufgrund der rationalen Statuszuweisung immer mehr zunehmende Erblichkeit der Elitentauglichkeit den Übergang zur askriptiven Elitenzugehörigkeit rechtfertige. Damit untergräbt die technokratische Elite aber natürlich die Grundlage der Legitimität der meritokratischen Schichtungsstruktur und es kommt zur Revolution. Michael Youngs Roman macht deutlich, dass in dem überintegrierten und harmonistischen Meritokratiemodell mehr Spannungen angelegt sind, als man auf den ersten Blick erkennen kann. Das wird besonders dann deutlich, wenn man die Rationalität des Statuszuweisungsprozess nicht eindimensional am Problem der Rekrutierungsrationalität bemisst, sondern das Problem der Leistungsmotivation, der Legitimierung der Schichtungsstrukturen und der Kopplung psychischer und sozialer Systeme mit einander verbindet. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie es einer perfekt meritokratischen Gesellschaft gelingen soll, die damit verbundenen Probleme zu lösen.
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Die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse ist ohne Zweifel die soziologische Subdisziplin, die sich am eingehendsten mit dem Meritokratiemodell auseinandergesetzt hat. Kein anderer soziologischer Forschungszusammenhang hat mehr Publikationen zu diesem Thema hervorgebracht. Die Mobilitätsanalyse konstituiert sich geradezu als empirische Widerlegung des Meritokratiemodells. Das Meritokratiemodell gibt dabei den perfekten Gegner ab. Die Ungleichheitssoziologie hat sich zum Ziel gesetzt, das Phänomen strukturierter sozialer Ungleichheit als das änderbare Ergebnis menschlichen Handelns zu rekonstruieren (Kreckel 1997: 13ff.). Die Ungleichheitssoziologie versucht zu erklären, warum die Menschen durch ihr Handeln das Phänomen strukturierter sozialer Ungleichheit reproduzieren, wenn doch die sozial hoch bewerteten Güter dabei sehr ungleich verteilt sind und eine Minderheit überproportional vom Status Quo zu profitieren scheint. Aus ungleichheitstheoretischer Perspektive stellen dabei die umkämpften Güter wie Geld, Bildung, Sozialkapital oder Personalmacht in Organisationen auch die effizientesten Instrumente im gesellschaftlichen Verteilungskonflikt dar. Die ungleiche Verteilung dieser gesellschaftlich zentralen Ressourcen verschaffe der Oberschicht sogar einen deutlichen Einfluss auf die
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gesellschaftlich legitime Sichtweise (symbolisches Kapital). Die Ungleichheitssoziologie sieht ihre Aufgabe dann in der Dekonstruktion und Politisierung dieser „standortbezogenen“ gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen. Das Meritokratiemodell scheint aus dieser Perspektive geradezu die exemplarische Oberschichtsideologie der modernen Gesellschaft zu sein. Die rationale Auswahl der Eliten wird zum zentralen Bestandsproblem der modernen Gesellschaft erklärt. Die Elite verdankt nach diesem Modell ihre privilegierte Position nur ihren raren und gesellschaftlich bedeutenden Talenten wie ihrem über das Normalmaß hinausgehenden Fleiß. Die Ungleichverteilung sozialer Ressourcen wie Geld sei notwendig, weil nur so sichergestellt werden könne, dass die gesellschaftlich wichtigsten Positionen mit den am besten geeigneten Individuen besetzt würden und diese sich nicht auf angenehmere und weniger anforderungsreiche Positionen bewürben. Die Unterschicht könne ihrerseits froh sein, nicht weiter in der gesellschaftlichen Hierarchie aufzusteigen, da sie durch die damit verbundenen komplexen Aufgaben überfordert würde. Gerade für die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse, die untersucht, wie sich die Individuen innerhalb ihrer Lebenszeit durch die Positionen der Klassenstruktur bewegen und welchen Einfluss die schichtspezifische Herkunft dabei ausübt, liefert das Meritokratiemodell eine fast endlos erscheinende Angriffsfläche. Dabei haben sich unter anderem drei Strategien im Laufe der Zeit herauskristallisiert, die mit unterschiedlichen Konzepten und Methoden arbeiten und sich jeweils einen besonderen Aspekt des Meritokratiemodells vornehmen. Das Meritokratiemodell verspricht die Entkopplung der Schichtherkunft der Individuen von dem für sie erreichbaren Schichtstatus. Will man diese These widerlegen, genügt zunächst der Nachweis statistisch gemessener Mobilitätsbarrieren (Goldthorpe et al 1980, Hauser/Grusky 2001: 341).11 Man kann aber den Statuszuweisungsprozess auch
11 Dafür sind die unterschiedlichsten statistischen Verfahren entwickelt worden. So kann man auch die gemessenen Mobilitätsbarrieren mit der entgegengesetzten These vergleichen, indem man untersucht wie viel Prozent der Daten sich durch Statusvererbung erklären lassen. Oder man untersucht, ob die Herkunftsklassen in den verschiedenen Klassendestinationen repräsentativ vertreten sind. Dieses Verfahren verliert aber dann an Aussagekraft, wenn sich die Positionsstruktur der Schichten ändert (bestimmte Klassen expandieren und andere kontrahieren). Zunächst hat man deshalb zu errechnen versucht, wieviel Prozent der Mobilität aufgrund der veränderten Positionsstruktur zu erwarten waren und hat dann diesen Prozentsatz von der totalen Mobilität abgezogen um den Anteil reiner Austauschmobilität zu erhalten. Dieses Verfahren wurde wiederum von loglinearen Modellen abgelöst, die die relativen Mobilitätsra-
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als multikausalen Prozess beschreiben, der von einer Vielzahl von Variablen wie „Bildungspartizipation“, „familiärer Hintergrund“, „IQ“, „Fertilität“, „nichtkognitiven Werten“ und anderem beeinflusst wird. Das Meritokratiemodell würde den Faktoren „Bildungspartizipation“ und „IQ“ die höchsten Werte zuordnen und davon ausgehen, dass die Variable „familiärer Hintergrund“ sich kaum in den Klassendestinationen der Individuen wiederspiegelt (Blau/Duncan 1967, Jencks et al. 1973, Bowles/Gintis/Osborne 2001). Dann lassen sich die gemessenen Effekte der verschiedenen Variablen mit den im Meritokratiemodell vorausgesetzten vergleichen. Dies ist die Vorgehensweise der Statusattainmentforschung. Außerdem kann man dem Meritokratiemodell eine Beschreibung der Beiträge der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systeme entnehmen und diese Beschreibung mit den tatsächlichen Leistungen dieser Systeme vergleichen. In der Ungleichheitssoziologie sind hier allem die Erziehungssysteme der modernen Gesellschaft analysiert worden, aber man findet auch viel Literatur zu den Effekten von Arbeitsorganisationen, der verschiedenen Arbeitsmärkte oder den Staaten (Bourdieu/Passeron 1971, Bourdieu/Boltanski/Maldidier 1981, Bourdieu 2004, Hartmann 2002). Das Meritokratiemodell beruht letztlich auf der Vorstellung von der einheitlichen Rationalität des Statuszuweisungsprozesses. Diese These setzt mindestens voraus, dass es der modernen Gesellschaft gelingt die Familien vom Statuszuweisungsmodell abzukoppeln und das Erziehungssystem auf die effiziente Erfüllung der Leistungsanforderungen der rekrutierenden Funktionssysteme und Arbeitsorganisationen auszurichten. Die Ungleichheitssoziologie hat sich zunächst der Annahme von der Entkopplung der Familien vom Statuszuweisungsprozess angenommen und diese eindeutig widerlegt. Die Familie bietet je nach ihrem Schichtstatus den Kindern höchst unterschiedliche Startbedingungen in den Schulkarrieren und sie übt sogar einen direkten Effekt auf die Karriere in den Berufsrollen aus. Die Ungleichheitssoziologie konnte dabei nachweisen, dass der Schichtstatus der Familie sich durch sehr unterschiedliche Mechanismen auf die Schulkarrieren der Kinder auswirkt. Die Schulkarriere erzeugt immer auch ökonomische Kosten, seien es nur die Opportunitätskosten entgangener Lohnzahlungen bei langen Ausbildungszeiten (Goldthorpe/Breen 2000: 182ff.). Neben dem direkten Einfluss der Einkommensunterschiede der Familien, bieten die Familien aber auch je nach Schichtstatus höchst unterschiedliche Sozialisationsbedingungen, die sich ebenfalls im Schulerfolg niederschlagen. Der schichtspe-
tender verschiedenen Klassen berechnen (Goldthorpe et a. 1980: 90ff.). Heute sind zudem noch Ereignisanalysen dazugekommen (Mayer 1990: 12, Blossfeld 2006).
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zifische Familienhintergrund wird in den Bildungsaspirationen der Kinder (Sewell/Shah 1968: 191-209), der Einschätzung des Schwierigkeitsgrades verschiedener Bildungswege (Goldthorpe 2000: 251), in der Kontaktbereitschaft der Eltern mit den Lehrern und auf vielen anderen Ebenen sichtbar (Lareau 1987: 7385). Besonders deprimierend wirkte der Nachweis, dass der „Output“ der Schulen nur minimal von ihren internen Strukturen, wie der Qualität der Lehrer, der Finanzausstattung der Schulen oder der Lehrpläne abhängt, sondern vor allem eine Folge der Eigenschaften der Schüler ist, die diese bereits bei ihrer Einschulung aufweisen (Coleman 1990: 162, Jencks et al. 1973: 219ff.). Die Ungleichheitssoziologie hat allerdings auch die These der perfekten Integration des Erziehungssystems mit den Leistungsanforderungen der rekrutierenden Systeme untersucht. Die Ungleichheitssoziologie hat diese These unter anderem an drei aus dem Meritokratiemodell abgeleiteten Thesen untersucht: 1. wäre der Output des Erziehungssystems perfekt mit den Anforderungen der rekrutierenden Systeme gekoppelt, dann müssten Änderungen der Zahlen zertifizierter Schulabgänger, auf Änderungen in den Jobstrukturen der rekrutierenden Systeme zurückzuführen sein, 2. müsste man zeigen können, dass die Schulen effiziente Instrumente der Berufsqualifikation sind und 3. müssten die Unterschiede im Erfolg in der Schulkarriere eine zuverlässige Prognose des späteren Erfolgs in der Berufskarriere ermöglichen. Die Ungleichheitstheorie hat eine ganze Reihe an Befunden gegen jede dieser Thesen vorgelegt. So hat sich die ansteigende Zahl an höher qualifizierten Schulabgängern in den meisten Berufen Ende der sechziger Jahre nicht auf die Zunahme von Berufen mit komplexeren Arbeitsprogrammen oder einer Senkung der Berufe mit geringerer Qualifikation zurückführen lassen. Tatsächlich sind damals die Bildungsanforderungen in allen Berufen unabhängig von Änderungen im Komplexitätsgrad der Berufe gestiegen (Collins 1979: 12). Eine Reihe weiterer Befunde stellt die These in Frage, nach der die Schulen effiziente Institutionen zur Berufsqualifikation sind. Dazu passt eben nicht, dass die Schüler in der Schule vor allem für Prüfungen lernen und das Gelernte schnell wieder vergessen (ebd.: 18). Der zweite Einwand lässt sich aus der Erziehungssoziologie ableiten, die deutlich gezeigt hat, dass die Schulen über keine zuverlässigen Technologien des „People Processings“ verfügen (Luhmann/Schorr 1988: 115-226). Des Weiteren lässt sich der eigentliche Erziehungsprozess im Klassenzimmer kaum von außen beeinflussen (Jencks et al. 1973: 277). Die dritte These hat sich am widerständigsten erwiesen, da der Schulabschluss in der Regel einen größeren Anteil an der Varianz des erreichten Schichtstatus erklärt als beispielsweise der direkte Einfluss des Familienhintergrunds. Dennoch konnte die Forschung zeigen, dass beispielsweise die Note des Bildungsabschlusses so gut wie keinen Einfluss auf den erreichten Schichtstatus
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hat. Der Studienabschluss übt ohne Zweifel großen Einfluss auf die zukünftige Karriere aus, aber man fragt sich, ob gerade das Meritokratiemodell diesen Effekt gut erklären kann. So schlagen sich vor allem das erste und das letzte Jahr der Ausbildung im erreichten Schichtstatus nieder. Man muss eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, um von ihr profitieren zu können. Dass auch der Studienabbrecher in seiner nichtvollendeten Ausbildung etwas Berufsqualifizierendes gelernt haben könnte, scheint bei der Ersteinstellung nahezu irrelevant zu sein.
D IE N ÄHE DER UNGLEICHHEITSSOZIOLOGISCHEN M OBILITÄTSANALYSE ZUM M ERITOKRATIEMODELL Es ist erstaunlich, wie viel fruchtbare Forschung die Ungleichheitssoziologie aus der Auseinandersetzung mit einem einzigen Gegner gewonnen hat. Die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse ähnelt in dieser Hinsicht der Entwicklung in der Organisationssoziologie wie in der Wirtschaftssoziologie, die sich ebenfalls in ihrer Forschung vor allem einem prominenten Gegner widmen. Die Organisationssoziologie wendet sich gegen das Modell der zweckrationalen Organisation und die Wirtschaftssoziologie gegen die Marktmodelle aus den Wirtschaftswissenschaften. In diesen drei Disziplinen der Soziologie entwickeln sich disziplininterne Kontroversen vor allem an der Frage, worin der zentrale Fehler des disziplinkonstituierenden Gegners besteht und welches Alternativmodell wissenschaftlich angemessen ist. Vergleicht man diese drei Disziplinen, so fällt eine weitere mit diesem Ausgangspunkt verbundene Ähnlichkeit auf. Die Position des disziplinkonstitutierenden Gegners findet bald keine Vertreter mehr in der eigenen Spezialsoziologie, ja meistens kaum mehr im eigenen Fach. Wer sich in der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse für das Meritokratiemodell ausspricht, kann mit dem versammelten Widerstand seiner Kollegen rechnen. Zuletzt hat dies Peter Saunders versucht, der sich seitdem verbittert über Zensur in der eigenen Subdisziplin beschwert (Saunders 1996). Zwar sichert das Gegenden-Strom-Schwimmen Aufmerksamkeit, aber die Chancen damit auf Konsens zu stoßen gehen gegen Null. Der problemkonstituierende Gegner nimmt deshalb mehr und mehr die Züge eines dankbaren Pappkameraden an, von dem kein Widerstand mehr zu erwarten ist. Mit dieser Entwicklung sind aber auch immer spezifische Risiken verbunden, die auch in der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse zu Tage treten. Zwar lassen die gesammelten empirischen Befunde keinen Zweifel daran, dass das Meritokratiemodell keine zutreffende Beschreibung der modernen Ge-
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sellschaft liefert, aber auf der Ebene der einzelnen Publikationen haben sich viele kleine Ungenauigkeiten eingeschlichen, die dem Meritokratiemodell mehr Schlupflöcher lassen als einer soziologischen Subdisziplin lieb sein kann, die sich seit über sechzig Jahren mit demselben Gegner herumschlägt. Teilweise wird ein zu einfaches Bild des Gegners gezeichnet, das sich leicht widerlegen lässt. So hat Randall Collins das Meritokratiemodell auf die These der Technikdeterminierung des Statuszuweisungsprozess verkürzt, die er dann in der „Credential Society“ genüsslich widerlegt (Collins 1979: 1ff.). Doch die Humankapitaltheorie, die Randall Collins besonders als Gegner ins Auge gefasst hat, bezieht sich auf alle für ein Unternehmen förderliche Kenntnisse und Fähigkeiten und nicht nur auf die, die im technischen „Kern“ des Unternehmens benötigt werden und deshalb eng mit der in einer Branche dominanten Technologie zusammenhängen. Georg Simmel hat außerdem herausgestellt, dass die Beziehung zum Gegner in einem Konflikt eine äußerst intensive Form sozialer Wechselwirkung darstellt, die beiden Seiten entscheidend prägt (Simmel 1992: 284ff.). Der Konflikt erzeugt neue Motive und Emotionen, er stützt Identitäten, aber er schafft auch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Dies gilt insbesondere für die stark reglementierten Sachkonflikte in der Wissenschaft. Dabei sei nicht nur an die allgemeinen Programme der Wissenschaftstheorie gedacht, die einer konkreten wissenschaftlichen Kontroverse oft weniger Halt geben als offiziell zugestanden wird, sondern auch daran, dass die Kritik einer wissenschaftlichen Theorie, will sie als anschlussfähig durchgehen, sich auf gemeinsames Territorium mit der kritisierten Theorie einlassen muss. Will man verhindern, dass der wissenschaftliche Gegner sich gegen die aus seiner Sicht unmaßgebliche Kritik immunisiert, dann muss der Gegner auf dem eigenen Territorium geschlagen werden. Die auffallendste Annäherung der ungleichheitstheoretischen Mobilitätssoziologie an das Meritokratiemodell findet sich in der Interpretation des Konzepts „Chancengleichheit“. Die Vertreter des Meritokratiemodells waren davon ausgegangen, dass die einheitliche Rationalität des Statuszuweisungsprozesses ein wichtiges Kennzeichen fortgeschrittener Gesellschaften sei. Die wirtschaftliche und militärische Konkurrenz der Nationalstaaten erzwinge eine Neutralisierung aller partikularistischen Kräfte, die diese Ordnung zu unterlaufen versuchten. Die Vertreter des Meritokratiemodells gehen dabei davon aus, dass die meritokratische Ordnung eine der wenigen Verteilungsstrukturen ist, die einerseits das reibungslose Funktionieren der modernen Gesellschaft gewährleisten und andererseits nach modernen Maßstäben als legitim behandelt werden können. Da die meisten Vertreter des Meritokratiemodells dieses gesellschaftliche Arrangement vor allem seiner vermeintlichen industriellen Effizienz wegen propagiert haben,
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findet sich in dieser Literatur aber kaum ein Hinweis darauf, dass man es für das einzig Legitime gehalten hat. Die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse tendiert aber in weiten Teilen zu genau dieser Zuspitzung, indem sie alle Abweichungen vom Meritokratiemodell als illegitim und politisch kompensationsbedürftig behandelt. Die Ungleichheitssoziologie übernimmt das Meritokratiemodell also einerseits als methodisches Instrument um die gesellschaftlich relevanten Ungleichheiten im Statuszuweisungsprozess sichtbar zu machen und andererseits übernimmt sie das Meritokratiemodell als normativen Maßstab, anhand dessen sich legitime und illegitime Ungleichheiten identifizieren lassen. In gewisser Hinsicht sind deshalb die meisten Vertreter der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse auch Vertreter des Meritokratiemodells12. Die Ungleichheitssoziologie kehrt dabei
12 „The nature of this attack was than in itself such as to lead British socialists to place a positive value on ‚real‘ equality of opportunity and social openness, in contrast with the liberal effective disregard. In this, as in other respects, it could become the socialists claim that it was they who were the true custodians of the liberal principles, which were far to important to be left to the to the liberals themselves“ (Goldthorpe et al. 1980: 21). Goldthorpe et al. bemühen sich in der Einleitung zu „Social Mobility and Class Structure in Modern Britain“ die Mobilitätsanalyse gegen marxistische Kritiker wie Nicos Poulantzas (Poulantzas 1974: 37) in Sicherheit zu bringen, die die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse selbst für eine bürgerliche Ideologie gehalten haben. Aus marxistischer Perspektive ändert sich an der Grundstruktur des Kapitalismus auch dann nichts, wenn die Positionen für Kapitalisten und Arbeiter in jeder Generation umbesetzt werden, solange es Positionen für Kapitalisten und Positionen für Arbeiter gibt. Goldthorpe et al. versuchen diese Kritik dadurch zu entschärfen, indem sie einerseits nachzuweisen versuchen, dass sich Marx selbst für das Phänomen sozialer Mobilität interessiert habe. Dabei fällt aber auf, dass die Autoren selbst kein marxistisches Interesse an Mobilitätsanalysen haben (nach Marx führte die Offenheit der Schichtungsstrukturen in Amerika dazu, dass dort keine Arbeiterklasse entstanden sei). Goldthorpe hat sich nach dem „Affluent Worker“ von 1968 nicht mehr für Fragen des Klassenbewusstseins interessiert. Deshalb rekonstruieren sie danach die Tradition der angelsächsischen Sozialisten (Fabian Society), um zu zeigen, dass nicht nur Liberale sich für das Prinzip der Chancengleichheit erwärmen können, sondern auch Sozialisten. Sie sparen dabei aber interessanter Weise das Detail aus, dass die Vertreter der Fabian Society zum großen Teil aggressive Vertreter des Modells der Intelligenzklasse gewesen sind. Nicht untypisch ist hier die harte Haltung von H.G. Wells, die Sören Niemann-Findeisen folgendermaßen beschreibt: „Neben den problemati-
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aber die Beweislast um, und tendiert dazu, alle Abweichungen von der Meritokratie als Beleg dafür zu halten, dass partikularistische Interessengruppen oder pure Verteilungsungleichheiten den Statuszuweisungsprozess immer noch erheblich beeinflussen. Meistens wird dies in die Formel gegossen, dass man das Konzept der „equality of opportunity“ nicht vom Prinzip der „equality of condition“ trennen dürfe (Goldthorpe et al. 1980: 22). So verstehen sich viele Vertreter der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse wie Goldthorpe als die besseren und ehrlicheren Anhänger der Meritokratie, die die bestehenden Differenzen nicht einfach unter den Tisch kehren, sondern auf die politischen Maßnahmen drängen, die erst zur Realisierung des Ideals der Chancengleichheit führen würden. Wer allerdings das Meritokratiemodell als normativen Maßstab akzeptiert, der muss auch prinzipiell von der Realisierbarkeit der Meritokratie ausgehen, will er sich nicht den Vorwurf einhandeln, komplett utopische Forderungen zu stellen. Doch man fragt sich, wie das möglich sein soll, wenn doch dieselbe Forschungstradition überzeugende Belege dafür geliefert hat, dass der Statuszuweisungsprozess an allen Phasen vom Meritokratiemodell abweicht und das an den meisten Stellen diese Abweichungen über sehr unterschiedliche Mechanismen vermittelt sind. Woher nimmt die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse ihren Optimismus, dass sich das Meritokratiemodell verwirklichen lässt? Eine Strategie scheint darin zu bestehen, einer Phase im Statuszuweisungsprozess eine dominante Bedeutung bei der Reproduktion der Mobilitätsbarrieren einzuräumen, an der dann politische Reformen ansetzen sollen. So machen die neueren Vertreter der Humankapitaltheorie die Finanzmärkte für die Reproduktion sozialer Schichtung verantwortlich, die nicht zureichend Kredite für Humankapitalinvestitionen zur Verfügung stellen sollen, da hier belastbare Kreditsicherheiten fehlten (Checchi 2007). Michael Hartmann (Hartmann 1996) unterstellt in seinem Buch „Mythos der Leistungseliten“, dass zumindest in Ländern ohne Eliteerziehungssegment eine ausschließliche Orientierung an Bildungszertifikaten bei der Rekrutierung für Elitepositionen meritokratische Verhältnisse gewährleisten würden, ohne zu erklären, weshalb es rational sein soll, wenn Spitzenmanager und Spitzenpolitiker nebenher zur Anfertigung von Doktorarbeiten gezwungen werden. Am meisten Aufwand betreibt John Goldthorpe, der vehement dafür kämpft, dass eine entschlossene progressive Besteuerung die
schen Bevölkerungsteilen ‚der weissen und gelben Zivilisationen‘ hätte sich nämlich ‚ein großer Teil der schwarzen und brauen Rassen‘ die Frage zu stellen, was man mit ihnen, ‚die nicht Schritt halten können‘, tun werde.“ (Niemann-Findeisen 2004: 58).
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moderne Gesellschaft dem Ziel offener Schichtungsstrukturen entscheidend näher bringen würde, weil sich auf diese Weise die in seinen Augen entscheidende Mobilitätsbarriere zur Dienstklasse abbauen ließe (Goldthorpe 2000: 254). Goldthorpe konzentriert seine Analyse auf sekundäre, einkommensabhängige Mobilitätsbarrieren im Erziehungssystem. Er räumt dabei zwar schichtabhängige Verzerrungen an anderen Phasen des Statuszuweisungsprozess ein und verweist auch auf andere Mechanismen, die Mobilitätsbarrieren im Erziehungssystem erzeugen, aber er versucht zu zeigen, dass sie statistisch weniger bedeutsam sind. Diese Strategie führt aber dazu, dass seine Beschreibung des Verhältnisses des Erziehungssystems zu den rekrutierenden Arbeitsorganisationen aber auch seine Beschreibung der Karrieren in den Arbeitsorganisationen sich von den Vorlagen des Meritokratiemodells kaum noch unterscheiden lassen (Goldthorpe 2000: 206-229). Würde Goldthorpe schichtabgängige Einflüsse an allen Phasen des Statuszuweisungsprozesses einräumen, dann würde es sehr viel schwerer fallen, eindeutige Interventionsmaßnahmen vorzuschlagen. In den Textpassagen, in denen Goldthorpe eine systematische Beschreibung des Statuszuweisungsprozesses in der modernen Gesellschaft liefert, verwendet er deshalb für die Beschreibung des Verhältnisses des Erziehungssystems zu den rekrutierenden Arbeitsorganisationen und der Karrieren in den Arbeitsorganisationen die rationalistischen Modelle der Wirtschaftswissenschaften, die eins zu eins mit dem Meritokratiemodell übereinstimmen. Interessanter Weise scheint es gerade die anhaltende Auseinandersetzung mit dem disziplinkonstituierenden Gegner zu sein, die dazu geführt hat, das die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse nicht vollständig mit den Plausibilitäten des Meritokratiemodells brechen kann. In der Gegenwart hat vor allem Adam Swift (2004: 1-11) die unreflektierte Anlehnung der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse an das Meritokratiemodell kritisiert. Swift vereint dabei eine seltene Kombination aus gerechtigkeitsphilosophischem Scharfsinn und ungleichheitssoziologischer Detailkenntnis. Swift stellt fest, dass eine große forschungspraktische Lücke zwischen den Routinen der empirischen Mobilitätsanalyse und den damit verbundenen moralischen und politischen Urteilen klafft. Die Statistik der ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse liefere zunächst nur den Beleg, dass die Wahrscheinlichkeiten in die Oberschicht aufzusteigen mit der Schichtherkunft korrelieren. Damit sei aber noch nicht bewiesen, dass diese unterschiedlich großen Aufstiegswahrscheinlichkeiten das Ergebnis ungleicher Startbedingungen sind. Schließlich könne es auch sein, dass viele Individuen sich gar nicht darum bemüht haben in die Oberschicht aufzusteigen. Die Analyse bleibe deshalb unvollständig, wenn sie nicht die Präferenzen der Individuen miterfasse. Tatsächlich korreliert die Höhe der Statusambitionen aber erheblich mit
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der Schichtherkunft. Dieser Befund dürfe aber wiederum nicht einfach als Bestätigung des Meritokratiemodells gelesen werden als ob die Unterschicht nur deshalb seltener in die Oberschicht aufsteige, weil sie freiwillig darauf verzichtet habe , da die ungleichen Startbedingungen auf die Präferenzen zurückwirken können. Dieser Effekt wird von Jon Elster als „Saure-Trauben-Effekt“ bezeichnet (Elster 1983: 25). Die schichtabhängig unterschiedlich großen Aufstiegspräferenzen spiegeln nach dieser Theorie dann lediglich die je nach Schichtherkunft unterschiedlichen „opportunity sets“ der Individuen wieder. Gerade Pierre Bourdieu spricht dem Phänomen adaptiver Präferenzen eine sehr große Bedeutung bei der Reproduktion von Mobilitätsbarrieren zu13. Es finden sich aber eben auch, wie Swift überzeugend demonstriert, soziologisch völlig „unverdächtige“ Präferenzen sich gegen den gesellschaftlichen Aufstieg zu entscheiden, die deutlich machen, dass man das Konzept der adaptiven Präferenzen schnell übergeneralisieren kann. „Even if we assume that sociologists correctly rank occupations – in terms of the objective levels of wellbeing typically enjoyed by those who occupy them – we still have to allow that some people may, nonadaptively, prefer ‚worse‘ positions to ‚better‘ ones. It is hard to believe that all the sons of farmers who go into farming do so, only because they rate their chances of doing anything else. It is not necessarily irrational to prefer manual work, and the workplace culture that goes with it, to a job pushing bits of paper round the office. Some people may prefer to stay in the region where they grew up, close to friends and relatives, forsaking the higher objective rewards that would accrue to them if they were willing to move“ (Swift 2004: 9).
13 Bourdieu charakterisiert den Habitus der Arbeiterklasse folgendermaßen: „Die Anpassung an eine Stellung, in der man unterdrückt ist, impliziert ein Akzeptieren dieser Unterdrückung. Selbst politischer Mobilisierung gelingt es kaum, die unvermeidliche Abhängigkeit der Selbsteinschätzung von den Indizien gesellschaftlichen Werts völlig auszugleichen, die im beruflichen Status und im Lohn bestehen, und die ihrerseits von vornherein von den Bedingungen des Bildungsmarktes legitimiert sind. Leicht liessen sich die Merkmale des Lebensstils der unterdrückten Klassen aufzählen, denen ein Gefühl von Inkompetenz, Scheitern und kultureller Unwürdigkeit anhaftet, und die damit eine Anerkennung der herrschenden Werte einschließen“ (Bourdieu 1987: 602). Nach Bourdieu tendieren die unterdrückten Klassen dazu an die eigene Inferiorität zu glauben, um sich vor Ambitionen zu schützen, die doch wahrscheinlich enttäuscht werden. Man gibt vor, gut auf das verzichten zu können, von dem man sowieso ausgeschlossen ist.
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Dieses längere Zitat soll deutlich machen, wie schwierig es ist, zwischen gesellschaftlich legitimen und gesellschaftlich illegitimen Ungleichheiten zu unterscheiden. Dass die gemessenen Mobilitätspfade der Individuen nicht dem Meritokratiemodell entsprechen, belegt an sich noch nicht, dass die gesellschaftlichen Ungleichverteilungen von Einkommen und Bildung das Prinzip der Chancengleichheit unterminiert haben. Nicht alle Abweichungen von der Meritokratie belegen den bleibenden Einfluss partikularistischer Interessengruppen oder purer Verteilungsungleichheiten. Swift hat einen weiteren Mechanismus der Reproduktion schichtabhängiger Mobilitätsbarrieren herausgearbeitet, der ebenfalls als moralisch ambivalent betrachtet werden muss. Es handelt sich hierbei um das Phänomen der legitimen elterlichen Parteilichkeit. Swift entwirft hier das utopische Bild einer Gesellschaft, die alle elterlichen Interventionen zugunsten der Zukunft ihrer Kinder ausschaltet, die das Prinzip der „legitimate parental partiality“ übersteigen. Es gibt keine Privatschulen mehr, keine Möglichkeit Vermögen zu vererben und der Staat schöpft alle Mittel aus, um die Nachteile, die mit einer niedrigen Schichtherkunft einhergehen zu kompensieren. Die Schichtdifferenzen zwischen den Familien würden nach Swift auch in dieser Gesellschaft zur Reproduktion sozialer Ungleichheit über die Generationen hinweg führen. „Still, familial interactions of the kind that even egalitarians want to permit as legitimate would tend to produce unequal outcomes. And it is relatively advantaged parents who will tend to transmit, through those interactions, attributes likely to make their children relatively advantaged – whether those attribute be intellectual curiosity, nice social skills, a sense of discipline, or the right stuff genetically speaking.“ (Ebd.: 9)
Die wenigsten Menschen würden in einer Gesellschaft leben wollen, die den Kontakt zwischen Eltern und Kindern soweit einschränkt, dass Übertragungen dieser Art ausgeschlossen sind. Man sieht, die Vertreter des Meritokratiemodells sind zu Unrecht davon ausgegangen, dass die moderne Gesellschaft früher oder später perfekte Chancengleichheit hervorbringen würde. Die Ungleichheitssoziologie wiederum geht in die Irre, wenn sie routinemäßig alle empirisch feststellbaren Abweichungen als illegitim und politisch kompensationsbedürftig begreift, da selbst nach der Beseitigung aller moralisch eindeutig illegitimen Aufstiegshindernisse wahrscheinlich immer noch erhebliche Unterschiede in den schichtspezifischen Mobilitätsraten feststellbar wären, die unter anderem auf unverdächtige nichtadaptive Präferenzen der Individuen gegen sozialen Aufstieg oder auf die Familien selbst zurückzuführen wären.
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Dieselbe Fragestellung – wie groß wäre die Durchlässigkeit der Schichtungsstrukturen in einer perfekt meritokratischen Gesellschaft – hat Christopher Jencks in zwei großen Forschungsprojekten „Chancengleichheit“ von 1971 (Jencks et al. 1971) und „Who gets ahead“, von 1979 untersucht (Jencks et al. 1979). Jencks hat gerade in „Chancengleichheit“ statistisch sichtbar zu machen versucht, wie viel mehr an Chancengleichheit in Amerika durch eine Angleichung der Schulqualität, die Durchmischung der Peergroups in der Schule, unterschiedliche Selektionstechniken im Erziehungssystem oder gar durch die komplette Neutralisierung von Schichtherkunft und Rasse zu erwarten wäre. Auch in „Chancengleichheit“ stellen die Schule und der demographische Familienhintergrund die stärksten Einflussfaktoren dar, die deutlich wichtiger sind als Faktoren wie die Intelligenz, die Gene oder nichtkognitive arbeitsmarktrelevante Werte. Jencks und seine Mitarbeiter haben untersucht wie groß die Varianz des Schichtstatus ausfällt, wenn man Personen mit demselben Bildungsgrad, demselben Familienhintergrund oder demselben IQ vergleicht. Die Variable „Familienhintergrund“ erklärte danach 32% der Varianz des Berufsstatus und die Variable „Bildung“ 42%. Die Kombination aller statistisch relevanten Faktoren erklärte gerade einmal etwas mehr als die Hälfte der Varianz des Berufsstatus und etwas mehr als ein Drittel der Varianz des Einkommens. Die statistisch erwartete Statusdifferenz von Brüdern, die in derselben Familie aufgewachsen sind, lag bei 82% der erwarteten Statusdifferenz nicht verwandter Individuen. Das erstaunliche an diesen Befunden ist, dass man aufgrund der erhaltenen Schulbildung oder des Familienhintergrunds kaum vorhersagen konnte, welchen Beruf ein Individuum ausüben und noch viel weniger welches Einkommen es erhalten wird. Selbst Brüder, die in derselben Familie aufgewachsen waren, unterschieden sich später im Berufsstatus fast so stark voneinander wie die Individuen in der Grundgesamtheit der Befragten. Jencks und seine Mitarbeiter zeichnen ein Bild des Statuszuweisungsprozesses, das sich vom Meritokratiemodell ebenso unterscheidet wie von der herkömmlichen Ungleichheitssoziologie. Das Meritokratiemodell zeichne das falsche Bild der Schule als Fabrik, die mit dem Input, Lehrer, Schüler, Lehrmaterialien und Curricula genau den von den rekrutierenden Arbeitsorganisationen nachgefragten Output an spezifisch für ihre neuen Aufgaben ausgebildeter Absolventen produziert. Man müsse sich stattdessen die Schulen als völlige absurde Fabriken vorstellen, die nicht in der Lage sind, dem Input der Schüler Entscheidendes hinzu zufügen. Intelligenz sei wiederum lediglich hilfreich um einen prestigereichen Beruf zu erlangen aber keineswegs notwendig, noch loser sei der Einfluss aufs Einkommen. Noch viel weniger spreche für eine genetische Determinierung des ganzen Prozesses. Einiges deute aber daraufhin, dass die Ar-
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beitgeber Bildungszertifikate lediglich als Rationierungsinstrument verwenden würden, durch das sich die Kandidaten um neue Stellen sichten lassen und durch das sich die scharfe Konkurrenz um Beförderungen eindämmen ließe. Diese Funktion würden aber auch Bildungszertifikate erfüllen, die überhaupt nicht auf das Berufsleben vorbereiten, solange sie nur knapp sind. Der schichtspezifische Familienhintergrund beeinflusse die Lebenschancen vor allem über den Einfluss auf den Erfolg in den Bildungskarrieren, da die Schulen sich als unfähig erwiesen haben, durch kompensatorische Erziehung schichtspezifische Nachteile rückgängig zu machen. Der Einfluss des schichtspezifischen Familienhintergrunds relativiere sich dann vor allem dadurch, dass die Kopplung von Bildungszertifikaten, Berufsstatus und Einkommen schwächer als erwartet ausfalle. Der Familienhintergrund wirkt vor allem auf die Chancen bei der Bildungspartizipation, aber danach versickert einen Teil dieses Einflusses wieder. Der Berufserfolg der Individuen lässt sich nach dieser Darstellung bestenfalls zu einem kleinen Anteil auf die Fähigkeiten und Talente des Einzelnen zurückführen, aber er wird auch nur teilweise durch die Schichtherkunft bestimmt. Jencks Daten lassen sich eben gar nicht in Bezug auf die forcierte Alternative Meritokratie versus Schichtherkunft interpretieren. In „Chancengleichheit“ hat Christopher Jencks eine äußerst kontrovers diskutierte These aufgestellt, wie sich der große Bereich der nicht erklärten Varianz von Schichtstatus und Einkommen erklären lassen könnte: Nach Jencks könnte fast alles ein Frage von Glück und Zufall sein. Leider führt er diese These kaum aus, es genügen ihm ein Paar illustrativer Beispiele für biographische Katastrophen wie Unternehmensinsolvenzen und dadurch ausgelöste Arbeitslosigkeit, Unfälle und Ähnliches, die Berufskarrieren entscheidend prägen können. In einem 1990 publizierten Artikel führt Jencks (1990: 123) noch das Argument an, dass die berufliche Konkurrenz nicht nur durch die Kompetenz der Konkurrenten entschieden werde, sondern auch für den kompetentesten Teilnehmer noch unkalkulierbare Risiken mit sich bringe wie unerwartete Nachfrageschwankungen, wirtschaftliche Rezessionen oder neue technische Entwicklungen. Wenn aber das Glück eine große Rolle spielt, dass die an sich in ihren arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften identischen Arbeitnehmer immer wieder ungleich werden lassen kann, und wenn selbst die stärksten ungleichheitserzeugenden Faktoren wie Schulbildung nicht mehr als 12 % der Varianz des Einkommens erklären, welche Chancen bieten sich dann noch für politische Interventionen? Die Vielzahl partieller politischer Maßnahmen, die in der Vergangenheit angewandt worden seien, um die Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess zu vergrößern, wie kompensatorischer Unterricht, Busing oder anderes, hätten kaum einen Einfluss auf die Chancengleichheit der Individuen ausgeübt. Sie haben deshalb
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einen Paradigmenwechsel in der Wohlfahrtsstaatspolitik angeregt. Man solle in die Schulen investieren, um diese zu angenehmeren Orten zu machen, da die Kinder und Jugendlichen einen Großteil ihrer Lebenszeit in diesen Institutionen verbringen. Wolle man aber die Einkommensungleichheiten unter den Amerikanern verkleinern, dann solle man eben Einkommen umverteilen. Besonders dieser Teil von „Chancengleichheit“ hat erhebliche Kritik hervorgerufen. So hat Arthur Stinchcombe kritisiert, dass das grundlegende Verfahren, die einzelnen gemessenen Variablen mit dem Ausmaß an nicht erklärter Varianz zu vergleichen, zu einer systematischen Überschätzung der unbekannten Faktoren (hier vor allem Glück) führe. „However most of the slippage between high school preparation and college attendance is explained by sex and social backround. That is, student who do not go on are largely working class, or women, and those who do go on are largely from richer families, and men“ (Stinchcompe 1972: 604).
Das Glück vergrößere eher die ursprünglich schwachen Effekte der Kindergärten oder der Schulen, so dass spätere Interventionen an einzelnen Stellen kaum mehr vielversprechend seien. Jencks und seine Mitarbeiter haben einige dieser Kritikpunkte in der Folgestudie „Who gets ahead?“ berücksichtigt. In dieser Studie geben sie den Einfluss von „Schooling“ mit 55% an und den Faktor „demographischer Familienhintergrund“ mit 48%. Aber auch wenn die erwartete Statusdifferenz zwischen Brüdern nun nur noch 72% der erwarteten Statusdifferenz nichtverwandter Individuen umfasst, halten sie doch die wichtigsten Schlussfolgerungen aus „Chancengleichheit“ aufrecht, auch wenn sie nun darauf verzichten den Bereich der nichterklärbaren Varianz mit dem Faktor Glück gleichzusetzen. In einem Text von 2006 räumt Jencks (Jencks/Tach 2006: 45ff.) politischen Maßnahmen, die einkommensabhängige Mobilitätsbarrieren im Erziehungssystem abbauen, etwas höhere Erfolgswahrscheinlichkeiten einen messbaren Effekt erzeugen zu können ein. Die zentralen Befunde von Jencks et al. sind 2001 von Bowles, Gintis and Osborne bestätigt worden.14 Allerdings warnen sie davor,
14 „First apparently similar individuals receive quite different earnings: a persons age, years of schooling, years of labor market experience, parents level of education, occupation and income tell us surprisingly little about the individual`s earnings. In standard earnings equations for individuals of the same race and sex in the United States, between two thirds and four fifths of the variance of the natural logarithm of the hourly wages or of annual earnings is unexplained by the above variables“ (Bowles/
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deshalb die Bedeutung von Variablen, wie Intelligenz oder Schulerziehung zu unterschätzen, nur weil diese den Statuszuweisungsprozess nicht im Sinne des Meritokratiemodells beeinflussen. Man müsse damit rechnen, dass diese Variablen ihre kausale Bedeutung auf ganz andere Art und Weise erfüllen könnten.15 Doch die Kritiker haben noch grundlegendere Mängel an der Studie von Jencks festgestellt, die für die Argumentation dieses Textes von größerer Relevanz sind. Halsey hebt hervor, es sei zwar statistisch bequem, davon auszugehen, man könne die Auswirkung der Änderungen einzelner Variablen wie „Schooling“ je für sich abschätzen, ohne zu berücksichtigen, in welchem Verhältnis diese eine Variable zu den anderen Variablen in einem multikausalen System stehe, soziologisch sei diese Vorgehensweise aber wenig valide (Halsey 1982: 965). Mark Granovetter hat diese Kritik in einen größeren Rahmen gestellt, indem er kritisiert, dass eine statistische Analyse, die den Statuszuweisungsprozess einzig und allein über die Merkmale der Individuen zu erfassen versuche, notwendigerweise die Bedeutung sozialstruktureller Faktoren ausblende. Er denkt dabei beispielsweise an die Netzwerke, in die die Individuen eingebettet seien, die Unternehmensgrößen, das Vorhandensein alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten und vieles andere (Granovetter 1982: 260). Jencks begehe den Fehler, den auch schon die klassische Arbeitsmarktökonomie begangen habe, nur die Nachfrageseite des Arbeitsmarktes zu untersuchen und die Angebotsseite auszublenden. Man muss an dieser Stelle aber festhalten, dass dies auch für den Großteil der klassischen ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse gilt, die die Mobilitätsprozess ebenfalls anhand der Merkmale der Individuen wie ihrer schichtspezifischen Herkunft oder ihres Berufsstatus untersucht hat.
Gintis/Osborne 2001: 1137). Sicher erfassen diese Variablen nur einen Teil der Effekte des schichtspezifischen Familienhintergrunds und dennoch fällt der Zusammenhang erstaunlich niedrig aus. 15 Bowles, Gintis and Osborne gehen beispielsweise davon aus, dass die Karrieren im Erziehungssystem als nichtintendierten Effekt Persönlichkeitsmerkmale stärken (incentive-enhancing-preferences), die die Absolventen besonders geeignet für die Rolle des Mitglieds in einer Arbeitsorganisation machen. Außerdem sorge die von Schumpeter treffend beschriebene zerstörerische Kreativität des modernen Kapitalismus dafür, dass Unternehmergewinne heute vor allem als „disequilibrium rents“ anfielen: Intelligenz sei aber eine zentrale Eigenschaft, die darüber entscheide, ob ein Individuum in der Lage sei aus der Unvorhersehbarkeit, Unballanciertheit und man könnte auch sagen Zufälligkeit der modernen Märkte Kapital zu schlagen (ebd: 1142)
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Will man die Nachfrageseite, aber in den Blick bekommen, dann kommt man nicht umhin, die Stellenstruktur der Arbeitsorganisationen und damit die organisationsinternen Karrierewege zu analysieren. Gerade die herkömmliche Mobilitätsanalyse, die vor allem die Korrelation des Bildungsabschlusses oder des Berufsstatus der Eltern mit dem Bildungsabschluss und dem Berufsstatus des untersuchten Individuums beobachtet, hat die organisationsinternen Karrierestrukturen mehr oder minder ausgeblendet (Abbott 2006: 145). Die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse behandelt die intragenerationalen Mobilitätsprozesse weitestgehend als Black Box. Meist wird zwar auch hier sowohl die Ersteinstellung wie der Berufsstatus zu einem späteren Zeitpunkt erhoben, aber alles was sich dazwischen und danach in der Berufskarriere der Individuen ereignet, bleibt im Dunklen. An dieser Stelle haben dann im Anschluss an Harrison Whites Modell der „Vacancy Chains“ eine große Zahl von Untersuchungen angesetzt, die beispielsweise die Bedeutung organisationsinterner Arbeitsmärkte herausgearbeitet haben (White 1970, Sorensen 1977: 965-978). Die Stellenstruktur der Arbeitsorganisationen darf aber nicht als änderungsresistente Konstante behandelt werden. Sie ist das Ergebnis eines organisationsinternen Entscheidungsprozesses in einer bestimmten Umwelt. Änderungen der Stellenstruktur können aufgrund interner und externer Anlässe in Gang kommen. Sie können das Resultat interner Konflikte, aber auch das Ergebnis sich ändernder Resourcenabhängigkeiten der Organisation oder sich wandelnder Anforderungen durch relevante Umweltsegmente sein. Für die Mobilitätsanalyse sind vor allem durch Änderungen in der Umwelt hervorgerufene Änderungen in der Stellenstruktur vieler Arbeitsorganisationen relevant. Hier kommen auch die verschiedenen Funktionssysteme wie die Wirtschaft, die Politik, das Recht oder das Erziehungssystem ins Spiel. Einerseits hat jedes dieser Systeme eigene Typen von Berufskarrieren hervorgebracht, da die systemspezifischen Arbeitsorganisationen sich in ihrer Stellenstruktur und ihren Karrieremechanismen deutlich unterscheiden, andererseits sind einige dieser Funktionssysteme wie das Erziehungssystem, das Wirtschaftssystem oder der Staat direkt am Statuszuweisungsprozess beteiligt und bilden einen wichtigen Teil der Umwelt der Arbeitsorganisationen, die sich in den Personalentscheidungen der Organisationen niederschlagen. Mit den Marktzyklen der Wirtschaft variiert das Kapital, das der Staat verwenden kann, um Arbeitsorganisationen im Erziehungssystem oder im Medizinsystem zu gründen oder zu vergrößern oder die eigenen Verwaltungen aus oder abzubauen. Wie der Staat sein über Steuern erhobenes Budget dabei einsetzt, hängt von den internen Prozessen des politischen Systems, den Programmen politischer Parteien, der Polarisierung des Parteiensystems und damit vom Ergebnis von Wahlen ab. Das Erziehungssystem übt wiederum einen direkten
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Einfluss auf die arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften der Erwerbsbevölkerung aus, unter denen die Arbeitsorganisationen ihre Mitglieder aussuchen können. Die ungleichheitssoziologische Lebenslaufforschung (Kohli 2002, Mayer 2004, Blossfeld 2006) hat immerhin erkannt, dass man die Mobilitätsanalyse nicht einfach auf die Analyse weniger willkürlich bestimmter Zeitpunkte wie dem Berufsteinstieg oder der berufliche Maturität beschränken darf. Sie scheint sich allerdings wenig für die Heterogenität der Berufskarrieren in den verschiedenen Funktionssystemen zu interessieren. Eine Reihe neuerer Publikationen zeigt dabei wie groß allein die Diversität systemspezifischer Karrieremechanismen ist. Hervorzuheben wäre hier der von Ronald Breiger 1990 herausgegebene Band „Social mobility and social structure“, der sich in verschiedenen Artikeln mit den Karrieren an Schulen, im amerikanischen Kongress (Padget), in der Psychiatrie (Abbott) oder in der Gastronomie (Brittain and Holey) beschäftigt. Die Autoren untersuchen die jeweils spezifischen Karrierewege, Rekrutierungspraktiken, oder Arbeitsverträge in den verschiedenen sozialen Kontexten. Diese Untersuchungen machen deutlich, dass eine ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse, die sich nur auf den Grad der Übereinstimmung des Berufsstatus oder der Klassenposition zwischen zwei Generationen konzentriert, zentrale Bedingungen von Mobilitätsprozessen ausblendet. Man kann allerdings einwenden, dass sich die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse eben vorrangig für die soziale Erblichkeit von Schichtpositionen interessiert und nicht für die Karrieren in den Funktionssystemen und Arbeitsorganisationen. Das Argument lässt sich natürlich sogar umkehren, dass die Organisationsforschung ihrerseits oft die Bedeutung der Schichtherkunft für die Bedeutung der Karrieren der Individuen übersehen habe. Dem lässt sich einerseits entgegenhalten, dass sich das Meritokratiemodell nicht nur aus ungleichheitssoziologischer Perspektive kritisieren lässt. Gerade die organisationssoziologische Forschung zum Statuszuweisungsprozess macht deutlich, dass in den Arbeitsorganisationen der Funktionssysteme auch nach einer hypothetischen Neutralisierung der Schichtherkunft der Mitglieder keine meritokratischen Verhältnisse herrschen werden. Beschließt der Staat beispielsweise das Feld der Psychiatrie durch den Ausbau der Kapazitäten der bestehenden Einrichtungen auszubauen und nicht durch die Gründung neuer Kliniken, dann vermehren sich die Assistenzstellen gegenüber den Leitungspositionen. Andrew Abbott hat statistisch nachgewiesen, dass 1870 noch alle Assistenten mit einer Beförderung auf eine Leitungsposition rechnen konnten, 1890 sind es nur noch die Hälfte der Assistenten befördert worden und kurz darauf nur noch ein Viertel (Abbott 1990: 97). Die Stelle des „assistant“ hat in dieser Zeit eine doppelte Bedeutung erhalten. Für ein Viertel („Mover“) handelt es sich um eine Qualifikati-
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onsstelle und für den Rest um eine Sackgasse („Stayer“). Dieser radikale Rückgang in den Beförderungschancen wurde allein durch eine Änderung der Stellenstruktur psychiatrischer Kliniken und nicht durch die geringeren Leistungen der Assistenten und auch nicht durch schichtabhängige Einflüsse verursacht. Die Ungleichheitssoziologie verbaut sich diesen Weg das Meritokratiemodell zu widerlegen und übersieht dabei, dass viele Abweichungen vom Meritokratiemodell auf moralisch ziemlich unverdächtigen Mechanismen beruhen. Andererseits sollte man die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Änderungen der Stellenstruktur auch schichtabhängige Einflüsse brechen und kanalisieren können. So scheint es nicht unwahrscheinlich, dass sich die gesunkenen Beförderungschancen der Assistenten sich auch auf die Mobilitätschancen ihrer Kinder ausgewirkt haben. Die Ungleichheitssoziologie müsste sich dann nicht zuletzt vermehrt mit dem Phänomen der Kohortenungleichheit beschäftigen. Pierre Bourdieu hat außerdem in seiner Studie zu den französischen Universitäten die These entwickelt, dass Änderungen in der Stellenstruktur der Universitäten einen zentralen Einfluss auf die in seinen Augen schichtabhängigen Rekrutierungspraktiken der Professoren in den weniger autonomen Subfeldern der Wissenschaft gehabt hätten. Auch hier hat der Staat das Stellenverhältnis von Leitungspositionen (Professuren) und Mittelbaustellen zugunsten der letzteren verschoben. Gerade in den weniger autonomen Feldern der Universität sei es daraufhin zu komplexen Umstellungen in den Rekrutierungspraktiken gekommen. Der Pool der bisher auch ihres Schichthabitus wegen bevorzugten Kandidaten sei schnell ausgeschöpft gewesen, so dass man auf Kandidaten zurückgegriffen habe, die sich in der Klassenstruktur eine Position tiefer befunden hätten (Bourdieu 1988: 224ff.). Die kritische Auseinandersetzung mit dem Meritokratiemodell hat in der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse deutliche Spuren hinterlassen. Die wohl eindeutigste ist, dass das Meritokratiemodell als methodologisches Tool verwendet wird, um das Phänomen strukturierter sozialer Ungleichheit im Bereich der Mobilitätsstrukturen überhaupt erst sichtbar zu machen. Ob untersucht wird, ob alle Individuen ihrer Herkunftsklasse repräsentativ in den verschiedenen sozialen Klassen verteilt sind, oder untersucht wird, ob sie dieselben „disparity ratios“ für den Zugang zur Oberschicht aufweisen, in jedem Fall handelt es sich um einen Vergleich der gemessenen Mobilitätsstrukturen mit den im Meritokratiemodell erwarteten. Die Ungleichheitssoziologie versucht dann die Differenz dieser beiden Befunde zu erklären. Doch weshalb dient das Meritokratiemodell als Richtschnur? Die Untersuchungen von Swift wie die von Jencks lassen es mehr als fraglich erscheinen, ob sich das Meritokratiemodell in der modernen Gesellschaft realisieren lässt. Welche Informationen kann man dann
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der empirischen Forschung entnehmen, die untersucht, wie groß die Differenz zum Meritokratiemodell ist? Eventuell wird hier nur gemessen, wie groß die Differenz zu einem nicht realisierbaren Zustand des Statuszuweisungsprozesses ist. Noch problematischer wird es, wenn das Meritokratiemodell als normativer Maßstab verwendet wird. Es gibt viele Belege dafür, dass man auch völlig legitime soziale Praktiken und Motive dafür verantwortlich machen muss, dass die Realität des Statuszuweisungsprozess nicht dem Ideal der Chancengleichheit entspricht. Das Meritokratiemodell scheint ein schlechtes Richtmaß dafür zu sein, zwischen legitimen und illegitimen Ungleichheiten zu unterscheiden. Eine Gesellschaft mit immer noch deutlichen Mobilitätsbarrieren mag auf fairen Statuszuweisungsmechanismen beruhen und eine Gesellschaft, die perfekte Chancengleichheit realisiert hat, mag ein gerechtigkeitstheoretischer Alptraum sein. Außerdem führt das Meritokratiemodell als Richtschnur zu einer seltsamen Verengung des Forschungsinteresses. In der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse dominieren zwei Vergleichsperspektiven. Man vergleicht in der Zeitdimension die Karrieren der Eltern mit denen ihrer Kinder, oder man untersucht an bestimmten Phasen des Statuszuweisungsprozess, ob alle Klasse über dieselben Zugangschancen verfügen. Für den ersten Vergleich werden in der Regel einfach die Bildungsabschlüsse der Eltern, ihre Ersteinstellung und der Beruf zu einem willkürlichen späteren Zeitpunkt mit dem Bildungsabschluss, der Ersteinstellung und dem späteren Berufsstatus der Kinder verglichen. Doch je nach dem sozialen Kontext, indem eine Karriere stattfindet, werden sich die Karriereverläufe, der Zeitpunkt des frühest möglichen Karrierebeginns,16 die Position auf der man typischer Weise einsteigt,17 die Karrieredecke, und der Zeitpunkt des Zenits der Karriere unterscheiden.18 Damit wird aber auch der Zeitpunkt variieren, an dem man typischer Weise eine Familie gründet. Dies wird dann nicht zu-
16 Man vergleiche nur Leistungssportler, Unterhaltungskünstler, Wissenschaftler und Politiker. Der Einstieg in die ersten beiden Berufskategorien erfolgt oft bereits in der frühen Kindheit, während Wissenschaftskarrieren abgeschlossenen Universitätsstudien voraussetzen, Berufspolitiker wird man in Deutschland wiederum meist erst, nachdem man eine erfolgreiche Karriere in einem anderen Beruf gestartet hat (Herzog 1975: 108). 17 Die Karrieren von Schullehrern weisen in der Regel nicht mehr als zwei oder drei Karrierestufen auf, die Karrieren in großen Wirtschaftsunternehmen oder staatlichen Verwaltung variieren stark mit der Zahl der Hierarchieebenen im Unternehmen. 18 Sportlerkarrieren enden meist mit Mitte dreisig und das Rentenalter der meisten anderen Berufe liegt zwischen 62-65 Jahren.
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letzt über die Bedingungen entscheiden, unter denen die Kinder heranwachsen, und damit wiederum die Mobilitätschancen der Kinder beeinflussen. Ebenso problematisch scheint der isolierte Vergleich verschiedener schichtspezifischer Mobilitätschancen zu sein, wenn man nicht weiß, welche Bewegungen die individuellen Karrieren vor und nach diesem Zeitpunkt durchlaufen haben. Führt man sich diesen kritischen Diskurs vor Augen, der zum großen Teil in der Ungleichheitssoziologie selbst geführt wurde oder in benachbarten Disziplinen wie in der Organisations- oder Professionssoziologie, dann drängt sich einem der Verdacht auf, dass die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse ein Problem damit hat, die richtige Distanz zum Meritokratiemodell zu bestimmen. Einerseits taucht es in der Rolle des meist abwesenden Dauergegners auf, andererseits taucht es ebenso in der Rolle des hilfreichen methodologischen Instruments und des moralisch einwandfreien Maßstabs gerechter Mobilitätsprozesse auf. Viele Ungleichheitssoziologen bringen es fertig, gleichzeitig Gegner und Anhänger des Meritokratiemodells zu sein. Das Meritokratiemodell scheint eine Semantik mit doppeltem Boden zu sein oder eine Kippfigur, die einmal diese Gestalt und einmal eine ganz andere zeigt. Vom Prinzip der Chancengleichheit zugleich angezogen und abgestoßen scheint die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse nicht in der Lage zu sein die wissenschaftliche Distanz zu diesem Modell richtig einzujustieren.
Das Meritokratiemodell als ambivalente Semantikstruktur zwischen Moderne und Alteuropa
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Wenn es der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse so schwer fällt mit den Plausibilitäten des Meritokratiemodells zu brechen, dann scheint es sinnvoll zu sein dieses Sozialmodell genauer unter die Lupe zu nehmen. Zunächst scheint es sich um eine typisch moderne Semantik zu handeln. Man kann dies gut anhand von Parsons „Pattern Variables“ zeigen. Das Meritokratiemodell behauptet, dass der Modernisierungsprozess zu einer Rekonfigurierung des Statuszuweisungsprozess geführt hat, bei der dieser von einer vormodernen Orientierung an askriptiven Kriterien umgestellt worden sei auf die spezifisch universalistische Evaluation individueller Leistungen. Parsons selbst hat zwar das Meritokratiemodell mit der Begründung abgelehnt, es werde soziale Klassen (Erblichkeit des Schichtstatus von einer Generation zur nächsten) geben solange es Familien gäbe, aber auch er hätte diese Semantikstruktur unabhängig von ihrem Realitätsgehalt für typisch modern erklärt (Parsons/Shils 2001: 77ff.). Auch aus neoinstitutionalistischer Perspektive würde man zu diesem Urteil kommen. John W. Meyer behandelt das Meritokratiemodell in seiner Erziehungssoziologie zwar lediglich als einen modernen Rationalitätsmythos neben vielen anderen, der durch die „World Polity“ weltweit verbreitet worden sei (Meyer/Ramirez 2005: 212ff). Aber auch Meyer hebt hervor, dass die Vorstellung eines Erziehungssystems, das die zentralen berufsrelevanten Kompetenzen der Individuen antrainiert und zertifiziert der Ausdruck eines typisch modernen Glaubens an Rationalität ist. Theorien wie die Humankapitaltheorie werden von Meyer deshalb als Theoretisierung eines religiöse Züge annehmenden Glaubens an Rationalität, Effizienz und individuelle Autonomie behandelt, die selbst erheblich zur Durchset-
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zung dieses „Rationalisierungsprozesses“ beigetragen habe (ebd.: 222). Auch nach neoinstitutionalistischen Maßstäben handelt es sich also beim Meritokratiemodell um eine klassisch moderne Semantik. Ohne Zweifel handelt es sich beim Meritokratiemodell auch um eine typisch moderne Semantik. Wäre sie dies nicht, dann hätte sie sich nicht in so vielen gesellschaftlichen Kontexten durchsetzen können. Aber das Meritokratiemodell weist noch eine weniger offen zu Tage liegende Substruktur auf, die viel schlechter mit den Plausibilitätsbedingungen der modernen Gesellschaft übereinstimmt. Das Meritokratiemodell beschreibt den Statuszuweisungsprozess als das Resultat einer reibungslosen Kettenrationalität einer Vielzahl ausdifferenzierter Funktionssysteme und Arbeitsorganisationen, in dessen Verlauf die Individuen genau auf die Positionen verteilt werden, die ihren Kompetenzen wie ihren persönlichen Präferenzen entsprechen. Die Schichtungsstruktur bildet dabei als transitiv eindeutige Hierarchie des Einkommens oder des Prestiges genau die gesellschaftliche Bedeutung der damit verbundenen Leistungsrollen ab. Das Meritokratiemodell entwirft damit das Bild einer perfekt integrierten Gesellschaft, in der die verschiedenen Teilsysteme perfekt auf die Leistungsanforderungen der anderen Teilsysteme eingestimmt sind, in denen die Individuen lückenlos vergesellschaftet sind, da sie genau auf die Positionen berufen werden, für die sie perfekt geeignet sind und die sie als eigene Berufung ansehen. Schichtung wird hier als konsentierte Hierarchie präsentiert, an deren Spitze eine nach ihren Fähigkeiten dem Rest der Bevölkerung hoch überlegene Elite steht, die sich nicht zuletzt durch ihre Kenntnis der „wahren“ Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft auszeichnet. Semantiken dieses Typs sind wissenssoziologisch keine Unbekannten. Sie haben die Selbstbeschreibungen Europas über zweitausend Jahre dominiert. Niklas Luhmann hat für diese Semantiken aus der Ideengeschichte die Bezeichnung „alteuropäisch“ übernommen. Untersucht man das Meritokratiemodell auf seine Semantikstruktur hin, dann fallen vor allem drei typisch alteuropäische Motive auf: 1. die Vorstellung einer einheitliche Rationalität der Gesellschaft, 2. die Idee, dass Hierarchie oder Schichtung in der Gesellschaft als Ordnungsgarantie verstanden werden können und 3. die Vorstellung eines repräsentativen Teils, der die Gesellschaft als Ganzes repräsentieren kann. Nach Luhmann beruht die Plausibilität dieser drei Semantiken auf der zentralen Sozialstruktur stratifizierter Gesellschaften. „Die Differenzierungsform sah jeweils eine konkurrenzfreie Position für die richtige Beschreibung der Welt und der Gesellschaft vor, nämlich die Spitze der Hierarchie, den Geburtsadel, und das Zentrum der Gesellschaft, die Stadt“ (Luhmann 1997: 894).
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In den Weltbeschreibungen stratifizierter Gesellschaften dominieren Modelle der wohlgeordneten Schöpfung, in der jedes Ding, jedes Geschöpf seinen ihm vorbestimmten Platz im Plan des vollkommenen Schöpfers einnimmt. Diese Gesellschaften projizieren ihre eigene Differenzierungsform Stratifikation in den gesamten Kosmos, der dann als lange und lückenlose Kette der Wesen verstanden werden kann (Lovejoy 1993). Dass alle Teile der Welt herrschende und beherrschte Teile voraussetzen, kann dann fast begründungslos kommuniziert werden. Es liegt dann aber auch nahe, dass die herrschenden Teile die Teleologie des Ganzen deutlicher zum Ausdruck bringen als die beherrschten. Nach Luhmann hängen diese drei semantischen Motive in ihrer Plausibilität von der Etablierung einer gesellschaftlichen Position ab, die über das Monopol der legitimen Weltdeutung verfügt. Der Kosmos wirkt in der Weltbeschreibung stratifizierter Gesellschaften so geordnet, weil es keine konkurrierenden Weltbeschreibungen gibt. In der Metapher vom Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, sieht Luhmann die zentrale Konstruktion, die dieser Weltbeschreibung zugrunde liegt. Das Teil/Ganzes-Modell beruht dabei auf einer spezifisch platzierten Unklarheit. In diesem Modell kann nicht deutlich zwischen den Teilen und dem Ganzen unterschieden werden (Luhmann 1997: 913). Die Teile sind als Teile immer schon durch ihren Platz im Ganzen bestimmt. Sie streben von sich aus zur Einheit oder werden vom Ganzen aus sich entlassen. Deutlicher könnte die Subsumtion der Teilrationalitäten unter die Rationalität des Ganzen nicht zum Ausdruck gebracht werden. Die Teil/Ganzes-Metapher hat aber noch eine zweite Komponente. Das Teil/Ganzes-Modell beruht auf einer komplett internen Bestimmung des Ganzen, ohne jeden Bezug auf ein Außen (ebd.: 914). Versucht man mit dieser Metapher das Außen eines Ganzen zu erfassen, so kann man es wiederum nur als Teil eines größeren Ganzen auffassen. Die menschliche Gesellschaft ist deshalb in dieser Semantiktradition vollständig in die Natur eingebettet. Das zweckorientierte Handeln des Menschen kann diesem Kosmos nichts Neues hinzufügen. Der Mensch erfüllt seinen ihm wesenhaft inhärenten Zweck so wie die Bäume oder die Blumen es tun. Er kann seine Natur verfehlen und korrumpiert werden in derselben Weise wie ein Apfelbaum, der keine Früchte mehr trägt. Er kann sich nicht autonom Zwecke setzen, er kann nur die seiner Natur entsprechenden Zwecke entweder erfüllen oder verfehlen. Je höher man dabei in der Kette der Wesen aufsteigt, von der unbelebten Natur über die Pflanzen, Tiere, Menschen, Engel zu Gott, desto näher kommt man der wahren Bestimmung des Kosmos. Auf jeder Stufe gibt es dabei bestimmte Teile, die dem Ganzen näherstehen. Luhmann verweist hier auf die Semantik des repräsentativen Teils, der als Teil das Ganze repräsentiert und zum Ausdruck bringt.
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In diesem Weltbild gibt es auch keine Diskontinuitäten zwischen der Mikro-, der Meso- oder der Makroordnung. Ebenendifferenzierungen führen hier letztlich zu einer kosmischen Pyramide ineinander verschachtelter gleichförmiger Teil/Ganzes-Verhältnisse. Mit anderen Worten: Der Mikrokosmos ist der Spiegel des Makrokosmos und umgekehrt. Der Körper des Menschen spiegelt beispielsweise als Mikrokosmos die Struktur des gesamten Kosmos wieder (Kurdzialek 1971: 35-75). So kann die Notwendigkeit eines Königs dadurch begründet werden, dass jeder Körper einen Kopf benötigt (Koschorke et al. 2007: 19). Oder man kann die Autorität des Königs aus der Würde des Hausvaters ableiten. Umgekehrt kann natürlich auch die Autorität des Königs als Gottesgnade verstanden werden. Man sieht, auch im Verhältnis von Makro-, Meso- und Mikrostrukturen herrscht hier ein Rationalitätskontinuum. Vergleicht man das Meritokratiemodell mit dem Teil/Ganzen-Schema fallen sowohl Ähnlichkeiten wie Differenzen auf. Anders als im Teil/Ganzen-Modell, wird die Gesellschaft hier als autonomes System aus der Natur herausgelöst. Aber an die Stelle der Harmonie einer perfekten Schöpfung tritt jetzt ein überintegriertes vulgärfunktionalistisches Gesellschaftsmodell, indem die beteiligten Sozialsysteme sich ebenfalls in einem Verhältnis der „prästabilisierten Harmonie“ befinden. Auch hier haben die einzelnen Teile – das Erziehungssystem, die rekrutierenden Funktionssysteme und Arbeitsorganisationen – ihren fest zugewiesenen Platz im Ganzen der Gesellschaft. Die meritokratische Organisation des Statuszuweisungsprozesses auf der Makroebene besteht vor allem in der Entkopplung der Familien und der perfekten Integration des Erziehungssystems mit den Anforderungen der rekrutierenden Funktionssysteme, sie schlägt sich aber ebenso auf der Mesoebene in den Karrierestrukturen der Arbeitsorganisationen nieder und die Individuen bringen genau die Präferenzen und Fähigkeiten mit, die auf den höheren Ebenen vorausgesetzt werden. Das Meritokratiemodell geht ebenfalls von einer zwanglosen Entsprechung der sozialen Ordnungen auf den verschiedenen Ebenen aus. Dabei finden sich sowohl Ansätze, die mikrodeterministisch die soziale Ordnung aus den Präferenzen individueller Akteure erklären (Humankapitaltheorie) als auch solche, die in Anlehnung an den Strukturfunktionalismus eher makrodeterministisch argumentieren, ohne dass dadurch die interne Kohärenz des Meritokratiemodell in Frage gestellt würde. Man findet aber auch die Semantik des repräsentativen Teils im Meritokratiemodell wieder. So hat Michael Young in satirischer Überspitzung die Elitenzirkulation in seiner perfekt meritokratischen Gesellschaft dadurch erklärt, dassjeweils die Elite die Geschicke der Gesellschaft leitet, die über das sicherste Gespür für die zentralen Funktionserfordernisse der Gesellschaft verfügt. So wird der Meritokratieprozess solange durch die „Sozialisten“ vorangetrieben, wie die
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Rationalität des Statuszuweisungsprozesses vor allem durch die Privilegien einer erblichen Oberschicht gefährdet werden. Die Sozialisten müssen abdanken als sie ihr Gleichheitsideal über den Effizienzgedanken stellen. Es übernimmt dann eine Elite der Technokraten, die zunächst erfolgreich die Folgeprobleme der Meritokratie ausbalanciert. Als sie ihre genetische Überlegenheit in soziale Askription ummünzen will, kommt es auch zum Sturz dieser Elite. Die Lektüre von Bells „The Coming of Post-industrial Society“ (David Bell 1973) zeigt wie wenig Young in seiner Dystopie übertrieben hat. So träumt Bell von einer Gesellschaft, die von einer technokratischen Elite geführt wird, die das Gebot industrieller Effizienz mit dem Wohlfahrtstaat aussöhnt. Auch hier zeigen sich natürlich deutliche Differenzen. Die neue repräsentative Klasse verdankt ihre Spitzenposition nicht mehr ihrer „Natur“, sondern ihrem Fleiß und ihren antrainierten Fähigkeiten. Das gilt selbst für das Konzept der Intelligenzklasse, denn hier wird nicht der Statuszuweisungsprozess durch die genetische Natur des Menschen determiniert, sondern ein perfekt rationaler Statuszuweisungsprozess seligiert die Gene, die die perfekt arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften der Individuen hervorbringen. Nun mag man sich fragen, wie eine auf den Plausibilitätsgrundlagen einer vergangenen Sozialstruktur beruhende Semantik in der Gegenwart noch so viele Anhänger finden kann. Luhmann geht aber davon aus, dass eine Semantik wie das Teil/Ganzes-Modell so tief in der Tradition unseres bewahrenswerten Wissens verwurzelt ist, dass es einer konkreten soziologischen Dekonstruktionsarbeit bedarf, um sich von diesen semantischen Altlasten zu lösen. Wie widerständig die Teil/Ganzes-Semantik sein kann, lässt sich gut an den organisationssoziologischen Auseinandersetzungen mit dem Modell der zweckrationalen Organisation ablesen. Das Modell der zweckrationalen Organisationen ist der wohl eindeutigste Fall der Wiederbelebung der Teil/Ganzes-Semantik. Die Organisationstruktur, die Aufgabenprogramme, die Kommunikationswege, und die Personalrekrutierungsprogramme lassen sich problemlos aus der rationalen Dekomposition des Organisationszwecks ableiten. Die verschiedenen Komponenten der Organisation, ihre Stellen und Abteilungen, haben jeweils einen klaren und widerspruchsfreien Platz in der Ordnung des Ganzen, das sich durch ein perfektes Rationalitätskontinuum von der Spitze bis ganz nach unten auszeichnet. Die Organisationssoziologie ist bis heute mit der Dekonstruktion dieses Modells beschäftigt. Außerdem ergibt gerade die Mixtur aus modernen und alteuropäischen Semantikbestandteilen einen völlig eigenen Reiz. Es ist diese Mischung aus Semantikbestandteilen, die zum klassischen Repertoire moderner Rationalitätsvorstellungen gehören, mit dem Harmonieversprechen einer Gesellschaft, die nicht mit den Konflikten widersprüchlicher und gleichberechtigter Selbstbe-
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schreibungen leben musste, die die Attraktivität des Meritokratiemodells auszumachen scheint. Wenn die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse aber Mühe hat eine Semantik in den Griff zu bekommen, die den Plausibilitätsgrundlagen der vormodernen Gesellschaft entstammt, dann liegt es nahe, zu rekonstruieren, wie die soziologische Gesellschaftstheorie, die ja gerade den Wechsel der Sozialstrukturen im Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft zu rekonstruieren versucht, sich gegenüber einer Semantik wie der des Teil/Ganzen-Modells positioniert hat. Innerhalb der Gesellschaftstheorie finden sich dabei zwei verschiedene Forschungstraditionen, die sich jeweils auf einen ganz bestimmten Aspekt der modernen Gesellschaft konzentriert haben. Die Differenzierungstheorie konzentriert sich auf die funktional differenzierte Institutionenstruktur der modernen Gesellschaft und die Schichtungstheorie auf die Verteilungsstruktur sozial hoch bewerteter Güter. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, brechen beide Forschungstraditionen radikal mit den Plausibilitätsgrundlagen stratifizierter Gesellschaften. Dieser Exkurs in die allgemeine Gesellschaftstheorie ist nötig, weil man nur dann abschätzen kann, ob die heute in der Mobilitätsforschung vorliegenden Theorieangebote das Repertoire der allgemeinen Gesellschaftstheorie hinreichend ausschöpfen oder ob hier nicht noch ein großer Fundus an Theorietechniken zu finden ist, mit denen man dem Meritokratiemodell zu Leibe rücken könnte. Die Differenzierungstheorie wendet sich dabei direkt gegen die Vorstellung einer einheitlichen Logik der modernen Gesellschaft und die Ungleichheitssoziologie bricht vor allem mit der Vorstellung von der Hierarchie als Ordnungsgarantie. Beide Modelle brechen aber auch mit der Logik des repräsentativen Systems. Aus demselben Grund empfiehlt sich an dieser Stelle eine Beschäftigung mit der soziologischen Kontroverse um das Verhältnis der Mikro-, der Meso- und der Makroebene sozialer Ordnungsbildung. Während man in den beiden dominanten Strängen der Gesellschaftstheorie relativ deutliche Entwicklungstendenzen ausmachen kann, weist die Diskussion über das Verhältnis der Mikro-, der Meso- und Makroebene eine viel größere Heterogenität auf. Bis heute gibt es keinen facheinheitlichen Konsens darüber, mit welchen Begriffen man die verschiedenen Ebenen erfassen soll (akteurstheoretischen oder systemtheoretischen Begriffen), auf welcher Grundlage man die Begriffe auswählt (sozialtheoretische oder methodologische Erwägungen) und welches Verhältnis zwischen den Ebenen angenommen wird (Determination, Interdependenz). Besonders die letztgenannte Auseinandersetzung ist für das Thema dieser Arbeit relevant und soll deshalb vorranging rekonstruiert werden. Auf der einen Seite dieser Kontroverse finden sich reduktionistische Ansätze, die sich entweder für eine Mikrofundie-
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rung aussprechen, bei der die sozialen Phänomene auf der Makroebene aus der Mikroperspektive erklärt werden sollen – sei es aus den Präferenzen und Handlungen von Individuen oder aus der Aggregation von Face-to-Face Interaktionen – oder für eine sozietalistische Lösung stark machen, nach der die Motive der Individuen oder die Strukturen von Face-to-Face Interaktionen sich aus einer Gesellschaftstheorie ableiten lassen. Reduktionistische Ansätze leugnen die Eigenständigkeit der verschiedenen Ebenen sozialer Ordnungsbildung und stehen damit in einer Tradition zum Teil/Ganzes-Modell. Auf der anderen Seite findet man Ansätze, die davon ausgehen, dass jede Ebene bestimmte Strukturen aufweist, die einen Determinismus durch Ereignisse auf den anderen Ebenen ausschließen, weil sie diese Einflüsse brechen oder kanalisieren. Ich werde im Folgenden für diese Version plädieren und zu zeigen versuchen, dass gerade die Mobilitätsanalyse viele Belege für diese Perspektive liefern kann.
G ESELLSCHAFTLICHE R ATIONALITÄT UND FUNKTIONALE D IFFERENZIERUNG Vergleicht man moderne und vormoderne gesellschaftliche Selbstbeschreibungen daraufhin, wie sie das Verhältnis von Rationalität und Gesellschaft beschreiben, dann fällt Folgendes auf: Die Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft weisen ein wachsendes Vertrauen in die spezifischen Rationalitäten der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und des Rechts auf, reagieren aber alarmistisch auf die fehlende Rationalität der Gesellschaft als Ganzes (Weber 1988: 536-572, Luhmann 2008: 207ff.). Man findet ein breites Vokabular für die desintegrativen Tendenzen der modernen Gesellschaft. Als Beispiele lassen sich unkontrolliertes Wachstum der Teilsysteme (Schimank 1996: 190), bedrohliche Externalitäten teilsystemischer Entscheidungen (ebd.: 189), Anomie (Durkheim 1992: 422-425) und Entfremdung (Simmel 1998: 591ff.) anführen. Die Liste ließe sich leicht erweitern. Im Gegensatz dazu dominieren in den Selbstbeschreibungen vormoderner Gesellschaften Modelle, die die Rationalität der Teile der Rationalität des Ganzen unterordnen (Luhmann 1997: 912ff.). Am deutlichsten kommt diese Perspektive in den differenzierungstheoretischen Schriften Max Webers zum Ausdruck, der den Übergang von der Vormoderne zur Moderne als Rationalisierungsprozess beschrieben hat (Weber 1988: 116). Weber hat diese Rationalisierungsprozesse in fast allen Lebensordnungen der modernen Gesellschaft beobachtet: am modernen Kapitalismus, der die Profitorientierung mit der rationalen Buchführung verbunden hat, an der modernen Wissenschaft, die sich für Weber durch mathematische Fundamentierung, ratio-
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nale Beweisführung und das Experiment auszeichnet oder an der Malerei, an der er die Entdeckung der Linear- und Luftperspektive hervorhebt. Weber beschreibt diese Rationalisierungsprozesse als Ergebnisse von Differenzierungsprozessen. So führt Max Weber die höhere ökonomische Rationalität des modernen Kapitalismus vor allem auf die Trennung von Haushalt und Betrieb zurück, die überhaupt erst die rationale Betriebsbuchführung möglich gemacht habe und die letztlich dann auch zur juristischen Trennung von Betriebsvermögen und Privatvermögen geführt habe. Die Herausbildung einer konsistenten kapitalistischen Rationalität wird nach Weber erst möglich, wenn die Rolle des Unternehmers von der Rolle des Vaters, Ehemanns, Gläubigen und Vereinsmitgliedes getrennt wird. Dasselbe gilt für die Wissenschaft, die von religiöser Bevormundung befreit werden muss, wie für den Bereich der Erotik und für die Trennung von Staat und Religion. Zwar steigert dieser Prozess nach Max Weber die Konsistenz der Entscheidungsregeln in den sich differenzierenden Lebensordnungen, es lässt sie aber auch immer deutlicher zueinander in Widerspruch treten (ebd.: 536-573). Besonders deutlich wird dies in der „Zwischenbetrachtung“, in der Weber die Unvereinbarkeit der Teilrationalität der christlichen Erlösungsreligion mit den Rationalitäten der anderen Lebensordnungen herausarbeitet. „Denn die Rationalisierung der Beziehung des Menschen zu den verschiedenen Sphären äußeren und inneren, religiösen und weltlichen, Güterbesitzes drängte dann dazu: innere Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären in ihren Konsequenzen bewusst werden und dadurch in jene Spannungen zueinander geraten zu lassen, welche der urwüchsigen Unbefangenheit der Beziehung zur Außenwelt verborgen bleiben.“ (Ebd.: 541f.)
