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German Pages 205 Year 2002
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung
Band 82
Soziale Ungleichheit in der DDR Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur
Herausgegeben von
Lothar Mertens
Duncker & Humblot · Berlin
Soziale Ungleichheit in der DDR
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 82
Soziale Ungleichheit in der DDR Zu einem tabuisierten Struktunnerkmal der SED-Diktatur
Herausgegeben von
Lothar Mertens
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Soziale Ungleichheit in der DDR: zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur I Hrsg.: Lothar Mertens. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 82) ISBN 3-428-10523-0
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-10523-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Vorwort Der vorliegende Sammelband enthält die Referate einer weiteren Kooperationstagung der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V. mit der Akademie für politische Bildung, Tutzing, zum Thema "Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur", die vom 17. - 20. April 2000 in der Akademie für politische Bildung in Tutzing stattfand. Die hier publizierten Beiträge beleuchten mit der gebotenen wissenschaftlichen Distanz an ausgewählten Beispielen aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen exemplarisch die Ungleichheit in der DDR, welche in der kommunistischen Diktatur weitgehend tabuisiert wurde und die heute, zwölf Jahre nach der deutschen Vereinigung, immer mehr in Vergessenheit gerät. Bochum, im Frühjahr 2002
Lothar Mertens
Inhalt Lothar Mertens Ungelöstes gesellschaftliches Problem: Ehescheidungen in der DDR............... 9 Annette Kaminsky Ungleichheit in der SBZIDDR am Beispiel des Konsums: Versandhandel, Intershop und Delikat ............................................................. 57 Ilse Nagelschrnidt Frauenliteratur der DDR im Spannungsfeld zwischen Aufbegehren und Ausbruch: Zwischen Identitätsverlust und Identitätsgewinn .................... 81 Peter Maser Benachteiligung durch Religiosität: Ungleichbehandlung von Gläubigen ................................................................................................ 103 Lothar Mertens "Was die Partei wusste, aber nicht sagte ... ". Empirische Befunde sozialer Ungleichheit in der DDR-Gesellschaft ............................................. 119 Siegfried Grundmann Räumliche Disparitäten in der DDR .............................................................. 159 Verfasserinnen und Verfasser ........................................................................ 203
Ungelöstes gesellschaftliches Problem Ehescheidungen in der DDR Von Lothar Mertens I. Die sozialistische Sicht der Ehe Die Eheauflösung konnte in der DDR nur dann erfolgen, wenn "die Ehe ihren Sinn für die Ehegatten, die Kinder und damit auch für die Gesellschaft verloren hat ".1 Die Einbeziehung der Kinder war dadurch zu erklären, dass diese nach staatlicher Auffassung nicht mehr das zufällige Produkt einer Liebesbeziehung oder Eheschließung waren. Vielmehr wurden durch spezifische sozialpolitische Anreizsysteme 2 die Geburtenzahl stimuliert. Daher hieß es in offiziellen Verlautbarungen: "Alle Kinder können als Wunschkinder geboren werden. Dies dient auch der allseitigen Persönlichkeitsentwicklung der Eltern sowie ihrer Kinder und ist ein Ausdruck sozialistischer Lebensweise. "3 Die Chance zur allseitigen Persönlichkeitsentwicklung war allerdings eine ideologische Fiktion, wie nicht nur die psychologischen und soziologischen Erklärungsansätze über das Scheitern von Ehen in der DDR immer wieder neu belegten, sondern auch die Untersuchungen über die individuellen Freiheiten und Möglichkeiten der DDR-Bürger. Das sozialistische Familienverständnis war überdies von Zielvorstellungen geprägt, die sich als idealtypisches Konzept in der Realität nur schrittweise und allenfalls partiell verwirklichen ließen, wie es nach der Wende auch ehedem parteitreue DDR-Wissenschaftlerinnen konzedierten. 4 Nach der Präambel des ,,Familiengesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik" war die intakte Familie in der DDR eine völlig neue, niemals zuvor da gewesene Art von Familie - gewissermaßen ein Hort der Harmonie. Spannungen und Konflikte innerhalb der Familie wurden als dem Sozialismus wesensfremde Elemente dargestellt und blieben offiziell unerwähnt. Da die
1
Familienrecht der DDR, S. 120.
2
Ausführlich dazu He1wig, Familie, S. 67 u. S. 77; Hille, S. 62 ff.
3
Grandke, Familienförderung, S. 47.
• Siehe dazu Helwig, Rechte, S. 201.
