Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016): Redaktion: Häberlein, Mark 9783515115193

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German Pages 225 [230] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
EDITORIAL
ABHANDLUNGEN
Städtische Gemeinschaft und adlige Herrschaft in der mittelalterlichen Urbanisierung ausgewählter Regionen Zentraleuropas
Die Bamberger Stadtrechnungen im 15. und 16. Jahrhundert
Tod, Krankheit und Beerdigung in Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649)
Böhmen in Bamberg: Migration und Integration vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert
Von Itzig Jacob zu Izaak Flatau
REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN
1. Epochenübergreifend
Flüsse in Norddeutschland
Groß im Kleinen –Klein im Großen
Geschichte des BergischenLandes.
Leipzigs Bedeutung für die Geschichte Sachsens
800 Jahre St. Georg in Leipzig
Dresdner Bibliothekarinnenund Bibliothekare
Domänengüter im Fürstenstaat
Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung imländlichen Westfalen (1750–1874)
2. Mittelalter
Gelebte Normenim urbanen Raum?
Der preußische Getreidehandel im 15. Jahrhundert
Schuldenwirtschaft
Das Rechnungs- und Kopialbuch der Kirche St. Jacobi inGöttingen 1416–1603
Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichenReich
Das Franziskanerkloster in Stadthagen
3. Frühe Neuzeit
Söldnerlandschaften
Familie, Stand und Vaterland
Anna von Lodron
1514. Macht – Gewalt – Freiheit
Die Folgen des deutschen Bauernkriegs im Hochstift Bamberg
Dokumente zu den politischen Beziehungen Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg, 1528–1541
Agent und Ambassador
Katholiken, Lutheraner und Reformierte in Aachen 1555–1618
Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert
Der Gelehrte im Haus
Lehrer an westfälischen Gymnasien in der frühen Neuzeit
Pferde und Fürsten
Fürstäbtissinnen
Wirtschaftlicher Erfolg in Zeiten des politischen Niedergangs
Besitzwechsel und sozialer Wandel
Kleinstadtgesellschaft(en)
Der Hof in der Messestadt
London und das Hallesche Waisenhaus
Spitzbuben und Erzbösewichter
4. 19. und 20. Jahrhundert
1810 – Die vergessene Zäsur
Die Brüder Grimm in Marburg
Carl Mayer (1819–1889) – ein württembergischer Gegner Bismarcks
Geldlose Zeiten und überfüllte Kassen
Die städtische Sparkasse Amberg im 19. Jahrhundert
Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland/Moselle 1900–1952
Das proletarische Milieu in Röthenbach an der Pegnitz von 1928 bis 1933
Karriere im Stillstand?
Autorenverzeichnis
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016): Redaktion: Häberlein, Mark
 9783515115193

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JbRG Band 34

Jahrbuch für Regional­ geschichte Geschichte

Franz Steiner Verlag

Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 34

JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE

Franz Steiner Verlag

jahrbuch für regionalgeschichte Begründet von Karl Czok Herausgegeben von Mark Häberlein, Bamberg (verantwortlich) / Helmut Bräuer, Leipzig / Josef Ehmer, Wien / Rainer S. Elkar, Siegen / Gerhard Fouquet, Kiel / Franklin Kopitzsch, Hamburg / Reinhold Reith, Salzburg / Martin Rheinheimer, Esbjerg / Dorothee Rippmann, Zürich / Susanne Schötz, Dresden / Sabine Ullmann, Eichstätt Redaktion: Dr. Andreas Flurschütz da Cruz / Sandra Schardt (Bamberg) www.steiner-verlag.de/jrg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Satz: Matthias Steinbrink ( -Satzsystem), Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1860-8248 ISBN 978-3-515-11513-1 (Print) ISBN 978-3-515-11519-3 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I Abhandlungen Oliver Auge, Gerhard Fouquet, Christian Hagen, Nina Kühnle, Sven Rabeler und Gabriel Zeilinger: Städtische Gemeinschaft und adlige Herrschaft in der mittelalterlichen Urbanisierung ausgewählter Regionen Zentraleuropas. Ein Kieler Forschungsbericht. . . . . . . . . . 15 Christian Chandon: Die Bamberger Stadtrechnungen im 15. und 16. Jahrhundert. Aspekte ihrer Genese und ihre Bedeutung für die Stadt- und Regionalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Jan Kilián: Tod, Krankheit und Beerdigung in Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649). . . . . . . 71 Mark Häberlein und Lina Hörl: Böhmen in Bamberg: Migration und Integration vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Cornelia Aust: Von Itzig Jacob zu Izaak Flatau. Transregionaler Handel im preußisch-polnischen Teilungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

II Rezensionen und Annotationen 1. Epochenübergreifend Norbert Fischer, Ortwin Pelc (Hg.): Flüsse in Norddeutschland Besprochen von Oliver Auge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Peter Fassl, Wilhelm Liebhart, Wolfgang Wüst (Hg.): Groß im Kleinen – Klein im Großen Besprochen von Helmut Flachenecker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

6

Inhalt

Stefan Gorißen, Horst Sassin, Kurt Wesoly (Hg.): Geschichte des Bergischen Landes Besprochen von Hiram Kümper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Detlef Döring (Hg.): Leipzigs Bedeutung für die Geschichte Sachsens Besprochen von Helmut Bräuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Rolf Haupt, Karsten Güldner, Wolfgang Hartig (Hg.): 800 Jahre St. Georg in Leipzig Besprochen von Helmut Bräuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Martina Schattkowsky, Konstantin Hermann, Roman Rabe (Hg.): Dresdner Bibliothekarinnen und Bibliothekare Besprochen von Helmut Bräuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Jochen Ebert: Domänengüter im Fürstenstaat Besprochen von Regina Dauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Christine Fertig: Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874) Besprochen von Wilfried Reininghaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

2. Mittelalter Hanno Brand, Sven Rabeler, Harm von Seggern (Hg.): Gelebte Normen im urbanen Raum? Besprochen von Oliver Auge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Christina Link: Der preußische Getreidehandel im 15. Jahrhundert Besprochen von Carsten Jahnke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Gabriela Signori: Schuldenwirtschaft Besprochen von Tanja Skambraks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Inhalt

7

Josef Dolle (Bearb.): Das Rechnungs- und Kopialbuch der Kirche St. Jacobi in Göttingen 1416–1603 Besprochen von Gudrun Gleba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Benjamin Müsegades: Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich Besprochen von Manuel Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Udo Jobst: Das Franziskanerkloster in Stadthagen Besprochen von Katja Hillebrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

3. Frühe Neuzeit Philippe Rogger, Benjamin Hitz (Hg.): Söldnerlandschaften Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Silvio Jacobs: Familie, Stand und Vaterland Besprochen von Frank Göse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Reinhard Baumann: Anna von Lodron Besprochen von Katrin Keller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Götz Adriani, Andreas Schmauder (Hg.): 1514. Macht – Gewalt – Freiheit Besprochen von Mark Häberlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Johannes Hasselbeck: Die Folgen des deutschen Bauernkriegs im Hochstift Bamberg Besprochen von Sabine Ullmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Jan Martin Lies (Hg.): Dokumente zu den politischen Beziehungen Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg, 1528–1541 Besprochen von Gabriele Haug-Moritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

8

Inhalt

Mark Häberlein, Magdalena Bayreuther: Agent und Ambassador Besprochen von Friedrich Edelmayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Thomas Kirchner: Katholiken, Lutheraner und Reformierte in Aachen 1555–1618 Besprochen von Ralf-Peter Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Ulrich Pfister: Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert Besprochen von Mark Häberlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Elizabeth Harding: Der Gelehrte im Haus Besprochen von Jürgen Schlumbohm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Hans-Ulrich Musolff, Stephanie Hellekamps (Hg.): Lehrer an westfälischen Gymnasien in der frühen Neuzeit Besprochen von Jens Nagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Magdalena Bayreuther: Pferde und Fürsten Besprochen von Andres Furger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Teresa Schröder-Stapper: Fürstäbtissinnen Besprochen von Oliver Auge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Gerhard Seibold: Wirtschaftlicher Erfolg in Zeiten des politischen Niedergangs Besprochen von Margrit Schulte Beerbühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Hermann Zeitlhofer: Besitzwechsel und sozialer Wandel Besprochen von Jan Kilián. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Michaela Schmölz-Häberlein: Kleinstadtgesellschaft(en) Besprochen von Julia A. Schmidt-Funke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Inhalt

9

Katharina Hofmann-Polster: Der Hof in der Messestadt Besprochen von Magdalena Bayreuther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Holger Zaunstöck, Andreas Gestrich, Thomas Müller-Bahlke (Hg.): London und das Hallesche Waisenhaus Besprochen von Markus Berger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Christina Gerstenmayer: Spitzbuben und Erzbösewichter Besprochen von Silja Foshag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

4. 19. und 20. Jahrhundert Stefan Feucht (Hg.): 1810 – Die vergessene Zäsur Besprochen von Dietmar Schiersner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Andreas Hedwig (Hg.): Die Brüder Grimm in Marburg Besprochen von Jessica Dümler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Hans Peter Müller: Carl Mayer (1819–1889) – ein württembergischer Gegner Bismarcks Besprochen von Torsten Riotte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Johannes Bracht: Geldlose Zeiten und überfüllte Kassen Besprochen von Gabriele B. Clemens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Anna Schiener: Die städtische Sparkasse Amberg im 19. Jahrhundert Besprochen von Margarete Wagner-Braun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Bernd Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland/Moselle 1900–1952 Besprochen von Markwart Herzog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Inhalt

Julia Oberst: Das proletarische Milieu in Röthenbach an der Pegnitz von 1928 bis 1933 Besprochen von Werner K. Blessing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Petra Scheidt: Karriere im Stillstand? Besprochen von Helena Tóth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

EDITORIAL Die Bandbreite der Aufsätze im vorliegenden Jahrbuch erstreckt sich von der mittelalterlichen Urbanisierung bis zu jüdischen Unternehmern im deutsch-polnischen Grenzraum um 1800. Eine Kieler Forschergruppe um Oliver Auge und Gerhard Fouquet präsentiert zunächst zentrale Ergebnisse eines DFG-Projekts, welches das spannungsreiche Verhältnis von Herrschaft und Gemeinde im Territorium der Welfen, in Württemberg, Tirol und dem Oberelsass vergleichend in den Blick nahm. Christian Chandon stellt anschließend Quellenwert und Auswertungsmöglichkeiten seriell überlieferter städtischer Rechnungen am Beispiel der Bamberger Stadtwochenstubenrechnungen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts vor. Jan Kilián untersucht ein von ihm ediertes Selbstzeugnis aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, das Gedenkbuch des Graupener Gerbers Michel Stüeler, im Hinblick auf dessen Aussagen zum Themenkomplex Krankheit, Tod und Begräbnis. Die substantielle Migration von Böhmen nach Bamberg im langen 18. Jahrhundert zeichnen Mark Häberlein und Lina Hörl sowohl quantitativ als auch durch die exemplarische Untersuchung von Einzelschicksalen nach. Cornelia Aust schließlich verdeutlicht am Beispiel von Itzig Jacob alias Izaak Flatau die Chancen und Risiken, mit denen jüdische Kaufleute und Bankiers in der Zeit der polnischen Teilungen konfrontiert waren; der Karriereweg dieses Unternehmers von Flatow nach Warschau steht zudem im Gegensatz zum geläufigen Narrativ der Wanderung deutsch-polnischer Juden von Osten nach Westen. Der Rezensionsteil demonstriert einmal mehr die thematische und methodische Vielfalt aktueller regionalhistorischer Forschungen.

Bamberg, im Mai 2016

Mark Häberlein

ABHANDLUNGEN

Städtische Gemeinschaft und adlige Herrschaft in der mittelalterlichen Urbanisierung ausgewählter Regionen Zentraleuropas Ein Kieler Forschungsprojekt1 von Oliver Auge, Gerhard Fouquet, Christian Hagen, Nina Kühnle, Sven Rabeler und Gabriel Zeilinger Die Urbanisierung war der Umbruch, der das Mittelalter als tiefe Zäsur in ein Zuvor und ein Danach schied. Verändert wurden durch die Verstädterung die natürlichen wie kulturellen Grundbedingungen ganzer Regionen. Die Radikalität des Wandels vermochten viele vor allem gelehrt-klerikale Zeitgenossen nur in apokalyptischen Vorstellungen zu beschreiben, in Bildern von menschlichem Sittenverfall und höllischen Abgründen. Noch Richard Devizes beschimpfte die 1191 von Johann ohne Land legitimierte Londoner Eidgenossenschaft als tumor plebis, timor regni, tepor sacerdotii, als „Volksgeschwür, Schrecken für das Reich, Schande für die Geistlichkeit“2 . Der seit Beginn des 11. Jahrhunderts in Italien einsetzende und zunächst die Bischofsstädte als Grund- und Urform der Herrschaft über Städte erfassende Veränderungsprozess3 war kommunikativ geformt in Aushandlungsprozessen zwischen den Herren und diversen Sozialgruppen der entstehenden Gemeinden. Er führte zu neuartigen, kommunalen, mithin von Genossenschaften unterschiedlichster Organisationsmodelle getragenen Stadtgemeinden4 . Nördlich und westlich der Alpen ist der Prozess zeitversetzt seit dem endenden 12. Jahrhundert zu beobachten, auch in den neu entstehenden Stadttypen der Aristokratien Europas, den Königs-, Residenz- und Amtsstädten5 . Der Kontingenzbewältigung der Zeit als jeweils verschiedene Annäherung an „Gegebenes [. . . ] im Hinblick auf mögliches Anderssein“6 1

2

3

4

5 6

Obgleich alle am Projekt Beteiligten über die Jahre hin intensiv zusammenarbeiteten und in vielfältiger Weise von stetem Austausch wie reger Diskussion profitierten (und profitieren), haben wir uns entschlossen, im Folgenden die Ergebnisse der vier behandelten Teilbereiche (Abschnitte II bis V) je für sich und unter dem Namen des jeweiligen Bearbeiters zu präsentieren. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass alle Arbeiten zwar die gleichen Fragen und Probleme ausmessen, dies jedoch stets in regionaler, teils auch in zeitlicher Differenzierung. – Der Umfang des Anmerkungsapparates fällt von Abschnitt zu Abschnitt unterschiedlich aus, je nach Stand der jeweiligen Publikation oder ihrer Vorbereitung. Ricardus Divisiensis de rebus gestis Ricardi primi. In: Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II., and Richard I., Bd. 3, hg. von R ICHARD H OWLETT (= Rerum Britannicarum medii aevi scriptores. Rolls series 82,3), London 1886 (ND London 1964), 381–454, hier 416. G ERHARD D ILCHER: Die Bischofsstadt. Zur Kulturbedeutung eines Rechts- und Verfassungstypus. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 7 (2002) 1, 13–38. Allgemein: H AGEN K ELLER: „Kommune“: Städtische Selbstregierung und mittelalterliche „Volksherrschaft“ im Spiegel italienischer Wahlverfahren des 12.–14. Jahrhunderts. In: G ERD A LTHOFF u. a. (Hg.): Person und Gemeinschaft. Karl Schmid zum 60. Geburtstag, Sigmaringen 1988, 573–616. G ABRIEL Z EILINGER: Verhandelte Stadt. Herrschaft und Gemeinde in der frühen Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis 14. Jahrhundert, Habilitationsschrift (masch.) Kiel 2013 (in Vorbereitung zum Druck in der Reihe ‚Mittelalter-Forschungen‘). Allgemein: E BERHARD I SENMANN: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 2. durchges. Aufl. Wien/Köln/Weimar 2014. N IKLAS L UHMANN: Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 666), Frankfurt a. M. 1987, 152.

Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016), S. 15–49

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Auge, Fouquet, Hagen, Kühnle, Rabeler, Zeilinger

wurde mit der Urbanisierung ein wirkmächtiger gesellschaftlicher Kontext eröffnet, indem sich das in den Bischofsstädten ausbildende Modell ‚Gemeinde‘ auf dem Land regional und zeitlich in unterschiedlichster Dispersion und in diversen Organisationsformen, mithin als Kleinstädte und Stadtdörfer, als Dorfgemeinden, Talschaften, Bauerschaften etc. ausbreitete und im Kommunalismus Nachhaltigkeit gewann7 . I. Ausgangsüberlegungen und Projektarbeit (Gerhard Fouquet) Der folgende Beitrag versteht sich als Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes zur Erforschung der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas am Beispiel ausgewählter Städtelandschaften – der welfischen, württembergischen und gräflich-Tiroler Städte8 . Angelagert daran war eine Untersuchung über die Verstädterung des Oberelsass9 . Das Vorhaben zielte auf die exemplarische Analyse der Beziehungen zwischen den sozialen Konfigurationen ‚Stadt‘ und ‚Herrschaft‘ in struktureller wie personeller Hinsicht zwischen dem 12. und dem beginnenden 16. Jahrhundert. Wesentlich war eine damit verbundene neue theoretische Bewertung von Verstädterung, die wir in Anlehnung an vergleichbare Modellbildungen und andere Wissenschaftsdisziplinen als Urbanisierung bezeichnen10 . Der bislang vornehmlich für die Ausbildung der westlichen Stadt der Moderne eingeführte Begriff ‚Urbanisierung‘11 beschreibt für das Mittelalter den um 1000 beginnenden dynamischen, in typischen Entwicklungsunterschieden zwischen Süd- und Nordeuropa verlaufenden Prozess der herrschaftlichen wie genossenschaftlichen Verdichtung und Vernetzung urbaner Strukturen in regional differenziert ausgebildeten herrschaftlich verfassten Umwelten. Der Vorgang ist nach außen am Anstieg der Zahl städtischer Siedlungen 7 8

9 10

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P ETER B LICKLE: Kommunalismus: Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000. DFG-Projekt ‚Städtische Gemeinschaft und adlige Herrschaft in der mittelalterlichen Urbanisierung ausgewählter Regionen Zentraleuropas‘ (2010–2013), Projektleitung: Gerhard Fouquet und Oliver Auge. Zu den damit verbundenen monographischen Studien siehe unten Anm. 13, 14 und 15. Vgl. auch die kurze Projektvorstellung von S VEN R ABELER: Städtische Gemeinschaft und adlige Herrschaft in der mittelalterlichen Urbanisierung ausgewählter Regionen Zentraleuropas. In: Mitteilungen der ResidenzenKommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, N. F.: Stadt und Hof 1 (2012), 42–44; für den Teilbereich zu den württembergischen Städten darüber hinaus O LIVER AUGE , N INA K ÜHNLE: Zwischen „Ehrbarkeit“ und Landesherrschaft. Städtische Entwicklung im spätmittelalterlichen Württemberg. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 71 (2012), 107–128, bes. 115–119. – Die folgenden Ausführungen nehmen an mehreren Stellen Überlegungen und Formulierungen des 2009 bei der DFG eingereichten Projektantrags auf. Z EILINGER: Verhandelte Stadt (wie Anm. 4). Vgl. etwa R EINHARD PAESLER: Stadtgeographie (= Geowissen kompakt s. n.), Darmstadt 2008, 22; ROLF K IESSLING: Die Urbanisierung einer Region. Zur Entwicklung der Städtelandschaft Oberschwabens im Spätmittelalter. In: Oberschwaben. Mitteilungen aus der Gesellschaft 1 (1999), 34–55, bes. 35 f.; F RANZ I RSIGLER: Urbanisierung und sozialer Wandel in Nordwesteuropa 11.–14. Jahrhundert. In: G ERHARD D ILCHER , N ORBERT H ORN (Hg.): Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 4: Rechtsgeschichte, München 1978, 109–123 (wieder abgedruckt in: VOLKER H ENN , RUDOLF H OLBACH , M ICHEL PAULY, W OLFGANG S CHMID [Hg.]: Miscellanea Franz Irsigler. Festgabe zum 65. Geburtstag, Trier 2006, 153– 167). Vgl. etwa J ÜRGEN R EULECKE: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland (= Edition Suhrkamp 1249), Frankfurt a. M. 1985; C LEMENS Z IMMERMANN: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung (= Europäische Geschichte s. n.), Frankfurt a. M. 1996; F RIEDRICH L ENGER: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013.

Städtische Gemeinschaft und adlige Herrschaft

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und ihrer qualifizierten Einbettung in Räume, Umwelten und Relationen, nach innen an der sozioökonomischen, politisch-rechtlichen und topographisch-architektonischen Differenzierung von Stadträumen ablesbar. Gegen etablierte Vorstellungen von ‚Stadtgründung‘ oder ‚Städtepolitik‘, die auf die Analyse des als dichotomisch angenommenen Verhältnisses zwischen einzelnen Städten und ihren Stadtherren setzten, ging und geht es in diesem Forschungsvorhaben und den weiteren daraus erwachsenden Studien um die Geschichte der Urbanität in ihrer Durchdringung und Prägung von Räumen, in ihren Interdependenzen mit ökologischen, sozioökonomischen und politischen Umwelten, in ihrer prozessualen Dynamik. Akteure (herrschaftliche wie gemeindebildende Kräfte), Räume und Formen verliehen den regionalen Urbanisierungsprozessen ihre Dynamiken vornehmlich im 13. Jahrhundert und dann wieder während der zweiten Hälfte des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Ihr Zusammenwirken differenzierte zugleich den Grad der Urbanisierung von Stadt zu Stadt und sorgte in synchroner wie diachroner Perspektive für Entwicklungsverläufe, die keineswegs als linear zu verstehen sind. Die Verteilung von Städten in Raum und Zeit ist bereits seit den 1950er Jahren in den Blick der Stadtgeschichtsforschung und der Landesgeschichte getreten, doch die theoretisch-methodischen Modelle blieben vergleichsweise statisch12 . Die Teilprojekte zu den welfischen Städten (12.–16. Jahrhundert, Sven Rabeler)13 , zum Städtewesen, den städtischen Führungsgruppen und der Landesherrschaft im spätmittelalterlichen Württemberg (1250–1534, Nina Kühnle)14 sowie zur fürstlichen Herrschaft und kommunalen Teilhabe in den Städten der Grafschaft Tirol (12.–15. Jahrhundert, Christian Hagen)15 , schließlich das assoziierte Forschungsvorhaben ‚Verhandelte Stadt. Herrschaft und Gemeinde in der frühen Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis 14. Jahrhundert‘ (Gabriel Zeilinger)16 12

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Hinzuweisen ist insbesondere auf das von Carl Haase entwickelte Modell der ‚Stadtentstehungsschichten‘, vgl. C ARL H AASE: Stadtbegriff und Stadtentstehungsschichten in Westfalen. Überlegungen zu einer Karte der Stadtentstehungsschichten. In: Westfälische Forschungen 11 (1958), 16–32; D ERS .: Die Entstehung der westfälischen Städte (= Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde, Reihe I 11), 4. Aufl., Münster 1984. Mit einem Schwerpunkt im 12. und 13. Jahrhundert – S VEN R ABELER: Stadtgemeinden und Stadtherren. Städtische Führungsgruppen und welfische Herzöge im 12. und 13. Jahrhundert (Arbeitstitel), der Abschluss ist für 2017 geplant. N INA K ÜHNLE: Wir, Vogt, Richter und Gemeinde. Städtewesen, städtische Führungsgruppen und Landesherrschaft im spätmittelalterlichen Württemberg (1250–1534), Diss. (masch.) Kiel 2014 (erscheint 2016 in der Reihe ‚Schriften zur südwestdeutschen Landesgeschichte‘). C HRISTIAN H AGEN: Fürstliche Herrschaft und kommunale Teilhabe. Die Städte der Grafschaft Tirol im Spätmittelalter (= Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 38), Innsbruck 2015. Z EILINGER: Verhandelte Stadt (wie Anm. 4). – Zusätzlich betrieb in enger Verbindung mit dem Projekt Stefan Inderwies Studien zu den Städten der mittelalterlichen Grafschaft Holstein. Vgl. S TEFAN I NDERWIES: Per sigillum nostre civitatis. Die Herausbildung und Entwicklung urbaner Führungsgruppen in schauenburgischen Städten Holsteins, in: E LISABETH G RUBER , S USANNE C LAUDINE P ILS , S VEN R ABELER , H ERWIG W EIGL , G ABRIEL Z EILINGER (Hg.): Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas. Internationale Tagung, Kiel, 23.–25.11.2011 (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 56), Innsbruck/Wien/Bozen 2013, 351–376; D ERS .: Wie Regionalgeschichte auch Hansegeschichte werden kann – Überlegungen zur Grafschaft Holstein und ihrer Städte im Mittelalter, in: O LIVER AUGE (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012 (= Kieler Werkstücke, Reihe A 37), Frankfurt a. M. u. a. 2014, 213–226; D ERS .: Die Schauenburger als Städtegründer und Stadtherren, in: O LIVER AUGE , D ETLEV K RAACK (Hg.): 900 Jahre Schauenburger im Norden. Eine Bestandsaufnahme (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 121), Kiel/Hamburg 2015, 169–196.

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griffen demgegenüber verschiedene Tendenzen der neueren stadtgeschichtlichen Forschung vornehmlich der letzten beiden Jahrzehnte auf. Sie setzten sie unter je spezifischen Fragestellungen im Sinne der Urbanisierungsgeschichte, ihrer theoretischen Grundlagen, ihres methodischen Arsenals und ihrer wissenschaftlichen Ziele um. 1. Die neuere Residenzstadtforschung, wie sie nun insbesondere das Kieler Langzeitvorhaben ‚Residenzstädte im Alten Reich (1300–1800)‘ der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen seit 2012 verfolgt, gab unserem Projekt theoretische Leitlinien vor17 . Denn die ausgebildeten Residenzstädte können aufgrund der Nahexistenz des Herrn und seines Hofes im Sinne Max Webers auch als Idealtypen der Herrschaft über und mit Städten verstanden werden, analytische Experimentierräume, die durch die günstigere Quellenlage insbesondere in den Epochen nach 1450 die Entstehungsbedingungen der mittelalterlichen Urbanisierung wesentlich besser verstehen lassen als in den Kathedralstädten des 11. und 12. Jahrhunderts gerade nördlich der Alpen. Dort handeln mitunter, wie zum Beispiel in Speyer zwischen 946 und 1207, gerade einmal 23 Urkunden18 von den äußerst komplexen Vorgängen der Kommunalisierung, ihren Aushandlungen, ihren Abschichtungen und neuerlichen Austarierungen, ihren Verwerfungen. Außerdem waren viele der untersuchten Kleinstädte und kleineren Mittelstädte in den Teilregionen unseres Vorhabens als Residenzstädte anzusprechen. Bei der Erforschung von Residenzstädten geht es näherhin darum, wie sich diese an sich wiederum ganz unterschiedlich ausgeformten Städte im Verhältnis zur zeitweiligen oder dauernden persönlichen Anwesenheit ihres Herrn oder der Herrin und seines bzw. ihres Hofes und Haushaltes trotz aller Konkurrenzen unter den Bedingungen aristokratisch-dynastischer Herrschaft entfalteten. Prämisse und leitende Forschungsthese ist es, dass die zu untersuchenden Sozialformen ‚Stadt‘ bzw. ‚ResidenzStadt‘ und ‚Herrschaft‘ bzw. ‚Staat‘ sowie ‚Hof‘ und ‚Haushalt‘ bei allen Konkurrenzen weniger antagonistisch als vielmehr komplementär und integrativ orientiert waren19 . Nina Kühnle etwa wies in dieser Hinsicht an den württembergischen Städten nach, dass der gräfliche bzw. fürstliche Herr und seine dauernde oder zeitweilige Anwesenheit beileibe nicht die einzig entscheidenden Kriterien waren, damit eine Stadt zum Hoflager wurde. Die Grafen bzw. Herzöge von Württemberg nämlich hatten durch die Eigenheiten der territorialen Entwicklung und der Durchdringung ihrer Herrschaft mittels abgeleiteter Lokaladministration auch nur eingeschränkte Möglichkeiten für ihre Bewegungen im Raum, sie waren mithin Gefangene der Ratio ihres eigenen dynastischen Regierungssystems

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Vgl. JAN H IRSCHBIEGEL , S VEN R ABELER: Residential Cities in the Holy Roman Empire (1300–1800). Urbanism as a Network of Integrative and Competing Relationships between Seigniorial Rulership and Civic Community (A New Research Project of the Göttingen Academy of Sciences). In: L ÉONARD C OURBON , D ENIS M ENJOT (Hg.): La cour et la ville dans l’Europe du Moyen Âge et des Temps Modernes (= Studies in European Urban History 35), Turnhout 2015, 91–100; G ERHARD F OUQUET, S VEN R ABELER: Zum Gegenstand. Das neue Projekt. In: G ERHARD F OUQUET, JAN H IRSCHBIEGEL , S VEN R ABELER (Hg.): Residenzstädte der Vormoderne. Umrisse eines europäischen Phänomens (= Residenzenforschung, N.F.: Stadt und Hof 2) (in Vorbereitung für den Druck). A LFRED H ILGARD (Hg.): Urkunden zur Geschichte der Stadt Speyer, Straßburg 1885, 3–29 (Nr. 4–26). Dazu G ERHARD F OUQUET: Speyer und Lübeck – zwei Beispiele für Bischofs- und Königsstädte in salischer und staufischer Zeit (im Druck). JAN H IRSCHBIEGEL , G ABRIEL Z EILINGER: Urban Space Divided? The Encounter of Civic and Courtly Spheres in Late Medieval Towns. In: A LBRECHT C LASSEN (Hg.): Urban Space in the Middle Ages and Early Modern Age (= Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 4), Berlin 2009, 479–502.

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und von dessen raumgestaltenden Kräften20 . Ein weiterer Zielpunkt der Residenzstadtforschung ist in einem übergeordneten methodischen Verständnis die Analyse sozialer Praktiken von verschränkter Kommunikation, Interaktion und Repräsentation samt ihrer medialen Inszenierung – Momente, denen in allen Teilprojekten eine besondere Bedeutung für die Analyse zugemessen wurde21 . So sagt beispielsweise das Zeremoniell der Huldigung – Sven Rabeler weist darauf für Braunschweig hin – nicht allein etwas aus über die Durchdringung von Stadt- und Landesherrschaft, sondern berührt auch das Modell der Macht des Rates im Inneren der Gemeinde22 . 2. Die vor etwa zwei Jahrzehnten einsetzende Erforschung von kleineren urbanen Siedlungsformen, mithin der weit überwiegenden Mehrzahl zentraleuropäischer Städte, gab unserem Forschungsvorhaben den vornehmlichen Gegenstandsbereich vor23 . Die Regionen der einzelnen Teilprojekte wurden jeweils aufgrund ihrer kleinstädtischen Typik und weltlich-hochadligen Herrschaftsprägung ausgewählt. Es ging bei dem Vorhaben nicht nur darum, den Kleinstädten und kleineren Mittelstädten ein größeres Gewicht in der Urbanisierungsgeschichtsforschung zu geben, sondern diese ‚Normalformen‘ der Städtischkeit Zentraleuropas in ihren spezifischen Ausformungen und Existenzbedingungen wahrzunehmen und sie für die Analyse regionalspezifischer Bedingungen der Urbanisierung nutzbar zu machen. Christian Hagen und Gabriel Zeilinger etwa vermaßen die Urbanität jener städtischen Mikroformen bis zu hin zu Stadtdörfern am Grad der Schriftlichkeit. Die Schriftlichkeit markierte bei allen etwa durch Bündnissysteme wie gerade in der Innerschweiz24 vorangetriebenen Überlagerungsvorgängen die permeable Grenze zwischen Stadt und Land. Sie war zugleich Ausdruck des Entwicklungsgrades der für die Urbanisierung entscheidenden kommunikativen Verdichtungsprozesse in den Abschichtungsvorgängen städtischer Gemeinden (auch im Verhältnis zu den grundherrschaftlichen Hofgenossenschaften) von der Herrschaft vornehmlich im 13. und frühen 14. Jahrhundert25 . Nachdrücklich konnte gezeigt werden, dass die Begriffe ‚Gemeinde‘ und ‚Herrschaft‘ dabei weder als monolithische Entitäten noch als Synonyme gleichen evolutionären Grades und verfassungsmäßiger Bedeutung zu verstehen sind. Offenheit 20 21

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Zum Aufbau der württembergischen Lokaladministration und ihrer Auswirkung auf die Territorialstädte siehe K ÜHNLE : Städtewesen (wie Anm. 14), 97–102. Vgl. z. B. M ATTHIAS M ÜLLER: Orte der Verheißung – Burg und Stadt Zion in den Repräsentationsbildern protestantischer Fürsten und Kommunen des Alten Reichs. In: B RUNO R EUDENBACH (Hg.): Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt (= vestigia bibliae 28), Bern 2008, 93–129; G ERRIT D EUTSCHLÄNDER , M ARC VON DER H ÖH , A NDREAS R ANFT (Hg.): Symbolische Interaktion in der Residenzstadt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 9), Berlin 2013. Siehe unten bei Anm. 58 und 63. Vgl. nur M ARTINA S TERCKEN: Städte der Herrschaft. Kleinstadtgenese im habsburgischen Herrschaftsraum des 13. und 14. Jahrhunderts (= Städteforschung, Reihe A 68), Köln/Weimar/Wien 2006; G UIDO H EINZMANN: Gemeinschaft und Identität spätmittelalterlicher Kleinstädte Westfalens. Eine mentalitätsgeschichtliche Untersuchung der Städte Dorsten, Haltern, Hamm, Lünen, Recklinghausen und Werne, Norderstedt 2006; außerdem den Überblick bei P ETER J OHANEK: Landesherrliche Städte – kleine Städte. Umrisse eines europäischen Phänomens. In: J ÜRGEN T REFFEISEN , K URT A NDERMANN (Hg.): Landesherrliche Städte in Südwestdeutschland (= Oberrheinische Studien 12), Sigmaringen 1994, 9–25. ROGER S ABLONIER: „Gründungszeit“ um 1300? Die „Anfänge“ einer neuen Schweizergeschichte. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 59 (2009), 101–118. Z EILINGER : Verhandelte Stadt (wie Anm. 4), 224f.; H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 131– 162. Siehe unten bei Anm. 133 ff. und 158, außerdem bei Anm. 77 zum welfischen Wolfenbüttel in der städtischen Formierungsphase des 16. Jahrhunderts.