Die Brüderlichkeitsethik der Erlösungsreligionen habe in vielen Fällen einen Bruch mit den familienspezifischen Loyalitäten forciert. Das Christentum wiederum habe sich kaum mit der spezifischen Wertrationalität des modernen Kapitalismus, der grenzenlosen intellektuellen Neugier der Wissenschaften oder mit dem individuellen Erlösungsversprechen der modernen Erotik abfinden können. Gerade nach Max Weber führt die Differenzierung der Lebensordnungen einerseits zur Ausbildung spezifisch moderner Rationalitäten, aber andererseits auch zu deutlichen Brüchen zwischen den Teilrationalitäten. Je deutlicher die unterschiedlichen Rationalitätsstile der Wirtschaft, der Politik, des Rechts oder der Kunst hervortreten, umso deutlicher wird auch ihr begrenzter Geltungsbereich. Was sich nicht mehr finden lässt, ist eine gesellschaftliche Metarationalität, die in der Lage wäre diese Widersprüche aufzulösen. Auch Luhmann kommt zu diesem Ergebnis (Luhmann 2008: 202). In der modernen Gesellschaft könne von
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Rationalität nur noch im Plural gesprochen werden, es fehle aber ein Begriff der Einheit der differenzierten Rationalitäten. Weber spricht hier vom Polytheismus der Werte in der Moderne. Die moderne Gesellschaft verfügt eben über keine Spitze mehr, die allen anderen Teilen einheitliche Regeln richtigen Entscheidens verordnen könnte. Doch damit ist erst eine Seite des Verhältnisses von funktionaler Differenzierung und gesellschaftlicher Rationalität sichtbar gemacht worden. Denn die Spezialisierung der Teilsysteme durch funktionale Differenzierung erzeugt auch ein ganz neues Ausmaß der wechselseitigen Abhängigkeit dieser differenzierten Ordnungen. Die differenzierten Teilsysteme sind auf einen wechselseitigen Austausch spezifischer Leistungen angewiesen. Max Weber hat diesen Sachverhalt ebenfalls deutlich gemacht, als er darauf verwies, dass der moderne kapitalistische Betrieb auf berechenbare staatliche Verwaltungen angewiesen sei (Weber 1972: 129). Das Problem der Rationalität der modernen Gesellschaft als Ganzes scheint danach vor allem eine Frage der Rationalität der Leistungsaustauschverhältnisse der differenzierten Ordnungen zu sein. Berechenbarkeit bezeichnet dabei lediglich eine Dimension von Rationalität in den Leistungsbeziehungen der Teilsysteme, denn ein berechenbar unbrauchbarer Input der staatlichen Verwaltungen würde den Unternehmen kaum weiterhelfen. An dieser Stelle wird das eigentliche Dilemma der Differenzierungsform funktionaler Differenzierung deutlich: die immer stärkere wechselseitige Abhängigkeit der differenzierten Teilsysteme bei immer autistischerer Spezialisierung. Rationalität in einer funktional differenzierten Gesellschaften darf sich nicht in der Konsistenz teilsystemischer Entscheidungen erschöpfen, sie setzt ebenfalls voraus, dass die Teilsysteme die Konsequenzen ihrer eigenen Operationen in ihrer gesellschaftlichen Umwelt mitkalkulieren. Diese Anforderung tritt in den wechselseitigen Leistungsabhängigkeiten der Teilsysteme besonders deutlich hervor. Es liegt auf der Hand, dass die elaborierten teilsystemischen Rationalitäten in dieser Hinsicht gerade das größte Hindernis darstellen. Wendet man sich der Mobilitätsanalyse aus differenzierungstheoretischer Perspektive zu, so scheint es sich beim Statuszuweisungsprozess vor allem um Leistungsbeziehungen zwischen den Familien, dem Erziehungssystem und den rekrutierenden Funktionssystemen zu handeln. Schon an dieser kurzen Skizze wird der Bruch zwischen der Differenzierungstheorie und dem Meritokratiemodell deutlich. Gehen die Vertreter des Meritokratiemodells von einer einheitlichen Rationalität des Statuszuweisungsprozesses aus, so muss man differenzierungstheoretisch von der Vielfalt der Rationalitäten der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssysteme ausgehen. Allerdings muss relativierend angefügt werden, dass die moderne Gesellschaft anscheinend ein Arrangement
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gefunden hat, dass bei allen internen Widersprüchen zumindest die Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme zu gewährleisten scheint. Dennoch bleibt die berechtigte Frage bestehen, wie hoch man die Rationalität dieses Arrangements einschätzen wird. Ein Blick in die differenzierungstheoretische Literatur zeigt, dass Autoren wie Parsons (Parsons/Smelser 1956), Willke (Willke 1992), Schwinn (Schwinn 2001: 372ff.) oder Luhmann (Luhmann 1997: 762) hier zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Ich will dies zunächst an einem Vergleich von Parsons und Luhmann demonstrieren. Auch Talcott Parsons war sich der zentrifugalen Tendenzen funktional differenzierter Gesellschaften bewusst. Er ist aber davon ausgegangen, dass die moderne Gesellschaft eine ganze Reihe kompensierender Mechanismen entwickelt hat, die für einen vergleichsweise hohen Integrationsgrad der Gesellschaft sorgen. Parsons hat im Laufe seines umfangreichen Werkes eine Vielzahl von Konzepten für diese Problemstellung entwickelt: Schichtung (Parsons 1964: 180ff.), Interpenetration (Parsons 1971: 492), eine kybernetische Steuerungstheorie der Funktionssysteme und eine der Theorie der Austauschmedien (Parsons/Smelser 1956: 7085). Wie man sieht hat Parsons an dieser Stelle einen erstaunlichen Überschuss sehr unterschiedlicher aber redundanter Mechanismen entworfen. Auch Parsons war sich der desintegtrativen Tendenzen funktional differenzierter Gesellschaften wohl bewusst. Für die Integration der Leistungsbeziehungen der Funktionssysteme macht Parsons vor allem die Austauschmedien und die kybernetische Kontrollhierarchie verantwortlich. Das AGIL Schema identifiziert vier Funktionssysteme: Die Wirtschaft (Adaption), Die Politik (Goal-Attainment), die gesellschaftliche Gemeinschaft (Integration) und die Familie (Latent-Pattern-Maintainance). Parsons entwickelt nun ein Konzept der Input/Output-Beziehungen zwischen allen Funktionssystemen. So tauschen die Familien mit den Firmen der Wirtschaft Arbeitsleistungen gegen Konsumgüter. Dieser Austausch wird durch das symbolisch generalisierte Austauschmedium Geld gesteuert. Es tritt vermittelnd zwischen die beiden Systeme und hebt diese Austauschprozesse auf eine Stufe höherer Abstraktion, auf der sie eine ganz neue Flexibilität entwickeln. Geld als symbolisch generalisiertes Medium gewährleistet die Austauschbarkeit von Arbeitsleistungen gegen Konsumgüter, ohne das die Familien gezwungen wären alle Konsumgüter bei der Firma zu kaufen, bei der sie als Arbeitnehmer angestellt sind. Parsons geht davon aus, dass sich über die Austauschmedien ausgewogene Leistungsaustauschbeziehungen zwischen den Familien und der Wirtschaft einpendeln, obwohl es keine direkte Reziprozität zwischen den einzelnen Familien und den einzelnen Firmen gibt (Parsons/Smelser 1956: 71). Das Austauschmedium Geld regelt in der Institution des Arbeitsmarktes den Leistungsaustausch zwischen den
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Bedürfnissen der Familien, die einen bestimmten Lebensstil aufrecht zu erhalten versuchen, und den Arbeitsorganisationen, die für ihre Mitgliedschaftsrollen adäquat sozialisierte Individuen benötigen. Parsons geht des Weiteren davon aus, dass die Funktionssysteme eine Steuerungshierarchie bilden, in der das LatentPattern-Maintainance System die anderen Systeme steuert. Parsons wählt dabei eine direkte Analogie zu den kybernetischen Modellen des Thermostaten „The theory gives an analytical account of the conditions under which systems high in energy but low in information can be controlled by systems with the obverse characteristics, low in energy but high in information. The thermostat controlling the energy-output of a heating system is a simple example – the relevant information is a registered discrepancy between actual space temperature and the temperature for which the thermostat has been set.“ (Parsons 1968a: 139)
Logischerweise bilden dann auch die Austauschmedien selbst eine Hierarchie, bei der das Geld beispielsweise durch das höherrangige Machtmedium gedeckt und abgestützt ist. Man sieht Parsons hat intensiv in diese Theoriekonstruktion investiert um die Annahme eines relativ hohen Integrationsgrades der Leistungsaustauschprozesse plausibel machen zu können. Im Vergleich zu Parsons kommt Niklas Luhmann zu einer weit weniger optimistischen Einschätzung der Intersystembeziehungen der Funktionssysteme. Luhmann unterscheidet zwischen der Sachdimension, der Zeitdimension und der Sozialdimension dieser Prozesse. In der Sachdimension geht es um die Quantität und die Qualität der Leistungen, die die Systeme sich wechselseitig zur Verfügung stellen müssen. In der Zeitdimension geht es um die Synchronisierung von Änderungen der Leistungsnachfrage und des Leistungsangebots. In der Sozialdimension geht es hingegen darum, wie sich durch die wechselseitige Beobachtung des Austauschs des Inputs und des Outputs eine für beide Seiten befriedigende Balance einstellt. Das setzt voraus, dass die beteiligten Systeme das Verhältnis erbrachter Outputs und erhaltener Inputs bilanzieren können. Luhmann hat eine Reihe von Argumenten entwickelt, die dafür zu sprechen scheinen, die Rationalitätserwartungen an diese Prozesse ziemlich niedrig zu halten. So hat Luhmann immer wieder darauf hingewiesen, dass schon minimale quantitative Änderungen im Leistungsoutput eines Systems in der funktional differenzierten Gesellschaft immer wieder zu völlig unverhältnismäßigen Reaktionen in den anderen Funktionssystemen führen (Luhmann 1997: 762). Die zeitliche Koordinierung dieser Prozesse werde vor allem durch die sehr unterschiedlichen Zeitrhythmen in den Funktionssystemen belastet wie der Dauer der Ausbildungen im Erziehungssystem, der Zirkulation von Geld und Waren in der Wirtschaft, den
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Legislaturperioden in der Politik, der Dauer von Verfahren im Recht. Eine gewisse Autonomie in der Frage, welche Entscheidungen in einem System noch als revidierbar und welche als endgültig irreversibel vergangen behandelt werden können, muss eben in autonomen Funktionssystemen vorausgesetzt werden. Die größten Probleme werden sichtbar, wenn man die Leistungsaustauschverhältnisse aus der Perspektive der Sozialdimension betrachtet. Die Strukturen der funktional differenzierten Gesellschaft machen es den Funktionssystemen fast unmöglich, die erbrachten und erhaltenen Leistungen eindeutig zu bilanzieren. Häufig unterläuft das Prinzip funktionaler Differenzierung die Reziprozität der wechselseitigen Leistungsabhängigkeiten. Denn die Leistungsbeziehungen zweier Funktionssysteme sind meistens vermittelt durch Leistungen anderer Funktionssysteme. Parsons ging von einem direkten Leistungsaustausch der Familien und der Wirtschaft aus. Seit der Trennung von Haushalt und Betrieb sozialisiert die Familie aber nur noch ungenügend für die künftigen Berufsrollen, da die Eltern ihre Berufsrollen außerhalb der Familie ausüben. Eigens für diese Funktion wurde das Erziehungssystem ausdifferenziert, das nun vermittelnd zwischen die Familien und die Wirtschaft tritt. Das wirft aber unter anderem die Frage auf, wie das Erziehungssystem finanziert wird. Der Großteil der finanziellen Mittel wird dabei weder direkt von den Familien noch von den Wirtschaftsunternehmen erbracht, sondern zentral vom Staat zur Verfügung gestellt, der diese Mittel durch Besteuerung von Staatsbürgern (Familien) und Unternehmen (Wirtschaft) erhält, damit aber immer auch ganz andere Aufgaben finanziert. Weder die Haushalte noch die Unternehmen können dadurch eindeutig bilanzieren, ob die für das Erziehungssystem aufgebrachten Kosten im Einklang mit den vom Erziehungssystem erhaltenen Inputs stehen (Luhmann o.T. o. J. Bielefeld: 8). Hier wird eine deutliche Tendenz der Problemverschiebung sichtbar, bei der eben nicht die Systeme, die ein Problem erzeugt haben, für die Lösung zuständig sind, sondern die Systeme, die über die höchste Problemlösungskapazität verfügen. Die Nachfrage nach Erziehungsleistungen durch die Familien und die Wirtschaftsunternehmen erzeugt ökonomische Kosten, aber diese Systeme sind nicht in der Lage die dafür benötigten Mittel zu mobilisieren. Also wird dieses Problem durch den Staat gelöst (Luhmann 1999b: 368). An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob sich die Differenzierungsprozesse der modernen Gesellschaft überhaupt noch mit einer Rationalitätssemantik erfassen lassen. Die moderne Gesellschaft kennt Rationalität nur noch als teilsystemische Rationalität. Diese Rationalitätskriterien können jedoch nur noch lokale Richtigkeitsansprüche geltend machen. Die wissenschaftlichen Programme, die ökonomischen Programme oder die juristischen Programme werden nur noch im jeweiligen Funktionssystem für rational gehalten. Man könnte also ohne Infor-
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mationsverlust nur noch von wissenschaftlichen, ökonomischen oder juristischen Programmen sprechen. Niklas Luhmann sieht die Funktion der teilsystemischen Programme deshalb nicht in der Durchsetzung von Rationalität, sondern darin, die Anschlussfähigkeit der codierten Kommunikation in den Teilsystemen sicherzustellen. Luhmann hat dabei ein eigenwilliges Konzept entwickelt, dass die Integration der Teilsysteme erklären soll: strukturelle Kopplung (Luhmann 1997: 778ff.). Die gesellschaftliche Evolution habe zur Entstehung von Institutionen wie dem Vertrag, der Verfassung, der Werbung oder dem Bildungszertifikat geführt, die es den Funktionssystemen ermöglichten sich wechselseitig zu irritieren, ohne dass die exklusive Orientierung am funktionssystemspezifischen Code in der teilsystemischen Kommunikation aufgegeben werden müsse. Der juristische Vertrag ermöglicht es beispielsweise den Wirtschaftsteilnehmern durch wechselseitiges Versprechen geltendes Recht zu erzeugen. Machen die Vertragsparteien im Konfliktfall allerdings von ihrem Klagerecht Gebrauch, müssen sie damit leben, dass ihre Motive bei Vertragsschluss im Recht vor dem Hintergrund des Privatrechts neu interpretiert werden und dass nicht ausdrücklich Bedachtes in den Vertrag hineinimpliziert wird (Luhmann 1995: 464). Dabei fällt auf, dass ein und dieselbe Ereigniskette – ein Vertragsabschluss, ein Konflikt und ein daraus resultierendes Gerichtsverfahren in jedem System je nach Code sehr unterschiedlich beobachtet wird. Für die Wirtschaftsteilnehmer wird diese Ereigniskette nach den ökonomischen Kosten der Vertragsaushandlung, des Schadens durch Nichteinhaltung und der Gerichtskosten beurteilt werden. Im Rechtssystem löst diese Ereigniskette eine Bestätigung oder eine Änderung des geltenden Vertragsrechts aus. Dabei können gerade die Wirtschaftsteilnehmer in der Regel kaum absehen, wie das Verfahren ausgehen wird. Das liegt an der Komplexität des Rechts, die jeden Tatbestand unter verschiedene Normen subsumieren kann sowie an der prinzipiellen Offenheit von Gerichtsverfahren, die die Kontingenz des Ausgangs sicherstellen müssen, um beide Parteien dazu zu motivieren, den Richter von ihrer Auffassung zu überzeugen. Die Funktionssysteme können auf diese Weise Erfahrungen über die Dynamik ihrer wechselseitigen Abhängigkeit sammeln, ohne dass es zu einer Verschmelzung ihrer Operationen käme. Luhmann hat dasselbe Modell auf das Verhältnis von Politik und Recht (Verfassung), Massenmedien und Politik (Werbung), Wirtschaft und Massenmedien, Politik und Wirtschaft (Steuern) und Erziehungssystem und Wirtschaft (Bildungszertifikate) angewandt (Luhmann 1997: 780ff.) In der Differenzierungstheorie hat sich bis heute eine lebhafte Kontroverse über dieses Modell entwickelt (Willke 1997: 328ff., Schwinn 2001: 372ff.). Kritiker wenden ein, dass die massiven Integrationsprobleme der modernen Gesellschaft nicht einfach durch wechselseitige zufällige Irritationen gelöst werden
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können. Meistens wird dabei dem Staat eine zentrale Rolle für die Integration der modernen Gesellschaft eingeräumt, sei es durch zentrale Steuerung oder durch die Moderation teilsystemischer Kontextsteuerung. Beide beruhen auf der Kritik, dass Luhmann übersehen habe, das Akteure und Organisationen in der Lage seien die Perspektiven der verschiedenen Teilsysteme zu wechseln und so Einsicht in die Dynamik der wechselseitigen teilsystemischen Abhängigkeiten entwickeln können. Ob es nun der Staat ist, der die gelungene Integration der Teilsysteme durch kollektiv bindendes Entscheiden sichern soll (Schwinn 2001: 377), oder ob dezentrale Expertennetzwerke verschiedener Teilsysteme dem Staat signalisieren sollen (Willke 1997: 342), welche politischen Einschränkungen mit der Eigendynamik der zu regulierenden Systeme verträglich sind, in beiden Fällen werden hier sehr anspruchsvolle Aufgaben definiert. Das Konzept der Kontextsteuerung sieht vor, in dezentralen Expertengesprächen die Gesetze ermittelt werden, die der Staat durchsetzen kann, ohne die Eigendynamik der zu steuernden Systeme zu bremsen. Diesem Mechanismus teilsystemischer Integration wird eine höhere Rationalität als dem Mechanismus struktureller Kopplung zugesprochen. Die empirische Forschung hat aber gezeigt, dass diese Gesprächsrunden weder die Machtasymmetrien zwischen den verschiedenen Parteien aufheben können, noch seien sie in der Lage Entscheidungen durchzusetzen, die über einen folgenlosen Minimalkonsens hinausgehen (Schwinn 2001: 376f.). Man wird sich also nicht allzu viel Rationalität von den Ergebnissen einer dezentralen Kontextsteuerung versprechen können. Thomas Schwinn macht stattdessen das Konzept der zentralen Steuerung durch den Staat stark. Dabei fällt jedoch auf, dass er dieses Konzept nicht mit dem Hinweis auf höhere Rationalität verteidigt, sondern dafür normative Gründe einführt (ebd.: 378). Das Modell der Kontextsteuerung marginalisiere den Einfluss des Wählers und scheitere letztlich an der fehlenden demokratischen Legitimation dieser „Kanzlerrunden“. Beide Konzepte versprechen letztlich nicht mehr Rationalität in der Koordination des Leistungsaustauschs der verschiedenen Funktionssysteme als das Konzept der strukturellen Kopplung.
S CHICHTUNG ALS O RDNUNGSGARANTIE UND DIE E NTWICKLUNG DER U NGLEICHHEITSSOZIOLOGIE Nicht weniger scharf scheinen die Brüche im Rationalitätskontinuum der modernen Gesellschaft zu sein, die zwischen den Klassen verlaufen. Dieser Sachverhalt lässt sich besonders gut an einem Vergleich vormoderner und moderner Semantiken verdeutlichen. Galt Schichtung in den stratifizierten Gesellschaften
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als Garantie von Ordnung und Stabilität, so wird spätestens seit Marx Schichtung mit Konflikt und Instabilität gleichgesetzt. Ungleichverteilungen führen danach zu strukturellen Konflikten, die laufend sozialen Wandel erzwingen. Diese Beschreibung gesellschaftlicher Schichtungsstrukturen bricht frontal mit den „alteuropäischen“ Beschreibungen von Schichtung. Der Adel konnte in den Semantiken stratifizierter Gesellschaften noch als repräsentative Klasse behandelt werden, die als Teil der Gesellschaft die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert (Hofmann 1974: 191). Wie Hasso Hofmann gezeigt hat, wurden unter „Repräsentation“ damals nicht moderne Konzepte wie Vertretung, Mandat oder Delegation verstanden, sondern letztlich konnten die Interessen der Oberschicht mit denen der Gesellschaft gleichgesetzt werden. Gemeint war damit nicht, dass die adlige Oberschicht der Gesellschaft ihre Interessen oktroyiert, sondern man ging davon aus, dass der Adel als „pars valencior“ in der Lage war, das Gemeinwohl des Ganzen zu erkennen und durchzusetzen (ebd.: 209f.). Der Adel verkörperte in diesem Modell die gesamte Gesellschaft. Man sieht, auch hier scheint es ein unproblematisches Kontinuum zwischen der Rationalität der Oberschicht und der Rationalität der Gesamtgesellschaft gegeben zu haben. In einem langsamen Prozess zerbricht dieses Rationalitätskontinuum. Marx liefert dann schon eine Vielzahl wissenschaftlicher Thesen, die belegen sollen, dass der Interessengegensatz zwischen den herrschenden und den beherrschten Klassen unüberbrückbar ist und sich nicht durch Kompromiss aussöhnen lässt. Die Arbeitswertlehre (Marx 1957: 127ff.) und die These der im modernen Kapitalismus immer deutlicheren Umkehrung des Verhältnisses von fixem und variablem Kapital (ebd.: 337ff.), sollten nachweisen, dass ein gewerkschaftlicher Kampf um höhere Löhne das Kollektivschicksal des Proletariats nie entscheidend verbessern können wird. Für Marx war klar, solange es Klassen gibt, kann es keine gesamtgesellschaftliche Rationalität in der Gesellschaft geben, sondern nur partikulare Interessen. An diese Theorien struktureller Konflikte haben Marx und seine Schüler eine Vielzahl von Theorien abgeleiteter Konflikte angehängt, die erklären sollten, weshalb die Kämpfe in der Produktionssphäre zu Konflikten zwischen verschiedenen Staaten führen wie in der Imperialismustheorie (Brewer 1989: 71), oder weshalb der Klassenkampf unter veränderten Vorzeichen im massenmedial verbreiteten Sport weitergeführt wird (Adorno 1995: 188ff). Auch wenn sich diese Theorien struktureller Konflikte kaum bewährt haben, so verdeutlichen sie doch, wie sehr sich die gesellschaftlichen Plausibilitäten im Übergang zur modernen Gesellschaft geändert haben. Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommen dann beispielsweise auch die Vertreter der Theorien der Machtelite (Pareto 2003), die die marxistische Theorie abgelehnt haben, aber ein
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ebenso scharfes Bild vom Interessengegensatz zwischen einer organisierten Minderheit und einer unorganisierten Mehrheit entwickelt haben. Diese Änderung in der Semantik für Schichtung wurde schrittweise vollzogen. Lange Zeit wird beispielsweise die Grundstruktur des Modells „der drei Ordnungen“ beibehalten, in der das Verhältnis der drei offiziellen Schichten als Form der harmonischen Arbeitsteilung derer die beten, derer die mit dem Schwert kämpfen und derer, die den Boden bearbeiten, verstanden wird (Duby 1981: 16). Die Beschreibungen der Schichtungsstruktur wurden weiterhin durch ein dreigliedriges Klassenschema gebildet, und die Klassen wurden anhand ihrer gesellschaftlichen Funktion identifiziert. Allerdings attestierte man dem Adel bereits Funktionslosigkeit (sterile Klasse) (Schluchter 1985: 20).1 Da aber immer noch zwei Klassen übrigblieben, die jeweils eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllen sollten, konnte die Gesellschaft selbst noch als stabile Hierarchie beschrieben werden. Auch das Konzept der repräsentativen Klasse konnte noch lange beibehalten werden, auch wenn jetzt wie bei Saint Simon die Industriellen diese Position übernehmen sollten (ebd.: 22). Man hat hier einfach eine repräsentative Oberschicht durch die andere ersetzt. Erst Marx überführt die dreigliedrige Schichtungsstruktur in eine zweigliedrige. Wenn jetzt eine Klasse wegfällt, dann erhält man die klassenlose Gesellschaft, die nun nicht mehr Angst vor dem totalen Ordnungsverlust auslöst, sondern als Heilsversprechen in Aussicht gestellt werden kann (Luhmann 1985: 126). Doch auch Marx hält noch an der Vorstellung der repräsentativen Klasse fest. Allerdings wird nun die Unterschicht der kapitalistischen Gesellschaft zur repräsentativen Klasse erklärt, weil Marx ihr zutraut, die Klassengesellschaft selbst abzuschaffen (Marx 1971: 537). Marx kann sich immer noch eine Gesellschaft ohne Bruch im Rationalitätskontinuum vorstellen. Die klassenlose Gesellschaft kennt eben auch keine Gruppen-
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„Sie besteht aus einem Gedankenexperiment. Setzen wir den Fall, konstruiert SaintSimon, Frankreich verlöre über Nacht seine herrschende Klasse, also die Spitzen des Adels, der Regierung, der Kirche, des Eigentums und der Bürokratie, die Franzosen wären sicherlich betrübt, ‚weil sie gute Menschen sind und nicht gleichgültig eine so große Zahl ihrer Mitbürger plötzlich verschwinden sehen können‘; verzweifelt aber müssten sie nicht sein, denn ihre Wohlfahrt würde dadurch nicht ernstlich bedroht. Setzen wir aber den Fall, konstruiert Saint-Simon weiter, Frankreich verlöre über Nacht seine produzierende Klasse, also die Spitzen der Wissenschaft, der Kunst, der Wirtschaft, der Landwirtschaft, des Handwerks und der Arbeiter, die Franzosen wären nicht nur betrübt, sie hätten zu grösster Verzweiflung Anlass, denn ihrer aller Wohlfahrt wäre ernstlich in Gefahr.“ (Ebd.: 20)
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partikularismen. Marx nimmt eine ambivalente Stellung im Diskurs über das Verhältnis von Rationalität und Schichtung ein. Indem Marx die Beschreibung der modernen Gesellschaft auf einen einzigen strukturellen Großkonflikt zugespitzt und die klassenlose Gesellschaft in Aussicht gestellt hat, hat er radikal mit der Vorstellung von Schichtung als Grundstruktur des Kosmos gebrochen, die bis dahin Ordnung und Sicherheit garantieren sollte. Andererseits ist Marx aber auch einer der letzten Autoren gewesen, die sich eine moderne Gesellschaft mit einheitlicher Rationalität vorstellen konnten. Die klassenlose Gesellschaft wäre eine Gesellschaft mit unversehrtem Rationalitätskontinuum. Die Schichtungstheorie nach Marx trennt sich vollständig von der Idee eines gesellschaftlichen Ganzen. Ebenso trennt man sich vom Konzept der repräsentativen Klasse. Das Vertrauen in die historische Mission der Arbeiterklasse geht verloren (Gorz 1983) und übrig bleibt eine lose Einheit partikularistischer Gruppen. Damit ist der Bruch mit den vormodernen Vorstellungen von Schichtung vollständig vollzogen. Man kann dann auch die Fokussierung auf einen einzigen gesellschaftlichen Großkonflikt aufgeben und stattdessen eine Vielzahl weiterer Konfliktlinien mitthematisieren. Die Schichtungstheorie entdeckt die Mittelschichten wieder und den Neomarxisten gelingt es nicht, diese überzeugend auf der einen oder anderen Seite des Konflikts von Kapital und Arbeit zu verorten.2 Die Ungleichheitssoziologie behandelt heute Klasse, Gender, Ethnizität oder die Stadt/Land Differenz als gleichrangige Ursachen sozialer Ungleichheit.3 Kreckel
2
So rechnet Poulantzas die neuen Mittelschichten, vor allem das mittlere Management und den Stab in den großen Organisationen, dem Bürgertum als „neues“ Kleinbürgertum zu (Poulantzas 1974: 219ff.). André Gorz rechnet diese Gruppe der Arbeiterschaft als ‚neue‘ Arbeiterschaft (Gorz 1983: 66) zu und Wright schlägt das Konzept der widersprüchlichen Lagen für diese Gruppe vor (Wright 1995: 20f.). Hier handelt es sich nicht nur um ein Problem der wissenschaftlichen Klassifikation, sondern immer auch um ein politisches Problem, da man unter diesen Umständen nicht vorhersehen kann, welcher Partei sich diese Gruppen im Klassenkampf zuwenden werden, oder, ob sie sich gar indifferent verhalten werden.
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So verfährt beispielsweise der bekannte Reader „Social Stratification: Class, Race & Gender“ von David B. Grusky. (Grusky 2001) und Reinhard Kreckel schreibt: „Neben den oben genannten ‚neuen‘ Ungleichheiten möchte ich als weitere Disparitäten, die sich dem vertikalem Schema nur schwer fügen, regionale Disparitäten, einschließlich des sogenannten Stadt-Land-Gefälles, Benachteiligungen von Minderheiten und sog. Randgruppen sowie die periphere Lage der ‚Gastarbeiter‘ benennen.“ (Kreckel 1997: 35). Auch der Diskursmarxismus in der Tradition von Stuart Hall hat diesen Weg be-
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hat dafür die Terminologie sich überlappender Zentrum/Peripherie-Verhältnisse vorgeschlagen, die die alte Klassenterminologie ablösen soll. Diese ungeheure Vielzahl heterogener Verteilungskonflikte führt so viele Brüche ins Rationalitätskontinuum der Gesellschaft ein, dass die Rückkehr zu einer Gesellschaft mit einheitlicher Rationalität kaum noch realisierbar erscheint.4 Die neuere Ungleichheitssoziologie hat aber nicht nur ihre Einschätzung der Zahl der verteilungsabhängigen Gruppenkonflikte nach oben korrigiert, sie hat auch den Automatismus von den Verteilungsungleichheiten zu den Interessengegensätzen zum Konflikt in Frage gestellt. Die Ungleichverteilung sozial hoch bewerteter Güter beeinflusst zwar die Entscheidungskalküle der Individuen, daraus müssen aber nicht zwangsläufig Verteilungskonflikte resultieren. So lehnt die Ungleichheitssoziologie heute allgemein die Vorstellung ab, dass Klassen kollektiv handlungsfähige und damit auch konfliktfähige Akteure sein können. Kreckel hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass den Klassen als sozialen Einheiten die Mittel fehlen, das Problem des Trittbrettfahrers in den Griff zu bekommen (ebd.: 142). Starke Klassenbegriffe, wie der des kollektiv handlungsfähigen Akteurs oder der sozial integrierten Großgruppe, werden heute meist durch analytische Klassenbegriffe ersetzt, die rekonstruieren, wie Verteilungsungleichheiten die individuellen Handlungsoptionen verändern (Goldthorpe 2000b: 1572). Stärkere analytische Klassenbegriffe (Bourdieu 2007) gehen davon aus, das die schichtspezifischen Verteilungsungleichheiten die Sozialisationsbedingungen in den Familien beeinflussen, so dass die Individuen derselben Schicht
schritten und sich zunehmend von der Annahme eines einzigen gesellschaftlichen Großkonflikts wegbewegt und ethnische Spaltungen mitthematisiert. 4
„Spätestens seit Max Webers Tagen scheint es für nicht-marxistische Schichtungsforscher eine Selbstverständlichkeit, für Marxisten hingegen ein ständig irritierendes Problem, dass die eindeutige empirische Polarisierung von zwei einander gegenüberstehenden und offen feindlichen Klassen oder Lagen – also die traditionelle Klassenkampfsituation – in der die unterprivilegierte Mehrheit einer privilegierten Minderheit solidarisch (oder zumindest potentiell solidarisierbar) gegenübersteht – ein historisch eher unwahrscheinlicher Ausnahmefall zu sein scheint. Die Regel sind unklare Verhältnisse. Dazu trägt nun nicht nur der gerade genannte Sachverhalt bei, dass es gleichzeitig mehrere sich überlappende oder neutralisierende oder auch verstärkende Ebenen von ‚Zentrum-Peripherie‘-Spannfeldern geben kann; denn das Begriffspaar von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ selbst macht eine direkte Konfrontation zwischen beiden nicht denknotwendig. Mit dem Auftreten von Mittel- oder Mittlerpositionen bzw. ‚Semiperipherien‘ ist vielmehr geradezu zu rechnen.“ (Ebd.: 47).
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denselben Habitus aufweisen, der sich in ihrem Handeln niederschlägt. Schwächere analytische Klassenbegriffe gehen davon aus, dass Verteilungsungleichheiten vor allem als „Constraints“ des Handelns wirksam werden. Schichtdifferenzen schlagen sich hier als unterschiedliche individuelle Handlungsoptionen wieder. Beide Erklärungen stellen fest, dass es zu schichtspezifisch homogenen Handlungsmustern kommt, ohne das daraus auf Gruppensolidarität und Klassenkampf geschlossen werden kann. Man stellt lediglich eine Tendenz zu selektiver Assoziation fest, bei der die Angehörigen derselben Schicht sich bei frei gewählten Kontakten präferieren. Vom Schicksalskollektiv ist nur noch eine statistische Wahrscheinlichkeit der sozialen Nähe übrig geblieben. Aber selbst in diesen abgeschwächten Versionen prognostiziert die konflikttheoretische Spielart der Schichtungssoziologie noch mehr Verteilungskonflikte als tatsächlich in der sozialen Welt stattfinden. Die konflikttheoretische Ungleichheitssoziologie benötigt deshalb Erklärungen, warum aus wissenschaftlicher Perspektive erwartete Konflikte nicht ausbrechen. Ralf Dahrendorf hat dafür die Unterscheidung von latenten und manifesten Konflikten eingeführt. Der Soziologe konstruiert aufgrund messbarer Verteilungsungleichheiten Interessengegensätze und behandelt dann diese wissenschaftlichen Konstruktionen als tatsächliche aber eben latente Konflikte. Der Soziologe „sieht“, dass die beobachtenden Individuen allen Grund hätten einen Verteilungskonflikt auszutragen und fragt sich dann, wie sich die Individuen so sehr über ihre „eigentlichen“ Interessen täuschen können. An dieser Stelle werden dann häufig Konzepte wie die Differenz subjektiver und objektiver Rationalität, Ideologie, adaptive Präferenzen oder irrationale Komplizenschaften zwischen Beherrschten und Herrschenden eingeführt, um die relative „Friedlichkeit“ der modernen Gesellschaften erklären zu können.
D IE U NTERSCHEIDUNG DER M IKRO -, DER M ESO UND DER M AKROEBENE IN DER S OZIOLOGIE Ich hatte weiter oben auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Meritokratiemodell und der vormodernen Teil/Ganzes-Semantik hingewiesen. Diese strukturelle Ähnlichkeit zeigt sich auch im Hinblick auf die Mikro-, Meso- und Makrodebatte. Beide Modelle sehen im Verhältnis der verschiedenen Ebenen sozialer Ordnungsbildung keine strukturellen Brüche und Diskontinuitäten vor. Auch in der Soziologie finden sich Ansätze, die nicht davon ausgehen, dass es strukturelle Brüche im Übergang von einer Ebene zur anderen gibt. Es handelt sich dabei meist um mikro- oder makrodeterministische Ansätze, die davon ausgehen, dass
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sich die sozialen Strukturen auf einer Ebene durch die Prozesse auf einer anderen Ebene erklären lassen. Makrodeterministische Ansätze basieren auf der Annahme, dass sich beispielsweise Organisationen als effiziente Instrumente gesellschaftlich vorgegebener Organisationszwecke verstehen lassen, und dass die Individuen auf der Mikroebene in ihrem Motivhaushalt perfekt auf die Chancen und Zumutungen der Gesellschaft eingestellt seien. Mikrodeterministische Akteurstheorien wie der Rational-Choice-Ansatz erklären wiederum die Gesellschafts- und Organisationsstrukturen aus den Gelegenheitsstrukturen individueller Entscheider. Interessanterweise finden sich im Meritokratiemodell makrotheoretische Entwürfe, die stark an den Strukturfunktionalismus angelehnt sind, aber auch RCT Modelle, die den Statuszuweisungsprozess auf individuelle Präferenzen zurückführen, ohne dass dadurch die interne Kohärenz des Meritokratiemodells leiden würde. Wie das Teil/Ganze-Modell lebt das Meritokratiemodell von der wundersamen Harmonisierung beider Perspektiven. Das Meritokratiemodell lässt sich dabei aus drei Perspektiven kritisieren: Erstens: Da es sich beim Meritokratiemodell entweder um ein makrodeterministisches oder ein mikrodeterministisches Modell handelt, lässt es sich aus der des komplementären Reduktionismus kritisieren. Ungleichheitssoziologische RCT Modelle heben hervor, dass es für die Individuen beispielsweise rational sein kann, auf vorhandene Aufstiegsmöglichkeiten zu verzichten. Sie wenden sich gegen die makrotheoretischen Versionen des Meritokratiemodells, nach denen funktionale Differenzierung irgendwann Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess durchsetzen wird. Ungleichheitssoziologische Makrotheorien, wie sie beispielsweise von Pierre Bourdieu vertreten wurden, gehen dahingegen davon aus, dass die Individuen der Arbeiterklasse beispielsweise in einem Akt vorauseilenden Gehorsams auf Aufstiegsambitionen verzichten, da sie sich auf höheren Positionen für fehl am Platz hielten. Hier ist die Kritik gegen die individualistischen Versionen des Meritokratiemodells gerichtet, wie sie sich in der Humankapitaltheorie finden. Zweitens: Lässt es sich aus der Perspektive der Spezialisten für die Mikro-, Meso- und Makroebene kritisieren. Diese Ansätze versuchen zu zeigen, dass jede Ebene sozialer Ordnungsbildung eigene Strukturgesetzlichkeiten aufweist, die Einflüsse aus den anderen Ebenen brechen oder kanalisieren. Drittens: Lässt es sich aus der Perspektive von Soziologen kritisieren, die das Verhältnis der verschiedenen Ebenen durch Interdependenz und nicht durch Determinismus charakterisieren. Hierbei handelt es sich um komplexe Analysen, die eine Analyse des Statuszuweisungsprozesses von vornherein als Mehrebenanalyse führen würden. Die Auseinandersetzungen verschiedener reduktionistischer Lösungen werden meistens auf einer grundlagentheoretischen Basis geführt. Auf der einen Sei-
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te stehen oft makrotheoretische Ansätze (mit oder ohne Gesellschaftsbegriff5) und auf der anderen Seite individualistische Erklärungsansätze wie der Rational Choice. Hier geht es um grundlegende sozialtheoretische Auseinandersetzungen. Teilweise werden diese Kontroversen auch als methodologische Auseinandersetzungen zwischen Vertretern einer quantitativen und einer qualitativen empirischen Forschung geführt. Die Argumentationslinien in diesem Feld stehen seit längerer Zeit und man findet hier wenig Bewegung. Die Stärke reduktionistischer Ansätze besteht vor allem in der gekonnten Kritik der entgegengesetzten Reduktionismen. Sehr viel gegenstandsnäher sind die Beiträge von Gesellschaftstheoretikern, Organisationssoziologen und Interaktionssoziologen. Man findet hier auch empirisch gut gestützte Belege für die Eigenständigkeit der jeweiligen Ebene, die klar gegen reduktionistische Verfahren sprechen. Die Beiträge des dritten Typs versuchen den Beiträgen der Spezialisten Rechnung zu tragen und Konzepte zu entwickeln, die die Interdependenzen und Interdependenzunterbrechungen zwischen den verschiedenen Ebenen zu erfassen versuchen. Die wahrscheinlich älteste Auseinandersetzung zwischen mikro- und makrodeterministischen Ansätzen dreht sich um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Utilitaristische Ansätze wie der RCA verlangen, das makrostrukturelle Phänomene auf dem Umweg über die individuelle Situationswahrnehmung, die Bewertung und Selektion der Handlungsalternativen anhand von Präferenzen und Erfolgswahrscheinlichkeiten und der abschließenden Modellierung der aggregierten Effekte der zumindest subjektiv rationalen Handlungen der verschiedenen Akteure erklärt werden müsse. Makrodeterministische Ansätze haben meist zwei fundamentale Einwände gegen diesen Erklärungsweg vorgebracht: Einerseits könne man so nicht erklären wie es zur Entstehung stabiler sozialer Ordnungen auf der Makroebene komme6 oder das Modell liefere ein völlig szientistische Beschreibung individueller Akteure (Mikroebene), da soziale Ordnung nur dann mit den Mitteln des Rational Choice erklärt werden könne, wenn
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In diesen Makrotheorien wird der Gesellschaftsbegriff einfach durch den Kulturbegriff ersetzt. Unter diesem Label finden weberianische Autoren wie Schluchter (Schluchter 1998), Schwinn (2001) oder Bourdieu (1987) mit Kultursoziologen wie Reckwitz (2000) zusammen.
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Nach Parsons führt die atomistische Grundkonstruktion des Rational Choice dazu, dass man hier von der Zufälligkeit von Präferenzen ausgehen muss. Wenn jedes Individuum seine eigenen Präferenzen selbst bestimme, dann könne das Ergebnis nur eine zufällige Ordnung der sozialen Welt sein (Parsons 1968b: 59ff.).
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sich die Individuen alle im wissenschaftlichen Sinne „rational“ verhielten (Parsons 1968b: 66ff.). Dieser Vorwurf ist später dahingehend erweitert worden, dass der Rational Choice auch zu einer völlig „unrealistischen“ Beschreibung individuellen Handelns führe. Zum einen sei individuelles Handeln die meiste Zeit durch die Orientierung an unreflektierten Handlungsroutinen bestimmt und könne deshalb gar nicht mit dem Modell der rationalen Wahl beschrieben werden (Bourdieu/Wacquant 1996: 47). Zum anderen sei der Rational Choice nicht in der Lage, die Herausbildung und Änderung von Präferenzen zu erklären7 und er scheitere an der Heterogenität individueller Präferenzen. Makrodeterministische Ansätze wiederum erklären die Reproduktion stabiler Gesellschaftsstrukturen vor allem dadurch, dass die Gesellschaft über Sozialisation die Präferenzen, Normen und kognitiven Wahrnehmungsschemata der Individuen prägt (Parsons 2001: 53ff.). Die Makrostrukturen können dann das individuelle Handeln durch die Internalisierung von Werten und Normen beeinflussen, so dass das Individuum selbst zum Hüter der Gesellschaftsordnung wird, das sich bei Devianz selbst bestraft. Betont man die Abhängigkeit der Individuen von sozialer Anerkennung durch andere Akteure, dann geht man davon aus, dass sich die Individuen wechselseitig bewachen. Besonders Talcott Parsons hat stark auf diese beiden Mechanismen gesetzt. Dadurch lässt sich nicht nur die Reproduktion der sozialen Ordnung erklären, sondern auch die Herausbildung und Änderung individueller Präferenzen. Diese werden durch Änderungen der Ge-
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Dieser Vorwurf muss sicher relativiert werden. So hat Jon Elster zwischen einer dünnen Theorie rationalen Entscheidens und einer breiten Theorie rationalen Entscheidens unterschieden (Elster 1983: 26-42). Dieser häufig geäusserte Vorwurf bezieht sich nur auf die dünne Theorie rationalen Entscheidens. Die breiter gefasste Alternative, zu der Elster selbst wichtige Beiträge geleistet hat, unterscheidet zwischen einem rationalen und einem irrationalen Prozess der Präferenzbildung. Rational soll eine Präferenzbildung sein, die auf bewusster Urteilsbildung beruht. Als irrational bezeichnet Elster hingegen eine Präferenzbildung, die hinter dem Rücken des Akteurs aufgrund unbewusster Prozesse erfolgt. Elster denkt hier an adaptive Präferenzen, „Wishfull Thinking“, kognitives „Framing“ und anderes. Doch kann der Rational Choice irrationale Präferenzbildungen erklären, ohne auf „mystische Kräfte“ hinter dem Rücken der Akteure zu setzen? Elster muss letztlich eine „subjektiv“ rationale Herausbildung „objektiv“ irrationaler Präferenzen annehmen, wobei „subjektiv“ hier nur noch meint, nach den Maßstäben des rational Choice noch als konsistentes Entscheiden rekonstruierbares Verhalten bedeutet, und „objektiv“ einfach mit dem durch das „rational Choice“ Modell prognoszierten Verhalten gleichgesetzt wird.
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sellschaftsstruktur selbst ausgelöst. Diese Theorietradition ist wiederum dafür kritisiert worden, die Individuen als hilflose Marionetten sozialer Strukturen oder als zwanghafte Konformisten darzustellen. Diese Theorietradition arbeite mit einem Konzept „des übersozialisierten Menschen“ (Wrong 1961: 193). Vertreter des „Rational Choice“ werden an dieser Stelle zudem einwenden: Hier werde von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Individuen von Normen abweichen, sollte ihnen dies aus individuellem Kalkül rational erscheinen. Diese Theorie unterschätze das Problem des Trittbrettfahrers und die Differenz individueller und kollektiver Rationalität. Wrong hat hingegen aus psychoanalytischer Perspektive die Kritik zugefügt, dass dabei vor allem die Heterogenität und Widersprüchlichkeit menschlicher Psychen unterschätzt werde. Interessanterweise trifft dies zumindest auch auf die „dünne Theorie“ rationalen Entscheidens zu. Man sieht an dieser Stelle das Dilemma reduktionistischer Perspektiven. Der Rational Choice wendet sich mit triftigen Argumenten gegen makrodeterministische Modelle und ihre Tendenz zu übersozialisierten Menschenbildern, aber er verfällt, wie Granovetter überzeugend demonstriert hat, der komplementären Tendenz „untersozialisierter“ Menschenbilder (Granovetter 1985: 483ff.). Sie beschränken den Einfluss der Makrostrukturen auf das individuelle Handeln auf die Einschränkungen durch „Constraints“, seien es materielle Ressourcen, erwartete Sanktionen oder von der Umwelt des Individuums zur Verfügung gestellte Informationen. Das heißt aber, dass zumindest in den dünnen Versionen des Rational Choice die Präferenzen der Individuen als gegeben behandelt werden müssen und Handeln generell nach dem Modell der rationalen Auswahl konzipieren müssen. Zwar vermeiden sie damit das Risiko des problematischen Kurzschlusses, dass man die Reproduktion einer Gesellschaftsstruktur dadurch erklärt, indem man die Sozialstruktur umstandslos in die Köpfe der Individuen projiziert, aber sie neigen bei der Rekonstruktion der „subjektiven“ Rationalität zu einem ähnlichen Irrtum. Sie tendieren bei der Analyse sozialen Handelns der Akteure zu einer Substitution der Logik des Alltags mit der Logik der Wissenschaft, die für das Alltagshandeln dieselbe Explizitheit und Reflektiertheit wie beim Forschungshandeln unterstellt (Bourdieu 1980: 87-96). Letzten Endes scheinen diese beiden reduktionistischen Lösungen letztlich auf fast dieselben Probleme aufzulaufen. Inhaltlich weiter führen die Beiträge der Spezialisten auf den verschiedenen Ebenen sozialer Ordnungsbildung wie „Face-to-Face“ Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Völlig unabhängig von der Frage, ob man nun akteurstheoretische, kommunikationstheoretische oder systemtheoretische Grundbegriffe zur Beschreibung dieser Phänomene wählt, finden sich in der Literatur von Interak-
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tionssoziologen, Organisationssoziologen und Gesellschaftstheoretikern starke Argumente, warum es sich bei diesen Prozessen um selbstständige nicht auf andere soziale Prozesse reduzierbare Ordnungsbildungen handelt. So finden sich bei Goffman selbst akteurstheoretische (Goffman 1969) und systemtheoretische Formulierungen (Goffman 1961: 95ff.) der Interaktionssoziologie. Durch alle Schriften zieht sich allerdings die These hindurch, dass Situationen, in denen physisch kopräsente Personen sehen, dass sie gesehen werden, ganz bestimmte in anderen sozialen Bereichen nicht vorfindbare Verhaltens- und Kommunikationsprobleme mit sich bringen wie den Zwang zur Selbstdarstellung und die Verwobenheit der individuellen Selbstdarstellungen. Daran schließt die These an, dass sich diese Verhaltensprobleme in einer spezifischen normativen Ordnung niederschlagen, die die Informations- und Gesprächsreservate der Individuen schützt und die Körperhaltung der Individuen diszipliniert. Dasselbe gilt für den Bereich formaler Organisationen, die sich als soziale Einheiten über Mitgliedschaftsrollen von ihrer Umwelt abgrenzen und als rekursive Entscheidungsprozesse beschrieben werden können. Diese lassen sich eben nicht als passive Instrumente extern gesetzter Zwecke beschreiben, da der Organisationzweck das Verhalten in der Organisation schon deshalb nicht determiniert, da diese Zwecke meist nur vage ausformuliert sind, jede Organisation mehr als einen Zweck verfolgen muss, um sich reproduzieren zu können, und weil die Organisation ihren obersten Zweck auch ändern kann, um ihr Überleben zu sichern. Die Evolution der modernen Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien hat zudem den Bereich der Makrostrukturen deutlicher aus den anderen Ebenen sozialer Ordnungsbildung hervortreten lassen. Wissenschaft wird sicher auch in der Interaktion unter Anwesenden betrieben und zu ihrer kontinuierlichen Reproduktion wurden spezifische Arbeitsorganisationen wie Universitäten oder Forschungsinstitute hervorgebracht, aber Wissenschaft existiert immer auch als Prozess wechselseitig aufeinander Bezug nehmender Publikationen abwesender Autoren. Dasselbe gilt für die Wirtschaft, die sich schon lange nicht mehr auf die Interaktion auf lokalen Marktplätzen aber auch nicht auf die Kommunikationsprozesse in Wirtschaftsunternehmen reduzieren lässt, sondern eben immer auch aus langen geldvermittelten Investitions- und Konsumptionsketten besteht, die zwischen abwesenden Personen stattfinden, die nicht in derselben Arbeitsorganisation arbeiten. Dabei wäre es ebenso sinnlos die verschiedenen Ebenen sozialer Ordnungsbildung isoliert nebeneinander zu stellen. So sind die Informationskapazitäten von Interaktion unter Anwesenden eher gering einzuschätzen. Die Interaktion
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beginnt, wenn ein zweiter Akteur anwesend ist und sie endet, wenn der vorletzte Teilnehmer gegangen ist. Dazwischen herrscht strenge Sequentialität8, bei der immer nur ein Teilnehmer sprechen kann. Interaktionen gehören zudem zu den undifferenzierbaren Systemen, denen mangels Binnendifferenzierung die Möglichkeit verschlossen ist, mehr als ein Thema gleichzeitig behandeln zu können (Kieserling 1999: 37). Interaktionen müssen deshalb immer schon gesellschaftlich reduzierte Umweltkomplexität voraussetzen. Dazu gehören die Identitäten der Interaktionspartner, die Rollenverhältnisse der Anwesenden und eine einheitliche Weltzeit, die die Terminierung von Interaktionen möglich macht. Zwar können die Anwesenden gemeinsam von gesellschaftlichen Rollenvorschriften abweichen oder durch Rollendistanz die Differenz von Rolle und Identität markieren. In nichtkonsequentiellen Interaktionen kann die Verbindung der Identität in der Interaktion von der situationsübergreifenden Identität des Akteurs abgelöst werden. Aber diese Freiheitsgrade können in der Interaktion nicht gleichzeitig, sondern immer nur partiell ausgenützt werden (Kieserling 1999: 242ff.). Dasselbe gilt für Organisationen. Zwar fallen die Informationsverarbeitungskapazitäten von Organisationen viel größer aus als die von „Face-to-Face“ Interaktionen, dennoch verlassen sich auch formale Organisationen ganz stark auf die Komplexitätsreduktionen ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Formale Organisationen erreichen eine hohe synchrone Komplexität durch Binnendifferenzierung, doch sie scheinen gerade von ihrer hohen Eigenkomplexität überfordert zu sein. Man darf nicht vergessen, dass in formalen Organisationen alle Strukturen als entscheidungsabhängig behandelt werden müssen und per Entscheidung geändert werden können. Gerade der Neoinstitutionalisierung betont, dass formale Organisationen eine große Tendenz zur fraglosen Übernahme externer Rationalitätsmythen aufweisen (Meyer/Rowan 1977). Dabei gerät aber auch die Organisationsoziologie immer wieder in Gefahr von einer wachsenden Sensibilität für die Umweltabhängigkeit formaler Organisationen in Makrodeterminismen umzukippen. So blendet die Populationsökologie die internen Kommunikationsprozesse von Organisationen komplett aus, und führt die Strukturen der Organisationen einer Population nur noch auf die Selektion durch Umwelt zurück (Hannan/Freeman 1984). Aber auch die moderne Gesellschaft bleibt auf Interaktionen und Organisationen angewiesen (Kieserling 1999: 250ff.). Wichtige Funktionssysteme wie das Erziehungssystem oder das Medizinsystem müssen zentrale As-
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Es gibt Interaktionsformen, die sich nicht an Sequentialität halten, wie Politikdiskussionsrunden im Fernsehen, die regelmässig in einen wilden Streit ums Wort ausarten. Das steigert aber nicht eben die Inforamtionsverarbeitungskapazitäten dieser Systeme.
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pekte ihrer Kommunikationsprozesse in der Interaktion unter Anwesenden durchführen (ärztliche Diagnose und Therapie, erziehender Unterricht). Dennoch scheint es aus gesellschaftstheoretischer Perspektive wenig plausibel zu sein, gesellschaftliche Schichtungsstrukturen oder die Institutionenstruktur funktionaler Differenzierung einfach nur aus einer Aggregation von Interaktionen zu verstehen. Ich möchte jetzt eine knappe Skizze des Statuszuweisungsprozesses anfertigen, in der die Mikro-, Meso- und Makroebene als eigenständige aber interdependente Ebenen sozialer Ordnungsbildung behandelt werden (Goffman 1982: 7, Schegloff 1987: 209, Kieserling 1999: 335ff., Luhmann 2000: 380ff.). Auf der Makroebene lässt sich ein schichtungstheoretischer und differenzierungstheoretischer Zugang unterscheiden. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive besteht der Statuszuweisungsprozess vor allem aus dem Verhältnis der Leistungsnachfrage der rekrutierenden Funktionssysteme und dem Leistungsangebot des Erziehungssystems. In dieses Verhältnis mischen sich wie dargestellt weitere Funktionssysteme wie die Politik, die Wissenschaft oder das Recht ein. Aus dieser Perspektive stellt sich vor allem die Frage nach dem Integrations- und Rationalitätsgrad dieser Leistungsbeziehungen. Ein Statuszuweisungsprozess von einheitlicher Kettenrationalität würde einerseits den Einfluss partikularistischer Interessengruppen neutralisieren, den intelligenten und leistungswilligen Individuen optimale Aufstiegsmöglichkeiten sichern und allen Individuen eine rationale Planbarkeit der eigene Karriere ermöglichen. Geht man von einer Differenzierungstheorie aus, die die strukturellen Brüche zwischen den ausdifferenzierten Teilsystemen betont, dann kann man sich den Statuszuweisungsprozess nicht mehr als selbstdeterminierten von externen Einflüssen isolierten Prozess vorstellen. Man wird dann davon ausgehen müssen, dass die schichtabhängigen Einflüsse des Familienhintergrunds sich sowohl in den Schul- wie in den Berufskarrieren wiederfinden, da die Familien je nach Schichtposition unterschiedlich gute Startbedingungen bieten. Die Organisationen werden sich in ihren Personalentscheidungen nicht von den Selektionen im Erziehungsprozess determinieren lassen, da deren Sozialisations- und Erziehungseffekte ohnehin nur lose mit den Anforderungen in den Mitgliedschaftsrollen der Arbeitsorganisationen gekoppelt sind. Stattdessen werden sie deren Zertifikate nach ihrer eigenen Logik benutzen, um die Personalbewegungen ihrer Mitglieder zu kanalisieren. Man wird damit rechnen müssen, dass die verschiedenen am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systeme schichtspezifische Vorteile bei den Startbedingungen in den Schul- und Berufskarrieren sogar vergrößern werden, wenn dies ihrer Logik entspricht. Und man wird nicht ausschließen können, dass partikularistische Gruppen die mangelnde Kohärenz und funktionale Unterbestimmtheit des Statuszu-
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weisungsprozesses dazu nutzen werden, ihre Gruppeninteressen als funktionale Erfordernisse der modernen Gesellschaft zu tarnen. Auf jeden Fall wird man dann funktionale Differenzierung nicht mehr mit Meritokratie oder Chancengleichheit gleichsetzen können. Aus ungleichheitssoziologischer Perspektive stehen die Verteilungsstrukturen der modernen Gesellschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sozial hoch bewertete Ressourcen wie Geld, Bildung, Sozialkapital, Personalmacht in Organisationen üben aus ungleichheitssoziologischer Perspektive einen direkten Einfluss auf den Statuszuweisungsprozess aus. In der Regel geht man hier davon aus, dass die Verteilungsungleichheiten sich auf die Mobilitätschancen der Individuen auswirken, indem sie sich in den jeweils offenstehenden Handlungsalternativen, also in der Kostenstruktur des „Opportunity Sets“, den Erfolgswahrscheinlichkeiten und Risiken der verschiedenen Handlungsoptionen und in den zur Verfügung stehenden Informationen niederschlagen. Außerdem wurde in vielen empirischen Analysen bestätigt, dass die gesellschaftlichen Verteilungsungleichheiten einen wesentlichen Einfluss auf die Sozialisationsbedingungen in den Familien auswirken (Kohn 1959, Kohn et al. 1986). Sie schlagen sich in den Bildungsambitionen der Eltern (Sewell/Sha 1968, in deren Erziehungsstil (Lareau 2002) und in der Bereitschaft zu aufgeschobener Bedürfnisbefriedigung nieder (Bourdieu 1987: 616ff.). Schichtung prägt also auch die Motive der Individuen. Des Weiteren wird häufig mit der Annahme gearbeitet, dass die Individuen, die mit demselben Maß an schichtspezifischen Ressourcen ausgestattet sind, rationale Motive haben werden sich zu solidarisieren, um sich beispielsweise durch Lobbyismus beim Staat ein Monopol im Zugang zu bestimmten Berufen zu sichern (Parkin 1979: 44ff.). Die Organisationen kanalisieren wiederum Mobilitätschancen, da heute die meisten Berufskarrieren Karrieren in und zwischen Arbeitsorganisationen sind. Organisationen beeinflussen die Mobilitätsstrukturen zunächst durch ihre Stellenstruktur, beispielsweise die Stellenbreite der verschiedenen Hierarchiestufen und die Zahl der Hierarchiestufen. Diesen Aspekt decken vor allem „Vacancy Chain“ Modelle auf, die die Personalbewegungen sichtbar machen, die freiwerdende Stellen in Arbeitsorganisationen auslösen (White 1970). Organisationen kanalisieren aber auch die Karrieren selbst. Je nach der Eintrittsstelle und den unterschiedlichen arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften der Individuen bieten die Organisation den Individuen sehr unterschiedliche Karrierechancen (Rosenbaum 1979). Vertikale Karrierebewegungen setzen oft horizontale Bewegungen voraus, da man als potentielles Mitglied des Firmenvorstands beispielsweise zunächst den Geruch der Parteilichkeit für bestimmte Abteilungen loswerden muss (Spilerman 1977: 563). Außerdem bilden Organisationen meistens Felder ähnli-
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cher Organisationen. Diese organisationalen Felder sind meist intern stratifiziert, so dass Vakanzen in den dominanten Organisationen des Feldes oft Vakanzen in den anderen Organisationen auslösen (Abbott 1996: 86). Die Organisationen müsen bei ihren Personalentscheidungen die unterschiedlichsten Bezugsprobleme berücksichtigen. Die verschiedenen Aufgabenprofile der verschieden Stellen bringen das Bezugsproblem der Rekrutierungsrationalität ins Spiel. Organisationen verwenden die Aussicht auf Beförderung aber auch als Mittel die Mitglieder für über das formal Einklagbare hinausgehende Leistungen zu motivieren. Änderungen in den Leistungsaustauschverhältnissen der Funktionssysteme oder in den Verteilungsstrukturen der Gesellschaft werden sich meist nicht direkt in den Mobilitätsstrukturen der Individuen niederschlagen, sondern durch die Strukturen der Organisationen vermittelt werden. Andererseits schlagen sich die unterschiedlichsten Prozesse in den beteiligten Funktionssystemen in den Karrierestrukturen der Organisationen nieder. Der Staat kann direkten Einfluss auf diese Karrierewege nehmen, indem er beispielsweise bestimmte Ausbildungszertifikate als Zugangsvoraussetzungen für bestimmte Berufe verbindlich vorschreibt. Politische Entscheidungen schlagen sich aber oft auch auf sehr viel indirektere Weise in den Personalentscheidungen der Organisationen nieder. So hat Neil Fligstein (1993: 259ff.) gezeigt, wie der aus ziemlich populistischen Motiven geführte Kampf gegen Monopole in Amerika seit den vierziger Jahren dazu geführt hat, dass die Wirtschaftsunternehmen ihre Unternehmensstrukturen komplett umgestellt haben, von der vertikal integrierten Großbürokratie zum Multidivisionsmodell, um auf andere Art und Weise der Konkurrenz auf dem Markt aus dem Weg zu gehen. Ein mobilitätssoziologischer Nebeneffekt dieser Änderung in den Organisationsstrukturen, war der nach und nach vollzogene Austausch des Führungspersonals, das bis dahin von den klassischen Produktionsmanagern dominiert wurde und danach vor allem aus den Kreisen der Finanzspezialisten rekrutiert wurde (295ff.). Man sieht: Eine politische Entscheidung in einem ganz anderen Politikfeld ändert die Rekrutierungsregeln für das Spitzenpersonal in großen Wirtschaftsunternehmen. Auf der Mikroebene kann man entweder direkt die Individuen oder eben das soziale Phänomen der „Face - to - Face“ Interaktionen als des Strukturbereichs mit der geringsten Reichweite einsetzen. Geht man hier von der Ebene der Interaktion unter Anwesenden aus, dann scheint die Interaktion oft so etwas wie der Gatekeeper zu den Karrieren in den Arbeitsorganisationen und Funktionssystemen zu dienen. Wer eine Karriere in einem Wirtschaftsunternehmen einschlagen will, der muss zunächst den Test in einem Bewerbungsgespräch durchstehen und dort eine vorteilhafte Selbstdarstellung zustande bringen. Er kann dabei nicht verhindern, dass er in dieser Situation in den verschiedensten und teilweise nur
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schwer zu kontrollierenden Aspekten seiner Person sichtbar wird. Man sieht auch hier werden die Karrieren der Individuen durch die Strukturen einer eigenständigen Ebene sozialer Ordnungsbildung gebrochen. Die den Statuszuweisungsprozess durchlaufenden Individuen stellen aber selbst eine eigenständige Ordnungsebene dar. Man darf die Individuen nicht als passive Spielbälle des Statuszuweisungsprozesses oder der schichtspezifischen Sozialisationsprozesse behandeln. Der Statusweisungsprozess der modernen Gesellschaft besteht aus der Kombination von Prozessen der karrierespezifischen Selbst- und Fremdrekrutierung. Je skeptischer man die Rationalität des Statuszuweisungsprozesses behandelt, desto mehr wird man einräumen müssen, dass die Selektionsprozesse in den am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssystemen den Individuen nur noch unzuverlässige Informationen über die für sie erreichbaren und geeigneten Berufsdestinationen liefern werden. Die Individuen müssen deshalb ihre Selbstrekrutierungsentscheidungen unter hoher Unsicherheit treffen. Außerdem muss an dieser Stelle Wrongs Kritik an „übersozialisierten“ Menschenbildern in der Soziologie berücksichtigt werden. Wenn die Individuen im Sozialisationsprozess die sozialen Erwartungen ihrer Umwelt kennen lernen, so darf daraus nicht automatisch auf Internalisierung geschlossen werden. Die Individuen mögen gerade die Chance schätzen, durch Devianz die eigene Identität besonders deutlich markieren zu können. Die Mobilitätsstrukturen sind deshalb auch immer das Ergebnis individueller Selbstrekrutierungsentscheidungen, die nie völlig durch die Strukturen der Gesellschaft, der Organisationen und Interaktionen determiniert sind.
Z USAMMENFASSUNG Untersucht man die semantische Tiefenstruktur des Meritokratiemodells, dann werden erstaunliche strukturelle Ähnlichkeiten mit der alteuropäischen Teil/Ganzes Semantik sichtbar. Das Meritokratiemodell schreibt dem Statuszuweisungsprozess eine lückenlose Kettenrationalität zu, die dafür sorgt, dass die Individuen durch das Erziehungssystem genau auf die Berufszweige dirigiert werden, die ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechen. Außerdem werden ihnen im Laufe ihrer schulischen Erziehung genau die Fähigkeiten antrainiert, die sie auf den für sie bereitstehenden Stellen benötigen werden. Die Rationalität des Statuszuweisungsprozesses führt zudem dazu, dass sich die Arbeitsorganisationen ganz auf die Selektionen des Erziehungssystems verlassen können. Die perfekte Teleologie des Statuszuweisungsprozesses im Meritokratiemodell, bei der alle beteiligten Systeme sich der Ordnung eines vollkommenen Gleichge-
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wichts fügen, spiegelt weitestgehend die Logik des Teil/Ganzen-Modells wieder. Dies gilt sogar noch für die harmonistische Beschreibung der Schichtungsstrukturen, die im Teil/Ganzen-Modell als Form der harmonistischen Arbeitsteilung der Stände dargestellt wurden und die im Meritokratiemodell komplementär als rationale Belohnungsstruktur der ausdifferenzierten Berufsrollen präsentiert wird. Da die Ungleichheitssoziologie Schwierigkeiten zu haben scheint konsequent mit dem Meritokratiemodell zu brechen, habe ich mich anschließend dem gesellschaftstheoretischen Diskurs zugewandt. Die soziologische Gesellschaftstheorie konstituiert sich durch einen Bruch mit den harmonistischen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, die die Semantik der vormodernen Gesellschaft dominiert haben. Die soziologische Schichtungstheorie verwendet dabei die Konflikttheorie, um mit der vormodernen Vorstellung zu brechen, dass die Begriffe Hierarchie und Ordnung gleichgesetzt werden müssen. Die gesellschaftlichen Schichtungsstrukturen garantieren dann nicht mehr Frieden und Vernunft, sondern generieren Konflikte und sozialen Wandel. In der Differenzierungstheorie setzt sich nach und nach Max Webers diskontinuierliche Beschreibung funktionaler Differenzierung durch, die gerade die zentrifugalen Tendenzen der modernen Gesellschaft herausstreicht. Man sollte deshalb annehmen, dass sich das Meritokratiemodell sowohl aus einer differenzierungstheoretischen wie aus einer konflikttheoretischen Perspektive dekonstruieren lässt. Etwas unübersichtlicher fällt der theoretische Diskurs zum Verhältnis der Mikro-, Meso-, Makroebene aus, da sich hier immer noch reduktionistische Versionen finden, die davon ausgehen, dass sich entweder die Ereignisse auf der Mikro- oder Makroebene auf Prozesse auf der jeweils anderen zurückführen lassen. Allerdings relativieren sich diese beiden Perspektiven wechselseitig, so dass es ratsam zu sein scheint, die Mikro-, die Meso- und Makroebene als eigenständige aber interdependente Ebenen sozialer Ordnungsbildung zu verstehen. Ich habe zum Schluss des Kapitels kurz anskizziert, welche Konsequenzen sich daraus für eine Analyse des Statuszuweisungsprozesses ergeben könnten.
Z UM V ERHÄLTNIS VON S CHICHTUNG UND D IFFERENZIERUNG Innerhalb der Gesellschaftstheorie haben sich mit der Differenzierungstheorie und der Schichtungstheorie zwei relativ isolierte Forschungstraditionen entwickelt, die höchstens einen peripheren Blick für einander übrig hatten. Zwar finden sich in den Werken der klassischen Schichtungstheorie immer wieder Stel-
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len, die sich en passant dem Phänomen funktionaler Differenzierung widmen. Einige der renommiertesten Autoren der Differenzierungstheorie wie Weber (1972: 177-181, 284-131, 531-540, ), Parsons (1964: 180-105), Davis/Moore (1944), Eisenstadt (1971) oder Luhmann (1985) haben sogar eigenständige Schichtungstheorien entwickelt. Allerdings haben diese zu Recht oder zu Unrecht innerhalb der Schichtungstheorie nie eine gewichtige Rolle gespielt. Sucht man Monographien, die sich mit dem Verhältnis von funktionaler Differenzierung und Schichtung auseinandersetzen, so stellt man fest, dass Eisenstadts „Social Differentiation & Stratification“ (1971) lange Zeit eine Ausnahme geblieben ist. Erst mit Bourdieu und Luhmann entstehen Theorien, die sich immer wieder mit dieser Frage auseinandersetzen. Seit dem Ende der neunziger Jahre hat sich die Publikationslage zu diesem Thema etwas erfreulicher entwickelt (Schwinn 2004, 2007, Kieserling 2006, Stichweh 2005). Dennoch ist es immer noch nicht leicht abzuschätzen, welche festen Orientierungspunkte für diesen Themenbereich bis heute gewonnen wurden. Ich möchte im Folgenden in sehr geraffter Darstellung einen Überblick über die wichtigsten Begriffsvorschläge liefern. Mir scheint, man kann die wenigen vorliegenden Beiträge gut nach drei unterschiedlichen Dimensionen sortieren, die relativ unabhängig voneinander variieren können: 1. Dem Grad der angenommenen Kompatibilität oder Inkompatibilität der Phänomene funktionaler Differenzierung und Schichtung, 2. das Verhältnis von funktionalen und dysfunktionalen Folgen von Schichtung und 3. ob das Verhältnis von Schichtung und funktionaler Differenzierung durch die Dominanz eines der beiden Phänomene oder durch deren Ebenbürtigkeit bestimmt ist. Mir scheint, dass man einen guten Überblick über die vorhandenen Theorieangebote erhält, wenn man die wichtigsten Kombinationen dieser drei Unterscheidungen durchspielt. Ich möchte dabei herausarbeiten, welche Alternativen relativ sicher ausgeschlossen werden können. Wenig überraschender Weise handelt es sich meist um die Extrempositionen auf den drei Unterscheidungsebenen. Dabei ergibt sich aber ein sehr großer Spielraum möglicher Positionen zwischen den Polen. Einige dieser Kombinationen haben sich ebenfalls als wenig aussichtsreich erwiesen. Man kann auf jeden Fall festhalten, dass die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems eine gewisse Neutralisierung oder Brechung von Schichtung zur Vorrausetzung hat. Das Meritokratiemodell dürfte selbst eine Extremposition einnehmen, da dessen Vertreter davon ausgehen, dass funktionale Differenzierung alle Formen sozialer Ungleichheit ausschließt, die sich nicht als angemessenes Leistungssymbol verstehen lassen. Ignoriert man innerhalb des Meritokratiemodells die Theorie der Intelligenzklasse, schließt das Meritokratiemodell
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aber auch alle erblichen Formen sozialer Ungleichheit aus. Ohne Zweifel dient das Meritokratiemodell als Extremposition, von der sich alle neueren wissenschaftlichen Beiträge absetzen. Auf der anderen Seite der Unterscheidung finden sich externalistische Beschreibungen von Feldern, Funktionssystemen oder Wertsphären, die die Dynamik dieser differenzierten Felder direkt auf den Schichtstatus der Rollenträger zurückführen. Das marxistische Basis/ÜberbauModell geht davon aus, dass die Religion, die Politik oder der Sport eigentlich den Interessen der Kapitalistenklasse dienen, dass sie aber dort, wo die Indifferenzzone dieser Klasse beginnt über bestimmte Freiräume verfügen, die die Inhaber dieser Positionen vor allem dazu nutzen sollen, um einen Teil des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts für sich zu beanspruchen. Auch diese Extremposition wird in der Literatur vor allem dazu verwendet, um den Bereich möglicher wissenschaftlicher Positionen einzugrenzen (Bourdieu 1998b: 16ff., Schwinn 2007: 68ff., Kieserling 2008: 7). Das Basis/Überbau-Modell hat sich als unfähig erwiesen die Dynamik von gesellschaftlichen Teilsystemen wie der Politik, dem Recht, der Religion oder des Sport zu erklären, da sich die marxistischen und neomarxistischen Theorien damit einen Zugang zur Analyse der Eigenrationalität dieser Teilsysteme von vornherein verbaut haben. Zwischen dem Meritokratiemodell und dem Basis/Überbau-Modell findet sich nun ein Kontinuum moderaterer Positionen, die sich sehr viel schwerer evaluieren lassen. So hat André Kieserling, die immer noch sicherlich sehr starke Position vertreten, dass funktionale Differenzierung zu einer weitgehenden Neutralisierung von schichtspezifischen Interessen in den Leistungsrollen der Funktionssysteme führt. Funktionale Differenzierung führe zu einer Privatisierung von Schichtung, da der Schichtstatus der Individuen vor allem in den freiwilligen Kontakten des Privatlebens als selektive Assoziation der Schichtgleichen zum Ausdruck komme (Kieserling 2008: 12). Dagegen ist eingewandt worden, dass Neutralisierung ein zu starker Begriff sei, da die Eigenrationalität der Teilsysteme sich auch lediglich in einer Brechung schichtspezifischer Einflüsse niederschlagen könne (Petzke 2009: 516). An dieser Stelle scheint es auch entscheidend zu sein, welcher Begriff für die Autonomie der Teilsysteme oder Felder verwendet wird: ein digitaler Begriff der Autonomie, der nur zwischen Autonomie und Heteronomie unterscheidet oder ein Begriff der relativen Autonomie, der verschiedene Grade der Differenzierung unterscheidet. So verwendet Pierre Bourdieu ein Konzept der relativen Autonomie, das fast den ganzen Spielraum vom Meritokratiemodell (das Feld der Mathematik) bis zum Basis/Überbau Modell (das Feld der Erziehung) auslotet. Verwendet man die funktionale Methode zur Analyse von Schichtung, dann stellt sich seit Merton die Frage nach einer Bilanzierung der funktionalen und
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der dysfunktionalen Aspekte des Phänomens intergenerationaler sozialer Ungleichheit (Merton 1995: 51). Auch hier lassen sich schnell zwei Extrempositionen ausmachen. Die Vertreter des Meritokratiemodells gehen davon aus, dass der Modernisierungsprozess früher oder später dazu führt, dass sich eine Schichtungsstruktur einspielt, die jedes Individuum auf die geeignete Position dirigiert und damit nicht nur die Funktionssysteme mit dem perfekten Personal versorgt, sondern auch die Legitimität der Schichtungsstrukturen sicherstellt und letztlich auch zu einer lückenlosen Vergesellschaftung der Individuen führt (Warner 1959, Kerr et al. 1960, Bell 1973). Es findet sich aber auch der gegenteilige Fall einer ebenso zur Einseitigkeit neigenden Überbetonung dysfunktionaler Aspekte. Man kann hier an Foucaults Panoptikon-Modell oder seine Theorie der modernen Kerkergesellschaft denken, die die moderne Gesellschaft als anonyme Herrschaftsstruktur darstellen, die sich nicht auf die Interessen irgendeiner partikularistischen Gruppe zurückführen lässt (Foucault 1994: 251). Jon Elster hat für diese Theorien die treffende Bezeichnung der negativen Soziodizee gefunden (Elster 1981:10). Es handelt sich hierbei um Modelle, in denen alle Aspekte des Sozialen einem perfiden Plan zu entstammen scheinen, ohne dass sich ein Profiteur dieses Arrangements ausmachen lässt. Nach Elster weist Bourdieus Schichtungstheorie deutliche Parallelen mit diesem Modell auf. Funktionale Analysen zwingen aber immer auch zur Spezifikation von Systemreferenzen. Mit anderen Worten, man muss angeben, aus der Perspektive welcher sozialen Einheit Bilanz über das Verhältnis funktionaler und dysfunktionaler Folgen gezogen wird. Innerhalb eines differenzierungstheoretischen Rahmens wird man hier an die Gesellschaft selbst, aber auch an ihre wichtigsten Subsysteme, die Funktionssysteme, denken. Die funktionale Methode ist aber auch immer wieder innerhalb einer schichtungstheoretischen Perspektive verwendet worden (Elster 1981: 10). Diese linksfunktionalistische Variante geht meistens davon aus, dass die meisten sozialen Strukturen der Gesellschaft sich vor allem funktional für die Oberschicht und dysfunktional für die Unterschicht erweisen. Werden differenzierte Einheiten wie das Erziehungssystem ausschließlich aus dieser Perspektive betrachtet, dann landet man letztlich wieder bei einer Variante des Basis/Überbau-Modells. Man findet aber viele Analysen, die Mertons Vorschlag folgen9 und bei der funktionalen Methode beide Aspekte – Schichtung und Differenzierung miteinander kombinieren. Die Strukturen der
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Merton hat diesen Vorschlag gemacht, um dem Funktionalismus seinen konservativen und statischen Bias auszutreiben. Der Linksfunktionalismus erlaubt die Kombination von funktionaler Analyse und Konflikttheorie (Merton 1995: 36).
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differenzierten Einheiten können sich für die Mitglieder bestimmter Klassen als funktional erweisen und die Reproduktion der Klassenstruktur kann sich für bestimmte differenzierte Einheiten als funktional erweisen. Am raffiniertesten wirkt eine Analyse, die von einer Kombination dysfunktionaler und funktionaler Folgen auf der Seite der Klassen als auch auf der Seite der differenzierten Felder ausgeht. Die letzte Dimension betrifft das Verhältnis von Dominanz oder Ebenbürtigkeit von Schichtung und Differenzierung. Hier finden sich drei alternative Ansätze: Theorien, die von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen, Theorien, die Schichtung für die dominante Struktur der modernen Gesellschaft halten und Ansätze, die Schichtung und Differenzierung als gleichwertige und nebengeordnete Aspekte der modernen Gesellschaft behandeln (Kieserling 2008: 5). Theorien, die von einem Primat von Schichtung ausgehen, sind inkompatibel mit der Theorie funktionaler Differenzierung, da sie davon ausgehen, dass die moderne Gesellschaft immer noch über ein einziges dominantes Machtzentrum verfügt, während die Differenzierungstheorien eben die zentrifugalen Tendenzen der Teilsysteme der modernen Gesellschaft auf das Fehlen einer eindeutigen gesellschaftlichen Hierarchie zurückführt. Theorien, die von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen, weisen hingegen die interessante Eigenschaft auf, Schichtung nicht für eine sich selbst reproduzierende Struktur, sondern als allopoietische Struktur zu verstehen, die das abhängige Resultat des Wechselspiels der Teilsysteme ist. Einfacher formuliert: die Wechselwirkungen der Teilsysteme werden hier als unabhängige Variable und die Schichtungsstruktur wird als abhängige Variable behandelt. Theorien, die keine Primatannahmen treffen, behandeln wiederum die Schichten oder Klassen und die differenzierten Felder oder Wertsphären als selbstständige, interdependente Ordnungen (Schwinn 2007: 15ff.). Theorien, die von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen Wie groß der Reichtum theoretischer Spielarten ist, sieht man schon, wenn man nur die Theorien, die von der Dominanz funktionaler Differenzierung ausgehen, betrachtet. Man findet hier Theorien, wie die von Durkheim, der davon ausgegangen ist, dass es sich bei Schichtung und Differenzierung letztlich um inkompatible Strukturen handelt (Durkheim 1977). Mit zunehmender Spezialisierung der Berufsrollen verliere deren gesellschaftliches „Ranking“ immer mehr an Plausibilität. Wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung voll durchgesetzt sei, bestehe die Gesellschaft aus lauter einzigartigen und gesellschaftlich notwendigen
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Berufsrollen, die sich nicht mehr in eine Rangfolge bringen ließen. Durkheim geht davon aus, dass es sich bei Schichtung und Differenzierung um inkompatible Gesellschaftsstrukturen handelt, so dass funktionale Differenzierung Schichtung letztlich verdrängen wird. „Schließlich ist auch jene letzte Ungleichheit, die daraus entsteht, dass es Reiche und Arme gibt, wenn nicht völlig verschwunden, so doch wesentlich gemildert. Die Gesellschaft bemüht sich, sie so weit wie möglich zu verringern, indem sie mit verschiedenen Mitteln jene unterstützt, die sich in einer zu benachteiligten Lage befindet und ihnen hilft, aus dieser herauszukommen…Noch deutlicher zeigt diese Tendenz sich in dem heute so verbreiteten Glauben, dass die Gleichheit unter den Bürgern immer größer werde und genau dies gerecht sei.“ (Durkheim 1977: 448)
Da die moderne Gesellschaft aber immer noch auch Generationen übergreifende Formen sozialer Ungleichheit reproduziert, wirkt Durkheims These heute kaum mehr plausibel. Es finden sich aber auch Theorien wie das Meritokratiemodell oder die klassische funktionalistische Schichtungstheorie, die davon ausgehen, dass die Schichtungsstrukturen wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllen. Die funktionalistische Schichtungstheorie (Davis/Moore 1944) behauptet folgende Zusammenhänge: 1. Alle Gesellschaften, deren Grad an Rollendifferenzierung über den Bestand verschiedener Alters- und Geschlechtsrollen hinausgeht, müssen das Problem lösen, wie die qualifiziertesten Individuen dazu bewegt werden können, sich auf die gesellschaftlich bedeutendsten Positionen zu bewerben. Diese Positionen würden höher entlohnt, um sicher zu stellen, dass diese Positionen nicht mit gesellschaftlich weniger bedeutenden Positionen um geeignete Bewerber konkurrieren müssen. Schichtung wird hier als die Verteilung der mit den Positionen verbundenen materiellen und immateriellen Belohnungen verstanden. Die Verteilung der Belohnungen kann dann aus einer Kombination der Faktoren der gesellschaftlichen Bedeutung der Positionen, dem Ausmaß an für die Position notwendiger schulischer Ausbildung und der Knappheit des Talents erklärt werden. Einerseits lässt sich daraus ableiten, dass alle Gesellschaften mit beginnender Rollendifferenzierung und beruflicher Arbeitsteilung das Phänomen Schichtung aufweisen werden und andererseits, dass sich die Schichtungsstrukturen ändern werden, wenn sich entweder die gesellschaftliche Bedeutung der Positionen oder die Knappheit des gesellschaftlich verfügbaren individuellen Talents verschieben. Für die moderne Gesellschaft dominiert hier wohl der Zusammenhang der Länge der für eine Position notwendigen Ausbildung mit dem Einkommen und dem Prestige der Stelle.
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Die funktionalistische Schichtungstheorie stellt selbst eine Art „negativer“ Klassiker der Schichtungstheorie dar, der bevorzugt zur Abgrenzung des eigenen Ansatzes verwendet wird (Hauhart 2003). Man hat der funktionalistischen Schichtungstheorie vorgeworfen Schichtung zu naturalisieren und zu enthistorisieren. Man hat ihr vorgeworfen, letztlich nur inhaltsleere zirkuläre Schlussfolgerungen zu ziehen. Man hat sie mit dem Meritokratiemodell gleichgesetzt und versucht die Theorie mit den gleichen Gegenargumenten zu erledigen. Die seriösen Kritiker haben aber eingeräumt, dass sich diese Theorie nicht so einfach wiederlegen lässt (Wrong 1974). Die späten Vertreter der funktionalistischen Schichtungstheorie wie Stinchcombe oder Abrahamson (Stinchcombe 1963, Abrahamson 1973 b, 1238) haben die Arbeiten von Davis/Moore gegen den ersten Einwand dadurch in Schutz zu nehmen versucht, dass die Autoren zwar davon ausgegangen seien, dass alle nicht segmentierten Gesellschaften geschichtet seien, dass aber das Phänomen Schichtung selbst mit der Gesellschaftsstruktur variiere. Die funktionalistische Analyse der Schichtungsstrukturen solle sich deshalb stärker auf die Variationen der Schichtungsstrukturen und weniger auf die Konstanz des Bezugsproblems konzentrieren. Auf ähnliche Weise ist die funktionalistische Schichtungstheorie auch gegen den Einwand der Tautologie verteidigt worden. Man müsse nur mehr Arbeit in die Operationalisierung des Konzepts der gesellschaftlichen Bedeutung von Positionen investieren, dann sei es auch möglich empirisch testbare Fragestellungen zu formulieren (Stinchcombe 1963, Abrahamson 1973 a). So hat Stinchcombe auf die veränderte gesellschaftliche Bedeutung der Monarchie im Übergang zur modernen Gesellschaft verwiesen, die nur noch repräsentative Bedeutung habe. Damit einhergegangen sei eine Reduktion der materiellen und symbolischen Entlohnung dieser Position. Außerdem gebe es heute keine gewalttätigen Erbfolgestreitereien mehr, da Fehlbesetzungen gesellschaftlich weitestgehend folgenlos blieben (ebd.: 806). Die Diskussion des dritten Punktes hat zunächst deutlich gemacht wie vorsichtig Davis und Moore in ihren Generalisierungen gewesen sind. So hat die funktionalistische Schichtungstheorie nie behauptet, dass die Schichtungsstruktur sich komplett aus der gesellschaftlichen Bedeutung der Positionen und der Knappheit des Talents herleiten lasse. Vielmehr behauptet sie nur, dass die gesellschaftlich bedeutenden Positionen um so viel besser entlohnt werden müssen, dass sichergestellt sei, dass sie nicht mit den weniger bedeutenden Positionen um Personal konkurrieren müssen. Man kann sich deshalb mit Davis und Moore eine Schichtungsstruktur vorstellen, in der sich die gesellschaftlichen Positionen in ihrer Entlohnung nur minimal unterscheiden, solange die Individuen für diese minimalen Differenzen sensibel sind. Ebenso wenig haben sie sich darauf festgelegt, ob es sich dabei primär um materielle oder symbolische Belohnungsformen
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handeln muss (Wrong 1959:. 774). Durch diese Relativierungen versuchte man die funktionalistische Schichtungstheorie gegen den Einwand der „Naturalisierung“ von Schichtung in Sicherheit zu bringen, denn die Theorie sei mit einer Vielzahl unterschiedlicher Schichtungsstrukturen kompatibel. Nach Tumin (1953: 392) müsste man sich aber auch eine Gesellschaft vorstellen können, in der jedes Individuum für die erwartungsgemäße Erfüllung der Aufgaben einer Position durch dasselbe Maß an gesellschaftlicher Achtung belohnt würde (ebd. 391). Tumin besteht damit auf der Möglichkeit einer klassenlosen Gesellschaft. Davis/Moore haben dagegen eingewandt, dass es ihnen nicht um die Leistungsmotivation der Positionsinhaber, sondern um die Motivation gesellschaftlich bedeutende Positionen erreichen zu wollen gegangen sei. Es gehe darum zu verhindern, dass eine dysfunktionale Belohnungsstruktur dazu führe, dass sich die am besten qualifizierten Individuen auf gesellschaftlich weniger bedeutende Positionen bewürben. Dies sei aber nur gewährleistet, wenn die gesellschaftlichen Positionen unterschiedlich entlohnt würden (Davis 1953: 396). In dieser mobilitätstheoretischen Formulierung ist das Argument der funktionalistischen Schichtungstheorie durchaus nachvollziehbar. In der Diskussion um die Davis/Moore These wurde aber auch deutlich, dass die funktionalistische Schichtungstheorie zu Unrecht mit dem Meritokratiemodell verwechselt worden ist. Das Meritokratiemodell fordert die perfekte Realisierung von Chancengleichheit und verspricht dafür eine Schichtungsstruktur, die die Rekrutierungsrationalität der Individuen, ihre Leistungsmotivation auf der Position und die Legitimität der Schichtungsstrukturen gewährleistet. Die funktionalistische Schichtungstheorie hingegen macht weder Aussagen zur Leistungsmotivation der Positionsinhaber, noch zur Legitimität der Schichtungsstrukturen (Wrong 1959: 774). Tumins Einwand, die lebenslang höhere Entlohnung der Träger höherer Bildungszertifikate sei nicht proportional zum Opfer an entgangenen Gehaltszahlungen während der Ausbildung, kann gegen das Meritokratiemodell gerichtet werden, aber nicht gegen die funktionalistische Schichtungstheorie, die nie von der strengen Proportionalität der im Erziehungssystem und der Berufsrolle erbrachten Leistungen und den positionsspezifischen Entlohnungen ausgegangen sind. Man muss Positionen, die eine langfristige Berufsausbildung voraussetzen, höher entlohnen als andere Positionen, um zu verhindern, dass das Erziehungssystem mit dem Arbeitsmarkt um „intelligente“ Individuen konkurrieren muss. Entscheidender scheint folgender Einwand gegen Davis und Moore zu sein, der sich bei Abrahamson findet (Abrahamson 1979: 128): Abrahamson wirft die Frage auf, ob die Systemreferenz für die funktionalistische Schichtungstheorie gut gewählt ist. Er schlägt vor, die Systemreferenz Gesellschaft durch die Sys-
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temreferenz Organisation zu ersetzen. Während Organisationen eindeutige Hierarchien ausbilden, scheint es schwierig zu sein, das Konzept der systemspezifischen Bedeutung einer Position auf der Ebene der Gesellschaft zu konkretisieren. Gerade die Theorie funktionaler Differenzierung blockiert solche Fragen eher. So lassen sich die Leistungsrollen der verschiedenen Funktionssysteme ebenso wenig in eine Rangfolge bringen wie die Funktionssysteme selbst, da jedes dieser Teilsysteme ein gesellschaftliches Bezugsproblem für sich monopolisiert. Dabei lässt sich keine Rangfolge der verschiedenen Bezugsprobleme ausmachen. Außerdem zeigt ein Blick in die Lohnverteilungen der modernen Gesellschaft, dass diese nicht der gesellschaftlichen Bedeutung der Rollen entsprechen, Popstars und rechte Verteidiger (Fußball) sind nicht gesellschaftlich bedeutender als Müllmänner. Zwar korrelieren die Lohnunterschiede oft mit den für die Karrieren verlangten Bildungsabschlüssen und die hohen Gehälter lassen sich zumindest teilweise durch die hohe Selektivität in Sport und Unterhaltung erklären. Der Faktor der Knappheit des Talents wird aber schon ausreichend durch ökonomische Theorien des Arbeitsmarktes erklärt. Man benötigt die funktionalistische Schichtungstheorie nur, wenn man auch den Faktor der gesellschaftlichen Bedeutung der Position ins Spiel bringt. Außerdem setzt die funktionalistische Schichtungstheorie die Konkurrenz verschiedener gesellschaftlicher Positionen um dieselben Personen voraus. Dies gilt vielleicht noch für Schulabgänger und Berufseinsteiger. Doch die lose Integration der Leistungen des Erziehungssystems mit den Anforderungen in den Leistungsrollen unterminiert den Signalwert der Abschlüsse. Teilsystemisch relevante Talente werden deshalb erst innerhalb der Karrieren in den Teilsystemen sichtbar, wenn die Spezialisierung bereits so weit fortgeschritten ist, dass die Individuen gar nicht mehr für andere Karrieren in Frage kommen. Zu dem Zeitpunkt, an dem die teilsystemrelevanten Fähigkeiten sichtbar werden, haben sich die Karrieren meist schon so verfestigt, dass man nicht mehr befürchten muss, dass die begabte Wissenschaftlerin sich doch noch zu einer besser bezahlten Karriere als Popstar entscheidet. Gesellschaftlich problematischer scheint denn auch die Fehlallokation von Individuen zu sein. Das Problem scheint weniger darin zu bestehen, dass die gesellschaftlich sehr bedeutenden Positionen geeignete Kandidaten an weniger bedeutende Positionen verlieren, sondern eher darin, dass die Individuen zu spät merken, dass sie sich für Karrieren entschieden haben, für die sie eigentlich ungeeignet sind und die sie nur noch durch Inkaufnahme eines hohen Statusverlusts wieder verlassen können. Damit scheitert aber der Versuch aus der Struktur der funktional differenzierten Institutionenstruktur der Gesellschaft die Struktur der Schichtpositionen eindeutig abzuleiten.
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Die Soziologen, die auch heute noch von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen, haben deshalb im Anschluss an Niklas Luhmann (Luhmann 1985) ein weiteres Erklärungsmodell entwickelt. In diesem Modell wird zunächst die Produktion sozialer Ungleichheit in einem Funktionssystem – Einkommensungleichheiten in der Wirtschaft, unterschiedlicher Schulerfolg im Erziehungssystem – von der Produktion mehrdimensionaler sozialer Ungleichheit unterschieden, bei der es zur Korrelation der Verteilungen der Ressourcen verschiedener Funktionssystem kommt. Im Anschluss an Luhmann wird hier häufig das Modell eines mehrere Funktionssysteme übergreifenden Matthäuseffekts verwendet (Stichweh 2005: 170). Man muss dann erklären, weshalb ein Funktionssystem an die Verteilungsentscheidungen eines anderen Funktionssystems anschließt, obwohl man aufgrund der Theorie funktionaler Differenzierung eigentlich erwarten würde, dass die systemspezifischen Konversionssperren solche Spill-Over Effekte eigentlich verhindern sollten. Die Erklärung generationenübergreifender Formen sozialer Ungleichheit wird dann in der Regel durch strukturelle Kopplungen der Familien mit den Funktionssystemen und ihren Arbeitsorganisationen erklärt. Die Reproduktion sozialer Klassen wird hier damit erklärt, dass sie jeweils aus der Perspektive der beteiligten Systeme funktional ist. Die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft sind dann das Ergebnis der nicht mehr zentral koordinierten Leistungsbeziehungen der Funktionssysteme. Die Teilsysteme reproduzieren in diesem Modell Schichtung aus lokalem Kalkül, obwohl diese Makrostruktur sich auf der Ebene der Gesamtgesellschaft als eher dysfunktional erweist. Theorien, die von einem Primat von Schichtung ausgehen Ich hatte oben bereits daraufhin gewiesen, dass Theorien, die von der Dominanz von Schichtung ausgehen, sich in den meisten Fällen als inkompatibel mit dem Modell funktionaler Differenzierung erwiesen haben. Es gibt allerdings eine Ausnahme, die die These der Dominanz der Schichtungsstrukturen in einem sehr restriktiven Sinne versteht (Collins 1975, 1979, 1995). Randall Collins geht davon aus, dass es autonome wissenschaftliche Disziplinen, ein autonomes Recht, aber auch autonome Medizin gibt (Collins 1979: 140ff, 199ff.). Er vertritt aber die These, dass der Statuszuweisungsprozess dennoch von den schichtspezifischen Statusgruppen der modernen Gesellschaft dominiert wird. Collins arbeitet zunächst daran, die geringe Rationalität des Statuszuweisungsprozesses in der modernen Gesellschaft herauszuarbeiten. Dann findet er gute Argumente dafür, dass die Vertreter des Meritokratiemodells dem Problem der Rekrutierungsrationalität eine völlig überzogene Bedeutung zuschreiben. Collins geht deshalb da-
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von aus, dass partikularistische Statusgruppen die Rationalitätsdefizite des Statuszuweisungsprozesses ausbeuten, um den Zugang zu attraktiven Stellen für sich und ihre Kinder zu monopolisieren. Es gelingt Collins auf dieser Grundlage eine konsistente Theorie des Statuszuweisungsprozesses in der modernen Gesellschaft zu entwickeln, die von einem Primat von Schichtung ausgeht. Theorien, die auf Primatannahmen verzichten Die Theorien, die auf Primatannahmen verzichten, wenden sich einerseits gegen einen Primat von Schichtung, weil sie ebenfalls von einem starken Konzept funktionaler Differenzierung ausgehen, sie lehnen aber ebenfalls die Annahme der Dominanz des Prinzips funktionaler Differenzierung ab. Aus dieser Perspektive verfügen Autoren wie Luhmann über kein vollwertiges Vokabular von Schichtung (Schwinn 2007: 16ff.). Schichtung lasse sich nicht auf die zufällige Produktion mehrdimensionaler Ungleichheit reduzieren. Einerseits übersehe man dabei, dass die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft eine eindeutige gesellschaftliche Hierarchie bilden, die ebenso großen Einfluss auf die Interessen und Motive der Individuen ausübten wie die funktional differenzierte Institutionenstruktur. Andererseits übersehe dieses Modell die Alltäglichkeit von Verteilungskonflikten. Theorien ohne Primat, wie sie von Pierre Bourdieu (1988), Shmuel N. Eisenstadt (1971) und Thomas Schwinn entwickelt (2004, 2007) worden sind, bestehen deshalb darauf, dass Schichtung als eigenständige Struktur neben den ausdifferenzierten Feldern und Wertsphären konzipiert werden müsse. Im Rahmen dieser vor allem an Max Weber angelehnten Forschungstradition, lassen sich zwei sehr unterschiedliche Strömungen ausmachen. Sie unterscheiden sich gerade an der Dimension des angenommenen Grads der Kompatibilität/Inkompatibilität von Schichtung und Differenzierung. Die eine Traditionslinie wurde zuerst von Eisenstadt deutlich formuliert. Eisenstadt folgt hierbei der neofunktionalistischen Theorietradition, die Talcott Parsons Begriffe wieder stärker in die konflikttheoretische Perspektive Webers rückt. Eisenstadt geht ebenso wie Schwinn von einer weitgehenden Neutralisierung von Schichtung in den differenzierten Lebensordnungen aus. Sie teilen mit der Systemtheorie eine pessimistische Einschätzung der Leistungsbeziehungen dieser differenzierten Ordnungen. Die Systemtheorie verkläre aber die Entstehung mehrdimensionaler Verteilungsungleichheiten künstlich zum großen Rätsel. Die Ursache dieser Struktur sei einfach in den Leistungsbeziehungen der Funktionssysteme zu finden. Dort, wo Schichtung aus den offiziellen Leistungsbeziehungen der Teilordnungen wie der Wirtschaft und dem Erziehungssystems resultiere, existierten gar
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keine Konversionssperren. Thomas Schwinn geht so weit, das Konzept der basalen sozialen Ungleichheit einzuführen, mit dem er den Anteil an sozialer Ungleichheit bezeichnet, das sich auf die Leistungsaustauschbeziehungen der differenzierten Lebensordnungen zurückführen lasse. Nun lasse sich aber gerade aus dem Prinzip funktionaler Differenzierung eben keine eindeutige Hierarchie der Schichtpositionen ableiten (Schwinn 2007: 47ff.). An dieser Stelle kommt deshalb die Konflikttheorie ins Spiel. Da die Leistungsbeziehungen der Teilsysteme kaum koordiniert seien, nützten partikularistische Gruppen diese strukturelle Unterbestimmtheit um die Bedeutung ihrer Bildungszertifikate und ihre professionellen Kompetenzen zu übertreiben und sich selbst für unersetzlich zu erklären. Die basalen Ungleichheiten würden deshalb von strategischen Ungleichheiten so überformt, dass sich diese beiden Formen kaum mehr voneinander trennen ließen. Die andere Forschungstradition setzt an Webers Text „Klassen, Stände und Religion“ (Weber 1972: 285-313). Weber beschäftigt sich hier mit den schichtungstheoretischen Erfolgsbedingungen religiöser Kommunikation. Weber stellt in diesem Text fest, dass die verschiedenen Schichten jeweils bestimmte Formen der Religion bevorzugen. Die Bauern weisen nach Weber eine deutliche Präferenz für magische Formen der Religiosität auf, der Kriegeradel weist in der Regel eher ein distanziertes Verhältnis zur Religion auf, wenn er sich auch wiederum in bestimmten historischen Situationen für Kreuzzüge und andere religiös motivierte Kriegsformen hat einspannen lassen. Das willigste Publikum für Erlösungsreligionen werde von der „alten“ Mittelschicht wie den Handwerkern und anderen kleinen Selbstständigen gestellt. Weber relativiert in diesem Text verschiedene externalistische Beschreibungen der Religion wie Nietzsches Ressentimenttheorie (Nietzsche 1990: 185) oder die marxistische Religionssoziologie aneinander, aber er formuliert dabei auch die These, dass die Schichtzugehörigkeit der religiösen Laien einen deutlichen Einfluss darauf hat, welche Propheten und welche Kirchen Erfolg haben werden. Wenn man will, kann man in diesem Text, die erste Version der Homologiethese, wie sie später von Bourdieu vertreten wurde (Bourdieu 1988: 82ff.) sehen. In dieser Tradition geht man von einer weitgehenden Kompatibilität von Schichtung und Differenzierung aus. Hier kann man sich in den differenzierten Wertsphären und Feldern selbst ein Nebeneinander schichtspezifischer Einflüsse und der Eigenrationalität dieser differenzierten Einheiten vorstellen. Funktionale Differenzierung führt aus dieser Perspektive eben nicht zur Neutralisierung von Schichtung in den differenzierten Feldern. Bourdieu findet diese gemischten Einflüsse, in den Leistungsbewertungskriterien in den Feldern wieder, die häufig feldspezifische Bewertungskrite-
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rien mit schichtspezifischen Wahrnehmungs- und Kognitionsschematas verschmelzen. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Auch wenn sich einige Positionen ausschließen lassen – unter den Theorien, die von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen, diejenigen die entweder einseitig die funktionalen Aspekte der Schichtungsstruktur betonen oder davon ausgehen, dass funktionale Differenzierung entweder das Phänomen Schichtung ganz zum Verschwinden bringen wird oder nur die meritokratischen Restbestände übrig lassen wird, unter den Theorien mit Primat Schichtung alle Ansätze, die die differenzierten Bereiche direkt aus ihrer Beziehung zur Klassenstruktur zu rekonstruieren versuchen – bleibt doch eine verwirrende Vielfalt sehr unterschiedlicher Theorien in Spiel, die das Thema jeweils aus wechselseitig exklusiver Perspektive beobachten. Dabei entstehen Kontroversen schon an der einfachen Frage wie bestimmte Autoren wie Bourdieu in diesem Theoriespektrum verortet werden sollen (Kieserling 2008, Petzke 2009). Für den folgenden Text ergibt sich daraus aber auch der Vorteil, dass eine ganze Reihe sehr distinkter Perspektiven auf denselben Gegenstand vorhanden sind, die sich gut vergleichen lassen.