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Lothar Mertens
hohen und weiter steigenden Scheidungsraten, ungeachtet der Scheidungsfeindlichkeit in der DDR-Rechtsprechung der fünfziger Jahre, das staatlich propagierte Familienbild als illusionären sozialistischen Wunschtraum entlarvten, musste das abweichende Verhalten dennoch begründet werden. 5 Da nach parteiideologischer Sicht das entwickelte sozialistische Gesellschaftssystem der DDR keinerlei Mitschuld an den Ehescheidungsziffern trug bzw. tragen durfte, wurde das Versagen lediglich auf das Individuum projeziert und dessen (noch) fehlende bzw. unterentwickelte sozialistische Prägung. Offensichtliche Fehlentwicklungen staatlicher Gesellschafts- oder Sozialpolitik wie etwa der Wohnungsmangel, gravierende Ausstattungsmängel der Wohnungen 6 oder die vollkommen unzureichenden Dienstleistungseinrichtungen, 7 blieben bei der Analyse der Scheidungsursachen aus politischen Gründen ausgespart, obgleich sie nahe liegende Erklärungsmuster waren. Daher wurde es Anfang der sechziger Jahre als der" offensichtlichste Widerspruch" in der DDR-Familienentwicklung . (fehl-)interpretiert, "daß die Ehescheidungen in einer Zeit zunehmen, da die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR sich gefestigt und stürmisch entwickelt haben und die sozialistischen Moralanschauungen sich immer stärker durchsetzen. ,,8 Sogar die berüchtigte langjährige DDR-Justizministerin Hilde Benjamin hatte bereits im Jahre 1965 konzediert, "jede Scheidung einer Ehe [ist] ein Signal dafür ... , daß in unserer Gesellschaft etwas nicht in Ordnung ist, daß Menschen unüberlegt, unvorbereitet, leichtfertig eine Ehe geschlossen haben, ... daß möglicherweise auch in unserer Entwicklung Konflikte entstehen, die sich auf die Ehe auswirken und von den Partnern nicht gelöst werden können. "9 Und in der DDR-Gesellschaft war vieles nicht in Ordnung gewesen. Die zahlreichen juristischen Zeitschriftenartikel zur Ehescheidung zeigen, dass bis zum Ende der sechziger Jahre in den Berichten und Analysen eher ein Lamentieren über den ZerfÜttungsprozess in den Ehen und die subjektive Fehlbarkeit des Individuums in der doch scheinbar so perfekt funktionierenden sozialistischen Gesellschaft vorherrschte. Seit den siebziger Jahren kam es dann verstärkt zu einer realitätsnäheren Sichtweise, die in den achtziger Jahren beim Anerkennen der gesellschaftlichen Realität des massenhaften Phänomens schon
S
Helwig, Rechte, S. 200 f.; Obertreis, S. 131 f.
Der Ausstattungsgrad der Wohnungen im Jahre 1961 mit Zentralheizung betrug 1,5 % (1971: 10,6 %), mit Bad oder Dusche 22,3 % (1971: 38,9 %), und über eine Innentoilette verfUgten 33,0 % (1971: 41,7 %). Außerdem wiesen 80 % aller Wohnungen Schäden auf, von denen 20 % .. schwerwiegender Art" waren; BecherlLünser, S. 489. 6
7 BrandtIWülfing, S. 1619 f.; Hörder/Schampe/Scherzer, S. 562 f. Vgl. Kayser/Zobel/Metzner, S. 311 ff., die das Problem schönredeten, obgleich ihre Zahlenbeispiele dies konterkarierten.
8
HarrlandIHiller, S. 622.
9
Benjamin, Grundlagen, S. 230.
Ehescheidungen in der DDR
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fast fatalistische Züge trug. Symptomatisch und in gewisser Weise auch programmatisch fiir diese sich wandelnde Betrachtungsweise ist, dass statt ideologischer Theoreme über den sozialistischen Menschen nun auch verstärkt praktische Alltagsfragen, wie etwa die Mitnutzung der gemeinsamen Wohnung durch geschiedene Partner, behandelt wurden. Noch zu Beginn der sechziger Jahre wurde die Scheidungshäufigkeit mit einem ausschließlichen Hinweis auf die kapitalistische Dekadenz erklärt, die durch die anstehenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse im Sozialismus überwunden werden sollte, da "beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in der DDR der Zerfallsprozeß der bürgerlichen Familie beschleunigt wird, weiter darin, daß das bürgerliche Erbe in der Einstellung zur Frau und zum anderen Menschen überhaupt, sowie zur Ehe und zur Familie nicht sofort überwunden wird und die Ehen, die in der Nachkriegszeit geschlossen wurden, noch längst nicht alle sozialistische Ehen sind "10 Gemäß dieser optimistischen Einschätzung hätte es unter den jungen Menschen, die unter den sozialistischen Bedingungen der sechziger Jahre sozialisiert und determiniert wurden und in den achtziger Jahren ihre Erstheirat vornahmen, keinerlei Notwendigkeit zur Scheidung mehr geben können.