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und Unabgeschlossenheit – das zeichnet vielmehr in jener Zeit beide sich teilweise überlappenden Wesenheiten gesellschaftlicher Ordnung aus. 3. Für unser Forschungsvorhaben maßgeblich waren zwei methodische Vorentscheidungen. Die eine Prämisse hieß: Fokussiertes Interesse an raumbezogenen Aspekten von Kommunikation, so dass Kleinstädte und kleinere Mittelstädte in den einzelnen Regionen nicht monadisch, sondern in ihrer jeweiligen raumspezifischen Einbettung und ihren Verbindungen untereinander gesehen werden – im Sinne von Stadt-Umland-Beziehungen, zentralörtlichen Gefügen, Städtenetzen oder Städtelandschaften, aber auch in ihrer Instrumentalisierung von fürstlicher Macht im Rahmen von Territorialisierungsprozessen26 . So hat Martina Stercken in ihrem Werk über die Kleinstädte im Herrschaftsgebiet der habsburgischen Grafen und österreichischen Herzöge in der heutigen Nordostschweiz zwischen 1250 und 1350 zwar den Ankauf von kleinen Städten als entscheidendes Mittel der herrschaftlichen Ausgestaltung von Räumen und diese selbst als fortifikatorische, administrative, fiskalische und partizipative Kristallisations- und Organisationskerne von Macht herausgearbeitet. Zugleich aber verfolgte sie das bis dahin wenig konsequent aufgeworfene und daher kaum bearbeitete Problem, wie denn Kleinstädte überhaupt „aus Objekten herrschaftlicher Raumpolitik“ zu „Akteure[n]“ wurden27 . Dass städtische „Mittler“, was heißt: Herrschaftsträger und -vertreter in Gestalt von Vögten, Schultheißen und Ratsleuten, die teilweise schon stadtsässig als Glied einer sich ausbildenden Elite urbaner Adligkeit lebten, Akteure waren, und zwar selbst in den präurbanen Stadien, arbeitete Gabriel Zeilinger in seiner „Interaktionsanalyse“ der zwischen Herrschaft und Gemeinwesen „verhandelten Stadt“ heraus. Die „Art und Entwicklung dieser Interaktion [. . . ]“ zeigt „Urbanität an und qualifiziert sie“28 . 4. Die zweite Vorentscheidung implizierte, dass zentrale Methode für die Untersuchungen städtischer Gemeinden und Gemeinschaften die Personenforschung im Rahmen städtischer Sozialgeschichte sein sollte, und zwar entweder im Sinne der älteren Verflechtungsgeschichte29 oder der jüngeren Soziabilitätsforschung30 . Leitende Vorstellung dabei war, dass sich der Gegenstandsbereich, die Kommunen des Spätmittelalters, als beispiellos darbietet, dass die Städte, wie es für Italien formuliert worden ist, „a really new 26 27 28 29

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Vgl. nur den Forschungsbericht von G ABRIEL Z EILINGER: Das Netz wird dichter. Neue Veröffentlichungen zu alteuropäischen Städtelandschaften. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 25 (2007), 89–99. S TERCKEN: Städte (wie Anm. 23), 3. Z EILINGER: Verhandelte Stadt (wie Anm. 4), 224 f. Vgl. allgemein G RUBER , P ILS , R ABELER , W EIGL , Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16). P ETER M ORAW: Personenforschung und deutsches Königtum. In: Zeitschrift für historische Forschung 2 (1975), 7–16 (wieder in: D ERS.: Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hg. von R AINER C HRISTOPH S CHWINGES, Sigmaringen 1995, 1–9); W OLFGANG R EINHARD: Freunde und Kreaturen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600 (= Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg 14), München 1979; D ERS . (Hg.), Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620, bearb. von M ARK H ÄBERLEIN u. a., Berlin 1996; M ARK H ÄBERLEIN: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (= Colloquia Augustana 9), Berlin 1998. S IMON T EUSCHER: Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500 (= Norm und Struktur 9), Köln/Weimar/Wien 1998; K ERSTIN S EIDEL: Freunde und Verwandte. Soziale Beziehungen in einer spätmittelalterlichen Stadt (= Campus Historische Studien 49), Frankfurt/New York 2009.

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form of political association“ darstellten31 , dass sie als solche aus der aristokratischen Ordnung der Welt herausgetreten waren und doch mit ihr untrennbar verbunden blieben. Allerdings: „das Misstrauen gegen Herrschaft und Macht (wurde) zu einem leitenden Prinzip ihrer inneren Organisation“32 . Und das setzte voraus: Einbindung des Einzelnen durch den Eid oder eine andere Form der Bindung in die kommunale Gemeinschaft und Formung identitätsstiftenden Gemeinschaftsbewusstseins (‚Eintracht‘), Verdichtung öffentlicher Gewalt und Verschriftlichung des Rechts sowie der Normen der Rechtswahrung (‚Frieden‘ und ‚Gerechtigkeit‘), endlich Rückbindung der teilweise mit erheblichen Verwerfungen verbundenen sozialen Wirklichkeit oligarchischer Regimentsbildungsprozesse an den einheitlichen Willen aller Bürger über differenzierte normative Regelungen in den Kommunalverfassungen (‚Gemeiner Nutzen‘ und ‚konsensgestützte Herrschaft‘)33 . Freilich waren weder die Stadtgemeinden monolithisch organisiert und handelten als erratische Blöcke, noch blieben die ethische Definition des allgemeinen Willens aller Bürger und deren Konsequenzen in der Gestaltung praktischer Politik gleich, noch waren die untersuchten Klein- und Mittelstädte gleich Frei- oder Reichsstädten nach außen hin unabhängig – all dies im Forschungsvorhaben untersucht sowohl in chronologischen als auch in regionalen Entwicklungsprozessen. Konsens oder Dissens im Inneren der Städte ließ sich, wie alle Teilprojekte zeigen konnten, nur entlang divergierender Gruppen- wie Einzelinteressen bemessen; die Organisationsmodelle von konsensualer oder obrigkeitlicher Herrschaft der Ratsregimente in welfischen Städten etwa waren interessanterweise auch und gerade beeinflusst von den persönlichen Beziehungen zwischen dem Stadtherrn und den Ratsherren34 . Dieses Verhältnis konnte sich in den württembergischen Ständen um 1500 politisch bis hin zur Mit-Unternehmerschaft an der fürstlichen Macht einzelner Persönlichkeiten städtischer Führungsgruppen steigern, wobei in den amtsgebundenen und über herrschaftliche Funktionalitäten im Verhältnis zum Fürsten zugleich hierarchisierten Städten die Eliten Stuttgarts, Urachs und Tübingens herausragten35 . Einzelnen sozialen Aufsteigern in den gräflich-Tiroler Städten wie den Meranern Engelmar und Heinrich Austrunk oder dem Bozener Niklaus Vintler gelang solches schon im 14. Jahrhundert36 . Auf jeden Fall sind derartige ‚Grenzgänger‘, die beiden Sphären Herrschaft und Gemeinde angehörten, analytisch „Schlüsselpersonen“ (Gabriel Zeilinger) zum Verständnis mittelalterlicher Urbanisierung37 . Wie am Anfang so auch im Verlauf der mittelalterlichen Epochen hatte Städtischkeit eben stets etwas mit dem Prozess des wechselseitigen Reakti31 32 33

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J OHN K ENNETH H YDE: Society and Politics in Medieval Italy. The Evolution of the Civil Life, 1000–1350, 3. Aufl., London/Basingstoke 1982, 49. K ELLER: Kommune (wie Anm. 3), 575. U LRICH M EIER , K LAUS S CHREINER: Regimen sanitatis. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung in alteuropäischen Stadtgesellschaften. In: D IES. (Hg.): Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit (= Bürgertum 7), Göttingen 1994, 11–34. Vgl. künftig auch die noch ungedruckte Habilitationsschrift von O LIVIER R ICHARD (Mulhouse): Serment et gouvernement dans les villes du Rhin supérieur à la fin du Moyen Âge. Siehe unten bei Anm. 55. K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), z. B. 364 f., 396, 416, 479 f. und 544. Vgl. unten bei Anm. 99 ff. H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 123–126; G USTAV P FEIFFER: Sozialer Aufstieg und visuelle Strategien im späten Mittelalter. Neue Überlegungen zu Niklaus Vintler († 1413). In: Krieg, Wucher, Aberglaube. Hans Vintler und Schloss Runkelstein (= Runkelsteiner Schriften zur Kulturgeschichte 3), Bozen 2011, 71–114. Z EILINGER: Verhandelte Stadt (wie Anm. 4), 222.

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onsverhältnisses zwischen der Herrschaft in der individuellen Ausprägung des einzelnen Herrn und der Stadtgemeinde in ihren sozialen Gruppen und Führungspersonen zu tun. II. Städte im welfischen Herrschaftsbereich zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert (Sven Rabeler) Aus den allgemeinen Vorgaben des Projekts ergaben sich in Verbindung mit spezifischen Forschungsdefiziten für den Teilbereich zu den welfischen Städten vier Arbeitsschwerpunkte: (1) die frühen Beziehungen der Welfen zu ‚ihren‘ Städten in der Urbanisierungsphase des 12. und 13. Jahrhunderts, während derer sich die grundlegenden urbanen Strukturen der Region herausbildeten, was weniger auf die Erstbelege zahlreicher Städte zielt denn auf die Ausbildung gemeindlicher Verfasstheit, die Genese städtischer Führungsgruppen und die Konsolidierung fürstlicher Herrschaft; sodann, auch über den damit gezogenen zeitlichen Rahmen hinaus, (2) die modellhaft zu fassenden konsensualen und obrigkeitlichen Ausprägungen fürstlicher Stadtherrschaft; (3) die Beschreibung, Charakterisierung und funktionale Bedeutung kleiner Städte; (4) gleichsam als Querschnittaufgabe zu allen genannten Punkten die Analyse städtischer und herrschaftlicher Schriftlichkeit. Da die Ergebnisse zum ersten der genannten Punkte in Form einer Monographie veröffentlicht werden38 und deren Erarbeitung noch nicht abgeschlossen ist, konzentrieren sich die knappen zusammenfassenden Bemerkungen im Folgenden auf die Punkte zwei bis vier. Vorgeschaltet seien einige kritische Beobachtungen zum Forschungsbefund. 1. Den herrschaftlichen Anteil an Urbanisierungsprozessen fasst die Forschung teils bis heute unter dem Signum der ‚Städtepolitik‘39 . Selten ist dieser Begriff in so hohem Maße genutzt, besetzt und gepflegt worden wie im Fall Heinrichs des Löwen († 1195), dieses darin geradezu paradigmatisch erscheinenden ‚Städtegründers‘ und ‚Städteförderers‘, sei es in der Annahme der dominant-bewusst-planvollen Instrumentalisierung von Städten, sei es in Verbindung mit der angeblichen Förderung der „Selbständigkeitsbestrebungen des Bürgertums“, immer aber unter besonderer Hervorhebung der „planmäßige[n] Gründungen“ des Herzogs40 . Forschungsgeschichtliche Parallelen ergeben sich in ähnlichem 38

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R ABELER: Stadtgemeinden (wie Anm. 13). – Der Anmerkungsapparat zu den folgenden Ausführungen beschränkt sich auf unbedingt erforderliche Nachweise. Im Sinne der skizzenartigen Präsentation ausgewählter Erträge der Projektarbeit wird vorrangig auf eigene Publikationen verwiesen, wo weitere Angaben zu finden sind. Vgl. – um nur ein Beispiel zu nennen – zu den Landgrafen von Thüringen C HRISTINE M ÜLLER: Landgräfliche Städte in Thüringen. Die Städtepolitik der Ludowinger im 12. und 13. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 7), Köln/Weimar/Wien 2003. Siehe auch die folgende Anm. 40, zur kritischen Auseinandersetzung in der neueren Literatur unten Anm. 85. Zitate bei K ARL J ORDAN: Heinrich der Löwe. Eine Biographie, München 1979, 131 f. – Aus der in dieser Frage durchaus nicht einheitlich argumentierenden und daher differenziert zu beurteilenden Literatur seien an dieser Stelle nur kursorisch genannt: S IEGFRIED R IETSCHEL: Die Städtepolitik Heinrichs des Löwen. In: Historische Zeitschrift 102 (1909), 237–276; K ARL J ORDAN: Die Städtepolitik Heinrichs des Löwen. Eine Forschungsbilanz. In: Hansische Geschichtsblätter 78 (1960), 1–36 (erneut in: D ERS .: Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters [= Kieler Historische Studien 29], Stuttgart 1980, 243–278); J OHANNES BÄRMANN: Die Städtegründungen Heinrichs des Löwen und die Stadtverfassung des 12. Jahrhunderts (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 1), Köln/Graz 1961; B ERND D IESTELKAMP: Welfische Stadtgründungen und Stadtrechte des 12. Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 81 (1964), 164–224; H ELMUT G. WALTHER: Die Städtepolitik Heinrichs des Löwen. In: Salzgitter-Jahrbuch 17/18 (1996), 62–75.

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Ausmaß wohl nur zu den Staufern und Zähringern, doch wurden innerhalb des Projekts Ähnlichkeiten auch mit Graf Meinhard II. († 1295) erkennbar, dem die ältere Literatur für die Tiroler Städte des 13. Jahrhunderts herausragende Bedeutung zusprach, was gleichfalls kritisch zu hinterfragen ist, wie Christian Hagen herausarbeiten konnte41 . Gegen den Begriff ‚Städtepolitik‘ und die dahinter stehenden Vorstellungen sind grundsätzliche, über den Einzelfall hinausreichende Erwägungen anzuführen. So unterstellt er – sprachlogisch nicht zwingend, jedoch im praktischen Gebrauch vorherrschend – ein planvolles Handeln und verortet die fürstliche Herrschaftsausübung meist wenig reflektiert in einer ungefähren Kategorie des ‚Politischen‘. Die Bedeutung tradierter und performativer, reaktiver und situativer Muster für mittelalterliche Herrschaftspraktiken und ihre „Spielregeln“ (Gerd Althoff) sowie der Bezug auf Dynastie, Familie und Haushalt – all dies keineswegs gleichzusetzen mit Ziellosigkeit oder Zufallsabhängigkeit in der Verfolgung eigener Interessen, wie Nina Kühnle zu Recht hervorhebt42 – drohen damit zu sehr aus dem Blick zu geraten43 . Vor allem aber betont der Begriff ‚Städtepolitik‘ im überwiegenden Gebrauch der Forschung einseitig den Aktionsrahmen der Stadtherren, vernachlässigt gegenüber diesen adligen Akteuren nicht allein die Stadtgemeinden und deren Vertreter, sondern auch die herrschaftlichen Funktionsträger, verfolgten diese doch im Sinne adliger „Mitunternehmschaft“ (Peter Moraw) im Verhältnis zu den Städten durchaus eigene Interessen, auch wenn sie sich selbst als ergebene Diener ihrer Herren sehen mochten44 . Das Verhältnis zwischen Städten und ihren Herren wurde so auf mehreren Ebenen vom Interagieren unterschiedlicher Akteure bestimmt45 , was der Begriff ‚Städtepolitik‘ nicht zu fassen vermag. Hinsichtlich der oft beschworenen Rolle Heinrichs des Löwen als ‚Städtegründer‘ ist auszugehen von dem kritischen Diktum Ernst Schuberts, der schon 1997 feststellte, dass in „der neueren Forschung [. . . ] der lange gültige Ruhm Heinrichs des Löwen als Stadtgründer zu verblassen“ beginne. Konkret fragte er: „Hat es die Stadt im Rechtssinne zu Zeiten Heinrichs des Löwen denn gegeben? Konnte überhaupt etwas gegründet werden, was in seiner verbindlichen Rechtsgestalt noch gar nicht festgelegt war?“ Zudem sei 41 42 43

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Vgl. unten bei Anm. 118. Siehe unten bei Anm. 85 ff. Unter den Publikationen Gerd Althoffs sei hier nur verwiesen auf G ERD A LTHOFF: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997. Zur fürstlichen Herrschaftspraxis im Spätmittelalter vgl. E RNST S CHUBERT: Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 35), 2. Aufl., München 2006. Zur Bedeutung adliger Funktionsträger mit Blick auf Städte vgl. am Beispiel der officiati der Grafen von der Mark und deren Darstellung in der Chronik Levolds von Northof S VEN R ABELER: Der Geschichtsschreiber, die Dynastie und die Städte. Städte als Objekte, Akteure und Antagonisten dynastisch orientierter Politik in der Chronik Levolds von Northof (1279–ca. 1359). In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 27 (2009), 15–40, hier 27–29, außerdem 35 f. Siehe allgemein auch die Beiträge im Sammelband G RUBER , P ILS , R ABELER , W EIGL , Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16); zur „Mitunternehmerschaft“ z. B. P ETER M ORAW: Über Patrone und Klienten im Heiligen Römischen Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: A NTONI M ACZAK ˛ (Hg.): Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 9), München 1988, 1–18, hier 13; C HRISTIAN H ESSE: Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg 1350–1515 (= Schriften der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 70), Göttingen 2005, 403–425. Vgl. allgemein – neben Z EILINGER: Verhandelte Stadt (wie Anm. 4) – S VEN R ABELER: Urkundengebrauch und Urbanität. Beobachtungen zur Formierung der städtischen Gemeinde in Pforzheim im 13. und 14. Jahrhundert. In: Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte 3 (2010), 9–40.