Die klassische Mobilitätsanalyse
Die Traditionslinie, die in diesem Kapitel vorgestellt werden soll, hat ihr Forschungsparadigma am direktesten am Meritokratiemodell ausgerichtet. Unabhängig davon, ob die Selektionsprozesse im Erziehungssystem oder in den Arbeitsorganisationen untersucht werden, ob die Durchlässigkeit der Schichtungsstrukturen oder die Änderung der Durchlässigkeit der Schichtungsstrukturen im Zeitverlauf analysiert wird, das grundlegende Verfahren ist immer dasselbe: Man vergleicht die erhobenen Daten mit den durch das Meritokratiemodell prognostizierten, um zu zeigen, dass die moderne Gesellschaft keine Meritokratie ist. Diese Forschungstradition hat überzeugend belegt, dass die moderne Gesellschaft immer noch deutliche Mobilitätsbarrieren reproduziert, dass der Modernisierungsprozess nicht von einer linearen Zunahme der Durchlässigkeit der Schichtungsstrukturen gekennzeichnet ist und dass die zentralen am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systeme den Individuen je nach Schichtherkunft unterschiedliche große Mobilitätschancen bieten. Betrachtet man diese Traditionslinie ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt, dann muss sie als äußerst erfolgreiches Forschungsparadigma beschrieben werden. Das Meritokratiemodell wird hier aber eben nicht nur als methodologisches Tool, sondern auch als normativer Maßstab verwendet. Aus dieser Perspektive sollte der Statuszuweisungsprozess der modernen Gesellschaft dem Prinzip der Chancengleichheit entsprechen. Dass die am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsysteme dieser Anforderung nicht genügen, stellt danach einen zu kritisierenden sozialen Missstand dar und wirft die Frage nach politischem Handlungsbedarf auf. Die Vertreter dieser Traditionslinie sind sich mit den Vertretern des Meritokratiemodells darin einig, dass die moderne Gesellschaft meritokratisch strukturiert sein könnte. Sie bestreiten lediglich, dass die Realisierung von Chancengleichheit sich früher oder später aus den Funktionserfordernissen der modernen Gesellschaft von selber ergeben wird. Die Vertreter dieser Forschungstradition sehen sich als die wahren Vertreter des Leistungsprinzips, die
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sich vom Glanz der aktuellen Eliten weniger blenden lassen und deren „objektive“ Leistungen realistischer betrachten. Schon hier zeigt sich eine erstaunliche Nähe der verbissensten Kritiker des Meritokratiemodells zu Autoren wie David Bell. Diese Nähe wird noch deutlicher, wenn man auf die gesellschaftstheoretischen Grundlagen des Meritokratiemodells achtet. Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess ist nur dann zu erwarten, wenn die vollständige Neutralisierung des schichtspezifischen Familienhintergrunds gelingt. Die Neutralisierung des schichtspezifischen Familienhintergrunds setzt aber wiederum die perfekte Integration der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssysteme also beispielsweise eine perfekte Integration der Leistungsaustauschbeziehungen des Erziehungssystems zu den rekrutierenden Funktionssystemen voraus. Denn nur wenn sich diese in ihren Selektionen wechselseitig perfekt aufeinander einstellen, können schichtspezifische Einflüsse erfolgreich abgewehrt werden. Die Realisierbarkeit von Chancengleichheit kann also nur durch eine überintegrierte Theorie funktionaler Differenzierung in Aussicht gestellt werden. Die These, die im Folgenden unter anderem an den Arbeiten John Goldthorpes belegt werden soll, lautet: dass die Autoren der klassischen Mobilitätsanalyse implizit mit einer überintegrierten Theorie funktionaler Differenzierung arbeiten. Die größte Differenz zwischen den Vertretern der klassischen Mobilitätsanalyse und den Vertretern des Meritokratiemodells besteht ohne Zweifel auf der Ebene der Schichtungstheorie. Die Vertreter des Meritokratiemodells gehen davon aus, dass die Schichtpositionen in ihrer Anordnung perfekt die gesellschaftliche Bedeutung der damit verbundenen Rollen und die Knappheit der dafür benötigten Talente abbilden. Die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft sind dann lediglich das Resultat ihrer rationalen Belohnungsstrukturen. Und die Mobilitätsprozesse lassen sich danach als das Ergebnis der rationalen gesellschaftlichen Platzierung der Individuen verstehen. Die Ungleichheitssoziologie setzt dem in der Regel eher eine konflikttheoretische Perspektive entgegen. Es geht hier vor allem um Prozesse der sozialen Schließung im Zugang zu attraktiven Positionen. Der Zugang zu attraktiven Positionen wird hier selbst als knappe Ressource aufgefasst, um die Verteilungskämpfe geführt werden. Oder Schichtung wird einfach als statistisch erfassbare mehrdimensionale Verteilungsstruktur behandelt, die als relevante Umwelt das Handeln der Individuen beeinflusst, indem sie bestimmte Handlungsoptionen eröffnet oder schließt. Nicht selten hat man den Eindruck, dass die Konflikttheorie als Fassade dieses sehr viel einfachere Modell verbirgt. Wendet man sich dem Verhältnis von Schichtung und funktionaler Differenzierung zu, dann scheinen hier vorzugsweise Theorien ohne Primat verwendet zu
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werden. Die Differenzierungstheorie bleibt zwar oft implizit, aber sie trägt die Hoffnung auf die Realisierbarkeit des Meritokratiemodells. Letztlich werden die Schichtungsstrukturen und die funktional differenzierten Institutionen hier als gleichwertige Strukturen gegenübergestellt. Dabei kommt es aber zu einer merkwürdigen theoretischen Arbeitsteilung: Die Differenzierungstheorie erklärt die Offenheit der Mobilitätsstrukturen und die Schichtungstheorie erklärt die Reproduktion der Mobilitätsbarrieren. In gewisser Weise könnte man sogar der Differenzierungstheorie ein gewisses Übergewicht einräumen. Vergleicht man diejenigen Beiträge zur klassischen Mobilitätsanalyse, die den Statuszuweisungsprozess von seinem Angang bis zu seinem Ende beschrieben haben und sich nicht lediglich auf den Beitrag eines Sozialsystems konzentriert haben, dann fällt auf, dass die Darstellung der meisten Passagen des Statuszuweisungsprozesses in der Regel dem Meritokratiemodell folgt und nur an wenigen Stellen schichtbedingte Abweichungen kenntlich gemacht werden. Auch diese Eigenart dieser Theorietradition scheint sich auf das normativen Verständnis des Meritokratiemodells zurückführen zu lassen. Wenn man einräumt, dass der Statuszuweisungsprozess an allen (oder nur vielen) Phasen vom Meritokratiemodell abweicht, dann wird man die Hoffnung auf Chancengleichheit begraben müssen. Stattdessen gehen die meisten Vertreter der klassischen Mobilitätsanalyse davon aus, dass die Realisierung meritokratischer Zustände durch schichtabhängige Einflüsse an einigen wenigen Stellen verhindert wird. Dieses „quantitative“ Übergewicht der Differenzierungstheorie kompensieren die Vertreter der klassischen Mobilitätsanalyse durch die Emphase der Bedeutung der schichtspezifischen Einflüsse. Die Aufmerksamkeit wird meist gekonnt auf die Stelle im Statuszuweisungsprozess gelenkt, an dem es zur Abweichung vom Meritokratiemodell kommt. Weniger eindeutig verhält sich die klassische Mobilitätsanalyse in Bezug auf die Mikro-, Meso- und Makrounterscheidung. Aber auch hier weisen die meisten Ansätze eine gewisse Nähe zum Meritokratiemodell auf, denn man findet kaum Beiträge, die für eine Eigenständigkeit der drei Ebenen plädieren. Stattdessen arbeitet die klassische Mobilitätsanalyse vorwiegend mit mikro- oder makrodeterministischen Ansätzen. Anders als im Meritokratiemodell treten diese unterschiedlichen Theorieperspektiven hier deutlich auseinander. Goldthorpe wendet sich beispielsweise aus der Perspektive der RCT gegen die strukturfunktionalistischen Versionen des Meritokratiemodells und Michael Hartmann verwendet Bourdieus Habituskonzept. Die seltsame Kombination aus einer überintegrierten Theorie funktionaler Differenzierung und einer konflikttheoretischen Schichtungstheorie führt zu einer ganzen Reihe theoretischer Folgeprobleme, die sich in den Beiträgen zur klassischen Mobilitätsanalyse immer wieder finden lassen.
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Am auffälligsten ist die eigentümliche Selektivität dieser Forschungstradition gegenüber den Resultaten der eigenen Forschungstradition, da man die Reproduktion der messbaren Mobilitätsbarrieren auf schichtabhängige Einflüsse an einigen wenigen Stellen im Statuszuweisungsprozess konzentriert
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REVIDIERTE
H UMANKAPITALTHEORIE
Auf den ersten Blick mag es absurd erscheinen, die Humankapitaltheorie unter der Rubrik klassische ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse zu präsentieren. Gerade die frühen Beiträge liefern ja die kohärenteste Formulierung des Meritokratiemodells (Schultz 1961, Becker 1975), die man sich denken kann. Die Humankapitaltheorie hat ein äußerst sparsames Modell konstruiert, das die Erwartung stützt, dass das Erziehungssystem in seinen Leistungen perfekt auf die Anforderungen der rekrutierenden Arbeitsorganisationen ausgerichtet sei. Ein vollkommener Arbeitsmarkt sorgt dafür, dass die Individuen als Arbeitnehmer nach ihrer Produktivität entlohnt werden. Die Individuen unterscheiden sich in ihrer Produktivität je nachdem, wie viele Investitionen in ihr Humankapital – das sind die Fähigkeiten und Kenntnisse, die aktiv im Produktionsprozess eingesetzt werden können – getätigt worden sind.1 Zentrale Bedeutung wird dabei der schulischen Ausbildung und dem „on the job training“ in den Arbeitsorganisationen eingeräumt. Zudem haben die Vertreter der Humankapitaltheorie lange Zeit vehement auf der Annahme der Entkopplung der Familien vom Erziehungssystem bestanden. Die Vertreter der Humankapitaltheorie haben sich lange um den Beweis bemüht, dass weder die Gene noch die Sozialisation in der Familie einen nennenswerten Einfluss auf die Produktion des Humankapitals haben (Blaug 1976: 832). Die Humankapitaltheorie ließ deshalb auch den Schluss auf Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess zu. Die klassische ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse ist aber ihrem Forschungsprogramm nach nichts anderes als empirische Meritokratiekritik. Dieser Widerspruch lässt sich aber relativ leicht auflösen. Zum einen hat sich die Humankapitaltheorie immer mehr auf die Ungleichheitssoziologie zubewegt.
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Die Individuen können nach Schultz (Schultz 1961: 9) durch die unterschiedlichsten Verfahren Investitionen in ihr Humankapital tätigen. Sie können auf die organisierte Erziehung an Schulen und Hochschulen zurückgreifen, sie können sich betriebsintern weiterbilden lassen, sie können ihre Produktivität durch Investitionen in die eigene Gesundheit erhöhen, aber auch räumliche Mobilität kann denselben Effekt haben.
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So räumt beispielsweise Daniele Checchi den Einfluss des schichtspezifischen Familienhintergrunds ein (Checchi 2006: 29), er konzediert „Peer-Group“- Effekte im Erziehungssystem und vor allem geht er davon aus, dass die durch den Arbeitsmarkt erzeugten Einkommensunterschiede zur Chancenungleichheit im Zugang zu schulspezifischen Humankapitalinvestitionen in der nächsten Generation führen. Fast noch wichtiger ist, dass er nicht mehr die These vertritt, dass der Markt diese Form der Chancenungleichheit zu einem späteren Zeitpunkt auflösen wird, sondern dass die dadurch erzeugten Mobilitätsbarrieren nur durch politische Interventionen zum Verschwinden gebracht werden können. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, kommt John Goldthorpe aus ungleichheitssoziologischer Perspektive erstaunlicherweise zur selben These. Außerdem werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen, dass die klassische Mobilitätsanalyse selbst nur partiell mit dem Meritokratiemodell brechen kann, weil sie die Realisierbarkeit von Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess in Aussicht stellt. Die Humankapitaltheorie stellt deshalb den perfekten Übergang zur klassischen Mobilitätsanalyse im eigentlichen Sinne dar. Es bietet sich deshalb an, mit den meritokratischen Versionen der Humankapitaltheorie zu beginnen, um dann Schritt für Schritt aufzuzeigen, wie dieses Modell modizifiert worden ist. Bevor ich in die Darstellung der Humankapitaltheorie einsteigen werde, muss noch eine sozialtheoretische Besonderheit wirtschaftswissenschaftlicher Theoriebildung erwähnt werden. In diesen wissenschaftlichen Disziplinen finden sich sicher die konsequentesten Anwendungen des methodologischen Individualismus. Parsons Kritik, der methodologische Individualismus könne die Entstehung sozialer Ordnung nicht erklären, war direkt auf diese Theorietradition gemünzt. Wolfgang Ludwig Schneider hat gegen Parsons eingewandt, dass in dieser Tradition das Problem sozialer Ordnung in verschiedene Teilprobleme wie das Freeriderproblem oder das Allmendproblem dekomponiert werde, für die dann jeweils spezielle Lösungen wie das Organisationsmodell oder das Marktmodell entwickelt worden seien. Die bekanntesten Modelle dieses Typs wie das Marktmodell weisen dabei eine Besonderheit auf, die schon in der Analyse des Teil/Ganzen-Modells und des Meritokratiemodells sichtbar geworden sind. Die Modelle dieser Institutionen sind so konstruiert, dass sie idealerweise in der Lage sein sollen, die Präferenzen der beteiligten Individuen perfekt abzubilden. Wie nicht anders zu erwarten, lässt sich dieser Idealfall perfekter Vergesellschaf-
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tung nur unter ganz besonderen Bedingungen erreichen.2 Mit anderen Worten: In der realen Welt sind perfekte Märkte und perfekte Demokratien nicht anzutreffen. Damit verlieren aber diese Modelle noch nicht automatisch ihren heuristischen Wert, denn häufig hat man Mittel und Wege gefunden abzuschätzen, welche Effekte diese Abweichungen für die Entstehung stabiler Gleichgewichte haben könnten. Der absehbarste Effekt ist aber das scharfe Auseinandertreten von kollektiver und individueller Rationalität und damit das Ende perfekter Vergesellschaftung. Im schlechtesten Fall büßen diese Modelle aber tatsächlich komplett ihren heuristischen Wert ein, da sie keine Gleichgewichte mehr prognostizieren können.3 Die Humankapitaltheorie liefert ein in sich konsistentes Modell für einen Statuszuweisungsprozess mit einheitlicher Rationalität. Das Modell geht davon aus, dass die Korrelation von Einkommen und Schulbildung darauf beruht, dass die Schulen im Laufe des „People Processings“ die Produktivität der Individuen erhöhen4 und dieser Effekt wird ausschließlich den Schulen zugerechnet. Zwar unterscheiden sich die Individuen in ihrem Talent, das aber weder durch Formen der schichtspezifischen Sozialisation noch durch die Gene entscheidend beein-
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Für Märkte finden sich hier fast endlose Listen an Voraussetzungen. Zu den wichtigsten zählen: Homogene Güter, die sich nur im Preis unterscheiden, perfekte Information aller Marktteilnehmer und eine große Zahl von Anbietern und Abnehmern.
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Berühmt ist hier William Rikers Reaktion auf die von Arrow angestossene Debatte, dass in einem mehrdimensionalen Policyfeld (alle Policyfelder sind aber letztlich mehrdimensional) das Problem zirkulärer Präferenzen auftritt. Die daran anschließende Forschung hat dann gezeigt, dass unter diesen Umständen keine stabilen Gleichgewichte entstehen, die die Präferenzen einer Mehrheit abbilden. „In the nineteenth century economics was often called „the dismal science“ largely because the equilibria from price theory were not palatable to those who called it dismal. In what seems to me a deeper sense, however, politics is the dismal science because we have learned from it that there are no fundamental equilibria to predict” (Riker 1980: 443).
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Hier muss es sich dann um Fähigkeiten handeln, die in vielen Arbeitsorganisationen nachgefragt werden, so dass die Lohnsteigerungen auch nach einem Betriebswechsel erhalten bleiben. Da die auszubildenden Individuen die Renditen dieser Humankapitalinvestitionen erhalten, müssen sie dann auch die Kosten dafür übernehmen. Ein Sonderfall stellt die Erziehung im Primarbereich dar. Da alle Individuen und Unternehmen davon profitieren, wenn die Bevölkerung alphabetisiert ist, tritt hier ein Problem auf, das große Ähnlichkeit mit der Produktion von Kollektivgütern hat. Dieser Teil der Erziehung muss deshalb durch den Staat finanziert werden.
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flusst werde. Die auszubildenden Individuen selbst sind an der Humankapitalproduktion beteiligt, so dass die talentierteren Individuen von der Schule mehr profitieren, also mehr schulische Erziehung nachfragen und letztlich eine höhere Produktivität erreichen. Da rationale Unternehmen ihre Mitglieder nach ihrer Produktivität entlohnen, verlassen sich die Unternehmen in ihren Rekrutierungsund Entlohnungsentscheidungen5 ausschließlich auf die Selektionen des Erziehungssystems. Die Lohnkurve nach dem Berufseinstieg wird ebenfalls als Resultat von Humankapitalinvestitionen beschrieben. Die Arbeitnehmer können auf einen höheren Lohn verzichten, wenn bestimmte Stellen das Erlernen von Fähigkeiten ermöglichen, die später höhere Löhne auch in anderen Arbeitsorganisationen versprechen und die Arbeitsorganisationen können in spezielle Trainingsprogramme investieren, in denen Fähigkeiten erworben werden, die nur in diesem Betrieb Verwendung finden. Die sich in den Lohnkurven niederschlagenden Karrieren sind aus der Sicht der Humankapitaltheorie also immer der Ausdruck der im Produktionsprozess verwertbaren Fähigkeiten der Individuen, an deren Produktion sie immer mitbeteiligt waren. Die lückenlose Kettenrationalität der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systeme neutralisiert wirkungsvoll alle schichtabhängigen Einflüsse und gewährleistet damit Chancengleichheit. Die Humankapitaltheorie ist dabei eine Variante des Meritokratiemodells, die sich ausschließlich mit den konstanten arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften der Individuen beschäftigt. Neben dem immer mitthematisierten Legitimationsgewinn durch Chancengleichheit dominiert hier vor allem das Problem der Rekrutierungsrationalität.
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Ein deutlicher Unterschied zu den klassischen Mobilitätsanalysen findet sich in der einseitigen Fokussierung auf Einkommensdifferenzen. Der Humankapitaltheorie fehlt beispielsweise eine Organisationstheorie, die Organisationen als Ordnungen von Stellen beschreibt, die sich im Einkommen und in ihrer formalen Autorität unterscheiden. Ebenso fehlt ein Hinweis auf die Kanalisierung der Mobilitätswege der Individuen durch die Karrierestrukturen der Organisationen. In der Humankapitaltheorie schlagen sich die organisationsinternen Karrieren nur in der Lohnkurve der Individuen nieder. Dasselbe gilt für das Problem intergenerationaler Mobilität. Diese wird als intergenerationale „income persistence“ erfasst (Checchi 2006: 220). Die Soziologie beschreibe die Individuen als eingebettet in soziale Hierarchien. Die Analyse des Phänomens der Statusvererbung nehme dann schnell die Form mechanischer Gesetze an. Der wirtschaftswissenschaftliche Zugriff untersuche hingegen wie die Individuen ihren „dynastic wellfareflow“ zu maximieren versuchen würden.
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Im Hinblick auf die Problemstellung dieser Arbeit findet sich der interessanteste Teil der noch eindeutig meritokratischen Humankapitaltheorie an der Stelle, die das Verhältnis der Familien6, des Erziehungssystems und der Arbeitsorganisationen thematisiert. Hier wurde ein sehr elegantes Modell entwickelt, das eine perfekte Integration der Leistungen des Erziehungssystems mit den Personalanforderungen der Arbeitsorganisationen denkbar macht. Das Modell basiert, wie zu erwarten auf der Theorie vollkommener Märkte. Die Produktmärkte zwingen die Unternehmen dazu, ihre Mitglieder nach ihrer Produktivität zu entlohnen. Die Individuen wiederum wählen ihre Ausbildungsprogramme nach deren Wert auf dem Arbeitsmarkt aus. Die Schulen, die miteinander um Auszubildende konkurrieren, müssen deshalb ihre Ausbildungsprogramme so ausrichten, dass die dort erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse von möglichst vielen Arbeitsorganisationen nachgefragt werden. Die Konkurrenz unter den Schulen zwingt diese aber auch dazu, die ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen möglichst effizient zu nutzen. Aus dieser Perspektive nimmt die Rationalität dieses Arrangements mit der Konkurrenz im Erziehungssystem zu. Die Vertreter der Humankapitaltheorie sprechen beispielsweise Privatschulen eine höhere Qualität zu, da diese nicht leistungsunabhängig vom Staat alimentiert werden, sondern sich nach den Anforderungen der Eltern ausrichten müssen.7 Außerdem
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Dies ist eine interessante Abweichung vom methodischen Individualismus. Da die Individuen zum Beginn der Humankapitalinvestitionen noch nicht in der Lage sind diese selber zu treffen, müssen diese von ihren Eltern getroffen werden. Konsequenterweise müsste man hier einen Interessenkonflikt der Konsumwünsche der Eltern und des Interesses der Kinder an möglichst hohen Humankapitalinvestitionen vorsehen. Die Humankapitaltheorie arbeitet hier aber mit dem Modell der altruistischen Eltern, die vor allem an die Kinder denken. Die Eltern sind dabei zwar altruistisch aber nicht ökonomisch irrational, da sie die Höhe der Humankapitalinvestitionen vom Talent ihrer Kinder abmachen. Die für das Meritokratiemodell sonst typische Annahme, dass die Eltern blind gegenüber der Inkompetenz der eigenen Kinder sind, wird damit abgelehnt (ebd: 116). Da hier kein Interessenkonflikt zwischen Eltern und Kindern unterstellt wird, scheint die richtige „Systemreferenz“ an dieser Stelle nicht das Individuum sondern die Familie zu sein.
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Aber will man davon ausgehen, dass die Eltern an einer objektiven Beurteilung ihrer Kinder interessiert sind? Ist es nicht viel plausibler anzunehmen, dass sie von den Schulen erwarten, dass diese ihren Nachwuchs so einschätzen, wie sie das selber tun. In den dreissiger Jahren drohte die weisse amerikanische Upperclass in Princeton, Harvard und Yale damit ihre Kinder auf andere Universitäten zu schicken. In dieser
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tendiert man dazu, den Privatschulen eine höhere Autonomie gegenüber den Lehrern zuzubilligen, die dazu neigen sollen die Ressourcen der Schule mehr zur Erleichterung ihrer Arbeit zu verwenden als zur Steigerung der Effizienz des People Processings (ebd: 103). Ebenso weisen die meisten Humankapitaltheoretiker eine Präferenz für Erziehungssysteme auf, die private und öffentliche Sektoren vereinen, und damit auch die Staatschulen unter vermehrten Konkurrenzdruck setzen. Zu diesem Modell gehört aber auch, dass die Individuen selbst um die Plätze an den effizientesten Schulen konkurrieren. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, wie sich ausgeglichene Leistungsbilanzen zwischen den Funktionssystemen einstellen sollen, wenn diese durch dritte Funktionssysteme vermittelt sind, weil diese in Bezug auf die damit einhergehenden Probleme über eine höhere Lösungskapazitäten verfügen. Mit anderen Worten, wie soll die Integration der Leistungsbeziehungen der Familien, der Wirtschaft und der Schule gelingen, wenn ein Großteil der im Erziehungssystem benötigten Ressourcen, nicht von der Wirtschaft oder den Familien, sondern vom Staat erbracht wird. Abgesehen davon, dass die Humankapitaltheorie im Tertiärbereich der Erziehung sowieso eine Präferenz für Privatschulen aufweist, hat man sich an dieser Stelle in der Humankapitaltheorie aber abgesichert. Es ist die Konkurrenz der Schulen um die den Arbeitsmarkt beobachtenden Konsumenten von Ausbildungsgängen, die die Integration dieser zwei Funktionssysteme sicherstellen soll. Was aber geschieht, wenn der Staat zumindest die direkten Kosten der Ausbildungsgänge trägt und nicht die Individuen, die letztlich die Renditen dieser Humankapitalinvestitionen einstecken? Wo bleibt das Risiko von Fehlinvestitionen, dass das Entscheidungsverhalten der Familien disziplinieren soll? Die Humankapitaltheorie löst dieses Problem mithilfe des Konzepts der Opportunitätskosten entgangener Lohnzahlung während der Ausbildung. Denn auch diejenigen, die an staatlichen Schulen und Universi-
Zeit war der Anteil jüdischer Studenten an den Big Three rapide angestiegen und die jüdischen Studenten hatten sich als sehr viel ehrgeiziger erwiesen als der Nachwuchs der angestammten amerikanische Elite. Um ihrer Klientel diese fortgesetzte Blamage zu ersparen, wollten Princeton, Harvard und Yale Zugangsquoten für jüdische Studenten einführen. Der Druck der Familien muss eben nicht zur Steigerung der Schuleffizienz führen, sondern er kann auch zur Senkung der Selektionsmaßstäbe führen, um die zahlende Klientel nicht zu verärgern. Sei es, dass man schwache Schüler mit durchschleppt, sei es, dass man schulisch stärkere Gruppen auszuschließen versucht, um der eigenen Klientel unangenehme Konkurrenz zu ersparen (Karabel 2005: 110ff.).
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täten studieren, müssen die Opportunitätskosten dafür tragen, dass sie den Berufseinstieg auf später verschieben. Da sie die in dieser Lebensphase versäumten Humankapitalinvestitionen später nur noch schwer nachholen können, sind sie dazu gezwungen ihre Ausbildungsentscheidung im Hinblick auf zukünftige Arbeitsmarktchancen zu treffen. Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften sieht sich die Humankapitaltheorie seit den siebziger Jahren allerdings durch ein konkurrierendes Paradigma herausgefordert. Die Signallingtheorie basiert auf den direkt entgegengesetzten Annahmen. Zunächst verzichtet man hier auf die Annahme, dass das Erziehungssystem die Produktivität der Individuen erhöht. Hier wird bewusst auf die Annahme verzichtet, dass die im Erziehungssystem antrainierten Fähigkeiten im Produktionsprozess tatsächlich verwendet werden können. Die Signallingtheorie verlagert das grundlegende Problem auf Informationsasymmetrien auf dem Arbeitsmarkt (Spence 1973). Nur das potentielle Organisationsmitglied kenne den Grad der eigenen Produktivität, aber nicht der potentielle Arbeitgeber. Unter diesen Umständen können Unternehmen nicht zwischen schlechten und guten Kandidaten unterscheiden und werden deshalb nur niedrige Löhne anbieten, die die guten Kandidaten abschrecken, es sei denn, man bringe die Kandidaten dazu, in glaubwürdige Signale zu investieren. Dazu sollen die Bildungszertifikate gehören. Man könnte sie für ein Signal der Lernfähigkeit halten, denn wer sich beispielsweise innerhalb eines Studiums mit komplexen wissenschaftlichen Themen auseinandergesetzt hat, dem könnte man dann auch zutrauen sich schnell in der neuen Stelle zurechtzufinden. Die Signallingtheorie vertritt deshalb für das Verhältnis von Ausbildungsdauer und Einkommen genau die der Humankapitaltheorie entgegengesetzte These: Während die Humankapitaltheorie davon ausgeht, dass die Produktivität mit jedem Ausbildungsjahr zunehme, geht die Signallingtheorie davon aus, dass der Signalwert eines Bildungszertifikats zunimmt je kürzer die Dauer der Ausbildung ist. Die Kontroverse dieser beiden Paradigmen dauert bis heute an, ohne eindeutige empirische Resultate8 erbracht zu haben.
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Groot and Oosterbeek haben beispielsweise untersucht, wie sich das Verhältnis von Bildungszertifikaten und Einkommen verändert, wenn man wiederholte Schuljahre berücksichtigt (Groot/Oosterbeek 1994). Aus humankapitaltheoretischer Perspektive dürfte sich nichts am statistischen Zusammenhang ändern, aus der Perspektive der Signallingtheorie müssten sich wiederholte Schuljahre negativ auf das Einkommen auswirken. Die empirischen Ergebnisse sprechen nicht für die Signallingtheorie. Die Signallingtheorie hat außerdem Schwierigkeiten zu erklären, dass der Einfluss der Schulzertifikate 10-15 Jahre nach dem Berufseinstieg am stärksten ist. Denn nach die-
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Aus soziologischer Perspektive fällt auf, wie stark sich beide Paradigmen auf die Rationalität der Technologien im Erziehungssystem verlassen. Die Humankapitaltheorie verlässt sich auf die Erziehungstechnologien und die Signallingtheorie auf die Selektionstechnologien. Aus soziologischer Perspektive scheinen beide Annahmen falsch zu sein, denn das Erziehungssystem kämpft auf beiden Ebenen mit hartnäckigen Technologiedefiziten. Das zeigt sowohl die empirische Unterrichtsforschung wie die empirische Forschung zur Belastbarkeit von Zensuren und Prüfungen. (Luhmann/Schorr 1988: 116ff. und 248ff., Kalthoff 1997: 127ff.). Als Arbeitsmarktsignal würde dies die Bildungszertifikate erst entwerten, wenn den Organisationen das Risiko geeignete Bewerber durch zu niedrige Löhne abzuschrecken völlig gleichgültig wäre, oder sie über zuverlässigere Signale verfügen würden. Interessanterweise zeigt sich hier aber, dass beide Paradigmen durch und durch meritokratisch gestrickt sind. Wie bereits erwähnt hat sich die Humankapitaltheorie aber seit dieser Zeit ein gutes Stück vom Meritokratiemodell wegbewegt. So räumt die Humankapitaltheorie heute die intergenerationale Persistenz von Einkommensungleichheiten ein und hat einen originellen Weg gefunden diesen Befund zu erklären, der nur kleine Modifikationen an der Theorie notwendig gemacht hat. Die Humankapitaltheorie beruht in ihrer ersten Fassung auf der Annahme vollkommener Produktmärkte, vollkommener Arbeitsmärkte und vollkommener Finanzmärkte. Der letzte Punkt ist dabei von entscheidender Bedeutung. Bei perfekten Finanzmärkten erhalten arme Individuen höhere Renditen für Humankapitalinvestitionen als reiche. Solange sie jederzeit einen Kredit aufnehmen können, um Humankapitalinvestitionen zu finanzieren, wäre tatsächlich Chancengleichheit gewährleistet. Die neueren Versionen der Humankapitaltheorie gehen aber davon aus, dass auf dem Finanzmarkt deutliche Informationsasymmetrien zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer herrschen. Außerdem kann der Kreditgeber nicht wissen, ob der Kreditnehmer ernsthaft vorhat, den Kredit zurückzuzahlen (Moral Hazard). Der Kreditgeber verlange deshalb in der Regel eine veräußerbare Sicherheit. Nun lässt sich aber das Humankapital nicht vom Träger ablösen und veräußern, das heißt, anders als ein Auto oder eine Immobilie kann Humankapi-
ser Zeit sollte sich die Organisation ein Bild von der Leistungsfähigkeit des Mitglieds machen können. Blaug bietet dafür allerdings die Erklärung an, dass die Organisationen interne Arbeitsmärkte ausbilden, auf denen die Bildungszertifikate immer noch als Signal funktionieren (Blaug 1976: 846). Dennoch räumen selbst Vertreter der Humankapitaltheorie wie Daniele Checchi ein, dass Bildungszertifikate wahrscheinlich auch als Arbeitsmarktsignal von Bedeutung sind (Checchi 2006: 185).
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tal nicht als Pfand eingesetzt werden. Das führe dazu, dass einkommensschwache Individuen viel schwerer einen Kredit bekommen als vermögende Individuen. Zwar sei es möglich, dass herausragende Schulnoten dennoch Zugang zu den Finanzmärkten ermöglichen, aber man sieht, dass einkommensschwache Individuen mehr leisten müssen, um dasselbe zu erhalten. Daraus bilde sich schnell ein Teufelskreis, da in der nächsten Generation wieder dasselbe Problem auftauche (Checchi 2006: 50). Man sieht, die Humankapitaltheorie hat die zentralen Teile der Theorie gerettet, indem sie das Problem auf die Finanzmärkte auslagert. Die Humankapitaltheorie geht deshalb davon aus, dass dieses Problem nur durch den Staat gelöst werden kann. Wie in der klassischen Mobilitätsanalyse führt hier ein kurzer Weg von der Abweichung vom Meritokratiemodell zum Ruf nach politischen Interventionen. Dennoch tut sich die Humankapitaltheorie mit diesem Weg schwer. Denn staatliche Interventionen bringen aus ökonomischer Sicht auch immer das Risiko mit sich, dass staatliche Subventionen private Investitionen verdrängen, wodurch gerade die Begabtesten getroffen würden, die am leichtesten an Kredite für Humankapitalinvestitionen kommen. Staatliche Schulsysteme mit fester örtlicher Zuständigkeit seien zudem nicht mehr kompetitiv. Aus diesem Grunde haben einige Staaten mit dem Schoolvoucher experimentiert. Danach wird Bildung zentral finanziert, aber die Familien können sich die Schulen aussuchen und die Schulen werden dann nach der Anzahl der Schüler finanziert. Diese Experimente seien jedoch weitestgehend gescheitert. Bildungsaffine Familien ziehen aus strukturschwachen Gegenden weg und die Qualität der Schulen in diesen Gegenden lässt weiter nach. Gute Schulen haben keinen Anreiz ihrer Schülerzahlen zu expandieren, da sie dann die soziale Homogenität der Schulen riskieren. Checchi spricht sich für staatliche Bildungskredite aus, die man nur zurückzahlen müsse, wenn man später ein hohes Einkommen erziele (ebd.: 147). Nun ist es wenig verwunderlich, dass Wirtschaftswissenschaftler mehr Vertrauen in Marktlösungen als in Staatsinterventionen haben, und diese also doch nur widerwillig ins Spiel bringen werden. Die Humankapitaltheorie tut sich mit diesem Thema auch noch aus einem weiteren Grund schwer, der zeigt, dass die Humankapitaltheorie von den Plausibilitäten des Meritokratiemodells gestartet ist. Ich hatte zu Beginn dieser Arbeit zu zeigen versucht, dass die Vertreter des Meritokratiemodells dazu neigen dem Bezugsproblem der Rekrutierungsrationalität den gesellschaftlichen Primat zu zusprechen. Der Statuszuweisungsprozess müsse so eingerichtet sein, dass die richtigen Leute an den richtigen Stellen sitzen. Die Attraktivität des Meritokratiemodell lebt natürlich aber auch von der Legitimation, die durch die Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess gewährleistet sein soll. Sehen sich aber Autoren wie Daniel Bell vor das Dilemma
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gestellt, dass Maßnahmen, die die Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess erhöhen können wie z. B. Affirmative Action, weniger kompetente Personen in wichtige Ämter bringen könnten, dann lehnen sie diese ab. Die Humankapitaltheorie befindet sich in einem ähnlichen Dilemma, denn sie ist immer auch eine Theorie wirtschaftlichen Wachstums gewesen. Die Humankapitaltheorie wurde als Erklärung des rasanten Wirtschaftswachstums in der Nachkriegszeit eingeführt, das mit den Mitteln der neoklassischen Wirtschaftstheorie nicht zu erklären war. Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit habe sich nicht durch die Summe des Realkapitals und der verausgabten Arbeitsstunden erklären lassen. Dabei sei immer klar gewesen, dass dieses Wirtschaftswachstum vor allem durch den rasanten technologischen Fortschritt hervorgebracht worden ist. Der technische Fortschritt sei aber irrtümlicher Weise lange Zeit als externe nicht direkt beinflussbare Größe behandelt worden (Kamaras 2003: 32). Erst die Humankapitaltheorie habe deutlich gemacht, dass die dem technischen Fortschritt begleitenden Fähigkeiten und Kenntnisse diesem Prozess maßgeblich zugrunde liegen. Das heißt für die Humankapitaltheorie, dass politische Maßnahmen zur Egalisierung der Zugangschancen nicht die Wachstumschancen der Wirtschaft beeinträchtigen dürfen, indem sie beispielsweise sehr talentierte Individuen durch politische Maßnahmen entmutigen, soviel wie möglich in ihre Produktivität zu investieren. Gerade staatliche Erziehungssysteme stehen aber in der Humankapital im Verdacht, diesen Effekt mit sich zu bringen. Tatsächlich hat sich die Humankapitaltheorie aber noch viel deutlicher auf die Ungleichheitssoziologie zubewegt. Während die Humankapitaltheorie bis in die siebziger beispielsweise jeden Einfluss der Familie auf den Schulerfolg ausgeschlossen hat, räumt Checchi ein, dass die Familie einen größeren Einfluss auf das Einkommen hat als der reine Schuleffekt. Checchi scheint es schon zu genügen, dass es einen nachweisbaren kausalen Effekt der Schulbildung auf das Einkommen gibt. Daneben räumt er ein, dass die Konkurrenz der Familien um die besten Schulen zu Peer-Effekten führt, die die Ungleichheit im Erziehungssystem vergrößern. Die Selbstsortierung der besten Individuen auf die Privatschulen könne von den Unternehmen antizipiert werden und dazu führen, dass alle Absolventen dieser Schulen für leistungsfähiger gehalten werden als die Absolventen anderer Schulen. Ab einem gewissen Konzentrationsgrad müsse man auch mit der Bildung partikularistischer Netzwerke rechnen. Die Humankapitaltheorie ist bescheiden geworden. Es genügt ihr, dass sich ein reiner Effekt des Schulbesuchs auf das Einkommen feststellen lässt, der herkunftsunabhängig ist, auch wenn dieser Faktor einen eher kleinen Teil der Varianz des Einkommens erklärt. So kann wenigstens Schulbildung immer noch als Humankapitalinvestition verstanden werden. Checchi sieht aber auch, dass die Kinder von Eltern mit höheren
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Schulabschlüssen höhere Erfolgsraten bei ihren Humankapitalinvestitionen aufweisen. Die Kinder einkommensschwacher Eltern müssen außerdem sehr viel bessere Schulleistungen bringen um Zugang zu den teuersten Ausbildungsgängen im Tertiärbereich zu erhalten. Zusammengenommen ist das eine deutliche Absage an das Meritokratiemodell. Ein deutlicher Unterschied zwischen den neueren Versionen der Humankapitaltheorie und der Ungleichheitssoziologie findet sich aber dennoch: Die Humankapitaltheorie kann nach wie vor nichts mit dem Konzept partikularistischer Interessengruppen anfangen. Es handelt sich vielmehr um erbliche Einkommensungleichheiten, die im Erziehungssystem oder im Wirtschaftssystem ihren Anfang nehmen und im anderen System reproduziert werden, weil dies der Logik des Systems entspricht. Erfolge im Erziehungssystem erhöhen die Produktivität, die von den Arbeitsmärkten mit einem höheren Einkommen honoriert werden. Die Einkommen auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen den Kauf von Gütern, die als Sicherheit auf den Finanzmärkten angeboten werden können, um sich Kapital für Humankapitalinvestitionen für die eigenen Kinder zu beschaffen, die damit auf den Arbeitsmärkten wieder ein höheres Einkommen erzielen. Diese Übertragung von Vorteilen im einen System auf Vorteile im anderen System verletzt an keiner Stelle die Eigenlogik der Familien, des Wirtschaftssystems oder des Erziehungssystems. Es scheint exakt das Erklärungsmodell zu sein, dass Luhmann vorgeschlagen hat und das in der Regel als Theorie des Primats funktionaler Differenzierung bezeichnet wird. Die neuere Humankapitaltheorie hat sich aber auch in der Beschreibung des Integrationsgrades der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssysteme unmerklich auf die neueren Versionen der Differenzierungstheorie zubewegt. Es ist sinnvoll an dieser Stelle noch einmal Luhmanns Unterscheidung der Sachdimension, der Zeitdimension und der Sozialdimension sinnhafter Prozesse einzuführen und die Austauschprozesse der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systeme jeweils auf ihre Korrelate in den drei Sinndimensionen hin zu analysieren. In der Sachdimension geht es um die Quantität und die Qualität der Leistungen, die die Systeme sich wechselseitig zur Verfügung stellen müssen. In der Zeitdimension geht es um die Synchronisierung von Änderungen der Leistungsnachfrage und des Leistungsangebots. In der Sozialdimension geht es hingegen darum, ob sich durch die wechselseitige Beobachtung des Austauschs der Inputs und Outputs eine für beide Seiten befriedigende Balance einstellt. Hier wird sich besonders deutlich zeigen, ob die Kohärenz der Humankapitaltheorie über die verschiedenen Modifikationen erhalten bleibt. Zunächst werde ich mit der Analyse der Sachdimension beginnen. Hier geht es um das Verhältnis der Familien, des Erziehungssystems und des Wirtschafts-
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systems (Arbeitsorganisationen). In der Humankapitaltheorie gibt es hier zwei verschiedene Versionen (Blaug 1976: 834). Die eine berücksichtigt den qualitativen Aspekt dieser Beziehung. Auf der einen Seite stehen die Arbeitsorganisationen, die bestimmte Fähigkeiten für bestimmte Stellen benötigen, auf der anderen Seite stehen die Familien, für die sich die verschiedenen Ausbildungsangebote aus humankapitaltheoretischer Sicht nur nach ihren Renditen unterscheiden. Das soll gewährleisten, dass die Familien nur Ausbildungsgänge wählen, deren Programme durch die Arbeitsorganisationen nachgefragt werden. Diese Version kann allerdings nicht erklären, weshalb relativ oft Fächer studiert werden, für die kaum eine Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt besteht. Die zweite Version verkürzt die Leistungsaustauschprozesse auf ihren quantitativen Aspekt (Nelson/Phelps 1966: 69). Der Produktivitätszuwachs durch eine Humankapitalinvestition nimmt danach linear mit jedem Schuljahr zu. Dahinter steckt die Annahme, dass das größere Humankapital immer ein perfektes Substitut für das kleinere darstellt.9 Diese Annahme führt aber zu wenig plausiblen Konsequenzen, denn der „besser“ ausgebildetere Arzt müsste dann ein perfektes Substitut für den Klempner abgeben, der über eine viel kürzere Ausbildung verfügt. Vollends absurd wird es, wenn man zur Beobachtung ganzer Volkswirtschaften übergeht, denn die Humankapitaltheorie würde dann ganz genau angeben, wie viele Mechaniker man braucht um einen Chirurgen zu ersetzen (Kamaras 2003: 58). Checchi gesteht unter der Hand ein weiteres Problem ein: die Unteilbarkeit schulischer Ausbildung. Wer ein Studium vor dem Abschluss abbricht, der wird seine Investition auf dem Arbeitsmarkt nicht gewinnbringend realisieren können. Checchi sieht darin wieder einen Startnachteil für einkommensschwache Familien, da diese sich nicht für ein bisschen Universität entscheiden können. Die Humankapitalinvestoren sind nicht in der Lage ihre Nachfrage flexibel den Renditeschwankungen anzupassen. Die Arbeitsmärkte selbst bringen ein weiteres Problem mit sich, denn sie reagieren nicht nur auf Produktivitätsunterschiede, sondern auch auf externe Faktoren wie Demographie und Migration, die die Zahl der Erwerbstätigen verändern (Checchi 2006: 167). Nimmt man all diese Prob-
9
Das schulische Humankapital ermögliche vor allem komplexere Such- und Entscheidungsprozesse und sei deshalb beliebig transferierbar, da diese Fähigkeiten überall vorausgesetzt würden. Der hier zitierte Artikel untersucht amerikanische Farmer. Die gebildeteren Farmer seien offener für agrarökonomische Innovationen und deshalb den weniger gebildeteren überlegen. Hier wird allerdings nicht der Erfolg der Agrarbetriebe untersucht, sondern lediglich die Diffusionsraten von „Innovationen“, unabhängig davon, ob diese die Betriebe erfolgreicher machen (Nelson/Phelps 1966).
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leme zusammen, dann scheint es sehr unwahrscheinlich, dass der Arbeitsmarkt die Integration der Familien, des Erziehungssystems und der Arbeitsorganisationen gewährleisten kann. Die verschiedenen Ausbildungspfade im Erziehungssystem unterscheiden sich nicht nur im Preis, man bekommt sie nur ganz oder gar nicht und die Löhne auf dem Arbeitsmarkt geben keine zuverlässigen Aufschluss über zukünftige Humankapitalrenditen, weil sie auch auf geburtenschwache und geburtenstarke Jahrgänge, Fluktuationen in den Migrationsraten und anderes reagieren. Weder können die Familien flexibel auf Nachfrageschwankungen reagieren, noch liefert der Markt zuverlässige Informationen. Ähnliche Probleme tauchen in der Zeit und in der Sozialdimension auf. In der Zeitdimension nennt Checchi selbst das Problem der unterschiedlichen Zeitrhythmen in der Wirtschaft und im Erziehungssystem. Die Nachfrageänderungen nach bestimmten Qualifikationen lenken die Auszubildenden so lange in bestimmte Ausbildungsgänge bis genügend Absolventen vorhanden sind, um die Nachfrage zu decken. Doch zu diesem Zeitpunkt stecken noch viele Individuen in der Ausbildung, für die dann später keine Arbeitsplätze mehr vorhanden sind. Dies liegt eben daran, dass die Nachfrageschwankungen in der Wirtschaft in der Regel kürzere Perioden aufweisen als die Erziehungsprozesse an den Schulen und Universitäten. Bei Checchi finden sich auch Überlegungen, die die Sozialdimension dieses Phänomens betreffen. Wieder kommt hier die Politik ins Spiel. Die Fragen, die er sich stellt, sind Folgende: Was passiert, wenn demokratisch verfasste Staaten durch Bildungssubventionierung auf dem Arbeitsmarkt intervenieren? Werden sich auf diese Weise marktverträgliche Lösungen einspielen, die das Wirtschaftswachstum nicht gefährden? Welche Präferenzen sind in der Bevölkerung zu erwarten, wenn man in Rechnung stellt, dass sich die Wähler im Einkommen und im Talent unterscheiden? Die Antworten fallen sehr vage und spekulativ aus. Die weniger einkommensstarken Familien werden nach Checchis Meinung für eine deutliche Erhöhung der staatlichen Humankapitalinvestitionen stimmen, um ihre Einkommenschancen zu erhöhen, was zu einer Überproduktion an Humankapital führen müsste. Die Intelligenteren würden für eine Senkung der staatlichen Ausgaben stimmen, um sich die Konkurrenz der weniger intelligenten Individuen vom Hals zu halten. Da die Verteilung der Präferenzen selbst in diesem extrem vereinfachten Modell mehrere Peaks aufweist, kann die Theorie an dieser Stelle den Ausgang der demokratischen Entscheidungsprozesse nicht mehr prognostizieren. Das Ergebnis sei aber entweder eine Überproduktion oder eine Unterproduktion von Humankapital. Der Staat wirkt danach also eher desintegrierend auf das Verhältnis von Familie, Erziehungssystem und Arbeitsorganisationen. An dieser Stelle wird auch deutlich, wie stark die Differenz individueller und kollektiver Rationalität auseinanderbricht, denn schließlich findet
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das Modell keine für alle Beteiligten akzeptables Gleichgewicht mehr. Soziologisch überzeugend fällt diese modellplatonische Spekulation mit ihrer beliebigen Prognose nicht aus. Aber man sieht, die Humankapitaltheorie scheint sich auf den geringen Integrationsgrad der funktional differenzierten Gesellschaft nach und nach einzustellen. Bereits seit den siebziger Jahren wird das nahe Ende der Humankapitaltheorie verkündet. Mark Blaug hat bereits 1976 in einer differenzierten Literaturübersicht viele Indizien dafür ausgemacht, dass es sich bei der Humankapitaltheorie um ein degeneratives Paradigma handele, dass zunehmend weniger interessante Forschungsfragen generieren könne und immer häufiger auf ad hoc Begründungen zurückgreifen müsse. Fast vierzig Jahre später ist der Eindruck aus soziologischer Perspektive immer noch derselbe. Wie erklärt sich die erstaunliche Langlebigkeit dieses Paradigmas? Könnte es sein, dass die Humankapitaltheorie ihre erstaunliche Langlebigkeit einem MacGuffin verdankt? Blumenberg hat diesen Begriff von Alfred Hitchcock übernommen und in die Wissenschaftstheorie überführt. „Indem nur durch seine Identität ausgezeichneten MacGuffin kondensiert sich ein Geheimnis, dass für die Spanne der Handlung jeden Aufwand, jede Betriebsamkeit, jede Menge Leben rechtfertigt. Ein Mann ist Träger einer ungeheuer wichtigen Kenntnis, eines Stoffes, einer Formel, einer Skizze; aber es kommt nicht darauf an, sein Geheimnis am Ende zu enthüllen, es ist nicht einmal zulässig, soll die Enttäuschung vermieden werden, dass es ganz unsinnig war, es bei dieser Sache auf Leben und Tod ankommen zu lassen“ (Blumenberg 2005: 97). Blumenberg war der Ansicht, dass der Seinsbegriff in der Philosophie die Funktion eines MacGuffins einnimmt. Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass der ökonomische Begriff der Produktivität in der Humankapitaltheorie dieselbe Funktion einnimmt. Der Kern der Humankapitaltheorie besteht in der Annahme, dass die Bedeutung schulischer oder innerbetrieblicher Ausbildungen in der Erhöhung der individuellen Produktivität der Erwerbstätigen zu finden ist. Die Wirtschaftswissenschaftler räumen aber ein, dass sich das Konzept der Produktivität nie direkt beobachten lässt. Produktivität kann sich in einem Preis manifestieren. Doch dies geschieht nur auf einem vollkommenen Arbeitsmarkt und welcher Markt ist schon vollkommen, wenn sich die meisten Güter immer auch in ihrer Qualität und nicht nur im Preis unterscheiden, wenn die Vielfalt der dabei involvierten System/Umwelt-Beziehungen notwendigerweise zu Informationsasymmetrien führen. Die Unbestimmtheit des Produktivitätsbegriffs strahlt auf weitere zentrale Theoriebereiche ab. Die Schulen bieten nicht nur auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Fähigkeiten und Kenntnisse an, sie liefern auch jede Menge lediglich aus Neugier zu konsumierender Informationen. Die einen erhöhen die Produkti-
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vität, die anderen stillen nur den Hunger nach Information. Doch wie soll man beides unterscheiden, wenn sich der Begriff der Produktivität als unenthüllbares Geheimnis gibt?10 Der MacGuffin stimuliert jede Menge Aktivität. Man kann überlegen, welche Wirtschaftsfaktoren die Bereitschaft zu Humankapitalinvestionen nach oben treiben: steigende Renditen, sinkende Kreditzinsen oder wachsende Arbeitslosigkeit, die die Opportunitätskosten senkt. Man kann darüber streiten, ob die Schule die Produktivität erhöht oder diese lediglich öffentlich sichtbar macht und darüber, mit welchen Indikatoren sich diese Kontroverse entscheiden lässt. Die Anwendung dieser Operationalisierungen stimuliert umfangreiche Methodendiskurse. Ebenso gut lässt sich darüber streiten, womit sich das Zurückbleiben der Wachstumsraten der Entwicklungsländer erklären lässt. Viele dieser Verzweigungen des Diskurses um die Humankapitaltheorie haben politische Implikationen, die sich ebenso ausführlich diskutieren lassen. Doch hat sich dieser Aufwand gelohnt? Die Arbeit abhängig Erwerbstätiger ist beispielsweise keine Ware in normalen Sinn. Abhängige Erwerbsarbeit ist nicht das Ergebnis ständig sich wiederholender Spot Contracts, die sich flexibel auf das jeweilige Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt einstellen können (Williamson 1975). Sie ist eher ein Vertragsverhältnis zwischen der Organisation und dem Organisationsmitglied, das sicher auch durch die aktuelle Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt bestimmt wird, aber das Organisationsmitglied verliert seine Stelle nicht automatisch, wenn jemand auftaucht, der diese Stelle für ein geringeres Einkommen übernehmen würde. Damit hat man die Grenze zur Organisationssoziologie überschritten. Dann muss man aber in Rechnung stellen, dass die Löhne und Gehälter immer auch von der Struktur der Organisationen mitbestimmt werden – beispielsweise der Zahl ihrer Hierarchiestufen und den besonderen Anforderungen in den Stellen – und diese können dann nicht einfach als Resultat der Austauschprozesse auf dem Arbeitsmarkt behandelt werden. Die Lohnkurve eines Individuums hängt dann nicht nur von seinen Humankapitalinvestitionen, sondern immer auch von den Karrierestrukturen
10 Einige Deutungen der Humankapitaltheorie sprechen dafür, dass es sich um ganz spezifische im Produktionsprozess direkt verwertbare Kenntnisse und Fähigkeiten handelt (Kamaras 2003), andere verstehen darunter ein abstraktes Metawissen, das die Informationssuche verbessert und die Komplexität der Entscheidungsprozesse steigert (Nelson/Phelps 1966). Das schulische Humankapital kann neuerdings aber auch alle psychologischen Persönlichkeitseigenschaften umfassen, die die Kontrolle der Individuen in den Arbeitsorganisationen erleichtern, solange man sie als Effekt der Sozialisationsprozesse in der Schule verstehen kann (Checchi 2006).
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der Organisation ab. Die Ungleichheitssoziologen werden zu Recht darauf bestehen, dass die Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt als Monopolist auftreten, der die Machtasymmetrien zwischen Kapital und Arbeit auszugleichen versucht. Die Löhne und Gehälter sind dann aber derart überdeterminiert, dass sie den Individuen, die eine Auswahl unter den vielen Ausbildungsangeboten treffen müssen, keine zuverlässige Entscheidungsgrundlage mehr bieten. Wie verschiedene Studien gezeigt haben, kommen dann aber auf der Seite der Individuen noch ganz andere Motive ins Spiel. Die Individuen können Ausbildungsentscheidungen auch als reine Konsumenten treffen, die beispielsweise den Ausbildungsgang mit den geringsten Anforderungen wählen.11 Die Organisationen des Erziehungssystems können dann aus den expandierenden oder abnehmenden Klientenzahlen keine Rückschlüsse mehr ziehen, ob ihre Ausbildungsprogramme den Anforderungen in den Arbeitsorganisationen entsprechen. Sie können sich in der Konkurrenz um Klienten dann aber auch durch das Senken ihrer Anforderungen durchsetzen. All diese Überlegungen haben aber eines gemeinsam: das mystische Konzept Produktivität spielt darin keine Rolle. Eine realistische Theorie des Statuszuweisungsprozesses muss derart viele Korrekturen am Modell des vollkommenen Arbeitsmarktes vornehmen, dass die Humankapitaltheorie jeden heuristischen Wert einzubüßen scheint. Dafür dürfte nicht zuletzt die oben erwähnte Ambivalenz ökonomischer Theorien verantwortlich sein, die auf eigentümliche Art und Weise, zwischen mikrodeterministischen und makrodeterministischen Konzepten zu schwanken scheinen. Der immer stark in den Vordergrund gestellte methodische Individualismus wird konterkariert durch den Makrodeterminismus der Marktmodelle. Die Individuen verhalten sich hier letztlich wie flexible Mengenanpasser, deren Entscheidungen letztlich durch den Marktpreis und ihre Budgetrestriktionen festgelegt sind. Dasselbe gilt für die Organisationen, die sich nur dann am Markt bewähren können, wenn sie sich jeweils flexibel den Schwankungen des Marktes anpassen können. Es sind hier letztlich die institutionellen Rahmenbedingungen des individuellen Entscheidens, die in diesem Modell die Entstehung sozialer Ordnungsbildung erklären (beispielweise Gleichgewichtspreise auf dem Markt) und weniger die Präferenzen der Individuen. Diese letztlich eher makrodetermistische Tendenz ökonomischer Theorien, wird eben nur durch das idealistische Konzept des vollkommenen Marktes verdeckt, der das Kunststück zustande bringen soll, in seiner sozialen Ordnung die individuellen Präferenzen perfekt abzubilden. Die inhärente Instabilität dieser theoretischen Konzeption liegt dann
11 Blaug zitiert mehrere Artikel, die diesen Zusammenhang belegen (Blaug 1976: 835).
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darin, dass je mehr Abweichungen vom Modell des vollkommenen Marktes eingeräumt werden müssen, nicht nur das Ideal der perfekten Vergesellschaftung der Individuen aufgegeben werden muss, sondern auch, dass ab einem gewissen Moment nicht mehr angenommen werden kann, dass den Märkten die stabile Ausbalancierung der unzähligen individuellen Handlungen gelingen kann.
J OHN G OLDTHORPE Es gehört zur Kunst wissenschaftlicher Rhetorik sich den richtigen Gegner auszusuchen und sich diesen gut zurechtlegen zu können. So hat Hartmann Tyrell darauf aufmerksam gemacht, dass sich Durkheim für seine Apologie gesellschaftlicher Arbeitsteilung nicht den erwartbaren Gegner Marx ausgesucht hat, der das Prinzip der Arbeitsteilung am schärfsten kritisierte, sondern sich ausgerechnet mit Spencer einen Antagonisten ausgewählt hat, der ebenfalls ein positives Bild funktionaler Differenzierung gezeichnet hat (Tyrell 1985: 189ff.). Durkheim hatte starke Argumente gegen Spencer aber viel schwächere gegen Marx, der im Buch nicht namentlich auftaucht und gegen dessen Position er sich gegen Ende des Buches sehr defensiv verteidigt. In der Auseinandersetzung mit Spencer gelingt es Durkheim aber, die Stärken des eigenen Ansatzes sichtbar zu machen, so dass die eher ausweichende Antwort auf die linke Kritik an der Differenzierungstheorie kaum mehr ins Gewicht fällt, da es dem Autor gelungen ist im Umweg über Spencer eine Reihe überzeugender Evidenzen für seine Theorie gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu entwickeln. Eine recht ähnliche Strategie findet sich interessanter Weise in „Social Mobility in Modern Britain“ (Goldthorpe et al. 1980). Zwar werden die eigentlichen Gegner, das Meritokratiemodell und die marxistische Klassentheorie, in der Einleitung deutlich gekennzeichnet, doch die empirische Analyse, die den Kern des Buches ausmacht, nimmt einen längeren Umweg und wählt sich zunächst eine äußerst überraschende Gegenposition: die neoweberianische Theorie sozialer Schließung, wie sie beispielsweise von Frank Parkin (1979) und Randall Collins (1979) vertreten wurde. Ich werde im Folgenden die argumentative Funktion dieses überraschenden Umwegs zu rekonstruieren versuchen, da man auf diesem Weg einige zentrale Eigenarten von Goldthorpes Mobilitätsanalyse kenntlich machen kann, die das gesamte Oeuvre durchziehen und das Besondere und Innovative seines Beitrags ausmachen.
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Goldthorpe hält sich nicht lange mit einer Rekonstruktion dieser Theorietradition auf12. Stattdessen spitzt er die Theorie sozialer Schließung auf drei empirisch gut überprüfbare Thesen zu: Die These der Schließung der Oberschichtspositionen, die These der „Pufferzone“ und die „Counterbalance“-These. Allen drei Thesen liegt die Annahme zugrunde, dass die Mobilitätsprozesse in der modernen Gesellschaft vor allem durch „Shortrange“-Mobilität gekennzeichnet seien. Die mobilen Individuen erreichten meist nur die nächst höhere Schicht und stiegen selten weiter ab als zur direkt darunter Befindlichen. Die Mobilität sei deshalb in der Mittelschicht am höchsten und in den beiden entgegengesetzten Schichten am niedrigsten. Die Oberschicht weise einen hohen Grad sozialer Schließung auf, weil hier die Motive zum Klassenerhalt besonders ausgeprägt sind und weil in dieser Schicht die Ressourcen, mit denen man Abstiege vermeiden kann, am höchsten konzentriert sind. Da die Inhaber dieser Positionen meist selbst aus dieser Schicht stammten und die wenigen Aufsteiger selbst vor allem eine Mittelschichtherkunft aufweisen würden, zeichne sich diese Gruppe durch eine hohe soziale Homogenität aus. Aus der hohen sozialen Homogenität kann ihre politische und ideologische Einheitlichkeit abgleitet werden, die es dieser Gruppe zusätzlich erleichtere, kollektive Mechanismen sozialer Schließung durchzusetzen. Die Differenz manueller und nichtmanueller Berufe bildet nach dieser Theorie die Pufferzone zwischen der Arbeiterklasse und der Oberschicht. Diese werde zwar ziemlich häufig von einer Generation zur nächsten oder innerhalb eines Arbeitslebens überschritten, aber eben nur aus den je benachbarten Positionen. Die Pufferzone sichere die soziale Homogenität der Oberschicht, da Aufstiege von ganz unten nach ganz oben dann mehrere Generationen in Anspruch nehmen und deshalb von einem langsamen Prozess der Oberschichtsakkulturation begleitet seien. Die „Counterbalance“-These wiederum wendet sich direkt gegen das Meritokratiemodell. Zwar habe sich die Schule in der modernen Gesellschaft tatsächlich zur zentralen Statuszuweisungsagentur entwickelt, aber diese Umstellung des Statuszuweisungsprozesses führe nicht zu einer Zunahme der Aufstiegsmobilität. Denn die Schulen eröffnen aus dieser Perspektive nicht nur Aufstiegschancen, sie verschließen diese auch. Da die Karrieren danach vor
12 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass für den empirischen Mobilitätsforscher Goldthorpe weniger die Theoriemodelle von Parkin und Collins relevant sind, als die große empirische Studie von David Glass (Glass et al. 1954), die besonders die hohen Selbstrekrutierungsraten der Oberschicht betont. Der Einfluss dieses Buches für die britische Ungleichheitssoziologie ist oft hervorgehoben worden (Payne 1987: 88ff., Saunders 1996: 8).
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allem von Bildungszertifikaten abhängig werden, nehmen die Aufstiegsmöglichkeiten in den Berufskarrieren entsprechend ab. Goldthorpe beginnt seine empirische Auseinandersetzung mit der Theorie sozialer Schließung, indem er zunächst die absoluten Raten in seinen Mobilitätstafeln analysiert. Er hält dabei fest, dass jede dieser drei Thesen voraussetzt, dass sich deutliche Unterschiede in den absoluten Raten der verschiedenen Herkunftsklassen ausmachen lassen. Untersucht man die herkunftsspezifische Zusammensetzung der Oberschicht, so fällt auf, dass diese nach Goldthorpes Daten von 1971 eine extrem heterogene Zusammensetzung aufweist. Zwar sind die Söhne der Oberschicht im engeren Sinne mit einem Viertel vertreten, aber die Söhne der anderen sechs Herkunftsklassen aus Goldthorpes Schichtungsmodell sind nahezu zu gleichen Teilen in der obersten Schicht vertreten. Vergleicht man die Mobilitätstafeln mit den nach dem Meritokratiemodell erwarteten Werten, dann zeigt sich zwar, dass sich in der obersten Klasse (Dienstklasse 1) dreimal so viele Personen finden, die bereits aus dieser Klasse stammen und zweimal so viele aus der darunterliegenden Klasse (Dienstklasse 2), aber die Theorie der Oberschichtsschließung betrifft nach Goldthorpe nicht den Grad der Chancengleichheit sondern den Grad der Klassenbildung (Class Formation). Man könne nicht von sozialer Schließung sprechen, wenn diese Klasse so heterogen in ihrer sozialen Zusammensetzung sei und der Zugang zu diesen Positionen den Söhnen aller Schichten offenstehe. „Rather, if what is in question is the composition of what we have characterised as the upper and intermediate levels of the service class of the british society, rather than that of elites strictu sensu, our findings must lend support to Dahrendorf`s argument that `if any class bears witness to the comparative openness of (contemporary) European societies, it is the service class` and that this class typically contains a sizeable component of men recruited from workingclass families.“ (Goldthorpe et al 1980: 47)13
Ähnlich fällt die Überprüfung der „Pufferzonenthese“ aus. Diese These würde nahelegen, dass nur die gelernten Arbeiter die Grenze zur nichtmanuellen Arbeit überschreiten können. Doch die Klasse der ungelernten Arbeiter weist fast dieselben Aufstiegschancen auf. Erstaunlicherweise lässt sich nicht einmal die
13 Service Class ist Goldthorpes Terminologie für Oberschicht. Er verwendet einen breiten Oberschichtsbegriff, der Eigentümer und Manager großer und mittlerer Unternehmen und auch die Professionen umfasst. Ich werde Goldthorpes Klassenschema im nächsten Unterkapital ausführlich darstellen.
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„Counterbalance“-These bestätigen. So wenig wie Goldthorpes Daten zum Meritokratiemodell passen, so wenig passen sie zur Theorie sozialer Schließung. Nähert man sich Goldthorpes Werk aus der Perspektive der klassischen Ungleichheitssoziologie, dann wird man diesen Einstieg mehr als erstaunlich finden, denn Goldthorpe wendet sich damit direkt gegen die konflikttheoretische Grundausrichtung dieser soziologischen Subdisziplin. Die Konflikttheorie geht davon aus, dass Gruppen, die über eine ähnliche Ausstattung an Ressourcen verfügen, gemeinsame Interessen aufweisen und sich deshalb leichter solidarisieren können. Der Theorie nach gilt das nicht nur für die Versuche bestimmte Ressourcen zu monopolisieren, sondern auch für den Versuch diese Ressourcen auf die nächste Generation zu übertragen. Die neoweberianische Theorie sozialer Schließung führt innerhalb der Mobilitätsanalyse die klassische Argumentationsfigur der Ungleichheitssoziologie sicher am deutlichsten weiter. Umso mehr überrascht Goldthorpes deutliche Absage an die Theorie sozialer Schließung, die er in seiner Kritik an Grusky und Wheeden wiederholt hat (Goldthorpe 2002: 215). Erst nach diesem Argumentationsschritt peilt Goldthorpe sein eigentliches Ziel an: die Widerlegung des Meritokratiemodells. Dabei setzt er, wenig überraschend, an der folgenden Stelle an: Er versucht zu widerlegen, dass der Modernisierungsprozess im Laufe der Zeit einen meritokratischen Statuszuweisungsprozess hervorbringen wird. In der Mobilitätsanalyse wird die zu widerlegende These auch als „Increased Merit Selection Hypothesis“ bezeichnet (Breen/Goldthorpe 2001: 83). Auch hier beginnt Goldthorpe die Analyse mit der Untersuchung der absoluten Raten. Er vergleicht dabei die Prozentsätze der Individuen, die einen sozialen Aufstieg erlebt haben in vier aufeinanderfolgenden Geburtskohorten von 1908 an (Goldthorpe et al 1980: 69ff.). Dabei ist zunächst tatsächlich eine stetige Zunahme der Individuen zu beobachten, die aus der Arbeiterklasse in die Dienstklasse aufsteigen. Im Gegensatz zu David Glass und seinen Mitarbeitern hält Goldthorpe fest, dass die „Increased Merit Selection“Hypothese durch die Analyse der absoluten Raten durchaus gestützt wird. Er hält aber anderseits auch den irritierenden Befund fest, dass gleichzeitig die intergenerationale Stabilität der Dienstklasse 1 zunehme, da gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit des Abstiegs aus der Oberschicht abnehme. Goldthorpe weist dann auf eine interessante Veränderung in den Randwerten der Mobilitätstafeln hin. Diese zeigen eine stetige Zunahme der Oberschichtspositionen und eine stetige Abnahme der Arbeiterklassepositionen an. Diese Veränderung ist methodologisch höchst problematisch, da die absoluten Raten extrem sensibel auf die Veränderung der Randwerte reagieren – ein Problem, das schon in früheren empirischen Mobilitätsanalysen bemerkt worden ist. Hier hat man versucht, zwi-
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schen struktureller Mobilität und Austauschmobilität zu unterscheiden, indem man den Anteil der mobilen Fälle errechnet hat, die alleine aufgrund der Änderung im Verhältnis der Schichtpositionen zu erwarten ist (strukturelle Mobilität), und diesen Anteil von der Gesamtheit der mobilen Fälle abzieht14. Der verbleibende Anteil der mobilen Fälle wurde dann auf die Wirksamkeit meritokratischer Selektionskriterien zurückgeführt. Goldthorpe setzt stattdessen auf das Konzept der relativen Raten (disparity ratios15, odds ratios16). Vergleicht man die „disparity ratios“ der verschiedenen Geburtskohorten zum Zeitpunkt ihrer beruflichen Reife, dann verschwindet die Zunahme der Aufstiegsmobilität. Die „odds ratios“, die die Wahrscheinlichkeit von Aufstiegen und Abstiegen gegenrechnen, konfirmieren nach Goldthorpe die „Constant Fluidity“-These, nach der die Offenheit der Schichtungsstrukturen nicht zugenommen habe. Die Vergrößerung der Oberschichtspositionen führt nach Goldthorpe kurzfristig zu einem zunehmenden Anteil der aufwärtsmobilen Individuen, doch mit der Expansion der Oberschicht nimmt auch die Wahrscheinlichkeit der Selbstrekrutierung der gewachsenen Oberschicht zu. Letztlich bleiben die Verhältnisse der verschiedenen schichtspezifischen Mobilitätschancen gleich, obwohl der Prozentsatz der Aufsteiger zunimmt. Goldthorpe bricht an dieser Stelle deutlich mit der Logik des Meritokratiemodells. Dessen Vertreter analysieren zuerst die Funktionen der mit den Schichtpositionen verbundenen Berufsrollen, leiten daraus die institutionellen Rekrutierungsregeln ab, aus denen wiederum die vermuteten Mobilitätsströme abgeleitet werden. Dahinter verbirgt sich, wie bereits in der Einleitung ausgeführt wurde, das Vertrauen auf die Rationalität des Statuszuweisungsprozesses, der immer dafür sorge, dass jede Position mit dem geeignetsten Kandidaten besetzt wird. Danach führt eine Änderung der Positionsstruktur zwangsläufig zu einer Anpassung der Statuszuweisungskriterien, die dann die Mobilitätspfade der Individuen umdirigieren. Goldthorpe zeigt, dass
14 Goldthorpe kritisiert an diesem Modell, dass es suggeriere, dass man die individuellen Fälle von Mobilität auf zwei verschiedene Mobilitätstypen verteilen könne, obwohl das Konzept der strukturellen und Austauschmobilität nur auf der Ebene der aggregierten Daten einen Sinn ergibt (Goldthorpe et al. 1980: 75). 15 „Disparity ratios“ geben an, wie sich beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass Söhne der Dienstklasse ihrer Schichtposition halten, sich zur Wahrscheinlichkeit verhalten, dass die Söhne der Arbeiterklasse in die Dienstklasse aufsteigen. 16 „Odds ratios“ errechnen das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit des Aufstiegs der Söhne aus der Arbeiterklasse in die Dienstklasse zur Wahrscheinlichkeit des Abstiegs der Söhne aus der Dienstklasse in die Arbeiterklasse.
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sich die Mobilitätsströme auch ändern können, weil sich die Positionsstruktur verändert hat. Dadurch können Prozesse der Aufstiegsmobilität erzeugt werden, die nicht auf die zunehmende Bedeutung meritokratischer Selektionskriterien schließen lassen. Goldthorpe interessiert sich aber kaum für die sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser strukturellen Umbrüche, er verwendet diesen soziologisch interessanten Befund lediglich als Argument gegen das Meritokratiemodell und die „Increased Merit Selection“-Hypothese. Man sieht, Goldthorpe bleibt gerade als Kritiker des Meritokratiemodells noch in der Logik dieses Modells gefangen. Dennoch überzeugt Goldthorpes methodologische Umstellung von den absoluten auf die relativen Raten. Deutliche Unterschiede in den absoluten Mobilitätsraten verweisen auf Gesellschaften, die über effektive Mechanismen der schichtspezifischen sozialen Schließung verfügen. Diese können tatsächlich als sozial homogene Gruppen beschrieben werden. Gesellschaften hingegen, deren schichtspezifische Chancenungleichheiten sich nur mit Hilfe von relativen Raten erfassen lassen, werden über weniger zuverlässige Mechanismen reproduziert, die wahrscheinlich nach ganz anderen Erklärungsmodellen verlangen. An dieser Stelle wird nun auch die argumentative Funktion des Umwegs über die Kritik an der Theorie sozialer Schließung sichtbar. In den Augen neomarxistischer Ungleichheitssoziologen wie Nicos Poulantzas stellt die Mobilitätsanalyse den klassischen Fall der „bürgerlichen“ Soziologie dar, die den wahren Herrschaftscharakter der modernen Gesellschaft verkenne (Poulantzas 1974: 37). An den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen würde sich gar nichts ändern, wenn die Position der Kapitalisten plötzlich von lauter Arbeiterkindern besetzt würden, da es immer noch Kapitalisten und Arbeiter, ein auf Ausbeutung beruhendes Herrschaftssystem und den daraus resultierenden Klassenkonflikt geben würde. Goldthorpe muss also zeigen, dass die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse keine ideologische Schieflage aufweist. Einerseits versucht er diese Kritik dadurch zu entkräften, indem er auf sozialistische Strömungen wie die „Fabian Society“ verweist, die sich ebenfalls normativ auf das Kriterium der Chancengleichheit gestützt hätten. Doch in der Theorie sozialer Schließung war zu dieser Zeit bereits eine Version der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse verfügbar, die wenigstens das konflikttheoretische Erbe von Marx konsequent weiterführt und deshalb auch ideologisch weit weniger verdächtig war. Goldthorpe musste also erst einmal mit diesem Gegner aufräumen, um hoffen zu können, mit seiner politisch sehr viel moderateren Meritokratiekritik Gehör zu finden.
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Goldthorpes Schichtungstheorie John Goldthorpe ist ein typischer Vertreter der neoweberianischen Klassentheorie. Er geht davon aus, dass die Mobilitätschancen der Individuen einerseits durch die Zugangsbarrieren der Erwerbs- und Besitzklassen bestimmt werden und andererseits aber auch durch die Einkommenschancen beeinflusst werden, die die Erwerbs- oder Besitzklasse der Eltern eröffnet. Umfang und Art des notwendigen Startkapitals definieren die Zugangsbarrieren zu den verschiedenen Besitzklassen und die verschiedenen Bildungszertifikate stellen die entscheidende Zugangsbarrieren zu den verschiedenen Erwerbsklassen dar. Webers Klassenkonzept weist dabei die Eigenart auf, die ökonomische Heterogenität der Besitz- und Erwerbsklassen hervorzuheben. Mancher abhängig Beschäftigte erzielt ein höheres Einkommen als viele Eigentümerunternehmer und Selbstständige. In Webers Klassenkonzept fällt die einkommensbezogene Heterogenität innerhalb der Besitz- und Erwerbsklassen fast höher aus als die Heterogenität zwischen ihnen (Weber 1972: 177ff.). Goldthorpe fasst deshalb in seinem siebenstufigen Klassenmodell immer wieder Eigentümer und Angestellte in einer Klasse zusammen wie in seiner Dienstklasse I, die unter anderem die Eigentümer großer Unternehmen, aber auch die wohlhabenderen Professionen, die Spitzen der Staatsverwaltung und die Manager großer Unternehmen umfasst17. Dasselbe gilt für die darunterliegende Dienstklasse II. Dabei muss eine Besonderheit dieses Klassenschemas hervorgehoben werden: es darf nicht im strengen Sinne als transitiv eindeutige Hierarchie verstanden werden. Zwar bildet das Klassenschema grob die „objektiven“ Wohlstandsdifferenzen der sieben Klassen ab, doch es bildet beispielsweise keine Prestigehierarchie ab. Außerdem besteht gerade unter den intermediären Klassen III, IV und V noch nicht einmal eine eindeutig auszumachende Rangfolge im Wohlstand. Empirisch ist Goldthorpe folgendermaßen vorgegangen: er hat die relativen Raten der paarweisen Zu- und Abströme aller sieben Klassen errechnet (Gold-
17 Goldthorpe entwirft folgendes Klassenschema: Klasse I, auch Dienstklasse 1 genannt, (die wohlhabenden Professionen, Eigentümer großer Unternehmen, Manager großer Unternehmen und die Spitzen der Verwaltung), Klasse II, auch Dienstklasse 2 genannt, (die weniger wohlhabenden Professionen, Manager und Eigentümer mittlerer Unternehmen, normale Verwaltungsbeamte), Klasse III (nichtmanuelle Routinetätigkeiten), Klasse IV: Eigentümer kleiner Unternehmen, Klasse V: Techniker niedriger Rangstufe, Klasse VI gelernte Arbeiter und Klasse VII ungelernte Arbeiter (Goldthorpe 1980: 40ff.).
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thorpe et al. 1980: 98ff.). Die Komplexität der Daten war aber so groß, dass diese Daten nicht mehr direkt auswertbar gewesen sind. Er hat deshalb den umgekehrten Weg beschritten und zuerst eine theoretische Rangfolge der Wahrscheinlichkeit aller möglichen Mobilitätspfade innerhalb der Mobilitätstafel gebildet und diese dann empirisch getestet. Diese Rangfolge wurde aufgrund von drei Faktoren gebildet: der Attraktivität des Mobilitätspfades, der Zugangsbarriere der Klassendestination und den durch die Herkunftsklasse zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die Rangfolge enthält wenig Überraschendes: die höchste Wahrscheinlichkeit wird der Selbstreproduktion der Dienstklasse I zugesprochen, weil diese Klassendestination die höchste Attraktivität aufweist und weil die Mitglieder derselben Herkunftsklasse am ehesten über die Ressourcen verfügen, um die hohen Zugangsbarrieren zu überwinden. Eine ebenfalls hohe Wahrscheinlichkeit wird den Zellen I-II, II-I und VII-VII eingeräumt, denn die Klassendestination Dienstklasse II wird für die Mitglieder der Klasse I von allen anderen sechs Klassen noch die höchste Attraktivität aufweisen und die Dienstklasse II verfügt nach der Dienstklasse I über die besten Bedingungen, um in die Dienstklasse I aufzusteigen. Die Klasse VII ist für alle Klassen die Unattraktivste und alle Individuen mit einer anderen Herkunftsklasse werden alles unternehmen, um diesen sozialen Abstieg zu vermeiden. Die Individuen der Klasse VII verfügen zudem über die schlechtesten Voraussetzungen für einen sozialen Aufstieg. Etwas überraschender fällt dagegen schon die Annahme aus, dass die Klasse IV der kleinen Eigentümer nach der Dienstklasse I die höchste Selbstrekrutierungsrate aufweist. Diese Klasse weist für die Mitglieder der Herkunftsklassen VII, VI, V und III doch eine ziemlich hohe Zugangsbarriere in der Form des nötigen Startkapitals auf und zeichnet sich für die Mitglieder der Herkunftsklasse II und I durch eine ziemlich geringe Attraktivität aus. Außerdem wirkt die Annahme überraschend, dass der Zelle I-VII eine höhere Wahrscheinlichkeit zugesprochen wird als der Zelle I-VI. Zwar dürfte auch für die Mitglieder der Herkunftsklasse I die Klasse VI attraktiver sein als die Klasse VII, aber die Klassendestination VI setzt bestimmte berufsqualifizierende Bildungszertifikate voraus, für die sich die Individuen der Herkunftsklasse I einfach zu schade sind. Dieses Klassenschema, das seitdem oft empirisch bestätigt worden ist, hat Goldthorpe seitdem immer wieder variiert. Häufig verwendet er auch die kollabierte Form, die die Klassen VI und VII zur Arbeiterklasse, die Klasse III, IV und V zu den intermediären Klassen und die Klasse I und II zur Dienstklasse zusammenfasst. Ich möchte hier nun noch eine weitere Variation dieses Klassenschemas (Goldthorpe 2000: 206ff.) vorstellen, die am meisten Aufschluss über Goldthorpes Modell des Statuszuweisungsprozesses gibt, das ich dann im Folgenden ausführlich darstellen werde. Die Besitzklassen stellen heute nur noch eine sehr
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kleine Minorität der Erwerbstätigen dar, denen deshalb im ursprünglichen Klassenschema eine deutlich überproportionale Bedeutung zugewiesen wird. Es liegt dann auf der Hand, ein Klassenschema zu entwickeln, dass nur noch und dafür sehr viel genauer zwischen den verschiedenen Gruppen der abhängig Erwerbstätigen diskriminiert. Goldthorpe setzt an der transaktionskostentheoretischen Kritik am klassischen Arbeitsmarktmodell an (Williamson 1975). Er macht vor allem zwei Faktoren dafür verantwortlich, dass es zum Aufbau formaler Organisationen kommt, die ihre Mitglieder mit langfristigen Verträgen ausstatten: Kontrollprobleme und Asset-Specifity. Stellen, die komplexe Fähigkeiten voraussetzen und die in langjährigen Schulausbildungen antrainiert worden sind, führen danach zu klassischen „Principal Agent“-Problemen, denn nur Mitglieder derselben Gruppe seien in der Lage, deren Handeln zu kontrollieren: Dasselbe gelte für Stellen, die höhere Positionen in der Rangstruktur der Organisation einnehmen, und deren Stellenprogramme sich aufgrund ihrer hohen Befugnisse nur noch vage programmieren lassen. Die Kontrollprobleme schlagen sich nach Goldthorpe für den Arbeitgeber vor allem in einem hohen Risiko des „Shirkings“18 nieder. Dieses Problem werde durch zwei verschiedene Mechanismen entschärft: eine im Laufe der Betriebszugehörigkeit deutlich ansteigende Lohnkurve, bei der das Mitglied zunächst unter seiner Produktivität und danach über seiner Produktivität bezahlt werde, wodurch die Kündigungsdrohung an Gewicht gewinne. Außerdem enthalte der Arbeitsvertrag die Aussicht auf Karriere, die dann als weiteres Kontrollinstrument dienen könne. In Stellen, die eine hohe Asset-Specifity aufweisen, können sich die Mitglieder im Laufe ihrer Betriebszugehörigkeit immer genauer auf die Anforderungen der Organisation einstellen. In sich ständig wiederholenden Verhandlungen über Spotkontrakte wären diese Mitglieder in einer immer besseren Verhandlungssituation, deshalb motiviert Asset-Specifity die Unternehmen zum Abschluss langfristiger Arbeitsverträge. Daraus ergibt sich dann folgendes Klassenschema: Die Mitglieder der Dienstklasse verfügen entweder über besondere Fähigkeiten wie die Professionen oder sie nehmen einen hohen Rang in einer Organisation ein, außerdem zeichnen sich all diese Stellen durch Asset-Specifity aus. Sie bekommen deshalb Verträge mit langer Laufzeit, steigenden Gehältern und Karriereaussichten. Im Gegensatz dazu haben die Mitglieder der Klasse VI und VII Stellen inne, die sich gut kontrollieren lassen, so dass das Unternehmen „Shirking“ beispielsweise
18 Darunter verstehen Ökonomen die willkürlichen Leistungsvorenthaltungen durch abhängig Beschäftigten, für die es rational ist, für den festen Lohn möglichst geringe Leistungen zu erbringen (Shapiro/Stiglitz 1984).