11. Entwicklung der Ehescheidungen
In der DDR hatten nur zwei Bereiche das von der Sozialistischen Einheitspartei (SED) so umfassend angestrebte" Weltniveau ": der Spitzensport und die Ehescheidungen. Während im Hochleistungssport dieses Ziel u.a. mit gezieltem Doping erreicht wurde, schaffte es die staatliche Sozialpolitik bei den Ehescheidungen, dieses Niveau ohne verbotene Ingredienzien zu erreichen, da die verfehlte Wohnungspolitik als ein Additiv wirkte, da sie aufgrund des Zwangs zur formellen Heirat, um eine Wohnung zu erhalten, sowohl eine institutionelle Entkoppelung von Ehe und Familiengründung bedingte als auch eine instrumentelle Einstellung zu Ehe und Familie. I I Die fatale staatliche Wohnungsbaupolitik erwies sich überdies als Katalysator fiir weitere gesellschaftlich unerwünschte Erscheinungen wie die steigende Kriminalität. 12 Die Wohnungs frage sollte zwar gemäß SED-Parteitagsvorgabe bis zum Jahre 1990 politisch gelöst werden. Doch geschah dies dann anders, als es die DDR-Machthaber erwartet hatten. Nicht die Errichtung von immer neuen Plattenbau-Ghettos in den ost-
10
Ansorg, Rolle, S. 21.
11
Huinink, S. 39 f.; Nauck, Differenzierung, S. 168.
12
Siehe ausfilhrlich die Untersuchungen von Bohndorf sowie von Klimesch.
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Lothar Mertens
deutschen Städten,13 sondern die Flucht hunderttausender DDR-Bürger gen Westen in der Wendezeit 1989/90 14 lösten diese soziale Frage, als sich nun, in Umkehrung des Brecht-Ausspruchs aus dem Jahre 1953,15 die DDR-Bürger eine neue Regierung suchten. In der DDR wurden im Zeitraum von 1950 bis 1989 insgesamt l.455.135 Ehen geschieden. Neben den direkt involvierten Erwachsenen waren zehntausende von Kindern von der Eheauflösung ihrer Eltern betroffen. Das heißt, insgesamt war von den grundlegenden Veränderungen in ihren familiären Lebensverhältnissen jährlich fast ein Prozent der DDR-Bevölkerung betroffen. Kamen zu Beginn der sechziger Jahre auf 100 neue Eheschließungen lediglich 14 Eheauflösungen, so waren es im Jahre 1989 bereits 38 Scheidungen. Während die Gesamtzahl der Eheauflösungen und die Relation der Scheidungsziffer zur Gesamtbevölkerung Ge 10.000 der Bevölkerung) zwischen 1959 und 1974 "nur" um zwei Drittel anstieg, verdoppelte sie sich jedoch gemessen an der Zahl der Heiraten Ge 100 Eheschliessungen) in dieser Phase. Zwischen 1965 und 1986 hingegen kam es sowohl zu einer Verdoppelung der absoluten Scheidungsziffern als auch des Anteils je 10.000 der Bevölkerung, während, aufgrund des bereits bestehenden hohen Niveaus, die Zahl der Eheauflösungen je 100 Eheschließungen lediglich um 90 % anstieg. Insgesamt gesehen, kamen Ende der achtziger Jahre auf zehn neue Eheschließungen (einschließlich der Zweit- und Drittehen) bereits vier Ehescheidungen. 16 Interessant ist die unterschiedliche Entwicklung von Eheschließungen und Ehescheidungen im zeitlichen Verlauf der vergangenen 40 Jahre DDR. Bei den Eheschließungen kam es, nach dem absoluten Höchststand im Jahre 1961, zu einem stetigen Rückgang der Heiratswilligen - mit einem Tiefststand im Jahre 1967. Anschließend kehrte sich die Entwicklung erneut um und erreichte im Jahre 1977 einen neuen Gipfelpunkt. Bei den Eheauflösungen durch gerichtliches Urteil (nicht durch Tod eines Ehepartners) war hingegen im wesentlichen ein kontinuierliches Ansteigen der Scheidungsziffern konstatierbar.
13
Sahner, Stlldte, S. 325 f.
14
VoigtJBelitz-DemirizlMeck, S. 732 ff.
IS Brecht, S. 1009 f. hatte nach dem Volksaufstand vom 17. Juni im Gedicht "Die Lösung" geschrieben: die SED-FOhrung meine, " daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch doppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volkaufund Wählte ein anderes. " 16
Siehe Grutza, S. 27 ff. zur Persönlichkeitsentwicklung mehrfach geschiedener Ehegatten.
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Ehescheidungen in der DDR
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