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– so Schubert weiter – „die Frage nach dem Städtegründer oder Städteförderer auch in einem anderen Sinne falsch gestellt. Es ging nicht um die Städte, sondern um die Herrschaft, und hier war Heinrich [. . . ] überaus erfolgreich“46 . Diesen Ansatz hat die Forschung jedoch bis heute nicht vollständig und konsequent umgesetzt. Konkret zu fragen ist für den welfischen Herrschaftsraum mithin – dies sei hier nur kurz angedeutet – nach der Entwicklung urbaner Strukturen im Allgemeinen und der Genese gemeindlicher Strukturen im Besonderen, nach den im 13. Jahrhundert vollzogenen Umdeutungen der Person Heinrichs des Löwen als städtischer fundator, nach der Rolle der auf Heinrich folgenden Welfengeneration und ebenso des schließlich allein verbleibenden Enkels Otto I. von Braunschweig-Lüneburg († 1252) in der Weiterbildung und Konsolidierung der Beziehungen zwischen Herren und Städten, nach der Herausbildung städtischer Führungsgruppen im Verlauf des 13. Jahrhunderts, auch in Verbindung mit den gegen Ende des Säkulums aufbrechenden städtisch-herrschaftlichen Konflikten47 . 2. Im Weiteren ist freilich auch im Fall der welfischen Städte chronologisch zu differenzieren. So scheint das Handeln der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg gegenüber ‚den‘ Städten gegen Ende des 15. Jahrhunderts in ausreichendem Maße Intentionalität, Konzeptionalität und Kohärenz aufzuweisen, um von ‚Städtepolitik‘ sprechen zu können, wiewohl es auch dann zweifelhaft bleibt, ob der Begriff angesichts seiner eigenen Geschichte Anwendung finden sollte48 . Jedenfalls zeigt beispielsweise das Verhalten Herzog Wilhelms des Jüngeren († 1503) und seines Sohnes Heinrich des Älteren († 1514) gemeinsame Konturen, die über Tradition und Reaktion, über Privilegierung und Fiskalisierung deutlich hinausgingen, die nicht allein auf die Aktualisierung von Herrschaftsrechten und die neuerliche Austarierung von Handlungsmöglichkeiten, sondern auf die grundsätzliche Änderung der rechtlichen wie faktischen Position als Stadtherr zielten. Das gilt nicht nur für den nun mit ganz anderer Schärfe geführten Konflikt mit Braunschweig, dem Hauptort der welfischen Lande, der sich der Herrschaft der Herzöge seit dem 14. Jahrhundert weitgehend entzogen hatte und den Heinrich der Ältere in der ‚Großen Stadtfehde‘ der Jahre 1492 bis 1494 niederzuwerfen versuchte – ein Menetekel für die in den folgenden knapp zwei Jahrhunderten stets latenten und nicht selten offenen, rechtlich wie militärisch ausgetragenen Auseinandersetzungen49 . Auch gegenüber den kleineren Städten änderte sich das herzogliche Vorgehen, ablesbar am Beispiel Helmstedt, wo Wilhelm der Jüngere über 46

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E RNST S CHUBERT: Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. In: D ERS . (Hg.): Geschichte Niedersachsens, Bd. 2, Teil 1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, XXXVI 2,1), Hannover 1997, 1–904, hier 409. – Die Forschung solchermaßen kritisch hinterfragend, schloss Schubert mit dem Hinweis auf die Herrschaftsorganisation doch insbesondere an Bernd Diestelkamp an, vgl. ebd., Anm. 189, u. a. mit Verweis auf D IESTELKAMP: Welfische Stadtgründungen (wie Anm. 40), 208 ff. Wie Anm. 13. Zu beachten sind dabei je spezifische sachliche Kontexte und forschungsgeschichtliche Hintergründe, was regional und zeitlich auch innerhalb des Projekts zu unterschiedlichen Einschätzungen führen konnte, vgl. unten bei Anm. 85 ff. zu den Grafen von Württemberg. Insbesondere zu den Beziehungen Herzog Heinrichs des Jüngeren († 1568) zur Stadt Braunschweig bereitet Manuel Becker (Kiel) eine Dissertation vor. Vgl. einstweilen M ANUEL B ECKER: (Residenz-)Städte im Umgang mit fürstlichen Herrschaftsansprüchen. Konflikte zwischen Herrschaft und Gemeinde am Beispiel welfischer Orte (1490–1570). Eine Projektvorstellung. In: S VEN R ABELER (Hg.): Welfische Residenzstädte im späten Mittelalter (= Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, N.F.: Stadt und Hof, Sonderhefte 1), Kiel 2014, 93–110.

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ältere Vogteigerechtsame hinaus 1490 in die stadtherrlichen Rechte des Abtes von Werden einrückte – nicht selten erweisen sich Herrschaftswechsel als besonders ergiebig für die Analyse städtisch-herrschaftlicher Interaktionen50 . In der zeitgenössischen Darstellung des Helmstedter Chronisten Henning Hagen habe der Fürst dabei unmissverständlich klar gemacht, dass er fortan einen umfassenden Herrschaftsanspruch durchzusetzen gedenke, der Ausnahmen nur kannte, sofern der Rat sie schriftlich nachzuweisen in der Lage sei, und der somit auch nicht mehr Gegenstand herrschaftlich-gemeindlicher Aushandlung war51 . 3. In seiner Schilderung verdichtete Henning Hagen diesen Wandel fürstlicher Stadtherrschaft in einem einzigen Moment, nämlich in der Huldigung von Rat und Gemeinde gegenüber ihrem neuen Herrn, die in seiner Wahrnehmung als scharfe Zäsur erscheint52 . Tatsächlich treffen darin Herrschaftsauffassungen und -praktiken aufeinander, die sich modellhaft als konsensual und als obrigkeitlich kennzeichnen lassen53 . Zumeist standen dahinter wechselseitige Entwicklungen von langer Dauer, doch konnten eben auch in der Sicht von Zeitgenossen Umbrüche und Beschleunigungen zu Tage treten54 . Dabei darf die Stadtgemeinde nicht als erratischer Block aufgefasst werden. Zum einen gab es durchaus divergierende Interessen, die nicht allein gruppenspezifischer, sondern auch ganz persönlicher Art sein konnten, etwa wenn einzelne Duderstädter Ratsherren im 14. Jahrhundert nach dem Übergang der Herrschaft von den Braunschweiger Herzögen auf den Mainzer Erzbischof als Gläubiger des neuen Stadtherrn auftraten und Anweisungen auf städtische Einnahmen erhielten55 . Zum anderen bemühten sich die welfischen Herzöge gerade im Konfliktfall immer wieder, Kommunikationswege am Rat vorbei zu nutzen, insbesondere mit den Handwerksämtern als wichtigen Trägern gemeindlichen Handelns unmittelbar Bündnisse einzugehen und verschiedene Akteure gegeneinander auszuspielen, was regelmäßig zu Gegenreaktionen des solcherart herausgeforderten Rates führte. Dies gilt nicht allein für Braunschweig, wo derartige Versuche im endenden 13. Jahrhundert ebenso anzutreffen sind wie im 16. Jahrhundert56 , sondern beispielsweise auch für Göttin-

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S VEN R ABELER: Neue Fürsten und alte Herren. Herrschaftswechsel aus der Perspektive städtischer Führungsgruppen am Beispiel welfischer Orte (13.–16. Jahrhundert). In: G RUBER , P ILS , R ABELER , W EIGL , Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16), 321–350. Vgl. auch unten bei Anm. 136 zu Tirol. R ABELER: Neue Fürsten (wie Anm. 50), 323–327. Vgl. E DVIN B RUGGE , H ANS W ISWE (Bearb.): Henning Hagens Chronik der Stadt Helmstedt. In: Niederdeutsche Mitteilungen 19/21 (1963/65), 113–280, hier 129 f. und 193. Wie Anm. 51. Auf allgemeine Literaturangaben wird an dieser Stelle verzichtet, verwiesen sei stattdessen allgemein auf R ABELER: Urkundengebrauch (wie Anm. 45) und D ERS .: Neue Fürsten (wie Anm. 50), jeweils mit Nachweisen. R ABELER: Neue Fürsten (wie Anm. 50), 341. Ebenda, 337 f. Für das späte 13. Jahrhundert ist zu verweisen auf die ‚Schicht der Gildemeister‘, siehe B RIGIDE S CHWARZ: Ein Bruderzwist im Welfenhaus und die „Schicht der Gildemeister“ in Braunschweig 1292–1299. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 78 (2006), 167–308. Zum 16. Jahrhundert vgl. künftig S VEN R ABELER: Herrschaftsmittelpunkt ohne Residenz. Braunschweig (14.–17. Jahrhundert), erscheint im Handbuch der Residenzstädte, das im Rahmen des unter Ägide der Göttinger Akademie der Wissenschaften durchgeführten Projekts „Residenzstädte im Alten Reich (1300–1800)“ erarbeitet wird (vgl. dazu oben Anm. 17), hier Bd. III,1 (erscheint 2017/18).

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gen57 . Und schließlich wirkten Formen und Praktiken der Stadtherrschaft auch insofern auf die innerstädtischen Machtstrukturen ein, als sie die Stellung des Rates gegenüber der Gemeinde beeinflussten: Seine Rolle als „Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde“58 unterlag einem langfristigen Wandel. Der weite Weg von der Vertretung der Gemeinde und dem Agenten des Gemeinen Nutzens zur Etablierung eigener Herrschaft in der Stadt führte den Rat eben auch und besonders von der Organisation des städtisch-herrschaftlichen Konsenses zur vom Herrn abgeleiteten Obrigkeit. 4. Diese Entwicklung konsensualer und obrigkeitlicher Herrschaftspraktiken konnte von Region zu Region, aber auch von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich verlaufen. So sind etwa in Pforzheim – um kurz einen Blick über den Raum spätmittelalterlicher welfischer Herrschaft hinauszuwerfen – allmähliche Änderungen im konsensualen Verhältnis zwischen Herr und Stadt und damit auch zwischen Rat (Gericht) und Gemeinde seit dem mittleren 14. Jahrhundert festzustellen59 . Unter ganz anderen herrschaftlichen Rahmenbedingungen ist im nicht viel größeren Helmstedt eine solche Gewichtsverschiebung zugunsten des Abtes von Werden auch im 15. Jahrhundert nicht zu erkennen60 , und als sich dies mit dem erwähnten Übergang an Herzog Wilhelm den Jüngeren 1490 schlagartig änderte, nutzte der Rat umgehend die Gelegenheit, seine eigene Position gegenüber den Innungen und damit gegenüber der Gemeinde auszubauen61 . Die 1540 erlassene Ordnung Heinrichs des Jüngeren für die im Entstehen begriffene Stadt Wolfenbüttel definierte die Gemeinde von vornherein über die Huldigung, die auch den Gehorsam gegenüber den Bürgermeistern als burgerlichen oberherren einschloss62 . Die persönlichen Beziehungen zum Herrn bildeten hier den Ursprungsgrund der Gemeinde; den Bürgermeistern wurde zwar eine vom Herrn abgeleitete obrigkeitliche Funktion, aber keine eigene obrigkeitliche Position zugebilligt. In Braunschweig hingegen scheiterten die Herzöge auch im 16. Jahrhundert bei ihren Versuchen, obrigkeitliche Akzente zu setzen, gelang es dem Rat doch, bis in das Zeremoniell der Huldigung hinein das überkommene Modell konsensualer Herrschaft bis zur endgültigen militärischen Unterwerfung im Jahr 1671 zu konservieren63 . In diesem Fall erwuchs die zunehmend herrschaftliche Position des Rates gegenüber der Gemeinde nicht aus einer abgeleiteten Obrigkeit, sondern aus der Aufrechterhaltung einer weitgehenden Autonomie. 5. Diese unterschiedlichen Modelle herrschaftlich-städtischer Interaktion wirkten prägend auf die mittelalterliche Urbanisierung ein. Angesichts der Dynamiken regionaler Urbanisierungsprozesse, bestimmt vom Zusammenwirken der drei Faktoren Akteure, Räume und Formen, die dafür sorgten, dass diese Prozesse keineswegs immer gleichgerichtet verliefen oder gar einem durchweg linearen Entwicklungsmodell folgten64 , ist der Blick 57

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R ABELER: Neue Fürsten (wie Anm. 50), 333 f. Zu Göttingen vgl. allgemein G UDRUN P ISCHKE: Die Stadt Göttingen und die Welfen im Mittelalter: Herzogliche Herrschaft und städtische Unabhängigkeit. In: Göttinger Jahrbuch 57 (2009), 5–30. Vgl. allgemein den Sammelband G RUBER , P ILS , R ABELER , W EIGL , Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16). Vgl. R ABELER: Urkundengebrauch (wie Anm. 45), 23–29. R ABELER: Neue Fürsten (wie Anm. 50), 325 und 327. Ebenda, 327–330. S VEN R ABELER: Von der Residenz zur Residenzstadt. Wolfenbüttel und die Braunschweiger Herzöge bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. In: D ERS . (Hg.): Welfische Residenzstädte (wie Anm. 49), 39–72, hier 57. Vgl. künftig R ABELER: Herrschaftsmittelpunkt (wie Anm. 56). Vgl. oben nach Anm. 11.

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gerade auf unterschiedliche Formen von Urbanität zu öffnen, sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive. So lässt sich diachron etwa am vergleichsweise reichen Quellenmaterial zu Heinrich dem Löwen beschreiben, was im 12. Jahrhundert vor allem aus herrschaftlicher Sicht die noch nicht gemeindlich strukturierten Städte in Genese, Gestalt und Funktion ausmachte65 ; ebenso muss synchron die große Bandbreite urbaner Formationen beachtet werden. Um Urbanisierungsprozesse, deren Effekte stets über die Mauern der Stadt hinausgriffen, angemessen zu beschreiben, reicht eine dichotomische Vorstellung von Stadt und Land nicht aus. Vielmehr vollzog sich die Diffusion von Urbanität, von städtischen Strukturen und Lebensformen in ihren sozialen, ökonomischen und kulturellen Bezügen in dem komplexen Beziehungsgefüge zwischen den größeren urbanen Zentren, den kleinen Städten und dem (Um-)Land66 . In dieser Konstellation, die nicht allein am abgestuften Zentralitätsgefüge, sondern beispielsweise auch an Migrationsbewegungen ablesbar ist, kam den kleinen Städten eigenes Gewicht zu, bildeten sie doch schon aufgrund ihrer schieren Zahl den wichtigsten Vermittler von Urbanität. Freilich werden sie in Funktion, Gestalt und Struktur unter Anlegung großstädtischer Maßstäbe bis heute allzu oft als defizitäre Ausprägungen urbaner Formationen gesehen. Den kleinstädtischen Eigenarten ist auf diese Weise nicht gerecht zu werden, was hier nur exemplarisch angesprochen sei. Anzusetzen ist bereits bei vorstädtischen Entwicklungen. So lässt sich für Wolfenbüttel zeigen, dass auf den seit dem späten 13. Jahrhundert mit erheblichen Investitionen ins Werk gesetzten Residenzausbau im 14. Jahrhundert über die Konzentration von Pfarreirechten und die Begründung eines Kalands die begrenzte Ausformung zu einem kirchlichen Zentralort folgte67 . Dieser im Rahmen dörflicher Siedlungsstrukturen verlaufende Verdichtungsprozess wurde von den Herzögen initiiert, und diese blieben die wesentlichen Akteure, als sie endlich im 16. Jahrhundert den Ausbau zur Stadt betrieben. Obgleich auch in Wolfenbüttel Aushandlungsprozesse erkennbar sind, war das werdende städtische Gemeinwesen nicht allein rechtlich ganz unmittelbar von den Herzögen abhängig, was sich zum Beispiel an der Vergabe von Grundstücken und Häusern erwies68 , es war auch ökonomisch eng auf Herr und Hof bezogen: Die Residenzstadt erscheint hier gleichsam als Teil des erweiterten fürstlichen Haushalts69 . Ähnliches ist für das im 15. Jahrhundert wenige hundert Einwohner zählende Uslar zu konstatieren70 . Dem lassen sich im hier behandelten Raum aber andere kleine Städte an die Seite stellen, die in ihren Formen und in den Beziehungen zwischen den rele65 66

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Zukünftig R ABELER: Stadtgemeinden (wie Anm. 13). S VEN R ABELER: . . . est lito ecclesie Gandersemensis. Eigenleute des Stifts Gandersheim zwischen grundherrschaftlicher Abhängigkeit und städtischer Freiheit im 14. Jahrhundert. In: H ARM VON S EGGERN , G ABRIEL Z EILINGER (Hg.): „Es geht um die Menschen“. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters für Gerhard Fouquet zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 2012, 111–128, hier 127. R ABELER: Von der Residenz zur Residenzstadt (wie Anm. 62), 48–55. Ebenda, 62 f. Ebenda, 66. Vgl. auch G ERHARD F OUQUET: Stadt und Residenz im 12.–16. Jahrhundert – ein Widerspruch? In: K ATRIN K ELLER , G ABRIELE V IERTEL , G ERALD D IESENER (Hg.): Stadt, Handwerk, Armut. Eine kommentierte Quellensammlung zur Geschichte der Frühen Neuzeit. Helmut Bräuer zum 70. Geburtstag zugeeignet, Leipzig 2008, 164–185, hier 172–176. A NNA PAULINA O RŁOWSKA: Die Kontakte der Stadt Uslar mit den Herzögen von Braunschweig-Lüneburg im Spiegel einer Briefsammlung. In: R ABELER (Hg.): Welfische Residenzstädte (wie Anm. 49), 17–38, hier 34.