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durch Stücklohn verhindern kann. Da die Arbeiter letztlich fast beliebig austauschbar seien, stelle auch ein hoher Personal-Turnover kein Problem dar, so dass die Unternehmen keine langfristigen Verträge anbieten werden, um sich flexibel den Schwankungen auf den Märkten anpassen zu können. Dazwischen befinden sich die Sachbearbeiter, Sekretärinnen und Angestellten, die über langfristige Verträge verfügen, aber nicht in Karrierestrukturen eingebunden sind sowie die Vorarbeiter und das technische Personal, die über kurzfristigere Verträge verfügen, sich durch arbeitertypische Entlohnungsformen auszeichnen, aber immerhin über begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten verfügen. Schon diesem Klassenschema kann man die Grundzüge von Goldthorpes Modell des Statuszuweisungsprozesses entnehmen. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels ausgeführt wurde, verwendet Goldthorpe einen rein analytischen Klassenbegriff, der lediglich die Akteure zusammenfasst, die über dieselbe Ressourcenausstattung verfügen. Diese dürfen dann auch nicht als kulturell homogene Großgruppen verstanden werden – ein Konzept, dem Goldthorpe als überzeugter Rational Choice-Vertreter nicht wirklich über den Weg traut. Die Handlungsrelevanz dieser Schichtungsstruktur liegt darin, dass die Ressourcenausstattungen der Individuen sich in ihren Präferenzen, in der Zahl der Optionen und den jeweils damit verbundenen Risiken und Erfolgswahrscheinlichkeiten niederschlagen. Auch hier bleibt Goldthorpe ganz nahe bei Webers Klassenkonzept. Die Zugangsbarrieren zu den verschiedenen Erwerbsklassen werden durch die dort verlangten Bildungszertifikate erzeugt, die unterschiedlichen Startbedingungen im Erziehungssystem sind vor allem eine Folge der klassenspezifischen Einkommenssituation (der Höhe des Einkommens, der Vorhersehbarkeit des zukünftigen Einkommens und des Verlaufs der Einkommenskurve). Der klassenspezifische Familienhintergrund übt seinen Einfluss auf die wahrscheinlich erreichbare Klassendestination vorwiegend durch die Einkommenslage, aber vermittelt über die Selektion des Erziehungssystems aus. Ich werde im Folgenden eine knappe Skizze von Goldthorpes Modell des Statuszuweisungsprozesses liefern. Goldthorpes Modell stellt den Statuszuweisungsprozess als das Ergebnis der rationalen Wahl der Individuen dar, die einerseits durch die Verteilungsstrukturen der Klassenordnung und andererseits durch die Institutionen des Erziehungssystems, des Arbeitsmarktes und der Arbeitsorganisationen strukturiert werden. Goldthorpe muss dabei zum einen ein theoretisches Modell individueller Präferenzen entwickeln und zum anderen zeigen, dass es letztlich vor allem die Einkommensverteilungen sind, die der Arbeiterklasse den Zugang zu den hochwertigsten Bildungszertifikaten erschweren (Goldthorpe/Breen 2000: 182ff.). Die Theorie der Mobilitätspräferenzen ist lose an Kahnemans und Tverskys „Prospect Theory“ angelehnt (Kahneman/Tversky
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1979: 263-292)19. Das Modell ist von bestechender Einfachheit: die Individuen versuchen, mindestens die Klasse ihrer Eltern zu halten. Das heißt, sie orientieren sich eher am Risiko abzusteigen als an der Chance aufzusteigen20. Goldthorpe übernimmt des Weiteren von Raymond Boudon die Unterscheidung primärer und sekundärer Effekte. Die primären Effekte bestehen darin, dass die Sozialisation in Mittelschichts- und Oberschichtsfamilien die Kinder besser auf die Schule vorbereitet, so dass diese dort bessere Leistungen erbringen. Die sekundären Effekte entstehen durch die Selbstselektion der Individuen während der Bildungskarriere. Hier folgt Goldthorpe der immer wieder empirisch bestätigten These, dass zu Beginn der Bildungskarriere die primären und später die sekundären Effekte dominieren21. Dies sind bereits alle Annahmen, die Goldthorpe benötigt. Allerdings überrascht er seine Leser damit, dass er für diese Gelegenheit ein neues Klassenschema auspackt, das in vielen Hinsichten der Bauweise der zuvor verwendeten Klassenschemata widerspricht. Es besteht aus genau drei Klassen: der Dienstklasse, der Arbeiterklasse und der „Underclass“. Die intermediären Klassen fehlen plötzlich, denen man oft eine besondere Aufstiegsbesessenheit nachsagt, so dass sie nur schlecht in die „allgemeine“ Theorie der Mobilitätspräferenzen gepasst hätten. Außerdem wird neu eine „Underclass“22 hinzugefügt, von der noch nie die Rede war. Zudem handelt es sich anscheinend plötzlich um
19 Interessanterweise befinden wir uns hier bereits jenseits der „engen“ Theorie des RC, denn Kahneman und Tversky beschäftigen sich mit bestimmten Formen der irrationalen Präferenzbildung, die damit zusammenhängen, dass das menschliche Hirn nicht gemacht ist, um statistisch zu denken. So neigen wir dazu, bei Gewinnen den kleineren, aber sicheren Gewinn gegenüber dem größeren, aber weniger sicheren Gewinn zu bevorzugen, aber wir bevorzugen den größeren, aber unsicheren Verlust, gegenüber dem kleineren, aber sicheren Verlust. 20 Goldthorpe bezieht sich auf diesen Befund der Prospect Theory: „A salient characteristic of attitudes to changes in welfare is that losses loom larger than gains“. (Kahneman/Tverky 1979: 279). 21 Dies lässt dadurch erklären, dass die Effekte der Schulerziehung nach und nach den Einfluss der Familie überdecken, aber auch dadurch, dass jede Selbstselektion bestimmte Pfade in den Bildungskarrieren eröffnen und andere verschließen, wodurch sich der Möglichkeitsraum mehr und mehr einengt (Becker 2009: 114). 22 Dieser Begriff erstaunt am meisten, wenn man sich vor Augen führt, wie umstritten dieser Begriff unter Ungleichheitssoziologen ist, weil er stark an pejorative Bezeichnungen wie Lumpenproletariat oder gar Untermensch erinnert.
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eine transitiv eindeutige Ordnung, in der die Mobilität einen klaren Richtungssinn – Aufstieg oder Abstieg – erhält23. Das Modell sieht nun folgendermaßen aus: Goldthorpe konzentriert sich auf zwei Zeitpunkte in der Bildungskarriere: Zum Zeitpunkt 1 müssen die Individuen eine Entscheidung treffen, ob sie ihre Bildungskarriere fortsetzen wollen oder ob sie ihre Karrieren im Sekundarschulbereich ziemlich früh abbrechen und zu einer beruflichen Qualifikation übergehen wollen. Entscheiden sie sich für die Fortsetzung, aber fallen durch die daran anschließenden Prüfungen durch, dann nimmt der Mobilitätspfad in die „Underclass“ die höchste Wahrscheinlichkeit an. Passiert man den Zeitpunkt 2, dann kann man nach Goldthorpe gar nicht mehr in die „Underclass“ absteigen. Die primären Effekte wirken sich im Modell auf die „objektiven“ Erfolgswahrscheinlichkeiten24 der verschiedenen Pfade im Erziehungssystem aus. Zum Zeitpunkt 1 schlagen vor allem die unterschiedlichen Präferenzen der Arbeiterklasse und der Dienstklasse durch. Die Dienstklasse steht ganz oben und kann nicht mehr aufsteigen, sondern nur noch absteigen. Zum Zeitpunkt 1 entscheiden sich die Kinder der Dienstklasse zwischen der Option, die Bildungskarriere fortzusetzen und damit eventuell einen Abstieg zu vermeiden und der Option die Bildungskarriere abzubrechen, um einen Abstieg in die „Underclass“ zu vermeiden. Folgt man dem Modell, dann entscheiden sie sich hier für die Fortsetzung, zumal die primären Effekte der Familienherkunft eher günstige Erfolgswahrscheinlichkeiten erwarten lassen. Die Kinder aus der Arbeiterklasse müssen sich hier aber zwischen der Option abzubrechen und ziemlich sicher die Klasse der Eltern zu halten oder der Option weiterzumachen und eventuell in die „Underclass“ abzusteigen entscheiden, und die primären Effekte wirken sich zudem negativ auf die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Fortsetzung der Sekundarschulkarriere aus. Nur die Arbeiterkinder mit den allerbesten Zensuren werden sich hier nach dem Modell für die Fortsetzung der Bildungskarriere entscheiden. Zum Zeitpunkt 2 fällt dieses Motiv für einen Abbruch der Bildungskarriere auch auf der Seite der Kinder aus der Arbeiterklasse weg, da man nun schon sicher einen Abstieg in die „Underclass“ vermieden hat. Da die
23 Auch hier zahlt es sich aus, dass Goldthorpe für diese Gelegenheit die intermediären Klassen entsorgt hat, denn es waren diese drei Klassen, die die transitive Eindeutigkeit des Klassenschemas am deutlichsten in Frage gestellt haben. 24 Das Konzept der subjektiv wahrgenommenen Wahrscheinlichkeiten lässt er weg. Das eigentliche Motiv dieser nur vage begründeten Auslassung liegt auf der Hand: hier droht das Modell der adaptiven Präferenzen, das von makrodeterministischen Modellen bevorzugt verwendet wird.
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fortgesetzte Selektion im Erziehungssystem bis zu diesem Zeitpunkt die primären Effekte neutralisiert haben soll, kommen jetzt nur die je nach Haushaltseinkommen unterschiedlich leicht zu schulternden Kosten als Einflussfaktor in Frage. Die Dienstklasse erhält nicht nur ein höheres Einkommen, sie verfügt auch über langfristige Arbeitsverträge, die eine hohe Sicherheit für Bildungsinvestitionen mit sich bringen. Zudem steigt die Lohnkurve der Mitglieder der Dienstklasse und fängt damit die im Zeitverlauf immer größer werdenden Kosten einer Schulausbildung von der Sekundarschule bis zur Universität auf25. Die kurzfristigen Arbeitsverträge der Arbeiterklasse erhöhen das Risiko bei langfristigen Bildungsinvestitionen. Goldthorpe will an dieser Stelle erklären, weshalb die Kinder aus der Arbeiterklasse sich gegen ein Universitätsstudium entscheiden, obwohl im Zuge der Bildungsexpansion an den Universitäten genügend Studienplätze entstanden seien. Per Ausschlussverfahren kommt Goldthorpe zum Ergebnis, dass letztlich ökonomische Erwägungen für diese Tendenz zur freiwilligen Selbstexklusion von der Universität verantwortlich zu machen sind. Die Mobilitätsbarriere zwischen der Arbeiterklasse und der Dienstklasse erklärt sich dann vorwiegend daraus, dass die privilegierten Arbeitsverträge der Dienstklasse Humankapitalinvestitionen erleichtern und das geringe und unsichere Einkommen der Arbeiterklasseeltern, solche Investitionen sehr viel riskanter gestalten. Unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse gehen die Kinder aus den Arbeiterfamilien den sicheren Weg und verzichten aus rationalen Motiven auf die ihnen prinzipiell offenstehenden Aufstiegskanäle. Verfolgt man Goldthorpes Modell weiter, so zeigt sich nun eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Meritokratiemodell. Die Arbeitsorganisationen statten die Individuen, die über einen Universitätsabschluss verfügen, mit den privilegierten Arbeitsverträgen der Dienstklasse aus. Zumindest im Falle der Professionen ist dieses Privileg, nach Goldthorpe darauf zurückzuführen, dass sie aufgrund ihrer Ausbildung über komplexe Fähigkeiten verfügen, die die Arbeitsorganisationen benötigen26. Die daran anschließenden Karrieremöglichkeiten, dienen der Moti-
25 Goldthorpe führt weitere Vorteile der Dienstklasse an. Einerseits verfügen sie über die Ressourcen, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken und damit die Wahrscheinlichkeit des Schulerfolgs zu erhöhen. Andererseits seien in diesen Familien die Ressourcen vorhanden, zweite oder gar dritte Versuche, einen Abschluss zu machen, zu finanzieren (Goldthorpe 2000: 249). 26 Diese Begründung funktioniert offensichtlich nicht für die Manager und Verwaltungsspitzen, die ihre privilegierte Behandlung der Stelle verdanken, die sie innehaben und nicht ihren komplexen Fähigkeiten. Aus dem Modell ist nicht zu erkennen, weshalb
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vation der Mitglieder, die das Shirking am leichtesten verbergen können. Eine Beförderung muss dann nicht zwangsläufig als Symbol für besondere Leistungen und Anstrengungen verstanden werden, es genügt dann vielleicht die normale Pflichterfüllung. Auch hier verweist im Text aber nichts darauf, dass Goldthorpe mit einem starken direkten Einfluss der Familien auf die Karrieren in den Arbeitsorganisationen rechnet. Dieses Modell wirft doch eine ganze Reihe von Fragen auf: Goldthorpe scheint die „Underclass“ nur hinzuerfunden zu haben, um der Arbeiterklasse eine Abstiegsmöglichkeit zu beschaffen. Er scheint die intermediären Klassen auszulassen, da er ansonsten wenig Plausibilität für seine „allgemeine“ Theorie der Mobilitätspräferenzen finden würde27. Insgesamt wirkt das nur für diese Gelegenheit zusammengeschusterte Klassenschema mehr als suspekt. Es wird kaum theoretisch begründet und trägt dennoch einen Großteil der Erklärungslast. Die restliche Begründungslast trägt das Ausschlussverfahren. Goldthorpe geht beispielsweise davon aus, dass die Selektion im Erziehungssystem selbst keinen Schichtbias aufweist und keinen Anteil an der Reproduktion intergenerational persistenter Ungleichheit hat. Zumindest in seiner Auseinandersetzung mit Bourdieu, auf die ich weiter unten eingehen werde, hat er diese Theorieentscheidung überzeugend begründet. Aber schon die immer wieder von Erziehungssoziologen festgestellte These des Technologiedefizits im Erziehungssystem lassen einen skeptisch werden, ob sich diese Erklärungsvariante so einfach ausschließen lässt. So könnte die freiwillige Selbstexklusion von der Universität eben auch eine Reaktion auf die Selektion der Schule selbst sein. Wie hier zu erken-
die Arbeitsorganisationen im Zugang zu diesen Stellen ebenfalls einen Studienabschluss voraussetzen. Im Text fehlt aber jeder Hinweis auf eine kredentialistische Skepsis gegenüber der produktivitätssteigernden Wirkung der organisierten Erziehung an Schulen und Universitäten. 27 Allerdings geht Goldthorpe ja auch davon aus, dass es viel wahrscheinlicher ist, von den intermediären Klassen aus die Dienstklasse zu erreichen als aus der Arbeiterklasse. Daher ist grundsätzlich nachvollziehbar, dass diese hier ausgelassen werden. Aber die intermediären Klassen sind nicht die einzigen Milieus, denen man oft eine hohe Aufstiegsmotivation zuspricht. Man denke nur an Migrantengruppen, die sich sehr viel häufiger auf die Alles-oder-Nichts-Karrieren im Leistungssport oder in der Unterhaltungsbranche einlassen als andere Bevölkerungsgruppen. Aber hier muss man Goldthorpe wiederum einräumen, dass diese Gruppe eher weniger auf Aufstieg durch Bildung setzen. Dennoch zeigen diese Fälle, dass man Goldthorpes „allgemeine“ Theorie der Mobilitätspräferenzen mit Vorsicht genießen sollte.
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nen ist, vertraut Goldthorpe ebenso stark auf die Rationalität des Erziehungssystems wie die Vertreter der Humankapitaltheorie. Er kommt dabei interessanter Weise fast zum selben Modell des Statuszuweisungsprozesses, wie man es bei Daniele Checchi findet. Goldthorpe vermeidet dabei geschickt viele der Schwachstellen, die auch die revidierte Humankapitaltheorie aus soziologischer Perspektive wenig attraktiv erscheinen lassen, auch wenn die Differenzen oft kleiner sind als man zunächst anzunehmen bereit war. So spiegeln auch bei Goldthorpe die Arbeitsverträge der Arbeiter die Produktivität der Individuen wieder (Goldthorpe 2000: 215) und die Gehälter der Dienstklasse werden ebenfalls in Bezug zur unterstellten Produktivität bestimmt: sie werden zuerst „unterbezahlt“ und dann „überbezahlt“. Doch weshalb lehnt sich Goldthorpe immer noch so eng an das Meritokratiemodell an? Goldthorpe hat sich immer wieder als Meritokrat im eigentlichen Sinne bezeichnet, denn er ist überzeugt davon, dass die modernen Gesellschaften dem Ideal eines meritokratischen Statuszuweisungsprozess ein großes Stück näher kommen könnten. Wenn die bestehenden Mobilitätsbarrieren vor allem ein Effekt der Einkommensungleichheit auf die Selbstselektion für längere Bildungskarrieren sind, dann müsste beispielsweise eine entschlossene progressive Besteuerung zur Angleichung der klassenspezifischen „odds ratios“ führen. Goldthorpe und Erikson haben diese These im Rahmen einer international vergleichenden Studie (Goldthorpe/Erikson 1993) zu belegen versucht. Sie haben in „The Constant Flux“ neun europäische Länder (England, Schottland, Irland, Nordirland, Frankreich, Deutschland, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, die Niederlande und Schweden) und drei nichteuropäische Länder (Amerika, Australien und Japan) verglichen. Sie haben zuerst die FJH-Hypothese überprüft, die für alle Länder mit einer Marktökonomie und einem auf der Kernfamilie basierenden Verwandtschaftssystem in etwa dieselben Mobilitätsstrukturen behauptet. Nur zwei Länder seien dabei deutlicher vom „core model of fluidity“ abgewichen: das kommunistische Ungarn und Schweden. Ungarn ist danach eines der wenigen kommunistischen Länder gewesen, dass gezielt durch Einkommensangleichung und positive Diskriminierung für die Kinder von Arbeitern und Bauern bei der Studienzulassung versucht hat, deren Anteil in der „Intelligentsia“ zu vergrößern. Schweden ist danach das einzige marktwirtschaftlich verfasste Land, das durch entschlossene progressive Besteuerung und einen aktiven Wohlfahrtsstaat eine gegenüber den anderen Ländern deutlich erhöhte Fluidität erreicht habe. Für Goldthorpe sind diese Befunde ein deutlicher Hinweis, dass das Ideal der Chancengleichheit gerade durch eine Angleichung der Einkommen zumindest näherungsweise realisierbar wäre.
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„In short, it could be taken as one main implication of the theory that, in so far as inequality of opportunity, as indicated by odds ratios for relative class mobility chances, does show temporal change or großnational variation, this will be associated with corresponding change or variation in classlinked inequalities of condition.“ (Goldthorpe 2000: 254)
Diese Implikation der Theorie ist aber an die Bedingung geknüpft, dass der Statuszuweisungsprozess im Großen und Ganzen nur im Verhältnis der Familie zum Erziehungssystem vom Meritokratiemodell abweicht und hier nur über die sekundären Effekte vermittelt ist. Ansonsten stellt sich das übliche Problem aller an bestimmten Mechanismen des Statuszuweisungsprozesses ansetzenden politischen Interventionen28. Sie verpuffen fast ergebnislos. Ob Goldthorpe zu Recht den Faktor einer möglichen Schichtselektivität des Erziehungssystems ausgeschlossen hat, werde ich in den Kapiteln zu Bourdieu und Luhmann untersuchen. Ich möchte mich hier jedoch mit der Frage beschäftigen, welche Abweichungen vom Meritokratiemodell sich bei Goldthorpes Beschreibungen der Berufskarrieren der Individuen finden. Goldthorpe behandelt hier interessanterweise nicht, den Fall, dass die Kinder von Arbeitern in der späteren Berufskarriere Nachteile erleiden29, sondern nur den Fall, dass es einigen Kindern der Dienstklasse gelingt, trotz gescheiterter Bildungskarriere selbst wieder Zugang zur Dienstklasse zu finden. Auch hier zeigt sich wieder, wie Goldthorpe auf einem schmalen Pfad zwischen Konflikttheorie, Funktionalismus und Meritokratie wandelt. „There seems to be no reason to believe that the functional exigencies of modern societies have eliminated such practices [Vitamin B; Anmerkung des Autors], or indeed even plain nepotism. However, probably of more general importance is the fact, that various ascriptive attributes of these children – that is, attributes deriving directly of their ubbringing in particular family and class contexts– could themselves represent `merit`, if not perhaps as understood in the functionalist theory, then at all events in the no less cogent sense of having economic value in the eyes of the employer.“ (Ebd: 249)
28 Die an Coleman anschließende Schuleffektforschung lässt vermuten, dass die Ressourcenausattung der Schule oder die Qualifikation der Lehrer einen sehr viel kleineren Effekt auf die Schulleistungen hat als die Schichtherkunft oder die demographische Zusammensetzung der Schule (Coleman 1990: 78). Die aktuelle Schuleffektforschung kämpft immer noch mit diesem Problem (Ditton 2009). 29 Nach Goldthorpe dürften die Arbeiterkinder, die einen Universitätsabschluss erhalten haben in den Berufskarrieren über dieselben Mobilitätschancen verfügen wie die Dienstklassekinder.
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Goldthorpe denkt hier vor allem an die Vertrautheit mit dem Lebensstil der Oberschicht, die gerade im Tourismus oder in der Gastronomie ein positiv arbeitsmarktrelevantes Merkmal der Person sein kann. Bildungszertifikate seien für die Mobilität in die Dienstklasse von größerer Bedeutung als für die Erhaltung des Dienstklassestatus. Goldthorpes Auswahl ist hier in zweierlei Hinsicht interessant: Goldthorpe wählt die Strategien aus, mit denen die Oberschicht den Abstieg derjenigen Kinder verhindert, die nicht den Test der Schule bestanden haben und nicht die Strategien, mit denen beispielsweise Personalchefs mit einer Dienstklasseherkunft Kandidaten mit einer Arbeiterherkunft, aber den nötigen Bildungszertifikaten abzuwehren versuchen können. Zum anderen erklärt er den Erfolg dieser Strategie eben nicht, wie der Satzbeginn suggeriert, mit einer Oberschichtsverschwörung, sondern gut funktionalistisch mit dem Prinzip funktionaler Askription (Mayhew 1968). Goldthorpes Abweichung vom Meritokratiemodell lässt nämlich den Glauben an die Rationalität der Unternehmen und der Märkte intakt. Er benötigt diese Modelle, um die Aggregation der individuellen Handlungen erklären zu können. Dass Goldthorpe eine Präferenz für die wirtschaftswissenschaftlichen Konzepte der „Rational Discrimination“ hat und nicht für die klassisch funktionalistische Variante optiert, ist eben dem methodologischen Individualismus seiner Theorie geschuldet. Peter Saunders „Unequal But Fair“ und die Folgen Peter Saunders „Unequal But Fair. A Study of Class Barriers in Britain“ (Saunders 1996) ist einer dieser seltenen Fälle, in dem sich ein Autor aus dem Feld der empirischen Mobilitätsanalyse offen für das Meritokratiemodell ausgesprochen hat. Großbritannien sei zwar keine perfekte Meritokratie, aber das Land sei auf einem guten Weg dahin. Der Statuszuweisungsprozess folge im Großen und Ganzen einerseits dem erblichen Talent (IQ) und andererseits der Bereitschaft zu harter Arbeit. Die britische Soziologie hingegen sei immer noch viel zu stark vom Konzept sozialer Klassen besessen und wolle diese empirisch feststellbare Tatsache nicht wahrhaben. Dreißig Jahre lang habe man David Glass’ Thesen der sozialen Schließung der Oberschicht kritiklos wiederholt, bis Goldthorpe diese widerlegt habe. Doch auch Goldthorpe sei nichts Besseres eingefallen, als die Glass’sche These der Dominanz der Oberschichtsselbstrekrutierung in die „Constant Fluidity“-These umzuformulieren und sich damit der Einsicht zu versperren, wie weit Großbritannien auf dem Weg zur Meritokratie schon fortgeschritten sei.
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Saunders doppelte Provokation, ausgerechnet Großbritannien zur Meritokratie zu erklären, und dann auch noch die Erblichkeit von Intelligenz zu betonen, hat zunächst die zu erwartende Resonanz erfahren. Die Reaktion von Goldthorpe und anderen Ungleichheitssoziologen hat nicht lange auf sich warten lassen und fiel in der von Saunders provozierten Form aus (Goldthorpe/Breen 1999). Überraschend ist aber vielmehr der Langzeiteffekt, den dieses Buch auf Goldthorpe ausgeübt zu haben scheint. Denn von 1999 bis 2005 erscheinen drei Artikel, die sich mit Saunders Thesen explizit auseinandersetzen (Goldthorpe/Breen 1999, Goldthorpe/Breen 2001, Goldthorpe/Jackson/Mills 2005). Dominieren im Artikel von 1999 noch methodologische Überlegungen mit dem Ziel, die Richtigkeit des eigenen Modells des Statuszuweisungsprozesses zu belegen, so beginnt Goldthorpe im dem mit Richard Breen publizierten Artikel „Class, Mobility and Merit. The Experience of Two British Birth Cohorts“ von 2001 ein neues Modell des Statuszuweisungsprozesses zu entwickeln, das viel deutlicher vom Meritokratiemodell abweicht als ihr Vorgängermodell. Die Auseinandersetzung mit Saunders hat in einigen Hinsichten Goldthorpes Blick für die Schwäche des Meritokratiemodells geschärft. Saunders wollte zeigen, dass die Offenheit der britischen Schichtungsstrukturen deutlich zugenommen habe und führte dafür eine Sekundäranalyse verschiedener Datensätze durch, die ein sehr viel positiveres Licht Großbritanniens zeichneten. Dann ersetzte er Goldthorpes bevorzugtes Konzept der „odds ratios“ durch das Konzept der „disparity ratios“, da man schon dann von einer meritokratischen Gesellschaft sprechen könne, wenn Talent und Leistung sozialen Aufstieg ermöglichen, auch wenn die Oberschicht noch in Lage sei, den Abstieg ihres Nachwuchses abzubremsen. Er versuchte anschließend zu zeigen, dass die Unterschiede in den schichtspezifischen „disparity ratios“ das Ergebnis der erblichen Intelligenz und der Bereitschaft zu harter Arbeit sein sollen, was er unter anderem mit einem mehrdimensionalen sozialpsychologischen Konzept für Leistungsbereitschaft getestet hat. Goldthorpe und Breen antworten im ersten Artikel nun direkt auf diese Punkte (Goldthorpe/Breen 1999). Sie nehmen sich Saunders Datensätze vor und errechnen wieder die ursprünglichen hohen Unterschiede in den „disparity ratios“. Sie begründen, weshalb nur die „odds ratios“ angemessen sind und versuchen zu zeigen, dass einige seiner Items für Leistungsbereitschaft schichtabhängig sein könnten. Außerdem zeigen sie, dass der Einfluss der Klassenherkunft auf die Klassendestination bestehen bleibt, wenn man die Variablen IQ und Leistungsbereitschaft kontrolliert. Der Aufsatz wirkt überzogen technisch und seltsam aufgebracht. Man merkt John Goldthorpe und Robert Breen die Irritation an, dass tatsächlich jemand auf die Idee kommen konnte, England als Meritokratie zu bezeichnen.
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Zwei Jahre später publizieren Breen und Goldthorpe einen weiteren Artikel, der sich ebenfalls auf Saunders bezieht, aber nun eine ganz andere Tonart anschlägt (Goldthorpe/Breen 2001). Sie testen nicht mehr nur die Thesen von Saunders, sondern sie testen auch den Teil des Meritokratiemodells, der ihrem eigenen Modell des Statuszuweisungsprozesses zugrunde lag: dass das Erziehungssystem die zentrale Statuszuweisungsinstanz der modernen Gesellschaft darstellt. An dieser Stelle sind zwei Annahmen für das Meritokratiemodell wichtig: 1. die Annahme, dass das Erziehungssystem so gut auf die Anforderungen der rekrutierenden Arbeitsorganisationen eingestellt ist, dass es für diese rational ist, ihre Rekrutierungsentscheidungen von den Bildungszertifikaten der Individuen abhängig zu machen; 2. die Annahme, dass eine Institution wie der Markt da ist, der die Arbeitsorganisationen bestraft, wenn sie andere Eigenschaften der Individuen berücksichtigen. Aus diesen beiden Annahmen lässt sich dann die Schlussfolgerung ziehen, dass der Modernisierungsprozess dazu führen muss, dass die Bildungszertifikate einen immer größeren Anteil der Mobilitätsprozesse erklären können sollten. Breen und Goldthorpe testen diese Schlussfolgerung anhand der Daten zweier Geburtskohorten, 1958 und 1970 und kommen zum überraschenden Befund, dass die Bildungszertifikate in der Geburtskohorte von 1970 gegenüber der Geburtskohorte von 1958 erheblich an Prognosekraft für die Klassendestination eingebüßt haben30, obwohl sie immer noch eine deutlich größere Erklärungskraft aufweisen als die Kombination von IQ und Anstrengung, die Saunders Modell zugrunde liegt. Dabei sind die relativen Mobilitätsraten der sieben Klassen konstant geblieben. Dieser Befund spricht deutlich gegen die „increased merit selection“-Hypothese, aber er stellt eben auch das GoldthorpeModell des Statuszuweisungsprozesses in Frage. Der Text wartet aber mit einer weiteren Überraschungen auf: In diesem Text finden sich zum ersten Mal klar kredentialistische Argumente wieder. Auf einmal erklären Breen und Goldthorpe die hohe Korrelation von Bildungsabschlüssen und Klassendestination durch den
30 In der Geburtskohorte von 1958 ist der Zugang der Männer zu den Klassen I, II und III, sowie das Risiko, in Klasse VII und nicht in Klasse VI zu landen vorwiegend durch die Bildungszertifikate bestimmt. In der Geburtskohorte von 1970 hat sich dieser Zusammenhänge deutlich verringert. Für die Frauen sieht es etwas anders aus: In der Geburtskohorte von 1958 hängt die Frage, ob man in der Klasse I oder eher in der Klasse II oder III landet noch deutlich von der Intelligenz ab. In der Geburtskohorte von 1970 schlägt sich die Intelligenz nur noch im Zugang zu den Bildungszertifikaten nieder, aber auch hier hat die Bedeutung der Bildungszertifikate deutlich nachgelassen (Goldthorpe/Breen 2001: 94).
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Einfluss der Gewerkschaften. Die Liberalisierung der Märkte führe nicht, wie die Humankapitaltheorie und bis dahin auch Goldthorpe angenommen hat, zu einer Stärkung des Einflusses der Bildungszertifikate, sondern zu einer Abschwächung. Und sie gestehen den Unternehmern plötzlich eine erstaunlich große Freiheit in der Definition von „Leistung“ zu. „They are at liberty to define merit in regard to their employees, actual or potential, in whatever way or ways they please – albeit of course, with responsibilities for the consequences.“ (Ebd: 83)
Wieder scheint Goldthorpe für einen Moment zur Konflikttheorie übergelaufen zu sein: Rekrutierungsentscheidungen könnten plötzlich durch schichtspezifische Vorurteile oder verdeckte Diskriminierung bestimmt sein und der Markt seine disziplinierende Wirkung auf die Entscheidungsprozesse in den Arbeitsorganisationen verloren haben. Wäre da nicht aber der Nachsatz, dass die Unternehmen dann auch mit den Konsequenzen leben müssten. Tatsächlich gehen Breen und Goldthorpe immer noch nicht davon aus, das die Unternehmer (oder ihre Personalchefs) in ihren Rekrutierungsentscheidungen einfach schichtspezifische Vorurteile ausleben können, vielmehr bauen sie die These aus, dass schichtspezifische Persönlichkeitsmerkmale wie Vertrautheit mit dem Lebensstil der Oberschicht, aber auch die schichtspezifische Sozialisation für Selbstdisziplin und Zuverlässigkeit eine rationale Rekrutierungsgrundlage bilden könnten, weil diese Persönlichkeitsmerkmale von den Organisationen als leistungsrelevant betrachtet würden. Breen und Goldthorpe kommen zu einem überraschenden Ergebnis: „As a result of such considerations, it is moreover entirely possible that the distinction between merit and ascription breaks down. Ascribed attributes, including ones that are linked to class origins, may be regarded by employers as having economic value and as therefore constituting merit from their view which, in a free market economy, is the only point of view that counts.“ (Ebd.: 84)
Goldthorpe, Jackson and Miles (Goldthorpe et al. 2004) bauen dieses Argument sogar noch aus. Sie haben für diesen Artikel Stellenanzeigen in Zeitungen analysiert, um zu untersuchen, ob hier Bildungszertifikate im Vordergrund stehen oder Persönlichkeitsmerkmale, die schichtabhängig variieren können. Aufgrund dieser Analyse kommen sie zum Ergebnis, dass gerade für die Managementpositionen die Bedeutung von Bildungszertifikaten deutlich abgenommen habe, während der Zusammenhang von Bildungszertifikaten und Klassendestination bei den Professionen konstant geblieben sei. Goldthorpe, Jackson und Miles liefern
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in diesem Artikel auch eine neue Erklärung für die abnehmende Bedeutung von Bildungszertifikaten. Sie ersetzten das konflikttheoretische Kredentialismusmodell durch die ökonomische Signalling-Theorie. Die Bildungsexpansion habe den Signalwert der Bildungszertifikate verringert und deshalb orientierten sich die Arbeitsorganisationen nun vermehrt an anderen Eigenschaften der Individuen. Goldthorpe hat sich damit zwar nicht auf die Konflikttheorie zubewegt, aber doch zumindest vom Meritokratiemodell weiter entfernt. Ich hatte zu Beginn dieses Kapitels darauf hingewiesen, dass die herkömmliche Mobilitätsanalyse nur partiell mit dem Meritokratiemodell brechen kann, da hier Chancengleichheit als ein normativer Maßstab verwendet wird. Goldthorpe, der bis 2000 noch unverzagt davon ausgegangen ist, dass eine entschlossene progressive Besteuerung einen deutlichen Schritt in Richtung einer Gesellschaft ermöglichen werde, die allen Individuen Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess bieten könne, konnte diese politische Intervention nur deshalb glaubwürdig empfehlen, da in seinem Modell die Bildungszertifikate die Rekrutierungsentscheidungen der Arbeitsorganisationen bestimmt haben. In seinem neuen Modell fällt diese Annahme weg. Progressive Besteuerung würde nun die Zahl der Hochschulabsolventen vergrößern und damit deren Signalwert verkleinern, also dazu führen, dass die schichtabhängigen, aber leistungsrelevanten Persönlichkeitsmerkmale noch mehr Einfluss auf den Statuszuweisungsprozess erhalten. Man kann aber nicht davon ausgehen, dass eine Reduzierung der Einkommensabstände der sieben Klassen auch die schichtspezifischen Sozialisationsprozesse in den Familien ändern würde. Hier taucht also wieder die Frage auf, die sich Jencks und Swift gestellt haben: wie viel Mobilität würde sich in der perfekten Meritokratie finden. Wenn die Oberschichts- und Mittelschichtsfamilien ihren Kindern bis heute vorteilhaftere Sozialisationsbedingen ermöglichen als die Familien der Arbeiterklasse, dann bleiben Mobilitätsbarrieren auch in der perfekten Meritokratie bestehen. Man fragt sich deshalb, welches Verhältnis Goldthorpe heute zum Meritokratiemodell als normativen Maßstab hat und welches Erkenntnismotiv er heute für eine ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse vorschlagen würde. Es kann jedenfalls nicht mehr die Kritik einer liberalen Rechtfertigung sozialer Ungleichheit sein, denn Goldthorpe selbst beschreibt Großbritannien als Land, dessen Schulen und Arbeitsorganisationen sich vor allem an den Leistungsunterschieden der Individuen orientieren. Natürlich bleiben die nichtleistungsbezogenen ökonomischen Starthindernisse im Zugang zu den Universitäten bestehen, aber deren Abbau verspricht nun nicht mehr automatisch die Zunahme intergenerationaler Chancengleichheit. Goldthorpe hat aber immer darauf verzichtet, die ökonomischen Ungleichheiten, die auf den Märkten entstehen, durch Kon-
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zepte wie Ausbeutung zu moralisieren. Er hat nie die Tatsache der auf den Märkten erzeugten Einkommens- und Vermögensungleichheiten für problematisch gehalten, sondern die liberale Rechtfertigung dieser Einkommensungleichheiten durch das Prinzip der Chancengleichheiten. Solange Goldthorpe davon ausgehen konnte, dass der Staat prinzipiell über die Möglichkeit verfügt, durch Verminderung der Einkommensungleichheiten Chancengleichheiten zu gewährleisten, konnte dem Staat auch die Verantwortung für diesen Missstand zugerechnet werden. Wenn jedoch die progressive Besteuerung kein zuverlässiges Mittel mehr ist, um für mehr Chancengleichheit zu sorgen, dann kann man dem Staat auch keine Doppelmoral mehr vorwerfen.
M ICHAEL H ARTMANN Michael Hartmann interessiert sich anders als Goldthorpe weniger für den Einfluss der Herkunftsklasse auf die Klassendestination als für den Einfluss der Herkunftsklasse auf die Wahrscheinlichkeit, die Spitzenpositionen in den Funktionssystemen Wirtschaft, Politik, Recht und Wissenschaft zu erreichen (Hartmann 1996, Hartmann 2002, Hartmann 2007). Hartmann geht davon aus, dass diese vier Funktionssysteme deutliche Unterschiede im Grad ihrer Schichtselektivität bei der Vergabe von Spitzenpositionen aufweisen. Die Wirtschaftselite weise dabei eine sehr viel höhere Schichtselektivität auf als die Politik oder die Wissenschaft und dieser Befund werde in den Daten noch deutlicher erkennbar, wenn man den Kreis der Spitzenpositionen möglichst eng fasse und innerhalb der Oberschicht noch zwischen gehobenen Bürgertum und Großbürgertum unterscheide. Diese Differenzen lassen sich dann nicht durch schichtabhängige Barrieren im Zugang zur Hochschulbildung erklären, da die Spitzenpositionen in diesen Funktionssystemen alle mindestens einen Hochschulabschluss voraussetzen. Michael Hartmann rechnet diesen Befund auf den direkten Einfluss der Familie auf die Berufskarriere zu. Ich hatte bisher die Zurechnung eines Autors zum Label „klassische Mobilitätsanalyse damit begründet, dass diese Autoren nur partiell mit dem Meritokratiemodell brechen können, weil sie selbst die Realisierung von Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess für realisierbar halten und sogar konkrete politische Maßnahmen vorschlagen, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Ich habe des Weiteren die Vermutung geäußert, dass sie deshalb dazu gezwungen sein werden in ihrer Beschreibung des Statuszuweisungsprozesses nur an einer einzigen Stelle vom Meritokratiemodell abzuweichen. Gerade diese Vermutung kann im Fall von Michael Hartmann nicht aufrechterhalten werden, da er beim Verhältnis von
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Familie und Erziehungssystem, aber auch beim Verhältnis von Familie und Arbeitsorganisationen deutliche Abweichungen vom Meritokratieideal ausmacht. Dennoch scheint es mir sinnvoll zu sein, ihn hier zu platzieren. Denn zum einen glaubt Michael Hartmann an die Möglichkeit meritokratischer Leistungseliten und zum anderen finden sich bei ihm auch Vorschläge, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Viel wichtiger ist aber, dass sein ganzes Forschungsdesign, wie ich im Folgenden zeigen möchte, immer noch ein erstaunlich großes Vertrauen ins Meritokratiemodell belegt. In „Der Mythos von den Leistungseliten“ verfolgt Michael Hartmann (2002) zwei sich ergänzende Forschungsstrategien: Erstens hat er eine Verbleibstudie der vier Promotionskohorten von 1955, 1965, 1975 und 198531 (Ingenieurswissenschaften, Jura, Wirtschaftswissenschaften) durchgeführt und zweitens hat er Interviews mit 24 hochrangigen Mitgliedern deutscher Großunternehmen (Vorstandsmitgliedern oder Personalchefs) und 27 Vertretern aus den zehn umsatzstärksten Personalberatungsfirmen über die Kriterien bei der Rekrutierung von Vorstandsmitgliedern geführt. Der erste Teil soll zeigen, wie weit man in den Karrieren innerhalb der vier Funktionssysteme kommt, wenn man über den höchsten Bildungsabschluss verfügt, den das deutsche Bildungssystem zu vergeben hat, und der zweite Teil soll rekonstruieren, welche Faktoren bei den Personalentscheidungen in deutschen Großunternehmen wirklich auschlaggebend sind. Seltsamerweise fehlt der zweite Teil für die Eliten aus dem Recht, der Politik und der Wissenschaft. Von den circa sechstausend Promovierten haben es rund sechshundert in die Chefetagen deutscher Großunternehmen geschafft. Hartmann zeigt nun, dass es aber nur jeder elfte aus der Arbeiterklasse oder den Mittelschichten geschafft habe, wohingegen es jeder achte aus dem gehobenen Bürgertum und jeder vierte aus dem Großbürgertum geschafft habe. Für Hartmann zeigt dies, dass der höchste Bildungsabschluss des deutschen Erziehungssystems einen viel kleineren Einfluss auf den Zugang zur eigentlichen Wirtschaftselite habe als die Herkunftsfamilie, besonders, wenn es sich um eine großbürgerliche handelt. Hartmann liest dies als ersten Hinweis darauf, dass der Zugang zur Wirtschaftselite sich letztlich weniger individuellen Leistungen wie dem Doktortitel verdanke, sondern dass letztlich die askriptive Zugehörigkeit zur
31 Da den Dissertationen Lebensläufe beigefügt waren, die Informationen über den Schichtstatus des Vaters enthalten, liefert deren Analyse nicht nur die wichtigsten Hinweise auf die Bildungskarrieren der Individuen, sondern informiert auch über ihre schichtspezifische Herkunft.
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Oberschicht entscheidend sei.32 Die Ergebnisse der qualitativen Analyse der Interviews belegen in Hartmanns Augen diesen Eindruck. So räumen die Personalchefs ein, dass die letzte Auswahl in der Regel durch das Bauchgefühl entschieden werde. Hartmann sieht schon darin einen Hinweis, dass hier letztlich die soziale Nähe entscheide. Weiter bestätigt findet er dies durch zwei Kriterien, die immer wieder genannt worden seien: die Vertrautheit mit dem milieutypischen Dresscode und die Allgemeinbildung der Kandidaten. Diese zwei Kriterien haben zunächst nichts mit der eigentlichen Aufgabe zu tun und beide Merkmale sind überdurchschnittlich oft an Individuen aus der Oberschicht zu beobachten. Auch die Charakterisierung der idealen Persönlichkeit macht Hartmann misstrauisch: optimistisch und durchsetzungsstark, souverän und großzügig. Diese Beschreibung scheint ihm vor allem für Personen mit einer Oberschichtsherkunft zutreffend zu sein, die aufgrund ihrer privilegierten Herkunft mit Zuversicht ins Leben blicken, die sich anders als der typische Aufsteiger nicht ständig beweisen müssen und nicht knausrig sind, weil sie nie sparen mussten. In der vorsichtigen Lesart, deutet Hartmann diese Indizien folgendermaßen: Bei gleicher Leistung wirke die Übereinstimmung der Schichtherkunft als Bonus, und da die Kandidaten bis zu diesem Augenblick in ihrer Karriere alle dieselben Selektionsmechanismen überstanden hätten (Hartmann 2002: 121), bleibe eben oft nur noch die Schichtherkunft als letztes Unterscheidungsmerkmal übrig. Michael Hartmann bringt aber auch immer wieder eine sehr viel stärkere Lesart ins Spiel, nach der diese Befunde Beleg für die soziale Schließung der mächtigsten Elite der modernen Gesellschaft seien, die aufgrund ihrer hohen sozialen Homogenität eben auch sehr viel leichter ihre privaten Interessen politisch durchsetzen könne (Hartmann 2007). Doch belegen Michael Hartmanns statistische Daten die These der sozialen Schließung der Wirtschaftselite? Schon Adam Swift hat davor gewarnt das Konzept der Mobilitätschancen mit dem Konzept der Mobilitätsraten gleichzusetzen (Swift 2004: 4). So kann Michael Hartmann überhaupt nicht ausschließen, dass sich die Promovierten aus der Arbeiterklasse und den Mittelschichten nicht selbst gegen eine Karriere in der Wirtschaft entschlossen haben, da er – wie Ursula Hoffmann-Lange (2005: 168) zu Recht kritisiert– weder Informationen über die Aufstiegsambitionen der untersuchten Personen erhoben hat, noch untersucht hat, ob sie nicht in den Eliten der anderen Funktionssysteme wie der Massenme-
32 Die einzige Drittvariable, die Hartmann testet, ist der Einfluss des Studienfachs, die aber keinen systematischen Einfluss auf den Zugang zur Wirtschaftselite hat (Hartmann 2002: 73ff.).
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dien, des Erziehungssystems, der Kunst oder des Sports gelandet sind.33 Ursula Hoffmann-Lange weist zudem daraufhin, dass er in unzulässiger Weise zwei Thesen miteinander verbindet, für die er ganz unterschiedliche Formen der Statistik benötigt hätte. Für Michael Hartmann belegt der Befund, dass unter seinen untersuchten Promovierten diejenigen mit einer Herkunft aus dem Großbürgertum deutlich überrepräsentiert sind34, gleich zwei Thesen: Erstens, dass der direkte Einfluss der Familie beim Zugang zur Wirtschaftselite größer ist als der Einfluss des Erziehungssystems, und zweitens, dass die Großunternehmen letztlich eher askriptiven als erworbenen Rekrutierungskriterien folgen. Die erste These lässt sich aus diesem Befund schon deshalb nicht ableiten, weil Hartmann ja das Bildungsniveau konstant hält (Doktor) und damit nur eine Aussage über den Einfluss des Familienhintergrunds machen, aber nicht beide in ihrer Größe vergleichen kann. Die zweite These lässt sich nicht anhand einer einzige Personalentscheidung (der Entscheidung über den Zugang zum Firmenvorstand) untersuchen. Ursula Hoffmann-Lange schlägt beispielweise die Untersuchung der Karrieren eines bestimmten Jahrgangs von Trainees vor, bei der man das Bildungsniveau konstant hält. Nur so könnte man sehen, ob die organisationsinternen Karrieren der untersuchten Personen eher von leistungsbezogenen oder von askriptiven Kriterien abhängen. Hartmanns Statistik liefert letztlich keine schlüssigen Belege für die soziale Schließung der Wirtschaftselite. Damit erhöht sich aber die Beweislast, die die Ergebnisse der qualitativen Studie tragen müssen. Hartmann hat die Ergebnisse dieser Untersuchung in zwei Büchern verwendet. Dabei präsentiert er die Ergebnisse seiner Experteninterviews in „Der Mythos der Leistungseliten“ sehr viel selektiver als in „Topmanager“. In „Topmanager“ verwendet er noch eine viel weniger dekontextuierte Darstellung seiner Interviewergebnisse. Die Personalchefs dürfen hier noch erklären, weshalb sie so ein strenges Urteil in Kleidungs- und Manierenfragen fällen. Ein Firmenvorstand muss das Unternehmen eben auch in weniger formalisierten Situationen nach außen repräsentieren. Er muss auch exotische Speisen
33 Da Hartmann mit Bourdieus Habituskonzept arbeitet, steht zu vermuten, dass er davon ausgeht, dass die Personen mit einer Herkunft aus der Arbeiterklasse oder den Mittelschichten sich nur deshalb gegen eine Karriere in der Wirtschaft entscheiden, weil sie sich die Enttäuschung ersparen wollen, letztlich aussortiert zu werden. 34 Auch diesen Befund schwächt Ursula Hoffmann-Lange erheblich ab. Hartmann habe nicht berücksichtigt, dass in seinem Sample das Großbürgertum deutlich überrepräsentiert sei. Er hätte deshalb deren Anteil an der Wirtschaftselite nicht einfach auf deren Karrierechancen zurückführen dürfen (ebd.: 168).
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kompetent zu sich nehmen können und er muss seine Gesprächspartner auch beim Essen bei Laune halten können, also über gehobene Konversationskünste (Allgemeinbildung) verfügen. All dies sind Leistungen, die vom Firmenvorstand erwartet werden und in denen Personen mit einer Oberschichtsherkunft unübersehbare Startvorteile aufweisen. Hartmann räumt selbst in „Der Mythos der Leistungseliten“ ein, dass der oberschichtstypische Optimismus für eine Stelle, in der ständig Entscheidungen unter großer Unsicherheit getroffen werden müssen, von unübersehbarem Vorteil ist. Dasselbe gilt für die Souveränität im Umgang mit Personen unterschiedlichen Rangs. Hartmann selbst belegt deutlich, dass diese oberschichtstypischen Persönlichkeitsmerkmale leistungsrelevant sind. „Ein Vorstandskandidat für einen großen Nahrungsmittelkonzern musste sich, um den Vorstellungsraum erreichen zu können, seinen Weg erst durch Polizeikräfte bahnen, die den Firmensitz für eine Durchsuchungsaktion absperrten. Auf die Ankündigung des Firmenchefs, dass es ein „Riesenproblem“ gebe, reagierte er mit den Worten: ‚Wieso ein Problem? Das ist halt so, das müssen wir lösen.‘ Ein derartiges Verhalten zeugt von Gelassenheit auch unter komplizierten Bedingungen, einem fast unerschütterlichen Selbstbewusstsein und letztlich auch von unternehmerischen Visionen.“ (Hartmann 2002: 124)
Die Personalentscheidungen in den Großunternehmen scheinen gerade schichtselektiv zu sein, weil sie leistungsorientiert sind. Das wiederspricht zwar dem Prinzip der Chancengleichheit, aber nichts spricht für die Verwendung askriptiver Kriterien. Letztlich scheint Hartmann dieselben Phänomene zu Tage gefördert zu haben, auf die Goldthorpe in seinem Spätwerk stößt. Wenn soziale Systeme aus ihrer eigenen Logik heraus Schichtungsstrukturen von einer Generation zu nächsten reproduzieren, dann lässt sich die für das klassische Meritokratiemodell zentrale Schlussfolgerung von funktionaler Differenzierung auf Chancengleichheit nicht mehr aufrechterhalten. Doch anders als Goldthorpe scheint Hartmann nicht klar zu sein, dass man sich dann vom Meritokratiemodell als normativem Modell lösen muss. Dieselben Probleme tauchen auch im Umkehrschluss auf: dass die weniger schichtselektiven Eliten ihre Positionen eher ihren individuellen Leistungen verdanken und dass diese Funktionssysteme einen höheren Grad der Rekrutierungsrationalität aufweisen. Hartmann geht davon aus, dass man sich dem meritokratischen Ideal des Statuszuweisungsprozesses nähert, wenn die Personalentscheidungen einerseits stark formalisiert und andererseits stark demokratisiert sind. Eine starke Formalisierung des Rekrutierungsprozesses kann danach schichtspezifische Vorurteile neutralisieren und die Beteiligung der Mitglieder unterschiedlicher Rangstufen führt dazu, dass die Kandidaten im besten Fall schichthetero-
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gene „Kommissionen“ für sich gewinnen müssen und sich deshalb nicht mehr einfach auf den Bonus der Schichtgleichheit verlassen können bzw. den Malus des falschen Herkunftsmilieus fürchten müssen. Hartmann nennt hier drei Typen, die seinem Ideal der Leistungselite ziemlich nahekommen: die Eliten der demokratischen Politik, die Topmanager der Staatsbetriebe und die Wissenschaftselite. Politiker müssen die Ochsentour bestehen, die auf der Gemeindeebene startet. Die Berufung eines Professors involviere verschiedene Gremien, die Berufungskommission, die Fakultätsversammlung und den Senat, wobei ein Kandidat eine Mehrheit in jedem dieser Gremien finden müsse. Zudem sei das Verfahren sehr viel stärker formalisiert. In der Wirtschaft hingegen reiche ja schon bei „übereinstimmender Chemie“ die Kooptation durch den Vorstand. Mit etwas Distanz betrachtet wirkt diese Analyse doch in mehr als einer Hinsicht fragwürdig. Zunächst erscheint es selbstverständlich, dass die Promotion einen größeren Einfluss auf die Karriere eines Wissenschaftlers hat als auf die eines Bundestagsabgeordneten, denen man wohl aufgrund der letzten politischen Erfahrungen von der Promotion besser ganz abraten würde, oder eines Topmanagers, denn die eigentliche Funktion der Promotion ist ja gerade die einer Eintrittsbarriere zur Wissenschaftskarriere. Ebenso wird man sich beim hohen Personalisierungsgrad moderner politischer Wahlen – beispielsweise angesichts des Versuchs, sich nicht durch politische Kompetenz zu profilieren, sondern sich durch das Verhalten in öffentlich zur Schau gestellten Privatrollen beim Publikum beliebt zu machen – fragen, ob ausgerechnet hier die Rationalität der Personalselektion besonders hoch sein soll. Die Landesbanken scheinen sich in der Bankenkrise nicht weniger risikofreudig verhalten zu haben als ihre privatwirtschaftlichen Konkurrenten. Doch das eigentliche Problem scheint in der mangelnden Infragestellung der Rationalität von Formalisierung und Demokratisierung zu liegen. Gerade Berufungskommissionen versuchen sich an der gleichzeitigen Maximierung der unterschiedlichsten und oft widersprüchlichen Kriterien: eine sich in vielen und qualitativ hohen Publikationen wiederspiegelnde Forschungsvita, große pädagogische Fähigkeiten, die Bereitschaft zur Übernahme organisatorischer Verantwortung in den Gremien, außeruniversitärer ‚Impact‘ und eine große Zahl an eingeworbenen Drittmittelprojekten. Die Vorstellung, dass mehr Formalisierung mehr Rationalität erzeugen muss, scheint durchaus fraglich zu sein. Auch die These, dass mehr Formalisierung die Neutralisierung schichtspezifischer Vorurteile gewährleistet, lässt sich leicht in Frage stellen. Gerade hinter den Widersprüchen sehr elaborierter formaler Rekrutierungsprogramme lassen sich die unterschiedlichsten Motive verbergen. Ebenso problematisch scheint die Vergrößerung der Zahl der an der Berufungskommission beteiligten Personen und organisatorischen Subsysteme zu sein. Wenn Berufungsent-
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scheidungen zum Austragungsort innerfakultärer Konflikte werden, was nicht eben selten der Fall sein soll, dann wird das nicht die Leistungssensibilität dieser Sozialsysteme steigern, während die vielen widersprüchlichen Formalisierungen beinahe endlos Munition für diese Auseinandersetzungen liefern. Man sieht: Zwar thematisiert Michael Hartmann die funktionssystemspezifischen Karrierestrukturen, doch er fällt zu sehr auf deren rationalisierte Selbstbeschreibungen herein, ohne diese soziologisch zu hinterfragen. Außerdem scheint es wenig sinnvoll zu sein, von einem geringeren Grad der Schichtselektivität der Rekrutierungsstrukturen auf einen höheren Grad ihrer Rationalität zu schließen, denn der direkte Einfluss des schichtspezifischen Familienhintergrunds kann sich eben auch positiv auf die Passfähigkeiten der Kandidaten auswirken und die Abwesenheit dieses Einflusses ist alles andere als eine Garantie für Rekrutierungsrationalität. Gerade in der strukturfunktionalistischen Variante des Meritokratiemodells wird offensiv die These vertreten, dass funktionale Differenzierung früher oder später zur Realisierung von Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess führt. Michael Hartmann bleibt diesem Modell darin verhaftet, dass er implizit immer von der Annahme ausgeht, dass die Schichtselektivität bei der Rekrutierung des Führungspersonals ein Zeichen der mangelnden Rationalität und Autonomie des Funktionssystems ist. Michael Hartmann liefert aber selber viele Hinweise, dass es gerade die autonomen und rationalen Funktionssysteme sein können, die zur Reproduktion der Schichtungsstrukturen von einer Generation zur nächsten beitragen. Ebenso naiv wirkt sein Glaube an die Rationalität von Bildungszertifikaten, besonders wenn man bedenkt, dass Hartmann wichtige Elemente seines Modells von Pierre Bourdieu übernommen hat. Michael Hartmann scheint die Schichtselektivität lediglich für ein Problem der Eliteschulen und Eliteuniversitäten in England und Frankreich zu halten. Die deutschen Promovierten in den Wirtschaftswissenschaften, den Ingenieurswissenschaften und dem Recht scheinen ihm allesamt für die Übernahme von Spitzenpositionen im Recht, in der Politik und in der Wirtschaft qualifiziert zu sein. Er übersieht dabei, dass Pierre Bourdieu die Schichtselektivität des Erziehungssystems nicht nur auf das Subfeld der „Grandes Ecoles“ eingeschränkt hat. Gerade an der Art wie Hartmann Bourdieu rezipiert, lässt sich gut demonstrieren, dass er am ehesten der Kategorie der klassischen Mobilitätsanalyse zuzurechnen ist.
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Z USAMMENFASSUNG Ohne Zweifel ist es problematisch, das weite Feld der klassischen Mobilitätsanalyse an nur drei Positionen (Humankapitaltheorie, John Goldthorpe und Michael Hartmann) zu testen. Die scharfe Reduktion auf nur drei Positionen bringt das Risiko mit sich, dass diese Positionen für das Feld insgesamt untypisch sein könnten, zumal mit der Humankapitaltheorie auf jeden Fall ein untypischer Vertreter miteinbezogen wurde. Diese scharfe Reduktion liegt aber auch darin begründet, dass für diese Analyse nur Beiträge in Frage kommen, die sich nicht nur auf eine Phase im Statuszuweisungsprozess konzentrieren. Denn wenn man sich dafür interessiert, wie weit sich ein Autor vom Meritokratiemodell entfernt hat, dann liefern Analysen, die sich nur mit dem Verhältnis von Familie und Erziehungssystem, dem Verhältnis von Erziehungssystem und Arbeitsorganisationen oder den späteren Berufskarrieren beschäftigen, keine verlässlichen Hinweise. An diesen Beiträgen wird auch nicht das Problem sichtbar, dass die Verwendung des Meritokratiemodells als normativen Maßstabs dazu zwingt, nicht an allen Phasen des Statuszuweisungsprozesses vom Meritokratiemodell abzuweichen. Diese Einschränkung führt bereits zu einer erheblichen Reduzierung der in Frage kommenden Beiträge. Zumal in einer stark empirisch forschenden soziologischen Subdisziplin Untersuchungen mit einem so breiten Fokus sowieso eher selten sind. Bei der Humankapitaltheorie und bei Goldthorpes Mobilitätsanalyse handelt es sich zudem um kollektive Forschungsunternehmen, die weltweit unzählige Male angewandt worden sind und vielen Forschern als Vorbild und Vorlage gedient haben. Michael Hartmann wiederum hat mit seinen Analysen viel Aufmerksamkeit und Zuspruch gewonnen, so dass er ebenfalls ein recht typischer Vertreter seiner Disziplin zu sein scheint. Beurteilt man die klassische Mobilitätsanalyse an diesen drei Positionen, dann kommt man nicht umhin, deutliche Krisentendenzen zu konstatieren. Die Humankapitaltheorie hat sich ein gutes Stück auf die Ungleichheitssoziologie zubewegt. Sie arbeitet heute mit sehr viel realistischeren Annahmen als zu ihren Anfangszeiten. Doch diese Rückzugsgefechte haben sich sehr negativ auf ihre interne Kohärenz ausgewirkt. Aus soziologischer Perspektive ist man dennoch noch nicht weit genug gegangen. Die Vergangenheit lehrt jedoch, dass die Humankapitaltheorie aus Mangel an Konkurrenz in der eigenen Disziplin auch in den nächsten fünfzig Jahren nicht aufgegeben werden wird. Viel schwieriger ist die Zukunft von Goldthorpes Mobilitätsanalyse zu beurteilen. Zusammen mit dem Neomarxismus dominiert dieser Ansatz die angelsächsische Ungleichheitssoziologie und auch hier ist keine wirklich gefährliche Konkurrenz in Sicht. Aber Goldthorpe selbst hat seine Forschung in eine Richtung gesteuert, die zent-
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rale Motive seines Forschungsparadigmas in Frage stellt. Wenn es wirklich zur Kollabierung der Unterscheidung von Askription und Leistung gekommen ist, dann ließe sich die empirische Mobilitätsanalyse nicht mehr als normative Meritokratiekritik betreiben. Zudem darf man nicht übersehen, dass die Vertreter der philosophischen Gerechtigkeitstheorie immer schon daran gezweifelt haben, dass das Meritokratiemodell einen brauchbaren normativen Maßstab hergibt. Goldthorpes klassische Analysen leben von der moralischen Entrüstung, dass den armen, aber intelligenten und arbeitswilligen Kindern der Weg nach oben versperrt sei, während die Oberschicht in der Lage sei, auch ihren untalentierten Nachwuchs auf eine privilegierte Schichtdestination zu hieven. Gerade die Glücksegalitaristen wie von Hayek oder Rawls haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Intelligenz einer Person, sei sie vererbt oder das Ergebnis einer nicht vorhersehbaren Genlotterie, nicht mehr „verdient“ sei als ererbter Reichtum. „Sociologists who care about social mobility tend to evaluate equality of opportunity between children of the same level of ability born to parents occupying different positions in the stratification system. Poor children blessed with natural ability should have the same chances as rich children with the same good fortune. Rich children who lack ability should suffer downward mobility and it is a problem that their parents are wellplaced to protect them from falling down the ladder. But the luck egalitarian wants to know why a clever poor kid should end up better than a stupid rich one.“ (Swift 2004: 6)
Wenn man wie Rawls annimmt, dass die Fähigkeit zu harter Arbeit ebenfalls genetisch vererbt wird, dann nimmt die moralische Plausibilität des Meritokratiemodells noch weiter ab. Dieser Einwand gegen den Legitimitätsanspruch des Meritokratiemodells lässt sich auch aus Rawls „Theory of Justice“ (Rawls 1979) ableiten. Rawls schließt zunächst an die Argumentation des Glücksegalitarismus an und kritisiert das Meritokratiemodell dafür, dass in diesem Modell zwar die gesellschaftlich bedingten Startungleichheiten in der Konkurrenz um Ämter und Stellen beseitigt seien, aber nur um den Preis, die „natürlichen“ genetisch bedingten Ungleichheiten voll zum Durchschlagen zu bringen. Die Grundstruktur meritokratischer Gesellschaften übernehme einfach die Willkür der Natur (ebd.: 123). „Chancengleichheit bedeutet gleiche Chance, die weniger Glücklichen hinter sich zu lassen.“ (ebd.: 128) Sowohl die natürlichen wie die gesellschaftlich bedingten Ungleichheiten seien aber unverdient. Eine gerechte Institutionenordnung sei verpflichtet, diese Ungleichheiten soweit wie möglich auszugleichen. Auch Goldthorpes allgemeine Theorie der Mobilitätspräferenzen birgt aus gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht ihre eigenen Tücken (Swift 2004: 8). Wenn
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die Individuen vor allem den sozialen Abstieg vermeiden wollen, dann weist eine perfekt immobile Gesellschaft einen höheren Grad an Paretooptimalität auf als eine perfekt meritokratische, da der Wohlfahrtsverlust der Absteiger viel deutlicher ausfällt als der Wohlfahrtsgewinn der Aufsteiger, denen es ja eher darum geht, nicht abzusteigen. Ein verwandtes Problem verbirgt sich in der impliziten Gleichsetzung von individuellen Lebenschancen und individuellen Mobilitätsschancen (Swift 2004: 3). Wenn man die Positionen, zwischen denen sich die Individuen bewegen, vor allem anhand des durch diese erzielbaren Einkommens erfasst, dann bringt sozialer Aufstieg vor allem eines mit sich: mehr Konsummöglichkeiten. Aufstiegschancen können dann letztlich mit Konsumchancen gleichgesetzt werden. Es mag ja sein, dass sich die relativen Raten der sozialen Mobilität der verschiedenen Klassen in den letzten sechs Jahrzehnten nicht verändert haben (Constant Fluidity Hypothesis), doch nicht nur in Deutschland ist in dieser Zeit ein gewaltiger Fahrstuhleffekt zu beobachten gewesen, der beispielsweise aus exklusiven Luxusgütern (Fernseher, Autos, Wohneigentum) für fast alle erreichbare Massengüter gemacht hat. Die Mobilitätschancen mögen konstant geblieben sein, aber die Konsummöglichkeiten haben sich über die Klassengrenzen hinweg drastisch angeglichen (Beck 1986: 124). Führt man sich diese massive Kritik am Meritokratiemodell als normativem Maßstab vor Augen und behält dabei im Auge, wie sehr die Verwendung dieses normativen Maßstabs die empirische Forschung behindert, dann sollte man sich von diesem Forschungsparadigma trennen. Die im Rahmen der klassischen Mobilitätsanalyse durchgeführten Studien sprechen in ihrer Gesamtheit eindeutig gegen die Realisierbarkeit des Meritokratiemodells, denn der Statuszuweisungsprozess weicht in allen Phasen vom Meritokratiemodell ab. Die Familien lassen sich nicht vom Statuszuweisungsprozess abkoppeln, weil sie über verschiedene Kanäle die Startbedingungen der Schulkarrieren beeinflussen, aber auch weil sie einen direkten Einfluss auf die Berufskarrieren ausüben. Die Arbeitsorganisationen werden sich in ihren Rekrutierungsentscheidungen nie ausschließlich an den Bildungszertifikaten der Individuen orientieren, weil diese nicht mehr sind als ein ziemlich unzuverlässiges Signal für Lernfähigkeit. Der Vergleich der gemessenen Mobilitätsraten mit den im Meritokratiemodell unterstellten führt zu utopischen Forderungen, denen keine Gesellschaft je annähernd entsprechen wird. Diese utopischen Forderungen werden zudem in Namen eines sehr dubiosen moralischen Ideals geführt, dass, wie Michael Young demonstriert hat, sehr schnell in einen bizarren Alptraum ausarten kann.
Randall Collins
D AS
RADIKAL KONFLIKTTHEORETISCHE
DES
S TATUSZUWEISUNGSPROZESSES
M ODELL
Randall Collins Beitrag zur Mobilitätsanalyse unterscheidet sich in vielen Hinsichten von den drei zuvor besprochenen Ansätzen. Collins (1979) bricht sehr viel radikaler mit dem Meritokratiemodell als John Goldthorpe oder Michael Hartmann. Zwar konzentriert auch er seine Kritik am Meritokratiemodell auf eine bestimmte Phase – das Verhältnis des Erziehungssystems zu den rekrutierenden Arbeitsorganisationen – aber er betont dabei ebenso die Schichtselektivität des Erziehungssystems und den Einfluss askriptiver Kriterien bei den Rekrutierungs- und Beförderungsentscheidungen in den Arbeitsorganisationen. Er konzentriert seine Kritik auf diese Stelle, weil sie im Meritokratiemodell eine so zentrale Stellung einnimmt. Außerdem verwendet er konsistent das konflikttheoretische Modell sozialer Schließung. Man kann dabei Randall Collins ohne Übertreibung die These eines Primats von Schichtung im Statuszuweisungsprozess zuschreiben, denn in seinem Modell dominieren tatsächlich partikularistische Gruppen die Mobilitätsstrukturen der Gesellschaft. Anders als Marx weitet er die These vom Primat von Schichtung allerdings nicht auf die gesamte Gesellschaftstheorie aus, denn er spricht weder der Wissenschaft (ebd.: 199) noch der Medizin (ebd.: 140ff.) oder dem Recht die Autonomie ab. Gerade in dieser Hinsicht weist Randall Collins eine viel größere Nähe zu Max Weber als zu Karl Marx auf. Ich werde zunächst seine Kritik am Meritokratiemodell und dann sein eigenes Modell des Statuszuweisungsprozesses vorstellen. Randall Collins nimmt dabei eine clevere, aber nicht unproblematische Zuspitzung des Meritokratiemodells vor. Nach seiner Ansicht beruht das Meritokratiemodell einfach auf einem technikdeterministischen Trugschluss. Die Vertreter des Meritokratiemodells seien davon ausgegangen, dass der technische Fortschritt selbst die perfekte Integration der am Statuszuweisungsprozess betei-
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ligten Sozialsysteme erzwinge (ebd.: 1ff.). Diese Zuspitzung ist raffiniert gewählt, da man dann die in der Soziologie verfügbaren Argumente gegen Technikdeterminismus ebenfalls gegen das Meritokratiemodell in Stellung bringen kann. So verweist er darauf, dass die Professionen, die als erste institutionalisiert worden seien – Recht und Medizin – gerade diejenigen gewesen seien, die keinen direkten Beitrag zum technischen Fortschritt geleistet hätten, während die Ingenieure bis heute auf volle Anerkennung als Profession zu warten hätten (ebd.: 138-165). Recht und Medizin hätten auch als erste Professionen Universitätsausbildungen verlangt, obwohl das angelsächsische Case Law sich viel besser in der Berufspraxis erlernen lasse und die Medizin noch bis ins 20. Jahrhundert hinein über keine wissenschaftliche Grundlage verfügt habe (ebd.: 131ff.). Die Organisationssoziologie wiederum zeige, dass gerade die Organisationen, die auf besonders vorrausetzungsvollen Technologien beruhten, oft niedrigere Bildungszertifikate verlangten als Organisationen, die auf besonders unklaren Technologien beruhten (ebd.: 31ff.). Diese Zuspitzung ist sicher nicht ganz unberechtigt, wenn man sieht, wie stark sich gerade die klassische Humankapitaltheorie (Schultz 1961, Becker 1975) aber auch die Theorien der Industriegesellschaft (Kerr et al. 1960) auf das Motiv des technischen Fortschritts beziehen. Sie ist aber auch nicht unproblematisch, denn nicht einmal diese beiden Strömungen lassen sich konsistent auf Technikdeterminismus festlegen. Die Humankapitaltheorie versucht zwar zu zeigen, dass der technische Fortschritt vor allem eine abhängige Variable der getätigten Humankapitalinvestitionen ist, aber sie beschränkt sich nicht auf technisches Knowhow, sondern umfasst alle Kenntnisse und Fähigkeiten, die die Produktivität von Wirtschaftsorganisationen erhöhen. Die Vertreter der Industriegesellschaft haben zudem noch einige Elemente von Talcott Parsons ތStrukturfunktionalismus übernommen wie die Differenz von Askription und Leistung, deren Bedeutung sich nur im Rahmen des Konzepts funktionaler Differenzierung erklären lässt. Daniel Bell wiederum vertritt die These einer Verwissenschaftlichung der gesamten Gesellschaft, die gerade auch die Politik betrifft (Bell 1973). Seine Begeisterung für eine technokratische Politik lässt sich ebenso wenig mit Technikdeterminismus im engeren Sinne erfassen. Doch Randall Collins untersucht auch die konventionelleren Versionen des Meritokratiemodells. Sein zentrales Argument setzt an der These von der perfekten Integration der Leistungen des Erziehungssystems mit den Anforderungen der Arbeitsorganisationen an. Er analysiert dabei einerseits Makrodaten, die das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und dem Volumen der Humankapitalinvestitionen untersuchen. Diese zeigten eher, dass das Wirtschaftswachstum der Zunahme der Humankapitalinvestitionen oft vorangegangen sei, so dass man das
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Wirtschaftswachstum nicht auf den Produktivitätsgewinn durch vermehrte Schulerziehung zurückführen könne (Collins 1979: 12ff.). Des Weiteren führt er empirische Studien an, nach denen die Zunahme der Bildungsanforderungen in den Arbeitsorganisationen weder auf die Zunahme von Stellen mit komplexerer Aufgabenstruktur noch auf die Zunahme der Komplexität der Aufgabenstrukturen in denselben Stellen zurückgeführt werden kann. Er bezieht sich außerdem auf Christopher Jencks, der gezeigt hat, dass der IQ und die Bildungszertifikate nur einen relativ kleinen Teil der Varianz des Einkommens erklären und dass die Noten des Abschlußzeugnisses nur einen äußerst begrenzten Einfluss aufweisen (bei Männern habe nur die Bestnote einen erwähnenswerten Einfluss, bei Frauen zeige sich kein Zusammenhang). Neben diesen eher konventionellen Fragen bringt er aber auch das Technologiedefizit des Erziehungssystems zur Sprache: „There are also indications that most students, at least in the United States, do not learn very much in school. Learned and Wood, testing college students at 2 year intervalls in the 1930s, found very small increments in their performances on standardized tests in their area of study, suggesting that very little of what is learned in particular courses remains even the next few years.“ (Ebd.: 18)
Zudem werde unterschätzt, wie viele Fähigkeiten und Kenntnisse sich auch im On-the-Job-Training noch erlernen ließen. Für Randall Collins zeigen diese Befunde, dass die extrem angestiegene Nachfrage nach anspruchsvollerer Schulbildung sich auch nicht funktionalistisch erklären lasse. Randall Collins bleibt aber nicht auf der Makroebene stehen, sondern untersucht auch die organisationssoziologische Literatur (ebd.: 22ff.). Diese zeige recht deutlich, dass der Rationalität von Personalentscheidungen in den Arbeitsorganisationen enge Grenzen gesetzt seien. Man suche nicht den besten Kandidaten, sondern lediglich einen brauchbaren. Da die Aufgabenprogramme, je weiter man in der organisationsinternen Hierarchie nach oben steige, immer vager würden, lasse sich die Eignung eines Kandidaten für eine Führungsposition schlechter beurteilen als die eines Kandidaten für eine weniger bedeutende Stelle. Die Reproduktion der Funktionssysteme und ihrer Arbeitsorganisationen scheint also nicht wirklich davon abzuhängen, dass man für die wichtigsten Positionen die talentiertesten Individuen ausfindig macht. So wenig wie die Arbeitsorganisationen in der Lage seien das Bezugsproblem der Rekrutierungsrationalität zu optimieren, so wenig seien sie in der Lage das Problem der Leistungsmotivation zu optimieren. Collins erinnert hier unter anderem an die informalen Praktiken des Bremsens in Arbeitsgruppen. Auch hingen die organisationsinternen Karrieren viel weniger von individuellen Leistungen ab, als weithin ange-
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nommen werde. Gerade in Organisationen, die sich besonders exzessiv um eine möglichst „objektive“ Leistungsbeurteilung ihrer Mitglieder bemühten, dominiere letztlich der Mechanismus des persönlichen Sponsorships. Außerdem setze jede Beförderung zunächst eine Vakanz voraus, so dass es letztlich vor allem darauf ankomme, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Bildungszertifikate würden zudem in den Arbeitsorganisationen als strategische Beförderungshemmschwellen eingesetzt. Zum selben Zweck würden aber auch askriptive Kategorien wie Schichtherkunft, Rasse oder Gender eingesetzt. Anders als Daniele Checchi, Michael Hartmann oder John Goldthorpe scheint Randall Collins dem Meritokratiemodell kein Schlupfloch zu lassen, auch wenn man seine Zuspitzung auf Technikdeterminismus skeptisch betrachten muss. Randall Collins unterscheidet sich von den Autoren der klassischen Mobilitätsanalyse aber nicht nur darin, dass er das meritokratische Modell des Statuszuweisungsprozesses in allen Phasen dekonstruiert. Er zeichnet sich auch dadurch aus, dass er dabei ein konsistent konflikttheoretisches Modell verwendet. Am besten zeigen dies seine Analyse des Arbeitsmarktes und seine Analyse von Arbeitsorganisationen. Folge man der neoklassischen Theorie, so müsse ein perfekter Arbeitsmarkt, auf dem sich alle abhängig Beschäftigten frei bewegen können, gleiche Löhne für jedermann erzeugen (Collins 1975: 421). Besonders gut bezahlte Stellen ziehen danach viele Arbeitskräfte an und das daraus resultierende Überangebot führt zur Senkung der Löhne. Bei unterdurchschnittlichen Löhnen setzt hingegen der umgekehrte Mechanismus ein. Für Randall Collins folgt daraus, dass die Lohnungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt nur ein Ergebnis der Segmentierung des Arbeitsmarktes sein können, die eine freie Bewegung der Arbeitskräfte verhindert. Hier liegt für Collins die eigentliche Bedeutung von Bildungszertifikaten. Wenn es mehr als fraglich ist, ob organisierte Schulerziehung die Produktivität der Arbeitskräfte erhöht, dann könnte es sich eben auch um einen Mechanismus sozialer Schließung handeln, mit dem bestimmte Klassen versuchen privilegierte Einkommensquellen auf dem Arbeitsmarkt für sich zu monopolisieren. An dieser Stelle reiche Webers Konzept der Erwerbsklasse aber nicht aus, das lediglich alle Individuen zusammenfasse, die aufgrund ihrer arbeitsmarktrelevanten Kriterien dasselbe Einkommen beziehen. Denn soziale Schließung setzt nach Collins einen sehr viel höheren Grad sozialer Kohäsion voraus, als man bei einer reinen Erwerbsklasse im Sinne Webers erwarten könne. Collins geht deshalb davon aus, dass alle Erwerbsklassen danach streben ihre ökonomischen Ressourcen in soziale Ehre zu konvertieren, mit deren Hilfe sich dann auch die Segmentierung des Arbeitsmarktes legitimieren lässt. Der Anspruch auf „Überlegenheit“, wie ihn die modernen Oberschichten stellen, beruhe eben letztlich auf ihrer schulisch zertifizierten Kompetenz.
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„Possessing this kind of status ideology in turn makes it easier for the group members to monopolize economic positions. Outsiders can be excluded and competition limited automatically because only persons who seem like ‚the right kind‘ are allowed into the preferred positions. The type of status ideology can shift from time to time, but there is always some process of this sort operating. Although the proliferation of educational credentials was not very great in Weberތs day, he saw that they were creating a modern status group that served to monopolize the more lucrative occupational positions.“ (Collins 1994: 91)
Collins schlägt zwei Mechanismen kredentialistischer Schließungsstrategien auf dem Arbeitsmarkt vor: eine zentrale Strategie, die beispielsweise von den Professionen verwandt werde, um beim Staat durch Lobbying die Verbindlichkeit universitärer Bildungszertifikate auszuhandeln, und eine dezentrale Strategie, bei der die Vertreter einer Statusgruppe, die Positionen in den Personalabteilungen innehaben, die Bildungsanforderungen für attraktive Stellen künstlich hochtreiben. Randall Collins sieht in der Ideologie der Meritokratie überraschenderweise nichts anderes als einen gesellschaftsweiten Versuch der Konkurrenz- und Arbeitsvermeidung. Um mit dieser Ideologie brechen zu können, sei es zunächst notwendig, die reifizierte Vorstellung von der festen Stelle in der Arbeitsorganisation zu dekonstruieren (Collins 1979: 50ff.). Zunächst sei jede Stelle bereits eine Form der Konkurrenzvermeidung, da man sie nicht verliere, wenn jemand auftauche, der die Mitgliedschaftsrolle auch für einen niedrigeren Lohn übernehmen würde, da in Arbeitsorganisationen die Konkurrenz nur um vakante Positionen geführt wird. Die Stelle in einer Organisation sei nicht das Ergebnis der Funktionserfordernisse der Organisation, sondern eine verkürzte Bezeichnung für menschliches Verhalten. Die Zusammenfassung bestimmter Aufgaben zur Programmierung der Mitgliedschaftsrolle, die verwendete Entlohnungstechnik, die Beförderungschancen, die Einbindung in die zentrale Hierarchie seien das historische Resultat der mikropolitischen Auseinandersetzungen in der Arbeitsorganisation. Auch wenn das Management in diesen Kämpfen aufgrund seiner organisationinternen Ressourcenausstattung in einer privilegierten Position sei, so verfügen auch die technischen Experten, die Gewerkschaftsmitglieder oder der Reparaturdienst über ihre eigenen Machtressourcen. Das Ziel dieser Kämpfe sei es nicht zuletzt, mithilfe „politischer“ Arbeit die anstrengende „produktive“ Arbeit zu vermeiden und stattdessen Teil der Kontrollhierarchie zu werden oder eine der vielen Scheintätigkeiten in der Bürokratie des Unternehmens einzunehmen.
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Randall Collins findet es überraschend, dass die enorme Produktivität der modernen Technik immer noch nicht dazu geführt habe, dass sich die moderne Gesellschaft in eine Freizeitgesellschaft verwandelt habe, in der die Maschinen den Großteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit übernehmen. Stattdessen verbrächten die Individuen immer noch einen Großteil ihrer Lebenszeit in ihren Berufsrollen. Collins geht davon aus, dass die Inklusion in die moderne Gesellschaft vor allem von der Übernahme einer Mitgliedschaftsrolle in einer Arbeitsorganisation abhänge. Die Freizeit sei stattdessen in die Berufsrollen eingewandert, so dass die zentralen Verteilungskonflikte um den Zugang zu den angenehmsten Stellen geführt würden. Collins entlehnt an dieser Stelle Webers Begriff der Präbende, die bei Weber die Institution des käuflichen Amtes in der vormodernen Gesellschaft bezeichnet. Die Stellen seien heute zwar nicht mehr öffentlich käuflich, heute könne man hingegen Bildungszertifikate in Stellen konvertieren. „The term sinecure itself had a respectable tone in medieval society, for it indicated the ideal „living“ one could purchase from pope or king. Today the term becomes disreputable, for it offends the notions of meritocracy by which the modern system of monopolization is legitimated. But the importance of this structural arrangement is, if anything, even more important in a wealthy industrial society where leisure has migrated into the interior of virtually all jobs to a greater or lesser degree. It is most obvious in the slow pace of governement bureaucracies, less in the competitive grind of the schools and in the political infighting over monopolistic privileges themselves. But this kind of effort –- the work put into creating or defending conditions to avoid work – is analytically distinct from the work that leads to material results.“ (Ebd.: 57)1
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Collins führt die Unterscheidung von produktiver und politischer Arbeit als analytische Unterscheidung ein, weil die meisten Stellen beide Arbeitsformen umfassen sollen. Allerdings scheint für Collins klar zu sein, dass die produktive Arbeit vorwiegend durch die Arbeiterklasse geleistet würde, während die Tätigkeiten der Sachbearbeiter, der technischen Experten und Manager nicht mehr als „make-work“ oder „featherbeding“ sein sollen (ebd.: 55). Wenn jedoch die Arbeiter ein Produkt produzieren, das beispielsweise niemand kaufen will, dann macht das keinen besonders produktiven Eindruck. Letztlich scheint diese Unterscheidung an der Marxތschen Arbeitswertlehre zu hängen und mit dieser zusammen erheblich an Plausibilität eingebüßt zu haben. Während die Humankapitaltheorie großzügig unterstellt, dass der besser bezahlte Mitarbeiter auch produktiver sein müsse, gilt gerade bei Collins die umgekehrte Unter-
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Wir lassen uns nach Collins in beruflich irrelevanten Curricula unterrichten und zertifizieren, um später im Beruf den Konkurrenzdruck vermeiden zu können und die Füsse hochlegen zu dürfen. Doch weshalb verhindern die Märkte nicht diese völlig ineffiziente Allokation von Ressourcen? Zunächst weist Collins daraufhin, dass nur die Wirtschaftsunternehmen durch den Markt auf Rentabilität getrimmt würden, aber dass das weder für die Schulen, noch die Universitäten, die staatlich finanzierten Krankenhäuser oder die Staatsverwaltungen gelte. Doch selbst die ausdifferenzierte Wirtschaft sei nicht in der Lage all ihren Arbeitsorganisationen diese elaborierten Strukturen der Arbeitsverweigerung abzutrainieren. Collins verweist hier auf die staatlich gestützten Monopol- und Oligopolbildungen auf den Märkten. Raymond Murphy verweist aber darauf, dass es kaum plausibel sei, die Monopoloder Oligopolbildungen auf dem Markt nur durch externe Einflüsse wie die Statusgruppen oder den Staat zu erklären. „Collinsތs focus on monopolization by status groups tends to shift the importance of monopolization on the basis of property through market competition out of focus. It would be more realistic, as well as more in line with the rest of Collinsތs analysis, to argue that market monopolization does not only result from elements extrinsic to the market, such as status groups, but also, and especially, from the pure market phenomenon of the accumulation of profit by the property classes.“ (Murphy 1988: 69)
Neil Fligstein hat eine ganze Reihe überzeugender Argumente für die These vorgebracht, dass letztlich alle Wirtschaftsunternehmen nach Konkurrenzvermeidung streben, sei es, dass sie durch Expansion ihren Marktanteil zu vergrößern versuchen oder durch produktunspezifische Fusionen oder durch die Unterordnung unter eine dominante Firma Preiskämpfe zu vermeiden versuchen (Fligstein 1993: 5FF.)). Fligsteins Untersuchung liefert einiges an Plausibilität für Collins These der universellen Tendenz zur Konkurrenzvermeidung. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Randall Collins das Meritokratiemodell auch als Norm ablehnt – nicht zuletzt deshalb, weil er dieses Sozialmodell für nicht realisierbar hält. Randall Collins hat seine Position am Verhältnis ökonomischer und kultureller Märkte demonstriert (Collins 1979: 49ff.). Für Randall Collins bilden die Bildungszertifikate eine „kulturelle“ Währung, die sich jeder-
stellung. Die Manager bleiben hier nur deshalb solange im Büro, um zu verbergen, dass sie dort ihre Freizeit verbringen.
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zeit in die ökonomische Währung konvertieren lässt. Aus dieser Perspektive stellt Bildung vor allem ein positionales Gut dar, das eine gute Position in den „Labour Queues“ um eine attraktive Stelle sicherstellen soll. Entwicklungen wie die seit den sechziger Jahren international zu beobachtende Bildungsexpansion könnten dann aber nur zur Entwertung der Währung der Bildungszertifikate führen, die dadurch kompensiert würden, dass die Statusgruppen die Bildungsanforderungen immer höher hinaufschrauben müssten, bis man irgendeinmal einen Doktortitel für die Stelle des „Facility Managers“ benötigt. Die 68er Proteste waren für Randall Collins ein erstes Anzeichen für den baldigen Kollaps des Kredentialismus. Randall Collins hat deshalb vorgeschlagen den Schulen die Funktion der Zertifizierung für den Arbeitsmarkt wieder zu entziehen (ebd.: 197) Diese sollten dann sehen, wie viel Nachfrage nach ihren Bildungsangeboten übrig bleibe, wenn deren Wert nur noch in ihren tatsächlichen Erziehungs- und Sozialisationseffekten zu finden sei. Man dürfe keine zu hohen Erwartungen an diese politische Maßnahme stellen, da auch dann noch die elaborierten Ungleichheiten unter den Stellen in den Arbeitsorganisationen für soziale Ungleichheit sorgen würden. Aber er sieht in dieser Maßnahme einen ersten Schritt zur Delegitimation der zum großen Teil einfach auf Arbeitsvermeidung beruhenden Schichtungsstrukturen. Randall Collins bricht aber nicht nur sehr konsequent mit dem Meritokratiemodell, er erinnert auch daran, dass es ein Grundmotiv der Konflikttheorie gewesen ist, mit den harmonistischen Semantiken der vormodernen Gesellschaft zu brechen. „His (Max Weber, Anmerkung des Autors) multidimensional perspective made him fundamentally a conflict theorist. For conflict is not merely just one more factor among others, it is also an expression of the very multidimensionality of things, the plurality of different groups, interests, and perspectives that make up the world. Ultimately the world does not hold together as one great social or metaphysical unit. Though there is consensus and solidarity inside some components of society, the whole thing is a mixture of contending parts.“ (Collins 1994: 83)
Collins formuliert hier sehr klar, dass die konflikttheoretische Beschreibung der Schichtungsstrukturen ein Weg ist, um mit den Plausibilitäten des vormodernen Teil/Ganzes-Modells zu brechen, und er selbst wendet diese Theorie konsequent auf das Meritokratiemodell an. Ohne Zweifel reizt Randall Collins das Arsenal der Konflikttheorie fast vollständig aus, um das Meritokratiemodell als Fall einer absurd überintegrierten Soziodizee zu überführen.
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S OZIALTHEORETISCHE K OMPLIKATIONEN Bis hierhin hat sich Randall Collins Mobilitätsanalyse ohne jeden Rekurs auf Verhältnisse der Mikro-, der Meso- und der Makroebene sozialer Ordnungsbildung darstellen lassen. Man merkt der Argumentationsführung so gut wie nicht an, dass der Autor schon einige Jahre früher eine radikale Wende zur Mikrofundierung der sozialen Ordnung vollzogen hat (Collins 1975: 90 ff.). Randall Collins geht danach davon aus, dass die Makrostrukturen nur als Strukturen oder Netzwerke existieren, die in vielen Interaktionen reproduziert werden. Es ist dabei nicht ganz leicht festzuhalten, was sich Randall unter einer „Microfoundation of Macrosociology“ (Collins 1981: 984-1014) vorstellt. Einerseits finden sich hier stark reduktionistische Formulierungen wie: „There are only three pure macrovariables: the dispersion of actors in physical space; the amount of time that social processes take (including temporal patterns of intermittent and repeated behaviors); and the numbers of individuals involved.“ (Ebd.: 989)
In dieser harten Lesart entstehen Makrophänomene lediglich aus der Aggregation der von den Individuen in unzähligen Interaktionen absolvierten Interaktionsritualketten. Auf der anderen Seite setzt er sich aber auch von den radikalen Versionen des Interaktionismus ab, die die soziale Welt nur noch als lose Einheit unvergleichbarer Interaktionen verstehen. Randall Collins geht eben an anderen Stellen davon aus, dass es situationsübergreifende Sinnbestände wie Rollenerwartungen, Programme, kognitive Schemata oder Deutungsmuster tatsächlich gibt. Hier lehnt er sich dann an Garfinkels Begriff der Indexikalität an und interpretiert das Verhältnis von Mikro und Makroebene nach dem Regel/Anwendung-Modell. Wie diese transsituativen kulturellen Sinnbestände in der Situation gehandhabt würden, könne eben nur mikrosoziologisch untersucht werden. Es gehe darum zu analysieren, wie situationsübergreifende Konstrukte wie Organisation2 oder der Staat in zahllosen Interaktionen reproduziert würden. Collins
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Allerdings überdramatisiert er immer wieder die Fluidität von sozialen Phänomenen wie formalen Organisationen. So geht er davon aus, dass die Rangstrukturen in Organisationen in jedem Moment durch rituell geschweißte Allianzen der Mitglieder wieder bestätigt werden müssen. Luhmann hat jedoch völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vorgesetzte in der formalen Organisation seinen Ranganspruch nicht ständig durch persönliches Charisma erneuern muss, da diese durch die Mitglied-
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gleitet hier oft ansatzlos in eine sehr viel weichere methodologische Lesart seiner „Microfoundation“ über, nach der Makrophänomene durchaus eine eigene Form der Existenz besitzen, aber soziologisch nur indirekt erfassbar seien. So seien letztlich die statistischen Befragungstechniken auch nichts anderes als pragmatische Aggregationen von vielen einzelnen Interaktionserfahrungen, die durchaus in der Lage seien wichtige Aspekte der sozialen Welt zu erfassen, die aus einer rein mikrosoziologischen Perspektive unsichtbar bleiben würden. Das Problem der Mehrdeutigkeit des Begriffs der Mikrofundierung stellt im Folgenden allerdings kein großes Problem dar, da es um einen Begriff geht, indem Gesellschaft und Interaktion in denkbar größter Nähe zueinander stehen: dem Begriff der Statusgruppe. In der „Credential Society“ verwendet Randall Collins die Begriffe schulische Erziehung, Markt, Recht, Staat oder Statusgruppe in ihrer normalen soziologischen Bedeutung, ohne eine Mikrofundierung dieser Konzepte vorzunehmen. Interessanterweise beruht die „Credential Society“ vor allem auf dem Begriff der Statusgruppe, bei dem sich die Bereiche Gesellschaft und Interaktion besonders intensiv durchdringen. Randall Collins spricht auch den Erwerbs- und Besitzklassen eine Bedeutung auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden zu: die schichtabhängige Verteilung des Einkommens stattet die Individuen mit unterschiedlichen Kommunikationsmöglichkeiten in der Interaktion aus. Die Erwerbsklassen lassen sich aber auch durch die Interaktionsrituale charakterisieren, die die Individuen typischerweise in ihren Mitgliedschaftsrollen in den Arbeitsorganisationen durchlaufen: Die Oberschicht befiehlt vor allem, die Arbeiterklasse gehorcht und die Mittelschicht gehorcht den einen und befiehlt den anderen (ebd.: 63). Diese sich immer wiederholenden Interaktionserfahrungen führen nach Collins zur Entstehungen unterschiedlicher Klassenkulturen, die sich vor allem in den Mustern selektiver Assoziation niederschlagen (ebd.:114). Collins bezeichnet die Klassen deshalb auch als Gruppen potentieller Freunde, d.h. die Individuen derselben Klasse bevorzugen sich als Interaktionspartner und versuchen Kontakte mit den Mitgliedern anderer Klassen dagegen zu vermeiden. Die Statusgruppen hingegen werden direkt als Anspruch auf Ehrerbietung in der Interaktion sichtbar. Er verwendet für sie den denkbar stärksten Begriff, den die Ungleichheitssoziologie für Schichtungsphänomene bereithält:
schaftsrollen abgesichert sind. Man behandelt den Chef auch dann als Chef, wenn man ihn insgeheim für inkompetent hält (Luhmann 1999a: 126).