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vanten Akteuren abweichende Befunde liefern. In Gandersheim etwa blieb das dortige Kanonissenstift auch nach dem Übergang des Ortes an die Braunschweiger Herzöge ein wesentlicher, die innerstädtischen Verhältnisse prägender Faktor; hinzu kam dort spätestens im 12. Jahrhundert der örtliche Markt als Element der Stadtwerdung71 . Dabei war Gandersheim genauso wenig eine schlechte, gleichsam perspektivisch geminderte Kopie einer Groß- oder Mittelstadt wie Wolfenbüttel oder das um 1500 vielleicht 1000 Seelen zählende Uelzen: Dessen topographische und soziale Kleinräumigkeit führen noch im späten 16. Jahrhundert die persönlichem Gebrauch dienenden Aufzeichnungen des Ratsherrn Tile Hagemann vor Augen72 . Neben dieser unterschiedlich ausgeprägten, die örtlichen Strukturen bestimmenden Kleinräumigkeit ist allen angeführten Beispielen die besondere Nähe von Stadt und Herr gemeinsam73 . 6. All dies fand nicht allein seinen Niederschlag in schriftlichen Quellen – Schriftlichkeit in ihrer Genese, ihren Formen und ihren Funktionen war vielmehr selbst ein wesentlicher Bestandteil der angesprochenen Entwicklungen und Beziehungen. Die Ausbildung gemeindlicher Strukturen ging einher mit der Entfaltung städtischer Schriftlichkeit im Urkunden-, Stadtbuch- und Gerichtswesen, eventuell konkurrierend, gerade in kleinen Städten aber nicht selten integrierend im Verhältnis zu anderen, insbesondere geistlichen Trägern von Schriftlichkeit74 . Auch in der Monopolisierung der Beziehungen zum Stadtherrn durch den Rat konnte die Kontrolle über die Verwahrung von Dokumenten, wie sie der Helmstedter Rat nach 1490 gegenüber den Innungen und den Kirchenfabriken durchsetzte75 , einen wichtigen Schritt darstellen. Privilegienbriefe bildeten häufig keine Zeichen einseitig herrschaftlicher Akte, sondern waren Medien herrschaftlich-städtischer Kommunikation, bestimmt durch konsensuale Praktiken. Ablesbar ist dies zum Beispiel auf unterschiedliche Weise an den Inhalten, äußeren Formen und personellen Konstellationen der Rechtsverleihungen und -bestätigungen Ottos I. für den Braunschweiger Hagen (1227), für Hannover (1241), Duderstadt (1247) und andere Orte76 . Und selbst im 16. Jahrhundert sollte die herrschaftliche Kontrolle über das Medium Urkunde nicht zu hoch veranschlagt werden. Um nach seinem Regierungsantritt mit Blick auf weitere Ausbaumaßnahmen einen Überblick zum Haus- und Grundstücksbesitz in Wolfenbüttel zu gewinnen, musste Herzog Julius († 1589) die Bürger 1571 auffordern, entsprechende 71

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R ABELER: Eigenleute (wie Anm. 66). Zum Gandersheimer Markt vgl. künftig auch den in Vorbereitung befindlichen Aufsatz des Verfassers in: S TEPHAN S ELZER (Hg.): Die Konsumentenstadt. Konsumenten in der Stadt des Mittelalters (Beiträge des 44. Frühjahrskolloquiums des Instituts für vergleichende Städtegeschichte, Münster, 16.–17. März 2015). H ANS -J ÜRGEN VOGTHERR: Tile Hagemanns Uelzen. Eine norddeutsche Kleinstadt am Ende des 16. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 251), Hannover 2009. Zu Uelzen vgl. allgemein T HOMAS VOGTHERR: Uelzen. Geschichte einer Stadt im Mittelalter, Uelzen 1997; H ANS -J ÜRGEN VOGTHERR (Hg.): Uelzen im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer Tagung über „Tile Hagemanns Uelzen“ am 19. September 2009 (= Uelzener Beiträge 21), Uelzen 2014. Für Uelzen vgl. auch die Bemerkungen bei S VEN R ABELER: Von „B“ wie Braunschweig bis „W“ wie Wolfenbüttel. Beobachtungen zu den residenzstädtischen Strukturen einer Region. Zur Einleitung. In: D ERS . (Hg.): Welfische Residenzstädte (wie Anm. 49), 9–15, hier 12 f. Dazu allgemein am Beispiel Pforzheim R ABELER: Urkundengebrauch (wie Anm. 45). R ABELER: Neue Fürsten (wie Anm. 50), 327 f. An Literatur sei an dieser Stelle allein verwiesen auf die ‚klassische‘ Darstellung von B ERNHARD D IESTELKAMP: Die Städteprivilegien Herzog Ottos des Kindes, ersten Herzogs von BraunschweigLüneburg (1204–1252) (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 59), Hildesheim 1961. Siehe künftig R ABELER: Stadtgemeinden (wie Anm. 13), vergleichend außerdem unten bei Anm. 118 zu Tirol.

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Urkunden und schriftliche Aussagen vorzulegen. Offenbar waren weder die herzogliche Verwaltung noch der Wolfenbütteler Rat zu Auskünften in der Lage, und doch gelang es den Bürgern, innerhalb weniger Wochen die geforderten Urkundenabschriften samt ihren Suppliken einzureichen – ein Beispiel für die Möglichkeiten des Schriftgebrauchs in der Stadt unabhängig von herrschaftlichen und städtischen Institutionen77 . III. Städtewesen, städtische Führungsgruppen und Landesherrschaft im spätmittelalterlichen Württemberg (Nina Kühnle)78 Mit dem Teilprojekt zur Herrschaft Württemberg gelangte ein Territorium in den Mittelpunkt der Betrachtungen, das sich aufgrund seiner Rahmenbedingungen als Untersuchungsobjekt geradezu aufdrängte: Mit mehr als 50 landesherrlichen Städten gilt es als städtereichstes Territorium im spätmittelalterlichen Südwestdeutschland79 und verfügte zudem über urbane Führungsgruppen, die als politische Akteure in Erscheinung traten und wechselhafte, von Zeiten enger Kooperation wie auch schwerer Konflikte geprägte Beziehungen zu den württembergischen Grafen bzw. Herzögen unterhielten – genannt seien nur die spektakuläre Absetzung Herzog Eberhards II. im Jahr 149880 und der Abschluss des berühmten ‚Tübinger Vertrags‘ von 151481 . Trotz dieser verheißungsvollen Parameter war Württemberg aber in der vergleichenden Stadtgeschichtsforschung ein bislang weitgehend unbeschriebenes Blatt, weil es an übergreifenden Untersuchungen der 77 78 79

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R ABELER: Von der Residenz zur Residenzstadt (wie Anm. 62), 62–64. Zusammenfassung ausgewählter Ergebnisse der Dissertation (wie Anm. 14). Vgl. VOLKER T RUGENBERGER: Ob den portten drey hirschhorn in gelbem veld – Die württembergische Amtsstadt im 15. und 16. Jahrhundert. In: J ÜRGEN T REFFEISEN , K URT A NDERMANN (Hg.): Landesherrliche Städte in Südwestdeutschland (= Oberrheinische Studien 12), Sigmaringen 1994, 131–156, hier 131. Zu diesem Ereignis und seiner Vorgeschichte siehe z. B. A XEL M ETZ: Der Stuttgarter Landtag von 1498 und die Absetzung Herzog Eberhards II. In: S ÖNKE L ORENZ , P ETER RÜCKERT (Hg.): Auf dem Weg zur politischen Partizipation? Landstände und Herrschaft im deutschen Südwesten (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 182), Stuttgart 2010, 103–120; N INA K ÜHNLE: Richter, Vögte, Landschaftsvertreter. Die „Ehrbarkeit“ im spätmittelalterlichen Württemberg. In: G RUBER , P ILS , R ABELER , W EIGL , Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16), 217–241, hier 217 f. und 227–229; D IES .: Städtewesen (wie Anm. 14), 391–410. Zum ‚Tübinger Vertrag‘ siehe z. B. A XEL M ETZ: Der Stände oberster Herr. Königtum und Landstände im süddeutschen Raum zur Zeit Maximilians I. (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 174), Stuttgart 2009, 144–149; A NDREAS S CHMAUDER: Der Tübinger Vertrag und die Rolle Tübingens beim Aufstand des Armen Konrad 1514. In: S ÖNKE L O RENZ , VOLKER S CHÄFER (Hg.): Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag (= Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 10), Ostfildern 2008, 187–208. Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums im Jahr 2014 sind zum ‚Tübinger Vertrag‘ und zu dem ihm vorausgehenden Aufstand des „Armen Konrad“ neue Publikationen erschienen: G ÖTZ A DRIANI , A NDREAS S CHMAUDER (Hg.): 1514. Macht, Gewalt, Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs, Tübingen 2014; P ETER RÜCKERT (Bearb.): Der ‚Arme Konrad‘ vor Gericht. Verhöre, Sprüche und Lieder in Württemberg 1514. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs BadenWürttemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stuttgart 2014; K ATJA N ELLMANN (Red.): 500 Jahre Armer Konrad. Der Gerechtigkeit einen Beistand tun, Tübingen 2014. Siehe künftig auch N INA K ÜHNLE: Vom „Armen Konrad“ zum „Tübinger Vertrag“ – Die württembergische Funktionselite im Spannungsfeld von Landesherrschaft und „Gemeinem Mann“. In: S IGRID H IRBODIAN , ROBERT K RETZSCHMAR , A NTON S CHINDLING (Hg.): 500 Jahre „Armer Konrad“ und „Tübinger Vertrag“ im interregionalen Vergleich. Fürst, Funktionseliten und „Gemeiner Mann“ am Beginn der Neuzeit (erscheint voraussichtlich 2016 in der Reihe B der ‚Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg‘).

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hiesigen Territorialstädte eklatant mangelte82 und die hochinteressanten urbanen Eliten unter dem Deckmantel der sogenannten „Ehrbarkeit“ verborgen blieben, eines auf den Landeshistoriker Hansmartin Decker-Hauff zurückgehenden monokausalen Modells, das ebenjene Eliten als württembergische „Sonderentwicklung“ verklärte und damit jeglichen Vergleichen mit anderen Regionen den Boden entzog83 . Durch die Bearbeitung im Rahmen des Projekts konnten diese Hemmnisse jedoch beseitigt werden – durch die systematische Dekonstruktion des Ehrbarkeitsbegriffs und eine Fragestellung, die sich von vornherein aus einer übergreifenden Perspektive den wechselseitigen Beziehungen zwischen Landesherrschaft, Territorialstädten und städtischen Führungsgruppen widmete –, so dass mit Württemberg nun ein weiterer Baustein auf dem Feld der allgemeinen wie der vergleichenden Stadtgeschichte vorliegt, der innerhalb des Projekts wie auch darüber hinaus zahlreiche Perspektiven eröffnet. 1. Hinsichtlich des engen Zusammenhangs zwischen Territorialisierung und Kleinstädten gelangte Martina Stercken in ihrer Studie zum habsburgischen Herrschaftsraum im späten Mittelalter unter anderem zu dem Ergebnis, dass der „Erwerb städtischer Kleinformen“ ein wichtiges Mittel für die Raumerfassung und -durchdringung der Habsburger dargestellt habe84 . Gleiches lässt sich für die Grafen von Württemberg konstatieren, die – ebenso wie die Habsburger – den größten Teil ihrer Städte kauften und dabei ein großes Repertoire an Verfahrensweisen offenbaren, das von Darlehensverpflichtungen und Pfändungspraktiken über den Erwerb angrenzender Besitz- sowie etwaiger Vorkaufsrechte bis hin zur Aufrichtung von Dienstverhältnissen und einer gezielten Personalpolitik reichte. Ihr expansives, von großer Beharrlichkeit und situativem Zupacken geprägtes Vorgehen wirft ein neues Licht auf den Begriff der ‚Städtepolitik‘, der sich im Sinne eines einseitig auf herrschaftliche Initiative ausgerichteten und darüber andere an der Urbanisierung be82

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Zu nennen ist lediglich eine Reihe von Aufsatzpublikationen, so z. B. RUDOLF S EIGEL: Die württembergische Stadt am Ausgang des Mittelalters. Probleme der Verfassungs- und Sozialstruktur. In: W ILHELM R AUSCH (Hg.): Die Stadt am Ausgang des Mittelalters (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 3), Linz 1974, 177–193; T RUGENBERGER: Ob den portten (wie Anm. 79); O LIVER AUGE: Kongruenz und Konkurrenz: Württembergs Residenzen im Spätmittelalter. In: P ETER RÜCKERT (Hg.): Der württembergische Hof im 15. Jahrhundert. Beiträge einer Vortragsreihe des Arbeitskreises für Landesund Ortsgeschichte (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Reihe B 167), Stuttgart 2006, 53–74. An monographischen Aufarbeitungen fehlt es völlig. H ANSMARTIN D ECKER -H AUFF: Die Entstehung der altwürttembergischen Ehrbarkeit 1250–1534, Diss. Wien (masch.) 1946 (Zitat auf 2). Siehe auch z. B. D ERS.: Clara Mager-Gaisberger. Ein Beitrag zur Geschichte der altwürttembergischen Ehrbarkeit. In: Blätter für württembergische Familienkunde 9 (1943), 98–108; D ERS.: Die gesellschaftliche Struktur der mittelalterlichen Städte Württembergs. In: Protokoll des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte 119 (1964), 119–133. S TERCKEN: Städte der Herrschaft (wie Anm. 23), 199; vgl. auch oben bei Anm. 27. Zu den kleinstädtischen Spezifika und den sich daraus ergebenden Forschungsperspektiven für den württembergischen Raum siehe N INA K ÜHNLE: Wege zur Stadt – Südwestdeutsche Kleinstadtgründungen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. In: K ARSTEN I GEL , M ICHAELA JANSEN , R ALPH RÖBER , J ONATHAN S CHESCHKE WITZ (Hg.): Wandel der Stadt um 1200. Die bauliche und gesellschaftliche Transformation der Stadt im Hochmittelalter. Archäologisch-historischer Workshop, Esslingen am Neckar, 29. und 30. Juni 2011 (= Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 96), Stuttgart 2013, 131–148; D IES .: „Mein Land hat kleine Städte“. Perspektiven der Kleinstadtforschung am Beispiel des spätmittelalterlichen Württemberg. ˇ P EŠEK , L UDMILA S ULITKOVÁ In: O LGA F EJTOVÁ , M ICHAELA H RUBÀ , VÁCLAV L EDVINKA , J I RI (Hg.): Städte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als Forschungsthema in den letzten zwanzig Jahren. Abhandlungen und erweiterte Beiträge der 30. wissenschaftlichen Konferenz des Archivs der Hauptstadt Prag, veranstaltet am 11. und 12. Oktober 2011 im Palais Clam-Gallas in Prag, Bd. 2 (= Documenta Pragensia 32,2), Prag 2013, 531–561.

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teiligte Gruppen außer Acht lassenden Verständnisses herrschaftlicher Entfaltung für das Mittelalter über weite Strecken durchaus als problematisch erweist85 . Bei aller gebotenen Vorsicht und Differenzierung dürfen aber weder landes- bzw. stadtherrliche Intentionen nivelliert noch die durch die Praktiken konsensualer Herrschaft beeinflussten Ergebnisse gleichsam dem Zufall zugeschrieben werden. Denn dies würde den territorialen Bestrebungen der Württemberger im späten Mittelalter erheblich widersprechen, die ihre aufstrebende Grafschaft zwar nicht auf dem Reißbrett planten, auf ihre Städte jedoch mit großer Autorität einzuwirken vermochten und teilweise erstaunlich berechnend vorgingen, wenn etwa nicht mehr zahlungsfähigen Schuldnern im richtigen Moment Städte als Pfand abgepresst wurden86 oder man sich kurzerhand eines kaiserlichen Stadtgründungsprivilegs bediente, um unliebsame Teilhaber an der Stadtherrschaft zu verdrängen87 . 2. Aus dem Erwerb und Besitz vieler Städte lassen sich indes noch nicht zwingend umfassende Urbanisierungsprozesse folgern; vielmehr stellt sich die Frage, wie es zu bewerkstelligen war, all diese Siedlungen unterschiedlichster Provenienz in die herrschaftlichen Strukturen zu integrieren. In Württemberg gelang dies in herausragender Weise durch die konsequente Einbindung aller Territorialstädte in den zweistufigen administrativen Aufbau des Fürstentums, bei dem der in Stuttgart und zeitweise in Urach angesiedelten Zentralverwaltung eine in Abhängigkeit von der Landeserweiterung veränderliche Zahl von Verwaltungsbezirken, den Ämtern, gegenüberstand. Zu jedem dieser Ämter zählte eine Stadt als regionales Zentrum – die Amtsstadt – sowie eine von Amt zu Amt variierende Menge von Amtsdörfern88 . Diese Funktionalisierung führte nicht nur dazu, dass sich gerade die Amtsstädte in einer Schlüsselposition wiederfanden, sondern wirkte sich auch unmittelbar auf die urbane Entwicklung aus. Denn neben den administrativen Zustän85

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Vgl. die Ausführungen zu den welfischen Städten oben bei Anm. 39 ff. und 48 ff., außerdem etwa jüngst G ABRIEL Z EILINGER: Zwischen familia und coniuratio. Stadtentwicklung und Städtepolitik im frühen 12. Jahrhundert. In: G ERHARD L UBICH (Hg.): Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 34), Wien/ Köln/Weimar 2013, 103–118, hier 116 f. Siehe z. B. auch G ERHARD F OUQUET: Stadt, Herrschaft und Territorium – Ritterschaftliche Kleinstädte Südwestdeutschlands an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), 70–120, hier 76 sowie die grundlegenden Erläuterungen bei S CHUBERT: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 43), 73–77. So beispielsweise geschehen im Falle Herrenbergs, vgl. ROMAN JANSSEN: Stadtgeschichte Herrenberg, Bd. 1: Mittelalter in Herrenberg (= Herrenberger historische Schriften 8), Ostfildern 2008, 41–54. So geschehen im Falle Bietigheims, vgl. G ÜNTHER B ENTELE: Bietigheim im Mittelalter. Von der ersten Nennung 789 bis zur Einführung der Amtsverfassung 1506. In: S TEFAN B ENNING (Red.): Bietigheim 789–1989. Beiträge zur Geschichte von Siedlung, Dorf und Stadt (= Schriftenreihe des Archivs der Stadt Bietigheim-Bissingen 3), Bietigheim-Bissingen 1989, 112–216, hier 158–164; K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 78–80. Siehe auch M EINRAD S CHAAB: Spätmittelalter. In: D ERS ., H ANSMARTIN S CHWARZ MAIER (Hg.): Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 1: Allgemeine Geschichte, Teil 2: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des alten Reiches (= Veröffentlichung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg s.n.), Stuttgart 2000, 1–143, hier 31, der Stadtgründungen als gängige Methode nennt, um widerstreitende Herrschaftsverhältnisse zu entscheiden. Zur württembergischen Ämterentwicklung siehe z. B. WALTER G RUBE: Vogteien, Ämter, Landkreise in Baden-Württemberg, Bd. 1: Geschichtliche Grundlagen, Stuttgart 1975, 1–17; D ERS.: Stadt und Amt in Altwürttemberg. In: E RICH M ASCHKE , J ÜRGEN S YDOW (Hg.): Stadt und Umland. Protokoll der X. Arbeitstagung des Arbeitskreises für südwestdeutsche Stadtgeschichtsforschung Calw 12.–14. November 1971 (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 82), Stuttgart 1974, 20–28; P ETER RÜCKERT: Von der Stadt zum Amt: Zur Genese württembergischer Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 72 (2013), 53–73, hier bes. 61–72.

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digkeiten gewannen jene Städte zusätzlich gerichtliche, militärische, wirtschaftliche und soziokulturelle Kompetenzen89 , kurzum: Sie bildeten die Knotenpunkte im territorialen Herrschaftsgefüge. Von den erweiterten Handlungsräumen profitierten auch die urbanen Eliten, die ausgehend vom Stadtgericht als oberstem städtischen Leitungsgremium schnell in die herrschaftlichen Ämter des Vogtes und des Kellers vordrangen und vielfach eine Laufbahn im Fürstendienst einschlugen, um am Ende in den herrschaftlichen Rat zu gelangen und gar eine kaiserliche Nobilitierung zu empfangen90 . Jedoch zog diese Entwicklung nicht nur Chancen, sondern auch Risiken nach sich. Aufgrund der dichten Besiedlung konnten nicht alle Städte zu Amtsstädten aufsteigen; wem dies nicht beschieden war, fand sich unmittelbar am unteren Ende der sich ausformenden Städtehierarchie wieder und fristete ein karges Dasein, das unter Umständen sogar im allmählichen Verlust des Stadtstatus gipfeln konnte91 . Die urbanen Führungsgruppen hingegen distanzierten sich durch ihre Profilierung als territoriale Funktionselite mehr und mehr von der städtischen Gemeinde und der übrigen Bevölkerung, was für Zündstoff sorgte und sich schließlich im Aufstand des „Armen Konrad“ Bahn brach92 . Ohne Zweifel sind also auch bei der vergleichenden Betrachtung anderer Territorien bzw. Städtegruppen deren administrative Voraussetzungen und die daraus folgenden Einflüsse auf Urbanisierungsprozesse zu beachten – innerhalb des Projekts galt das für die Städte der Tiroler Grafen ebenso wie für diejenigen der welfischen Herzöge93 . 3. Dass die kleinen Territorialstädte einer Landesherrschaft wesentlich besser politisch partizipieren konnten, als es bei so mancher (unter Umständen wesentlich größeren) Reichsstadt der Fall war, macht die Entwicklung der württembergischen Landtage deutlich. Hier zahlte sich die enge Verknüpfung zwischen der Grafschaft und ihren Städten aus, die gerade durch ihr ausgeprägtes Abhängigkeitsverhältnis Handlungsmöglichkeiten schuf und somit dem reichsstädtischen Modell weitreichender Freiheitsbestrebungen diametral gegenübersteht. Bei den ab der Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzenden Landtagen waren die württembergischen Städte als „Landschaft“ vertreten, die verordneten Repräsentanten entstammten durchweg den urbanen Eliten. In stetigen Aushandlungsprozessen mit dem

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Vgl. K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 99–101. K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 105–119, 196–199 und 217–219; D IES .: Richter (wie Anm. 80), 224–227. Zu diesen Vorgängen siehe auch die Beobachtungen bei H ESSE: Amtsträger (wie Anm. 44), 16, 254–257 und 263–269 sowie allgemein VOLKER P RESS: Führungsgruppen in der deutschen Gesellschaft im Übergang zur Neuzeit um 1500. In: H ANNS H UBERT H OFMANN , G ÜNTHER F RANZ (Hg.): Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz. Büdinger Vorträge 1978 (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 12), Boppard am Rhein 1980, 29–77, hier 44. Dieses Phänomen wird betrachtet bei N INA K ÜHNLE: Wenn Städte sterben – Württembergische „Statuswüstungen“ des Mittelalters und der Neuzeit. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 73 (2014), 101–136. Die Konkurrenz, die sich zwischen Amtsstädten und Nichtamtsstädten ergeben konnte, thematisiert am Beispiel von Böblingen und Sindelfingen, Kirchheim unter Teck und Owen, Nürtingen und Grötzingen sowie Waiblingen und Neustadt D IES.: Städtische Konkurrenzbeziehungen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Württemberg. In: R ALPH J ESSEN (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen, Frankfurt/New York 2014, 175–196. Zum „Armen Konrad“ siehe v. a. A NDREAS S CHMAUDER: Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad 1514. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisierungsprozeß im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 21), Leinfelden-Echterdingen 1998 sowie oben Anm. 81. Vgl. oben bei Anm. 62 zu Wolfenbüttel, unten bei Anm. 119 ff. und 131 f. zu Tirol.

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Herrn und somit als Teilhaber konsensualer Herrschaft94 trat die Landschaft etwa während der Vormundschaftsstreitigkeiten im Uracher Landesteil als umworbene dritte Kraft in Erscheinung, unterstützte Graf Eberhard V. bei der Wiedervereinigung des geteilten Landes und war an der Vormundschaftsregierung für den noch unmündigen Herzog Ulrich an der Wende zum 16. Jahrhundert beteiligt95 . Der Landesherr war seinerseits vor allem auf die finanzielle Unterstützung der Städte angewiesen und sah sich daher zu Zugeständnissen gezwungen, unter denen etwa die Bestimmungen des ‚Tübinger Vertrags‘ von 1514 hervorstechen96 . Er konnte sich folglich den politischen Ansprüchen der Städte nicht entziehen, wenngleich verschiedentlich durch die Praxis der Teillandtage oder direkte Verhandlungen mit einzelnen Städten der Versuch unternommen wurde, groß angelegte Landtagsverhandlungen zu umgehen97 . Das Verhältnis blieb gleichwohl immer fragil sowie der Dynamik politischer Prozesse unterworfen und konnte für die Territorialstädte zur Zerreißprobe werden, wenn es beispielsweise zu gewaltsamen Machtwechseln wie im Jahr 1519 kam und von allen Seiten Loyalität eingefordert wurde98 . 4. Als besonders dominante (Verhandlungs-)Partner traten innerhalb der Landschaft die Residenzstädte und ihre Führungsgruppen hervor. Als dauerhafte Residenz und Herrschaftsmittelpunkt des Fürstentums fungierte Stuttgart; hinzu kamen Urach, das während der Landesteilung von 1442–1482 als herrschaftlicher Sitz des südlichen Landesteils diente, sowie Tübingen, das ein bevorzugter Aufenthaltsort Graf Eberhards V. war und ab 1477 die von diesem gegründete Universität beheimatete99 . In der aus der Ämterverwaltung resultierenden Städtehierarchie rangierte dieses Dreigestirn ganz oben, was von der administrativen Rolle und der Größe der Städte, die in wirtschaftlicher Hinsicht von der Anwesenheit des Hofes profitierten, sowie von der Nähe zum Landesherrn herrührte. Die häufige Präsenz des Fürsten zog ein besonders enges Band und zumeist auch höhere finanzielle Verpflichtungen nach sich100 , eröffnete in politischen Belangen aber auch größeren Einfluss, als ihn andere Städte genossen. So hatten schon ab der Mitte des 94

Vgl. B ERND S CHNEIDMÜLLER: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: PAUL -J OACHIM H EINIG u. a. (Hg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (= Historische Forschungen 67), Berlin 2000, 53–87. 95 K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 354–371, 376–382 und 396. Zu all diesen Vorgängen siehe z. B. auch WALTER G RUBE: Der Stuttgarter Landtag 1457–1957. Von den Landständen zum demokratischen Parlament, Stuttgart 1957, 11–42 und 67–73; S ÖNKE L ORENZ: Vom herrschaftlichen Rat zu den Landständen in Württemberg. Die Entwicklung vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. In: D ERS ., RÜCKERT (Hg.): Auf dem Weg zur politischen Partizipation (wie Anm. 80), 1–27. 96 Der ‚Tübinger Vertrag‘ ist ediert bei W ILHELM O HR , E RICH KOBER (Hg.): Württembergische Landtagsakten, Bd. 1: 1498–1515 (= Württembergische Landtagsakten 1,1), Stuttgart 1913, 225–233 (Nr. 72). Zu seinen Inhalten siehe S CHMAUDER: Württemberg im Aufstand (wie Anm. 92), 212–214; G RUBE: Stuttgarter Landtag (wie Anm. 95), 83–85. 97 Zu Ersterem siehe K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 416; G RUBE: Stuttgarter Landtag (wie Anm. 95), z. B. 76–79. Letzteres war kurz vor dem Ausbruch des „Armen Konrad“ der Fall, als Herzog Ulrich in Absprache mit einigen Städten zunächst eine Vermögenssteuer erließ, siehe WALTER G RUBE: Der Arme Konrad 1514. In: Heimatbuch für Schorndorf und Umgebung 5 (1964), 33–49, hier 37; S CHMAUDER: Württemberg im Aufstand (wie Anm. 92), 42; K ÜHNLE: Vom „Armen Konrad“ (wie Anm. 81). 98 K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 518–542. 99 Zu diesen drei Residenzstädten vgl. AUGE: Kongruenz und Konkurrenz (wie Anm. 82). 100 Stuttgart etwa musste in den 1470er-Jahren ganze 49-mal für seinen Stadtherrn Graf Ulrich V. bürgen: A DOLF R APP (Bearb.): Urkundenbuch der Stadt Stuttgart (= Württembergische Geschichtsquellen 13), Stuttgart 1912, Nr. 517 f., 521, 525, 530 f., 537 f., 541, 543–545, 547–549, 554 f., 561, 563, 565, 572, 575 f., 588 f., 600, 615 und 628.

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15. Jahrhunderts Stuttgart und Tübingen die unangefochtene Führung der Landschaft inne, was sich unter anderem darin niederschlug, dass die beiden alle vier Landschaftsvertreter im Regimentsrat für Herzog Ulrich stellten101 . Urach hingegen hatte nach der Wiedervereinigung der Grafschaft 1482 mit einem Bedeutungsverlust zu kämpfen, der zwar durch Privilegien kompensiert werden sollte, unweigerlich aber mit der Einbuße an Autorität verbunden war. Dies zeigte sich im Jahr 1514, als Urach gerade wegen seiner Vorrechte ins Kreuzfeuer der amtsdörflichen Kritik geriet102 , während gegen den Rang Stuttgarts und Tübingens keinerlei Zweifel laut wurden. 5. Hinsichtlich der umfangreichen Detailuntersuchungen zu den städtischen Führungsgruppen Württembergs103 sollen nur zwei Aspekte exemplarisch herausgegriffen werden, die für die weitere prosopographische Erforschung urbaner Eliten von besonderer Relevanz sind. Ein Problem, dessen sich die stadthistorische Forschung schon seit längerer Zeit bewusst ist, das indes noch keine umfassende Aufarbeitung erfahren hat, betrifft die Leibeigenschaft der Stadtbürger, die durch die Stadtluft keineswegs frei werden mussten104 . Diese Unfreiheit tritt auch in den württembergischen Territorialstädten zum Vorschein, wo mancherorts noch bis ins 16. Jahrhundert hinein Leibabgaben geleistet werden mussten und die Freizügigkeit nur sehr eingeschränkt galt105 . Als weiteres Mittel leibherrschaftlicher Politik wurden Massenvereidigungen genutzt, bei denen in konzertierten Aktionen insbesondere die vermögenden Stadtbürger schwören mussten, sich und ihr Eigentum der Herrschaft niemals zu entfremden106 . Aufgrund der nur vereinzelten Belege bleibt jedoch unklar, ob wirklich alle Stadtbürger unfrei waren oder ob es Differenzierungen gab; aus 101 Es handelte sich dabei um den Stuttgarter Vogt Hans Gaisberg, den Stuttgarter Bürgermeister Sebastian Welling, den Tübinger Vogt Johannes Heller und den Tübinger Keller Konrad Breuning, vgl. O HR , KOBER (Hg.): Württembergische Landtagsakten (wie Anm. 96), 28–32 (Nr. 5). Siehe auch K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 396; D IES .: Richter (wie Anm. 80), 217. 102 Siehe z. B. K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 436; S CHMAUDER: Württemberg im Aufstand (wie Anm. 92), 168. 103 K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 103–345. 104 Zu der schon im Jahr 1827 festgestellten Problematik – J OSEPH WARTINGER: Leibeigene Stadtbewohner im XIV. Jahrhunderte. In: Steiermärkische Zeitschrift 8 (1827), 160–162 – vgl. z. B. I SENMANN: Stadt (wie Anm. 5), 167–171; K ARL -H EINZ M ISTELE: Stadtherr und Stadtrecht, Leibeigenschaft und Bürgerfreiheit. Eine Studie zur städtischen Verfassungsgeschichte um Main und Neckar. In: Veröffentlichungen des Historischen Vereins Heilbronn 23 (1960), 71–81, hier 76–78; F ELICITAS S CHMIEDER: Civibus de Frankinfort . . . concedimus libertatem ut numquam aliquem vestrum cogamus. Machte mittelalterliche Stadtluft die Menschen frei? In: K URT A NDERMANN , G ABRIEL Z EILINGER (Hg.): Freiheit und Unfreiheit. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Facetten eines zeitlosen Problems (= Kraichtaler Kolloquien 7), Epfendorf 2010, 115–136, hier bes. 134 f.; mit Blick auf Braunschweig und Gandersheim auch R ABELER: Eigenleute (wie Anm. 66). 105 Leibabgaben wurden etwa noch in Bietigheim, Neuffen, Haiterbach und Neubulach fällig, siehe C HRISTIAN K EITEL: Herrschaft über Land und Leute. Leibherrschaft und Territorialisierung in Württemberg 1246– 1593 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 28), Leinfelden-Echterdingen 2000, 173. Und das Münsinger Stadtbuch von 1470 vermerkt ausdrücklich, dass derjenige, der eine Münsingerin heiraten wolle und noch keinen Herrn habe, dem Grafen von Württemberg schwören müsse, sin aigen man zu sind [. . . ] und weder lib noch gut zu enpfüeren [. . . ] (Stadtarchiv Münsingen U1, fol. 8 v). 106 H ANS -M ARTIN M AURER: Masseneide gegen Abwanderung im 14. Jahrhundert. Quellen zur territorialen Rechts- und Bevölkerungsgeschichte. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 39 (1980), 30–99. Der Fall der Agnes Gaisberg, die den Ritter Rudolph von Baldeck geheiratet hatte und dennoch 1456 aufgrund eines zuvor geleisteten Eides der Landesflucht angeklagt wurde – siehe C HRISTIAN F RIEDRICH S ATTLER: Geschichte des Herzogthums Würtenberg unter der Regierung der Graven, Bd. 2, 2. Aufl., Tübingen 1775, Beilagen, 151–156 (Nr. 91 f.); K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 230 f. –, zeigt, dass die Praxis der Vereidigung auch im 15. Jahrhundert fortgesetzt wurde.