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„They are not merely statistical categories but real communities, people with a common lifestyle and viewpoint of the world, people who identify with one another as belonging to a group.“ (Collins 1994: 88).
Statusgruppen sind Makrokonzepte, die besonders deutlich in der Interaktion sichtbar werden. Nun kennt Randall Collins eine ganze Reihe solcher Makrokonzepte, aber bereits seit seiner „Conflict Sociology“ von 1975 zeichnet er eben auch einen historischen Trend der Zurückdrängung schichtspezifischer Ehrerbietungsansprüche nach, bis er sich in „Situational Stratification: A Micro-Macro Theory of Inequality“ (Collins 2000: 27) ganz vom Konzept der Statusgruppe löst. Das heißt aber, dass gerade der Interaktionssoziologe Randall Collins seiner mobilitätssoziologischen Konflikttheorie die Grundlage entzieht. Ich möchte im Folgenden untersuchen, ob der Mobilitätssoziologe oder der Interaktionssoziologe die besseren Argumente auf seiner Seite hat. In „A Short History of Deference and Demeanor“ liefern Randall Collins und Joan Annett eine Geschichte schichtspezifischer Ehrerbietungsrituale (Collins/Annett 1975: 161-224). Ihren absoluten Höhepunkt an Dominanz und Elaboriertheit erreichen diese Interaktionsrituale in den bewaffneten Haushalten stratifizierter Gesellschaften. Diese adligen Haushalte sind politische Herrschaftszusammenhänge, familiäre Wohnsitze und wirtschaftliche Produktionsbetriebe in einem und hier leben die Individuen verschiedener Schichten zusammen. An der Spitze dieser Haushalte steht der adlige „Hausvater“, dem alle anderen Individuen persönliche Unterordnung schulden. Diese Autoritätsverhältnisse bilden sich in diffizilen und permanent präsenten Ehrerbietungsritualen ab, da die untergeordneten Individuen sich unter ständiger enger Überwachung befinden und ihnen im Großen und Ganzen die Exit-Optionen fehlen. Da sich oberhalb dieser bewaffneten Haushalte nur ein schwacher Staat mit geringer Durchgriffsstärke befindet, setzen Kontakte außerhalb der Familie die ständige Bereitschaft zur Durchsetzung der eigenen Rechte und Ansprüche voraus. Mit der Trennung von Haushalt und Betrieb werden die Individuen aus diesen askriptiven Bindungen herausgelöst und individualisiert. Die sich ausdifferenzierende Wirtschaft erweitert die Transport- und Reisemöglichkeiten. Die Bereitschaft zu persönlicher Unterordnung nimmt ab und der immer mächtiger werdende Staat lässt die persönliche Bereitschaft zur potentiell gewalttätigen Durchsetzung der eigenen Rechte und Ansprüche immer überflüssiger werden. Je mehr man sich auf die Gegenwart zubewege, umso deutlicher werde dieser Prozess der „deference evaporation“ (ebd.: 210ff.). Innerhalb der Familien verschwinden die Hausangestellten und die Autoritätsverhältnisse zwischen den Geschlechtern und den Eltern und Kindern würden immer stärker eingeebnet. Die Individuen
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der verschiedenen Schichten mieden sich nun immer öfter in den freiwilligen Privatkontakten, und in den öffentlichen Interaktionen in Fußgängerzonen und auf öffentlichen Plätzen versuche man sich so geschickt aus dem Weg zu gehen, dass die Rangverhältnisse der Interaktionsteilnehmer nicht geklärt werden müssten. Die Konfliktsoziologie von 1975 verabschiedet sich dabei noch nicht vollständig vom Begriff der Statusgruppe, aber sie läutet diese Entwicklung ein. Vollständig vollzogen wird dieser Schritt erst in „Situational Stratification“. Der Begriff der Statusgruppe beruhe auf zwei Annahmen: Erstens, dass die Erwerbs und Besitzklassen in der Lage seien ihre ökonomischen Ressourcen in kulturelle zu konvertieren, indem sie in ihr „Humankapital“ investieren, und umgekehrt, dass sie ihre kulturellen Ressourcen (Bildungszertifikate) in ökonomische Ressourcen (Einkommen aus Arbeitsstellen) konvertieren können; zweitens, dass es sich um Gruppen handelt, die dasselbe Maß sozialer Ehre für sich beanspruchen, und dass sie eine transitiv mehr oder weniger eindeutige Prestigehierarchie bilden, die sich in der Interaktion als Ehrerbietungsanspruch ablesen lässt. Auch die zweite These lässt sich mit Hilfe des Währungskonvertierungsparadigmas formulieren, insofern es hier darum geht Reichtum und Bildung in soziale Ehre und Ehrerbietung zu konvertieren. Der Text wendet zwei verschiedene Argumentationsstrategien an: Einerseits versucht er zu zeigen, wie schwierig es geworden ist, Geld oder Bildung in soziale Ehre zu konvertieren, und andererseits versucht er zu zeigen, wie unvorhersehbar und chaotisch die interaktionsinternen Rangverhältnisse in der Gegenwartsgesellschaft geworden sind. Während in der „credential society“ der Bildungsabschluss jede noch so absurde Form der hochtrabenden Arbeitsvermeidung legitimieren konnte, verweist Collins in „Situational Stratification“ auf die engen und beschränkten Verwendungskontexte von Bildungszertifikaten.3 Die Bildungszertifikate erfüllen ihre Funktion nur
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„Years of schooling are not a homogeneous currency; years in different kinds of schools are not equivalent in terms of what kinds of subseqent educational and occupational channels one can enter. For example, years in an elite prep school or an highly ranked private college have no value for oneތs occupational level unless they are translated into admission into a particular kind of schooling at the next higher level; it is valuable to attend a liberal arts college well known by graduate admissions officers if one is going on to a specialized graduate education in fields connected with oneތs undergraduate specialty, but it gives no special advantage, and may even be counterproductive, if one immediately enters the labor force. Educational credentials should be regarded as a particular kind of Zelizer currencies valuable in specific circuits of exchange but not in others.“ (Ebd.: 19)
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noch in ganz spezifischen sozialen Kontexten und sie lassen sich nicht mehr direkt in soziale Ehre konvertieren. Dasselbe gilt nach Collins auch für großen Reichtum, der beispielsweise auf den Finanzmärkten erworben wurde. Er beschreibt diesen Bereich der Ökonomie als speziellen „Zelizer Circuit“, der sich relativ isoliert von der restlichen Ökonomie reproduziere und sich ebenfalls nur noch sehr begrenzt in soziales Prestige konvertieren lasse. Großer Reichtum, beruflicher Erfolg oder organisationale Macht ließen sich auch deshalb nur noch schwer in soziales Ansehen transferieren, weil diese Merkmale der Individuen nur noch einem engen Kreis anderer Individuen desselben Felds bekannt sind. Die daraus resultierende „evaporation of deference cultures“ lässt sich nach Collins auch sehr gut an der Unübersichtlichkeit öffentlicher Interaktionen ablesen: „High-ranking government officials, corporate executives and entertainment celebrities are targets of public scandals involving their sexual lives, employment of housekeepers, use of intoxicants and efforts at privacy; social eminence far from providing immunity for petty derelictions open up the high ranking for attacks by lower-ranking functionaries. A muscular black youth wearing baggy pants and hat turned backwards and carrying a boom box playing angry-voiced rap music, dominates the sidewalk space of a public shopping area while middle class whites palpably shrink back in deference. In public meeting when women and ethnic minorities take the role of spokespersons and denounce social discrimination of their group, white men of the higher social classes sit in embarrassed silence or join in a chorus of support; in public opinion-expressing and policy-making settings it is the voice of the underdog that carries moral authority“ (Collins 2000: 17).
Randall Collins zeichnet hier das Bild einer Gesellschaft, die in der Interaktion Statusvergleiche eher zu vermeiden versucht, da sie letztlich keine verbindliche Statusordnung – als transitiv eindeutige Hierarchie der sozialen Ehre – mehr besitzt. Unter diesen sozialen Bedingungen wird es gefährlich öffentlich Rangsprüche zu kommunizieren, da man nicht wissen kann, wie diese Statuskämpfe letztlich ausgehen werden. Er versucht diese Veränderungen auch an zwei interessanten Testfällen zu verdeutlichen: Erstens an unserem Umgang mit der letzten Gruppe, die über einen öffentlich bekannten Status verfügt (den Medienprominenten), und zweitens an den wenigen Gruppen, die in ihren Kontakten noch großen Wert auf die „deference culture“ legen, den Jugendlichen und den Ghettobewohnern. Zwar seien die Medienprominenten die letzte Gruppe, die noch Anspruch auf öffentliche Ehrerbietung erheben könnten, doch unser Verhältnis zu dieser Elite sei eben nicht mehr durch großen Respekt und ehrerbietige Dis-
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tanz gekennzeichnet, sondern durch Aufdringlichkeit, Neugier und gesuchte soziale Nähe. „They (die normalen Sterblichen, Anmerkung des Autors) treat them less like aristocracy than like a totemic animal in a tribal society. The analogy is fitting since totemism is the religion of internally egalitarian groups, and the modern public is egalitarian. Touching the celebrity and carrying away a bit of him or her fits Durkheimތs description of how people behave in the presence of sacred objects, drawn in magnetically to share in a portion of collective mana.“ (Ebd.: 30)
Die Jugendlichen in ihren überaus statusbewussten Schulkulturen wie die Bewohner der Ghettos lebten hingegen in kleinen lokalen „status goldfishbowls“. Die Statusbesessenheit beider Gruppen sei aber gerade Ausdruck sozialer Exklusion. Die Jugendlichen seien eine der wenigen askriptiv exkludierten Gruppen, die lediglich aufgrund ihres biologischen Alters von einer vollen Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen würden. Wie die Ghettobewohner hätten sie in Reaktion auf diesen sozialen Ausschluss mit der Entwicklung einer komplexen Gegenkultur reagiert. Im Fall der Ghettobewohner komme noch erschwerend die lokale Abwesenheit eines starken Staates dazu, der das territoriale Gewaltmonopol ausübe. Die aufwendig inszenierten Ehrerbietungsrituale signalisieren die Bereitschaft, individuelle Rechte zur Not auch mit Gewalt persönlich durchzusetzen. Es sei deshalb nicht erstaunlich, dass man hier wieder die Selbstdarstellungstechniken vormoderner Kriegerkasten wiederfinde. Die Jugendlichen und die Ghettobewohner seien die beiden letzten verbliebenen Statusgruppen. Randall Collins hat in „Situational Stratification“ mit sehr überzeugenden Argumenten das Konzept der Statusgruppe aus der Mobilitätsanalyse verabschiedet. Damit fällt aber auch das Modell einer konsistent mit konflikttheoretischen Mitteln gebauten Analyse des Statuszuweisungsprozesses in sich zusammen, weil das Fundament in einer starken Terminologie sozialer Schichtung nun entfernt worden ist. Dies ist sicher nicht das einzige Argument, dass sich gegen das Modell der „Credential Society“ anführen lässt. Trotz einer stetig fortschreitenden Bildungsexpansion mit annähernd globaler Verbreitung lässt der Kollaps des Zertifikationswesens weiterhin auf sich warten. Zwar haben die Bildungszertifikate teilweise an Einfluss auf den Statuszuweisungsprozess verloren (Goldthorpe/Breen 2001, Goldthorpe/Jackson/Mills 2005), doch die Nachfrage nach Bildungszertifikaten hat darunter nicht gelitten. An dieser Stelle ist es auch sinnvoll, an Goldthorpes Argument gegen die Theorie sozialer Schließung zu erinnern, die auch der „Credential Society“ zugrunde liegt. Die empirisch feststellbaren Muster moderner Mobilitätsstrukturen sprechen eben nicht nur gegen das
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Meritokratiemodell, sondern auch gegen das Modell sozialer Schließung. Denn auch Collins geht davon aus, dass der Mechanismus sozialer Schließung große soziale Kohäsion voraussetzt, die sich wiederum nur in sozial sehr homogenen Gruppen erwarten lässt. Wie auch immer man die sozialen Klassen der modernen Gesellschaft abgrenzt, sie weisen immer eine ziemlich heterogene soziale Rekrutierungsbasis auf. Dennoch beeindruckt Randall Collins Sturmlauf gegen das Meritokratiemodell noch heute. Dabei sollte vor allem ein Punkt zum Schluss noch herausgehoben werden. Randall Collins ist neben Simmel einer der wenigen Autoren, der ganz direkt mit den beiden wahrscheinlich wichtigsten Annahmen im Meritokratiemodell bricht. Das Meritokratiemodell geht davon aus, dass die Rekrutierungsrationalität in den Funktionssystemen und ihren Arbeitsorganisationen das zentrale Bezugsproblem der modernen Gesellschaft darstellt. Außerdem beruht das Meritokratiemodell auf der Annahme der Knappheit des Talents. Die hochgetriebenen Erwartungen an die Rationalität des Statuszuweisungsprozesses beruhen letztlich auf diesen beiden Annahmen. Die moderne Gesellschaft muss die richtigen Personen für die wichtigsten Positionen finden und diese Personen sind Mangelware. Randall Collins zeigt hingegen gerade in seinen organisationssoziologischen Ausführungen den geringen Rationalisierungsgrad von Personalentscheidungen auf. Er zeigt anhand einschlägiger organisationsoziologischer Studien, wie zufallsabhängig und unvorhersehbar diese Karrieren verlaufen. Die Organisationen scheinen die Rationalitätsdefizite ihrer Personalentscheidungen trotzdem gut verkraften zu können. Zudem beruht seine Theorie sozialer Schließung direkt auf der Annahme, dass die über Bildungszertifikate oder andere Kategorien organisierten Segmentierungen des Arbeitsmarkts zu völlig künstlichen Knappheiten führen. Eigentlich wären die meisten abhängig Erwerbstätigen sehr viel austauschbarer, als sie es faktisch sind. Das ist eine ganz entschiedene Absage an die Annahme der Knappheit des Talents, die sich in dieser Deutlichkeit sonst nur bei Simmel findet. Simmel stellt das Meritokratiemodell auf den Kopf. Simmel schließt von der Zufälligkeit und Irrationalität des Statuszuweisungsprozesses auf den Überfluss des Talents für Führungsaufgaben. „Bedenkt man die unsinnigen und unkontrollierbaren Zufälle, durch die die Menschen auf allen Gebieten in ihre Positionen gelangen, so wäre es ein unbegreifliches Wunder, dass nicht eine sehr viel größere Summe von Unfähigkeit in deren Ausfüllung hervortritt, wenn man nicht annehmen müsste, dass die latenten Qualifikationen für die Stellungen in sehr großer Verbreitung vorhanden sind.“ (Simmel 1992: 281) Für Simmel ist es viel plausibler, davon auszugehen, dass viele normale Arbeiter mindestens ebenso gute Unternehmer, viele gemeine Soldaten bessere Offiziere und viele Untertanen bessere Fürsten wären, weil nur diese Schwemme
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für Führungsaufgaben geeigneter Personen erklären könne, weshalb bei aller Ineffizienz und Irrationalität des Statuszuweisungsprozesses doch die meisten Mitglieder der funktionssystemspezifischen Eliten einigermaßen mit ihrem Amt zurechtkämen. „Dies ist das tiefere Recht des Sprichwortes: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu. Denn der zur Ausfüllung höherer Stellungen erforderte Verstand ist eben bei vielen Menschen vorhanden, aber er bewährt, entwickelt, offenbart sich nur erst, wenn sie die Stelle einnehmen.“ (Ebd.: 281)
Pierre Bourdieu „Die Individuen verändern ihre Position im sozialen Raum nicht aufs Geratewohl: nicht nur setzen sich – vermittels zum Beispiel der objektiven Eliminierungs- und Orientierungsmechanismen – ihnen gegenüber die jenen Raum strukturierenden Kräfte durch; sie selbst opponieren diesen Kräften aufgrund ihrer spezifischen Trägheit oder Eigenladung, d. h. ihrer Merkmale, die in inkorporierter Form, als Einstellung, und objektiviert, in Gestalt von Gütern, Titeln vorliegen können. Einem bestimmten Umfang ererbten Kapitals entpricht ein Bündel ungefähr gleich wahrscheinlicher, zu ungefähr gleichwertigen Positionen führender Lebensläufe – das einem bestimmten Individuum, objektiv gegebene Möglichkeitsfeld. PIERRE BOURDIEU/DIE FEINEN UNTERSCHIEDE
D IE S OZIALTHEORIE B OURDIEUS In vielen Hinsichten scheint Pierre Bourdieu sogar ein noch radikalerer Vertreter der konflikttheoretischen Tradition als Randall Collins zu sein. Einerseits ist Pierre Bourdieu ein konsequenter Vertreter der konflikttheoretischen Schichtungstheorie und er wendet diese ebenso radikal auf das Meritokratiemodell an wie Randall Collins. So sieht er in den Bildungszertifikaten eine Form des institutionalisierten kulturellen Kapitals, das vor allem der sozialen Schließung dient (Bourdieu/Passeron 1971, Bourdieu/Boltanski/Maldidier 1981, Bourdieu 2004). Die eigentliche Funktion des Feldes der Erziehung sieht Bourdieu in der Repro-
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duktion der Klassenstruktur von einer Generation zur nächsten. Doch Bourdieu macht auch in den feldspezifischen Berufskarrieren herkunftsbedingte Effekte aus (Bourdieu 1987b, Bourdieu 1988, Bourdieu 1999). Wie Randall Collins scheint Pierre Bourdieu vollständig mit der Logik des Meritokratiemodells zu brechen, das bei Bourdieu dann auch als normatives Ideal abgelehnt wird. Doch Bourdieu hat eben nicht nur eine äußerst einflussreiche Schichtungstheorie entwickelt, sondern mit seiner Theorie sozialer Felder auch eine komplexe, gut ausgearbeitete Differenzierungstheorie vorgelegt (Bourdieu/Wacquant 1996: 124ff.). Bourdieus Differenzierungstheorie ist dabei interessanterweise eben auch konsequent konflikttheoretisch gebaut. Hier streiten die Akteure um feldspezifische Kapitalsorten wie wissenschaftliche oder künstlerische Reputation oder um politische oder religiöse Ämter. Bourdieu geht davon aus, dass alle Strukturen der Felder – ihre Grenzziehungen zwischen den dazugehörigen Individuen und den Exkludierten, die Relationen der feldspezifischen Positionen und die Regeln nach denen das feldspezifische Kapital verteilt wird – das Ergebnis der vergangenen Kämpfe im Feld sind (Bourdieu 1998b: 18ff.). Bei Bourdieu bietet es sich an, auf der Ebene seiner allgemeinen Sozialtheorie zu beginnen, da diese auch die Grundlage für sein Modell des Statuszuweisungsprozesses liefert. Bei Bourdieu steht dabei das Verhältnis der Individuen zu den Makrostrukturen sozialer Schichtung und der differenzierten Felder im Vordergrund, das er in Richtung eines deutlichen Makrodeterminismus auflöst (Bourdieu 1993, Bourdieu/Wacquant 1996: 147). Ich werde deshalb zunächst Bourdieus Theorie dieser beiden Makrostrukturen darstellen und nachzeichnen, wie sie sich im Verhalten der Individuen niederschlagen. Bourdieu hat für dieses Theorieproblem sein Konzept des Habitus entwickelt, das jeweils ein bestimmtes Ensemble unbewusster inkorporierter Wahrnehmungs- und Kognitionsschemata bezeichnet, das durch die der Klassenlage oder den Feldpositionen entsprechenden Handlungsbeschränkungen und Handlungsgelegenheiten erzeugt wird und es den Individuen ermöglicht, sich in ihrem jeweiligen Umfeld blitzschnell zu orientieren. Anschließend werde ich die Perspektive wechseln und darstellen, wie Bourdieu erklärt, dass die Individuen durch ihr Handeln diese Strukturen hervorbringen. Bourdieus Modell sozialer Praxis gehört sicher zu den raffiniertesten sozialtheoretischen Theorieangeboten, das bis heute aber sehr kontrovers diskutiert wird. Bourdieu beschreibt die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft als sozialen Raum, der vor allem durch den Umfang und die Zusammensetzung des Kapitals der Individuen bestimmt ist (Bourdieu 1987a: 195ff.). Vor allem
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zwei Kapitalsorten bestimmen diesen Raum, das ökonomische und das kulturelle Kapital – hier vor allem Geld und Bildungszertifikate.1 Der Umfang des individuellen Kapitals bestimmt die Klassenlage – Arbeiterklasse, Kleinbürgertum oder Bourgeoisie –, wohingegen das Verhältnis von ökonomischem und kulturellem Kapital über die Zuordnung zu bestimmten Klassenfraktionen entscheidet. Die Verortung der Individuen im sozialen Raum schlägt sich bei Bourdieu aber, wie bereits angedeutet, nicht nur im Opportunity-Set der Individuen nieder, sondern als beständig wirkendes Kräfteverhältnis soll es zur Internalisierung schichtspezifischer Wahrnehmungs- und Kognitionsschemata führen. Diese Internalisierung der schichtabhängigen Zwänge prägt eben auch die Motive und Präferenzen der Individuen und sorgt dafür, dass der Schichtstatus das Handeln der Individuen in den verschiedensten Kontexten beeinflusst. Dennoch legt Bourdieu großen Wert auf die Feststellung, dass die Klassen nicht als kollektiv handlungsfähige Kollektive behandelt werden dürfen. „Sie bildet keine reale, effektive Klasse im Sinn einer kampfbereiten Gruppe; sie ist, strenggenommen, lediglich eine wahrscheinliche Klasse, das heißt eine Gesamtheit von Akteuren, deren Mobilisierung im Verhältnis zu jeder anderen nur weniger objektive Schwierigkeiten bereitet.“ (Bourdieu 1985: 12)
Es handelt sich einerseits um ein analytisches Konzept, da die Klassenstruktur nur für den statistisch arbeitenden Soziologen sichtbar wird. Andererseits geht Bourdieu davon aus, dass die Individuen je nach Klassenlage über einen spezifischen Habitus verfügen, der ihre Wahrnehmung der Welt steuert und ihnen einen sicheren „Sense of Place“ verleiht. Bourdieu erklärt die Seltenheit von öffentlichen Statuskämpfen gerade dadurch, dass die Individuen immer schon wissen, in welchem Verhältnis sie sich gegenüber den Individuen der anderen Klassen befinden. Bourdieu versteht sein Konzept des sozialen Raums somit immer auch als Herrschaftssoziologie, weil die Verteilung des ökonomischen und des kulturellen Kapitals mit der Verteilung des symbolischen Kapitals – dem Einfluss auf
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Bourdieu hat daneben noch das Konzept des Sozialkapitals entwickelt, das die instrumentellen Netzwerke der Individuen beschreibt. Die typische Homophilie in der Netzwerkbildung sorgt aber dafür, dass die Verteilung des Sozialkapitals der Verteilung des ökonomischen und kulturellen Kapitals folgt. Die Berücksichtigung des Sozialkapitals würde an der Struktur von Bourdieus allgemeinen Modells der Klassenstruktur nichts ändern, das deshalb die typische chiastische Struktur mit nur zwei Polen aufweist (Bourdieu 1987a: 212).
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die legitime Einteilung der Welt – korreliere (Bourdieu 1985: 15ff.). Die drei Klassen befinden sich also bei Bourdieu in einer eindeutigen Rangstruktur, die allerdings so gut wie nie offen thematisiert werden müsse, da die Individuen ihren Platz in der Ordnung kennen. Die Individuen, bei denen das ökonomische Kapital dominiert, bilden die herrschende Fraktion der herrschenden Klasse und die Individuen, bei denen das kulturelle Kapital dominiert, gehören der beherrschten Fraktion der herrschenden Klasse an. Da Bourdieu außerdem davon ausgeht, dass sich der Habitus direkt in die Körper einschreibt, werde diese Herrschaftsstruktur in naturalisierter Form an den Körpern öffentlich sichtbar und gewinne daraus den Anschein ihrer selbstverständlichen Alternativlosigkeit. Am deutlichsten hat Bourdieus dieses Konzept in seiner großen kultursoziologischen Konsumsoziologie „Die feinen Unterschiede“ herausgearbeitet (Bourdieu 1987a). Bourdieu arbeitet hier einerseits mit einer eher materialistischen Variante, nach der der Umfang des Kapitals sich bei den Arbeitern als Notwendigkeitsgeschmack2 und in der Oberschicht gerade als Distanz zur Notwendigkeit und als Befähigung zur Selbstvertagung und zum Triebaufschub niederschlägt. Der schichtspezifische Habitus schlägt sich aber nicht nur in der Wahrnehmung und Bewertung der Konsumgüter nieder, er leitet eben auch die Wahrnehmung, Verortung und Bewertung anderer Akteure. An dieser Stelle bringt Bourdieu eine kulturalistische Version ins Spiel, in der die Konsumentscheidungen immer auch genutzt werden, um den eigenen Status gegenüber anderen vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Bourdieu hat hier eine Theorie der Distinktionstechniken der verschiedenen Klassen entwickelt. Elster hat die kulturalistische Versionen dafür kritisiert, dass sie alle Individuen in Snobs verwandele, die Konsumentscheidungen nur noch an Statuskonkurrenzgesichtspunkten orientierten.3 Der Lebensstilforscher Jörg Rössel hat Bourdieus Lebensstilsoziologie dahingegen relativiert, dass die Lebensstile der Individuen keine strikte Homologie
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Die Knappheit und Unregelmäßigkeit des Einkommens soll hier zu einem Habitus des realistischen Hedonismus führen. Bourdieu setzt hier in Elsters Terminologie voll auf das Konzept adaptiver Präferenzen (Bourdieu 1987a: 616).
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Elster vermutet hier auch eine Übergeneralisierung des Kleinbürgerhabitus. Nur der Kleinbürger, der einerseits aussichtslos Anschluss nach oben sucht und sich eben so verzweifelt nach unten abzugrenzen versucht, sei aufgrund seiner Klassenlage zur zwanghaften Distinktion disponiert. Die Mitglieder der Oberschicht erzeugten ihre Distinktionseffekte vor allem als nichtintendierten Side-Effect. Sie heben sich von den anderen Klassen einfach dadurch ab, dass man ihnen ansehe, dass hier über Knappheiten kaum nachgedacht werde (Elster 1981: 12).
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mit der Schichtzugehörigkeit aufweisen4, aber der Schichtstatus sich immer noch in den alltagsästhetischen Schemata niederschlage, aber natürlich auch in den klassenspezifischen Budgetbeschränkungen wirksam werde. Bourdieus Felder wiederum grenzen sich innerhalb des allgemeinen sozialen Raums ab und sie brechen und limitieren die Kräfteverhältnisse, die sie umgeben. Die Felder differenzieren sich als Kampf um ganz spezifische Kapitalsorten wie wissenschaftliche Reputation, religiöses Charisma, politische, religiöse oder universitäre Ämter oder ökonomisches Kapital aus. Sie entwickeln ihr eigenes Positionssystem und ihre eigenen Regeln der Kapitalverteilung. Der Eintritt ins Feld setzt einerseits eine feldspezifische Investition, das „enjeu“, voraus und andererseits die Bekehrung zur feldspezifischen „illusio“, also zu den feldspezifischen Dissimulationszwängen5 und Legitimationsmythen. Gerade das „enjeu“ bindet das Individuum ans Feld, da diese Investition sich nicht mehr verlustlos aus dem einen Feld in ein anderes transferieren lässt. Das Individuum, das sich ins Feld begibt, um dort eine feste Position zu übernehmen, wird auch hier den typischen Sozialisationsprozessen unterzogen, d.h. es wird mit der Zeit einen feldspezifischen Habitus entwickeln. Es muss seine Bedürfnisstruktur den Belohnungen des Feldes anpassen, ein habituelles Gespür für die Kräfteverhältnisse im Feld und deren Entwicklungstendenzen entwickeln. In den feldinternen Kämpfen setzen sich dabei vor allem die Individuen durch, deren Dispositionen am besten zu den Positionen und ihren Anforderungen passen. Bourdieu arbeitet dabei mit einem Konzept der relativen Autonomie, dass neben vollkommen autonomen Feldern wie der Mathematik Fälle wie das Feld der Erziehung vorsieht, deren feldspezifische Regeln der Kapitalverteilung so schwach formalisiert sind, dass sich externe Einflüsse wie die Kräfteverhältnisse des allgemeinen sozialen Raums fast ungebrochen durchsetzen können. Um diese große Variationsbreite unterschiedlicher Feldstrukturen unter einem Begriff zusammenfassen zu können, muss Bourdieu seinen Feldbegriff sehr vorsichtig definieren. „Es mag gefährlich nach einer Tautologie klingen, aber ich kann nur sagen, dass man ein Feld als einen sozialen Raum verstehen kann, in dem ein Feldeffekt wirksam ist,
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Nicht zuletzt deshalb, weil der Lebensstil auch durch Variablen wie Stadt/Land, Alter, Form des Haushalts (Single, Paar, Familie), Geschlecht und vielen anderen beeinflusst wird (Rössel 2005: 262ff.).
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Dies gilt vor allem für die autonomeren Felder der kulturellen Produktion wie Wissenschaft oder Kunst. Diese Felder setzen voraus, dass man die „Illusion“ aufrechterhält, dass es allen Beteiligten nur um die Wahrheit oder die Schönheit geht (Bourdieu 1998b: 27, Bourdieu 1999: 134ff.).
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so dass sich das, was einem Objekt widerfährt, das durch diesen Raum hindurchgeht, nicht vollständig durch seine intrinsischen Eigenschaften erklären lässt.“ (Bourdieu/Waquant 1996: 131) Ich habe bisher Bourdieus Theorie aus der Perspektive der Makroebene dargestellt, indem ich rekonstruiert habe, wie sich nach Bourdieu die Makrostrukturen im Handeln der Individuen niederschlagen. Ich möchte jetzt die Perspektive wechseln und rekonstruieren, wie die Individuen nach Bourdieu die Makrostrukturen durch ihr Handeln reproduzieren. Dieser Schritt ist notwendig, weil Bourdieu weder dem allgemeinen sozialen Raum noch den Feldern den Status sich selbstreproduzierender Systeme zubilligt. Bourdieu hat deshalb eine eigene Theorie sozialer Praxis entwickelt, die die Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung erklären soll. Bourdieu verwendet dabei den Strukturalismus und die Rational-Choice-Theorie als zwei Orientierungsmarken, an denen er seine eigene Position verdeutlicht. Bourdieu verwirft am Strukturalismus die Idee eines Kollektivbewusstseins, das das Handeln der Akteure ohne deren Wissen steuert.6 Der Strukturalismus sei der Versuchung erlegen, die eigenen Modelle direkt in die soziale Welt zu projizieren, und habe damit gerade die Logik der Praxis mit ihrer notwendigen Unschärfe und ihrem Egoismus verpasst (Bourdieu 1997: 70). Stattdessen müsse man von Individuen ausgehen, die durch die ständig auf sie einwirkenden Kräfteverhältnisse so geformt werden, dass sie das zu lieben lernen, zu dem sie sowieso verurteilt sind.7 Bourdieu schließt dabei nicht aus, dass bestimmte Bedingungen in einem Feld zur Entstehung eines starken Korpsgeistes bei den beteiligten Akteuren führen können. Dieser Fall trete ein, wenn die Individuen fast vollständig von einer bestimmten Institution oder Organisation wie der Kirche oder einer Partei abhängen (Bourdieu 1997: 204). Während der Strukturalismus die Logik der Praxis durch seinen Objektivismus verpasse, irre
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Diese objektivistische Mischung aus Kollektivismus und Mentalismus bei Levi-
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„Das soziale Altern stellt nichts anderes dar als diese langwährende Trauerarbeit,
Strauss wird sehr gut von Andreas Reckwitz (2000: 230) darsgestellt. oder, wenn man mag, die (gesellschaftlich unterstützte und ermutigte) Verzichtsleistung, welche die Individuen dazu bringt, ihre Wünsche und Erwartungen den jeweils objektiven Chancen anzugleichen und sich in ihre Lage zu fügen: zu werden, was sie sind, sich mit dem zu bescheiden, was sie haben, und wäre es auch nur dadurch, dass sie (in stillem Einverständnis mit dem Kollektiv) hart daran arbeiten müssten, um sich selbst darüber zu täuschen, was sie haben, um all die nach und nach zurückgelassenen Möglichkeiten und alle als nicht realisierbar hingenommenen, weil unrealisiert gebliebenen Hoffnungen zu begraben.“ (Bourdieu 1987a: 189)
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die Rational-Choice-Theorie auf der Seite des Subjektivismus. Wenn der Strukturalismus die Akteure in willenlose Marionetten verwandele, übersehe die Rational-Choice-Theorie die Trägheit des Sozialen, die beispielsweise im Habitus der Akteure als verkörperte Geschichte vergangener Kämpfe wirksam werde. Die RCT erzeuge deshalb eine völlig unrealistische Vorstellung von der Freiheit zur rationalen Wahl. Das Paradigma der rationalen Wahl übersehe dabei, dass das Handeln der Akteure vorwiegend von Routinen bestimmt werde. Nur so sei die flüssige Koordination verschiedener Akteure im Alltag denkbar. Da Routinisierung auch kognitiv entlastend wirkt, stelle sich auch das Simon-Problem der kognitiven Überforderung nicht mehr. Nur das routinisierte Handeln könne außerdem erklären, wie es den Individuen in den Feldern der kulturellen Produktion gelinge, Interessen zu verfolgen und dabei gleichzeitig den Dissimulationszwängen in diesen Feldern gerecht zu werden. Bourdieu geht davon aus, dass die bewusste Kalkulation der Interessen am Handeln notwendigerweise sichtbar werde und deshalb mit den Dissimulationszwängen in den Feldern kollidiere. Nur das Konzept des halbbewussten Routinehandelns könne dieses Dilemma vermeiden. So geschickt Bourdieu darin ist, seine eigene Theorie als Königsweg zwischen dem „objektivistischen“ Strukturalismus eines Levi-Strauss und dem „Subjektivismus“ der RCT darzustellen, so bleiben doch berechtigte Zweifel bestehen, ob ihm dies letztlich gelungen ist. Schließlich unterscheidet Bourdieu selbst zwischen den „objektiven“ sozialen Strukturen, die er vor allem aus seinen statistischen Modellen gewinnt, und dem „subjektiven“ Habitus. Das Verhältnis dieser beiden Konzepte wird als Homologie von Position und Disposition dargestellt (Bourdieu 1997: 199ff.). Die Akteure passen ihre Ambitionen den „objektiven“ Wahrscheinlichkeiten des allgemeinen sozialen Raums oder der spezifischen Felder an. Aus handlungstheoretischer Perspektive kritisiert Richard Jenkins beispielsweise die eigenwillige Verschmelzung der Terminologie unbewussten routinegesteuerten Verhaltens mit der entgegengesetzten Terminologie strategischen Verhaltens (Jenkins 2002: 83). Diese Kritik wird sicher dadurch relativiert, dass die Rational-Choice-Theorie auf dieselben Probleme aufläuft, wenn sie die Routinehaftigkeit sozialen Handelns rekonstruieren will.8 In der Tat kann man aber schnell den Eindruck gewinnen, dass Bourdieu dazu tendiert, die eigenen Daten zu objektiven Strukturen zu reifizieren, die dann wiederum als Habitus in die Köpfe der Akteure projiziert werden.
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So verlegt Hartmut Esser die routinisierten Wahrnehmungs- und Kategorisierungsprozesse auf die Ebene der Neurophysiologie (Schneider 2002: 139).
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Jenkins stößt dabei aber auf ein noch viel problematischeres theoretisches Verwandtschaftsverhältnis: Bourdieu verwendet oft Formulierungen, die dem Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons erstaunlich ähnlich sind. Man denke nur an Parsons Konzept der „need dispositions“, das die kulturelle Prägung der biologischen Triebe bezeichnet, und vergleiche es mit dem Konzept des Habitus. Zwar stellt Parsons mehr auf die Internalisierung von Normen ab und Bourdieu mehr auf die Internalisierung kognitiver Schemata und die Habitualisierung von Routinen.9 Doch beide Konzepte laufen darauf hinaus, dass die Präferenzen und Motive der Individuen mit den Anforderungen in den Rollen oder Positionen weitestgehend übereinstimmen. „If there ever was an oversocialised concept of man to appropriate Dennis Wrongތs indictement of structural functionalism, it is Pierre Bourdieuތs. Any substantial deviance from the imperatives of the habitus is so inconceivable that he does not even consider it.“ (Ebd.: 97)
Wrong hat übersozialisierte Menschenbilder durch zwei Merkmale charakterisiert: Sie überbetonen erstens den Grad an Konformismus, der durch die Internalisierung gesellschaftlicher Normen erzeugt wird, und sie überbetonen zweitens den Grad an Konformismus, der durch das soziale Bedürfnis der Anerkennung durch andere erzeugt wird (Wrong 1961). Man muss bei Bourdieu nicht lange suchen, um für beide Argumentationsfiguren eine Vielzahl an Belegen zu finden. An die Stelle der Internalisierung gesellschaftlicher Normen tritt bei Bourdieu die Theorie adaptiver Präferenzen. Doch man findet auch viele Belege für starke Thesen der Disziplinierung durch die Anerkennung wichtiger Bezugspersonen. So charakterisiert Bourdieu das Verhältnis des Kindes in der Familie folgendermaßen:
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Diese konzeptuelle Differenz wird vor allem von Andreas Reckwitz (2000: 123-147) herausgestellt. Die Differenz fällt aber bei genauer Betrachtung doch kleiner aus, als man nach dieser Darstellung vermuten würde. Denn Parsons geht ebenfalls davon aus, dass die Individuen kognitive und expressive Symbole internalisieren müssen, um sich in der Welt zurechtzufinden. Während Parsons sicher den evaluativen Symbolen (normativen Mustern) die größte Bedeutung zuschreibt, setzt die neuere Kultursoziologie vor allem auf die kognitiven und expressiven Symbole. Auch hier scheint es sich eher um graduelle Differenzen handeln (Parsons/Shils 2001: 167ff.).
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„Tatsächlich wird es ständig dazu verleitet, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen, ihre Sicht zu übernehmen, um zu entdecken und im Vorgriff zu bewerten, wie es von ihnen gesehen und definiert werden wird: Sein Sein ist ein Wahrgenommenwerden, dazu verurteilt, durch die Wahrnehmung der anderen als das definiert zu werden, was es in Wahrheit ist.“ (Bourdieu 1997: 212) Es ist aber genau diese Phase, in der nach Bourdieu der gender- und klassenspezifische Habitus ausgebildet wird.
Dennoch wäre es unfair, Bourdieus Theorie umstandslos mit dem Strukturfunktionalismus gleichzusetzen. Denn Bourdieu ist in seinen Analysen immer wieder auf Fälle zu sprechen gekommen, in denen der Habitus der Individuen auf tragische Weise von den Anforderungen in ihren Positionen abweicht. Der Habitus erzeugt in diesen Situationen einen Hysteresiseffekt, da er als weitgehend konstante10 Persönlichkeitsstruktur sich auch unter veränderten Bedingungen reproduziert. Vor allem zwei Ursachen macht Bourdieu für Hysteresiseffekte verantwortlich: plötzlicher, extern erzeugter sozialer Wandel und soziale Mobilität. Bourdieu arbeitet mit einer probabilistischen Theorie, die nicht im einfachen Sinne deterministisch verstanden werden darf. Auch wenn Bourdieu davon ausgeht, dass nicht zuletzt infolge der schulischen Selektion die Herkunftsklasse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch die Klassendestination sein wird, so lässt schon das probabilistische Design der Theorie immer ein gewisses Maß an sozialer Mobilität erwarten.11 Der Aufsteiger oder der Absteiger, dem man das
10 Bourdieu geht davon aus, dass der Habitus durch die Änderungen im sozialen Raum und in den Feldern ständig modifiziert wird, dass er aber immer auch die Freiheitsgrade einschränkt, über die das Individuum verfügt sein Verhalten auf die veränderten Umstände einzustellen, da er auch die Wahrnehmung der Veränderung steuert (Bourdieu 1997: 207). 11 „Es liegt am statistischen Charakter der Relation von Startkapital und erreichtem Kapital, dass die Praxisformen nicht vollständig durch die Merkmale zu erklären sind, die eine zu einem bestimmten Zeitpunkt eingenommene Position im Sozialraum definieren. Sind die Angehörigen einer Klasse mit einem bestimmten ökonomischen und kulturellen Anfangskapital mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu einer sozialen oder schulischen Laufbahn verurteilt, die zu einer gegebenen Position führt, so bedeutet dies gleichzeitig, dass eine Fraktion der Klasse (die apriori nicht innerhalb unseres Erklärungssystems zu bestimmen ist) eine von der statistisch häufigsten Laufbahn der Gesamtklasse abweichende, entweder höhere oder niedere – für die Angehörigen einer anderen Klasse wiederum normale – Laufbahn einschlagen und so zwangsläufig nach oben oder unten aus ihrer Klasse ausscheiden muss“ (Bourdieu 1987: 190). Dieser
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Klettern ansieht und der sich in seiner neuen Position latent unwohl fühlt, ist in seinem Habitus eben nicht auf die Anforderungen in der Position eingestimmt (Bourdieu 1987: 190). Er begeht ständig Kategorienfehler und fühlt sich verloren. An einigen Stellen scheint Bourdieu aber die These zu vertreten, dass die mobilen Individuen, gerade weil es ihnen unmöglich ist, sich unbewusst in ihrem Feld zurechtzufinden, häufig über ein tragisches Bewusstsein der feldspezifischen Kräfteverhältnisse verfügen. „Wer in Positionen gelangt, deren Erreichen für ihn völlig unwahrscheinlich ist, unterliegt einem strukturellen Doublebind, der, wie im Fall Cladel, den mehr oder weniger prompten Hinauswurf aus der unmöglichen Stellung überdauern kann. Dieser widersprüchliche Doppelzwang verurteilt solche Wunderkinder zu Projekten von pathetischer Inkohärenz, zu selbstzerstörerischen Ehrenbezeichnungen gegenüber den Werten eines Universums, das ihnen jeglichen Wert abspricht, wie etwa das Unterfangen, halb Parodie, halb Zeugnis nicht zu unterdrückender, innerer Zugehörigkeit, in der Sprache des Leconte de Lisles von den Quercybauern zu sprechen.“ (Bourdieu 1999: 416)
Aber auch extern erzeugter sozialer Wandel kann Hysteresiseffekte zum Vorschein bringen. Bourdieu hat diese einerseits in seiner Studie zu den Heiratsregeln der Bauern im Béarn (Bourdieu 2008) und im Arbeitsmarktverhalten traditional sozialisierter Kabylen in Algerien sichtbar gemacht (Bourdieu 2000). Der Habitus der erstgeborenen Söhne im Béarn bringt diese dazu, sich selbst zu einem Leben als Single zu verurteilen, weil sie unter veränderten wirtschaftlichen Bedingungen an den alten Heiratsregeln festhalten. Die Studie „Die zwei Gesichter der Arbeit“ (Bourdieu 2000) analysiert die Probleme, die entstehen, wenn traditionell sozialisierte Kabylen mit den Anforderungen der modernen Arbeits-
Textausschnitt veranschaulicht gut die unglückliche Ehe von deterministischen Sprachgesten und nachträglicher probabilistischer Relativierung, die man bei Bourdieu häufiger findet. Die Individuen werden mit einer „gewissen“ Wahrscheinlichkeit zu einer typischen Laufbahn „verurteilt“, da es sich aber nur um Wahrscheinlichkeiten handelt, müssen einige Individuen „zwangsläufig“ irgendeine andere Laufbahn einschlagen. Die Bauchschmerzen nehmen zu, wenn man an Jencks‘ Befund denkt, nachdem die Varianz des Einkommens und des Berufsstatus der untersuchten Brüderpaare ungefähr 70 % der Varianz der Gesamtbevölkerung betragen hat. Man wüsste nur zu gern mehr über den Anteil der Varianz, die sich durch Bourdieus Modell erklären lässt, um abschätzen zu können, wie schicksalshaft das „Urteil“ zur typischen Laufbahn ist.
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märkte konfrontiert werden. Da Bourdieu den Habitus für die Reproduktion der Felder und des sozialen Raums verantwortlich macht, lassen sich bei Bourdieu zwei verschiedene Hysteresiseffekte ausmachen: einer, der daraus resultiert, dass mobile Individuen auf Stellen kommen, für die sie nicht geeignet sind, und einer, der daraus resultiert, dass bestimmte Felder oder gar der allgemeine soziale Raum aufgrund externer Einflüsse verändert wird, so dass die Diskrepanz von Position und Disposition zum allgemeinen Schicksal wird. Der erste Fall scheint für Bourdieu unproblematisch zu sein, da die Unangepasstheit des Aufsteigers die Überlegenheit derer bestätigt, die aufgrund ihrer Herkunft am richtigen Platz sind. Der zweite Fall tritt nur bei extremen Krisen ein und bleibt deshalb die Ausnahme. Bourdieu schwankt dabei immer zwischen einem klaren Makrodeterminismus, bei dem die Klassen und Feldstrukturen den Habitus der Individuen bestimmen, und einer handlungstheoretischen Erklärung. So kann sich Bourdieu eben nicht dazu durchringen, beispielweise die Felder als selbstreproduktive Ordnungen zu verstehen. Dabei hat Bourdieu selbst die große Nähe seines Feldbegriffs zum Systembegriff Niklas Luhmanns eingeräumt (Bourdieu/Wacquant 1996: 133ff.). Bourdieu weist die deutlichen Parallelen mit dem sehr knapp gehaltenen Argument zurück, dass die Systemtheorie ahistorisch und konfliktavers sei.12 Dieses Argument überzeugt schon deshalb nicht, da Luhmann über eine eigene komplexe Theorie sozialer Konflikte verfügt und historische Fragen sich durch sein ganzes Oeuvre ziehen. Diese Zuspitzung wäre nur dann statthaft, wenn man das Thema Konflikt auf den Spezialfall des Verteilungskonfliktes verengt und die Gesellschaftsgeschichte auf eine Abfolge von Verteilungskonflikten reduziert. Ohne Zweifel spielen bei Bourdieu Verteilungskonflikte eine sehr viel größere Rolle als bei Luhmann. Bourdieu versteht sein Konzept der feldspezifischen Kapitalformen immer auch als Mechanismus, mit denen die Akteure über die Resultate der eigenen und fremden Arbeit verfügen können. Doch seine feldspezifischen Konflikte sind in der Regel nicht vorrangig Verteilungskonflikte. So wird in der Wissenschaft vor allem über wissenschaftliche Programme wie Theorien und Methoden gestritten. Bourdieu hebt dabei sicher zu Recht hervor, dass diese Konflikte auch immer Verteilungsfragen aufwerfen.
12 In „Reflexive Anthropologie“ antwortet Bourdieu auf die Frage Wacquants, was denn seine Theorie der Felder von der Systemtheorie unterscheide mit der knappen Formel „In einem Feld gibt es Kämpfe, also Geschichte“ (ebd.: 133). Im Folgenden gibt er dann noch an, dass der Begriff des Feldes den Funktionalismus und den Organizismus ausschließe, verwendet aber zwei Seiten weiter selbst den Funktionsbegriff.
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Man denke nur an den Reputationsgewinn durch die Etablierung eines neuen Paradigmas. Dennoch führt Bourdieu seine Felder nie auf die Motive oder Präferenzen der Akteure zurück, stattdessen verwendet er Formulierungen, die sich nur noch marginal von der Systemtheorie unterscheiden: „Dabei gilt gleichermaßen, dass die Akteure sich der von einem Feld gebotenen Möglichkeiten zur Äußerung und Befriedigung ihrer Triebe und Wünsche, gegebenenfalls auch ihrer Neurose, bedienen und dass diese Felder ihrerseits die Triebe der Akteure nutzen und sie zur Unterwerfung und Sublimierung zwingen, damit sie sich den Strukturen und Zwecken des jeweiligen Feldes fügen.“ (Bourdieu 1997: 211)
Ungeachtet dieser theorietechnischen Probleme gelingen Bourdieu aber auf der Grundlage seiner Sozialtheorie sehr überraschende und kontraintuitive Analysen sozialer Prozesse. Die Stärken seines Modells werden immer dann am besten sichtbar, wenn er soziale Phänomene analysiert, bei denen es um soziale Kooperation unter erschwerten Bedingungen geht. Ein Motiv, dass in seinen Analysen sozialer Felder immer wieder auftaucht, verdeutlicht diese Stärke besonders gut: die Komplizenschaft scheinbarer Gegner. Gerade im „Homo academicus“ finden sich besonders gelungene Beispiele. Bourdieu beschreibt hier Konflikte zwischen wissenschaftlichen Positionen, die nur als zueinander gehörige Paare funktionieren, da der Reduktionismus der einen seine Bestätigung nur an den Reduktionismen der anderen findet. „Diese sozialen Gegensätze, die im Fall Frankreichs ihre besondere Intensität dem Umstand verdanken, dass das universitäre Feld jahrhundertelang von den Wertvorstellungen des literarischen Feldes beherrscht worden ist, fungieren ihrer inneren Beschaffenheit nach als ¸epistemologische Paare‘, die dadurch, dass sie den Eindruck erwecken, als wäre der Bereich des Möglichen allein durch diese beiden polaren Positionen abgesteckt, die Einsicht verhindern, dass jedes Lager die beste Rechtfertigung für die eigenen Beschränkungen allemal noch in den Beschränkungen des Gegners findet. Hier wie andernorts auch macht der Fundamentalismus die von den wirklichen oder unterstellten Anmaßungen und Keckheiten des Modernismus ermächtigten Leichtfertigkeiten geltend, um sich in seiner Unterwerfung unter die Routine zu bestätigen.“ (Bourdieu 1988: 190)
Diese Komplizenschaft kann nur dann gelingen, wenn sie völlig absichtslos und unkalkuliert erscheint. Man darf dabei die ernsthafte Empörtheit der konfligierenden Parteien nicht in Frage stellen, obwohl die Auseinandersetzung selbst bereits Routine geworden ist, die sich beliebig oft in unterschiedlichen Konstellati-
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onen wiederholen lässt. Denselben Mechanismus findet er in der intellektuellen Debattenkultur im Fernsehen wieder (Bourdieu 1998a: 41). So gelungen viele dieser Analysen sind, so skeptisch stimmt einen doch Bourdieus Tendenz zur Universalisierung dieser Formel. So beschreibt er auch die Herrschaftsstruktur im allgemeinen sozialen Raum als Komplizenschaft der Beherrschten mit den Herrschenden – also den Individuen der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums und den Individuen der Großbourgeoisie –, die bei aller offen gezeigten Feindseligkeit auf der freiwilligen Unterordnung der Beherrschten beruhen soll, die ihre eigene Inferiorität anerkennen (Bourdieu 1987: 601ff.). Man fragt sich bei der Lektüre dieser Textpassagen, wie ernst es Bourdieu mit seiner Konflikttheorie ist, wenn die Konfliktparteien letztlich meistens Komplizen sein sollen. Die Konflikttheorie, wie sie beispielsweise von Randall Collins vertreten wird, hebt einseitig den sozialen Wandel erzeugenden Effekt von Konflikten hervor, und verschweigt, dass Konflikte immer auch sozialen Wandel blockieren können. Dieser Einwand gegen die Konflikttheorie läuft gegen Pierre Bourdieu auf jeden Fall ins Leere. Bourdieu musste sich hingegen immer wieder gegen linke Kritiker verteidigen, dass seine Theorie letztlich eine konservativ-passive Haltung verstärke (Bourdieu/Acquit 1996: 231). Tatsächlich tendiert Bourdieu stark dazu, der Seite der unterlegenen Partei fast ausnahmslos den Habitus des vorauseilenden Gehorsams zu unterstellen, den diese sich selbst gegenüber nur dadurch verbergen können, dass sie stets bereit sind über unwichtige, aber symbolisch überhöhte Details zu streiten, was wiederum auf Seiten der Herrschenden immer schon unbewusst antizipiert würde und letztlich in diesen ritualisierten Konfliktspektakeln enden soll. Bourdieu hat aber in seinen Studien zu spezifischen sozialen Feldern auch noch einen weiteren Fall der Kooperation unter erschwerten Bedingungen untersucht, die Koordination der feldspezifischen Experten mit dem anonymen Publikum der Laien. Bourdieu fragt sich an diesen Stellen, wie kommerziell orientierte Schriftsteller es schaffen, den Geschmack eines Massenpublikums zu treffen, wie es für Kunstfragen zuständige Journalisten schaffen, sich zum Hüter des Publikums aufzuschwingen (Bourdieu 1999: 259), oder wie es demokratischen Politikern gelingt, die gesellschaftlichen Teilungsprinzipien zu erspüren, entlang derer sich bestimmte Bevölkerungsgruppen mobilisieren lassen (Bourdieu 2010: 116). Bourdieu geht davon aus, dass diese Koordinationsprozesse nur gelingen können, wenn sich zwischen den feldspezifischem Experten und ihrem Publikum deutliche Ähnlichkeiten im Habitus nachweisen lassen. Dabei hat Bourdieu aber eine weitere These zum Verhältnis feldspezifischer Experten und feldspezifischer Laien entwickelt, die ein weniger dramatisches Bild der Anforderungen in diesen Koordinationsprozessen zeichnet. Danach weisen die Vertreter der herr-
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schenden Fraktion der Bourgeoisie, wie auch die Kleinbürger und Arbeiter, beispielsweise einen sehr viel konventionelleren Geschmack auf als die kulturelle Fraktion der herrschenden Klasse oder das Publikum der anderen Feldexperten in einem sehr autonomen Feld. Das am schwierigsten zu gewinnende Publikum für den Künstler sind danach die anderen Künstler, denn diese fordern den ständigen Bruch mit den Konventionen des Feldes (Bourdieu 1999: 198). Das breite Publikum hingegen gibt sich danach schon mit sehr viel standardisierter Ware ab. Der Leser Bourdieus ist in einer komfortablen Situation, da Bourdieu seine Begriffsentscheidungen transparent begründet und offensiv verteidigt. Bourdieu neigt bewusst zu einem sehr expansiven Gebrauch bestimmter Argumente wie der Figur adaptiver Präferenzen oder der Figur der Gegner als Komplizen. Zusammen mit der ebenso bewusst in Kauf genommenen Tendenz zum Objektivismus, der sich beispielsweise in der Formel der Übereinstimmung „subjektiver“ Dispositionen und objektiver „Positionen“ zeigt, ahnt man recht schnell, wann man Bourdieus Darstellung auf die Gefahr der Übergeneralisierung dieser Konzepte befragen muss. Wie in allen wirklich originellen Theorieangeboten sind die Stärken von Bourdieus Ansatz eng mit seinen Schwächen verbunden.
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VON
S CHICHTUNG
An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wie Bourdieu das Verhältnis von Schichtung und Differenzierung – dem allgemeinen sozialen Raum und den differenzierten Feldern – konzipiert. Aus der Literatur zu diesem Thema lässt sich die Typologie von Theorien mit einem Primat von Schichtung, einem Primat von Differenzierung und Theorien ohne Primat entnehmen. Wie suchend und unentschlossen die Literatur zum Verhältnis von Schichtung und Differenzierung noch ist, lässt sich gut an der Kontroverse veranschaulichen, die über die Verortung von Pierre Bourdieu in dieser Typologie geführt worden ist. Dabei ist Bourdieu einmal für eine Theorie des Primats funktionaler Differenzierung reklamiert worden (Kieserling 2008) und einmal für eine Theorie ohne Primat (Petzke 2009). Pierre Bourdieu hätte ohne Zweifel eine Theorie des Primats funktionaler Differenzierung zurückgewiesen. Die Kontroverse über diese zwei möglichen Lesarten der Werke Bourdieus muss deshalb auf der Ebene der Implikationen grundlegender theorietechnischer Entscheidungen geführt werden. Dabei muss bei komplexen Theorien immer ein gewisses Maß an Mehrdeutigkeit unterstellt werden, das mehr als eine Lesart zulässt. Mir geht es im Folgenden nicht darum,
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diese Kontroverse mit philologischen Mitteln zu entscheiden, da mir beide Lesarten wichtige Aspekte von Bourdieus Werk kenntlich zu machen scheinen. Stattdessen möchte ich eine dritte Lesart vorstellen, aus der sich ein faszinierendes Modell der Statuszuweisung gewinnen lässt, das das Meritokratiemodell buchstäblich vom Kopf auf die Füße stellt. Zwei Konzepte Bourdieus stehen im Mittelpunkt der oben genannten Debatte, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen. Es handelt sich dabei einerseits um das Konzept der relativen Autonomie und andererseits um das Konzept der Homologie der Felder mit dem allgemeinen sozialen Raum. Bourdieu hat sich in vielen Passagen seines Oeuvres gegen rein externalistische Beschreibungen zur Wehr gesetzt, die die Dynamik sozialer Felder direkt auf die externen Klassenpositionen der Feldteilnehmer zurückführen. Er hat dabei immer wieder viel Mühe darauf verwandt, die Felder als autonome Mikrokosmen zu beschreiben. „Das Feld ist ein Universum mit eigenen Bewertungskriterien, die in einem anderen Mikrokosmos keine Gültigkeit haben. Ein Universum, das seinen eigenen Gesetzen gehorcht, die sich von den Gesetzen der gewöhnlichen sozialen Welt unterscheiden. Jemand, der in die Politik eintritt, muss, ebenso wie jemand, der in einen Orden eintritt, eine Konversion durchmachen, und auch wenn ihm diese nicht als solche erscheint, auch wenn sie ihm nicht bewusst ist, wird sie ihm stillschweigend aufgezwungen, andernfalls droht eine Niederlage oder der Ausschluss.“ (Bourdieu 2010: 97)
Bourdieu hat sich auch immer wieder klar gegen das marxistische Basis/Überbau-Modell ausgesprochen (Bourdieu/Wacquant 1996: 133). Da Bourdieu die Autonomie der Felder so stark macht, fragt man sich, wie Bourdieu daneben fast ebenso oft die These der Homologie der Felder mit den Strukturen des allgemeinen sozialen Raums vertreten kann (Bourdieu 1988: 139ff., Bourdieu 1987b: 846). Dies ist einer der Gründe, weshalb André Kieserling Bourdieu für eine Position des Primats funktionaler Differenzierung reklamiert. Ein gehaltvoller Begriff der Differenzierung eines Feldes setze automatisch die Neutralisierung von Schichtung in den Feldern voraus. Kieserling rechnet Bourdieu die These zu, dass die Felder den Einfluss der Klassen ins Privatleben zurückdrängen. „Die Theorie der autonom gewordenen Felder depotenziert den Klassenbegriff, indem sie den Bereich dessen, was sich mit seiner Hilfe soll aufklären lassen, gleichsam zusammenzieht. Um zu bestimmen, was nach dieser Kontraktion davon übrig bleibt, muss man sich nochmals die eigentümliche Spannweite des Feldbegriffs klarmachen. Auf Handlungen bezogen dürfte er große Teile dessen einschließen, was über Berufsrollen geordnet ist.
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Was der Feldbegriff nicht einschließt, ist das Privatleben der Rollenträger. Von ihm zu sagen, es sei undurchsichtig hinsichtlich der Klassenlage derjenigen, die es führen, wäre wenig plausibel.“ (Kieserling 2008: 12)
Aus dieser Perspektive erscheint es dann nicht weiter erstaunlich, dass die elaborierteste Darstellung seiner Klassentheorie sich in „Die feinen Unterschiede“ findet (Bourdieu 1987a). Bourdieu sehe die Autonomie der Felder denn auch weniger durch den Einfluss des klassenspezifischen Habitus der Feldteilnehmer, sondern durch die Dominanz anderer Felder wie der Ökonomie oder der Politik gefährdet. Kieserling stützt diese „starke“ These, durch eine Reihe weiterer Beobachtungen ab. So beobachtet er Bourdieus Verwendung typisch klassentheoretischer Termini wie Hierarchie, Konflikt und Revolution und versucht zu zeigen, dass diese bei Bourdieu nur in einem strikt differenzierungstheoretischen Sinn gebraucht werden. So weist er daraufhin, dass sich auch bei Bourdieu die feldspezifischen Hierarchien voneinander lösen – die erfolgreichen Wissenschaftler sind nicht mächtig, die politisch Mächtigen nicht sonderlich wohlhabend (Kieserling 2008: 8). Ebenso bildeten sich in den Feldern je besondere Konfliktlinien aus, die nicht miteinander versäult seien und sich ebenso wenig auf die Konfliktlinien zwischen den Klassen zurückführen ließen. Dasselbe gelte für den Revolutionsbegriff, den Bourdieu vor allem auf radikale Änderungen der Verteilungsregeln in den Feldern anwende. Bourdieus Entscheidung, seine Klassentheorie immer auch als Herrschaftstheorie zu fassen, gehört zu den Teilen in Bourdieus Werk, die sich dieser Lesart wohl am schlechtesten fügen. Kieserling löst dieses Problem durch einen Vergleich von Bourdieus Herrschaftstheorie mit denen, die im Rahmen des Neomarxismus entwickelt worden sind. Zu Recht weist er daraufhin, dass Bourdieus Feldtheorie keine Theorie der aktiven Oberschichtverschwörung trägt. Nach seiner Auffassung reduziert sich Bourdieus Herrschaftstheorie denn auch auf das Phänomen reiner Verteilungsprobleme. „Herrschende Klassen sind dann solche, deren Mitglieder mehr haben als alle anderen. Um dies auszudrücken, gibt es aber Begriffe, die weniger missverständlich sind.“ (Ebd.: 18) Martin Petzke hat nun darauf aufmerksam gemacht, dass Bourdieu mit seinem Konzept der relativen Autonomie gerade nicht von einer Neutralisierung, sondern nur von einer Brechung klassenabhängiger Einflüsse in den Feldern ausgeht. Bourdieu verstehe deshalb das Verhältnis von Schichtung und Differenzierung nicht als Nullsummenspiel, indem sich entweder die feldspezifischen Kräfte oder die klassenspezifischen Kräfte durchsetzen (Petzke 2009: 518). Stattdessen arbeite Bourdieu mit dem Konzept der Überdeterminierung, bei dem beispielsweise die feldspezifischen Karrieren sowohl durch die feldspezifischen
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Regeln der Kapitalverteilung, aber auch durch den klassenspezifischen Habitus beeinflusst werden können. Diese Überdeterminierung finde sich dabei nicht nur in den Feldern mit schwacher Autonomie, sondern auch in den Feldern mit starker Autonomie wie der Avantgardekunst. Zwar billige Bourdieu dem Feld der Mathematik eine fast vollständige Autonomie zu, doch das Feld der Mathematik nehme damit auch eine Sonderstellung in Bourdieus Feldtheorie ein. Bourdieus vertrete im Gegenteil viel häufiger die These der Homologie der Feldstrukturen mit den Machtstrukturen des allgemeinen sozialen Raums. Beleg dafür seien nicht zuletzt die zahlreichen Stellen in seinem Werk, in denen Bourdieu die Unterscheidungsprinzipien der klassenspezifischen Habitusformen in den wechselseitigen Bewertungen der Feldteilnehmer wiederfinde. Bourdieu gehe davon aus, dass die feldspezifischen Antagonismen wie die Differenz von wissenschaftlichem Prestige und universitärer Stellenmacht mit den oppositionellen Klassenschemata des allgemeinen sozialen Raums zueinander in Resonanz treten können. Gerade durch diesen Mechanismus erkläre Bourdieu die statistische Häufigkeit von Individuen mit einer bestimmten Klassenherkunft in bestimmten Stellen. Diese Resonanzbeziehungen führten unter anderem zur freiwilligen Selbstexklusion vieler Akteure, die sich aufgrund ihres klassenspezifischen Habitus in bestimmten Positionen fehl am Platz fühlten. Diese überschaubare Kontroverse ist in mehr als einer Hinsicht lehrreich. Bourdieu hat seine Theorie autonomer Felder sehr viel vorsichtiger gebaut, als man nach der Deutung André Kieserlings vermuten würde. Das Nebeneinander der Konzepte des autonomen Feldes und der Homologie von Feldern und allgemeinem sozialem Raum führt bei Bourdieu nicht direkt zu begrifflichen Inkonsistenzen, da Bourdieu von einem komplexen Wechselspiel der beiden Makrostrukturen Schichtung und Differenzierung ausgeht. Der klassenspezifische Habitus der Feldteilnehmer kann danach gerade in den feldinternen Gegensätzen und Hierarchien zum Ausdruck kommen, ohne diese aufzuheben oder zu instrumentalisieren. Die Felder können gerade, indem sie ihren internen Gesetzen und Bewegungsregeln folgen, die Strukturen des allgemeinen sozialen Raums reproduzieren und bestätigen. Eine rein an Bourdieus eigenen Begriffen ansetzende Lektüre verbirgt aber auch oft die Reibungen und Inkonsistenzen, die auch bei Bourdieu aus dem Nebeneinander von Schichtungstheorie und Differenzierungstheorie resultieren. Ich möchte dies zunächst an Bourdieus Konzept der relativen Autonomie demonstrieren, das bei allen Vorzügen auch eine ganze Reihe problematischer Konsequenzen aufweist. Zu den Vorzügen des Konzepts der relativen Autonomie gehört ohne Zweifel die Möglichkeit sich verschiedene Grade der Autonomie und Differenzierung eines Feldes vorstellen zu können. Es eröffnet die Möglichkeit das Phänomen
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feldspezifischer Autonomie nicht einfach als problemlos gegeben behandeln zu müssen, sondern mittels geeigneter empirischer Indikatoren gerade zum Gegenstand der Analyse machen zu können. Doch das Konzept hat, wie jede grundlegende begriffliche Entscheidung, auch ihre Schattenseite. Zum einen passt es schlecht zum eigentlichen Wortsinn von Autonomie, der eine Eigenschaft sozialer Phänomene bezeichnet, die man sich schlecht steigerbar vorstellen kann. Doch dieser Einwand wirkt weniger schwer, da die wissenschaftliche Analyse regelmäßig mit den Sprachkonventionen des Alltags brechen muss. Schwerer wiegt ein zweites Problem, das sich auch als Grenzstellenparadoxie fassen lässt, die man sich schnell einhandelt, wenn man Kontinua in digitale Unterschiede verwandelt. Die Auflösung eines dichotomischen Gebrauchs von Autonomie wirft eben die Frage auf, wie viel relative Autonomie noch gegeben sein muss, um nicht die Grenze zur Heteronomie zu überschreiten. Bourdieus Definition sozialer Felder, die er lediglich durch einen minimalen Feldeffekt bestimmt, bleibt an dieser Stelle gewollt eine Antwort schuldig. Ebenso fällt auf, dass Bourdieu Althussers Begriff des „Apparats“, der dem alten Basis/Überbau-Modell entspricht, zunächst ablehnt, um ihn dann in einer eigenwilligen Gegenbewegung aber als pathologischen Fall eines Feldes wieder einzuschließen (Bourdieu/Wacquant 1996: 133). Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Bourdieu wiederholt in das Problem gerät, zunächst viel Arbeit in die Ausarbeitung relativ autonomer Felder zu investieren, um diese dann bei der Berücksichtigung seiner Homologiethese wieder radikal in Frage zu stellen. Gerade die Ausarbeitung der Homologiethese führt dabei häufig zu Beschreibungen, die sich auch mit den Ergebnissen empirischer Forschung nur schwer vereinbaren lassen. Die Felder der Erziehung und der Politik bieten sich für diese Analyse besonders an. Beiden Feldern räumt Bourdieu einen eher schwachen Grad der Autonomie ein. Untersucht man Bourdieus Analyse des Feldes der Erziehung, dann zeigt sich, dass Bourdieu hier sehr viel weniger Mühe in die Ausarbeitungen der eigenen Gesetzmäßigkeiten dieses Feldes investiert. Bourdieu scheint die Autonomie des Feldes der Erziehung vor allem in dessen struktureller Trägheit zu sehen (Bourdieu/Passeron 1971). Die Produktion identisch programmierter Schüler nehme relativ lange Zeiträume in Anspruch und sie beruhe auf der vorangehenden Programmierung der Programmierer. Diese notwendige Zeitautonomie schließe schnelle Anpassungen an die Forderungen dominanter Felder oder dominanter Klassen aus. Zudem verfüge das Feld der Erziehung über das einzigartige Privileg, das eigene Personal selber ausbilden zu können. Doch Bourdieu wechselt dann ziemlich abrupt die Fronten, um die eigentliche Funktion des Erziehungssystems mit der Reproduktion der Klassenstruktur zu identifizieren. Im Anschluss daran fertigt er eine extrem externalistische Beschreibung
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der schulischen Selektion an, die davon ausgeht, dass die Lehrer in ihrer Benotung unbewusst von ihrem klassenspezifischen Habitus geleitet werden.13 Bourdieu verstößt an dieser Stelle gegen mehrere Gebote seiner eigenen Feldtheorie. Bourdieu nimmt hier genau die externalistische Position ein, die er beispielweise in seiner Wissenschaftssoziologie direkt zurückweist (Bourdieu 1998b: 17ff.) Bourdieu legt sich zudem in der „Reflexiven Anthropologie“ darauf fest, dass in der Feldtheorie kein Platz für funktionalistische Argumente sei – auch nicht für einen linken Funktionalismus des Schlechteren, den er Althusser zurechnet (Wacquant/Bourdieu 1996: 133). Bourdieus „relativ starke“ Differenzierungstheorie gerät hier eindeutig in Konflikt mit einer „sehr starken“ Homologiethese. Etwas anders gelagert stellt sich der Fall des Feldes der Politik dar, die in gewisser Weise in zwei nicht leicht zu vereinbarende Teile zu zerfallen scheint, die sich einerseits in „Das Feld der Politik“ (Bourdieu 2010: 97ff.) und andererseits in „Sozialer Raum und politisches Feld“ (ebd.: 113ff.) finden. Der erste Text arbeitet mit einem „relativ starken“ Konzept des Feldes, das die eigenen Gesetzmäßigkeiten, Konfliktlinien und Spielregeln der Politik betont. Bourdieu arbeitet hier heraus, warum sich die Autonomie des politischen Systems nur aus der Dynamik der feldinternen Gegensätze verstehen lässt. Auch hier finden sich Argumente einer schichtungs- und differenzierungstheoretischen Überdeterminierung. Interessanterweise sieht Bourdieu diese im Verhältnis von Politikern und Wählern.14 Bourdieu weist hier vor allem auf die Schichtselektivität politischer Partizipation hin. Aber erst auf der letzten Seite leitet er auf die These des
13 Ich werde im nächsten Unterkapitel Bourdieus Theorie des Feldes der Erziehung und ihre kritische Rezension sehr viel genauer darstellen. 14 Bourdieu behandelt hier den Anspruch auf exklusive politische Kompetenz durch die Politiker als kritisch zu hinterfragende Machtmonopolisierung durch die professionellen Feldteilnehmer. Es wird dabei nicht ganz klar, warum Bourdieu die Kompetenz der professionellen Politiker so viel kritischer sieht als die Kompetenz der Künstler und der Wissenschaftler, die im besten Fall, das heisst in den autonomsten Feldern der Kunst und der Universität, das Laienurteil komplett ignorieren (Bourdieu 2010: 101). Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass Bourdieu sich hier auf die Schichtselektivität im Zugang zu politischen Rollen bezieht, die bei der Wählerrolle schon beginne und dann im Zugang zu den Rollen des professionellen Politikers umso deutlicher werde. Dies scheint aber eher eine „typisch“ französische Ausnahme zu sein, da, wie Michael Hartmann (2004) gezeigt hat, die schichtspezifische „Geschlossenheit“ der politischen Elite beispielsweise in Deutschland eher gering ausfällt im Vergleich zur Elite des Rechts oder der Wirtschaft.
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nächsten Textes über. Bourdieu bestimmt das Feld der Politik als Kampf um die legitime Sicht und Trennungsweisen der sozialen Welt. Aufgrund des vorhergehenden Textes erhält man den Eindruck, dass sich die legitime Identifikation gesellschaftlicher Gruppen wie Klassen oder Ethnien aus den Kämpfen im Feld der Politik ableiten lässt. In dieser Lesart scheint das Feld der Politik die unabhängige Variable zu sein und die mobilisierten Gruppen die abhängige Variable. Der zweite Text „Sozialer Raum und politisches Feld“ verschiebt das Argument hingegen in Richtung der Homologiethese. „Diese Fachleute besetzen in diesem Feld eine Position, die derjenigen entspricht, welche im sozialen Raum von denjenigen Gruppen besetzt wird, deren Stellungnahmen sie formulieren und deren Interessen sie zum Ausdruck bringen. Die Homologie der Positionen von Mandatsträgern und Mandanten hat zur Folge, dass erstere den Interessen der letzteren und dabei gleichzeitig ihren eigenen Interessen dienen können, die mit den spezifischen Einsätzen des Felds der symbolischen Produktion zusammenhängen.“ (Bourdieu 2010: 116)
In diesem Text soll erklärt werden, wie die Politik aus den Klassen auf dem Papier qua Mandatschaft Gruppen als legitime symbolische Einheiten entstehen lässt. Die Politiker reproduzieren die Strukturen des allgemeinen Raums, um damit im Feld Karriere zu machen. Man versteht nun, warum Bourdieu der Politik eine eher schwache Autonomie zuspricht. Diese Beschreibung des Feldes der Politik widerspricht auch nicht der formalen Definition des relativ autonomen Feldes, die Bourdieu geliefert hat – minimale Feldeffekte wird man immer ausfindig machen können, aber man fragt sich, wie viel Bourdieu noch von einer rein externalistischen Beschreibung des sozialen Feldes trennt, wie sie am konsequentesten im Basis/Überbau-Modell vorliegt. Außerdem fragt man sich, wie diese Theorie des Feldes der Politik, zu den von Catch-All-Parteien dominierten politischen Systemen der Gegenwart passen soll, in denen die Parteibindung der Wähler immer mehr abnimmt.15 So haben Schröder und Blair ihre Wahlerfolge nicht zuletzt dem Kniff verdankt, eine vage „neue Mitte“ anzusprechen, mit der
15 Nach Peter Mair ist es zu einer radikalen Verschiebung der Konkurrenzverhältnisse in der Politik gekommen. Früher hätten die Parteien mit den anderen Parteien vor allem darum konkurriert, wer seine immer auch klassenspezifische Wählerklientel am besten mobilisieren kann, während heute alle Parteien um dieselben Wähler konkurrieren. Dies scheint eher für eine deutliche Abnahme der Homologie von Schichtung und Differenzierung zu sprechen (Mair 1997: 33ff.).
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sich jedermann identifizieren konnte. Die Parteien der Gegenwart und die Wähler der Gegenwart scheinen sich viel weniger an der Klassenstruktur zu orientieren, als Bourdieu in seinem Modell vorsieht. Kieserlings Lesart wiederum kann eine ganze Reihe aus systemtheoretischer Perspektive unerklärlicher Argumentationsfiguren nicht verständlich machen, die sich aber quer durch das Gesamtwerk Bourdieus hindurchziehen und sich folglich nicht einfach als zufällige Inkonsistenzen beiseiteschieben lassen. Aus dieser Perspektive muss es beispielweise rätselhaft erscheinen, weshalb Bourdieu die verschiedenen Subfelder des universitären Feldes zunächst einmal über die Klassenposition der Feldteilnehmer – ökonomisches und kulturelles Kapital, ihre klassenspezifische Herkunft und den Grad ihres politischen Ordnungsgeschmacks (Ledigenrate, politisch rechts, politisch links) – beschreibt (Bourdieu 1988: 82ff.). Dasselbe Verfahren wendet Bourdieu auch auf das Recht (Bourdieu 1987b: 842) und die Kunst (Bourdieu 1999: 262) an. Bourdieu verwendet die statistische Analyse der Herkunft der Feldteilnehmer nicht als Indikator für die Autonomie des Feldes, da beispielsweise das Feld der Avantgardekunst von Individuen, die aus Familien der kulturellen Fraktion der herrschenden Klasse stammen, dominiert wird und dennoch nach Bourdieu über einen hohen Grad an Autonomie verfügt. Mit anderen Worten: Bourdieu geht nicht davon aus, dass der Grad der Autonomie mit der klassenspezifischen Repräsentativität der Feldteilnehmer zusammenhängt. Beim Schichtstatus, der Schichtherkunft wie den politischen Einstellungen der Akteure im Feld handelt es sich eindeutig um feldexterne Eigenschaften dieser Akteure. Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist diese Forschungsstrategie nicht nachvollziehbar. Man versteht dieses Forschungsdesign nur, wenn man Bourdieus Theorie der symbolischen Herrschaft wieder ins Spiel bringt. Bourdieus Feldtheorie ist weniger atomistisch als man aus systemtheoretischer Perspektive erwarten würde. Es stimmt: Bourdieu verzichtet auf den Gesellschaftsbegriff wie Max Weber. Der Differenzierungsprozess wird als Prozess der wechselseitigen Differenzierung der verschiedenen Felder verstanden. Ebenso interessiert sich Bourdieu kaum für die Leistungsbeziehungen der Felder. Bourdieus Analysen der wechselseitigen Beziehungen der sozialen Felder beschränken sich auf die Gefährdung der relativen Autonomie eines Feldes durch ein dominanteres. Dennoch verfügt Bourdieu über eine Terminologie für die soziale Einheit auf der Makroebene: Es handelt sich um seine Theorie der symbolischen Herrschaft im allgemeinen sozialen Raum. Bourdieu unterscheidet dabei die Felder, die dem Pol der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse nahestehen wie Politik, Recht, Medizin, und die Felder, die der beherrschten Fraktion der herrschenden Klasse nahestehen wie die Sozialwissenschaften, die Physik, die Mathematik oder die
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Kunst (Bourdieu 1988: 82ff, Bourdieu 1999: 259ff.). Bourdieu erläutert diese Strukturen auch innerhalb des universitären Feldes: „Wenn man weiß, dass die Verteilungsstruktur der verschiedenen Fakultäten eine chiastische Gestalt aufweist und der Struktur des Machtfeldes homolog ist, und zwar mit dem wissenschaftlich dominanten, aber gesellschaftlich dominierten Fakultäten an dem einen, den wissenschaftlich dominierten und gesellschaftlich dominanten Fakultäten an dem anderen Pol, dann wird verständlich, dass der Hauptgegensatz sich um den Stellenwert und die Bedeutung dreht, welche die verschiedenen Kategorien von Professoren praktisch (und zunächst einmal in ihrem Zeitbudget) wissenschaftlichen Tätigkeiten zumessen, im weiteren auch, welche Vorstellung von Wissenschaft sie überhaupt besitzen.“ (Bourdieu 1988: 107)
Bourdieu verkompliziert diese simpel erscheinende Theorie, indem er innerhalb der Subgruppen wiederum nach demselben Prinzip verfährt. Um die Komplexität der sehr heterogenen Felder mit der einfachen Dichotomie von herrschend und beherrscht zu erfassen, muss er dieses Gegensatzpaar beständig in sich wiederholen. So gibt es eben innerhalb der Literaturwissenschaft die Teile, die sich allein auf die autoritative Lesart der Texte und deren vorsichtige Exegese spezialisieren (herrschend), und diejenigen, die diese Texte zum Gegenstand einer strukturalistischen Semiotik gemacht haben (beherrscht). So unterscheidet er innerhalb der Felder, die dem kulturellen Pol nahestehen, zwischen dem Feld der Universität (herrschend) und der schwächer institutionalisierten Kunst (beherrscht). Innerhalb des universitären Feldes unterscheidet er wiederum die Normwissenschaft des Rechts und die wissenschaftlich unterfütterte Kunstlehre der Medizin von den Sozialwissenschaften und der Naturwissenschaft. Innerhalb dieser Gegensatzpaare finden sich auch mittlere Felder, die sich genau zwischen den beiden Polen befinden und unsicher zwischen beiden Polen hin und her schwanken wie die Geographie oder die Literaturwissenschaft. Bourdieu geht dabei davon aus, dass die internen Machtstrukturen die Machtstrukturen innerhalb des sozialen Raums widerspiegeln. So arbeitet Bourdieu in seiner Wissenschaftssoziologie mit zwei Kapitalsorten, der Stellenmacht in der Universität und dem wissenschaftlichen Kapital, das er vor allem am „citation index“ festmacht. Nach Bourdieu dominiert in den Rechts- und Medizinfakultäten die Stellenmacht (ebd.: 132), während die Sozialwissenschaften nach Bourdieu ein ausgeglichenes Verhältnis beider Kapitalsorten aufweisen (ebd.: 142). Auch an dieser Stelle vertritt Bourdieu also eine ziemlich weitgehende Homologiethese. Bourdieu versucht nun zu zeigen, dass die Individuen, die eine Herkunft aus der herrschenden Fraktion aufweisen, auf der Seite der Felder, die der herr-
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schenden Fraktion der Bourgeoisie näherstehen sollen, deutlich überrepräsentiert seien und umgekehrt. Die statistische Verteilung der Schichtherkunft der Feldteilnehmer beeinflusst nach Bourdieu beispielsweise den Grad der relativen Autonomie der Felder. Aus diesem Grund hat er auch Variablen wie die Ledigenrate oder die politischen Präferenzen erhoben. Denn Bourdieu ist davon überzeugt, dass die Individuen aus der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse deutlich stärker zur Aufrechterhaltung des Status quo, zu den Orthodoxien innerhalb der Felder oder zu politischen Law-and-Order-Vorstellungen tendieren (Bourdieu 1987: 846, Bourdieu 1988: 113ff.). Kieserling hat Recht mit der These, dass Bourdieu davon ausgeht, dass die weniger autonomen Felder vor allem an der Immobilität ihrer Orthodoxien leiden (Kieserling 2008: 8), aber Bourdieu führt diese Tendenz immer auch auf den Schichthabitus der Feldteilnehmer zurück. Die Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften verdanken ihre höhere Autonomie nach Bourdieu immer auch der größeren habituellen Bereitschaft ihrer Feldteilnehmer, die herrschende Orthodoxie in Frage zu stellen, sowie die Felder der Politik und des Rechts nach Bourdieu über einen schwächeren Grad der Autonomie verfügen, weil deren Feldteilnehmer auch aufgrund ihres Klassenhabitus die „legitimen Teilungs- und Einteilungsprinzipien der Welt“ nicht in Frage stellen wollen.16 Zwar kennt Bourdieu anders als Alvin
16 In „The Force of Law. Toward a Sociology of the Juridical Field“ beschreibt Bourdieu (1987) zunächst die internen Gesetze des Feldes: den Bruch mit den Alltagsvorstellungen von Fairness durch den Bezug auf dogmatische Texte, den internen Gegensatz von Rechtsprofessoren, die für die Konsistenz und „Universalität“ des Rechts zuständig sind, und den Richtern und Anwälten, die mit der Anwendung des Rechts beschäftigt sind, und die hohe Kontingenz im Verhältnis von Tatbestand und Norm, die das ganze Feld am Laufen hält. Auch hier setzt sich Bourdieu zuerst wieder gegen Althussers Bergriff des Apparats ab. Doch dann wendet er sich gegen Luhmann, dem er eine rein internalistische Theorie des Rechts vorwirft und verortet das Recht im sozialen Raum der Macht. Den ordnungsbewahrenden, konservativen Charakter des Rechts sieht er nun einerseits darin, dass das Feld des Rechts das Publikum nur selektiv auf mögliche Rechtsansprüche aufmerksam mache und dabei die Interessen der dominanten Fraktion der herrschenden Klasse bevorzugt behandeln würde, und andererseits darin, dass das Feld des Rechts in seiner Rechtsprechung immer erst den Ausgang der gesellschaftlichen Machtkämpfe abwarte. So sei das Arbeitsrecht erst entstanden als die Arbeiterklasse durch die Gewerkschaften an Macht dazugewonnen hätten (ebd.: 817). Er findet diesen Zug aber auch im Wissenschaftsverständnis der Rechtsprofessoren wieder, die letztlich wie die Theologen nur um die autoritative Auslegung der
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Gouldner keine universalen Klassen mehr, denn die strukturelle Möglichkeit, sich einem universalistischen Standpunkt zu nähern, verdankt sich, wie Kieserling richtig feststellt (ebd.: 18), der Autonomie der Feldstrukturen. Aber Bourdieu geht davon aus, dass die relative Autonomie dieser Felder sich immer auch dem klassenspezifischen Habitus der Feldteilnehmer verdankt. Man findet diese These in Bourdieus Rechtssoziologie wie in seiner politischen Soziologie (Bourdieu 2010: 113ff.), in seiner Analyse des universitären Felds (Bourdieu 1992: 139ff.) wie in seiner Kunstsoziologie wieder (Bourdieu 1999: 203). Dabei schließt diese theoretische Rahmung der Feldtheorie nicht aus, dass gerade die Analyse der Dynamik in einem Feld vor allem aus feldinternen Differenzen erklärt wird. So beschreibt Bourdieu die Avantgardekunst als Generationenkonflikt zwischen den etablierten Künstlern und den jungen Häretikern (1992: 249). Die herrschaftstheoretische Rahmung taucht hier eher am Rande auf. Vergleicht man die Kunst und die Wissenschaft, wird eine weitere Eigenart von Bourdieus Modell deutlich: Bourdieu verwendet oft das Muster der gegenläufigen Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten, so dass man auf den ersten Blick nicht sagen kann, ob diese Position nun der herrschenden oder der beherrschten Seite angehört. Bourdieu löst dieses Problem wiederum durch die Verortung der Felder im allgemeinen sozialen Raum. Weil die Kunst weit beim Pol der beherrschten Fraktion der Klassenstruktur steht, liegt die symbolische Herrschaft hier auf der Seite des sich dem Ökonomischen verweigernden L`artpour-l`art-Künstler und nicht auf der Seite des wohlhabenderen Unterhaltungskünstlers (ebd.: 349). Auf dem im Gegensatz zur Kunst eher dem herrschenden Pol angehörenden universitären Feld verhält es sich nach Bourdieu gerade spiegelverkehrt. Der herrschende Pol des universitären Felds wird durch die einkommensstärkeren Felder des Rechts und der Medizin gebildet und deren Akteure weisen überwiegend eine Herkunft aus der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse auf. Die Konzentration von Individuen mit einer Herkunft aus der kulturellen Fraktion der Bourgeoisie beruht in der Kunst fast ausschließlich auf der Selbstselektion der Künstler und ihres Publikums, die für Bourdieu aber ebenso Ausdruck der Kräfteverhältnisse im allgemeinen sozialen Raum ist. Tat-
Texte streiten würden, die selbst nie in Frage gestellt werden dürften. Auch hier führt er den ordnungsbewahrenden Charakter des Rechts auch darauf zurück, dass die Rechtsprofessoren und Richter überdurchschnittlich oft aus der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse stammen.
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sächlich stellt man oft fest, dass Bourdieu diese Typologie besonders dann verwendet, wenn er sich dem Themenbereich der Mobilitätsanalyse nähert.
B OURDIEUS M ODELL DES S TATUSZUWEISUNGSPROZESSES Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Bourdieus Modell des Statuszuweisungsprozesses dem Meritokratiemodell gerade in seiner gewollten Gegensätzlichkeit verhaftet bleibt. Bourdieu scheint an vielen Stellen einfach mit einer invertierten Theoriearchitektur zu arbeiten, die den hohen Integrationsgrad des Ursprungsmodells unter umgekehrtem Vorzeichen wiederholt. Teilweise hat man den Eindruck, dass Bourdieu einfach einen dämonischen Zwilling der Leistungsideologie geschaffen hat. So denkt das Meritokratiemodell den ganzen Statuszuweisungsprozess von den Rekrutierungsanforderungen der Funktionssysteme her und unterstellt dabei eine einheitliche Rationalität von der Schule bis in die Karrieren in den Funktionssystemen und ihren Arbeitsorganisationen hinein. Bourdieu wiederum tendiert dazu, den gesamten Statuszuweisungsprozess aus der Logik der Reproduktion des sozialen Raums zu erklären. In beiden Modellen dominiert eine zentrale Teleologie, die die Beiträge aller beteiligten sozialen Einheiten leitet. Während das Erziehungssystem im Meritokratiemodell perfekt auf die Anforderungen in der Berufsrolle vorbereitet, sieht Bourdieu die Funktion des Feldes der Erziehung in der Reproduktion der Klassenstruktur (Bourdieu/Boltanski/Maldidier 1981: 91). Aber die bipolare Machtstruktur des sozialen Raums schlägt sich nach Bourdieu eben auch in der Verteilung der Individuen auf die Berufsrollen in den verschiedenen Felder nieder – sei es über den Mechanismus der Selbstselektion wie in der Kunst oder über den Mechanismus der Fremdselektion, weil die feldinternen Verteilungsregeln mit den klassenspezifischen Bewertungskriterien in Resonanz treten. So dominierten die Akteure aus der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse die Felder, die einen großen Einfluss auf die Reproduktion der Herrschaftsstruktur haben sollen wie das Recht oder die Politik, in denen über die legitimen Teilungs- und Einteilungsregeln der sozialen Welt bestimmt werde, während die Mitglieder der beherrschten Fraktion der herrschenden Klasse ihre Bereitschaft, den Status quo in Frage zu stellen, vor allem an den feldinternen Orthodoxien relativ autonomer Felder ausleben dürften, ohne dadurch den gesellschaftlichen Status quo wirkungsvoll in Frage stellen zu können, weil es sich eben nur um Kunst oder um Wissenschaft handele. Je mehr sich diese Häresien den Strukturen eines autonomen Feldes verdankten, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass ihre Effekte nur noch feldin-
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terne sind, weil die von Bourdieu geschätzte Esoterik dieser Beiträge eben auch der quotengesteuerten Aufmerksamkeitsstruktur der Massenmedien widerspricht. Bourdieu scheint davon auszugehen, dass die Reproduktion der Herrschaftsstruktur immer auch davon abhängt, dass sich die „richtigen“ Individuen auf den richtigen Plätzen befinden. Dieselbe Parallele zum Meritokratiemodell findet sich aber auch in der Beschreibung von Individuum und Gesellschaft wieder. Die Vertreter des Meritokratiemodells gehen davon aus, dass die Rationalität des Statuszuweisungsprozesses dafür sorgt, dass die Individuen automatisch auf die Stellen dirigiert werden, für die sie sich perfekt eignen und in denen sie ihre angeborenen und ansozialisierten Kenntnisse und Fähigkeiten perfekt ausleben können. Bourdieu wiederum arbeitet mit der Annahme, dass die Internalisierung der Kräfteverhältnisse im allgemeinen sozialen Raum und in den Feldern dazu führt, dass die Akteure ihre Ambitionen der für ihre Klassenposition typischen Laufbahn und den positionsabhängigen Karriereaussichten im Feld anpassen. Dieses Modell der perfekten Integration der individuellen Präferenzen und Wünsche mit den „objektiven“ Chancen, die mit einer Klassenposition oder einer Feldposition verbunden sind, formuliert Bourdieu oft als Homologie von Position und Disposition. Nimmt man die mobilen Individuen aus, die mit dem Hysteresiseffekt zu kämpfen haben, dann gilt bei Bourdieu: „Da die Individuen in diesem Fall in einer Welt zu leben haben, die sich von derjenigen, die ihren primären Habitus prägte, nicht radikal unterscheidet, stellt sich zwischen der Position und den Dispositionen dessen, der sie besetzt, zwischen der Erbschaft und dem Erben, zwischen dem Posten und seinem Inhaber, mühelose Harmonie ein.“ (Bourdieu 1997: 202)
Was in der einen Version affirmativ beschrieben wird, wird in der anderen Version kritisch gesehen. Das Meritokratiemodell hebt die funktionalen Aspekte der reibungslosen Integration der Individuen in die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft hervor und Bourdieu nimmt hebt die Tendenz zur freiwilligen Unterwerfung hervor. In beiden Fällen wird die moderne Gesellschaft als hochintegrierte Einheit beschrieben, im einen Fall als wundersame harmonische Einheit, im anderen Fall als teuflisches Gleichgewicht der Unterdrückung. Jon Elster hat für diese Argumentationsfigur den einprägsamen Begriff der negativen Soziodizee geprägt (Elster 1979: 10-12). Der Begriff der Soziodizee leitet sich von den Theodizeen des 17. Jahrhunderts her. Hier hatte man im Rahmen theologischer Theoriegebäude versucht, komplexe Apologien für das Übel in der Welt zu entwickeln. So hat Leibniz die These aufgestellt, dass die
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Monstrosität uns erst ermögliche die Schönheit des Normalen zu erkennen. Die Übel der Welt werden in diesen Theorien als notwendige Konsequenz des göttlichen Bauplans einer im Ganzen perfekten Welt beschrieben. Diese Texte stellen sicher eine der faszinierendsten Versionen des Teil/Ganzes-Modells dar. Dieselbe Gedankenfigur habe aber bald Einzug gehalten in die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Beschreibungen der Gesellschaft. In diesen Versionen würde beklagenswerten sozialen Phänomenen wie Armut oder Entfremdung eine latente, positive Funktion unterstellt, durch die sie sich rechtfertigen ließen. Der soziologische Strukturfunktionalismus mit seinem überintegrierten Gesellschaftsmodell wurde deshalb oft als moderne Soziodizee beschrieben. Elster verweist aber gerade auf den umgekehrten Fall der negativen Theodizee. „Later radical sociologists have mainly emphasised the functionality of institutions for the maintenance and entrenchment of oppression. Crime exists because society needs a scapegoat; mental illness because of social ‚labelling‘; educational institutions prepare children for the capitalist work discipline; and so on in a dreary, familiar drone. It’s a school whose slogan could be that all is for the worst in the worst of all possible worlds. Or it could appropriate the label on a denim jacket I once bought in San Francisco: ‚Any defect or fault in this garment is intentional and part of the design.‘ The proponents of this view offer an inverted sociodicy wedded to a frictionless functionalist mode of explanation.“ (Ebd.: 11)
Elster findet eben diese Argumentationsform gehäuft bei Bourdieu wieder und hier vor allem in seiner Klassentheorie und in seiner Erziehungssoziologie. Elster und Bourdieu verbindet sicher eine anregende wechselseitige theoretische Antipathie, die man bei dieser Charakterisierung in Rechnung stellen muss. Außerdem war sich Bourdieu dieser Tendenz in der Soziologie bewusst. So grenzt er seine Feldtheorie, wie bereits erwähnt, gegen den Funktionalismus des Schlechteren ab, den er vor allem bei Althusser ausmacht. Und dennoch findet sich diese Argumentationsfigur an den unterschiedlichsten Stellen seines Werkes wieder. Man kann Bourdieus Beitrag zur Mobilitätsanalyse sicher nicht auf das Modell der negativen Theodizee verkürzen. Bourdieu hat in seinen Beiträgen zur Reproduktion der Klassenstruktur von einer Generation zur nächsten sehr unterschiedliche Mechanismen herausgearbeitet. An manchen Stellen dominiert dabei das Modell der relativen Autonomie der Felder. Hier gelingen Bourdieu interessante Analysen, wie die Reproduktion von Schichtung in der Zeitdimension gerade aus den eigenständigen Bewertungsregeln der Felder selbst erklärt werden könnte. Da er aber die Felder immer auch durch ihre Stellung im sozialen Raum charakterisiert, taucht doch immer wieder die Idee der „prästabilierten“ Harmo-
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nie der Feldstrukturen mit der Klassenstruktur auf (Bourdieu 1999: 259ff.). Gerade an diesen Stellen wird deutlich, dass Elster mit seinem Konzept der negativen Soziodizee eine zentrale Argumentationsfigur im Werk Bourdieus kenntlich gemacht hat. Ich möchte im Folgenden diese Zweideutigkeit in Bourdieus Analysen anhand einer kritischen Diskussion seiner Analysen des Feldes der Erziehung und seiner Analysen des Feldes der Kunst und der Universität deutlicher herausarbeiten. Bourdieus Soziologie des Feldes der Erziehung weist sicher die grösste Nähe zum Modell der negativen Soziodizee auf. Bourdieu verwendet hier ein äußerst schwaches Konzept der relativen Autonomie, das die Autonomie des Feldes vor allem an seiner strukturellen Trägheit festmacht. Am gewichtigsten wirkt noch Bourdieus Idee, dass die Autonomie des Erziehungssystems darin liegen könnte, dass es selbst seinen eigenen Nachwuchs ausbilden kann. Diesem „schwachen“ Konzept relativer Autonomie korrespondiert eine umso stärkere Homologiethese, die in der externen Funktionszuschreibung gipfelt, die eigentliche Funktion des Feldes liege in der Reproduktion der Klassenstruktur. Bourdieu sieht die institutionalisierte Schichtselektivität des Erziehungssystems auf der Ebene der Curricula, der Bewertungskriterien der Lehrer für schulische Leistungen und auf der Ebene des pädagogischen Erziehungsstils. In den Feldern, denen Bourdieu eine stärkere Autonomie zuspricht, tendiert er dazu, die Homologiethese auf Bereiche einzuschränken, die die Autonomie des Feldes nicht direkt in Frage stellen, wie die Themenwahl in der Wissenschaft. Im Feld der Erziehung schlägt der schichtspezifische Habitus der Akteure direkt auf das Kerngeschäft des Erziehens und Bewertens durch. Dennoch liefert auch seine Erziehungssoziologie viele Belege für Bourdieus soziologischen Scharfsinn. Bourdieu hat ein Modell entwickelt, das erklären soll, weshalb die eigentliche Funktion dieses Feldes in der Reproduktion intergenerationaler sozialer Ungleichheit besteht, ohne dabei auf das Modell starker Statusgruppen oder einer intentionalen Klassenverschwörung zurückgreifen zu müssen. Das Modell arbeitet mit einer einfachen Prämisse: Die Klassen, die ihre klassenspezifische Besserstellung dem Feld der Erziehung verdanken – die Kleinbürger und die kulturelle Fraktion der Bourgeoisie –, legen nicht nur mehr Wert auf die schulische Ausbildung ihrer Kinder, sie ergreifen auch überdurchschnittlich oft den Lehrerberuf. Dieser nachvollziehbare Hang in der beruflichen Selbstselektion führe dazu, dass die Mitglieder dieser Klassen jeweils das Schulsegment dominieren, das ihnen noch zugänglich ist. Die Kleinbürger dominieren dann den Sekundarbereich und die Institutionen der niedrigeren Berufsqualifikationen und die Mitglieder der kulturellen Fraktion der Bourgeoisie die Universitäten und Hochschulen. Die schwache Autonomie des Feldes sorgt dafür, dass
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die Lehrer die Schüler, die denselben Schichthabitus oder den Habitus einer höheren Klasse aufweisen, besser bewerten als die Schüler mit einer Herkunft aus einer niedrigeren Klasse. Bourdieu findet die empirischen Belege für seine Homologiethese vor allem in der Semantik der Klassifikation schulischer Leistungen wie „fleißig“, „brillant“, „elegant“, „bemüht“ oder „nachlässig“ (Bourdieu 2004: 48). Im Bereich der Hochschulen werden die Kleinbürger nach und nach von der kulturellen Fraktion der Bourgeoisie verdrängt. Gerade in seiner Analyse der Hochschulpädagogik liefert Bourdieu ein hervorragendes Beispiel für implizite, nicht kommunizierte Komplizenschaft. Auf der einen Seite stünden die Hochschullehrer, die sich für eine rationale Pädagogik, die zuerst die Grundlage des Fachs transparent offenlege, zu schade seien, und stattdessen auf das Mittel der charismatischen Lehre setzten. Auf der anderen Seite stünden die Studierenden, die das Studium als spielerische Arbeit an der eigenen Persönlichkeit verstünden und die Zwänge des Arbeitsmarktes weitgehend ausblenden würden (Bourdieu 2007: 48ff.). Man lerne in diesem Kontext vor allem durch langsame Imitation des akademischen Tons. Der Dozent werde nicht durch Nachfragen in seiner Rolle des charismatischen Gelehrten gestört und der Dozent verzichte auf schulgemäße Verstehenskontrollen (ebd.: 77ff.), um die Studenten nicht auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Bourdieu hat mit dieser Analyse ohne Zweifel eine häufig anzutreffende Pathologie der Universität sichtbar gemacht. Mit Elster muss man aber die Frage stellen, weshalb Bourdieu darin eine latente Funktion und nicht einfach ein an Universitäten oft anzutreffendes Rationalitätsdefizit sieht. Dass das Erziehungssystem über keine belastbare Technologie des Erziehens und Seligierens verfügt, gehört zum Common Sense der Erziehungssoziologie; dass diese Rationalitätsdefizite dort am höchsten ausfallen, wo die Dozenten noch nicht einmal eine pädagogische Ausbildung erhalten haben, liegt nahe. Bourdieu vertritt dabei die These, dass die Oberschichten mit der gesellschaftlichen Umstellung von Askription und Leistung ihre habituellen Strategien der Statusvererbung zunehmend von der direkten Vererbung von Eigentum auf die Statusvererbung durch Bildungsinvestitionen umgestellt hätten. „Der grundlegende Unterschied der beiden Reproduktionsformen beruht auf der statistischen Logik des Reproduktionsmodus mit schulischer Komponente. Im Unterschied zur direkten Übertragung der Eigentumsrechte zwischen dem Besitzer und dem von ihm selbst bestimmten Erben beruht die schulisch vermittelte Übertragung auf der statistischen Aggregation isolierter Handlungen von Einzelpersonen oder Gruppen; sie gewährt der Klasse in ihrer Gesamtheit Merkmale, die sie dem einen oder anderen ihrer isoliert betrachteten Elemente verweigern würde. Die Schule kann zur Reproduktion der Klasse (in der logi-
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schen Bedeutung des Begriffs) nur beitragen, indem sie einige der Mitglieder der Klasse opfert; davor blieben sie bei einem Reproduktionsmodus bewahrt, indem die vollständige Übertragungsmacht der Familie überlassen ist.“ (Bourdieu 2004: 347)
Man sieht, auch bei Bourdieu findet sich der klassische differenzierungstheoretische Gedanke, dass die Familie mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft ihre Zentralstellung im Statuszuweisungsprozess verliert. Während die meisten Differenzierungstheoretiker deshalb davon ausgehen, dass die „dynastischen“ Interessen der Familien keinen Einfluss mehr auf den Statuszuweisungsprozess der modernen Gesellschaft ausüben, sieht Bourdieu das Erziehungssystem nach wie vor als Erfüllungsgehilfen der Reproduktionsstrategien der Oberschichtsfamilien an. Er gibt dabei diesem Argument eine höchst eigenwillige statistische Bedeutung. Denn der von Bourdieu konzipierte Mechanismus zur Reproduktion intergenerationaler sozialer Ungleichheit bezieht sich eben nicht auf die einzelne Familie einer Klasse, deren Reproduktionsinteressen dem Legitimationsbedarf des Feldes geopfert werden kann, sondern auf die Gesamtklasse als statistische Einheit. Man sieht schnell, dass es hier sehr darauf ankommt, wie deutlich der statistische Zusammenhang von Herkunft, Schulerfolg und Berufsstatus ist. Wie hoch müssen die Wahrscheinlichkeit des klassenabhängigen Schulerfolgs und die Wahrscheinlichkeit des dadurch gewährleisteten Erreichens einer attraktiven Berufsposition sein, dass man davon ausgehen kann, dass sich die Individuen der Oberschicht habituell auf den Reproduktionsmodus mit schulischer Komponente einstellen? Interessanterweise finden sich bei Bourdieu an dieser Stelle keine Angaben über diese statistischen Zusammenhänge und keine These über das Verhältnis der Größe der Erfolgswahrscheinlichkeit mit der Größe der Wahrscheinlichkeit der Internalisierung dieser habituellen Strategie. Bourdieu hingegen interessiert sich gerade für den umgekehrten Fall: die legitimatorische Funktion der Individuen mit einer Herkunft aus der Arbeiterklasse, die die institutionelle Diskriminierung der Schule überstehen und deshalb noch fester an die Ideologie von Talent und Leistung glauben, weil sie ihren statistisch unwahrscheinlichen Aufstieg ganz dem Feld der Erziehung verdanken. Um Bourdieus Erziehungssoziologie ist in den letzten Jahren eine heftige Diskussion entbrannt (DiMaggio 1982, Goldthorpe 2007, Lareau/Weiniger 2003, Dravenau/Groh-Samberg 2005, Vester 2005, 2006). Diese Diskussion hat deutlich gemacht, dass sich bei Bourdieu große Unklarheiten finden, wie sein Konzept des kulturellen Kapitals mit der starken These, dass das Erziehungssystem die Funktion haben soll, die Klassenstruktur zu reproduzieren, zusammenhängt und welche empirischen Befunde nötig wären, um diese These zu bestätigen. Zum einen hat sich gezeigt, dass sich der Lektüre von Bourdieus Texten zum
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Feld der Erziehung nicht eindeutig entnehmen lässt, aufgrund welcher Kriterien die schulische Selektion stattfindet. Orientiert sich die Schule nur an den aus der Perspektive einer meritokratischen Leistungsbewertung rein arbiträren Unterschieden im klassenspezifischen Habitus (Goldthorpe 2007: 10) oder bewertet sie technische Kompetenzen und den klassenspezifischen Habitus (Lareau/Weniger 2003: 580ff.)? Zudem wurde kontrovers diskutiert, an welchen Merkmalen schulischer Leistungen der klassenspezifische Habitus in der Schule sichtbar wird – geht es um den Habitus, der vor allem an der Darstellung des Wissens sichtbar wird (brillant, elegant, bemüht, nachlässig) oder geht es eher um spezifische Kenntnisse wie die Vertrautheit mit der „highbrow culture“ (DiMaggio 1982: 193)17, die allerdings nur in bestimmten Fächern eine Rolle spielen kann. Im Kern geht es aber um die Frage, wie sich das Konzept der primären Schichteffekte, die darauf beruhen, dass die Kinder mit einer Herkunft aus der Mittel- und Oberschicht in ihren Familien besser für die Schule sozialisiert werden als die Kinder aus der Arbeiterklasse, von dem bei Bourdieu unterstellten Mechanismus der institutionellen Diskriminierung (Dravenau/Groh-Samberg 2005) unterscheiden lässt. Wenn man von der institutionellen Diskriminierung durch die Schulen ausgeht, stellt sich immer noch die Frage, ob diese Effekte sich aus der Homologie des Felds der Erziehung mit den Strukturen des allgemeinen sozialen Raums erklären lassen, oder ob diese Effekte nicht aus den Eigenstrukturen des Erziehungssystems resultieren. Selbst wenn man eine Form der klassenspezifischen institutionellen Diskriminierung annimmt, stellt sich die Frage, wie stark dieser Selektionseffekt ausfallen muss, dass man mit der theore-
17 Interesanterweise kommt Paul DiMaggio in seinen an Bourdieu angelehnten Studien zu völlig anderen Ergebnissen. DiMaggio hat untersucht, ob die Teilnahme an der „highbrow status culture“ einen Einfluss auf die Schulnoten der Individuen hat. Er unterscheidet dabei seine „cultural-mobility“-Hypothese von Bourdieus „culturalreproduction“-Hypothese. Die „cultural-mobility“-Hypothese geht davon aus, dass die Teilnahme an der Statuskultur vor allem einen Einfluss auf die Schulnoten der Individuen aus den niedrigeren Klassen hat und sich hier positiv auswirkt. Er geht zudem davon aus, dass die Individuen die kognitiven und ästhetischen Schemata, die zur Dekodierung der arrivierten Kunst nötig sind, sich selbst aneignen können, auch wenn sie in der Herkunftsfamilie nicht damit vertraut gemacht worden sind. Dazu passt der Befund, dass er in seinen amerikanischen Daten eine niedrige Korrelation der Variable der Teilnahme an der Statuskultur mit der Variable Bildung der Eltern festgestellt hat. DiMaggios Befunde lassen sich nicht mit Bourdieus Modell vereinbaren (DiMaggio 1982: 198).
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tischen Annahme arbeiten kann, dass die Eltern der Oberschicht Bildungsinvestitionen nutzen können, um ihren Schichtstatus effektiv auf ihre Kinder übertragen zu können (Goldthorpe 2007: 14ff.). Die kritische Diskussion hat unter anderem folgende Ergebnisse erbracht: Die enge Auffassung, kulturelles Kapital lasse sich auf die Vertrautheit mit der „Hochkultur“ reduzieren, muss schon deshalb ausgeschlossen werden, da dieses Konzept nur die Schichtselektivität in bestimmten Fächern (Lareau/Weiniger: 574) und nicht die Schichtselektivität des ganzen Feldes erklären könnte. Auch wenn Bourdieu selbst nicht davon ausgeht, dass die Schule nur „arbiträre“ Unterschiede im Klassenhabitus bewertet, so lässt sich Bourdieus These der starken Homologie von Feld und Klassenstruktur nur erklären, wenn man dieser Komponente eine starke Bedeutung einräumt (Goldthorpe 2007: 11). Goldthorpes Versuch, klassenabhängige Unterschiede in der Bildungspartizipation nur auf einkommensabhängige Effekte oder auf primäre Schichtungseffekte zu reduzieren, übersieht den unabhängigen Beitrag der Schule zur Reproduktion sozialer Ungleichheit (Vester 2006: 25). Doch was spricht dafür, dass sich die „institutionelle Diskriminierung“ durch die Schule aus der Homologie des Erziehungssystems mit der Klassenstruktur erklären lässt? Goldthorpe hat darauf hingewiesen, dass Bourdieus starke These der Reproduktionsfunktion des Erziehungssystems große empirische Beweislasten aufbürdet: „One of the earliest and most compelling statements of the factual case against Bourdieu was made by Halsey, Heath and Ridge (1980: ch. 4 and 8 especially) on the basis of British data that would prove to be generally replicable from other advanced societies (cf. Shavitt and Blossfeld, eds. 1993). What Halsey and his colleagues showed was that in the course of the twentieth century expansion of the secondary education in Britain, substantial and predominantly upward educational mobility did in fact occur between generations. Thus, as of the early 1970s, over two thirds of the indviduals surveyed who had attended a selective secondary school were first generation – i. e. their parents had not received any education at this level; and while children of workingclass background were underrepresented in this group they were far from being excluded.“ (Goldthorpe 2007)
Goldthorpe weist daraufhin, dass das Erziehungssystem „kulturelles Kapital“ nicht nur reproduziert, sondern auch produziert. Die Bildungsexpansion habe sich seit den siebziger Jahren aber deutlich beschleunigt und habe heute auch die Universitäten erreicht. Bei Müller, Pollak, Reimer und Schindler (Müller et. al. 2009: 305) erfährt man, dass1985 mit 37% die größte Gruppe aller Studierenden
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aus Familien kamen, deren Eltern höchstens über einen Hauptschulabschluss verfügt haben18. Goldthorpe geht davon aus, dass Bourdieus negative Soziodizee des Erziehungssystems sich nur dann aufrechterhalten ließe, wenn die Kinder, deren Eltern über ein sehr viel geringeres kulturelles Kapital verfügt haben, fast vollständig von der Erziehung an der Universität ausgeschlossen wären, d.h. wenn sich die Schichtselektivität des Feldes der Erziehung in deutlichen absoluten Raten niederschlagen würde (Goldthorpe 2007: 15). Wenn sich die Schichtselektivität des Erziehungssystems aber nur darin niederschlage, dass es immer noch unwahrscheinlicher sei, als Arbeiterkind die Universität zu besuchen als als Kind aus der Mittel- und Oberschicht, dann müsse man mit weicheren Konzepten der Reproduktion von Schichtung arbeiten. Bourdieus These vom „wonderboy miraculously saved by school“ (ebd.: 15) sei dann nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Bildungsexpansion hat die Chancen der Kinder aus der Arbeiterklasse, ein Hochschulstudium aufzunehmen, erheblich vergrößert, aber die Dienstklasse hat von der Bildungsexpansion mindestens ebenso, wenn nicht etwas mehr profitiert. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diese Klasse im selben Zeitraum deutlich expandiert ist (Goldthorpe 2000). Wie sehr diese Forschungstradition immer wieder zur Überdramatisierung neigt, lässt sich gut an Michael Vesters (2005: 39) These veranschaulichen, dass Deutschland eine „ständisch organisierte Klassengesellschaft“ sei. Vester arbeitet mit einem unglaublich komplizierten Schichtungsmodell, dass Bourdieus Modell des sozialen Raums auf die Sinusmilieus der Marktforschung projiziert (Vester et al. 2001). Jörg Rössel hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass die Sinusmilieus kaum als klassenspezifische Habitusformen behandelt werden können, da beispielsweise die Variablen Alter und Kirchenbindung stärker mit den Sinusmilieus korrelieren als die Klassenlage (Rössel 2005: 118). Abgesehen von dieser Ungereimtheit vertritt Vester folgende These: Die Bildungsexpansion habe alle Milieus bis auf die untersten (unterprivilegierte Volksmilieus) in Richtung des kulturellen Pols der Klassenstruktur gerückt, das heißt all diese Milieus verfügen heute über ein höheres Bildungsniveau. Dabei seien aber nicht nur die Abstände im Einkommen und in der Bildungspartizipation langfristig gleichgeblieben, es seien in Deutschland sogar deutliche Prozesse der zunehmenden sozialen Schließung zu beobachten. Vester liebt ein dramatisches Vokabular, in
18 Der Anteil dieser Individuen hat danach stark abgenommen, ohne dass man daraus auf eine zunehmende soziale Schließung der Universitäten schlussfolgern kann, weil natürlich auch der Anteil der Eltern, die nur über einen Hauptschulabschluss verfügen, stark zurückgegangen ist.
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dem es um Privilegienhierarchien, ständische Schließung durch Konvention und Recht geht, und in dem die Milieus als konfliktfähige Kampfverbände dargestellt werden. „Nicht die alte Bildungselite, sondern die steil aus dem gehobenen Milieu des Kleinbürgertums aufgestiegene neue Bildungselite ist es, die energische Statuskämpfe führt und wieder auf die harten, institutionellen Mechanismen setzt. Sie sucht die Dreigliedrigkeit oft durch militantes Engagement, von den Elternvertretungen bis zur Schulpolitik, zu verteidigen oder jetzt auch auf das Hochschulsystem auszudehnen. Diese Militanz entspricht einem aus ihrer Zwischenposition geborenen Kampf an zwei Fronten“ (Vester 2005: 53).
Bei Vester resultieren aus normalen politischen Entscheidungen in der Bildungspolitik oder im Arbeitsrecht dramatische Umbrüche in den Schichtungsstrukturen. Sollte in Deutschland das dreigliedrige Schulsystem abgeschafft, mehr Gesamtschulen gebaut und der deutsche Kredentialismus auf dem Arbeitsmarkt abgebaut werden, dann würde Deutschland mit einem Schlag von der organisierten Ständegesellschaft zur entstrukturierten Klassengesellschaft kippen (ebd.: 63). Tatsächlich scheint sich Vester mehr an Randall Collins Konfliktsoziologie als an Bourdieus wesentlich komplexerem Modell orientiert zu haben. Bourdieu hat im „Staatsadel“ (Bourdieu 2004: 172) die Homologiethese für das Feld der Hochschulen entwickelt. Die Trennlinie zwischen der Bourgeoisie, dem Kleinbürgertum und der Arbeiterklasse wird durch die Differenz generalistischer gegenüber spezialisierter Berufsausbildungen gezogen. Dieser Teil von Bourdieus Erziehungssoziologie entspricht dem Common Sense (ebd.: 172 ff., Goldthorpe 2000). Aber Bourdieu wäre nicht Bourdieu, wenn er nicht auch hier die chiastische Struktur des sozialen Raums wiederfinden würde, denn orthogonal dazu verläuft wieder die Trennlinie zwischen dem kulturellen und dem ökonomischen Pol der Bourgeoisie. Die zentrale Differenz verläuft dabei für Bourdieu zwischen den normalen Universitäten und den „Grandes Ecoles“ (ebd.: 93125). Wie erwartet verortet Bourdieu die Universitäten auf dem Pol der kulturellen Fraktion und die „Grandes Ecoles“ eher auf der ökonomischen Seite. Bourdieu findet diese chiastische Struktur in den Unterschieden der pädagogischen Strategien dieser beiden Hochschulen wieder abgebildet. Während die Studierenden der „Grandes Ecoles“ einem gnadenlosen und stark verschulten Drill unterzogen würden, hätten die Universitäten vor den Herausforderungen der Massenuniversität resigniert und sich auf die charismatische Lehre zurückgezogen. Bourdieu unterteilt dann das Feld der „Grandes Ecoles“ noch einmal nach den beiden Polen der Kapitalzusammensetzung (ebd.: 184ff.). Die extrem hohe soziale Homogenität des Habitus dieser wieder und wieder gesiebten Stu-
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dierenden erzeuge das besondere Klima an diesen Schulen: die perfekte Übereinstimmung von Position und Disposition, das Gefühl der Auserwähltheit und Verbundenheit dieser Studierendenpopulationen und damit auch das erhebliche soziale Kapital dieser Gruppen, für die Bourdieu dann den starken Begriff des Staatsadels prägt. Nicht nur, dass hier ein extrem dichtes Netzwerk unter den ehemaligen Schülern gestiftet worden sei, Bourdieu betont auch den hohen Solidaritätsgrad dieser Gruppe (ebd.: 217ff.): „Denn es ist die verzauberte Zustimmung zu den Werten und dem Wert der Gruppe, die sie als integriertes Korps konstituiert und darauf vorbereitet, mit allen vorstellbaren Währungen Zusammenhalt und Solidarität ihrer Mitglieder zu festigen: Diese fühlen sich auf Dauer verpflichtet, jeden einzelnen (zumindest bis zu einem bestimmten Punkt) an den Ressourcen aller teilhaben zu lassen, nach dem Motto einer für alle, alle für einen“ (Ebd.: 220). 19
Wie bereits erwähnt fällt Bourdieus Analyse der Berufskarrieren der Akteure in den verschiedenen Feldern sehr viel differenzierter und heterogener aus. Die raffinierteste Analyse der feldspezifischen Karrierestrukturen findet sich im „Homo academicus“ (Bourdieu 1988). In keiner anderen Studie wird Bourdieus Modell der Berufskarrieren in den Feldern deutlicher als in dieser Studie. Dies liegt sicher nicht zuletzt daran, dass Bourdieu hier auch den Fall eines plötzlichen Wechsels in den Mechanismen der feldspezifischen Karrieren und der daraus resultierenden Konsequenzen behandelt. Den Rahmen dieser Analyse bildet wieder die Verortung der universitären Subfelder im sozialen Raum. Bei den universitären Feldern, die dem herrschenden Pol nahestehen wie dem Recht oder der Medizin, dominiert die Lehre gegenüber der Forschung. Entsprechend dominiert hier die Macht, die sich aus der Kontrolle über die personelle Reproduktion der
19 An diesem Satz lässt sich gut Bourdieus oft widersprüchlicher Gebrauch von Emphase und Relativierung in wenigen aufeinanderfolgenden Sätzen beobachten. Bourdieu malt dieses Bild einer fast unter Trance stehenden Gruppe von Mitgliedern, die sich so perfekt ineinander spiegeln, dass die Grenzen zwischen Mein und Dein, zwischen Ich und Kollektiv fast vollständig verschwimmen. Er zeichnet das Bild einer verschiedene Felder übergreifenden Machtelite nach, die sich in den Loyalitätszumutungen an ihre Mitglieder nicht von den Konversionsperren der Felder bremsen lässt. Doch dann schiebt er wieder eine seiner geliebten Klammern ein und relativiert das zuvor Geschriebene durch den sehr unbestimmt bleibenden Hinweis, dass es doch eine „bestimmte“ Grenze für diese wechselseitigen Hilfeleistungen gebe.
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Institution ergibt, wie der Stellenmacht des Professors, der Mitgliedschaft in Kommissionen, die in wichtige Karriereentscheidungen involviert sind, der Herausgeberschaft von Fachzeitschriften oder dem Gutachterwesen. Da die Universität über einen eher geringen Formalisierungsgrad verfügt, können Individuen, die mehrere wichtige Positionen im Gefüge der Universität einnehmen, gerade in Disziplinen mit relativ schwacher Autonomie nach Bourdieu einen erstaunlich großen persönlichen Einfluss auf die Karrieren vieler anderer Wissenschaftler einnehmen. Bourdieu charakterisiert diesen Typus des Wissenschaftlers als Patron, der sich eher mit der Aufbereitung des vorhandenen Wissen und dessen Popularisierung beschäftigt und kaum über wissenschaftliche Reputation verfügt. Dem gegenüber steht der Typ des arrivierten Häretikers, der nach Bourdieu meist von den universitären Machtpositionen ausgeschlossen ist und seinen Einfluss vorwiegend seiner wissenschaftlichen Reputation und seinem intellektuellen Kapital verdankt. Diese beiden Typen finden sich nach Bourdieu in allen wissenschaftlichen Disziplinen, aber die wissenschaftlichen Disziplinen sollen sich danach unterscheiden lassen, in welchem Machtverhältnis diese beiden Typen sich befinden. Natürlich weisen diese beiden Typen einen sehr unterschiedlichen Feldhabitus auf, denn beide durchlaufen Karrieren mit völlig anderen Selektionskriterien und Zeitrhythmen. Der Wissenschaftsmanager muss vor allem seinen Respekt vor der Orthodoxie im Fach ausdrücken, er muss warten können20, er muss sich einen einflussreichen Doktorvater aussuchen und dessen Launen ertragen21, bis er ihm im natürlich Rhythmus der Stellenzirkulation nachfolgen kann. Die Stellen in diesem Bereich seien in Frankreich mehrfach stratifiziert – nach regionalen Kriterien, Provinz oder Paris, nach dem Prestige der Organisation und dem vermuteten Einfluss. Die Konkurrenz in diesen Regionen der Felder sei eher gebremst und sie stellt die hierarchische Ordnung selbst nie in Frage.
20 Beispielsweise lege dieser Typ Wissenschaftler eher die sehr formalistische, lange in Zeit in Anspruch nehmende „these d`etat“ ab und nicht die in Bourdieus Augen sehr viel forschungsnähere „these de 3e cycle“. Nach Bourdieu dient die „these d`etat“ vor allem der Verlangsamung der Karriere und der Steigerung der persönlichen Abhängigkeit vom Doktorvater (ebd.: 166). 21 An einer anderen Stelle stellt Bourdieu fest, dass man in den von diesen Wissenschaftsmanagern betreuten Doktorarbeiten interessanter Weise oft nur einen schwachen wissenschaftlichen Einfluss des Patrons ausmachen könne. Die während der persönlichen Abhängigkeit im Überfluss erteilten Loyalitätsbekundungen seiner Doktoranden würden mit dem Ende der Abhängigkeit abrupt eingestellt (ebd.: 159).
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„Dieser Kampf aller gegen alle birgt nun freilich alles andere als die Gefahr einer permanenten Revolution in sich; vielmehr trägt er – vom permanenten Wettbewerb zwischen den einmal in den Wettbewerb eingetretenen Protagonisten mit der erforderlichen (und dann durch das Rennen auch immer wieder gestärkten) Wettkampfeinstellung gestiftet – kraft seiner Logik gerade zur Reproduktion der Ordnung im System von zeitlichen Abständen bei: zum einen, weil die Tatsache des Mitlaufens selbst schon die Anerkennung dessen voraussetzt und hervorruft, worum es beim Rennen geht; zum anderen, weil die eigentliche Konkurrenz in jedem Augenblick auf die Mitläufer beschränkt ist, die sich auf etwa gleicher Höhe befinden, und Schiedsrichter die jeweils davorliegenden sind.“ (Ebd.: 154)
Die „arrivierten Häretiker“ weisen hingegen nach Bourdieu sehr heterogene Karriereverläufe aus, die sie immer wieder auch aus der Universität herausgeführt haben und eher die marginalen Institutionen des Hochschulwesens durchlaufen. Eine besondere Rolle nehme dabei die „Ecole des hautes etudes an sciences sociales“ ein, an der Bourdieu selbst gelehrt hat, an der aber auch die „Annales“Schule untergebracht war. In Bourdieus Augen zeichnet sich dieses Institut von minderem akademischem Prestige, das ein auch ihren Qualifikationen nach sehr heterogenes Studierendenpublikum angezogen hat, einerseits durch Weltoffenheit, Unabhängigkeit und Forschungsbezogenheit aus. Dieses der wissenschaftlichen Häretik nahestehende Institut habe sich durch Dozenten ausgezeichnet, die sich vor allem über ihre wissenschaftliche Reputation definiert hätten. Auch die Leitungspositionen seien zunehmend durch Wissenschaftler dieses Typs besetzt gewesen. Andererseits hätte das Institut seine formal marginale Position durch große Nähe zu den Massenmedien kompensieren müssen, die Geschmack an den laut inszenierten Häresien gefunden hätten. Zudem habe dieses Institut in seinen Leistungsanforderungen immer wieder Kompromisse gegenüber seiner sehr heterogenen Studierendenpopulation machen müssen. Da die orthodoxen und die häretischen Strömungen innerhalb der Soziologie gleichzeitig zu finden seien, stellt sich auch hier eine Koexistenz nach dem Muster der Gegner als Komplizen ein. Die Orthodoxie sehe sich in ihrer Unterwerfung unter die Routine bestätigt durch den drohenden Dilettantismus der eher für die Medien inszenierten Häresie, während die Häretiker sich ihre Verachtung für die Mühen der methodologischen Genauigkeit durch die Geistlosigkeit der Orthodoxie bestätigen ließen. Wenn die These stimmt, dass Bourdieu an vielen Stellen dazu neigt, einfach mit der invertierten Theoriearchitektur des Meritokratiemodells zu arbeiten, dann müsste sich in seinem Modell des Statuszuweisungsprozesses eine Entsprechung für die These finden, dass die Realisierung funktionaler Differenzierung zu einer Optimierung der Bezugsprobleme der Rekrutierungsrationalität, der Leistungs-
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motivation, der Schichtungslegitimation und der Sozialintegration führt – allerdings auch hier natürlich mit umgekehrten Vorzeichen. Die Frage, wie man den Grad der Rekrutierungsrationalität, von dem Bourdieu ausgeht, einschätzt, steht und fällt mit der Bedeutung, die man dem Homologiekonzept in seinen Feldanalysen einräumt. Ich bin davon ausgegangen, dass Bourdieu die Homologiethese nicht nur auf einzelne Übereinstimmungen zwischen Feldstrukturen und den Strukturen im allgemeinen sozialen Raum anwendet, sondern dass er die Felder selber wieder von ihrer Lage im allgemeinen sozialen Raum her rekonstruiert. Bourdieu kommt auf jeden Fall immer wieder auf die These zurück, dass die Reproduktion der Machtstrukturen im sozialen Raum auch dadurch gewährleistet wird, dass die Akteure der Klassen, denen vor allem an der Bewahrung des Status quo liegt, die Felder dominieren, von denen aus sich die Machtstrukturen aus noch am ehesten verändern ließen, während die Individuen, denen eher eine Infragestellung der gesellschaftlichen Machtstrukturen naheliegt, in den Feldern landen, in denen man zwar den feldinternen Status quo relativ leicht in Frage stellen kann, aber von denen aus man keinen Einfluss auf die Machtverhältnisse im sozialen Raum gewinnen kann. Man findet hier tatsächlich so etwas wie ein zynisches Konzept der Rekrutierungsrationalität mit umgekehrten Vorzeichen. Da es sich aber um eine probabilistische Theorie handelt, ist immerhin ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit und Irrationalität mitgedacht. Da Bourdieu die Akteure über ihren Habitus erfasst, der nur ihre konstanten Persönlichkeitszüge erfasst, findet man bei Bourdieu wenig zum Bezugsproblem der Leistungsmotivation, zumindest in dem Sinne, in dem dieses Konzept in diesem Buch verwendet wird. Bourdieu behandelt aber verwandte Fragen, wie das habituelle Gespür für Gelegenheiten im System oder das Eingestelltsein der eigenen Motive, Präferenzen und Neurosen auf die Belohnungsstrukturen der Felder. Sieht man auch hier von den mobilen Individuen ab, dann lässt sich Bourdieu die These zuschreiben, dass die Individuen, die die typischen Laufbahnen aufweisen, sehr sensibel für die Belohnungsstrukturen der Felder sein sollten. Interessant wird es, wenn man zur Analyse des Bezugsproblems der Legitimation der Klassenstrukturen übergeht, denn in diesem Fall müssen die mobilen Individuen nicht mehr ausgeschlossen werden. Diese Individuen leiden unter dem Hysteresiseffekt, weswegen es ihnen deutlich schwerer fällt, ihre Feldposition natürlich und ungezwungen auszufüllen. Sie unterstreichen durch ihr schlecht angepasstes Verhalten die natürliche Überlegenheit derer, die sich auf den für sie aufgrund ihrer Schichtherkunft vorgesehenen Positionen befinden. Bourdieus These, dass die Individuen immer schon die Kräfteverhältnisse des sie umgebenden sozialen Raums und der Felder, in denen sie ihren Berufsrollen nachgehen, verinnerlicht haben, arbeitet mit einem außergewöhnlich starken Konzept der Sozialintegrati-
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on, das ihm wiederholt den Vorwurf des übersozialisierten Menschenbildes eingebracht hat. Doch was passiert, wenn externe Einflüsse die eingespielten Karrieremechanismen der Felder außer Kraft setzen? Bourdieu hat diesen Fall exemplarisch an den Konsequenzen der politisch betriebenen Bildungsexpansion für das Feld der Universität untersucht. Auch hier unterscheidet Bourdieu wieder zwischen Feldern, die eher dem Pol der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse nahestehen und den Feldern, die dem Pol der beherrschten Fraktion nahestehen. Bourdieu kommt hier zum Ergebnis, dass es den Subfeldern des Rechts und der Medizin gelungen sei, durch komplexe Umstellungsstrategien die Homologie zwischen den Feldstrukturen und den Machtstrukturen im allgemeinen sozialen Raum weitestgehend aufrechtzuerhalten. Man habe, wie bereits erwähnt, einfach auf ältere Kandidaten zurückgegriffen und vermehrt Frauen rekrutiert (ebd.: 226). Auf diese Weise habe sich die soziale Selektivität in Bezug auf Schichtherkunft und exklusive Bildungszertifikate aufrechterhalten lassen. Gerade in den Sozial- und Humanwissenschaften allerdings sei dies nicht gelungen. Zunächst habe sich diese Störung des institutionellen Gleichgewichts an einem veränderten Zahlenverhältnis von Professorenstellen und Assistentenstellen bemerkbar gemacht, da man die Zunahme der Betreuungsarbeit durch die sprunghaft angestiegene Studentenpopulation vor allem durch die Vermehrung der Assistentenpositionen aufzufangen versucht habe. Der erste Effekt sei deshalb eine Krise der Nachfolgeordnung gewesen. Bourdieu charakterisiert die alte Ordnung folgendermaßen: „Die Karriere ist lediglich die Zeit, die gewartet werden muss, bis das Wesen sich realisiert. Der Assistent stellt das Versprechen dar; im Meister ist es wahrgeworden – er hat seine Prüfungen bestanden. Das alles schafft eine Welt ohne Überraschungen und erreicht den Ausschluss derer, die andere Werte, andere Interessen, andere, die althergebrachten entwertenden, disqualifizierenden Kriterien einführen könnten. Adel verpflichtet: er stiftet in eins das Recht auf Nachfolge und die Pflichten des Nachfolgers. Er spornt den Ehrgeiz an und gibt ihm Grenzen vor; er verleiht den Jüngeren Sicherheit, die nach Maßgabe der gewährten Sicherheiten Geduld, also die Anerkennung des Abstands beinhaltet und damit wieder den Älteren Sicherheit gibt. Man kann in der Tat nur erreichen, dass die Assistenten sich damit abfinden, längere Zeit und bis in ein fortgeschrittenes Alter hinein nichts zu haben, lediglich subalterne Posten zu bekleiden innerhalb einer Hierarchie (in der die im Übrigen höchst seltenen Zwischengrade nur negativ definiert sind, durch das Fehlen einiger Attribute, die den höheren Stellen zukommen), wenn ihnen die Sicherheit vermittelt wird, alles auf einmal zu erhalten, übergangslos aus der Dürftigkeit des Assistentenstatus
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in die Fülle des Professorenstandes überzuwechseln, aus der Klasse der mittellosen Erben in die der legitimen Titelträger.“ (Ebd.: 247)
Bourdieu liefert hier ein Bild der Universität vor der Bildungsexpansion, das deutlich überintegriert und harmonistisch wirkt. Bourdieu entwickelt hier ein Bild der Universität als extrem stabiles homöostatisches Gleichgewicht und gerät prompt wieder in Gefahr seine Position nicht mehr von der Systemtheorie absetzen zu können. Bourdieu verwehrt sich deshalb vehement dagegen, sich das Soziale als „ein von geheimnisvollen homöostatistischen Mechanismen bewohnten Organismus“ (ebd.: 241) zu denken. Ebenso strikt verwehrt er sich gegen die Unterstellung, selber linksfunktionalistische Argumente zu verwenden. „Muss ich, der ich seit langem schon den von mir so genannten Funktionalismus des Schlimmsten kritisiere und mit dem Begriff des Habitus ein Instrument geliefert zu haben meine, mit dem sich der Schein der objektiven Teleologie, den bestimmte Kollektive vermitteln, erklären lässt – muss ich mich wirklich noch wiederholen, dass ich mich in derartigen, auf mich gemünzten Etiketts wie ‚Soziologismus‘, ‚totalitärer Realismus‘ oder ‚Hyperfunktionalismus’ keineswegs wiedererkenne.“ (Ebd.: 240 Fn. 14)
Selber bevorzugt er dann folgende Erklärung nach der die Handelnden „über transindividuelle Dispositionen verfügen und damit veranlasst sind, objektiv aufeinander abgestimmte und den objektiven Erfordernissen mehr oder minder angepasste Praktiken hervorzubringen“ (ebd.: 241). Alternativ beschreibt er diese Ordnung auch als Zweckmäßigkeit ohne Zwecke (ebd.: 238), wobei die implizite Teleologie dieser Konstruktion besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Die Änderung des Zahlenverhältnisses von Professorenstellen und Assistentenstellen kündigt dann diesen impliziten Generationenvertrag auf und bringt das „System“ aus dem Gleichgewicht. Bourdieu beobachtete dabei zwei Effekte, die sich wechselseitig verstärkt haben sollen: einerseits eine Zunahme der Heterogenität der Merkmale der Population der Assistenten (nach Herkunft, nach Schultiteln, nach eher forschungsbasierten oder eher auf Organisationsmacht bezogenen Abschlussarbeiten) und andererseits eine Zunahme der Kämpfe um die legitime Zugehörigkeit ins Fach. Gerade in den Human- und Sozialwissenschaften, in denen ja ein ausgeglichenes Verhältnis von Organisationsmacht und wissenschaftlicher Reputation herrschen soll, seien nun zwischen den Nachfolgern der Orthodoxie und den Nachfolgern der arrivierten Häretiker harte Kämpfe um die knapper gewordenen Zukunftsaussichten ausgebrochen. Man habe die Legitimität der feldinternen Hierarchien in Frage gestellt, außerdem sei nun den Professoren eben die Kontrolle über die Zukunft ihrer Assistenten entglitten, durch die
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sie sich bisher deren Loyalität gesichert hätten. Interessanterweise lässt sich diese Analyse der internen Krise an der Universität ohne jede Referenz auf Konzepte wie Homologie rekonstruieren. Es handelt sich hier einfach um eine feldinterne Krise, die auf dem Umbau der Stellenstruktur der Organisationen beruht, und sie unterscheidet sich kaum von Abbotts Analysen psychiatrischer Kliniken (Abbott 1990). Bourdieu benötigt das Konzept des sozialen Raums hier lediglich, um zu erklären, weshalb diese Krise nur die Human- und Sozialwissenschaften betrifft (ebd.: 262). Doch Bourdieus Analyse im „Homo academicus“ beschränkt sich nicht auf die Analyse feldinterner Kämpfe. Bourdieu versuchte auch noch eine Erklärung für die Protestbewegung des Mai 1968 mitzuliefern. Bourdieu war fasziniert von der Solidarisierung von Gruppen, die nicht durch ähnliche Interessen miteinander verbunden gewesen sind – die Solidarisierung der Studenten, die unter der Massenuniversität leiden, mit den Assistenten, die unter der Störung der Nachfolgeordnung leiden und die Solidarisierung der ehemaligen Studenten, die unter der Bildungsinflation leiden, mit der Arbeiterklasse. All diese unterschiedlichen Gruppen hätten sich hinter dem Banner einer spontaneistischen Theorie der Revolte und einem Affekt gegen alle Institutionen und insbesondere die Universität versammelt. Bourdieu geht davon aus, dass die Krise einen allgemeinen Zweifel an der symbolischen Herrschaftsstruktur des sozialen Raums hervorgerufen habe. Bourdieu erklärt die Solidarisierung dieser sehr heterogenen Gruppen dann durch die Habitusverwandtschaft all derer, die in ihren Feldern beherrschte Positionen einnehmen. Da die Universität zwei Funktionen bedient – Erziehung und Forschung – kann nach Bourdieu eine Krise in diesem Feld eine Krise im allgemeinen sozialen Raum auslösen. Bourdieu war dabei hin und her gerissen zwischen der Krise als „Enthüllung“, die die Kontingenz und den Partikularismus der Machtstrukturen sichtbar gemacht haben soll, und der komplementären Argumentationsfigur der Gegner als Komplizen, die für Bourdieu erklärt, weshalb die notwendige Selbstillusionierung der Protestierenden zur Verkennung des „eigentlichen“ Problems geführt habe. Denn tatsächlich kommt es nur wieder dazu, dass diejenigen, die eine beherrschte Position in der herrschenden Klasse einnehmen, das Wort für die wirklich Beherrschten der Arbeiterklasse ergreifen und diese im Namen unverständlicher Parolen zum Schweigen verurteilen (ebd.: 301). Bourdieus Beschreibungen feldinterner Karrieren fallen nicht immer so überintegriert und harmonistisch aus, wie sein Bild der Universität vor der Bildungsexpansion. Gerade Bourdieus Analysen der Karrieren im Kunstfeld fallen weitaus turbulenter und konfliktreicher aus. Bourdieu beschreibt die Kunst als viel weniger institutionalisiertes Feld, auf dem sich nur in wenigen Bereichen Ar-
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beitsorganisationen mit festen Stellenstrukturen entwickelt haben. Bourdieu beschreibt die Karrieren im Kunstfeld deshalb marktförmig. Er unterscheidet dabei zwei Märkte – den der am ökonomischen Verkaufserfolg orientierten populären Kunst und den der Avantgardekunst, auf dem die Künstler vorwiegend um die Anerkennung anderer Künstler kämpfen (Bourdieu 1999: 198ff.). Das Feld der Avantgardekunst beschreibt Bourdieu dabei als besonders turbulent, da hier jede neue Generation von Künstlern zunächst die alte vom Thron stoßen müsse. In diesen generationsspezifischen Konflikten wird dabei nicht nur um Stilfragen gekämpft, sondern auch um die Dominanz der verschiedenen Gattungen der Kunst wie Lyrik, Theater und Roman. Dennoch hält Bourdieu auch in seiner Kunstsoziologie seine Homologiethese aufrecht. So lassen sich die beiden Subfelder der Kunst wieder in der bipolare Machtstruktur des sozialen Raums verorten und auch hier geht Bourdieu davon aus, dass sich die Individuen ihrer Herkunft entsprechend auf diese beide Felder verteilen. Außerdem geht er davon aus, dass sich Künstler und Publikum auf den beiden Feldern in einem Verhältnis einer prästabilierten Harmonie befinden (ebd. 259ff.). Bourdieus Analyse macht hier einen durchaus zwiespältigen Eindruck, der permanenten Revolution im Feld der Avantgardekunst entspricht die sich darunter stillschweigend reproduzierte Homologie der Felder mit den Machtstrukturen im allgemeinen Raum. Vergleicht man „Die Regeln der Kunst“ mit dem „Homo academicus“, dann fällt auf, wie groß bei Bourdieu die Differenz zwischen den rein feldinternen Kämpfen um die Nachfolgeordnung in der Kunst und dem generellen Aus-demGleichgewicht-Geraten von Feldstrukturen und den Strukturen im allgemeinen sozialen Raum, das er an der Krise des universitären Felds ausgemacht haben will, ausfällt. Denn während die permanente Revolution in der Kunst ein sich in jeder Generation wiederholendes gesellschaftlich mehr oder weniger folgenloses Spektakel bildet, macht Bourdieu die Krise an der Universität für die Protestbewegung des Mai 1968 verantwortlich. Dieser Unterschied lässt sich nicht darauf beschränken, dass die Universitäten eben auch dem Feld der Erziehung angehören, das wohl den wichtigsten Beitrag zur Reproduktion der Herrschaftsstruktur liefert. Denn Bourdieu führt die Studentenbewegung nicht nur auf die durch die Bildungsinflation ausgelöste Frustration der ehemaligen Studierenden zurück, sondern auf eine Koalition extrem heterogener Gruppen aus Oberassistenten, Assistenten, Studierenden, Teilen der Professorenschaft und Teilen der Arbeiterschaft. Bourdieu, der sonst von der reibungslosen und selbstverständlichen Reproduktion der Machtstrukturen im Allgemeinen sozialen Raum ausgeht, dramatisiert plötzlich deren Labilität. Die Argumentationsfigur der negativen Soziodizee kommt hier gerade in der Dramatisierung dieser Ereignisse zum Vorschein.
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K RITISCHE D ISKUSSION Ich habe auf den vorangegangenen Seiten zu demonstrieren versucht, dass Bourdieus Analysen des Statuszuweisungsprozesses in der modernen Gesellschaft immer wieder zur Figur der negativen Soziodizee zurückkehren, die in gewisser Weise die Logik des Meritokratiemodells reproduziert, indem sie diese in spiegelverkehrter Form wiederholt. Bourdieus Modell der Reproduktion der Machtstrukturen des sozialen Raums in den und durch die Felder arbeitet mit einem dem Meritokratiemodell analogen Modell der prästabilisierten Harmonie. Das Feld der Erziehung reproduziert die Klassenstruktur über die Generationen hinweg, auch wenn es immer wieder einige Individuen aus der Oberschicht opfert und einige Individuen aus der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum rettet, um die Illusion der Chancengleichheit aufrecht zu erhalten. Die Homologiethese beschränkt sich dabei nicht auf das Feld der Erziehung, sondern Bourdieu führt sie in den Berufskarrieren in den Feldern weiter. Bourdieus Tendenz zu einem übersozialisierten Menschenbild reproduziert die Idee einer fast lückenlosen Vergesellschaftung (Simmel 1992; 57ff.), wie sie sich auch im Meritokratiemodell findet. Ich möchte zum Schluss noch einmal die Argumente zusammenfassen, die gegen diese Lösung sprechen. Bourdieus theoretische Formulierungen wie die Homologiethese legen oft die Annahme sehr starker empirischer Zusammenhänge nahe. Die empirisch feststellbaren Befunde fallen meist sehr viel weniger deutlich aus. Am deutlichsten lässt sich dies an seiner Erziehungssoziologie ablesen. Die Funktion des Feldes der Erziehung lässt sich schon deshalb nicht mit der Funktion der Reproduktion der Klassenstruktur identifizieren, da das Feld nicht nur das kulturelle Kapital der Eltern reproduziert, sondern selber kulturelles Kapital produziert. Bourdieu scheint die Offenheit der Schichtungsstrukturen in der modernen Gesellschaft eher zu unterschätzen. Obwohl die Mobilitätsstrukturen der modernen Gesellschaft weit von der Realisierung von Chancengleichheit entfernt sind, weist beispielsweise die Oberschicht eine erstaunlich heterogene Rekrutierungsbasis auf (Goldthorpe et al. 1980: 47ff.). Auch wenn Bourdieu in der Anwendung der Homologiethese auf die anderen Felder nie so weit geht, daraus eine explizite Theorie zu den Mobilitätsprozessen in den Feldern abzuleiten, so legt sie doch relativ starke Zusammenhänge nahe. Die Status-Attainment-Forschung hat sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, ob sich der Einfluss des schichtspezifischen Familienhintergrunds auf die Klassendestination eher über die Schichtselektivität des Erziehungssystems oder eher über den direkten Einfluss auf die Berufskarriere auswirkt. So wurde in der Potsdamer Elitenstudie ein starker Effekt des Familienhintergrunds auf den Schulerfolg und die Bildungspartizipation
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festgestellt, der nach Ursula Hoffmann-Lange etwa 38% der Varianz des erreichten Schichtstatus erklärt und einen sehr viel schwächeren direkten Effekt, der den Bereich der erklärten Varianz lediglich um 3 % steigert (Hoffmann-Lange 2002: 196). Man sieht, es gibt einen eher schwachen direkten Effekt der Familie auf die Berufskarriere. Auch wenn Bourdieu bei der Anwendung der Homologiethese auf die Felder nie angegeben hat, wie stark die statistischen Zusammenhänge ausfallen müssen, würde man doch aufgrund der theoretischen Formulierungen deutlichere Zusammenhänge erwarten. Zumal sich dabei ein weiteres Problem stellt. Bourdieu geht davon aus, dass die objektiven Umstände, wie die im Laufe der Biographie an sich und anderen wahrgenommenen objektiven Wahrscheinlichkeiten möglicher Karrieren, sozialisierend wirken und den Habitus hervorbringen. Doch wie passt diese These zu folgendem empirischen Befund? „First apparently similar individuals receive quite different earnings: a personތs age, years of schooling, years of labor market experience, parents ތlevel of education, occupation and income tell us surprisingly little about the individualތs earnings. In standard earnings equations for individuals of the same race and sex in the United States, between two thirds and four fifths of the variance of the natural logarithm of the hourly wages or of annual earnings is unexplained by the above variables.“ (Bowles/Gintis/Osborne 2001: 1137)
Bowles, Gintis and Osborne zeigen wie Christopher Jencks vor ihnen die hohe Unprognostizierbarkeit moderner Mobilitätspfade auf. Selbst die Brüder aus einer Familie weisen eine fast so große Varianz ihrer Klassendestinationen auf wie der Rest der Bevölkerung (Jencks et al 1971). Wird nicht diese „objektive“ Heterogenität im erreichten Schichtstatus der Individuen, die auf derselben Schichtposition gestartet sind, ebenso sozialisierend wirken, wie die „objektive“ Wahrscheinlichkeit der typischen Laufbahn? Doch nicht nur die Statistik der StatusAttainment-Forschung spricht gegen Bourdieus Bild der ultrastabilen Machtstrukturen im sozialen Raum. Randall Collins‘ These von der „evaporation of deference culture“ weist ebenfalls in die entgegengesetzte Richtung (Collins 2000: 17). Nach Collins verfügt die moderne Gesellschaft eben nicht mehr über eine klare Status- und Prestigeordnung. So hat auch Erving Goffman immer wieder darauf hingewiesen, dass die Individuen der modernen Gesellschaft Statustests in öffentlichen Interaktionen weitestgehend aus dem Weg gehen, da niemand sich über den Ausgang eines solchen Konflikts sicher sein könnte. Diese Dramatisierung der Daten wirft aber auch Fragen über das Habituskonzept auf. Bourdieu geht davon aus, dass der Habitus das Ergebnis der Internalisierung der objektiven Kräfteverhältnisse im sozialen Raum und in den Fel-
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dern ist. Bourdieu hat daraus immer wieder die sehr starke These abgeleitet, dass die Machtstrukturen des sozialen Raums an den Körpern in naturalisierter Form öffentlich sichtbar würden, wodurch die Herrschaftsstruktur den Anschein der nichthinterfragbaren Alternativlosigkeit erhalte. Der Aufsteiger demonstriert dann die Überlegenheit derer, die die für ihre Klassenlage typische Laufbahn eingeschlagen haben. Fällt die Schichtselektivität des Erziehungssystems und der Berufskarrieren in den Feldern sehr viel schwächer aus, dann muss man davon ausgehen, dass sehr viel mehr Individuen auf Positionen landen, für die sie nach Bourdieu nicht vorgesehen sind. Sie können dann nicht mehr einfach als sozial auffällige Ausnahmen behandelt werden, wie der „wonderboy miraculously saved by school“ (Goldthorpe 2007: 15). Damit stellt sich aber auch die Frage, inwieweit die Struktur „objektiv gemessener“ Mobilitätschancen im Alltag überhaupt erfahrbar ist. Daran anschließend liegt die Frage nahe, wie deutlich statistische Zusammenhänge ausfallen müssen, dass diese erwartbare Sozialisationseffekte haben. Bourdieu stellt sich aber all diese Fragen nicht. Bourdieu steht an dieser Stelle dem von ihm stark kritisierten Lévi-Strauss sehr viel näher, als er wahrhaben möchte. Bourdieu geht von einem unproblematischen Kontinuum gemessener „objektiver Strukturen“ und ihnen entsprechender „subjektiver Dispositionen“ aus. Auch Bourdieu scheint immer wieder in die Falle geraten zu sein, die Logik der Forschung mit der Logik der Praxis zu verwechseln. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive fällt ein weiteres Problem auf, das Bourdieus Typologie der Felder betrifft. Nach Bourdieu befinden sich die Disziplinen Recht und Medizin auf der Seite des herrschenden Pols und die Naturwissenschaften auf der beherrschten Seite. Aus wissenschaftssoziologischer Perspektive scheint diese Verortung eher unplausibel zu sein. Vergleicht man das wissenschaftliche Renommee der Rechtswissenschaft oder der Medizin mit dem wissenschaftlichen Renommee der Naturwissenschaft, so wird klar, dass damit keine wissenschaftliche Form der Stratifikation der Felder gemeint sein kann. Nun würde auch Bourdieu dies einräumen, aber darauf hinweisen, dass die wissenschaftliche Reputation aber nur ein Kapital ist, um das an den Universitäten gekämpft wird. Man würde aber wahrscheinlich zum selben Ergebnis kommen, wenn man die Verteilung der Fördergelder aus der Politik und der Wirtschaft analysieren würde. Was bleibt sind die unterschiedlichen Einkommen der Professoren aus den verschiedenen Disziplinen, ihre statistisch typische Schichtherkunft und ihre politischen Ansichten. Doch es fragt sich, ob man diese Phänomene nicht sehr viel einfacher erklären kann als durch die letztlich doch sehr metaphysisch wirkende Homologiethese, die so schnell in eine negative Soziodizee umschlägt. Juristen und Mediziner verfügen als Professionsmitglieder beispielsweise über ganz andere universitätsexterne Arbeitsmärkte als die reinen
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Wissenschaftler. Stimmt man Luhmanns Funktionszuschreibung des Rechts zu, nach der das Recht für die Aufrechterhaltung normativer Erwartungen zuständig ist, dann liegt es nahe, davon auszugehen, dass das Recht in der Karriereselektion eher konservative und weniger lernbereite Individuen bevorzugt. Nimmt man noch hinzu, dass es sich in beiden Fällen um Professionen handelt, die ihr Laienpublikum in akuten Krisensituationen beraten müssen, in denen die Träger der Leistungsrollen keinen Zweifel an ihrer Kompetenz aufkommen lassen dürfen, dann scheint es umso plausibler, dass Individuen, die wenig geneigt sind die Welt prinzipiell in Frage zu stellen, für diese Rolle tatsächlich geeigneter sein könnten. Aus seiner Theorie der Verortung der Felder im sozialen Raum scheint Bourdieu auch weitestgehend sein Urteil über die relative Autonomie der Felder abzuleiten. Den Feldern, die er dem herrschenden Pol des sozialen Raums zuordnet, spricht er einen schwachen Grad relativer Autonomie zu und den Feldern, die er am beherrschten Pol des sozialen Raums verortet, schreibt er eine hohe Autonomie zu. Bourdieu hat seltsamerweise bei aller Leidenschaft für empirische Forschung nie ein transparentes Konzept der empirischen Indikatoren für relative Autonomie geliefert. Für den geringen Autonomiegrad des Rechts liefert er nicht mehr als ein Paar illustrative Beispiele, die sehr heterogene Sachverhalte betreffen.22 Ähnliches gilt für Bourdieus Analysen des Feldes der Politik, bei denen Bourdieu zwar wortreich die Homologiethese vertritt, aber keine empirische Konkretisierung der Homologiethese anbietet. Mit dieser unsystematischen Führung des Konzepts der relativen Autonomie verschenkt Bourdieu aber gerade den Vorzug dieses Konzepts, der doch darin bestehen sollte, Autonomie empirisch fassbar zu machen. Bourdieu hat seinen vagen Feldbegriff damit begründet, dass offene Begriffe empiriesensibler seien. Da aber gerade an dieser Stelle eine kontrollierte Empirie fehlt, die es ermöglichen würde, den unterschiedlich großen Autonomiegrad der Felder vergleichend zu analysieren, scheint doch eher das Gegenteil der Fall zu sein. Das differenzierungstheoretisch
22 Bourdieu macht die in seinen Augen eher geringe Autonomie des Rechts unter anderem daran fest, dass die Juristen schichtselektiv in der Identifikation möglicher Rechtsansprüche des Laienpublikums seien, aber er gibt dafür keine empirischen Untersuchungen an, die dies belegen. Er verweist des Weiteren darauf, dass man im Feld des Rechts mit der Kodifizierung des Arbeitsrechts erst begonnen hätte, nachdem sich die Gewerkschaften in den politischen Kämpfen durchgesetzt hätten. Es fällt schwer die Triftigkeit dieser Argumente zu beurteilen, da eine allgemeine Regel fehlt, nach der sich die verschiedenen Felder vergleichen ließen (Bourdieu 1987b).
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sehr vage Konzept der relativen Autonomie der Felder lässt sich leichter seiner Theorie der Machtstrukturen im sozialen Raum anpassen als ein differenzierungstheoretisch gehaltvolleres Konzept. Ebenso eigenwillig wirkt Bourdieus ambivalentes Verhältnis zum Linksfunktionalismus, den er regelmäßig in seinen Analysen verwendet, gegen den er sich aber fast ebenso oft vehement zur Wehr setzt. Wie Robert Merton gezeigt hat, spricht nichts dafür, dass sich die funktionale Methode per se einem bestimmten ideologischen Spektrum zuordnen ließe. Nichts würde also zunächst dagegen sprechen, die funktionale Methode beispielsweise in eine Theorie ohne Primat einzuführen. Aber alle gesellschaftlichen Institutionen und Strukturmuster müssten dann einer doppelten Analyse unterzogen werden, da sie einerseits aus der Systemreferenz einer eigenständigen Schichtungsstruktur und andererseits aus der Systemreferenz der differenzierten Felder analysiert werden müssten, wobei jeweils der spezifische Mix aus funktionalen und dysfunktionalen Folgen herausgearbeitet werden müsste. Dass Bourdieus Modell so viel übersichtlicher wirkt, liegt letztlich daran, dass Bourdieu die Feldtheorie am Schluss wieder seiner Schichtungstheorie des sozialen Raums beiordnet. Das führt nicht dazu, dass Bourdieu eine Theorie eines Primats von Schichtung vertreten würde, denn Bourdieu kann sich das Nebeneinander starker Schichtungsstrukturen und autonomer Systeme vorstellen. Allerdings bleibt Bourdieus Konzept der relativen Autonomie dabei seltsam ambivalent, da er nur den Feldern einen substanziellen Grad relativer Autonomie einräumt, die nicht an der direkten Reproduktion des sozialen Raums beteiligt sein sollen, wie den Naturwissenschaften, Teilen der Sozialwissenschaften oder der Avantgardekunst. Der letzte Punkt, der noch erwähnt werden muss, ist die oft kritisierte Statik von Bourdieus Modell des sozialen Raums: Bourdieu hat sowohl dynamischere als auch statischere Beschreibungen der sozialen Welt geliefert. Schon Bourdieus Habituskonzept findet sich in dynamischeren und weniger dynamischen Varianten. Einerseits tendiert der Habitus zur Perpetuierung der Umstände, unter denen er ausgeprägt wurde, andererseits schreibt Bourdieu ihm auch das Vermögen zu, die Tendenzen in den Feldern vorauszuahnen. Dieselbe Ambivalenz zwischen Dynamik und Statik zeichnet auch Bourdieus Konfliktbegriff aus. Während Bourdieu mit dem Konzept der feldinternen Revolution Konflikte bezeichnet, die zu radikalen Strukturänderungen führen, liefert das Konzept der Gegner als Komplizen eine Variante des sozialen Konflikts, der sozialen Wandel blockiert. Es finden sich aber Begriffe, die bei Bourdieu entweder eher für die eine oder für die andere Tendenz stehen. Der Feldbegriff scheint in vielen Hinsichten ein dynamischeres Konzept darzustellen als der soziale Raum, der als Verteilungs- und Symbolstruktur einen besonders statischen Eindruck macht. So
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scheint es naheliegend zu sein, den Versuch zu unternehmen, mit dem Konzept des Feldes der Macht den Begriff des sozialen Raums zu dynamisieren. Das Feld der Macht als Meta-Feld, auf dem über die Tauschraten der verschiedenen Kapitalformen gekämpft wird, hat allerdings diese Erwartungen nur zum Teil einlösen können. Im „Staatsadel“ macht Bourdieu vor allem eine zentrale historische Änderung auf dem Feld der Macht aus: dass das kulturelle Kapital im Vergleich zum ökonomischen Kapital an Bedeutung dazugewonnen hat. Da der Eigentümerunternehmer immer mehr vom bezahlten Manager abgelöst wird, nimmt die Bedeutung von Bildungszertifikaten, und hier von allem die der an den „Grandes Ecoles“ erworbenen, immer mehr zu. Diese These wirkt nicht gerade taufrisch, denn die Vertreter des Meritokratiemodell sind zur selben Einsicht gekommen. Immerhin hat Bourdieu im Staatsadel noch einige historische Analysen zu diesem Thema unternommen, die den Lobbyismus der „Grandes Ecoles“, den Aufstieg und Fall bestimmter Institutionen und ihre aktuelle Rangordnung betreffen. Es ist allerdings schwer zu sagen, wie Bourdieu dieses Begriffsinstrument weiter entwickelt hätte. In der Analyse der klassischen Mobilitätsanalyse hatte ich darauf hingewiesen, dass Autoren wie Checchi, Goldthorpe oder Hartmann nicht konsequent mit dem Meritokratiemodell brechen. Ich hatte das eigenwillige Verhältnis der klassischen Mobilitätsanalyse zu ihrem abwesenden Dauergegner als sehr ambivalent gekennzeichnet, da diese Subdisziplin der Ungleichheitssoziologie einerseits ihr Forschungsprogramm vor allem darin sieht, die Leistungsideologie zu widerlegen, aber es andererseits als methodologisches Instrument und als normativen Maßstab beibehält. Außerdem habe ich zu zeigen versucht, dass die typischen Beiträge dieser Forschungstraditionen zwar bezüglich einer Phase des Statuszuweisungsprozess emphatisch mit dem Meritokratiemodell brechen, aber dafür bezüglich der anderen Phasen dazu tendieren, das Modell fraglos zu reproduzieren. Ich hatte dafür die Deutung vorgeschlagen, dass es sich beim Meritokratiemodell um eine seltsame Semantikstruktur handelt, die klassisch moderne Elemente mit dem Harmonieversprechen einer alteuropäischen Semantik verbindet. Die klassische Mobilitätsanalyse bleibt nach dieser These dem Meritokratiemodell verhaftet, weil sie dessen vormoderne Elemente nicht als solche erkannt hat. Sowohl Randall Collins wie Pierre Bourdieu brechen aber konsequent und bewusst mit dem Meritokratiemodell, wobei Bourdieu die differenzierungstheoretische mit der konflikttheoretischen Tradition der Kritik an überintegrierten Sozialmodellen wie dem Teil/Ganzes-Modell oder dem Meritokratiemodell zu kombinieren scheint. Dennoch scheint auch Bourdieu dem Meritokratiemodell auf seltsame Weise verhaftet geblieben zu sein. Dort, wo er sein Modell des Statuszuweisungsprozesses zur negativen Soziodizee ausweitet, lassen sich in
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der Theoriearchitektur des kritisierten Modells und der des kritisierenden Modells deutliche Parallelen ausmachen. Dabei wäre es schlichtweg falsch zu behaupten, Bourdieu wäre sich dieser Ähnlichkeiten nicht bewusst gewesen. Bourdieu hat selbst die Ähnlichkeit seines Modells mit der vormodernen Semantik des Teils/Ganzen gesehen. So verwendet Bourdieu immer wieder die LeibnizFormel der prästabilierten Harmonie in ironisierter Form, wenn er wieder die rätselhafte Abgestimmtheit des habitusgesteuerten Handelns hervorheben will. Sieht man genauer hin, dann fällt auch Bourdieus eigenwillige Vorliebe für Begriffe aus der scholastischen Theologie auf, seine Begeisterung für Termini wie Konsekrationsmacht, Oblaten, Weihe und viele andere. Bourdieu vergleicht die modernen Parteipolitiker mit den Priestern, die ihre Karrieren nur der Kirche zu verdanken hatten. Die Zertifizierung durch die „Grandes Ecoles“ wird mit der Priesterweihe gleichgesetzt. Bourdieus Anleihen aus der Semantik der stratifizierten Gesellschaften Europas beschränken sich dabei nicht auf den religiösliturgischen Bereich, denn Bourdieu bezeichnet die Absolventen der „Grandes Ecoles“ als Staatsadel, er spricht vom Mikrokosmos und vom Makrokosmos und von Herrschaft. Bourdieu liebt diesen Verfremdungseffekt, wenn man die moderne Gesellschaft mit den Semantiken ihres historischen Vorläufers beschreibt. Fast scheint Bourdieu eine Variante von Latours bekannter These zu vertreten, nach der wir nie modern gewesen sind (Latour 1995). Nur, dass Bourdieu dabei nicht an die Semantik segmentärer Gesellschaften zu denken scheint, sondern an die Semantik stratifizierter Gesellschaften.
Niklas Luhmann: die radikal differenzierungstheoretische Perspektive des Statuszuweisungsprozesses Im krassen Unterschied zur alten Welt: Geburt ist kein Merkmal der Statusbestimmung, also kein Merkmal von Karriere (aber natürlich Merkmal ihres Gedächtnisses, die Ungeborenen können nicht erinnert werden). Auch kann, weil die Karrieristen durch Selbstselektion beteiligt sind, Karriere nicht aufgezwungen werden, nicht als Resultat von Herrschaft begriffen werden; wohl aber in einer gewissen Affinität zum alten Begriff des Schicksals, bei dem der ‚Held` am Ende einsehen muss, wie er selber mitgewirkt hatte, etwa dadurch, dass er dem Schicksal auszuweichen versucht wie Ödipus. Aber während in Schicksalserzählungen (Bei Jane Austin, bei Hegel) die Selbstbeteiligung nur am Ende einsichtig wird, ist sie im Kontext Karriere auf Zukunft angelegt und selbst ein Antriebsmotiv. NIKLAS LUHMANN/ORGANISATION UND ENTSCHEIDUNG
S OZIALTHEORIE Ich habe diesen Text mit der These eingeleitet, dass die ungleichheitssoziologische Mobilitätsanalyse in unglücklicher Art und Weise auf das Meritokratiemodell fixiert ist, das einerseits als abwesender institutionalisierter Gegner und an-
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dererseits als gewünschter normativer Maßstab verwendet wird. Ich hatte diese Obsession unter anderem damit erklärt, dass es sich beim Meritokratiemodell um eine eigentümliche Semantikstruktur handelt, die typisch moderne Elemente – die Rekrutierung anhand von Leistungen nach spezifisch universalistischen Kriterien – mit vormodernen Elementen wie dem Teil/Ganzen-Modell kombiniert. Offenbar ist es schwierig, sich dieser Kombination aus modernen Leitwerten und vormodernem Harmonieversprechen zu entziehen. Der Blick in die gesellschaftheoretischen Diskurse der Ungleichheitssoziologie und der Differenzierungstheorie hat dabei gezeigt, dass es einerseits eine konflikttheoretische und eine differenzierungstheoretische Tradition gibt, die mit jeweils sehr unterschiedlichen begrifflichen Mitteln mit den Plausibilitäten des Teil/Ganzen-Modells gebrochen haben. Auch in der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse fehlt es nicht an Versuchen, das Meritokratiemodell mit Hilfe dieser Begriffsinstrumentarien zu dekonstruieren. Randall Collins hat in „The credential society“ (1979) dabei die Möglichkeiten der Konflikttheorie vollständig ausgeschöpft. Er selbst hat aber in seiner Interaktionssoziologie demonstriert, dass er dabei die gesellschaftliche Bedeutung konfliktfähiger Statusgruppen deutlich überzogen hat. Bourdieu wiederum verwendet eine theoretisch raffinierte Kombination aus Konflikttheorie und Differenzierungstheorie. Er gelangt auf diese Weise zu einer faszinierenden negativen Soziodizee, die das Meritokratiemodell in einen perfiden Herrschaftszusammenhang umkehrt, der die Reproduktion intergenerationaler Schichtung perpetuieren soll (Elster 1981). Bourdieu bedient sich dabei virtuos der Restplausibilitäten des Teil/Ganzen-Modells. Er ironisiert Leibniz’ Begriff der „prästabilisierten Harmonie“ (Bourdieu 2001: 259) ebenso wie die vormodernen Schichtungsbeschreibungen, die Schichtung als anerkannte Hierarchie beschrieben hatten (Bourdieu 2004: 93ff.). Ich möchte nun im Folgenden zeigen, dass sich in Niklas Luhmanns Schriften zur Erziehungs- und Organisationssoziologie aber auch in den Monographien und Artikeln zu den anderen Funktionssystemen ein komplementäres differenzierungstheoretisches Modell findet, das ebenfalls konsequent mit den Plausibilitäten des Meritokratiemodells bricht. Dies liegt schon deshalb nahe, da Luhmann seine Theorie sozialer Systeme als bewussten Bruch mit der Teil/GanzesSemantik verstanden hat (Luhmann 1984: 20ff.). Während das Teil/GanzeModell die Welt ausschließlich aus ihren wohlgeordneten internen Beziehungen heraus versteht, setzt die Systemtheorie an einer Differenz an, der Unterscheidung von System und Umwelt. Die Welt taucht hier lediglich als unabgeschlossener sinnhafter Horizont auf, der alle möglichen System/Umwelt-Unterscheidungen in sich aufnimmt. Die sozialen Systeme müssen sich durch Prozesse sinnhafter Grenzziehung von ihrer Umwelt unterscheiden. Luhmann cha-
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rakterisiert dabei das Verhältnis von System und Umwelt als Komplexitätsgefälle, da die Umwelt letztlich den Horizont der Welt aus systemrelativer Perspektive darstellt. Kein System könne sich auf jedes mögliche Umweltereignis einstellen und darauf eine eigene passende Antwort bereithalten. Es fehle den sozialen Systemen dafür an „requisite variety“ (ebd.: 47). Stattdessen müssten die Systeme Strukturen der selektiven Aufmerksamkeit aufbauen. Luhmann hat diese Strukturen als Erwartungsstrukturen bezeichnet und immer hervorgehoben, welches Risiko in der Selektivität der Erwartungsstrukturen steckt, da sie das System auch indifferent gegenüber Umweltereignissen machen können, die sich für die eigene Reproduktion als relevant erweisen (ebd.: 396ff.). Soziale Systeme sind aber nach Luhmann zudem komplexe Systeme, die über mehr Verhaltensund Kommunikationsmöglichkeiten verfügen als sie in einer bestimmten Situation realisieren können. Luhmann leitet daraus die Konsequenz ab, dass soziale Systeme sich gegenüber sich selbst selektiv verhalten müssen. Jedes soziale System leidet also unter dem Risiko einer doppelten Selektivität: auf welche Umweltereignisse soll es reagieren und welche interne Kommunikationsmöglichkeit soll dabei aktiviert werden? Während das Teil/Ganze-Modell sich das Außen eines Ganzen wiederum nur als harmonisches Teil-Sein an einem umfassenderen Ganzen vorstellen konnte, beschreibt Luhmann die sozialen Systeme über ihre Erwartungsstrukturen, mit deren Hilfe sich die Systeme in einer Umwelt bewähren müssen, die durch die Erwartungsstrukturen immer nur partiell ausgeleuchtet wird und die nicht determiniert, wie die Systeme im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten reagieren werden. Luhmann hat dieses Modell noch radikalisiert, indem er in seiner Differenzierungstheorie die Bildung von Subsystemen als Wiederholung der System/Umwelt-Unterscheidung innerhalb des Systems gefasst hat (ebd.: 37). Differenzierte Systeme sind dann letztlich nichts anderes als die Einheit aller internen System/Umwelt-Differenzen. Aus der Perspektive der Teilsysteme stellt das umfassende Systeme lediglich einen, wenn auch sehr dominanten Ausschnitt aus der Umwelt des Systems dar, der die Komplexität der umgebenden Umwelt filtert und reduziert. Für die Teilsysteme stellt die Umwelt des differenzierten Systems lediglich eine Bedingung der eigenen Reproduktion dar1. Die anderen Teil-
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In der Organisationssoziologie ist dieser Sachverhalt oft unter dem Thema Zweck/Mittel-Verschiebung diskutiert worden. In der Theorie der zweckrationalen Organisation stellt lediglich der oberste Organisationszweck einen eigentlichen „Zweck“ dar, während alle abteilungsspezifischen Zweckprogramme letztlich als Mittel behandelt werden. Die empirische Organisationsforschung hat aber in den forma-
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systeme sind lediglich weitere Systeme in der Umwelt des Systems. Jedes System bezieht sich neben der systeminternen Umwelt auch auf bestimmte Ausschnitte der gesamtsystemexternen Umwelt, und dabei sind meist auch Intersystembeziehungen zu Systemen in der gesamtsystemexternen Umwelt involviert. Jedes Teilsystem wird dann dazu neigen, die Priorität des Umweltsektors, dem es sich bevorzugt widmet, über die Prioritäten der anderen Teilsysteme zu stellen. Das Gesamtsystem verliert aber damit seine festumrissenene widerspruchsfreie Identität, weil jedes Teilsystem eine andere Beschreibung seiner gesamtsysteminternen Umwelt entwirft. Auch hier wählt Luhmann den maximalen Kontrast zum Teil/Ganzen-Modell. Denn im Rahmen dieser Semantik konnte man sich die interne Differenzierung ja nur als harmonische Widerspiegelung der Ordnungsstruktur des umfassenden Ganzen vorstellen. Am deutlichsten werden die Konsequenzen dieser Begriffsumstellung an Luhmanns Beschreibung der modernen Gesellschaft. Luhmann unterscheidet die verschiedenen historischen Gesellschaften nach ihrer Differenzierungsform als dem Prinzip, nach dem innerhalb der Gesellschaft die primären Teilsysteme gebildet werden. Er unterscheidet dabei vor allem zwischen segmentären, stratifizierten und funktional differenzierten Gesellschaften (Luhmann 1997: 609ff.). Segmentäre Gesellschaften differenzieren sich danach in gleichartige und gleichrangige Teilsysteme aus, die stratifizierten Gesellschaften bringen ihre Teilsysteme hingegen in eine Rangfolge und die funktional differenzierte Gesellschaft differenziert schließlich mehrere auf jeweils eine gesellschaftliche Funktion spezialisierte Teilsysteme aus, die sich nicht mehr in eine verbindliche Rangfolge bringen lassen. In den segmentären Gesellschaften stellt das übergreifende System einerseits eine sehr schwache Einheit dar, andererseits unterscheiden sich die Perspektiven der verschiedenen Stämme oder Clans nur relativ schwach voneinander, da sie sich selbst nur wenig voneinander unterscheiden (ebd.: 641). Die Teilsysteme der stratifizierten Gesellschaften unterscheiden sich zwar sehr stark voneinander, aber hier existiert eben noch eine legitime gesellschaftliche Spitze. „Die Differenzierungsform sah jeweils eine konkurrenzfreie Position für die
len Organisationen sehr oft Formen der Zweck/Mittel-Verschiebung festgestellt – sei es, dass eine Abteilung ihr Zweckprogramm zum Selbstzweck erklärt oder sei es, dass die Abteilung noch weitergeht und das Unternehmen selbst zum Mittel des eigenen Unterzwecks degradiert (Luhmann 1973: 272ff.). Aus der Perspektive des Modells der zweckrationalen Organisationen handelt es sich bei Zweck/Mittel-Verschiebungen um zu korrigierende Devianzen, während es sich aus Luhmanns Perspektive lediglich um eine logische Konsequenz interner Differenzierung handelt.
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richtige Beschreibung der Welt und der Gesellschaft vor, nämlich die Spitze der Hierarchie, den Geburtsadel, und das Zentrum der Gesellschaft, die Stadt.“ (Ebd.: 894) In der funktional differenzierten Gesellschaft liefert nach Luhmann jedes Teilsystem – die Politik, das Recht, die Wirtschaft, das Erziehungssystem und einige andere – seine eigene Beschreibung der Gesellschaft, die aber nur noch teilsystemrelative Gültigkeit besitzt. Alle Teilsysteme tendieren außerdem nach Luhmann dazu, die Bedeutung des eigenen Codes zu überschätzen, also sich selbst zum Mittelpunkt der Gesellschaft zu erklären (Hypostasierung des Codes, Luhmann 1973: 42). Luhmann erklärt mit dieser strukturellen Eigentümlichkeit der funktional differenzierten Gesellschaft unter anderem auch, weshalb sie in ihrer Semantik nur noch das Nebeneinander verschiedener widersprüchlicher Rationalitätsansprüche kennt, aber über kein gesellschaftliches Rationalitätskontinuum mehr verfügt (Luhmann 2008: 186ff.). Aus diesem Grund hat er die moderne Gesellschaft auch als polykontexturales System beschrieben. Luhmanns Analyse der modernen Gesellschaft erklärt auch einige seiner radikalen begrifflichen Umstellungen, die über den engen Bereich der Gesellschaftstheorie hinausgehen und sich in seinen sozialtheoretischen Grundannahmen niedergeschlagen haben. Ich möchte dies zunächst am Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nachzeichnen. Luhmann hat darauf aufmerksam gemacht, wie stark sich im Übergang zur modernen Gesellschaft die Form geändert hat, nach der die Individuen in die Gesellschaft inkludiert werden: In den segmentären wie in den stratifizierten Gesellschaften seien die Individuen noch aufgrund askriptiver Familienzugehörigkeit als ganze Personen einem Teilsystem – sei es einem Stamm oder einem Stand – zugeordnet worden (Luhmann 1993: 156ff.). In der modernen Gesellschaft hingegen würden die Individuen nur noch durch die Übernahme einer teilsystemspezifischen Rolle in die Gesellschaft inkludiert. Nach Luhmann findet sich für das Individuum als kompletter Person kein Platz mehr in der Gesellschaft. Das Individuum als personale alle verschiedenen teilsystemischen Rollen übergreifende Einheit sei in der modernen Gesellschaft ortlos geworden. Dem kontrastiert dann der Befund, dass die moderne Gesellschaft einen radikalen Individualisierungsprozess durchlaufen haben soll. Zentrale Kommunikationsstrukturen wie die Partnerwahl in Intimbeziehungen oder die Berufswahl seien der Familie entzogen worden und würden heute auf individuelle Entscheidungen zugerechnet. Zugleich hätten viele Teilsysteme eine ganz neue Sensibilität gegenüber den von den Individuen kommunizierten Motiven ausgebildet, die sich vor allem in der seit dem 18. Jahrhundert sprunghaft vermehrenden Semantik des Verdachts inauthentischer Frömmigkeit oder versteckten Eigennutzes niedergeschlagen habe (ebd.: 184ff.). Für Luhmann handelt es sich dabei gerade um komplementäre Prozesse. Erst wenn die Individuen ih-
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ren Platz in der Gesellschaft verlieren, können die Teilsysteme Sensibilität für die Unberechenbarkeit, Inkonsistenz und Idiosynkrasie der Individuen gewinnen. „Wenn somit das Verhältnis der Gesellschaft zu den Individuen von Inklusionsindividualität auf Exklusionsindividualität umgestellt wird, so gilt für die Systemdifferenzierung das genau entgegengesetzte Prinzip und der Zusammenhang ist leicht einzusehen. Ältere Gesellschaften müssen, weil sie Individualität durch Inklusion erst begründen, gesellschaftsinterne Differenzierungen über Exklusion begründen. Wenn man einer Familie angehört, kann man nicht zugleich einer anderen angehören, denn das würde gewissermaßen zu einer monströsen Individualität, zu einer Mischindividualität führen. Muss dagegen, wie in der modernen Gesellschaft, die Individualität von vornherein extrasozietal gedacht werden, kann die Differenzierung des Gesellschaftssystems sich auf unterschiedliche Formen der Inklusion von Individuen (als Wählern, als Patienten, als Leser, als Kunstgenießer etc.) stützen. Dann liegt das Problem in der Antizipation von bereits individualisierten Individuen, und dafür müssen, je nach Funktionsbereich, unterschiedliche Angebote entwickelt werden, soll nicht die vielbefürchtete Entfremdung zum Prinzip werden.“ (Ebd.: 160)
Luhmann hat daraus eine radikale sozialtheoretische Konsequenz gezogen, indem er die Individuen als psychische Systeme in die Umwelt sozialer Systeme verwiesen hat (Luhmann 1984: 290). An dieser Stelle kommt dem Begriff der doppelten Kontingenz eine entscheidende Rolle zu (ebd.: 166ff.). Unter doppelter Kontingenz erfasst Luhmann zunächst das Verhältnis zweier Individuen, die sich in einer sozialen Situation gegenüberstehen und bemerken, dass die Selektion des eigenen Verhaltens von der Selektion des Verhaltens des anderen abhängt. Nach Luhmann erzeugt diese Situation unbestimmbarer sozialer Komplexität – ich weiß nicht, wie der andere mich wahrnimmt – eine so hohe Verhaltensunsicherheit, dass Zufälle oder Unterstellungen zum Aufbau bestimmter aber enttäuschbarer wechselseitiger Erwartungen führen. Auch die Enttäuschung der Erwartungen reduziert Komplexität. Man unterstellt ein kooperatives Gegenüber und wird enttäuscht und kann nun ein feindseliges Verhalten erwarten. Selbst wenn die ursprüngliche Unterstellung fremder Motive falsch lag, führt sie dennoch zum Aufbau von Erwartungsstrukturen, die einschränken, was in der Situation noch möglich ist. Man unterstellt feindseliges Verhalten und verhält sich deshalb selbst feindselig und ruft gerade dadurch feindseliges Verhalten hervor. Soziale Systeme – hier verstanden als rekursive Kommunikationsprozesse – führen nach diesem Modell zur sozialen Ordnungsbildung, auch wenn die in der Kommunikation attribuierten Motive und Handlungsfolgen nicht zur Selbstwahrnehmung der beteiligten Individuen passen.