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ganz praktischen Gesichtspunkten ist auch zu überlegen, welche Regelungen etwa für zeitweilige Abwesenheit, beispielsweise für ein Studium, galten. 6. Die intensive Auseinandersetzung mit den Führungsgruppen einzelner Städte innerhalb des Untersuchungszeitraums von 1250 bis 1534107 hat außerdem ergeben, dass die sozialen Umwälzungsprozesse von einer erstaunlichen Dynamik geprägt waren. Immer wieder tauchten neue Familien im offenbar gar nicht so exklusiven Kreis der Stadteliten auf, während andere im Dunkel der Geschichte verschwanden oder sich in Ermangelung eines männlichen Erben nur in kognatischer Linie fortzusetzen vermochten. Diese Tendenz war umso stärker, je höher die Attraktivität – sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht – der jeweiligen Stadt zu veranschlagen war. Daraus folgt, dass sich die urbanen Führungsgruppen beständig neu konstituierten und somit von personeller Abgeschlossenheit kaum die Rede sein kann – gänzlich anders als im Fall der reichsstädtischen Patriziate, für die das Herkommen der Familie von großer Bedeutung war und die beispielsweise durch exklusive Trinkstuben ein ausgesprochenes ständisches Selbstbewusstsein demonstrierten108 . IV. Die Städte der Grafschaft Tirol im Spätmittelalter (Christian Hagen)109 Die Entwicklung der einzelnen Städte in Tirol wie auch der Tiroler Städtelandschaft insgesamt war in beträchtlichem Maße von naturräumlichen und politischen Rahmenbedingungen beeinflusst110 . Das betrifft zum einen die geringe Zahl der Städte: Von den heute existierenden zusammengenommen 19 Städten, die im österreichischen Bundesland Tirol und der Italien zugehörigen autonomen Provinz Bozen liegen, entwickelten sich 14 im Laufe des Mittelalters. Das sind einmal die Brixner Hochstiftsstädte Bruneck, Klausen und die Residenzstadt Brixen. Hinzu kommen Bozen als Gründung des Trienter Fürstbischofs sowie Innsbruck, das durch die Andechser Grafen gefördert wurde. Die bayerischen Gründungen (Kitzbühel, Kufstein, Rattenberg) und die Görzer Gründung Lienz blieben in der Projektarbeit ebenso ausgespart wie die erst seit dem 15. Jahrhundert zu Tirol gehörige Patrimonialstadt Vils, Berücksichtigung erfuhren hingegen Meran, Glurns, Sterzing und Hall. Zum anderen ist der Blick auf die (Görz-)Tiroler Grafen zu richten: Der herrschaftliche Zugriff auf die Marktorte im 13. Jahrhundert spielte für die Entwicklung der Tiroler Städte eine zentrale Rolle111 . Der friedliche oder gewaltsame Erwerb trug ebenso wie 107 K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 232–345. 108 Zum Patriziatsbegriff vgl. I SENMANN: Stadt (wie Anm. 5), 713 f.; I NGRID BÁTORI: Das Patriziat der deutschen Stadt. In: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 2 (1975), 1–30, hier 1–5; M ARGRET W ENSKY: Städtische Führungsschichten im Spätmittelalter. In: G ÜNTER S CHULZ (Hg.): Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000 und 2001 (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 25), München 2002, 17–27, hier 26. Speziell zu den Trinkstuben vgl. G ERHARD F OUQUET, M ATTHIAS S TEINBRINK , G ABRIEL Z EILINGER (Hg.): Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten. 40. Arbeitstagung in Pforzheim, 16.–18. November 2001 (= Stadt in der Geschichte 30), Stuttgart 2003. 109 Zusammenfassung der Ergebnisse der Dissertation (wie Anm. 15). – Die Anmerkungen sind im Folgenden möglichst knapp gehalten, weitere Angaben bietet die publizierte Dissertation. 110 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 15–42. 111 C HRISTIAN H AGEN: Urbanisierung zwischen Nord und Süd – Tiroler Märkte und Städte um 1200. In: I GEL , JANSEN , RÖBER , S CHESCHKEWITZ (Hg.): Wandel der Stadt (wie Anm. 84), 191–206.

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die Gründung und Förderung eigener Siedlungen zum Herrschaftsausbau der Grafen in der Passregion bei. Dieser Herrschaftsfaktor erklärt auch, warum den oberitalienischen Städten in Hinblick auf die innerstädtische Organisation in Tirol nie Vorbildcharakter zukam. Orientiert man sich an der Darstellung Heinz Stoobs112 , so passt Tirol durchaus ins Bild der mittelalterlichen Urbanisierung: Zwar kann seit der Zeit um 1200 vom Einsetzen einer „Städteflut“ gesprochen werden, doch lag deren Höchstmarke letztlich um 1300. Die von der Forschung genannten Daten zur Stadtwerdung der landesherrlichen Städte Meran (1317), Glurns (1304/21), Sterzing (1304) und Hall in Tirol (1303) verweisen auf die um 1300 vermehrt einsetzende Privilegierung durch die Grafen von Tirol. Mit Imst lässt sich auch ein Beispiel für eine gescheiterte mittelalterliche Stadtwerdung anführen113 . Zu Wüstungsprozessen, wie in dichter verstädterten Regionen, kam es in Tirol nicht114 . Durch Erwerb und Gründung hatten die Städte um 1300 noch eine ganz unterschiedliche Prägung: Das erst kurz zuvor mit einem Jahrmarkt ausgestattete Glurns mag noch nicht über viel mehr Bedeutung verfügt haben als beispielsweise der Marktort Neumarkt und besaß längst nicht die differenzierte Verfasstheit wie das über ältere Rechte verfügende Innsbruck. Nördlich des Brenners blieb es lange bei der urbanen Dyade Innsbruck – Hall. Die räumliche Nähe Halls zu Innsbruck schlug sich nicht nur in wirtschaftlich-sozialer Verzahnung, sondern nicht zuletzt auch in einer engen gemeinsamen Rechtstradition nieder. Die beiden Städte am Inn waren eigenständige Gemeinden, jedoch funktional eng aufeinander bezogen. Eine besondere Rolle im regionalen Gesamtgefüge nahm Bozen ein, wo der herrschaftliche Zugriff der Grafen im Spätmittelalter keineswegs eindeutig war. Zwar waren die Grafen der herrschaftliche Fixpunkt für die Gemeinde, doch handelte es sich ursprünglich um die Gründung des Trienter Bischofs, der bis 1462 auch nominell Stadtherr war. Dementsprechend blieb die Stadt dieser Südorientierung zumindest in einigen Belangen verbunden, wie zum Beispiel die lang anhaltende Verehrung des Trienter Kathedral- und Diözesanpatrons Vigilius bezeugt. 1. Zu hinterfragen sind tradierte Forschungsmeinungen. Die kritische Auseinandersetzung mit älteren Stadtgeschichtsdarstellungen und landesgeschichtlichen ‚Meistererzählungen‘ hat sich für Tirol als ebenso produktiv erwiesen wie für die anderen im Projekt untersuchten Regionen, sei es die Etikettierung des Welfen Heinrich des Löwen als „Städtegründer“115 , sei es die Überzeichnung einer in sich geschlossenen württembergischen „Ehrbarkeit“116 . Egal wie oft in der Literatur von einem Stadtrecht oder gar einer Stadterhebung die Rede ist: Das Beispiel Glurns zeigt, dass sich dahinter zuweilen nicht mehr verbirgt als die herrschaftliche Verleihung eines Waldstücks. Da in der späteren Abschrift der betreffenden Urkunde das Wort „Stadt“ vorkommt, hat sich daraus eine 112 H EINZ S TOOB: Kartographische Möglichkeiten zur Darstellung der Stadtentstehung in Mitteleuropa, besonders zwischen 1480 und 1800, in: Historische Raumforschung I (= Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 6), Bremen-Horn 1956, 21–76, hier bes. 27 (Graphik) und 28 („Städteflut“). 113 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 48 f. 114 Siehe hingegen zu den Prozessen der Desurbanisierung in Württemberg K ÜHNLE: Wenn Städte sterben (wie Anm. 91). 115 Vgl. oben bei Anm. 39 ff. 116 Vgl. oben bei Anm. 83 und 107 f.

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(lokale) Vorstellung entwickelt, die kaum mit unserem Wissen über den Ort zu dieser Zeit in Übereinstimmung zu bringen ist117 . Durch eine systematische Untersuchung der städtischen Urkunden konnte zudem die bisherige Anschauung modifiziert werden, nach der besonders Graf Meinhard II. († 1295) die Städte umfassend mit Privilegien ausgestattet habe. Wiewohl Meinhard II. in den Quellen vielfach als Förderer der Tiroler Städte und insbesondere ihrer wirtschaftlichen Prosperität erkennbar ist, so scheint seine Rolle in der Vergangenheit doch überbetont worden zu sein. Stattdessen zeigten sich der Überlieferung zufolge vor allem dessen Söhne geneigt, bestehendes Recht zu verbriefen oder Freiheiten neu zu verleihen. Der jeweils erörterte Kontext legt nahe, dass die Herzöge Ludwig, Otto und Heinrich aufgrund ihres hohen Finanzbedarfs eher noch als ihr Vater gewillt waren, städtischen Interessen stattzugeben. Auf diese Weise gelang es, Abstand von einem zuvor häufig herrschaftsorientierten Verständnis dieser Privilegierungsvorgänge zu gewinnen und zu zeigen, dass die Initiative bei städtischen Akteuren gelegen haben dürfte118 . 2. Im Hinblick auf die Verfassungsentwicklung hat es sich als aufschlussreich erwiesen, nicht nur die bloße Erwähnung von Rat oder Bürgermeistern als Kriterium heranzuziehen. Insofern ist der in der Literatur oft anzutreffende Verweis auf die zuweilen „späte“ Nennung des Rates mitunter irreführend. Das Fehlen von Ratskollegien in landesherrlichen Städten des Spätmittelalters stellt zudem keine Besonderheit dar119 . Sicherlich lässt sich gerade Innsbruck aufgrund seines frühen Stadtrechts in dieser Hinsicht ein gewisser Entwicklungsvorsprung attestieren. Ganz ähnlich strukturierte Geschworenen-Kollegien wie in Innsbruck und Hall, wo diese rasch als Rat tituliert wurden, gab es jedoch auch in Bozen und Meran, wo diese Bezeichnung unüblich blieb. Die Befugnisse, die vor allem Friedenssicherung und administrative Bereiche wie die Kontrolle über Lebensmittel, Markt, Verteidigung und Steuererhebung betrafen, fielen jedenfalls ganz ähnlich aus. Allerdings lässt die auffallend seltene Erwähnung dieses Gremiums gerade im Fall von Bozen noch Fragen offen. Aus der dort zunächst ungeklärten herrschaftlichen Lage konnte die Gemeinschaft der Bürger offenbar keine besonderen Vorteile schöpfen, einzelne Aufsteiger hingegen sehr wohl, indem sie häufig landesherrliche Ämter übernahmen120 . Vor dem Hintergrund der herrschaftlichen Umbrüche in den 1340er bis 1360er Jahren konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei den angeführten Erstnennungen der Südtiroler Ratsgremien überwiegend um herrschaftliche Zuschreibungen für bereits vorhandene Bürgerausschüsse handelte. Dies belegt, wie wichtig für die Forschung die Beachtung der frühen Geschworenenausschüsse und Schöffenkollegien ist. Gerade in Meran sind die Steurer und Geschworenen nicht als Konkurrenz zum Rat zu verstehen, sondern als Vorläufergremien. Die ‚plötzliche‘ Benennung als Rat impliziert keinerlei Änderung in der städtischen Verfasstheit, sondern eine begriffliche Angleichung. Zugleich wird hieran deutlich, dass die Ratsverfassung seit dem Beginn der habsburgischen Herrschaft und 117 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 39. 118 Ebenda, 48–57 und 71–74. Vgl. damit auch die Ausführungen zu den welfischen Städten oben bei Anm. 39 ff. (Heinrich der Löwe) und bei Anm. 76 (Privilegierung). 119 I SENMANN: Stadt (wie Anm. 5), 311. Besonders prägnant zeigt sich dies am Beispiel Württembergs, wo neben dem dominanten Stadtgericht ein städtisches Ratsgremium erst im Laufe des 15. Jahrhunderts entstand (K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14), 110 f.), weswegen die Grafen bisweilen gar als „ratsfeindlich“ bezeichnet wurden (S EIGEL: Die württembergische Stadt (wie Anm. 82), 182). 120 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 65–69.

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spätestens im 15. Jahrhundert von Seiten des Stadtherrn bereits als Normalfall angesehen wurde121 . Für den Herrschaftsbereich des Brixner Bischofs war dies zu dieser Zeit noch keinesfalls selbstverständlich122 . Zu einer Vergabe genuin habsburgischer Stadtrechte, wie sie Martina Stercken für die Vorlande im 13. Jahrhundert nachweisen konnte123 , kam es nicht, wohl weil die städtischen und territorial-herrschaftlichen Verhältnisse in Tirol bereits weitgehend festgefügt waren. 3. Es ist daher auch keinem Zufall zuzuschreiben, dass in vielen der untersuchten Gemeinden nach 1300 Geschworenengremien mit Aufgaben im Gerichtswesen und in der Verwaltung in Erscheinung traten. Ein den verschiedenartigen Städten der Herrschaft gemeinsames Ziel scheint zudem die eigenständige Steuerverwaltung gewesen zu sein. Die Mitglieder der kommunalen Führungsgruppen standen häufig in wirtschaftlichem Kontakt zum Hof und sind als Inhaber landesherrlicher Ämter nachweisbar. Einzelne Meraner Vertreter dieser Gruppe aus dem 14. und 15. Jahrhundert lassen sich unter Berücksichtigung des sozialen Umfelds ausführlicher greifen. Die überschaubare Einwohnerzahl der untersuchten Klein- und Mittelstädte korreliert dabei mit einem kleinen und stabilen Kreis an Bürgern, die in der städtischen Selbstverwaltung tätig waren. Insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zwischen Stadtherr und Gemeinde kommt diesen „Mittlern“ eine zentrale Rolle zu124 . Es wäre falsch, das Verhältnis zwischen Stadtherr und Gemeinde einzig auf die Konfrontation beider Seiten in Bezug auf eigene kommunale Rechtsetzung (Autonomie) und Selbstverwaltung (Autokephalie) zu reduzieren125 . Die Forschung geht in dieser Frage noch immer stark von der Grundannahme aus, dass eine Vielzahl landesherrlicher Städte die Emanzipation von ihrem Herrn angestrebt habe126 . Eine dementsprechend fehlende Autonomiebewegung lastet Herbert Knittler für die österreichischen Länder der geringen Größe der Städte sowie ihrem mangelnden ökonomischen Potenzial an127 . Solche Einschränkungen sind für Tirol sicherlich zu berücksichtigen. Es ist jedoch auch für weitere Untersuchungsräume zu prüfen, ob nicht bereits diese Grundannahme in die Irre führt. Das Ziel, ihren Stadtherrn abzustreifen, ist den städtischen Akteuren Tirols anhand der Quellen nicht nachzuweisen. Trotz aller Konflikte, die im Übrigen meist um fiskalische Ansprüche kreisten, gab es für die ratsfähigen Führungsgruppen in den Städten dazu auch

121 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 83–86. 122 K LAUS B RANDSTÄTTER: Verfassungskämpfe der Bürgerschaft Brixens im 15. und 16. Jahrhundert. In: H ELMUT F LACHENECKER , H ANS H EISS , H ANNES O BERMAIR (Hg.): Stadt und Hochstift. Brixen, Bruneck und Klausen bis zur Säkularisation 1803 (= Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 12), Bozen 2000, 205–248, hier 227 f. und 245–248; E RIKA K USTATSCHER: Die Städte des Hochstifts Brixen im Spätmittelalter. Verfassungs- und Sozialgeschichte von Brixen, Bruneck und Klausen im Spiegel der Personengeschichte (1200–1550), Teilbd. 1 (= Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 25,1), Innsbruck 2007, 199–211. 123 S TERCKEN: Städte der Herrschaft (wie Anm. 23), 96–120. 124 Vgl. die Beiträge in G RUBER, P ILS, R ABELER, W EIGL, Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16). Für Meran siehe H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 115–126. 125 Vgl. auch oben bei Anm. 19. 126 I SENMANN: Stadt (wie Anm. 5), 281–287 und 311–315. 127 H ERBERT K NITTLER: Die österreichische Stadt im Spätmittelalter. Verfassung und Sozialstruktur. Unter besonderer Berücksichtigung des Problemkreises „Stadtadel und Bürgertum“. In: R EINHARD E LZE, G INA FASOLI (Hg.): Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Spätmittelalters (= Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 2), Berlin 1991, 183–205, hier 195 f.