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Diese Begriffsumstellungen führen nun zu einer Reihe von theorietechnischen Konsequenzen, die sich auch in der Mobilitätsanalyse niederschlagen werden. Zum einen hängt die Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung in diesem Modell sehr viel weniger von Sozialisationsprozessen oder übereinstimmenden Motiven ab, wie in den kulturtheoretischen oder akteurstheoretischen Modellen. Zwar setzt die Emergenz sozialer Systeme auch bei Luhmann eine basale strukturelle Kopplung psychischer und sozialer Systeme voraus, die beispielsweise aus der Sprachabhängigkeit anspruchsvollerer Kommunikationsprozesse resultiert. Aber nach Luhmann kommt es eben auch dann zur Entstehung sozialer Ordnungsbildung, wenn sich die Individuen in den Motiven ihres Gegenübers täuschen, oder wenn sie die Erwartungen des anderen zwar richtig erwarten, aber sich nicht konform verhalten oder wenn sie sich wechselseitig zu täuschen versuchen. Die sozialen Systeme befreien sich auch dann aus der lähmenden Falle unbestimmter sozialer Komplexität, wenn die beteiligten psychischen Systeme nicht dieselben kognitiven, expressiven Schemata oder normativen Erwartungen internalisiert haben, wenn ihnen wenig an der Anerkennung des anderen liegt oder sich keine stabile wechselseitige Befriedigung ihrer individuellen Präferenzen ergibt. Luhmann vermeidet damit das Problem eines übersozialisierten Menschenbildes aber auch einige Dilemmata des Rational ChoiceParadigmas. Außerdem sensibilisiert dieses Konzept für die idiosynkratische Unberechenbarkeit psychischer Systeme, die ihre Involviertheit in die Kommunikationsprozesse der Gesellschaft oft unter zwar biographisch begründbaren aber von außen weitestgehend intransparenten Sinnunterstellungen erleben. Luhmann hat das System/Umwelt-Paradigma aber nicht nur auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft angewandt, sondern auch auf die Mikro-, Meso- und Makrounterscheidung sozialer Ordnungsbildung. Auch seine Handhabung dieser Unterscheidung lässt sich am besten aus gesellschaftstheoretischer Perspektive klarmachen. Zunächst einmal gilt auch hier die Einsicht einer strikten Trennung psychischer und sozialer Systeme. Luhmann unterscheidet dabei drei Typen sozialer Systeme, die sich vor allem in ihrer Reichweite unterscheiden: auf der Mikroebene identifiziert Luhmann die Interaktion unter Anwesenden, die als soziales System entsteht, wenn physisch kopräsente Individuen zu kommunizieren beginnen, auf der Mesoebene die formalen Organisationen, die als rekursive Entscheidungszusammenhänge auf der Grundlage von Mitgliedschaftsrollen konzipiert werden und schließlich auf der Makroebene die Gesellschaft als dem umfassenden Sozialsystem selbst (Luhmann 1975: 9-20). Luhmann liefert dabei zwar eine grobe Typologie dieser drei Formen sozialer Systeme, doch letztlich lässt sich für ihn das Verhältnis der Mikroebene, Mesoebene und der Makroebene sozialer Ordnungsbildung nur von der Ebene der Gesell-
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schaftstheorie her verstehen. Die Frage, ob die drei Ebenen als relativ selbstständige Formen sozialer Ordnungsbildung verstanden werden müssen, oder ob sich zwei dieser Ebenen auf die dritte reduzieren lassen, wird von Luhmann durch eine Historisierung der Frage unterlaufen (ebd.: 18). Neben dem Prozess gesellschaftlicher Differenzierung hat Luhmann das Konzept der sozialen Differenzierung entwickelt. Bezeichnet wird damit ein sozialer Prozess, in dessen Verlauf sich die drei Typen sozialer Systeme gegeneinander ausdifferenzieren und dadurch eine größere Variationsbreite und sehr viel mehr Freiheitsgrade entwickeln. Luhmann vertritt dabei die These, dass der Prozess der sozialen Differenzierung vom Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung abhängt. Dabei darf diese Position nicht mit einem einfachen Makrodeterminismus verwechselt werden, da dieser Differenzierungsprozess nicht nur die Mikro- oder Mesoebene sondern auch die Makroebene selbst transformiert. So wie sich die Interaktionen und Organisationen im Laufe dieses Prozesses von den strikten gesellschaftlichen Vorgaben befreien, so wird die Gesellschaft beispielsweise im Laufe dieses Prozesses immer unabhängiger von den Einschränkungen, die daraus resultieren, dass gerade in den segmentären Gesellschaften alle gesellschaftlichen Kommunikationen in der Interaktion unter Anwesenden stattgefunden haben. Luhmann hat für den Prozess sozialer Differenzierung zwei Erklärungen geliefert: eine medientheoretische und eine rollentheoretische. Mit der Entwicklung von Schrift verändert sich die Gesellschaft schon deshalb, weil nun ein schriftlich fixiertes soziales Gedächtnis jenseits der oralen Tradition entsteht. Schrift erleichtert unter anderem die Institutionalisierung fester sozialer Positionen, die über die Zeit und die einzelne Interaktion hinweg als identisch erwartet werden können, obwohl die Individuen, die sie temporär ausfüllen, immer wieder ausgetauscht werden müssen. Es ist sicher kein Zufall, dass die Staatsentstehung erst in den über Schrift verfügenden stratifizierten Gesellschaften wirklich an Dynamik gewinnt (Luhmann 1997: 681ff.). Dennoch seien die stratifizierten Gesellschaften immer noch stark interaktionsabhängig geblieben, da der Adel als zentrales Teilsystem und unwidersprochene Spitze der Gesellschaft selbst noch als hochverdichteter Interaktionszusammenhang beschrieben werden müsse. Erst mit der Evolution der Verbreitungsmedien wie Buchdruck oder Telekommunikation und der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Geld oder Macht hätte sich die Reproduktion der Teilsysteme wie Politik oder Wirtschaft vom Gelingen oder Misslingen teilsystemischer Interaktionen weitestgehend unabhängig gemacht. Die rollentheoretische Erklärung erklärt eher den Autonomiegewinn von Interaktionen und Organisationen. Solange die Inklusion der Individuen über askriptiv vergebene, kompakte Rollenbündel erfolge – die Familienzugehörigkeit
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bestimmt in den stratifizierten Gesellschaften noch, wen man heiraten kann, welche Berufsrolle man übernehmen kann und ob und wie man erzogen wird – , solange bleibe die Interaktion unter Anwesenden immer noch durch Rücksichten auf die anderen eigenen Rollen der Anwesenden in ihren Möglichkeiten inhibiert. Erst wenn die Gesellschaft die Rollenwahl individualisiere, falle diese gesellschaftliche Disziplinierungstechnik weg und die Bestimmung der Situationsdefinition könne dann sehr viel mehr den Aushandlungsprozessen der Anwesenden überlassen werden. Ähnlich verhält es sich nach Luhmann auf der Ebene der formalen Organisationen. Formale Organisationen beruhen auf der Freiwilligkeit der Übernahme der Mitgliedschaftsrolle. Das setzt bereits eine ziemlich weitgehende Freisetzung der Individuen aus askriptiven Gruppenzugehörigkeiten voraus. Des Weiteren setzen formale Organisationen voraus, dass ihre Strukturen wie die Stellenprogrammierungen, ihre Rangstrukturen sowie die Rekrutierung der Mitglieder das Ergebnis des Entscheidungsprozesses in der Organisation sind. Formale Organisationen als Sozialsysteme unterscheiden sich von ihren historischen Vorläufern, den Korporationen wie beispielweise den vormodernen Kirchen oder Klöstern, dadurch, dass die gesellschaftliche Umwelt nicht mehr bindend festlegt, wen man rekrutieren kann, und auch dadurch, dass der gesellschaftliche Schichtstatus der Mitglieder nicht schon ihre Position in der organisationsinternen Rangstruktur determiniert und die Aufgabenprogramme der Stellen nicht zeremoniell festgeschrieben sind. Diese Ausweitung der internen Freiheitsgrade organisatorischen Entscheidens hat sich erst nach und nach durchgesetzt. Luhmann geht davon aus, dass die Organisationen noch lange ihre interne Rangstruktur durch Subventionierung mit dem kongruenten Schichtstatus des Stelleninhabers absichern mussten (Luhmann 2000: 204). Luhmann scheint sich dabei aber nicht sicher gewesen zu sein, ob dieser Prozess der Ablösung der organisatorischen von den gesellschaftlichen Rangstrukturen heute schon als komplett abgeschlossen betrachtet werden kann, wenngleich er deutliche Tendenzen in dieser Richtung ausgemacht hat.
S CHICHTUNG
UND
D IFFERENZIERUNG
Auch wenn sich die Unterscheidung von Theorien mit einem Primat funktionaler Differenzierung und Theorien ohne Primatannahmen im Verhältnis von funktionaler Differenzierung und Schichtung bei Luhmann selbst nicht findet, besteht kein Zweifel daran, dass er von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgegangen ist. In der modernen Variante dieser Theorietradition werden die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft als das Ergebnis der unkoor-
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dinierten strukturellen Kopplungen der Teilsysteme und ihrer Arbeitsorganisationen verstanden. Aus der Perspektive einer systemtheoretischen Analyse scheint sich das Phänomen mehrdimensionaler, generationenübergreifender sozialer Ungleichheit in den lokalen Kontexten verschiedener Funktionssysteme als funktional zu erweisen – weshalb die Schichtungsstrukturen dort auch immer wieder reproduziert werden –, wohingegen Luhmann auf der Ebene der Gesamtgesellschaft die Funktionslosigkeit von Schichtung konstatiert (Luhmann/Schor 1988: 238ff.). In dieser Theorie wird funktionale Differenzierung als die zentrale, sich selbst reproduzierende Gesellschaftsstruktur verstanden, während das Phänomen sozialer Schichtung zur „abhängigen Variable“ erklärt wird. Dass diese Beschreibung der modernen Schichtungsstrukturen in den Reihen der Ungleichheitssoziologen auf sehr viel Skepsis stößt (Schwinn 2007: 14), nimmt kaum Wunder, denn der Verdacht liegt nahe, dass dieses Modell dem Phänomen sozialer Schichtung nicht genug Bedeutung zuweist und deshalb nicht in der Lage sein wird, die Robustheit der Schichtungsstrukturen in der modernen Gesellschaft sowie deren weitverzweigte Effekte in alle Gesellschaftsbereiche hinein zu erklären. Luhmann hält zunächst fest, dass alle einschlägigen Modelle sozialer Ungleichheit eine Annahme teilen: dass man sich soziale Ungleichheit als mehrdimensionales Konzept vorstellen muss, das eine relativ hohe Korrelation der Verteilung verschiedener sozial hoch bewerteter Ressourcen feststellt. Die Ungleichheitssoziologie, die diese Korrelationen in den Verteilungen der Ressourcen verschiedener Funktionssysteme wie Einkommen, Vermögen oder Bildungszertifikaten empirisch immer wieder bestätigt findet, tendiert nach Luhmann des Weiteren zu der Annahme, dass das Konzept der Statuskonsistenz nicht nur einen wissenschaftlichen Befund bezeichnet, sondern auch eine gesellschaftlich institutionalisierte Erwartung zum Ausdruck bringt. Sehr deutlich kam diese Annahme in der Statusinkonsistenzforschung zum Ausdruck. Mit dem Begriff der „Statuskristallisation“ formulierte Lenski (1956) die These, dass die moderne Gesellschaft Statuskonsistenz normativ erwartet und deshalb Personen, die einen gewissen Grad an Statusinkonsistenz aufweisen, nicht denselben Schichtstatus zubilligt, wie den Personen, die über einen konsistenten Schichtstatus verfügen. „Apparently the individual with a poorly chrystallized status is a particular type of marginal man and is subjected to certain kinds of pressures by the social order which are not felt by individuals with a more highly chrystallized status. Conceivably a society with a relatively large proportion of persons whose status is poorly chrystallized is a society which is in an unstable condition.“ (Ebd.: 412)
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Bei Pierre Bourdieu taucht dasselbe Problem auf. Er geht davon aus, dass sich die Klassenlagen der Arbeiter, der Kleinbürger und der Bourgeoisie vor allem im Umfang des ökonomischen und kulturellen Kapitals unterscheiden und dass diese Klassen eine anerkannte Hierarchie bilden. Der Kleinbürger ist nach Bourdieu ein Bürger, der sich kleinmacht, um kein Arbeiter zu sein, aber auch der trotzige Arbeiter glaube an die eigene Inferiorität gegenüber den Wohlhabenderen und Gebildeteren2. Luhmann hingegen vertritt aus differenzierungstheoretischer Sicht genau die entgegengesetzte Position. „Die Frage ist, anders formuliert, warum eigentlich Statuskongruenz auf verschiedenen Dimensionen mit einer gewissen Normalität erreicht und akzeptiert wird, während Statusinkongruenz (wie etwa spektakuläre Unbildung der Reichen oder hochreichende Kontakte von Kriminellen) als Problem empfunden wird. Was spricht, könnte man fragen, dagegen, dass Nobelpreisträger sich selbst die Schuhe putzen müssen und ihre Freunde auf dem Sofa schlafen lassen? Das Prinzip funktionaler Differenzierung spricht dafür“ (Luhmann 1985: 145).
Luhmann kehrt damit die Beweislasten um: Nach Luhmann geht es nicht darum, das Vorhandensein statusinkonsistenter Individuen zu erklären, sondern darum, das Vorhandensein der statuskonsistenten Individuen zu erklären. Für Luhmann ist der empirische Befund einer mehrdimensional konsistenten Verteilungsstruktur in der modernen Gesellschaft das zu erklärende Problem. Schließlich handelt es sich bei den wichtigsten Ressourcen ja entweder um die Ressourcen bestimmter Funktionssysteme oder um die Ressourcen formaler Organisationen und jede dieser Systemreferenzen wird von Luhmann als ausdifferenziertes autonomes System erfasst. Luhmann muss erklären können, weshalb diese Systeme in ihren Verteilungseffekten zu übereinstimmenden Verteilungsmustern kommen, obwohl zumindest die Systemgrenzen zwischen den Funktionssystemen als Kon-
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Allerdings achtet Bourdieu auch auf die Zusammensetzung des Kapitals und hier findet sich eine interessante Anomalie. Nach Bourdieu herrscht in der Bourgeoisie ein eher geringer Grad an Statuskonsistenz, da man auf der einen Seite eine Fraktion finde, die über das Geld, aber nicht über den gebildeten Geschmack und auf der anderen Seite eine Fraktion finde, die zwar über den gebildeten Geschmack, aber nicht über das nötige Kleingeld verfüge. Bourdieu löst das Problem bekanntlich, indem er das Verhältnis dieser beiden Fraktionen hierarchisch nach dem Dual herrschend/ beherrscht auflöst (Bourdieu 1987: 442ff.).
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versionssperren fungieren sollten und die Funktionssysteme normativ darauf verpflichtet sind, in ihren Entscheidungen von den Ereignissen in den anderen eigenen Rollen der Individuen abzusehen. Luhmanns starkes Konzept funktionaler Differenzierung verbietet es dabei, Statuskonsistenz mit einer Homologiethese zu erklären. Und so verhält sich seine Erklärung direkt komplementär zu derjenigen, die sich bei Bourdieu findet. Bourdieu war davon ausgegangen, dass nur diejenigen Felder einen hohen Grad an Autonomie erlangen können, deren Entscheidungen keinen Einfluss auf die Reproduktion der Machtstrukturen im sozialen Raum haben. Luhmann hingegen startet von einer starken Theorie funktionaler Differenzierung aus und muss deshalb die Reproduktion einer statuskonsistenten Verteilungsstruktur aus der Perspektive der daran beteiligten Funktionssysteme erklären. Thomas Schwinn hat dieses Modell folgendermaßen charakterisiert: „Nun wird systemtheoretisch argumentiert, dass das Prinzip funktionaler Differenzierung gerade die Nichtkonvertierbarkeit der ordnungsspezifischen Ressourcen und Kompetenzen zur Folge habe. Mit Geld kann man keine wissenschaftliche Wahrheit kaufen, mit politischer Macht keine Liebe erringen und mit künstlerischen Fähigkeiten keine Rechtsentscheidungen beeinflussen. Daraus wird geschlossen, dass den einzelnen Ordnungen je spezifische Bezugsprobleme und Diskriminierungsprogramme für Ungleichheitsbildungen zugrundeliegen würden. Bei funktionaler Differenzierung gäbe es folglich einen Verzicht auf Koordination durch eine für alle Ordnungen verbindliche Stratifikation von gleich und ungleich“ (Schwinn 2007: 53).
Sieht man sich die verschiedenen Stellen in Luhmanns Werk an, in denen er an Lösungen für dieses Problem gearbeitet hat, so fällt auf, dass Luhmann recht unterschiedliche Möglichkeiten durchgespielt hat. In „Zum Begriff der sozialen Klasse“ hat Luhmann sich an einer Erklärung versucht, die auf der Prämisse beruht, dass sich die Funktionssysteme auf Problemlösung und Ressourcenbeschaffung konzentrieren und sich in Verteilungsfragen hingegen indifferent verhalten. „Die Antwort kann nur lauten, dass die funktionale Systemdifferenzierung Fragen der Verteilung nicht regelt. Ihre Subsysteme sind auf Problemlösung und Ressourcenbeschaffung ausgerichtet. Das ist der Gegenstand ihrer Kommunikation. Die daraus sich ergebende Verteilung bliebe dem Zufall überlassen. Eine solche Ordnung wäre aber für die funktional differenzierte Gesellschaft selbst zu komplex. Deshalb akzeptiert sie jene Clusterbildungen und bevorzugt das, was in anderen Hinsichten schon bevorzugt ist. Hierfür stehen ihr verschiedene Mechanismen zur Verfügung. Der wohl wichtigste ist das Geld, denn an Geldbesitz lassen sich viele nichtökonomische Vorteile und sogar Persönlichkeits-
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merkmale anschließen. Ein zweiter besteht in Karrieren, die über Organisationen der verschiedensten Art (Schulen, Berufsarbeit, politische Parteien) laufen. Hier werden Individuen auf Güter verteilt nach einem allgemeinen Maßstab des Lebenserfolgs. Schließlich gibt es eine Art Reputation oder Prominenz, die sich vor allem den Massenmedien verdankt und mit Geld bzw. Organisation nur schwach, nur in den Spitzen sozusagen, korreliert. (Luhmann 1985: 145).
Dieses Erklärungsmodell wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Thomas Schwinn hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Luhmann hier seine eigene Theorie funktionssystemspezifischer Konversionssperren missachtet (Schwinn 2007: 16). Außerdem wird aus dieser Formulierung nicht ersichtlich, worin die Komplexität einer zufälligen Verteilungsordnung bestehen soll. Am wenigsten nachvollziehbar scheint mir aber die Annahme der funktionssystemspezifischen Indifferenz gegenüber Verteilungsfragen zu sein, sowie die damit verbundene Annahme, dass sich die Bezugsprobleme Problemlösung und Ressourcenbeschaffung von den Verteilungsfragen überhaupt trennen lassen. Das Erziehungssystem, das nach Luhmann nicht erziehen kann ohne zu bewerten und damit zu seligieren (Luhmann/Schorr 1988: 252), verhält sich sicher nicht indifferent gegenüber der Verteilung von Noten, Versetzungsentscheidungen und Abschlusszertifikaten. Die Schulen vergeben die guten Zeugnisse nicht einfach an die Kinder aus den wohlhabenden Familien, weil sie sonst nicht wüssten wohin damit. Hier fällt das Bezugsproblem der Problemlösung (Erziehung; Selektion) mit dem Bezugsproblem der Ressourcenverteilung zusammen. Aber es scheint mir auch fraglich zu sein, ob die Funktionssysteme das Bezugsproblem der Ressourcenverteilung gänzlich vom Bezugsproblem der Ressourcenbeschaffung ablösen können3. Man mag diese These für die Funktionssysteme akzeptieren, aber sie trifft kaum auf deren Arbeitsorganisationen zu, denen in der Regel die konkreten Verteilungsentscheidungen unterliegen und die sich ihre Ressourcen beschaffen, um durch deren Verteilung beispielsweise die Teilnahme- und Leistungsmotivation ihrer Mitglieder sicherstellen zu können. Luhmann hat aber gerade in seiner zusammen mit Karl Eberhart Schorr verfassten Erziehungssoziologie ein sehr viel plausibleres Modell erarbeitet (Luh-
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Luhmann scheint hier Hayeks These im Kopf zu haben, wonach die Marktwirtschaft die Verteilung der Einkommen nicht regelt, da diese nur das ungeplante Ergebnis unzähliger und unkoordinierter Allokationsentscheidungen seien. So plausibel diese These für den Markt ist, so wenig ist abzusehen, wie sich diese Erklärung für die anderen Funktionssysteme generalisieren lässt (Hayek 2004).
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mann/Schorr 1988: 237). Es geht hier um die unterschiedlich guten Startbedingungen der Schüler je nach dem Schichtstatus der Familie. Luhmann/Schorr erklären diesen Effekt dadurch, dass die schichtspezifischen Sozialisations- und Erziehungsprozesse in den Familien die Kinder unterschiedlich gut für die Schule vorbereiten. Die durchschnittlich besseren Noten der Mittelschichts- und Oberschichtskinder beruhen dann auf einem, nach den Kriterien für die Schülerrolle relevanten Unterschied in derem Leistungsvermögen. Dieser Verteilungseffekt beruht auf der spezifischen Sensibilität des Erziehungssystems und nicht auf seiner Indifferenz. Dieses Erklärungsmodell, dass viel Bestätigung durch die Literatur zu primären Schichtungseffekten im Erziehungssystem findet, scheint mir aber auch sehr viel besser zur allgemeinen Theoriearchitektur der Systemtheorie zu passen, da es nicht in Widerspruch zu den in der Theorie sonst vorausgesetzten Konversionssperren zwischen den Teilsystemen gerat. Luhmanns Begriff sozialer Schichtung unterscheidet sich aber noch in einem zweiten Punkt radikal von herkömmlichen Schichtungsbegriffen, denn er verwendet genau genommen zwei Begriffe sozialer Schichtung: 1. Schichtung als Form der Systemdifferenzierung und Schichtung als Verteilungsstruktur von Ressourcen wie Einkommen, Vermögen oder Bildungszertifikaten. Schichtung als Form der Systemdifferenzierung verwendet Luhmann dabei nur zur Beschreibung stratifizierter Gesellschaften, da diese Stratifikation als Prinzip der Differenzierung ihrer primären Teilsysteme verwendet haben. Den Begriff von Schichtung als Verteilungsstruktur verwendet Luhmann hingegen gerade als historische Vergleichskategorie, die er sowohl auf die vormoderne wie auf die moderne Gesellschaft anwendet. Luhmann will mit dieser Unterscheidung zeigen, wie sich vormoderne und moderne Schichtungsstrukturen unterscheiden. Die zentrale Differenz dieser beiden Schichtungsstrukturen wird für Luhmann vor allem im Verhältnis zur Interaktion unter Anwesenden sichtbar. Luhmann bezeichnet die modernen Klassen dabei als Schichtungsstrukturen, die ihren Zugriff auf die Interaktion unter Anwesenden verloren hätten (Luhmann 1985: 130). Diese These in Bezug auf die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft entspricht dabei einer These, die Luhmann in Bezug auf die Interaktion unter Anwesenden in der modernen Gesellschaft formuliert hat. Luhmann geht hier davon aus, dass die Interaktion unter Anwesenden in der modernen Gesellschaft destratifiziert worden sei. Man muss beide Thesen im Auge behalten, wenn man Luhmanns Beitrag zur Schichtungstheorie angemessen würdigen will. Zugleich handelt es sich um eine seiner wichtigsten Anwendungen der Primatthese, da Luhmann den Funktionssystemen in der modernen Gesellschaft einen sehr weitgehenden Zugriff auf die Interaktion unter Anwesenden einräumt.
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Ich werde zunächst Luhmanns These der Destratifikation der Interaktion unter Anwesenden vorstellen. Luhmann beschreibt die Interaktion in den stratifizierten Gesellschaften als extrem rangsensibel. Man kann dies nicht nur an den elaborierten Ehrerbietungsritualen erkennen, die damals höherrangigen Personen erwiesen wurden, sondern auch an den strategischen Vorfahrtsregeln in der Interaktion, wie sie sich beispielsweise den historisch vergleichenden Semantikstudien höfischer Interaktionen entnehmen lassen. Die Interaktion unter Schichtungleichen hat dabei die Ranghöheren systematisch privilegiert: „In jedem Fall führen Rangdifferenzierungen zu einer massiven Disbalancierung der Kommunikationschancen. Die Chancen für Selbstdarstellungen, aber auch die Chancen, in Streitfällen das letzte Wort zu behalten, sind zugunsten der Ranghöheren verteilt. Außerdem kann der Ranghöhere über Zeitlage und Dauer der Interaktion disponieren. Er kann auf der Anwesenheit anderer bestehen oder umgekehrt eigene Anwesenheit minimieren. Er darf mehr Fragen stellen und mehr Antworten verweigern. Er kann Unangenehmes, wenn mitgeteilt, absichtsvoll missverstehen, ohne fürchten zu müssen, dass Missverstehen oder Absicht thematisiert werden“ (Kieserling 2006: 173).
Die Destratifikationsthese beruht nun auf der Annahme, dass sich die Interaktion entweder an der Rangordnung der Schichtungsstruktur oder an den Komplementärrollen der Funktionssysteme orientieren kann, da der schichtspezifisch Ranghöhere und der Träger der Leistungsrolle in vielen Hinsichten analoge Positionen in der Interaktion einnehmen (ebd.: 196). Auch der Arzt beansprucht weitgehend die Themenkontrolle in der therapeutischen Interaktion und er muss seine Patienten peinlichen Verhören über ihre Lebensweise aussetzen. Dasselbe gilt für das Recht, die Dauer der Interaktion zu bestimmen, wie man leicht feststellen kann, wenn man versucht als Patient eine Therapie abzubrechen, die der Arzt als noch nicht abgeschlossen betrachtet oder wenn man das Therapiegespräch fortzusetzen wünscht, nach dem der Arzt dessen Ende signalisiert hat. Der Arzt muss seine rollenspezifische Autorität auch gegenüber Personen mit höherem Schichtstatus durchsetzen können. Die Durchsetzung funktionaler Differenzierung beruht aus der Perspektive der Destratifikationsthese auch auf der Neutralisierung schichtspezifischer Rangsansprüche. Man darf dabei nicht übersehen, dass das Konzept der Destratifikation der Interaktion in der modernen Gesellschaft vor allem historischen Vergleichen dienen soll (ebd.: 199). Diese These behauptet nicht, dass in den funktionssystemspezifischen Interaktionen der Gegenwartsgesellschaft alle Versuche, schichtspezifische Rangansprüche zu kommunizieren, komplett unterbunden werden könnten oder dass für den wissenschaftlichen Beobachter keine schicht-
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spezifischen Unterschiede in den Partizipationschancen der Individuen mehr beobachtbar wären. Es geht eher darum zu zeigen, dass die Kommunikation schichtspezifischer Rangansprüche in den funktionssystemspezifischen Interaktionen systematisch entmutigt wird und wenig Aussicht auf Erfolg hat. Diese These ist kompatibel mit dem Befund, dass sich immer noch schichtspezifische Unterschiede in den Partizipationschancen in diesen Interaktionen ausmachen lassen4. Die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme hat nicht nur die spezifischen Ansprüche an das Interaktionsgeschick der Träger der Leistungsrollen hochgetrieben, sondern auch die Anforderung an das Interaktionsgeschick der Laien hochgetrieben. Die schichtspezifischen Unterschiede in den Sozialisations- und Erziehungsbedingungen der Familien scheinen auch heute noch die Individuen unterschiedlich gut für die Übernahme der Leistungs- und Laienrollen vorzubereiten (ebd.: 200). Dabei darf nach Kieserling eine große Differenz von vormodernen und modernen Interaktionen aber nicht übersehen werden: In den stratifizierten Gesellschaften musste der Schichtstatus des Ranghöheren auch dann honoriert werden, wenn er sich gerade in der Interaktion ungeschickt verhalten hat, während in der Gegenwart der hohe Schichtstatus nicht weiterhilft, wenn man sich in der funktionssystemspezifischen Interaktion blamiert hat. In den stratifizierten Gesellschaften wäre der stotternde König besonders für seine Eloquenz gelobt worden, während ein ehemaliger bayrischer Ministerpräsident für seine Ausführungen zur damals in München geplanten Magnetschwebebahn bis heute im Internet verulkt wird. Schichtspezifische Vorteile lassen sich heute nur noch dann realisieren, wenn sie sich in einem habituell größeren Geschick niederschlagen, die Chancen zu nutzen, die die funktionssystemspezifischen Interaktionen selbst bieten. Ein weiterer Gegeneinwand beruht auf dem Verhältnis von Kommunikation und Wahrnehmung in der Interaktion. Da der Schichtstatus an vielen Aspekten der Selbstdarstellung in der Interaktion sichtbar werden kann, muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass sich die schichtspezifische Selektivität der Interaktion gar nicht in der Kommunikation niederschlägt (Kieserling 2006: 197ff.). Ohne Zweifel beruhen Bourdieus Analysen zu einem großen Teil auf dieser Annahme.
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Thomas Schwinn hat diesen Gegeneinwand in Anlehnung an Michael Hartmann formuliert. Im Vorstellungsgespräch für Führungspositionen in der Wirtschaft würden immer auch Fähigkeiten und Kompetenzen honoriert, die man sich nicht autodidaktisch aneignen könne, weil sie auf der selbstverständlichen Vertrautheit mit der Oberschichtskultur beruhten (Schwinn 2007: 59). Phänomene dieses Typs werden durch die These der Destratifikation der Interaktion gerade nicht ausgeschlossen.
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Die Verhaltenskoordination der Teilnehmer läuft danach vor allem über deren habitusgesteuerte wechselseitige Wahrnehmung. Die Homologie des Interaktionsgeschehens mit den Machtstrukturen im sozialen Raum beruht dann auf der stillschweigenden Komplizenschaft der Beherrschten mit den Herrschenden. Die Kritik an Bourdieus Modell hat aber auch gezeigt, welchen Preis Bourdieu für die Radikalisierung dieses Modells gezahlt hat: Bourdieu verfällt an diesen Stellen einerseits einem übersozialisierten Menschenbild (Jenkins 2002: 197) – die schichtspezifisch Unterlegenen haben hier immer schon abgedankt –, andererseits fällt die Statik seiner Modelle sozialer Ordnungsbildung ins Auge. Wer die gender- oder schichtabhängige Chancenungleichheit in diesen Interaktionen kritisieren will, der tut nach Kieserling gut daran, der Interaktion das Vermögen zuzusprechen, sich in ihren Kommunikationsstrukturen von der kaum zu eliminierenden Wahrnehmbarkeit unseres biologischen Geschlechts und unserer Schichtherkunft emanzipieren zu können (Kieserling 2006.: 198). An dieser Stelle fragt man sich, ob sich der Ungleichheitsforschung hier wirklich die harte Alternative der Neutralisierungs- oder der Homologiethese stellt und wie breit der Spielraum möglicher Positionen zwischen diesen beiden Extrempositionen ist. Niemand wird behaupten wollen, dass die vollständige Neutralisierung von Rangansprüchen auf der Ebene der Kommunikation vollständig verhindern kann, dass die Schichtselektivität der Interaktion auf der Ebene der Wahrnehmung und der Antizipation von Wahrnehmung stattfindet. Ebenso wenig plausibel scheint aber die vollständige Fernsteuerung des Kommunikationsgeschehens durch die habitusgesteuerte Wahrnehmung zu sein. Dazwischen findet sich aber eine Vielzahl möglicher Positionen. Der Prozess der Destratifikation der Interaktion hat aber nach Luhmann auch die Schichtungsstrukturen der modernen Gesellschaft transformiert: „Eine der wichtigsten Konsequenzen des Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung mit Klassenbildung betrifft schließlich die Bewusstseinslage. In einer ständischen Ordnung war als selbstverständlich vorausgesetzt, dass jeder Einzelne weiß, welchen Standes er ist. Ohne dieses Wissen wüsste er nicht, wer er ist, und er wüsste auch nicht, welche Erwartungen er zu erfüllen hat. Ohne Kenntnis seines Standes könnte er nicht in Interaktionen treten. Eine Gesellschaft, die Schichtung nur noch als Klassenbildung realisiert, muss diese Prämisse aufgeben. Arbeiten kann auch, wer nicht weiß, dass er ein Proletarier ist, und nicht an Entfremdung leidet, sondern unter Hypothekenzinsen und Abzahlungsbedingungen. Eben deshalb wird für die „Klassengesellschaft“ (und für manche Theorien) das „Klassenbewusstsein“ zum Problem. Klassenbewusstsein kann nur mehr oder weniger künstlich, kann vor allem durch Formulierungen von Gegensätzen und Kampfszenen hergestellt werden. Für Interaktion ist nur erforderlich, dass alle wissen,
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dass sie an sich gleich sind und dass Ungleichbehandlung begründet werden muss“ (Luhmann 1985: 132).
Neben der abnehmenden Sichtbarkeit der Klassenzugehörigkeiten hat Luhmann weitere Veränderungen in den Schichtungsstrukturen ausgemacht. In den funktionssystemspezifischen Interaktionen werden beispielsweise nicht nur die schichtspezifischen Rangansprüche entmutigt, dasselbe gilt auch für die Loyalitätsappelle unter Schichtgleichen. Nimmt man als Oberschichtsmitglied eine Laienrolle in einer funktionssystemspezifischen Interaktion wie einem Gerichtsverfahren ein, dann kann man die Entscheidungen des Richters auch nicht mehr durch den Appell an die gemeinsame Klassenzugehörigkeit beeinflussen. Kommunikationsangebote dieser Art werden in einem Gerichtsverfahren als illegitim und verfahrenswidrig betrachtet. Gerade die Oberschicht verliert damit in den gesellschaftlich folgenreichen Interaktionen in den Funktionssystemen ihr wichtigstes Disziplinierungsmittel. Des Weiteren wird die Oberschicht nach Luhmann durch die Funktionssystemgrenzen desolidarisiert. Die Oberschicht zerfällt danach in getrennte funktionssystemspezifische Eliten, die in ihren Kommunikationsmöglichkeiten vor allem durch die funktionssystemspezifischen Programme wie Lehrpläne, Gesetzestexte und Präzedenzfälle bestimmt werden. Unter diesen Bedingungen kann man sich dann Klassen kaum noch als konfliktfähige Kollektive vorstellen (ebd.: 147). Man sieht, dass sich Luhmann mit dieser Schichtungstheorie eine konflikttheoretische Kritik des Meritokratiemodells verbaut hat. Diese Argumentationsstrategie passt zudem nicht in die Theoriearchitektur einer kommunikationssoziologischen Systemtheorie, die Verteilungsungleichheiten nicht als automatische Auslöser von Konflikten behandeln kann. Luhmann hat mit seinem Beitrag zur Schichtungstheorie eine ganze Reihe faszinierender Fragen aufgeworfen. Zudem findet sich auch ein grob anskizzierter Entwurf für ein Programm einer systemtheoretischen Ungleichheitssoziologie. Richtig ausgearbeitet wirkt dabei nur seine Theorie zum Verhältnis von Interaktion und Schichtung. Luhmann arbeitet hier zugegebenermaßen mit einem starken historischen Kontrast, in dem er die „Stände“ der stratifizierten Gesellschaft mit den modernen Schichtungsstrukturen vergleicht. Er kann dabei aber deutlich machen, wie viel die modernen Schichtungsstrukturen gegenüber ihren historischen Vorläufern an Sichtbarkeit und sozialer Kontrolle eingebüßt haben. Luhmanns Beschreibung setzt sich hier besonders von Bourdieu ab, der mit ähnlich viel rhetorischem Geschick die Kontinuität starker Schichtungsstrukturen plausibel zu machen versucht hat. Sehr viel weniger präzise fällt sein Modell der Mechanismen aus, durch die Schichtung in der modernen Gesellschaft reproduziert wird. Am vielversprechendsten dürfte das am Fall des Erziehungssystems
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entwickelte Modell sein. Luhmann/Schorr versuchen hier zu zeigen, dass die Systeme dann an die Selektionen anderer Systeme anschließen, wenn diese Selektionen im Rahmen ihrer spezifisch-universalistischen Programmierung relevant sind. Am wenigsten ausgearbeitet ist die Beschreibung der Schichtungsstrukturen selbst. Luhmann hebt an dieser Stelle vor allem seine Übereinstimmung mit den konventionellen Ungleichheitsmodellen hervor: soziale Ungleichheit als mehrdimensionale statuskonsistente Verteilungsordnung. Luhmann hat sich deshalb eine eigene Typologie der Schichten gespart und hält sich in seinen Texten mehr oder weniger konsistent an die vage Unterscheidung von Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht, ohne dass er angibt, wie er diese Klassenlagen unterscheidet oder wo er die Grenzen zwischen diesen Klassenlagen zieht. Die einschlägige systemtheoretische Literatur nach Luhmann ist seinem Vorbild gefolgt und hat sich entweder mehr auf die Mechanismen der Reproduktion von Schichtung konzentriert (Stichweh 2005) oder das Interaktionsthema ausgebaut (Kieserling 2006). Für eine mobilitätssoziologische Anwendung entsteht dadurch das Problem, dass eine Führung durch einen präzisen Schichtungsbegriff fehlt, der anzeigt, zwischen welchen Positionen sich die Individuen innerhalb ihrer Berufsbiographie bewegen und woran man Aufstiege oder Abstiege erkennt. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Luhmann diesen Mangel durch ein raffiniertes Karrierekonzept zu kompensieren versucht hat.
L UHMANNS T HEORIE DES S TATUSZUWEISUNGSPROZESSES Man findet innerhalb der Ungleichheitssoziologie kaum eine Subdisziplin, in der die enge Verzahnung von Differenzierungs- und Schichtungstheorie so deutlich zum Ausdruck kommt wie in der Mobilitätsanalyse. Das gilt besonders für die frühen Beiträge, die meist ganz aus der Perspektive des Meritokratiemodells formuliert sind. In diesen Beiträgen wird aus einem überintegrierten Modell funktionaler Differenzierung die These abgeleitet, dass die moderne Gesellschaft früher oder später perfekte Chancengleichheit im Statuszuweisungsprozess realisieren wird. Aus einer vulgarisierten Version der strukturfunktionalistischen Differenzierungstheorie wird hier auf die Realisierung offener Schichtungsstrukturen geschlossen, in denen sich kein Zusammenhang zwischen der Schichtherkunft der Individuen und ihrer Klassendestination mehr feststellen lasse. Dieser enge Bezug zwischen der Differenzierungstheorie und der Schichtungstheorie bleibt aber in den darauf folgenden stärker ungleichheitssoziologischen Beiträgen erhalten, da sich diese bis heute vor allem als empirische Kritik am Merito-
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kratiemodell verstehen. Ich hatte weiter oben zu zeigen versucht, dass es dieser Forschungstradition nicht gelungen ist, sich vollständig von der Logik des Meritokratiemodells zu lösen. Dies gilt selbst noch für Bourdieu, der dem Meritokratiemodell in seiner kompletten Inversion noch verhaftet bleibt. Aus Gründen der übersichtlichen Darstellung werde ich bei Luhmann diese beiden Aspekte der Gesellschaftstheorie – Schichtung und funktionale Differenzierung – aber getrennt darstellen. Der Statuszuweisungsprozess kann einmal aus der Perspektive funktionaler Differenzierung dargestellt werden. Dann geht es vor allem darum, wie die Individuen in der modernen Gesellschaft auf die Leistungsrollen der Funktionssysteme und die Mitgliedschaftsrollen in den Arbeitsorganisationen verteilt werden, nachdem sie zuvor in den Familien und Schulen sozialisiert und erzogen worden sind. Man kann den Statuszuweisungsprozess aber auch als den Prozess beschreiben, durch den die Individuen, die in Familien mit einem bestimmten Schichtstatus hineingeboren werden im Laufe ihrer Berufsbiographie auf bestimmte Schichtpositionen dirigiert werden. Auch wenn sich diese Prozesse in der Realität nicht voneinander trennen lassen, weil den Leistungsrollen in den Funktionssystemen und den Mitgliedschaftsrollen in den Arbeitsorganisationen immer auch ein bestimmter Schichtstatus entspricht, und weil man je nach dem Schichtstatus der Herkunftsfamilie über sehr unterschiedliche Startbedingungen in den funktionssystemspezifischen Karrieren verfügt, macht eine getrennte Darstellung Sinn, weil jeweils ganz unterschiedliche theoretische Bezugsprobleme eine Rolle spielen. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive geht es zunächst darum, die Idee einer einheitlichen Rationalität des Statuszuweisungsprozesses, wie sie im Meritokratiemodell postuliert wird, aus systemtheoretischer Perspektive zu dekonstruieren. Aus schichtungstheoretischer Perspektive geht es darum zu zeigen, weshalb der Statuszuweisungsprozess der modernen Gesellschaft nach seiner Umstellung von Askription auf die universalistisch-spezifische Evaluation individueller Leistungen immer noch deutliche schichtspezifische Mobilitätsbarrieren aufweist. Die getrennte Darstellung dieser zwei Perspektiven ist auch deshalb sinnvoll, weil man Luhmanns Erklärung für die Reproduktion generationenübergreifender sozialer Klassen nur versteht, wenn man die aus systemtheoretischer Sicht vielfach gebrochene Logik des Statuszuweisungsprozesses nachvollzogen hat. Außerdem muss konstatiert werden, dass die systemtheoretischen Beiträge zu diesen zwei Zugangsweisen zur Mobilitätsanalyse sich in ihrer Qualität und dem Grad ihrer Ausarbeitung deutlich voneinander unterscheiden. Die Systemtheorie liefert eine ganze Reihe gut begründeter Argumente, warum die funktional differenzierte Gesellschaft nie eine Leistungsgesellschaft sein wird. Die Modelle, die erklären sollen, weshalb auch die moderne Gesellschaft noch generationenübergreifende Schichtungsstrukturen
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reproduziert, sind dahingegen sehr viel weniger ausgearbeitet, auch wenn sie mir eine durchaus interessante Alternative zu den in der Ungleichheitssoziologie gängigen Modellen zu liefern scheinen. Luhmanns Karrierebegriff als Brückenkonzept Bevor ich zur Darstellung der systemtheoretischen Beiträge zur Mobilitätsanalyse übergehen kann, muss ein Begriff Luhmanns vorgestellt werden, der als Brückenkonzept zwischen den verschiedenen Zugangsweisen zum Thema dient. Es handelt sich um das Konzept der Karriere. Zunächst hält Luhmann die Organisationsabhängigkeit der Karriereorientierung in der modernen Gesellschaft fest. In der modernen Erwerbsgesellschaft, in der die meisten Berufe in einer Mitgliedschaftsrolle in einer Arbeitsorganisation ausgeübt werden, wird der berufliche Werdegang immer auch als Konkurrenz um freie Stellen in den formalen Organisationen erlebt. Das hat nicht zuletzt die „Vacancy Chain“-Forschung im Anschluss an Harrison Whites „Chains of Opportunity“ (1970) zu Tage gefördert. Doch diese eher objektivistische Forschungstradition weist eine ganze Reihe entscheidender Mängel auf. Rosenbaum (1979: 220ff.) hat beispielsweise auf die Ahistorizität der einfacheren Markov-Modelle hingewiesen, bei denen die Karriereaussichten immer nur durch die aktuelle Position beeinflusst werden. Rosenbaum hat stattdessen zu zeigen versucht, dass Ereignisse, die zu Beginn der Karriere stattgefunden haben, sich noch zehn Jahre danach auf die Karriereaussichten auswirken können. Sie bestimmten oft den „career floor“ wie den „career ceiling“. Rosenbaum hat dafür sein Konzept der „tournament mobility“ entwickelt, das auf der Annahme beruht, dass schnelle Beförderungen zu Beginn der Karriere in den Arbeitsorganisationen als Symbol der Leistungsfähigkeit gelesen werden und als „self fulfilling prophecy“ weitere Beförderungen wahrscheinlicher machen. Doch aus systemtheoretischer Perspektive fällt auch dieses Modell noch zu objektivistisch aus, da hier übersehen wird, dass die Vergangenheit einer individuellen Karriere immer auch Gegenstand retrospektiver Umdeutungen werden kann, da die Vergangenheit immer nur selektiv erinnert werde (Luhmann/Schorr 1988: 278). Dies ermutige die Verwendung zeitbindender Strategien, die auf der Herausstellung gut dokumentierter Leistungen wie Bildungszertifikaten, Evaluationen oder Personalbeurteilungen beruhten. Doch auch die Zukunft der Karriere bleibe immer unsicher. Jedes berufsrelevante Ereignis könne neue Möglichkeiten eröffnen und bisherige Alternativen verschließen. Zudem werde in diesen Modellen meist übersehen, dass die Karriere in der modernen Gesellschaft immer auf einer Relationierung von Selbstselektion und Fremdselektion beruhe. Man müsse sich um eine Stelle bewerben und durch die
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Organisation rekrutiert werden (Luhmann 2000a: 103). An dieser Stelle wird deutlich, dass Luhmanns Karrierebegriff auch als Brückenkonzept fungiert, das die Systemgrenzen von sozialen und psychischen Systemen übergreift. So wie der Preis auf dem Markt, die Perspektiven der Käufer, der Produzenten und der Distributionsagenturen integriert, so wird das kognitive Schema der Karriere sowohl von den sozialen Systemen, die beispielsweise verschiedene Bewerber auf ihre Beförderbarkeit hin beobachten, verwendet, als auch von den psychischen Systemen gebraucht, um abzusehen, auf welche Stellen sie sich bewerben sollen und welche dokumentierten Leistungen dafür vorgelegt werden müssen. Je nach Systemreferenz, wird das Karriereschema dabei vor einem sehr unterschiedlichen Erwartungshorizont, abweichenden Zurechnungspraktiken und mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen gehandhabt. Dennoch besteht eine starke Interdependenz dieser unterschiedlichen Aktualisierungen des Karriereschemas. Die Rationalitätsdefizite der Selektionstechniken bestimmter Systeme wie der Schule können Krisen auf der Ebene der psychischen Systeme auslösen, da sie die bisherige Selbsteinschätzung in Frage stellen. Der Versuch formaler Organisationen, die Leistungsmotivation ihrer Mitglieder durch neue Karrieremodelle zu heben, kann daran scheitern, dass die psychischen Systeme der Mitglieder diese nicht wahrnehmen oder der Organisation dabei nicht mitkommunizierte negative Motive unterstellen. Das Karriereschema erlaubt dabei zugleich zeitliche Vergleiche – haben sich die Karriereaussichten eines Bewerbers im Laufe der Zeit verbessert oder verschlechtert – aber auch soziale Vergleiche, bei denen verschiedene Individuen miteinander verglichen werden. So wie die Institutionen der strukturellen Kopplung auf der Ebene der Funktionssysteme wie der Vertrag, die Verfassung oder die Werbung erklären sollen, wie sich die operativ geschlossenen Funktionssysteme wechselseitig irritieren können, so übernimmt die Karriere eine analoge Stellung im Verhältnis von sozialen und psychischen Systemen ein. Und auch hier gilt, dass ein und dasselbe Ereignis aus der Sicht der unterschiedlichen Systemreferenzen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden und zu ganz unterschiedlichen Anschlussoperationen führen kann. Luhmann hat dabei das Karrierekonzept nicht nur auf die Arbeitsorganisationen angewandt, sondern auch auf die Leistungs- und Laienrollen in den Funktionssystemen. Wissenschaftler beobachten ihre Publikationen und deren Zitationsraten als Hinweis auf ihre weiteren Karrieremöglichkeiten, sowie Politiker Wahlergebnisse und Umfragewerte immer im Blick behalten. Aber nach Luhmann wird das Karriereschema auch in vielen Laienrollen verwendet: in den Schülerrollen im Erziehungssystem und sogar in den Patientenrollen im Medizinsystem. Verwendet man das Karrierekonzept aus einer mobilitätssoziologischen Perspektive, dann zeigt sich, dass der individuelle Lebenslauf von der Ein-
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schulung über den Berufseinstieg bis zur Karriere in den Leistungsrollen der Funktionssysteme und den Mitgliedschaftsrollen in den Arbeitsorganisationen Karrieren in den verschiedensten Systemen übergreift und miteinander verbindet. Gerade im Verhältnis des Erziehungssystems zu den rekrutierenden Funktionssystemen und Arbeitsorganisationen fungiert das Karriereschema aus systemtheoretischer Perspektive auch als Institution der strukturellen Kopplung dieser Funktionssysteme. Luhmann hat dabei die These vertreten, dass die Phasen des Wechsels von der Inklusion in die Karrieremechanismen eines Systems wie der Schule in die Karrieremechanismen des nächsten Systems (Arbeitsorganisation) von hoher Unsicherheit geprägt sind. Zwar bauen diese Karrieren, die in ihrer erwartbaren Abfolge auch als institutionalisierter Lebenslauf beschrieben werden können (Kohli 2002), aufeinander auf, aber der Wechsel des Systemkontextes radikalisiert beispielsweise die Probleme der retrospektiven Umdeutung der Vergangenheit („wie konnten Sie nur Soziologie studieren“) und die Unsicherheit der Zukunft (beim Abschluss der SAP-Weiterbildung muss man feststellen, dass der betreffende Arbeitsmarkt schon überfüllt ist). Manche Phasen zeichnen sich dadurch aus, dass man nur in ein System inkludiert ist und andere Phasen wiederum dadurch, dass man gleichzeitig in mehrere karriererelevante Systeme inkludiert ist (Schule und Familie, Universität und wissenschaftliche Disziplin, Krankenhaus und Profession). Besonders die Phasen, in denen man in mehrere relevante Systeme inkludiert ist, zeichnen sich nicht selten durch erhebliche Rollenkonflikte aus. Jede dieser Karrierephasen hinterlässt zudem Spuren an den Individuen. Die Anreizstrukturen dieser Systeme ändern laufend die individuellen Motivationsund Aspirationsniveaus. Erfolge wirken motivationsfördernd und Versagenserlebnisse wirken demotivierend. Die Vergangenheit in diesen verschiedenen Karrierephasen ändert aber nicht nur die variablen, sondern auch die konstanten Merkmale der Individuen. Jeder dieser Kontexte erzeugt Spuren dokumentierter Karriereereignisse (Versetzungen, Bildungszertifikate, schwer erklärbare biographische Lücken, Beförderungen oder Entlassungen). Aber jeder dieser Kontexte wirkt auch sozialisierend auf die Persönlichkeitsstrukturen der Individuen ein, indem sie den Blick für Gelegenheiten sensibilisieren, bestimmte Persönlichkeitsstrukturen wie Konformismus, Ambiguitätstoleranz oder Ordentlichkeit hervorheben, zur Internalisierung bestimmter kognitiver oder expressiver Schemata führen oder die Verstärkung oder Atrophie bestimmter Kompetenzen hervorrufen. Es dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass lange zurückliegende Sozialisationserfahrungen sich erst sehr viel später positiv oder negativ auf die Karriere auswirken können. Dabei erweist sich die Differenz von konstanten und variablen Merkmalen der Individuen selbst als Ergebnis kontingenter Zurechnungspro-
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zesse. Das Schulversagen eines Schülers aufgrund sich selbstverstärkender Misserfolgserlebnisse wird von der Schule bei der Übertrittsentscheidung als konstante Lernschwäche zugerechnet. Diese Attributionsfehler oder Attributionswidersprüche werden schon deshalb wahrscheinlich, da hier ein fließendes Kontinuum vorliegt, das von den genetisch vererbten Eigenschaften, über die langfristigen Effekte der frühkindlichen Sozialisation, den sekundären Sozialisationseffekten von Schulkarrieren und Berufserfahrungen bis hin zu den schulisch erworbenen Fähigkeiten und den flüchtigen Eindrücken beruflicher Weiterbildungskurse reicht, mithin also ein fließendes Kontinuum von eher konstanten und eher variablen Eigenschaften, das in der Kommunikation schnell als digitales Entweder-Oder gehandhabt wird. Dafür mag es situativ gute Gründe geben. Prinzipiell erlernbare Fähigkeiten setzen oft lange Erziehungsprozesse voraus, für die das Zeitbudget vieler erwerbstätiger Personen nicht mehr ausreicht. Obwohl es sich um prinzipiell änderbare Strukturen handelt, müssen sie dann in bestimmten Phasen der Berufskarriere als irreversible konstante Strukturen behandelt werden. In anderen Situationen mag gerade die hohe Unsicherheit der Entscheidung dazu führen, dass mit Rücksicht auf eine glaubhafte Darstellung besonders rigoros auf die Zurechnung auf konstante Merkmale zurückgegriffen wird, um beispielsweise bei Übertrittsentscheidungen die Proteste der Eltern zu entmutigen. Aber wie bereits erwähnt, werden die Personalselektionen der sozialen Systeme im System und durch die psychischen Systeme in der Umwelt der sozialen Systeme beobachtet und dadurch unter Konsistenzdruck gesetzt. Luhmann hat gezeigt, dass sich in einigen Systemen bestimmte Subsysteme wie die Reflexionseliten im Erziehungssystem (Pädagogikprofessoren) auf diese Konsistenzprüfungen der systemischen Selektionen spezialisieren und die Praktiken der Zensurenvergabe und der Versetzungsentscheidungen mit wissenschaftlichen Methoden untersuchen. Die am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systeme werden nicht nur durch die Systeme selbst beobachtet. Das Rechtssystem beobachtet die Rekrutierungs- und Entlassungsentscheidungen der Arbeitsorganisationen auf ihre arbeitsrechtliche Legalität hin. Gerade prominente Arbeitgeber wie große Wirtschaftsunternehmen, aber auch staatliche Verwaltungen oder Universitäten müssen sich heute im Klaren sein, dass sie laufend durch die Massenmedien auf moralisierbare und skandalisierbare Abweichungen hin beobachtet werden. Gerade die Profession der Lehrer hat mit einer sehr negativen Berichterstattung zu leben gelernt. John Meyer würde an dieser Stelle sicher die Rolle von Experten als generalisierter Anderer hervorheben, die den Statuszuweisungsprozess mit einer dichten Hülle globaler Rationalitätsmythen überziehen (Jepperson/ Meyer 2000). Diese Diskurse über die legitimen Formen teilsystemischer Selek-
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tion schlagen sich dann sicher auch in den Ansprüchen und Erwartungen der psychischen Systeme nieder. Die systemtheoretische Kritik am Meritokratiemodell Ich werde im Folgenden grob dem institutionalisierten Lebenslauf folgen und das systemtheoretische Modell des Statuszuweisungsprozesses von den Familien über das Erziehungssystem bis in die Karriere in den Funktionssystemen und Arbeitsorganisationen nachzeichnen. Als Kontrastfolie sollen dabei die durch das Meritokratiemodell in Aussicht gestellten Rationalitätserwartungen dienen. Einerseits soll gezeigt werden, wie die Systemgrenzen zwischen den Funktionssystemen, die Systemgrenzen zwischen den Funktionssystemen und ihren Arbeitsorganisationen und die Systemgrenzen zwischen psychischen und sozialen Systemen immer mehr Brüche ins Rationalitätskontinuum des meritokratischen Modells des Statuszuweisungsprozesses einziehen. Das Meritokratiemodell übertreibt aber nicht nur die Einheitlichkeit der Rationalität des Statuszuweisungsprozesses, es unterschätzt auch die konstitutiven Rationalitätsdefizite in den beteiligten Systemen wie dem Erziehungssystem und den Arbeitsorganisationen. Ich hatte außerdem bei der Analyse der Meritokratie-Semantik zu zeigen versucht, dass schon hier die Idee der Rationalität des Statuszuweisungsprozesses als mehrdimensionales Konzept verstanden wurde. Entsprechend hatte ich aus dem Meritokratiemodell vier Bezugsprobleme abgeleitet, die man bei einer Analyse des Statuszuweisungsprozesses berücksichtigen sollte: 1. Rekrutierungsrationalität, 2. Leistungsmotivation, 3. Selektions- oder Schichtungslegitimation und 4. Sozialintegration. Beobachtet man den Statuszuweisungsprozess aus der Perspektive des Bezugsproblems der Rekrutierungsrationalität, dann geht es um die Frage, wie die Individuen aufgrund ihrer konstanten Merkmale auf feststehende Stellen mit bestimmten Aufgabenprogrammen verteilt werden. Wählt man das Bezugsproblem der Leistungsmotivation, dann muss untersucht werden, inwiefern beispielsweise Entscheidungen für oder gegen die Beförderung eines Individuums, dessen Bereitschaft Leistungen zu erbringen, die über das formal Einforderbare hinausgehen, beeinflussen. Das dritte Bezugsproblem macht deutlich, dass die Fremdselektionen in den am Statuszuweisungsprozess beteiligten Systemen immer auch aus den verschiedensten Perspektiven beobachtet und diskursiv kommentiert werden. Das zuletzt genannte Bezugsproblem bezieht sich vor allem auf das Verhältnis der Selbstselektion durch die Individuen, die sich für die Fortsetzung oder den Abbruch von Bildungskarrieren, für bestimmte Ausbildungsgänge und für die Karrieren in spezifischen Funktionssystemen und Arbeitsorganisationen entscheiden müssen, und der Fremdselektion
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durch die sozialen Systeme. Anders als im Meritokratiemodell, das die reibungslose Optimierung aller vier Bezugsprobleme in Aussicht stellt, lassen sich in den systemtheoretischen Beiträgen viele Hinweise auf die Widersprüche und Unvereinbarkeiten dieser vier Bezugsprobleme finden. Das Meritokratiemodell kann das Modell der einheitlichen Rationalität des Statuszuweisungsprozesses nur unter der Prämisse aufrechterhalten, dass sich der Einfluss der Familien auf den Statuszuweisungsprozess unterbinden lässt. Lässt man für einen Moment die unbestreitbare Tatsache beiseite, dass die Familien je nach Schichtstatus unterschiedlich gute Startbedingungen für die Schulkarrieren ihrer Kinder bieten, dann lässt sich diese Forderung auch dadurch begründen, dass die Eltern in ihrer partikularistisch-diffusen Bindung an ihre Kinder die universalistisch-spezifische Evaluation ihrer Kinder durch das Erziehungssystem nicht ohne weiteres mittragen werden (Schelsky 1956). Luhmann/Schorr (1988: 54) haben gegen diese Prämisse im Meritokratiemodell eingewandt, dass die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems nichts daran ändert, dass innerhalb der Gesellschaft auch in anderen Funktionsbereichen wie den Arbeitsorganisationen und den Familien erzogen werde. Auch wenn die erzieherische Kommunikation in diesen Funktionssystemen nicht aus ihrem Kontext des Arbeits- oder Familienlebens herausgelöst werden könnten, lieferten doch gerade die Familien wichtige erzieherische Vorleistungen, an die auch das ausdifferenzierte Erziehungssystem noch anschließen müsse. Rudolf Stichweh hat diesen Zusammenhang sehr deutlich formuliert: „Daneben sind die Eltern wichtig, die nicht in Leistungs-, sondern in Publikumsrollen agieren, da sie auf einen Beobachterstatus verwiesen sind, die aber in diesem Beobachterstatus als kommunikative Adressen in das Schulgeschehen einbezogen werden können (z.B. das Zeugnis kommt mit der Post, auf dem Umschlag an die Eltern adressiert). Sobald die Elternrolle anders definiert wird und den Eltern auch aktive Beiträge zugedacht werden, was beispielsweise damit zu tun haben kann, dass ohne die intensive Mitwirkung der Eltern die schulischen Leistungen der Kinder nicht mehr ernsthaft erbracht werden können, liegt es nahe, einen weiteren Rollentypus zu postulieren, so dass man davon spricht, dass die Eltern sekundäre Leistungsrollen übernehmen.“ (Stichweh 2013: 4)
Anette Lareau (1987: 77) hat darauf hingewiesen, dass sich die Schulen stark danach unterscheiden, wie stark die Eltern in der Schule involviert sind. An allen Schulen werde erwartet, dass die Eltern die Lernfortschritte ihrer Kinder überwachen und mit ihnen lernen, an einigen werde aber sogar erwartet, dass die Eltern im Krankheitsfall für den Lehrer einspringen. Anette Lareau macht deutlich, dass die Schulerfolge der Kinder zu einem nicht unerheblichen Teil davon ab-
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hängen, wie gut die Kooperationsverhältnisse von Eltern und Lehrern ausfallen. Diese Beispiele machen aber deutlich, dass sich der Statuszuweisungsprozess nicht gegen den Einfluss der Familien isolieren lässt. Des Weiteren beruht das Meritokratiemodell auf der Annahme einer rationalen Selektion durch die Schule, die die Leistungsdifferenzen der Kinder objektiv abbildet. Luhmann/Schorr kehren die Argumentation an dieser Stelle komplett um (Luhmann/Schorr 1988: 315). Man dürfe nicht den Selektionsbegriff vom Leistungsbegriff ableiten, sondern müsse den Leistungsbegriff als euphemistisches Korrelat des Selektionsbegriffs verstehen. Man könne nicht erziehen, ohne zu seligieren, weil schon die Korrektur eines mündlichen Beitrags ein Akt der Selektion sei, der Wissen und Unkenntnis kenntlich mache und sofort auf die Motivationslage durchschlage. Außerdem führe die interne Differenzierung des Erziehungssystems in verschiedene Schultypen zu neuen Selektionszwängen, denn man müsse dann die Schüler nach ihrem Leistungsvermögen auf die verschiedenen Subsysteme verteilen. Um die Kluft zwischen dem interaktionsabhängigen Lob und Tadel und den langfristigen Verteilungsentscheidungen auf die verschiedenen Schultypen zu überbrücken, seien weitere Selektionstechniken wie Prüfungen und Zensuren entwickelt worden. Diese verschiedenen Selektionstechniken bildeten ein gemeinsames Medium der Selektion aus, das vom situativen Lob über die Zensur bis hin zu den Entscheidungen über Versetzung und Übergänge zu weiterführenden Schulen immer mehr an Reichweite gewänne. Diese Ereignisse würden laufend aufeinander bezogen und stützen sich gegenseitig, aber nicht durch einen festen Bezug auf die „objektiven“ schulischen Leistungen der Schüler. Wer sehr oft gelobt werde, erhalte wahrscheinlich auch bessere Schulnoten, nicht zuletzt, weil der Lehrer diese Klausuren mit anderen Augen zu betrachten beginne (ebd.: 303). Wer immer gute Zensuren erhalte, der müsse auch versetzt werden. Luhmann/Schorr gehen nicht davon aus, dass die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems dazu führt, dass das Erziehungssystem nun eine objektive Leistungsevaluation der Schüler betreibt. Stattdessen formulieren sie die These, dass sich das Selektionsgeschehen im System immer mehr von einer direkten Anlehnung an die Schichtungsstruktur ablöst – nach dem Modell, dass das Gymnasium die Schule für die Bürgerkinder und die Volksschule die Schule für das normale Volk sei – und stattdessen sich immer mehr an der internen Konsistenz des Mediums der Selektion orientiert (ebd.: 317ff.). Gerade diese Konsistenzzwänge verhinderten aber auch eine objektive Evaluation der einzelnen Leistung. Luhmann/Schorr demonstrieren dies an der pädagogischen Kritik der Selektionstechnik der Prüfung. Prüfungen sind Interaktionen, die ein weites Wissensgebiet in einer kurzen Interaktion unter Anwesenden überprüfen. Die Problema-
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tik der Prüfung liege unter anderem an den eigentümlichen Problemen, die die Interaktion unter Anwesenden mit sich bringe wie das Darstellungsproblem, der künstliche Zeitdruck oder die Selektivität der wenigen Wissensgebiete, die überprüft werden können aus dem großen Bereich eines Wissensgebietes, das vorberitet werden sollte. Man misstraut der Prüfung zu Recht, da Selbstdarstellungsprobleme die Geprüften hemmen können, der Prüfer ausgerechnet die wenigen Lücken erwischt haben kann, die immer bleiben, und weil der Zeitdruck zu erheblicher Nervosität bis hin zu chronischer Prüfungsangst führen kann. Man kann deshalb versuchen, die Selektivität der Prüfung durch Einbeziehung der Zensuren zu relativieren, um ausschließen zu können, dass die Prüfung einen völlig unrepräsentativen Eindruck von der Leistungsfähigkeit des zu Prüfenden abgibt. Man sieht, wie schnell die pädagogische Selektion sich im Medium der Selektion rückversichert. Allerdings um den Preis, dass die einzelne Leistung, die Prüfungsperformance, durch die Note nicht mehr abgebildet wird. Man muss dann auch damit rechnen, dass gerade gute Studierende diese Tendenz antizipieren und sich weniger gut bis schlecht vorbereiten, weil sie sich darauf verlassen, dass letztlich eher der Gesamteindruck die Note bestimmen wird. Die meritokratische Sicht auf die schulische Selektion arbeitet zudem mit einem extrem verengten Konzept des Leistungsvergleichs. Beim Leistungsvergleich handelt es sich aber um einen komplexen Akt kommunikativer Attribution. So lassen sich nach Heckhausen drei verschiedene Vergleichshorizonte ausmachen (Heckhausen 1974: 48ff.). Leistungen können in der Zeitdimension daraufhin verglichen werden, ob die Leistungen eines Individuums besser oder schlechter werden, sie können aber auch in der Sozialdimension verglichen werden, ob die Leistung von A besser ist als die Leistung von B und sie können in der Sachdimension verglichen werden, ob alle Schüler ein bestimmtes genau definiertes Lernziel erreicht haben. Im Meritokratiemodell scheint man den schulischen Leistungsvergleich auf die Sachdimension zu verkürzen, denn das Bildungszertifikat soll ja ein objektives Abbild der im Erziehungsprozess erlangten berufsrelevanten Kenntnisse und Fähigkeiten sein. Luhmann/Schorr halten aber fest, dass alle Schulreformen in dieser Hinsicht missglückt seien. Herbert Kalthoff (1997) hat in einer interessanten qualitativen Studie rekonstruiert, woran dies liegt. Jede Klausur stellt eben nicht nur einen Test für den Schüler, sondern auch einen Test für den Lehrer dar. Eine Klausur mit schlechten Durchschnitten kann sowohl auf die mangelnden Bemühungen der Schüler als auch auf das pädagogische Scheitern des Lehrers zurückgeführt werden. Zwar versuchen die von ihm untersuchten Lehrer vor der Korrektur der Klausuren sachliche Lernziele festzulegen. Bei der Korrektur achten sie aber zunächst darauf, ob die besten Schüler die Lernziele verstanden haben. Sie wechseln zur Sozialdimension, um
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ihre eigene Leistung einschätzen zu können. Werden die Lernziele auch durch die besten Schüler verpasst, muss der Lehrer sich das Scheitern der Schüler zumindest teilweise selbst zurechnen und es beginnt die „Arbeit am Schnitt“ (ebd: 137ff.). Luhmann/Schorr sehen deshalb die Stärke der Zensur in ihrer Sensibilität für Leistungsdifferenzen in der Sozialdimension. Daraus lässt sich aber schließen, dass die Zensur allerhöchstens die Leistungsdifferenzen in der Sozialdimension in einer bestimmten Klasse in einem bestimmten Fach abbilden kann. Sobald im Hinblick auf Versetzungs- und Übergangsentscheidungen aber Notendurchschnitte gebildet werden, wird über diese begrenzte „Realitätsgrundlage“ hinweg generalisiert. Auch hier zeigt sich wieder die Eigenlogik der Einheit des Mediums. Die Rationalitätsdefizite erklären sich aber auch aus den Attributionsproblemen, die mit der Differenz variabler und konstanter Eigenschaften der Individuen zusammenhängen. Widersprüchliche Zurechnungen entlang der Differenz konstant/variabel prägen den pädagogischen Alltag. Im Unterricht bevorzugen die Lehrer nach Luhmann/Schorr eine Zurechnung auf die variablen Eigenschaften der Schüler, weil diese Zurechnung die Reichweite pädagogischer Möglichkeiten vergrößere. Die Schüler hingegen bevorzugen danach eine Zurechnung auf ihre konstanten Merkmale – der gute Schüler tendiere dazu, das Ausmaß seiner Anstrengung zu verbergen, um für seine Intelligenz Anerkennung zu finden, der schlechte Schüler nutze die Zurechnung auf konstante Eigenschaften, um die Anforderungen des Lehrers abzuwehren. Außerdem führt die öffentliche Bewertung der Schüler auch zu motivationalen Abweichungsverstärkungsprozessen. Wiederholte Misserfolge führen schnell zu einer dauerhaften Senkung der Aspirationsniveaus. Anders als im Meritokratiemodell vorgesehen, führt die konstante öffentliche Konkurrenz nicht zu einer Optimierung von Leistungskonkurrenz und Rekrutierungsrationalität, sondern zur einer Polarisierung, bei der die guten immer besser und die schlechten immer schlechter werden – eine Tendenz, die durch die Konsistenzzwänge des Mediums der Selektion noch verstärkt würden. Es werde dann für die Lehrer wie die Schüler immer schwieriger, eine deutliche Grenzziehung zwischen den konstanten und den variablen Eigenschaften vorzunehmen. Interessanterweise kippe die Zurechnungspraxis der Lehrer dann bei den Übertrittsentscheidungen. Die pädagogische Selektion weise ein deutliches Defizit bei der Prognosegenauigkeit des Leistungsvermögens auf. Man könne die zukünftigen Leistungen der Schüler kaum aus ihren bisherigen Leistungen vorhersagen. Da es sich bei den Übertrittsentscheidungen aber zu den am schwierigsten zu legitimierenden Entscheidungen handele, tendierten die Lehrer nun zu einer Überbetonung der konstanten Eigenschaften der Schüler. Man müsse dabei aber in Rechnung stellen, dass das Erziehungssystem hier in einem
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kaum aufzulösenden Rationalitätsdilemma gefangen sei. Wenn scharf seligiert werde, dann lasse sich das Risiko vermindern, dass man diejenigen, die auf die anforderungsreichen Schulen geschickt werden, dort nicht überfordert sein werden. Man maximiere dann aber das Risiko, dass man viele Schüler auf Schulen schicke, an denen sie unterfordert sein werden und man ihnen viele Karrieremöglichkeiten verbaue. Eine weiche Selektion kehre die Risiken um. Luhmann/Schorr warnen davor, aus ideologischen Gründen die Risiken einer weichen Selektion zu unterschätzen, da die bleibenden Sozialisations- und Motivationsschäden überforderter Schüler berufliche Aufstiegschancen ebenso gefährden könnten, wie zu früh verbaute Schulkarrieren. Sie schlagen deshalb eine scharfe Selektion bei den Zensuren bei gleichzeitiger stärkerer Entkopplung der Übertrittsempfehlung von den Zensuren vor. Man wird diese Empfehlung aber nur dann für rational halten, wenn man davon ausgeht, dass sich die Schulen bei den Übertrittsempfehlungen nicht immer auch an der Schichtherkunft der Schüler orientieren. Luhmann/Schorr weisen aber selbst daraufhin, dass die Schulen dazu neigen, bei den Übertrittsempfehlungen für Mittel- und Oberschichtskinder schlechte Zensuren eher auszublenden als bei den Übertrittsempfehlungen bei Kindern aus den Unterschichtsfamilien. Eine weitere zentrale Annahme des Meritokratiemodells besteht darin, dass ein meritokratischer Statuszuweisungsprozess die Legitimation der Schichtungsstrukturen sicherstellen könne, weil derjenige, der in der Konkurrenz unterliege, sich sein Versagen selber zurechnen müsse. Luhmann/Schorr setzen auch hier ganz anders an. Zunächst falle auf, dass innerhalb der Profession ein positives Verhältnis zur Erziehung, aber ein negatives Verhältnis zur Selektion zu finden sei. „Dem Erzieher wird erlaubt, ja es wird erwartet, dass er für seine Erziehung bei seinen Zöglingen Zustimmung und Kooperation sucht. Die Theorie sagt ihm zwar, dass er seine Zwecke nicht eigenwillig setzen dürfe, sondern auf immanente Zwecke der Menschenentwicklung achten müsse; aber das sind nur allgemeine Restriktionen auf einen sich vorauszusetzenden, zu bewirkenden und notfalls zu fingierenden Konsens. In Bezug auf Selektion wird dagegen diese Voraussetzung selbst unsinnig. Es wäre, auch und gerade pädagogisch, nicht sinnvoll, Konsens mit einer selektiven Placierung zu erwarten bei denen, die irgendwie schlechter abschneiden als andere. Im Bereich der Selektion muss der Lehrer daher ohne Konsens operieren. Das Ausdifferenzieren selektiver Aspekte seines Verhaltens als lobende oder tadelnde Äußerung, Zensurgebung, Versetzungsentscheidung, bis hin zur Veranstaltung besonderer Prüfungen nur zum Zwecke der Selektion, zieht aus dem konsentierten alltäglichen Verhalten im System die nicht konsensfähigen Aspekte heraus
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und stabilisiert sie in eigenen Formen, wenn nicht in eigenen Subsystemen (Prüfungen).“ (Ebd.: 257)
Aus dieser Perspektive spielt es keine Rolle, wie fair oder „objektiv“ die Selektion abläuft – wer negativ davon betroffen ist, wird nicht an die Legitimität der Selektion glauben. Diese These unterscheidet sich aber auch zentral von Bourdieus These, dass die „eigentliche“ Funktion des Erziehungssystems in der Reproduktion der Klassenstruktur besteht und der gleichzeitigen Aufrechterhaltung der Illusion der Chancengleichheit. So verweisen Luhmann/Schorr auf die große Irritation der Profession durch die Zensurenkritik und die darauffolgende Selektionsfeindlichkeit der Lehrer. Ebenso schlecht passt dazu, dass die Reflexionseliten des Erziehungssystems in dieser Hinsicht die Rolle des schlechten Gewissens übernehmen und öffentlich auf die Inkonsistenz der Selektionspraktiken hinweisen, bestimmte Schulformen wie das dreigliedrige Schulsystem als diskriminierend charakterisieren und den deutschen Lehrern eine generelle Defizitorientierung unterstellen. So trägt man sicher nicht zur Illusion der Chancengleichheit bei. Der mangelnde Konsens in Bezug auf die Selektion durch das Erziehungssystem schlägt sich aber auch als Problem im Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen nieder. Luhmann hat wiederholt daraufhin gewiesen, dass man nicht davon ausgehen könne, dass psychische Systeme normative Erwartungen von einem Moment zum anderen aufgeben könnten. Diese Lernvorgänge würden dann erleichtert, wenn man den Individuen eine sozial darstellbare Ersatzposition biete, die die allmähliche Änderung der Selbsteinschätzung erleichtere (Luhmann 1983: 109ff.). Personen, die von einem Versagen in wichtigen Prüfungen überrascht werden, werden sehr wahrscheinlich die Schuld zunächst beim Erziehungssystem suchen, zumal sie im Laufe ihrer Schulkarrieren genügend Belege für die Inkonsistenz der schulischen Selektionspraktiken geliefert bekommen haben. Burton R. Clarke (1960: 569-576) sieht die Funktion des zweijährigen „junior college“ im amerikanischen Schulsystem in seiner „cooling out“ Funktion. Diese Institutionen nehmen alle Schüler auf und scheinen allen den Weg zu einem vierjährigen College zu eröffnen. Tatsächlich schaffe aber nur ein Drittel diesen Übergang. Diese Institutionen testen alle Studierenden zu Beginn auf ihre Leistungsstärke und verteilen die leistungsschwachen Studierenden auf besondere Förderkurse, die vom restlichen College deutlich getrennt seien. Den Studenten in diesen Kursen würden jeweils persönliche Berater zugeordnet, die die Studenten immer wieder auf ihre schlechten Zensuren aufmerksam und ihnen nach und nach einfachere berufsqualifizierende Ausbildungen schmackhaft machen würden. Die absolut Unbelehrbaren würden schließlich mit
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ihrem aktenkundigen Versagen konfrontiert und abgewiesen. Clarke geht davon aus, dass diese Institution ihren Studierenden nach und nach eine Anpassung ihrer Selbsteinschätzung an die Beurteilung der Schule erleichtern würde. Wie fragil dieses Arrangement ist, haben Rosenbaum/Deil-Amen (2002: 249-268) gezeigt. Diese Institutionen sähen heute ihre Aufgaben vor allem darin, ihre Studierenden für das vierjährige College vorzubereiten. Diese Colleges legten heute vor allem großen Wert darauf, niemanden zu entmutigen, da man nie wissen könne, welche Leistungssprünge noch zu erwarten seien. Nach Rosenbaum/Deil-Amen seien diese Institutionen aber stillschweigend dazu übergegangen, große Teile ihrer Studierenden systematisch über ihre Zulassungschancen zu den vierjährigen Colleges hinwegzutäuschen. Zwar gäbe es faktisch Förderkurse, aber man verwende euphemistische Bezeichnungen dafür, die bei den Studierenden systematisch falsche Hoffnungen wecken würden. Rosenbaum/Deil-Amen fällen ein hartes Urteil: es handele sich nun um „cooling out“ in der eigentlich von Goffman intendierten Bedeutung, bei der Trickbetrüger ihr Opfer langsam herunterkühlen, damit ihnen genug Zeit zur Flucht bleibt, bis es realisiert, dass es betrogen wurde. Die Studierenden verlören dabei aber viel Zeit, in denen sie sich alternative Karrierewege hätten suchen können. Die „junior colleges“ sind dafür kritisiert worden, durch schrittweise Entmutigung, Jugendliche aus benachteiligten Milieus systematisch zur Aufgabe zu ermuntern, indem dort strukturelle Probleme zum individuellen Versagen erklärten würden (Karabel 1977). Nach Rosenbaum/Deil-Amen sind diese Institutionen angesichts dieser öffentlichen Vorwürfe heute dazu übergangen, Jugendliche, die ihrem Leistungsvermögen nach wahrscheinlich keinen Zugang zu einer richtigen Universität finden werden, zwei Jahre lang – in denen sie eine andere Berufsqualifikation hätten abschließen können – an eine Illusion glauben zu lassen. Nach Rosenbaum/Deil-Amen ist dafür keine Klassenverschwörung verantwortlich, sondern eher die ausgeprägte Selektionsfeindlichkeit eines Lehrpersonals, das es mit einer extrem heterogenen Studierendenpopulation zu tun hat. Das Meritokratiemodell stellt aber nicht nur die rationale Selektion im Erziehungssystem in Aussicht, sondern auch die rationale Erziehung. Aus systemtheoretischer Perspektive lässt sich diese Annahme kaum aufrechterhalten. In der Erziehungssoziologie ist die Kritik an der Rationalität des „people processings“ unter dem Begriff des Technologiedefizits geführt worden. Unter Technologie werden dabei alle Sozialtechniken verstanden, die einerseits darauf beruhen, dass bei Störungen schnell Fehler diagnostiziert und korrigiert werden können, und dass andererseits der komplette Arbeitsprozess, in rationale voneinander isolierbare Teilschritte zerlegt werden kann. Man versucht dabei, im Erziehungssystem Individuen durch Kommunikation zu verändern, Lerneffekte und Aha-Erlebnisse
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zu erzeugen. Aus systemtheoretischer Sicht sprechen zwei Gründe gegen eine Technisierbarkeit des Erziehens: Einerseits die Differenz von Erziehung und Sozialisation, die durch die Autonomie psychischer Systeme erzeugt wird, die Strukturänderungen nur an sich selbst durchführen können, da die Schüler, wenn sie mit den Erwartungen des Lehrers konfrontiert werden, sich immer noch zwischen Konformität und Devianz entscheiden können. Andererseits scheitert die Technisierbarkeit der Erziehung an der Komplexität der Interaktion als autonomes soziales System. Im erziehenden Unterricht läuft das „people processing“ über die interaktionsöffentliche Kommunikation, bei der abgefragt wird, frontal unterrichtet wird, bei der Fragen einzelner diskutiert oder kommentiert werden, ohne dass sich absehen ließe, wie viele psychische Systeme, tatsächlich der Kommunikation folgen oder in Träumereien abschweifen und bei der ständig einige Schüler unter- und andere überfordert sind. Die Komplexität des Gegenstandes führt nach Luhmann/Schorr dazu, dass bei aller wissenschaftlichen Betriebsamkeit bis heute keine zuverlässig funktionierenden Handlungsrezepte geliefert werden könne, so dass man sich bis heute auf das Geschick und die Erfahrung des professionellen Lehrpersonals verlassen müsse. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive lässt sich die Rationalität der Leistungen des Erziehungssystems nicht nur daran bemessen, ob die Selektionen des Erziehungssystems „objektiv“ die einzelnen Leistungen abbilden, oder, ob das Erziehungssystem tatsächlich in der Lage ist, die im Lehrplan vorgesehenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, da man dann übersehen würde, dass die Rationalität der Leistungen, die ein Funktionssystem für andere Funktionssysteme erbringt, immer auch daran gemessen werden müssen, inwiefern sie deren Leistungsanforderungen entsprechen. Ohne Zweifel bildet das Erziehungssystem immer auch für den Arbeitsmarkt aus. Die Rationalität der Leistungen des Erziehungssystems muss dann auch danach beurteilt werden, ob es die Menge an speziell ausgebildeten Absolventen entlässt, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Wie heute sogar die Humankapitaltheorie einräumt, wird diese Forderung aber nur selten durch das Erziehungssystem erfüllt. Luhmann/Schorr (1988: 283ff.) erklären dieses Rationalitätsdefizit dadurch, dass sich zwar die Wirtschaft konstitutiv an Knappheit orientiere, aber nicht das Erziehungssystem. „Wissen und Können ist ohne Einschränkung von Summenkonstanz verbreitbar, und deshalb braucht auch nicht rational kalkuliert zu werden, wer es erhalten soll. Wer Latein lernt, nimmt anderen keine einzige Vokabel weg. Wenn ein Schüler eine Eins erhält, ist damit die Zensierung anderer nicht eingeschränkt oder auch nur präjudiziert.“ (Ebd.: 284)
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In der Wirtschaft hingegen hängt das Stellenreservoir auf dem Arbeitsmarkt immer auch von der Wirtschaftskonjunktur und damit von der relativen Knappheit von Kapital ab. Wie Luhmann in dem noch unpublizierten Text „MS über Erziehung“ deutlich gemacht hat, kann das Erziehungssystem aber die Entscheidungen über die Menge der zertifizierten Absolventen nicht unabhängig von den Leistungsanforderungen treffen. Wenn das Erziehungssystem weniger zertifizierte Ökonomen produzieren will, dann kann es dies nur dadurch erreichen, dass es die Anforderungen an die Studierenden der Wirtschaftsfakultäten hochsetzt. Das Erziehungssystem kann die Menge seines Outputs nur durch das Heben oder Senken der Anforderungen regulieren. Daraus ergeben sich aber auch Probleme bei der Synchronisierung des Wirtschaftssystems und des Erziehungssystems. „Es wäre wenig sinnvoll, die Abstimmung im Erziehungssystem genau und nur am Ende einer Ausbildung vorzunehmen und dann Zeugnisse und gute Zensuren zu versagen, weil der absetzbare Vorrat erschöpft ist. Die Regulierung müsste, soll die Ausbildung nicht vergeblich erfolgen, auf den Beginn der Ausbildung vorgreifen, also bei den Ausbildungsplätzen oberhalb der Elementarstufe ansetzen. Dann aber hat man das Problem, die Ausfallquote miteinschätzen zu müssen, und käme zu schwierigen Grenzfallentscheidungen, wenn die Quotierung nicht ausreicht.“ (Luhmann MS über Erziehung, o.T. o. J.: 71).
Man sieht wie die Grenzen zwischen dem Erziehungssystem und dem Wirtschaftssystem eine wirkungsvolle Koordination der Leistungsoutputs des einen Systems mit der Leistungsnachfrage des anderen Systems unmöglich machen, da sich die verschiedenen Eigenrationalitäten dieser Systeme nicht in Einklang bringen lassen. Für die Individuen ergibt sich daraus eine große Unsicherheit zwischen dem Ende der Schulkarriere und dem Anfang der Berufskarriere. Die formalen Organisationen nehmen im systemtheoretischen Modell des Statuszuweisungsprozesses eine besondere Stellung ein. Die Systemtheorie versteht unter formalen Organisationen über Mitgliedschaftsrollen konditionierte Entscheidungszusammenhänge. Das besondere an formalen Organisationen ist danach, dass die Strukturen des Systems selbst das Ergebnis explizit kommunizierter Entscheidungen sein sollen. In der Organisation laufe das vor allem über die Programmierung der Entscheidungsprämissen weiteren Entscheidens. Man kann dieses Modell am besten an der Programmierung der einzelnen Stellen in der Organisation verdeutlichen. Die Organisation legt dabei unter anderem fest, welche Zweck- und/oder Konditionalprogramme die Regeln für richtiges Entscheiden in der Stelle spezifizieren (Luhmann 2000: 256ff.), wie die Stelle in das Kommunikationsnetz der Organisation eingebunden ist, welchen Stellen sie wei-
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sungsverpflichtet ist (ebd.: 302ff.), und mit welcher Person eine Stelle besetzt wird (ebd.: 279ff.). Die Arbeitsorganisationen als besonderer Typ im Unterschied zu freiwilligen Organisationen verfügen mit der Lohn- und Gehaltszahlung über ein wichtiges organisatorisches Mittel, die Teilnahmemotivation ihrer Mitglieder auch dann sicherzustellen, wenn diese keine intrinsische Motivation für die Aufgabenprogramme ihrer Stelle, keine persönliche Achtung vor dem Vorgesetzten und keine Sympathie für ihre Kollegen aufbringen, da die Akzeptanz dieser Verhaltensprämissen Teil der Mitgliedschaftsbedingungen ist, und die Übernahme der Mitgliedschaftsrolle durch die Gehaltszahlung motiviert wird. Gerade die Arbeitsorganisationen zeichnen sich also durch eine weitgehende Indifferenz gegenüber der Umwelt der psychischen Systeme ihrer Mitglieder aus. Die Gehaltszahlung ermöglicht es der Arbeitsorganisation, ihre Mitglieder zu Tätigkeiten zu motivieren, die monoton, schmerzhaft, entwürdigend oder gar lebensgefährlich sind. Sie kann ihre Mitglieder dadurch dazu bringen, Vorgesetzten Respekt zu erweisen, deren Urteilskraft ihnen fraglich zu sein scheint und mit Kollegen zu kooperieren, die man außerhalb der Organisation nicht grüßen würde. Im Vergleich zu ihren Mitgliedern als Individuen zeichnen sie sich zudem meist durch eine relative Langlebigkeit aus. Die Organisation muss ihre Identität aufrechterhalten können, obwohl die Mitglieder ständig ausgetauscht werden. Dieser Indifferenz sind aber auch deutliche Grenzen gesetzt. Einerseits hat schon Herbert Simon daraufhin gewiesen, dass die Individuen selbst eine zentrale Entscheidungsprämisse in der Organisation darstellen, da der persönliche Entscheidungsstil eine Vielzahl zukünftiger Entscheidungen prägt (Simon 1964: 14). Andererseits stellt die Gehaltszahlung nur die Teilnahmemotivation, aber nicht die Leistungsmotivation sicher (Luhmann 1999a: 104ff.). Manche von der Organisation benötigten Leistungen lassen sich zudem nur schwer formalisieren wie die Außendarstellung gegenüber Nichtmitgliedern. Mit jeder Stellenbesetzung prägt die Organisation unabsehbar viele zukünftige Entscheidungen. Mit jeder Beförderungsentscheidung beeinflusst sie zudem nicht nur die Motivationslage des davon betroffenen Individuums, sondern auch die Motivationslage all der Mitglieder, die darin einen Präzedenzfall für die eigenen Beförderungschancen sehen. Diese seltsame Ambivalenz im Verhältnis formaler Organisationen zur Umwelt der psychischen Systeme ihrer Mitglieder erklärt aus systemtheoretischer Perspektive auch, weshalb der Rationalisierbarkeit der Personalentscheidungen relativ deutliche Grenzen gesetzt sind. Dabei lassen sich zunächst zwei sehr unterschiedliche Typen von Personalentscheidungen unterscheiden: Rekrutierungs- und interne Verteilungsentscheidungen (Luhmann 1971: 215). Die Rekrutierungsentscheidungen betreffen Stel-
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lenbesetzungen mit externen Bewerbern, die noch nicht in der Organisation gearbeitet haben, die internen Verteilungsentscheidungen bestehen aus Degradierungen, Beförderungen und den Verteilungen auf andere Abteilungen ohne Ranggewinn oder Rangverlust. Im ersten Fall muss die Organisation eine Auswahl unter Individuen treffen, die sich nur anhand ihrer Bewerbungsunterlagen vergleichen lassen und im zweiten Fall verfügt die Organisationen wenigstens über Erfahrungen mit dem Individuum in einer bestimmten organisationsinternen Stelle (Luhmann 2000: 290) In beiden Fällen muss die Organisation unter großer Unsicherheit entscheiden. Im Fall der Rekrutierungsentscheidungen liegt dies unter anderem daran, dass die Bewerbungsunterlagen strategisch zurechtgeschustert sind. Bei den internen Verteilungsentscheidungen besteht das Risiko, dass man ein Individuum, das sehr gut auf seine aktuelle Stelle passt, aufgrund seiner guten Leistungen auf eine Stelle befördert, für die es ungeeignet ist. Organisationen wenden auch hier das übliche Mittel zum Kleinarbeiten von Komplexität an, indem sie komplexe Aufgaben in mehrstufige Entscheidungsprozesse verwandeln. In einem ersten Schritt wird durch die Typisierung der möglichen Kandidaten ein Pool rekrutierbarer Kandidaten generiert, aus dem dann in einem zweiten Schritt bestimmte Kandidaten zu persönlichen Gesprächen eingeladen werden, aufgrund deren dann die Stellenbesetzung entschieden wird. All diese Schritte weisen dabei ihre Tücken auf. Während des ersten Schrittes müssen die Bewerber durch Typisierung vergleichbar gemacht werden (hier habe sich Schulbildung gegenüber anderen Typisierungen wie Schichtung oder Religionszugehörigkeit durchgesetzt). Bei den Typisierungen lasse sich aber kaum kontrollieren, welche Ausschlusseffekte damit verbunden seien (Luhmann 1971b: 214). Es ist kaum vorherzusehen, welche Kandidaten einem entgehen, wenn man sich auf Abiturienten festlegt. Der Ausschreibungstext sei zudem vor allem mit normativen Kriterien angefüllt, aufgrund derer dann das Urteil begründet werden könne. Jedes Personalverfahren werde aber noch um nichtnormierbare Kriterien, wie beispielsweise das Geschlecht bei „gegenderten“ Stellen, informell angereichert. Nach Luhmann führt aber auch die rationalste Konstruktion der Programme der Personalselektion nur zu schwachen Rationalitätsgewinnen, da letztlich diese durch die Organisation gesuchten Eigenschaften an den Individuen immer zusammen mit anderen oft negativen Eigenschaften auftauchen (Luhmann 2000: 292). Auch die raffiniertesten Kriterienkataloge können einen Pool von Kandidaten erzeugen, in dem sich letztlich kein geeigneter Kandidat findet. Zudem tauchten in jedem Verfahren ständig neue relevante Vergleichsgesichtspunkte der Kandidaten, die nachträglich in den Kriterienkatalog aufgenommen würden und die Bewertung der anderen Kandidaten verzerren könnten.
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Außerdem unterscheidet Luhmann zwischen „program staffing“ und „career staffing“ (Luhmann 1971b: 212). Beim „program staffing“ wird direkt für eine bestimmte Stelle rekrutiert, auf der das Individuum dann auch bleibt. Im „career staffing“ wird eine Kohorte ähnlicher Individuen (Trainees) rekrutiert, die sich danach durch die Karrierestrukturen bewegen werden. Bildungszertifikate erhalten in diesen beiden Rekrutierungsformen eine sehr unterschiedliche Bedeutung. Beim „program staffing“ werden dann Bildungszertifikate verlangt, wenn erwartet werden kann, dass bestimmte Ausbildungsgänge in der zu besetzenden Stelle nachgefragte Kompetenzen oder Fähigkeiten vermitteln. Im „career staffing“ rekrutiert man nicht für eine bestimmte Stelle, sondern für eine Karriere. Die Organisation kann also noch gar nicht wissen, auf welcher Stelle die Trainees letztlich enden werden. Bildung kann hier im Sinne der Signallingtheorie als Signal für Lernfähigkeit verstanden werden. Allerdings vermag die Signallingtheorie nicht zu erklären, weshalb die Bildungszertifikate erst lange nach der Ersteinstellung in der Organisation ihre stärkste Bedeutung ausüben (Blaug 1976: 846). Das Phänomen des „career staffings“ leitet über zu den internen Verteilungsentscheidungen. Gerade die Beförderungsentscheidungen erhalten ihre Bedeutung allerdings in der Organisation weniger durch ihren Beitrag zur Rekrutierungsrationalität als durch ihren Beitrag zur Leistungsmotivation. Da die eigenen Beförderungsaussichten in den meisten Arbeitsorganisationen vor allem von der Personalbeurteilung des direkten Vorgesetzten abhängen, verfügt der Vorgesetzte mit der schwebenden Personalbeurteilung über ein mächtiges Druckmittel, um über das formal Verlangbare hinausgehende Leistungen von seinen Untergebenen zu motivieren. Wenn allerdings das Mittel der Beförderung vor allem zur Leistungsmotivation verwendet wird, dann dürften Konflikte mit dem Bezugsproblem der Rekrutierungsrationalität vorprogrammiert sein. Wer für seine Nachgiebigkeit gegenüber seinem Vorgesetzten immer wieder befördert wird, der gelangt schnell aufgrund seiner Servilität in Ämter, in denen Führungsstärke verlangt wird. Es wird dann nicht selten der Fall eintreten, dass Individuen aufgrund ihrer guten Leistungen in einer Stelle auf Stellen befördert werden, in denen sie überfordert und fehl am Platz sind. Aber auch dafür findet sich ein Lösungsmechanismus in den formalen Organisationen: die Entkopplung des formalen und des informalen Ranges. Die Untergebenen merken, dass der neue Vorgesetzte dem älteren Kollegen unterlegen ist. Sie müssen dann durch komplexe Kommunikationsidealisierungen die Fiktion aufrechterhalten, als ob der Vorgesetzte die Abteilung leitet, obwohl man sich die eigentlichen Ratschläge und Anweisungen aber tatsächlich vom älteren Kollegen holt. Man trennt und entkoppelt hier einfach eine informale und formale Rangstruktur (Luhmann 1999a: 279). Zudem ergibt sich mit zunehmender Höhe in der Hierarchie ein weiteres
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Problem. Die Beförderungschancen nehmen immer mehr zu und die Bereitschaft zu freiwilligen Mehrleistungen gleicht sich immer mehr an. Christopher Jenks hat darauf hingewiesen, dass die Organisationen an dieser Stelle die Bildungszertifikate einfach als ein Rationierungsinstrument behandeln, das sich hoher Legitimität erfreut. Ins mittlere Management kommt man dann nur mit einem Hochschulabschluss, völlig unabhängig davon, was man studiert hat, ob man in diesem Studium irgendetwas Berufsrelevantes gelernt hat, oder ob man sich überhaupt noch an irgendetwas aus diesem Studium erinnern kann. Dies scheint mir eine gute Erklärung dafür zu sein, dass die Schulzertifikate erst so spät in der Karriere ihre volle Wirkung entfalten. Ich habe die Berufskarrieren der Individuen bisher nur aus der Perspektive der Arbeitsorganisationen betrachtet. Die Berufskarrieren der Individuen werden aber oft nicht nur durch die Übernahme einer Mitgliedschaftsrolle in einer Arbeitsorganisation, sondern meist auch und teilweise nur durch die Übernahme einer Leistungsrolle in einem Funktionssystem bestimmt. Die Funktionssysteme haben aber aufgrund ihrer internen Komplexität eigene Karrieremechanismen entwickelt. Die demokratische Politik organisiert die Personalselektion über Wahlen, die Wissenschaft hat den Reputationsmechanismus entwickelt und die Massenmedien orientieren sich dabei an Einschaltquoten. Diese verschiedenen Mechanismen der Personalselektion treiben dabei immer auch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme voran. Indem der Wissenschaftler vor allem nach seiner in Publikationen und Vorträgen gewonnenen wissenschaftlichen Reputation beurteilt wird, werden seine anderen eigenen Rollen oder sein Schichtstatus ausgeblendet. Eine ähnliche Entwicklung findet sich in der demokratischen Politik, in der die gesamte Bevölkerung wahlberechtigt sein soll, jeder nur eine Stimme enthält und die Stimmabgabe geheim erfolgt, so dass der Wähler vor sozialen Pressionen seines Umfeldes geschützt wird. In der Politik wird die Ausdifferenzierung anscheinend eher durch die Ausdifferenzierung der Komplementärrolle des Wählers vorangetrieben. Sehr viel pessimistischer hat sich Luhmann zur Hoffnung geäußert, dass sich dadurch auch das Bezugsproblem der Rekrutierungsrationalität lösen lasse. In Bezug auf politische Wahlen kommt Luhmann zu einem besonders harten Urteil. „Manche Annahmen wie etwa die, dass Konkurrenz um das Amt die am besten Befähigten ins Amt bringe, können als durch Erfahrung widerlegt gelten“ (Luhmann 1983: 14). Aber auch die wissenschaftssoziologischen Analysen des Reputationsmechanismus haben deutliche Pathologien wie den „Matthäuseffekt“ zu Tage gefordert, der auf einem Prozess der Abweichungsverstärkung beruht, nach dem der mehr Reputation erhält, der schon über Reputation verfügt, während sie oft dem vorenthalten wird, der noch keine Reputation erwerben konnte. Luhmann erklärt die Rationalitätsdefizite
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dieser Personalselektionsmechanismen dadurch, dass beide immer auch andere Funktionen mitbedienen müssten. Die politische Wahl soll unter anderem Legitimation durch Verfahren, die Politisierbarkeit gesellschaftlicher Konflikte, und den Austausch politischer Programme gewährleisten (Luhmann 1983: 161ff.). Der Reputationsmechanismus in der Wissenschaft dient auch der Vorsortierung und Steuerung des Informationsflusses und der Motivation der Wissenschaftler (Luhmann 1970: 236). Es scheint gerade der Multifunktionalität dieser Selektionsmechanismen geschuldet zu sein, dass sie nur eine höchst unzuverlässige Lösung für das Bezugsproblem der Rekrutierungsrationalität anbieten. Wie bereits erwähnt, wird der Statuszuweisungsprozess aber auch noch dadurch verkompliziert, dass in der modernen Erwerbsgesellschaft viele Berufskarrieren zur selben Zeit sowohl durch die Funktionssysteme als auch durch die Arbeitsorganisationen bestimmt werden, da die meisten Arbeitsorganisationen sich bestimmten Funktionssystemen zuordnen lassen wie die Krankenhäuser, die Schulen, die Unternehmen, die politischen Parteien oder staatlichen Verwaltungen. In all diesen Fällen gilt dies nicht für alle Stellen in diesen Arbeitsorganisationen, doch es gilt eben immer für die Stellen, denen auch Leistungsrollen in den Funktionssystemen entsprechen. Diese doppelte Konditionierung dieser Karrieren und die daraus resultierenden Widersprüche und Konflikte schlagen sich dabei in einigen Fällen stärker auf der Ebene der Arbeitsorganisationen nieder und in anderen Fällen stärker auf der Ebene der Funktionssysteme. In der Organisationssoziologie wurde beispielsweise immer wieder vor den Loyalitätskonflikten der Professionellen in der Organisation gewarnt. In jedem Fall stellen diese Konflikte eine zusätzliche Belastung der psychischen Systeme der Mitglieder dar. Vergleicht man die Arbeitsorganisationen verschiedener Funktionssysteme, dann lassen sich diese daraufhin untersuchen, wie sehr die Karrieren in den Arbeitsorganisationen von den Selektionsmechanismen der Funktionssysteme bestimmt werden. Je stärker die funktionssystemspezifischen Selektionsmechanismen auf die Karrierestrukturen der Arbeitsorganisationen durchschlagen, desto weniger können die Arbeitsorganisationen ihre Personalentscheidungen zur Disziplinierung ihrer Mitglieder verwenden. Dadurch geraten aber nicht selten andere Organisationsstrukturen in Mitleidenschaft wie beispielsweise deren Rangstrukturen. Dies lässt sich exemplarisch am Fall politischer Parteien zeigen. So kopieren die politischen Parteien den Selektionsmechanismus des Systems, indem sie das Führungspersonal der Partei durch die Mitglieder wählen lassen. Das Votum der Mitglieder spiegelt in der Regel ziemlich direkt die Beliebtheitswerte und Wahlergebnisse wieder. Dieser Kurzschluss der organisationsinternen mit den funktionssystemspezifischen Selektionsmechanismen destabili-
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siert dabei die Rangstrukturen der Parteien erheblich. Die Loyalität der Parlamentarier gegenüber der Parteiführung hängt dabei vor allem davon ab, ob der Beliebtheitsgrad der Partei bei den Wählern die Wiederwahl der Parlamentarier verspricht. Sinkt die Beliebtheit der Partei soweit ab, dass die Hinterbänkler um ihrer Wiederwahlchancen fürchten, oder die Partei gar an einer Sperrklausel scheitern könnte, dann müssen alle Programmfragen zurückgestellt werden, bis die Machtfrage in der Partei geklärt ist. Dort, wo die Parteien, die Kontrolle über die Nominierung der Kandidaten für Parlamentssitze und Regierungsämter ganz an den Wähler abgetreten haben wie bei den amerikanischen Parteien (Primaries) potenziert sich dieses Problem. Eine starke Konditionierung der organisationsinternen Karrierestrukturen durch die Personalselektionsmechanismen der Funktionssysteme, kann aber auch die Organisation mit Personal versorgen, das die Organisation selbst als Zumutung empfindet. Interessanterweise scheinen gerade die Arbeitsorganisationen davon besonders betroffen zu sein, die zu ihrer Strukturierung sich sehr viel stärker auf die Auswahl ihres Personals als auf die Aufgabenprogrammierung der Stellen oder die Programmierung ihres Kommunikationsnetzes und ihrer zentralen Rangstrukturen verlassen müssen. So hat Mintzberg darauf aufmerksam gemacht, dass Professionellenorganisationen wie Krankenhäuser, Schulen oder Universitäten über unklare Technologien verfügen und dass sie die daraus resultierenden Probleme weder durch eine spezifische Programmierung der Stellen noch durch Überwachung lösen können, sondern stattdessen extern ausgebildetes Personal rekrutieren, das in seiner Ausbildung komplexe Entscheidungsprogramme erlernt hat, die es dem Personal ermöglichen soll Entscheidungen unter hoher Unsicherheit treffen zu können (Mintzberg 1983: 194ff.)). Greift eine Organisation auf diese Strukturierungstechnik zurück, dann darf die Autonomie dieser Entscheider nicht durch eine starke Standardisierung der Aufgabenprogramme oder durch scharfe Überwachung eingeschränkt werden. Die Personalentscheidungen müssen dann aber vor allem die organisationsexterne Reputation der Professionellen sicherstellen. Das heisst aber, dass bei diesen Mitgliederkategorien das Standing unter den organisationsexternen Professionskollegen letztlich sehr viel karriererelevanter sein wird als die Personalbeurteilungen in der Organisation. Dieser Sachverhalt stärkt die Autonomie dieser Mitglieder und schwächt das Sanktionspotential der Organisationen. Einen besonders drastischen Typ dieser Organisationen stellen die Universitäten dar, die sich zwei verschiedenen Funktionssystemen zuordnen lassen – dem Wissenschaftssystem und dem Erziehungssystem – und durch beide Funktionssysteme mit kaum technisierbaren Zweckprogrammen, Forschung und Lehre, belastet werden. Wenig überraschend bilden Universitäten deshalb extrem
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schwache Rangstrukturen aus. Die Universitäten haben auf dieses Problem mit Demokratisierung reagiert. Der Rektor der Universität kann kaum eine Entscheidung ohne die Zustimmung der verschiedensten Gremien und Körperschaften wie den Fakultätsversammlungen oder dem Universitätssenat treffen. Er kann mit anderen Worten keine Entscheidung gegen den gemeinsamen Widerstand der wichtigsten Gruppen wie den Professoren treffen. Behält man die zentrale Bedeutung der Personalentscheidungen in diesen Organisationen im Auge, dann erstaunt nicht, dass gerade die Entscheidungen über die Besetzung einer Professur zu den aufwendigsten und kompliziertesten Entscheidungen in diesen Organisationen gehören. Allerdings scheint mit dem Reputationsmechanismus der Wissenschaft auch ein externes Kriterium gegeben zu sein, dass die Rationalität dieser Entscheidungen sicherstellen sollte. So hat Michael Hartmann gerade in der starken schriftlichen Formalisierung des Reputationsmechanismus mit seinen Publikationslisten, Zitationsraten, Peer Review-Verfahren und vielen anderen schriftlich dokumentierten Leistungen wie Lehrevaluationen und dokumentierten Drittmitteleinwerbungen eine starke Gewähr für eine meritokratische Personalselektion gesehen. Aus organisationssoziologischer Perspektive scheint es aber gerade die zweite Komponente, Demokratisierung, zu sein, die der Rationalisierbarkeit dieser Entscheidungsverfahren deutliche Grenzen setzt. So verweist Stefan Kühl auf die Heftigkeit der mikropolitischen Konflikte, die sich ständig an diesen Verfahren entzünden. „Vorrangig an diesem Punkt sind Universitätsprofessoren bereit, mit Sondervoten und unter Mobilisierung aller mikropolitischen Einflussmöglichkeiten für die Durchsetzung ihres „eigenen“ Kandidaten die Kollegialität in einem Institut aufs Spiel zu setzen.“ (Kühl 2007: 5ff.) Man darf in diesem Sachverhalt nicht einfach eine seltsame Pathologie dieser Organisationen sehen. Da hier alle wichtigen Entscheidungen in demokratischen Abstimmungen getroffen werden, wird ein kollegiales Verhältnis der Professoren zum entscheidungstheoretischen Nadelöhr der Organisation. Persönliche Animositäten können dann in nachvollziehbarer Weise eine ansonsten passende Person ausschließen. Doch was aus der Perspektive des einen die Verhinderung einer für kooperationsunwillig gehaltenen Person ist, ist aus der Perspektive des anderen ein persönlicher Angriff auf den „eigenen Kandidaten“, für den man sich bei der nächsten Kommission revanchieren kann. Der Versuch durch die Verhinderung kontroverser Stellenbesetzungen ein Minimum an funktionierender Selbstverwaltung zu sichern, multipliziert die mikropolitischen Konfliktherde. Auch an den Universitäten wird deutlich, dass die doppelte Konditionierung der Karrieren durch die nur schlecht aufeinander abzustimmenden Anforderungen der Funktionssysteme und der Arbeitsorganisationen zu erstaunlichen Abweichungen vom Meritokratiemodell führt, durch die gerade besonders stark formalisierte und
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demokratisierte Personalbesetzungsverfahren letztlich oft zum Spielfall persönlicher Animositäten und fakultärer Rachefeldzüge zu werden drohen. Das systemtheoretische Modell der Reproduktion sozialer Klassen Die Radikalisierung der differenzierungstheoretischen Position, wie sie sich in den Arbeiten von Niklas Luhmann findet, liefert eine große Zahl an Argumenten, weshalb die moderne Gesellschaft nie eine Leistungsgesellschaft sein wird. Einerseits sind die Funktionssysteme und die Arbeitsorganisationen der modernen Gesellschaft nicht in der Lage, die Leistungen der Individuen objektiv zu evaluieren. Zudem werden die Berufskarrieren der Individuen teils nacheinander, teils gleichzeitig von den Fremdselektionen verschiedener Sozialsysteme bestimmt, die aber jeweils ihren eigenen Programm- und Rollenstrukturen folgen und kaum aufeinander abgestimmt sind. Die Individuen erleben den Statuszuweisungsprozess deshalb mit zunehmender Karrieredauer als inkonsistente Aneinanderreihung eigener und fremder Entscheidungen, der in seiner Gesamtheit einen stark zufallsgesteuerten Eindruck hinterlässt (Luhmann 1973: 348). Doch wie erklärt Luhmann dann die Reproduktion generationenübergreifender sozialer Ungleichheit? Interessanterweise scheint auch Luhmann seinen Zugang zu diesem Thema aus einer Auseinandersetzung mit dem Meritokratiemodell zu gewinnen. Lässt man die Vertreter des Modells der Intelligenzklasse beiseite, dann kann man das Meritokratiemodell auf die Formel bringen, dass die funktional differenzierte Gesellschaft die letzten Reste der sozialen Erblichkeit des Schichtstatus bald beseitigt haben wird, so dass alle Individuen über dieselben Startbedingungen in ihren Karrieren verfügen werden. Da Luhmann davon ausgeht, dass die Klassen der modernen Gesellschaft ihren Zugriff auf die Interaktion verloren haben, muss er eine Alternative zum Modell der strategisch operierenden Statusgruppen liefern. Er argumentiert dabei erstaunlich defensiv. Luhmann versucht zu zeigen, dass die moderne Gesellschaft auch dann das Phänomen generationenübergreifender sozialer Klassen reproduzieren würde, wenn die Schulen alle Kinder unabhängig von ihrer Schichtherkunft gleich behandeln würden und wenn es den Arbeitsorganisationen der Funktionssysteme gelingen würde alle schichtspezifischen Vorurteile der für Personalentscheidungen zuständigen Organisationsmitglieder zu neutralisieren. Nach Luhmann kommt es auch dann zur Reproduktion intergenerationaler sozialer Ungleichheit, wenn die Kinder der Mittel- und Oberschicht in ihren Familien nur geringfügig besser auf die Schule vorbereitet werden, denn diese kleinen Unterschiede in den Startbe-
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dingungen lösen einen Prozess der Abweichungsverstärkung aus, der diese kleinen Unterschiede immer deutlicher hervortreten lässt. „So können kleine Anfangsvorteile relativ rasch große Wirkungen entfalten. Wer schon Kapital hat, bekommt eher Kredit und hat eher Chancen, wirklich reich zu werden. Wer schon öffentliches Ansehen genießt, hat es leichter, in einer Partei zu Einfluss zu gelangen. Wer schon educogen sozialisiert ist, findet sich im Prozess der weiteren Erziehung bevorzugt. Und wie bei einer Kristallbildung absorbieren die schon begonnenen Kristallisationsprozesse die Ressourcen, die auch anderswo hätten verwendet werden können.“ (Luhmann/Schorr 1988: 239).
Die Stärke dieser Theorie wird dann sichtbar, wenn man sie mit den aktuell dominierenden Erklärungsmodellen in der Erziehungssoziologie vergleicht. In der ungleichheitssoziologischen Analyse des Erziehungssystems scheinen sich seit längerer Zeit zwei Modelle in einer Pattsituation gegenüber zu stehen (Vester 2006: 14). Auf der einen Seite findet man das von Raymond Boudon, Hartmut Esser, Rolf Becker und John Goldthorpe präferierte Rational Choice-Modell und auf der anderen Seite ein an Bourdieu angelehntes kulturalistisches Modell (Lareau/Weiniger 2003, Michael Vester 2006, Daniel Dravenau/Olaf GrohSamberg 2005). Diese beiden Schulen sind sich dabei einig, dass die schichtspezifischen Unterschiede in der Bildungsbeteiligung sich nur zum Teil über primäre Effekte erklären lassen. Die Differenz dieser beiden Ansätze wird erst bei der Erklärung der sekundären Effekte, die nicht auf die schichtspezifischen Unterschiede im Leistungsvermögen zurückzuführen sind, sichtbar. Im Rahmen des Rational Choice-Modells werden die sekundären Effekte vor allem darauf zurückgeführt, dass die schichtabhängigen Unterschiede im Einkommen das Opportunity-Set der Individuen bei der Entscheidung über die Fortsetzung oder den Abbruch der Schulkarriere bestimmen. Das kulturalistische Modell erklärt die sekundären Effekte hingegen dadurch, dass sich die schulische Selektion immer auch an Eigenschaften der Individuen orientiert, die aus der Perspektive einer strikt meritokratischen Leistungsevaluation arbiträr wirken. Die kulturalistische Kritik am Rational Choice-Modell stellt heraus, dass die Schule in ihren Erziehungs- und Selektionsleistungen erheblich vom Meritokratiemodell abweicht. Die Schule macht die Kinder selbst ungleicher (Ditton 2004: 254). So verläuft die kognitive Entwicklung der Kinder an Gymnasien sehr viel positiver als die an den Real- oder Hauptschulen. Zudem schlage sich der Schichthabitus auch dann in den Schulempfehlungen für die Sekundarschulen nieder, wenn man die schulischen Leistungen kontrolliere (ebd.: 264). Das kulturalistische Modell wiederum wird heute kaum noch in der harten Lesart Bourdieus vertreten
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(Lareau/Weininger 2003: 580, Vester 2006: 23). So wird eingeräumt, dass sich die Schulen immer auch am Leistungsvermögen der Schüler orientierten. Dabei fällt es zunehmend schwerer, der Literatur eindeutige Hinweise auf den Unterschied zwischen den legitimen leistungsrelevanten Kriterien und den kulturell arbiträren Kriterien zu entnehmen, die es rechtfertigen würden, von institutioneller Diskriminierung zu sprechen5. So tendiert die Literatur dazu, alle nicht direkt auf die Bewertung einer spezifischen schulischen Leistung bezogenen Kriterien als diskriminierend zu behandeln. Orientieren sich die Lehrer bei einer Schulempfehlung nicht nur am IQ oder an der Lese- oder Rechenkompetenz, sondern beziehen weitere Kriterien wie den kreativen Umgang mit Lehrinhalten oder ein positives Sozialverhalten ein, die als Eigenschaften deutlich mit der Schichtherkunft korrelieren, dann wird dies als institutionelle Diskriminierung aufgefasst. Man kann das Dilemma dieser forcierten Alternative auch so formulieren: Die Rational Choice-Modelle gehen mit dem Erziehungssystem nicht kritisch genug um und die kulturalistischen Modelle kultivieren eine überzogen wirkende Verdachtssemantik, die sich theoretisch kaum mehr nachvollziehen lässt. Die Systemtheorie kann diese eigenwillige Alternative vermeiden helfen. Einige dieser Probleme lassen sich vermeiden, wenn man den Selektionsbegriff nicht vom Leistungsbegriff, sondern umgekehrt den Leistungsbegriff vom Selektionsbegriff ableitet. Die Funktion des Erziehungssystems besteht nicht in der objektiven Evaluation der Schüler, sondern in den durch die erziehende Kommunikation ausgelösten Sozialisationseffekten. Das Erziehungssystem muss dabei immer wieder das Problem lösen, dass sich niemand gerne ständig belehren lässt. In der Schülerrolle sind eine ganze Reihe sozial hoch voraussetzungsvoller Zumutungen enthalten - sich belehren und korrigieren lassen zu müssen, die eigene Unwissenheit öffentlich demonstriert zu bekommen und mit anderen in Hinsichten verglichen zu werden, die wenig schmeichelhaft ausfallen. Die Lehrer müssen ständig gegen den Widerstand ankommunizieren, den diese Zumutungen auslösen. Wer diese Zumutungen schneller akzeptiert und diese vielleicht gar nicht mehr als Zumutungen erlebt, der lässt sich leichter erziehen. Je höher der Anteil leicht zu belehrender Schüler ist, desto weniger muss man sich im Un-
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So zählt Hartmut Ditton folgende Eigenschaften zu den leistungsfremden Kriterien: Fleiß, Ausdauer, Konzentration, Mitarbeit, Leistungswillen, Interesse, Gewissenhaftigkeit und Ordnung (Ditton 2004: 257. Eva Schumacher rechnet dazu den kreativen Umgang mit Wissen und das Sozialverhalten (Schumacher 2002: 261). Dabei handelt es sich aber um lauter Eigenschaften, die schulischen Erfolg sehr viel wahrscheinlicher machen.
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terricht mit Disziplinarproblemen herumzuschlagen. Die Lehrer verwenden Lob und Tadel nicht nur zur Korrektur inhaltlicher Irrtümer, sondern eben auch als Sanktion bei Disziplinarproblemen. Damit verfängt sich aber auch das deviante Handeln im Unterricht im Kontext des Mediums der Selektion. Der fleißige und folgsame Schüler wird für seine Konformität gelobt und dieses Lob färbt dann auch schnell auf die Bewertung der Klausuren ab und wird damit versetzungsrelevant. Stimmt man Rudolf Stichwehs These zu, dass es sinnvoll ist, den Eltern den Status einer sekundären Leistungsrolle einzuräumen, dann erscheint es viel weniger skandalös, dass der Schichtstatus der Eltern von den Lehrern auch dann bei der Schulempfehlung berücksichtigt wird, wenn er sich nicht in den Schulnoten niederschlägt. Wie gerade Anette Lareau (Lareau 1987) gezeigt hat, gehen die Eltern aus der Arbeiterklasse sehr viel stärker davon aus, dass der Lernerfolg ihrer Kinder vor allem in den Verantwortungsbereich des Lehrers fällt. Die Chancen der Kinder aus den Mittelschichts- und Oberschichtsfamilien, sich am Gymnasium durchzusetzen, sind auch deshalb besser, weil ihre Eltern sie dabei besser unterstützen können. Auch wenn die Antizipation dieses Zusammenhanges schnell zur „self fullfilling prophecy“ wird, so scheint es nicht sinnvoll zu sein, darin einen Akt der willkürlichen Diskriminierung zu sehen. Sieht man genauer hin, entwirft diese Forschung folgendes Bild von der schulischen Selektion. Die Kinder aus den verschiedenen Herkunftsklassen beginnen ihre Schulkarriere aufgrund der primären Bildungseffekte mit kleinen, aber statistisch signifikanten Unterschieden im Leistungsvermögen, die aber durch die Schule nicht kompensiert werden, sondern aufgrund des Polarisierungseffektes vergrößert werden. Besonders bei den Schulempfehlungen orientieren sich die Schulen nicht nur an den Schulleistungen oder an den Testergebnissen kognitiver Leistungsfähigkeit, sondern berücksichtigen darüber hinaus auch, wie gut die Kinder für die soziale Situation Unterricht sozialisiert sind. Da auch die Bildungsnähe der Familie einen deutlichen Effekt auf den Schulerfolg ausübt, müssen die Kinder aus der Arbeiterklasse deutlich bessere Noten als die Kinder aus der Mittel- und Oberschicht vorweisen, um eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten. Nüchtern betrachtet sind all diese Faktoren leistungsrelevant, so dass man kaum von einer Diskriminierung aufgrund leistungsfremder Kriterien sprechen kann. Der Vorwurf kann dann nur dahingehen, dass das Erziehungssystem die „objektiven“ Vorteile der Mittel- und Oberschichtskinder nicht zu kompensieren versucht, sondern diese noch verstärkt. Die kulturalistische Kritik schraubt dabei die Anforderungen an die Kompetenzen der Lehrer immer höher. So erwartet Hartmut Ditton von den Lehrern, die Schulklassen mit einer großen Streuung in der Leistungsbreite unterrichten müssen, einen kognitiv anspruchsvollen Unterricht, der alle Schüler gleichermaßen einbezieht (Ditton
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2004: 270). Er verrät allerdings nicht, wie man das macht, ohne die einen zu unterfordern oder die anderen zu überfordern. Ebenso fordert er von den Lehrern eine Offenlegung aller Kriterien, die bei der Schulempfehlung eine Rolle spielen. Dabei räumt er ein, dass auch die Wissenschaft noch nicht weiß, wie man aufgrund der vergangenen Schulkarriere die zukünftigen Leistungen prognostizieren soll. Was damit gewonnen wäre, wenn die Schule zugesteht, dass sie die biographisch einschneidenden Schulempfehlungen aufgrund sehr unzuverlässiger Indikatoren abgibt, behält Hartmut Ditton ebenfalls für sich. Die Forschungstradition, die das Erziehungssystem auf Phänomene wie institutionelle Diskriminierung untersucht, scheint große Schwierigkeiten zu haben, im Dickicht sich aufeinander beziehender schulischer Selektionen zu einer eindeutigen Verantwortungszurechnung zu kommen. Kleine anfängliche Unterschiede in den schulspezifischen Kompetenzen und andere schichtspezifische Vor- oder Nachteile in den Startbedingungen der Schulkarrieren werden durch die Schule allmählich vergrößert – sei es, weil die schulischen Selektionen auf die Motivationslage durchschlagen, sei es, weil die wechselseitige Abstützung der einzelnen Ereignisse im Medium der Selektion immer mehr zur „self fulfilling prophecy“ werden. Die Schichtselektivität des Erziehungssystems lässt sich aber systemtheoretisch dadurch erklären, dass es in seinen Kommunikationsprozessen auf Sozialisations- und Erziehungsleistungen in den Familien angewiesen bleibt. Obwohl die Familien selbst einen Ausdifferenzierungsprozess durchlaufen haben, bleibt die Familienbildung unter Schichtgleichen wahrscheinlicher, wodurch es zu einer Kumulation schichtspezifischer Vorteile in den Familien kommt. Diese schlagen sich eben auch in den Vorleistungen der Familien nieder, die das Erziehungssystem in seinen Kommunikationsprozessen voraussetzt. Auch wenn sich die verschiedenen nationalen Erziehungssysteme darin unterscheiden, wie stark diese auf die Leistungen der Familien zurückgreifen, scheint es ein gewisses Niveau zu geben, das überall vorausgesetzt wird. Man darf dabei nicht bei der These stehen bleiben, dass das Erziehungssystem die Unterschiede im Grad der educogenen Sozialisation reproduziert und nicht kompensiert. Das Erziehungssystem trägt auch zur Vergrößerung dieser schichtspezifischen Vorrespektive Nachteile bei. Man kann die Reproduktion generationenübergreifender Schichten auch dadurch erklären, dass es den Familien der Oberschicht gelingt, ihren Kindern besondere Vorteile in ihren Berufskarrieren zu verschaffen, obwohl sie – sieht man von der Ausnahme des Familienunternehmens ab – ihren Einfluss auf die Personalentscheidungen in den Arbeitsorganisationen verloren haben. Anders als Bourdieu, der davon ausgeht, dass sich das Feld der Erziehung immer noch von den sozialen Reproduktionsstrategien der Oberschichtsfamilien instrumentalisie-
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ren lässt, rekonstruiert die Systemtheorie die Reproduktion generationenübergreifender Klassen aus den Leistungsbeziehungen der Funktionssysteme. Die empirisch forschende Mobilitätsanalyse hat aber festgestellt, dass der Schichtstatus der Familien die Berufskarrieren der Individuen in den Arbeitsorganisationen nicht nur über die Schichtselektivität des Erziehungssystems beeinflusst, sondern sich auch direkt auswirkt. Im Gegensatz zum erziehungssoziologischen Beitrag zur ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse finden sich in der Systemtheorie bisher nur knappe Andeutungen zum Verhältnis der Arbeitsorganisationen zu den Familien. Dennoch lässt sich daraus zumindest die Skizze eines systemtheoretischen Modells entwickeln, dass erklären soll, weshalb Arbeitsorganisationen Individuen mit einer Oberschichtsherkunft für bestimmte Stellen bevorzugen. Bei John Goldthorpe ist uns bereits ein Erklärungsmodell begegnet, das erklärt, weshalb manche Arbeitsorganisationen die Schichtherkunft eines Individuums für ein leistungsrelevantes Kriterium halten. Goldthorpe denkt hier vor allem an Wirtschaftsunternehmen mit einer Oberschichtsklientel (Goldthorpe 2000: 249). Die Grenzstellen in der Organisation, die mit diesem Publikum Kontakt haben, sollten mit dem schichtspezifischen Habitus dieser Gruppe vertraut sein. Goldthorpe sieht in diesen Stellen, ein Auffangbecken in dem Individuen aus der Oberschicht, die in der Schule versagt haben, einen allzu drastischen sozialen Abstieg vermeiden können. Niklas Luhmann hat einen weiteren Mechanismus entdeckt, der erklären kann, weshalb Organisationen sich in ihren Rekrutierungs- und Beförderungsentscheidungen sich am Schichtstatus der Kandidaten orientieren. Die Formalisierung von Rangstrukturen in der Organisation stellt eine multifunktionale Institution dar, mit der eine ganze Reihe entscheidender Bezugsprobleme gelöst werden. Die zentrale Hierarchie dient der Organisation zur Kanalisierung ihrer Entscheidungsprozesse, zur Zurechnung von Verantwortlichkeiten und zur Konfliktentscheidung. Luhmann geht davon aus, dass die Organisationen ihre Rangstruktur dadurch abstützen, indem sie die formalen Rangdifferenzen mit dem Schichtstatus der Mitglieder abgleichen (Luhmann 2000: 204). Der bis heute noch nicht ganz verlorengegangene Respekt vor Schichtdifferenzen, stützt dann die Überordnungs- und Unterordnungsbeziehungen in der Organisation. Sie schränken den Erläuterungsbedarf der Vorgesetzten ein und entmutigen Rückfragen. Ein ganz ähnliches Konzept findet sich in Charles Tillys (1998) „Durable Inequalities“. Tilly geht davon aus, dass die organisationsinterne Regelung von Rangverhältnissen auch heute noch instabil bleibt, wenn sie nicht durch externe askriptive Ungleichheiten abgestützt werde. Tilly bezeichnet diesen Mechanismus der Reproduktion sozialer Ungleichheit als „emulation“.
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Selbst wenn man mit Luhmann davon ausgeht, dass die Entdifferenzierung von Interaktion und Schichtung diesen Zusammenhang immer mehr abschwächt, muss man damit rechnen, dass er immer noch reproduziert wird. Zum einen muss man dabei die erhebliche Trägheit der „work force“ in Rechnung stellen, da die Individuen die aktuell die Führungspositionen innehaben, teilweise noch nach ganz anderen Kriterien ausgewählt worden sind. Außerdem müssen zwei weitere strukturelle Einschränkungen der Personalentscheidungen in Rechnung gestellt werden. Schon die Schichtselektivität des Erziehungssystems sorgt dafür, dass in den Führungspositionen Individuen aus der Oberschicht überproportional vertreten sind. Die schichtspezifische Zusammensetzung der Population der Mitglieder schränkt aber ebenfalls die Freiheitsgrade der Personalentscheidungen ein. So hat die Organisationsdemographie darauf hingewiesen, dass Individuen, die in ihren persönlichen Merkmalen ihren Kollegen am Ähnlichsten sind, schneller in das informale Kommunikationsnetz der Organisation inkludiert werden (Wiersema/Bird 1993: 1003). Die Bereitschaft, ein neues Mitglied schnell mit den ungeschriebenen Regeln des Organisationslebens vertraut zu machen, kann nicht formalisiert werden, so dass hier wieder die Prozesse der selektiven Assoziation zum Tragen kommen. Wird die Führungsebene der Arbeitsorganisation durch Individuen aus der Oberschicht dominiert, ist es für die Organisation rational, Oberschichtsmitglieder bei der Besetzung vakanter Positionen bevorzugt zu behandeln. Die Träger der Führungspositionen dienen aber auch als Grenzstelle zu den Führungspositionen in anderen Arbeitsorganisationen. Gerade Wirtschaftsunternehmen scheinen aber viele dieser Kontakte zu anderen Wirtschaftsunternehmen in einen eher informalen Rahmen zu verlegen, wie z.B. dem Geschäftsessen (Hartmann 1996). Da die Individuen in der modernen Gesellschaft bei freiwilligen Kontakten aber immer noch Individuen aus derselben Schicht zu bevorzugen scheinen und gerade in den Wirtschaftsunternehmen eine hohe Schichthomogenität in den Führungspositionen zu bestehen scheint, erweist sich auch hier eine Rekrutierung von Mitgliedern aus der Oberschicht als funktional. Vergleicht man Luhmanns Skizzen zu einer Mobilitätsanalyse mit seinem allgemeinen Modell einer Ungleichheitssoziologie, so zeigt sich, dass hier das Hauptaugenmerk auf den strukturellen Kopplungen der Familien mit dem Erziehungssystem und den Arbeitsorganisationen liegt. Sowohl das Erziehungssystem wie die Arbeitsorganisationen müssen auf die Erziehungs- und Sozialisationsleistungen der Familien zurückgreifen. Die selektive Assoziation bei der Partnerwahl sorgt dafür, dass die Familien in der Regel schichthomogene Sozialisationsbedingungen aufweisen, das heißt aber, dass sich die Familien je nach dem Schichtstatus in ihren Erziehungs- und Sozialisationsleistungen unterscheiden.
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Die Familien sozialisieren beispielsweise je nach Schichtstatus unterschiedlich gut für die Schulkarrieren – sei es, dass sie je nach Schichtstatus unterschiedlich hohe Bildungsaspirationen ausprägen, andere Persönlichkeitszüge hervorheben oder eine eher positive oder negative Einstellung zum Erziehungssystem wahrscheinlich machen. Ähnliches gilt für die Arbeitsorganisationen. Es mag sein, dass die schichtspezifische Sozialisation bestimmte Persönlichkeitsstrukturen hervorhebt, die durch die Arbeitsorganisationen nachgefragt werden wie Risikoaversion/Risikofreudigkeit, Selbstbestimmtheit/Fremdbestimmtheit, Tendenz zur Selbstzurechnung/Fatalismus (Bowles/Gintis/Osborne 2001: 1144). So gehen Bowles et al. davon aus, dass eine Mischung aus der Tendenz zur Selbstzurechnung und Risikoaversion in der Mittelschicht die Sensibilität für die organisationsinterne Sanktionen steigert und damit den Kontrollaufwand der Organisation senkt (incentive enhancing prefences, ebd.: 1162). Gerade in Führungspositionen würden aber ganz andere Persönlichkeitszüge nachgefragt. So stellen sie fest, dass die Inhaber von Führungspositionen oft hohe Werte auf einer Machiavellismus-Skala aufweisen, die die positive Einstellung zur Manipulation anderer Individuen misst. Organisationssoziologisch lässt sich dies schon gut an der Figur des Zwischenvorgesetzten verdeutlichen, der auf der einen Seite seinen Untergebenen suggerieren muss, dass sie viel zu wenig arbeiten und dass er sie nur mit Müh und Not vor den Drohungen seiner Vorgesetzten beschützen kann, der aber auf der anderen Seite bei seinen Vorgesetzten den Eindruck erwecken muss, dass seine Untergebenen absolut überlastet seien (Luhmann 1999a: 210ff.). Dieses Erklärungsmodell findet sich auch immer öfter in der klassischen Ungleichheitssoziologie (Goldthorpe 2000: 249, Bowles/Gintis/Osborne 2001). Hier deutet sich eine erstaunliche Konvergenz zwischen Teilen der bisher vor allem konflikttheoretisch argumentierenden Ungleichheitssoziologie und der Systemtheorie an. Dabei fällt aber auf, dass Luhmanns an verschiedenen Stellen vorgestellte Skizze einer Mobilitätsanalyse doch noch in deutlicher Anlehnung an das Meritokratiemodell formuliert ist, denn Luhmann begnügt sich damit, plausibel zu machen, dass eine Gesellschaft, die noch viel deutlicher dem Idealtypus einer funktional differenzierten Gesellschaft entsprechen würde, auch dann noch generationenübergreifende soziale Klassen reproduzieren würde. Luhmanns Modell einer Mobilitätsanalyse tendiert dazu sich in einer Widerlegung des Meritokratiemodells zu erschöpfen. Luhmann kann hingegen keine Aussagen dazu machen, welchen Grad an Offenheit die moderne Gesellschaft zu erreichen im Stande wäre, ebenso fehlen Modelle, mit denen man erklären könnte, weshalb die Mobilitätsraten von Nationalstaat zu Nationalstaat erheblich variieren (Goldthorpe/Erikson 1993) und welche Spielräume der staatlichen Politik dabei blei-
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ben. Luhmann eröffnet aber mit seinem Modell einen Weg, diese Fragen zu behandeln, ohne dabei auf das Meritokratiemodell zurückzufallen.
Z USAMMENFASSUNG Lässt man die vorangegangen Seiten Revue passieren, dann bestätigt sich der zu Beginn des letzten Unterkapitels formulierte Vorbehalt, dass in der Systemtheorie bisher ein allenfalls rudimentäres Modell zur Erklärung der Reproduktion sozialer Klassen vorliegt. An dieser Stelle müsste die weitere Forschung die bislang nur anskizzierten Modelle weiter ausarbeiten. Goldthorpe, Bourdieu oder Collins haben an dieser Stelle sehr viel genauer ausgearbeitet, weshalb es aus ihrer Perspektive zur Reproduktion generationenübergreifender strukturierter sozialer Ungleichheit kommt. Dabei könnte aber die systemtheoretische Analyse des Erziehungssystems als Vorlage dienen, die sich sehr gut mit den bisher in der ungleichheitssoziologischen Mobilitätsanalyse verwendeten Erklärungsmodellen vergleichen lässt. Außerdem wäre es sicher interessant die Forschungsfrage von Michael Hartmann (2002) aufzunehmen, der zu zeigen versucht hat, dass die verschiedenen Funktionssysteme sich im Grad ihrer Schichtselektivität deutlich unterscheiden. An dieser Stelle könnte eine genauere Analyse des Zusammenspiels funktionssystemspezifischer und organisationsinterner Karrieremechanismen weiterhelfen. Am gewöhnungsbedürftigsten dürfte für den nichtsystemtheoretischen Leser das komplette Ausblenden von materiellen Interessen und von Verteilungskämpfen sein. Die Ungleichheitssoziologie tendiert seit ihren Anfängen dazu, ihren Gegenstand gerade aus dieser Perspektive zu rekonstruieren. Dieser eigentümliche Zug einer systemtheoretischen Soziologie sozialer Ungleichheit ergibt sich zwingend aus den kommunikationstheoretischen Grundlagen dieser Theorie, die zu Beginn des Kapitels dargestellt worden sind. Das heißt nicht, dass die Systemtheorie die Existenz von Verteilungskonflikten bestreitet, aber es bedeutet, dass Verteilungsungleichheiten in der Systemtheorie nicht dadurch erklärt werden können, dass Verteilungsungleichheiten konfligierende Interessen auf der Ebene der Individuen erzeugen, die daraufhin um die Änderung oder Beibehaltung des Status Quos der Verteilungsordnung streiten. Allerdings finden sich gerade in der Ungleichheitssoziologie auch immer wieder Stimmen, die daraufhinweisen, dass die Ungleichheitssoziologie dazu tendiert die konflikttheoretische Argumentationsstrategie zu überziehen. So vermeidet Goldthorpe konflikttheoretische Modelle und Randall Collins hat in seiner Mikrofundierung der Ungleichheitssoziologie starke Argumente gegen ein starkes Konzept der Status-
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gruppe entwickelt. Die Differenz zur Systemtheorie bleibt groß, weil beide Autoren dafür das Konzept materieller Interessen umso stärker machen. Aber man sieht, dass die Systemtheorie nicht so viel von den etablierten Ansätzen in der Ungleichheitssoziologie trennt, wie man annehmen könnte. Die Stärke der Systemtheorie liegt sicher auf der Ebene der Kritik des Meritokratiemodells. Aus systemtheoretischer Perspektive spricht nichts dafür, dass die moderne Gesellschaft jemals eine Leistungsgesellschaft sein wird. Der karriereförmige Lebenslauf der Individuen führt diese durch die Einzugsbereiche verschiedener Funktionssysteme, aber auch durch die Einzugsbereiche verschiedener Sozialsysteme wie der Interaktionen und der Organisationen. Die sich daraus ergebenden System/Umwelt-Verhältnisse zerschneiden das meritokratische Ideal einer lückenlosen Kettenrationalität des Statuszuweisungsprozesses. Aus systemtheoretischer Perspektive bemühen sich die am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsysteme nicht um eine objektive Evaluation der Leistungen der Individuen, sondern treffen diese Selektionen aus jeweils ganz kontextspezifischen Problemlagen heraus. Das Erziehungssystem kann nicht erziehen ohne zu selegieren und dieser Selektionszwang hat mit der internen Differenzierung des Systems immer stärker zugenommen. Das Erziehungssystem muss auch dann seligieren, wenn mangels verlässlicher Prognosegenauigkeit keine rationale Grundlage dafür vorhanden ist. Die Arbeitsorganisationen verwenden ihre internen Karrierestrukturen immer auch zur Leistungsmotivation der Mitglieder, die sich durch die Formalisierung der Mitgliedschaftsrollen nicht sicherstellen lässt. An dieser Stelle wird auch Frank Parkins Unbehagen an der Terminologie von Askription und Leistung nachvollziehbar. Dieses Begriffspaar suggeriert immer schon die Entsprechung von funktionaler Differenzierung und Meritokratie. Parsons selbst war mit dieser Wortwahl wohl unzufrieden und hat alternativ das Begriffspaar „Quality/Performance“ vorgeschlagen (Parsons 1960: 468). Parkin spricht von individualistischen und kollektivistischen Selektionsmechanismen (Parkin 1979: 33). Folgt man dieser Analyse, dann kann man ein sehr viel entspannteres Verhältnis zum Meritokratiemodell entwickeln. Aus systemtheoretischer Sicht handelt es sich beim Meritokratiemodell um eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung, mit der die Soziologie brechen muss. Angesichts der Langlebigkeit dieser Semantik, muss die Soziologie aber realistischerweise mit einer hohen Aufklärungsresistenz außerhalb der Sozialwissenschaften rechnen. Es scheint nicht zuletzt die eigentümliche Mischung aus forcierter Moderne mit einem starken Schuss Alteuropa zu sein, die die gesellschaftliche Attraktivität dieser Semantik ausmacht. Man findet in der modernen Gesellschaft weitere Fälle solcher Semantikstrukturen. Man denke nur an die moderne Obsession mit der Zweckrati-
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onalität, an der sich der Neoinstitutionalismus abarbeitet (Tacke 2006: 93ff.). Aber auch der esoterische Gesundheitsdiskurs kombiniert geschickt die Aura des alten Wissens, den holistischen Charme des Teil/Ganzen-Modells mit sehr viel modernem Individualismus. So wie man sich außerhalb der Wissenschaft kaum mit dem Naturmodell aus der Biologie oder der Physik anfreunden kann, so wenig wird die soziologische Kritik am Meritokratiemodell außerhalb der Soziologie Fuß fassen. Neben der Einsicht, dass die funktional differenzierte Gesellschaft keine Leistungsgesellschaft sein wird, werfen die systemtheoretischen Beiträge eine weitere Erkenntnis ab: Obwohl Luhmann nicht von einem nennenswerten Einfluss der Statusgruppen auf den Statuszuweisungsprozess ausgeht, kommt er zum Ergebnis, dass die funktional differenzierte Gesellschaft auch in Zukunft generationenübergreifende Formen sozialer Ungleichheit reproduzieren wird. Luhmann hat überzeugend demonstriert, dass man aus dem Prinzip funktionaler Differenzierung nicht auf perfekt durchlässige Schichtungsstrukturen schließen darf. Luhmann geht davon aus, dass die Reproduktion der sozialen Erblichkeit der Schichtpositionen auf extrem voraussetzungsarmen Bedingungen wie kleinen Unterschieden in den schichtspezifischen Sozialisationsbedingungen beruht, die dann durch ebenso voraussetzungsarme Prozesse der Abweichungsverstärkung vergrößert werden, bis sie sich in statistisch eindeutig festzustellenden Mobilitätsbarrieren niederschlagen. Luhmann hat dafür die gelungene Metapher der Kristallbildung gefunden, nach der die bereits begonnenen Kristallisationsprozesse die Ressourcen absorbieren, die auch anderswo hätten verwendet werden können (Luhmann/Schorr 1988: 239). Kleine Unterschiede im Grad der schulaffinen Sozialisation schlagen sich schnell in der Verteilung von Lob und Tadel durch die Lehrer wieder, die wiederum im Kontext des Mediums der Selektion auf die Zensurenvergabe einwirken. Diese durch die Schulen vergrößerten Startvorteile, können dann direkt bei den Übertrittsempfehlungen an die weiterführenden Schulen wirksam werden, wenn die Lehrer aufgrund dieser Erfahrungen die Chancen der Schüler aus der Arbeiterklasse systematisch unterschätzen, sich am Gymnasium durchsetzen zu können. Die unterschiedlichen Sekundarschulen bilden wiederum sehr heterogene Lernumwelten, die diesen Prozess weiter antreiben. Die Arbeitsorganisationen schließen ihrerseits an die Selektionen des Erziehungssystems an, ohne dass man deshalb von einer Neutralisierung der Schichtherkunft ausgehen darf. Je höher man deshalb in den Hierarchien der Funktionssysteme und der Arbeitsorganisationen aufsteigt, desto deutlicher fällt dieser Prozess aus.
Zusammenfassung und Ausblick
Ich möchte zum Abschluss noch einmal auf die zentrale theoretische Differenz zurückkommen, die die Argumentation in diesem Buch strukturiert hat: die Differenz zwischen Ansätzen, die das Meritokratiemodell eher aus einer differenzierungstheoretischen oder eher aus einer konflikttheoretischen Perspektive kritisieren. Im Rahmen der hier besprochenen Autoren lassen sich dabei mit Randall Collins und Niklas Luhmann zwei Positionen ausmachen, die die beiden Pole auf diesem Kontinuum vertreten. Collins geht davon aus, dass die Statusgruppen den Statuszuweisungsprozess dominieren. Ich hatte seine Position als Primatannahme von Schichtung in Bezug auf den Statuszuweisungsprozess charakterisiert. Auf der anderen Seite des Theorie-Spektrums befindet sich Niklas Luhmann, der sowohl die Abweichungen von einem meritokratischen Statuszuweisungsprozess wie die Reproduktion von Schichtung auf das unkoordinierte Zusammenspiel, der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsysteme zurückführt. Sieht man genauer hin, dann weisen beide Theorietraditionen offene Flanken in ihrer Argumentation auf. Die konflikttheoretische Tradition tendiert dabei zu einer Überschätzung der gesellschaftlich vorfindbaren Verteilungskonflikte. Diese Tendenz scheint aus dem in die Grundbegriffe dieser Theorietradition eingebauten Automatismus zu resultieren, mit dem hier von Verteilungsungleichheiten auf Konfliktmotive geschlossen wird. Die Konflikttheorie benötigt deshalb eine Vielzahl von Hilfskonstruktionen – wie latente und manifeste Konflikte, Ideologien, adaptive Präferenzen oder die Figur des Gegner als Komplizen –, um erklären zu können weshalb letztlich doch „verhältnismäßig“ wenig über Verteilungsungleichheiten gestritten wird. Randall Collins (1975, 1979) selbst übersieht dabei, dass die Arbeitsorganisationen und Funktionssysteme den Manipulationsversuchen der Statusgruppen deutliche Grenzen ziehen. In seinem interaktionssoziologischen Beitrag zur Ungleichheitssoziologie arbeitet er zudem deutlich heraus, dass die moderne Gesellschaft Statuskommunikationen in einem er-
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heblichen Maß entmutigt (Collins 1990). Luhmann wiederum argumentiert viel vorsichtiger als es zunächst den Anschein hat. Das Modell konfligierender Statusgruppen passt ohne Zweifel nicht zu seiner Theorie sozialer Systeme. An den Stellen, an denen sich Luhmann aber mit der konflikttheoretischen Perspektive auseinandersetzt, schließt er diese Position nicht von vornherein aus, sondern verweist auf bestimmte institutionelle Mechanismen, die die Kommunikation von Statusansprüchen entmutigen sollen oder er liefert alternative Erklärungsmodelle. So schließen Luhmann/Schorr nicht aus, dass die schulischen Selektioen auch von schichtspezifischen Vorurteilen auf Seiten der Lehrer beeinflusst werden könnten, sie versuchen lediglich zu zeigen, dass das Erziehungssystem auch dann Schichtung reproduzieren würde, wenn die Neutralisierung dieser Vorurteile im Erziehungssystem vollständig gelingen würde (1988: 238). Die Systemtheorie müsste also zeigen können, dass die Funktionssysteme den direkten Einfluss der Statusgruppen auf den Statuszuweisungsprozess verhindern können. Da die Systemtheorie aber gerade die unzähligen Rationalitiätsdefizite im Statuszuweisungsprozess betont, fehlt der Systemtheorie an dieser Stelle ein Argument um die konflikttheoretische Perspektive ausschließen zu können. Die Systemtheorie kann eben nicht ausschließen, dass beispielsweise partikularistische Gruppen den durch diese Rationalitätsdefizite eröffneten Spielraum nutzen, um eigene Interessen im Statuszuweisungsprozess geltend zu machen. Tatsächlichen wird in den meisten systemtheoretischen Beiträgen zur Ungleichheitssoziologie viel vorsichtiger argumentiert. Einerseits versucht man plausible Erklärungsalternativen zu entwickeln, andererseits weist man daraufhin wie stark die Institutionen der funktional differenzierten Gesellschaft den Solidaritätsgrad und die Konfliktfähigkeit der sozialen Klassen oder verwandter Interessengruppen eingeschränkt hätten. Doch wie könnte eine konflikttheoretische Alternative aussehen, die die Probleme vermeidet, in die sich Randall Collins und Pierre Bourdieu verstrickt haben? Eine interessantes Modell findet sich bei Thomas Schwinn (2007: 52ff.). Schwinn lehnt sowohl die Primatannahme von funktionaler Differenzierung für die Gegenwartsgesellschaft ab, wie er die Primatannahme von Stratifikation für die Vormoderne zurückweist. Die Gegenwart sei durch eine funktional differenzierte Institutionenordnung wie durch eine selbstständige Schichtungsstruktur gekennzeichnet. Schwinn kommt zu einer überraschenden Schlussfolgerung: Luhmann habe einerseits vorschnell die funktionalistische Schichtungstheorie abgelehnt und er habe andererseits die Bedeutung der Konflikttheorie unterschätzt. Schichtung als auch normativ erwartbare Statuskonsistenz resultiere aus den Austauschbeziehungen der differenzierten Lebensordnungen. Die Arbeitsorganisationen benötigten in Schulen erlerntes Wissen und deshalb ließen sich die Bildungszertifikate auf dem Arbeitsmarkt in
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Einkommen konvertieren. Der Erwerb eines Bildungszertifikats lasse sich aber wieder in symbolisches Kapital und politische Deutungsmacht konvertieren (Verbandsmacht). Durch diese Formen der legitimen Ressourcenkonversion entstünden die kongruenten Verteilungen der verschiedenen schichtungsrelevanten Ressourcen, die die Systemtheorie vor so große Rätsel stelle. Schwinn übernimmt dabei eine Unterscheidung von Hans-Joachim Giegel (2004: 106), der zwischen basaler und strategischer Ungleichheit unterscheidet. Die funktionalistische Schichtungstheorie habe nur das Phänomen der basalen Ungleichheiten berücksichtigt. Neben den Lebensordnungen (prozessuale Ungleichheiten) macht Schwinn auch noch die Arbeitsorganisationen für die Reproduktion basaler Ungleichheiten verantwortlich (strukturelle Ungleichheiten). Die funktionalistische Schichtungstheorie habe aber den Integrationsgrad der Leistungsaustauschbeziehungen der Lebensordnungen deutlich überschätzt. Die daraus resultierenden Rationalitätsdefizite eröffnen nach Schwinn partikularistischen Gruppen die Möglichkeit die gesellschaftliche Bedeutung ihrer antrainierten Kompetenzen zu übertreiben oder mit Hilfe ihrer Bildungszertifikate professionelle Schließungsstrategien zu rechtfertigen. Schwinn kann mit einem sehr viel schwächeren Modell der Statusgruppe arbeiten, da diese hier als durch die Lebensordnungen legitimierte Anspruchsteller auftreten können und in der Regel bereits über eigene Interessenorganisationen verfügen, deren Konfliktfähigkeit niemand in Frage stellen wird. Damit liegt ohne Zweifel ein Erklärungsmodell vor, das differenzierungstheoretische und konflikttheoretische Argumente miteinander vereint. In dieses Modell können auch die materiellen Interessen der Akteure als Erklärungsvariable einfließen. Allerdings findet sich auch bei Schwinn eine nicht unproblematische Schwachstelle: Schwinn immunisiert seine Theorie von vornherein gegen empirische Kritik, da er davon ausgeht, dass man empirisch kaum zwischen basaler und strategischer Ungleichheit unterscheiden könne, da die Interessengruppen gerade daran arbeiten würden diese Differenz ständig zu verwischen und da die institutionellen Ordnungen nicht in der Lage seien, belastbare Kriterien für gerechtfertigte Konversionsraten zu generieren. Bleibt es bei diesen Formulierungen, dann wird es eine Geschmacks- und Glaubensfrage bleiben, ob man es mit der radikal differenzierungstheoretischen oder eher mit der konflikttheoretischen Lösung hält1.
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Stinchcome (1963) und Abrahamson (1979) haben allerdings gerade für die Ebene formaler Organisationen empirisch überprüfbare Versionen der funktionalistischen Schichtungstheorie erarbeitet. Vielleicht liesse sich zumindest der Anteil der struktu-
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Damit stellt sich aber die Frage, welche neuen Forschungsfragen der in diesem Buch betriebene Theorievergleich erschließt. Ich sehe hier vor allem zwei Problembereiche, die der Präzisierung und Ausarbeitung zu bedürfen scheinen: Erstens: das Verhältnis der Positionsstrukturen zu den Zuweisungsregeln und den beobachtbaren Mobilitätsströmen. Zweitens: die schärfere Konturierung der Rationalitätsfrage. Der erste Fragenkomplex betrifft das Verhältnis der Positionen zu den Regeln nach denen die Individuen auf diese Positionen verteilt werden und den faktisch beobachtbaren Mobilitätsstrukturen. Der zweite Fragenkomplex resultiert direkt aus der Auseinandersetzung mit dem Meritokratiemodell. Wenn man den konsequenten Bruch mit dem Meritokratiemodell möchte, dann muss sich die Mobilitätsanalyse von der Rationalitätsfrage emanzipieren. Es kann dann nicht mehr darum gehen nach dem neuralgischen Punkt zu fanden, der die Gegenwartgesellschaft an der Realisierung des Meritokratiemodells hindert. Die durch das Meritokratiemodell in Aussicht gestellten Rationalitätserwartungen an den Statuszuweisungsprozess lassen sich nicht realisieren. Nach allem, was man heute über die Mobilitätsstrukturen der modernen Gesellschaft wissen kann, scheint die Realisierung perfekter Chancengleichheit kein realistisches Reformziel zu sein. Das heißt aber nicht, dass mit der Differenzierungsform der Gesellschaft schon festgelegt ist, wie hoch der Grad der Offenheit der Schichtungsstrukturen ausfallen wird, oder das politische Interventionen von vornherein aussichtlos sein müssen. Wenn sich die Mobilitätsanalyse aber von der Rationalitätsfrage im Sinne des Meritokratiemodell löst, dann eröffnen sich auch ganz neue Forschungsperspektiven. Eine davon könnte darin zu finden sein, dass man sich die immer schon implizite mitgemeinte Mehrdimensionalität der Rationalitätsfrage vor Augen führt und sich die daraus ergebenden Konsequenzen klar macht. Ich möchte diese beiden Fragenkomplexe zum Schluss noch etwas differenzierter ausführen.
D AS V ERHÄLTNIS DER P OSITIONSSTRUKTUREN UND DER M OBILITÄTSSTRUKTUREN Auch hier taucht zunächst die Frage nach dem Verhältnis der beiden dominanten Gesellschaftsstrukturen der Gegenwartsgesellschaft auf. Je nachdem wie man diese Frage beantwortet wird man eine andere Positionsstruktur und andere Zu-
rellen Ungleichheit innerhalb der basalen Ungleichheit unanhängig von den Prätentionen der Stelleninhaber dingfest machen.
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weisungsregel identifizieren und die empirisch messbaren Mobilitätsstrukturen anders deuten. Dasselbe gilt für die damit eng verbundene Stellungnahme zur Bedeutung der Konflikttheorie. Jede, der hier besprochenen Theorietraditionen stellt dabei ganz andere Fragen und Forschungsperspektiven in Aussicht. Die Relevanz dieser Frage stellt sich aber auch, wenn man das Verhältnis dieser drei grundlegenden Elemente jeder Mobilitätsanalyse klären möchte. Ich werde dies im Folgenden kurz demonstrieren. Beginnt man mit dem Problem der Identifikation der Positionsstruktur, dann muss zunächst geklärt werden wie man das Verhältnis der Schichtpositionen zu den Ämterstrukturen in den Funktionssystemen und den Stellenordnungen in den Arbeitsorganisationen konzipiert. Randall Collins ist davon ausgegangen, dass weder die Arbeitsorganisationen noch die Funktionssysteme von sich aus festlegen wie deren Positionsordnungen mit Einkommen ausgestattet sein sollten oder über wie viel formale Autorität diese verfügen sollten. Nach Collins können sich die Statusgruppen an dieser Stelle nach Belieben austoben. Theorien, die von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen, identifizieren die Positionen, zwischen denen sich die Individuen bewegen, mit den funktionsspezifischen Leistungsrollen und den Stellenordnungen in den Arbeitsorganisationen. Dass mit der Übernahme dieser Rollen dann auch Schichtpositionen konstituiert werden, wird eingeräumt, aber seit der funktionalistischen Schichtungstheorie (Davis/Moore 1944) kaum noch näher erläutert. Aus dieser Perspektive müsste dann aber auch Goldthorpes Klassentheorie unter den Theorien mit einem Primat funktionaler Differenzierung verortet werden, da die sieben Klassen einerseits aus der Ausstattung mit Eigentum auf dem Markt (Funktionssystem) und andererseits aus der Stellenordnung in den Arbeitsorganisationen abgeleitet werden2. Bourdieu hingegen arbeitet mit der Homologiethese, die davon ausgeht, dass es eine empirisch feststellbare Entsprechung der Feldpositionen und der Positionen im sozialen Raum gibt. Bei Thomas Schwinn verwandeln die Interessengruppen, die an sich nicht hierarchisierbaren Leistungsrollen in den verschiedenen Funktionssystemen in eine von Rangdifferenzen gekennzeichnete Schichtungsordnung (2007: 35). An dieser Stelle müsste empirisch geklärt werden, ob in der modernen Gesellschaft die Schichtpositionen noch eine eindeutige Hierarchie bilden.
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Golthorpe schließt hier eine Lücke, die sich bei den Theorien mit Primat funktionaler Differenzierung findet, indem er zwar die Klassenpositionen aus den Positionsstrukturen des Wirtschaftssystems und der Arbeitsorganisationen ableitet, aber sich selbst nur für die Klassenpositionen interesssiert (Goldthorpe 2000).
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Sowohl Reinhard Kreckel3 wie John Goldthorpe4 stehen dieser These sehr kritisch gegenüber. Festhalten lässt sich: Schon bei der bloßen Identifikation der Positionsstruktur zeigt sich wie groß die Differenzen zwischen den verschiedenen Ansätzen ausfallen. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Analyse der Zuweisungsregeln. Für Randall Collins sind die Individuen in ihren Positionen alle füreinander weitestgehend austauschbar. Da das Erziehungssystem und die Arbeitsorganisationen nur sehr lose gekoppelt sind und sich die meisten in den Positionen benötigten Fähigkeiten und Kenntnisse auch „on-the-job“ erlernen ließen, stellt das Fehlen von Bildungszertifikaten für Collins beispielsweise kein legitimes Ausschlusskriterium dar. Deshalb geht Collins auch hier davon aus, dass die Zuweisungsregeln die Machtverhältnisse der Statusgruppen wiederspiegeln. Bourdieu arbeitet mit einem sehr viel komplexeren Modell, denn nach Bourdieu verfügt jedes Feld über seine eigenen Eintrittsbarrieren und Karrierestrukturen, doch die Selektionskriterien der Felder können nach Bourdieu mit den schichtspezifischen Habitusstrukturen in Resonanz treten und bringen dadurch die Homologie der Feldund Klassenpositionen hervor. Die Theorien, die von einem Primat funktionaler Differenzierung ausgehen, unterscheiden sich vor allem danach, ob sie von einem eher stark oder eher schwach intergrierten Modell funktionaler Differenzierung ausgehen. Die Vertreter des Meritokratiemodells beschreiben den Statuszuweisungsprozess der modernen Gesellschaft als Fall einer lückenlosen Kettenrationalität, bei dem die Selektionen der beteiligten sozialen Systeme reibungslos ineinander greifen. Die Systemtheorie Luhmanns bricht radikal mit dieser Be-
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Reinhard Kreckel geht dabei davon aus, dass es eine eindeutige Prestigeordnung gibt, dass es sich dabei aber um eine ideologisch verkürzte Beschreibung der sehr viel kompexeren Verhältnisse der Schichtungspositionen zueinander handelt, die er mit seinem Zentrum/Peripheriemodell zu erfassen versucht (1997: 94. Dabei neigt Kreckel dazu die Sichtbarkeit von Prestigedifferenzen im Alltag einfach vorrauszusetzen, obwohl sowohl Collins (1990) wie Luhmann (1985) überzeugende Argumente gegen diese These vorgebracht haben.
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Goldthorpe geht neuerdings davon aus, dass es neben der Klassenstruktur auch eine Statusordnung gibt, dass sich aber beide nur teilweise überschneiden. Goldthorpe liegt dabei sehr nahe bei Kieserling (2008: 12), da er die Relevanz der Statusordnung vor allem auf der Ebene der privaten Kontakte sieht. Nach Goldthorpe/Chan (2007) korrelieren die Mobilitätsströme sehr viel stärker mit den Klassenstrukturen als mit den Statusgruppen, was ebenfalls die These einer Privatisierung der Statusdifferenzen nahelegt.
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schreibung und weist die vielen Brüche im Rationalitätskontinuum des Statuszuweisungsprozesses auf, die durch die komplexen System/Umwelt-Verhältnisse der dabei involvierten Sozialsysteme erzeugt werden. Beide Versionen einer Theorie mit Primat funktionaler Differenzierung räumen dabei dem Phänomen sozialer Schichtung keinen direkten Einfluss auf die Zuweisungsregeln ein. Bourdieu wiederum stellt die Reproduktion der Machtstrukturen im sozialen Raum ins Zentrum seiner Analyse. Danach verfügen nur die Felder über einen größeren Freiraum der feldinternen Bestimmung der Karrierestrukturen, die keinen Einfluss auf die Kräfteverhältnisse im sozialen Raum ausüben. Bei der Beschreibung derjenigen Felder, denen Bourdieu eine zentrale Bedeutung bei Reproduktion der Klassenstrukturen einräumt, wie dem Feld der Erziehung oder den Felder der Politik und des Rechts, tendiert Bourdieu deutlich zur Argumentationsfigur der negativen Theodizee, die auf der Inversion des Meritokratiemodells beruht. Thomas Schwinn wiederum kombiniert ein schwach integriertes Modell funktionaler Differenzierung mit einer konflikttheoretischen Schichtungstheorie. Die Zuweisungsregeln erscheinen hier als das Ergebnis einer nur schwer prognostizierbaren Koproduktion der differenzierten Lebensordnungen und der Schichtungsstruktur. Ebenso interessant fallen die Deutungen der empirisch feststellbaren Mobilitätsstrukturen aus. Im Rahmen des Meritokratiemodells wurden die während der letzten hundert Jahre empirisch feststellbaren Zuwächse in den Raten der Aufstiegsmobilität als Beleg für die „increased merit selection“ Hypothese gelesen. Die klassische Mobilitätsanalyse har gezeigt, dass dafür eher eine Änderung der Positionsstruktur als eine Änderung der Zuweisungsregeln verantwortlich zu machen ist (Goldthorpe et al. 1980). Doch auch die klassische Mobilitätsanalyse neigt zu einer stark vereinfachten Deutung der empirischen Daten, indem sie dazu tendiert die relative Offenheit der Schichtungsstrukturen auf die Rationalität der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssysteme zuzurechnen und die relative Geschlossenheit der Schichtungsstrukturen auf die Effekte der Verteilungsungleichheiten oder die Aktivitäten von Interessengruppen zurückzuführen. Luhmann hat hingegen das Argument stark gemacht, dass die Mobilitätsbarrieren ebenfalls das Ergebnis der strukturellen Kopplung der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssysteme seien. Pierre Bourdieu und Thomas Schwinn gehen auch an dieser Stelle von der Koproduktion der Schichtungsstrukturen und der funktional differenzierten Institutionenordnung aus. Je nach den theoretischen Prämissen, auf denen die Untersuchungen beruhen, entwickeln diese auch ein anderes Verständnis des Zusammenhangs dieser drei Elemente. Sowohl Randall Collins wie Thomas Schwinn, die den konflikttheoretischen Aspekt der Mobilitätsprozesse hervorheben, tendieren dazu die Differenz
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von Position und Zuweisungsregel einzuebnen, indem sie den Punkt stark machen, dass die Statusgruppen versuchen ihre Schließungsstrategien im Zugang zu bestimmten Positionen durch eine Manipulation der Kategorisierung der Stelle selbst zu erreichen. Bei Randall Collins betrifft dies nahezu alle Aspekte der Stelle. Schwinn, der sehr viel stärker den Einfluss der differenzierten Lebensordnungen und Arbeitsorganisationen berücksichtigt, formuliert deutlich vorsichtiger. Aber auch er misstraut der Unterscheidung positionaler (ungleiche Positionen) und allokativer Ungleichheit (ungleiche Zugangschancen zu den Positionen) (Schwinn 2007: 90ff.). So verweist er darauf, dass die kategorischen Attribute der typischen Inhaber einer Stelle auf die Wahrnehmung der Stelle abfärbten. Die Stelle der Sekretärin, der Kinderbetreuerin, wird mit Individuen weiblichen Geschlechts assoziiert. Berufe können dabei an Prestige verlieren, wenn sie vermehrt durch gesellschaftlich negativ kategorisierte Individuen ausgeübt werden. Schwinn sieht darin einen weiteren Beleg dafür, dass eine strikte Trennung zwischen basaler und strategischer Ungleichheit nicht möglich sei. Für Bourdieu stellt sich vor allem die Frage: Was passiert, wenn die Änderung der feldspezifischen Positionsstruktur oder der feldspezifischen Zuweisungsregeln die Homologie der Feldpositionen und der Klassenpositionen aus dem Gleichgewicht geraten lassen? Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Feld der Erziehung zu, das gleichzeitig für die Reproduktion der Klassenstruktur und die Erzeugung der Illusion der Chancengleichheit zuständig sein soll. Die mit der Demokratisierung des Erziehungssystems einhergehende Entwertung der Titel habe zur Frustration einer ganzen Generation geführt (1987: 241ff.). Zudem seien solche Situationen immer mit der Gefahr verbunden, dass die Willkürlichkeit der Herrschaftsstrukturen im sozialen Raum sichtbar würde. Die Felder selber litten in solchen Fällen vor allem darunter, dass die neuen Feldteilnehmer nicht habituell auf die Anerkennung der feldspezifischen Verteilungsregeln und Karrierestrukturen eingestellt seien und damit auch das feldspezifische Gleichgewicht der Nachfolgeordnung gefährden (1988: 232ff.). Aus systemtheoretischer Perspektive wiederum würde man eher darauf hinweisen, dass die Entscheidungen über die Schaffung oder Abschaffungen, Vermehrung oder Reduktion funktionssystemspezifischer Positionen häufig entkoppelt sind von den Entscheidungen über die Zuweisungsregeln zu den Positionen. Dann kann man aber nicht mehr davon ausgehen, dass sich die Zuweisungsregeln aus der funktionalen Bedeutung der Position ableiten lassen und dass die Zuweisungsregeln Rekrutierungsrationalität sicherstellen. Eine Erklärung für dieses Phänomen könnte darin liegen, dass diese Entscheidungen oft durch verschiedene Systeme getroffen werden. Der Staat vergrößert beispielsweise die Universitäten und verändert damit das Stellenverhältnis von Mittelbaustellen und
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Professuren, ohne dabei an die Konsequenzen für die Karrierestrukturen der Universitäten zu denken (Bourdieu 1988: 244). Abbot hat denselben Mechanismus für die Psychiatrie aufgezeigt (1990). Oder der Staat drängt aus politischen Gründen auf die Demokratisierung des Erziehungssystems, aber er kann das Wirtschaftssystem nicht zur Schaffung entsprechender Positionen in den Wirtschaftsunternehmen zwingen. Anders als bei Bourdieu, der darin eine unwahrscheinliche Krise der für normal erklärten Reproduktion der Machtstrukturen im sozialen Raum gesehen hat, spricht aus systemtheoretischer Perspektive viel dafür, dass es sich dabei um ein in der modernen Gesellschaft recht häufig anzutreffendes Phänomens handelt. Ich möchte für einen Moment zum Eingangsmotto des Buches zurückkehren. Simmel deutet darin die eigentümlich Ambivalenz des Verhältnisses der Positionsstrukturen zu den Individuen, die diese Positionen temporär ausfüllen, an. Wenn man die Positionsstrukturen den Individuen gegenüberstellt, dann scheint die Positionsstruktur die Trägheit und Konstanz des Sozialen zu verkörpern und die Individuen, die für diese Positionen ausgebildet werden um sie für einen bestimmten Zeitraum einzunehmen bis sie von den nachfolgenden Individuen ersetzt werden, scheinen für das variable Element im Mobilitätsprozess zu stehen. Schon Simmel weist daraufhin, dass es sich bei dieser Beschreibung um eine perspektivische Illusion der Individuen handelt. Die Literatur, die in diesem Buch besprochen wurde, bestätigt in verschiedenen Hinsichten Simmels Überlegung. Dass die Individuen keineswegs unendlich plastisch sind und sich nicht jeder Veränderung der Positionsstruktur anpassen können, hat Bourdieu als Hysteresiseffekt bezeichnet. Die Trägheit des Habitus führt dazu, dass der Aufsteiger sich in seiner neuen Position unangemessen verhält. Bourdieus Analysen über die Arbeitsmärkte in Algerien und die Heiratsmärkte im Bearn zeigen, dass ganze Kohorten gleichzeitig unter demselben Hysteresiseffekt leiden können, wenn sich die historischen Umstände dramatisch ändern. Doch bei Bourdieu bleibt immer noch die Annahme der Konstanz und Indifferenz der Positionsstruktur erhalten. Unter dem Hysteresiseffekt leiden weniger die Institutionen als die Individuen. Die Systemtheorie neigt aber gerade in Bezug auf formale Organisationen zum entgegengesetzten Schluss. Die Organisationen beruhen dabei auf drei grundlegenden Strukturen: ihren Entscheidungsprogrammen, ihren Kommunikationswegen und den Personen. Die Organisation gewinnt ihre Struktur durch Entscheidungen über diese drei Entscheidungsprämissen. Interessanter Weise erweisen sich hier die Personen als der änderungresistenteste Programmbereich. „Diese Zweitrangigkeit von Personalfragen hat zu Illusionen in Bezug auf die Änderbarkeit von Organisationen geführt. Denn Organisationspläne lassen sich leicht, praktisch mit
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einem Federstrich ändern. Dagegen ist das Agglomerat von individuellen Selbsterwartungen und Fremderwartungen, das als ‚Person‘ identifiziert wird, schwer, wenn überhaupt umzustellen.“ (Luhmann 2000: 280)
Einerseits gelingt es den Arbeitsorganisationen sich zu reproduzieren, obwohl sie ständig ihre Mitglieder austauschen, andererseits scheinen sie es leichter zu finden ihre Kontaktstrukturen und ihre Entscheidungsprogramme zu ändern als ihre Mitglieder. Andrew Abbot kommt wiederum zu einer ganz ähnlichen Schlussfolgerung in Bezug auf das Verhältnis der Arbeitsorganisationen zur Erwerbsbevölkerung. Das normale Arbeitsleben dauere ungefähr vierzig bis fünfzig Jahre. Zwar ändere sich die Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung durch die Inklusion neuer Gruppen, Migration und die Ausweitung der erwerbstätigen Bevölkerung, dennoch könne man davon ausgehen, dass pro Jahr lediglich 2,5% neue Erwerbstätige dazukämen. „Thus, the labour force is in many ways a huge, unchanging flywheel; its mix of skills, educational credentials and occupational experience changes much more slowly than we imagine. In the 1960s when Daniel Bell (1973) was acclaiming the postindustrial society the generation just retiring had a median education of about eight years. Not until 1970 did the total population over age 25 have a median education over twelve years. Because of this demographic inertia, technology and other forces normally thought to determine the actual division of labour are not free to do so just as they please. They must create a labour force out of the labour offer which has itself resulted from past policies, past divisons of labour and past choices of workers and their children.“ (Abbott 2006: 155)
Zwar überdauern die Arbeitsorganisationen die Berufskarrieren vieler ihrer Mitglieder, aber die kohortenspezifischen Einflüsse auf die Erwerbsbevölkerung potenzieren die Trägheit, die schon in die konstanten Persönlichkeitsstrukturen der Individuen eingebaut sind. Und plötzlich kehrt sich das Bild um und die Individuen werden einzeln und noch viel mehr als Population zum trägen Strom, dem sich die Arbeitsorganisationen flexibel anpassen müssen.
D IE M EHRDIMENSIONALITÄT
DER
R ATIONALITÄTSFRAGE
Bei der Analyse des Meritokratiemodells hat sich bereits gezeigt, dass die Frage nach dem Rationalitätsgrad des Statuszuweisungsprozesses in der modernen Gesellschaft immer schon im Hinblick auf mindestens vier verschiedene Bezugsprobleme gestellt wurde. Die am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsys-
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teme beobachten die Individuen sowohl im Hinblick auf ihre konstanten wie auf ihre variablen Eigenschaften. Die in diesen Systemen getroffenen Entscheidungen über die Fremdselektion der Individuen, werden im System selbst aber auch durch andere Systeme in der Umwelt des Systems beobachtet und diese Beobachtungen kondensieren Konsistenzerwartungen, die die Systeme immer mitberücksichtigen müssen. Abweichungen von den für legitim gehaltenen Selektionspraktiken lösen dann schnell Legitimationsdiskurse aus, die den Statuszuweisungsprozess mit ganz neuen Anforderungen konfrontieren. Da der Statuszuweisungsprozess in der modernen Gesellschaft aber aus der Relationierung der Fremdrekrutierung durch die sozialen Systeme mit der Selbstrekrutierung durch die Individuen zustande kommt, wird man den Rationalitätsgrad des Prozesses auch davon abhängig machen, ob die Individuen beispielsweise in der Lage sind auf der Grundlage ihrer bisherigen Karriere realistische Ambitionen zu entwickeln. Ich hatte diese vier Bezugsprobleme mit der Terminologie Rekrutierungsrationalität, Leistungsmotivation, Selektionslegitimation und Sozialintegration zu erfassen versucht. Die Mehrdimensionalität der Rationalitätsfrage spielt im Meritokratiemodell eine eher geringe Rolle, da das Modell von einer reibungslosen Optimierung aller vier Probleme ausgeht. Dieselbe Position wird wahrscheinlich auch von vielen Vertretern der klassischen Mobilitätsanalyse eingenommen, da hier meist nur die Legitimationsprobleme betont werden, die aus der Abweichung vom Meritokratiemodell resultieren. Es wäre sonst auch wenig nachvollziehbar, dass hier das Meritokratiemodell auch als normativer Maßstab verwendet wird. Michael Young (1961) hingegen hat in seiner Satire „Es leben die Ungleichheit“ gezeigt, dass gerade die perfekte Realisierung des Meritokratiemodells zu erheblichen Widersprüchen zwischen diesen vier Bezugsproblemen führen würde. Wenn man davon ausgeht, dass die Individuen in einer meritokratischen Gesellschaft nur sich selbst für ihr Versagen verantwortlich machen können, dann mag man das für eine Lösung des Legitimationsproblems halten – auch wenn Sozialphilosophen wie John Rawls das mit guten Gründen ablehnen – , man wird aber wie Young gezeigt hat, auch mit der vollkommenen Demoralisierung der Unterschicht rechnen müssen. Denn der Mensch zieht es vor, Niederlagen extern zuzurechnen. Weiter mag die Normalisierung von Long-Distance-Mobilität motivierend wirken und die Ausschöpfung aller Begabungsreserven ermöglichen, doch wiederum zeigt Michael Young erhebliche Probleme auf der Ebene des Problems der Sozialintegration auf. Dramatische Aufstiege lösen schnell Anomie aus und dramatische Abstiege führen zu einem scharfen Auseinanderklappen der Versorgungslage und der Anspruchsniveaus. Das Meritokratiemodell übersieht,
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dass der Statuszuweisungsprozess nie alle vier Probleme gleichzeitig optimieren kann. An den Stellen, in denen Bourdieu mit dem Modell der negativen Theodizee arbeitet, verfällt er aber in dasselbe Muster. Bei Bourdieu scheint es dann die Immobilität der Individuen zu sein, die zur Optimierung aller vier Probleme führt. Die Individuen, die aus der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse stammen sind in gewisser Hinsicht besser für die Positionen auf den Feldern des Rechts oder der Politik geeignet, da sie von Haus aus wenig dazu neigen den Status Quo in Frage zu stellen und sich damit auch besser mit den in diesen Feldern sehr dominanten Orthodoxien arrangieren können. Da die Individuen im Laufe der Sozialisation nach Bourdieu das zu lieben lernen, zudem sie sozialstrukturell verdammt sind, müssten nach Bourdieu die immobilen Individuen einen höheren Grad der Sozialintegration aufweisen als die mobilen, die unter dem Hysteresiseffekt leiden. Die Homologieannahme zwischen den Feldern und dem sozialen Raum findet sich auch in Bourdieus These wieder, dass die Individuen, die homologe Positionen in beiden Ordnungen einnehmen in ihren Bedürfnissen auch besser auf die Belohnungsstrukturen der Felder eingestellt sind. Die Systemtheorie hingegen fördert eine ganze Reihe von Widersprüchen zwischen den vier Bezugsproblemen zu Tage. So verwenden die Arbeitsorganisationen Beförderungen, um ihre Mitglieder dazu zu motivieren mehr zu leisten als formal gefordert werden dürfte, und riskieren so Individuen auf Stellen zu befördern, für die sie wenig geeignet sind. Luhman/Schorr haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Perfektionierung schulischer Leistungstests zwar die Rekrutierungsrationalität bei Übertrittsentscheidungen optimieren könnte, aber dass damit auch die Gefahr sehr groß wird, dass die Schüler, bei denen ein geringer Grad schulischer Leistungsfähigkeit diagnostiziert wird, ihre Bemühungen im Unterricht komplett einstellen werden. Der eigentliche Beitrag der Systemtheorie scheint aber darin zu bestehen, darauf aufmerksam gemacht zu haben machen, dass die verschiedenen am Statuszuweisungsprozess beteiligten Funktionssysteme ihre Personalselektion immer auch noch mit anderen Bezugsproblemen abstimmen als den vier oben genannten. So hat das Wissenschaftssystem den Reputationsmechanismus entwickelt, der eine zentrale Rolle in den Karrieren in der Wissenschaft spielt. Der Reputationsmechanismus in der Wissenschaft dient aber immer auch der Vorsortierung und Steuerung des Informationsflusses und der Motivation der Wissenschaftler (Luhmann 1970: 236). Aus systemtheoretischer Sicht scheint es plausibel zu sein, dass jedes der am Statuszuweisungsprozess beteiligten Sozialsysteme seine eigene Kombination aus Bezugsproblemen ins Spiel bringt, an denen es seine Personalentscheidungen ausrichtet. Es scheint
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dann fast ausgeschlossen zu sein, dass sich diese so unterschiedlichen Anforderungen an den Statuszuweisungsprozess unter einen Hut bekommen lassen.
Literatur
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