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kaum Veranlassung128 . Wie einzelne biographische Beispiele zeigen, konnte sich die Nähe zum Herrn durchaus vorteilhaft auswirken, sei es durch wirtschaftlichen Austausch, sei es durch den Erhalt eines Amts. Auch anhand des Beispiels Tirol erweist sich also, dass sich Herrschaft und Gemeinde nicht agonal gegenüber stehen mussten129 , wie dies etwa auch für die württembergischen und die welfischen Städte herausgearbeitet wurde130 . Die Städte waren in administrativer, ökonomischer und militärischer Hinsicht Teil der landesherrlichen Herrschaftskonzeption. Sah der Stadtherr in dieser Hinsicht seine Interessen gefährdet, griff er vereinzelt auch direkt in das städtische Ordnungsgefüge ein. Mit Blick auf die Städte der Tiroler Grafen ist der Aussage Peter Johaneks beizupflichten, dass landesfürstliche Herrschaft eben dezidiert nicht „als grundsätzliches Hindernis städtischer Entfaltung und städtischen Wachstums anzusehen“ ist131 . Die Tiroler Quellen lassen nicht erkennen, dass sich die räumlich-personale Nähe der Herrschaft hemmend auf die Entfaltung der städtischen Selbstverwaltung auswirkte. Allerdings konnte infolge der häufigen Abwesenheit des Herrn und seiner adligen Vertreter der Handlungsspielraum der Bürger zunehmen, wie das Meraner Beispiel zeigt: Die städtische Führungsgruppe verfasste seit den 1350/60er Jahren in erhöhtem Maße städtische Rechtsverordnungen und schlug gewohnheitsmäßig drei Bürger für den Richterstuhl im Land- und Stadtgerichtssprengel vor, von denen der Burggraf einen auswählte. Diese kommunale Teilhabe an den herrschaftlichen Kompetenzen des Stadtherrn wurde zu Beginn des 15. Jahrhunderts urkundlich festgehalten: Das Richteramt selbst blieb landesherrlich, die Rekrutierung des Richters aus dem Kreis der Bürger bestand auch weiterhin fort. Als Landrichter agierten die Meraner Bürger auf diese Weise nicht zuletzt im dörflichen Umland der Stadt132 . 4. In diesem Zusammenhang wurden auch die Wechselwirkungen zwischen Städten und Landesherrschaft in der Schriftlichkeits- und Verwaltungspraxis erörtert133 . Unter anderem sind personelle Verflechtungen zwischen der Kanzlei und der Meraner Führungsgruppe auszumachen. Doch diese Konstellationen verschoben sich ebenfalls mit den herrschaftlichen Umbrüchen in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die intensive Beschäftigung mit der Schriftlichkeits- und Verwaltungspraxis der Städte ermöglichte nicht allein die Gewinnung eines grundlegenden Überblicks über das Ausmaß und die Besonderheiten der Überlieferung, wobei gerade für die Mittelstädte Meran und Bozen ein außerordentlicher Quellenreichtum festgestellt werden konnte. Urbanisierung lässt sich gerade auch „in der ansteigenden Dichte wie in der Dispersion von Rechts-, Verwaltungs-, und Schriftlichkeitspraxis“ fassen, wie Gabriel Zeilinger betont134 . Ein hervorstechendes Beispiel für ein zunächst lokal begrenztes Ordnungselement, das regionale Relevanz erlangen konnte, stellt das Meraner Stadt- und Landgericht dar: In Anlehnung an das Notariat bildete sich dort seit dem 14. Jahrhundert ein professionelles Verschriftlichungsregime aus, das mit

128 129 130 131 132 133

H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 94–105, 115–130 und 163–179. Ebenda, 178. Siehe oben bei Anm. 59 ff. und 94. J OHANEK: Landesherrliche Städte (wie Anm. 23), 20. H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 99. Vgl. auch oben bei Anm. 74 ff. zu den welfischen Städten, unten bei Anm. 157 zu den Städten des Oberelsass. 134 Z EILINGER: Verhandelte Stadt (wie Anm. 4), 224.

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seinen Verfachbüchern seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert vermutlich Vorbildcharakter für weite Teile Tirols erlangte135 . 5. Anhand der dynastischen Brüche und Herrschaftswechsel wurde die Dynamik besonders sichtbar, mit der die Interaktion zwischen Herr und Gemeinde mitunter vonstattenging136 . Besonders augenfällig war dies im Falle von Rudolf IV. († 1365), der nach dem Erhalt militärischer Hilfe wiederum seine Gemeinden fragte, wie er ihnen behilflich sein könne. Solche Momente der wechselseitigen Unterstützung, aber auch Abhängigkeiten sind mehrfach sichtbar. Für beide Seiten konnten sich aus diesem Wechselverhältnis ‚Nutzen und Ehre‘ ergeben. Ein Hauptanliegen der Städte war es dabei, innerhalb kurzer Zeit Bestätigungen der existierenden Freiheiten zu erhalten, und ihre Ausgangsposition für Verhandlungen war gut. Frisch angetretene oder gar neu ins Land gekommene Herrscher setzten in dieser Situation zwangsläufig auf Kontinuität. Dazu passt auch, dass den Bürgern von Innsbruck, Hall und Meran bereits um 1330 so viel Bedeutung eingeräumt wurde, dass König Johann von Böhmen als potentieller vormundschaftlicher Landesherr jeder dieser Kommunen eine separate Rechtsbestätigung gewährte. Zugegebenermaßen ist es nicht ungewöhnlich, dass Johann in dieser Position im Vorhinein viel versprach. Der Umstand, dass aber wohl mit allen drei Städten Vorverhandlungen stattgefunden haben müssen, ist bislang kaum gewürdigt worden. Die Konkurrenzsituation zwischen zwei Herrschern versuchte nicht nur der regionale Adel zu seinem Vorteil zu nutzen. Die (gescheiterte) Parteinahme der Meraner Ratsfamilie Memminger für Herzog Ernst während des Bruderzwists von 1416/17 legt hiervon Zeugnis ab. Die besondere Beachtung dieser Umbruchsituationen erweist sich mithin als fruchtbar137 . In den Vorgängen von 1330 kündigte sich an, was Ende des 14. Jahrhunderts noch deutlicher zu Tage trat und im 15. Jahrhundert mit der Vertretung auf den regelmäßig abgehaltenen Landtagen seinen Widerhall fand: das Mitspracherecht der Städte in Fragen der Landespolitik138 . Insgesamt hat die Forschung die Sonderrolle Tirols bzw. die von der älteren Literatur angeführte besonders frühe Herausbildung eines Bauernstands deutlich revidiert139 . Wie für andere Regionen kann von regelmäßigen Landtagen und einer Entfaltung ständischen (städtischen) Selbstbewusstseins erst ab dem 15. Jahrhundert gesprochen werden. Ähnliches hat Martina Stercken für die habsburgischen Gebiete im Südwesten konstatiert140 . Dass die Städte auf den Landtagen nicht lediglich als Gegenpart zur adligen Fraktion angesehen werden können, erweist sich an verschiedenen Beispielen. Inwiefern die städtischen Vertreter auf den Landtagen eine über ihre Rolle in den Fragen der Herrschaftsnachfolge hinausgehende eigene Agenda entwickeln und durchsetzen konnten, lässt sich anhand der für diese Zeit überlieferten Quellen hingegen schwer klären141 . 6. Das Beispiel des Meraner Bürgerkampfs von 1478 verdeutlicht, dass es Fälle gab, in denen die herrschaftliche Einmischung in städtische Belange von Seiten der Gemeinde 135 136 137 138 139

H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 151–156. Vgl. auch oben bei Anm. 50. H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 74–83 und 91–93. Vgl. auch oben bei Anm. 94 zu Württemberg. Zuletzt M ARTIN P. S CHENNACH: „cum consilio nobilium et ignobilium huius terre“. Zu Willensbildungsund Partizipationsprozessen im spätmittelalterlichen Tirol: Die Übergabe des Landes an das Haus Habsburg 1363. In: Tiroler Heimat 77 (2013), 33–50. 140 S TERCKEN: Städte der Herrschaft (wie Anm. 23), 202. 141 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 91–94.

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sogar ausdrücklich erwünscht war. Dem alteingesessenen Rat der Stadt, der am Ende des 15. Jahrhunderts innerstädtisch bereits einen obrigkeitlichen Anspruch geltend machen konnte, wurde bei dieser Gelegenheit in Erinnerung gebracht, dass er diese oberkeit nicht seit jeher innehatte, sondern im Namen des adligen Stadtherrn ausübte. Dennoch blieb die Führungsgruppe im Großen und Ganzen erhalten. Die Meraner Verhältnisse sind zwar ein Extremfall, da eine kleine Bürger-Clique den Einwohnern zeitweise den generellen Zugang zum Bürgerrecht erschwerte. Der Versuch, den Zugang zu Ämtern zu begrenzen und die Ratsgeschäfte unter einer kleinen Gruppe miteinander verflochtener Familien aufzuteilen, lässt sich jedoch ebenfalls für die anderen Städte erkennen, sowohl im Herrschaftsbereich der Grafen von Tirol als auch der Brixner Bischöfe. Dies bedeutete nicht, dass diese Führungsgruppen vollkommen unzugänglich waren. Dem Sohn einer Dinkelsbühler Ratsfamilie gelang nach seinem Zuzug im 15. Jahrhundert bezeichnenderweise eine rasche Beteiligung an den Ratsgeschäften in Meran und später sogar in Wien142 . Dies bezeugt, dass es hierbei vor allem um den Erhalt des sozialen Status im jeweiligen städtischen Gefüge ging, weniger um eine komplette Abschottung. Den städtischen Führungsgruppen ist in der Forschung generell vielfach Beachtung geschenkt worden. Gerade die schichtübergreifende soziale Interaktion innerhalb der Klein- und Mittelstädte verdient jedoch noch mehr Aufmerksamkeit. Die Beschwerden der Meraner Gemeindemitglieder betrafen nicht nur den Zugang zum Bürgerrecht oder zu den städtischen Ämtern, sondern suggerieren zudem die Bevorteilung der Führungsgruppe in Rechtsstreitigkeiten. Wenn sie nicht gerade untereinander stritten, so der Vorwurf, unterstützten sich die Ratsmitglieder vor Gericht vornehmlich gegenseitig, so dass sie für den Rest der Gemeinde unantastbar erschienen. Der Vorwurf ist schwer überprüfbar, aber plausibel, wenn man bedenkt, dass die Aufgaben von Richtern, Geschworenen und Anwälten überwiegend von Ratsmitgliedern wahrgenommen wurden. Daran schließt sich die Frage an, ob der kleinstädtische Rahmen nicht einen besonders günstigen Nährboden für die beschriebenen Abschließungstendenzen bot. Aus dieser Perspektive wären die Ergebnisse Simon Teuschers zu den Soziabilitäten in Bern mit entsprechenden Befunden aus kleineren Gemeinden abzugleichen143 . Spielen persönliche Beziehungen und die Bindung an soziale Gruppen in einem personell kleineren Umfeld nicht eine noch wichtigere Rolle? Beziehungsweise: Musste im Umkehrschluss der soziale Aufstieg bis in die politische Führungsriege in einem solchen Umfeld nicht umso schwerer fallen? Dass daraus allerdings nicht zwangsläufig generationenübergreifende Kontinuitäten resultieren mussten, zeigen in anderer regionaler Sicht die Befunde Nina Kühnles zu den württembergischen Stadteliten144 . 7. Die Verknüpfungen von Hof und Stadt wurden vornehmlich mit Blick auf die Meraner Führungsgruppe und ihre Interaktion mit dem Tiroler Hof untersucht145 . Von einer festen Residenz spricht die Forschung in der Regel erst mit der Einrichtung der Residenz in Innsbruck. Dort lässt sich auch die bauliche Überformung der Stadt durch den 142 C HRISTIAN H AGEN: Burggraf gegen Bürger? Das Verhältnis zwischen landesfürstlichen Vertretern und städtischen Führungsgruppen am Beispiel der Stadt Meran. In: G RUBER, P ILS, R ABELER, W EIGL, Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16), 151–175, hier 160. 143 T EUSCHER: Bekannte (wie Anm. 30), bes. 135–167. 144 Vgl. oben bei Anm. 106 f. 145 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 115–118.

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Herrscher anhand des Wappenturms herausarbeiten146 . Das damit in Zusammenhang stehende rasante Wachstum und wirtschaftliche Aufblühen Innsbrucks ist von der Stadtgeschichte zwar thematisiert worden, eine grundlegende Untersuchung liegt hierzu jedoch nicht vor und hätte auch den Rahmen der Projektarbeit gesprengt. Gerade die Entwicklung der Residenz(-stadt) Innsbruck aus ökonomischer Perspektive bietet aufgrund der Rechnungsüberlieferung noch Stoff für weitere Forschung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich in der Literatur die Behauptung hält, Meran habe, quasi in Gegenbewegung zu Innsbruck, nach der Residenzverlegung einen kontinuierlichen Abstieg bis hin zum „Landstädtchen“ erfahren147 . In dieses Narrativ fügt sich dann auch die spätere Meraner Wiedergeburt durch das Kurwesen. Insgesamt erfuhr Meran nach der Verlegung der Residenz sicherlich einen Bedeutungsverlust, der in der Vergangenheit aber unter Vernachlässigung der verbleibenden zentralörtlichen Funktionen allzu sehr betont wurde. V. Herrschaft und Gemeinde in der frühen Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis 14. Jahrhundert (Gabriel Zeilinger)148 Nach den vergleichsweise frühen und besonders ausgeprägten Urbanisierungsprozessen in Norditalien sowie zwischen Seine und Niederrhein gab es eine zweite Generation von mittelalterlichen Urbanisierungsregionen in Europa. Zu diesen gehört eine der besonders dynamisch und im Ergebnis besonders dicht urbanisierten Landschaften des Kontinents: das Elsass. Die Urbanisierung des Elsass vollzog sich, wie in anderen Regionen auch, in mehreren Phasen, die jeweils durch herrschaftliche und wirtschaftliche Eigenheiten bestimmt waren: Bis in das 12. Jahrhundert hinein gab es allein die alte Römer- und Bischofsstadt Straßburg, die sich zusammen mit ihren siedlungsgenetischen Schwesterstädten an Rhein und Mosel zumindest in Teilen erhalten und dann fortentwickelt hatte. Die westliche Seite des Oberrheins war ansonsten noch von ländlichen Siedlungsformen geprägt. Die Staufer waren die ersten umfassenderen Städteförderer im Elsass und somit wohl die primären Impulsgeber der Urbanisierung dieser Landschaft: Neben ihrem Prestigezentrum, der Pfalz und späteren Stadt Hagenau, gründeten bzw. privilegierten sie dort neun weitere Städte. Doch auch andere weltliche und kirchliche Herren in der Region hatten zum Teil schon vor dem Ende der Staufer begonnen, ihrerseits Zentralorte auszubauen und auszustatten – in insgesamt beträchtlicher Anzahl. Um 1400 hatten sich die meisten der rund 60 bis 70 urbanen Siedlungen im mittelalterlichen Elsass ausgebildet. Dabei wiesen das Ober- und das Unterelsass – trotz aller gegebenen Verbindungen und Verflechtungen untereinander – eine doch je eigene urbane Struktur auf: im Unterelsass die starke

146 C HRISTIAN H AGEN: Vom Stadttor zum Wappenturm. Über Gestaltung, Funktion und Wahrnehmung eines repräsentativen Bauwerks in der Residenzstadt Innsbruck. In: JAN H IRSCHBIEGEL, W ERNER PARAVI CINI , K URT A NDERMANN (Hg.): In der Residenzstadt. Funktionen, Medien, Formen bürgerlicher und höfischer Repräsentation. 1. Atelier der neuen Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen veranstaltet mit dem Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, 20.–22. September 2013 (= Residenzenforschung, N. F.: Stadt und Hof 1), Ostfildern 2014, 131–143. 147 H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15), 90. 148 Zusammenfassung der Ergebnisse der Habilitationsschrift (wie Anm. 4). – Die Anmerkungen zu den folgenden Ausführungen beschränken sich auf wenige Hinweise und direkte Nachweise.

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Dominanz der Metropole Straßburg und im Oberelsass, vor allem in seinem nördlichen Teil, die besondere Dichte, ja die Ballung von mittelgroßen und kleinen Städten149 . In der mit dem Projekt eng verbundenen Habilitationsschrift wird die Urbanisierung vor allem des nördlichen Oberelsass im 12., 13. und beginnenden 14. Jahrhundert herrschaftsübergreifend in ihren sozial- und politikgeschichtlichen Dimensionen eingehend untersucht. Die dafür konzipierten Studien nehmen bei den analysierten Urbanisierungsprozessen nicht vorrangig die quantitative und qualitative Zunahme der funktionalen Zentralität an einzelnen Orten, sondern vor allem die verschriftlicht fassbare Interaktion zwischen Herrschaft und Gemeinde zu den Fragen der Funktion und Qualität eines Ortes in den Blick. Nachdem in der Erforschung von Stadtentstehungen lange Zeit die Untersuchung der Ausstattung mit zentralörtlichen Funktionen sowie der frühen städtischen Vergemeinschaftungsformen überwog, erweist sich die Kombination dieser Aspekte mit einer solchen Interaktionsanalyse als geeignet, den Prozess der mittelalterlichen Urbanisierung noch vertiefter und umfassender zu verstehen. Da sich der Untersuchungsgegenstand sowohl im zeitgenössischen Geschehen als auch forschungsgeschichtlich mit vielen verschiedenen Aspekten und Problemlagen verbindet – nicht zuletzt mit der sprachlichen Darstellbarkeit von Raum, Herrschaft, Stadt, Gemeinde –, wird in dieser Arbeit zunächst das Verhältnis von Stadt und Land über den Befund der Quellen und über die Wege und Ergebnisse der bisherigen Forschung für das Elsass und im vergleichenden Blick auf benachbarte Regionen dargelegt. Danach wird das Programm einer mediävistischen Urbanisierungsforschung in exemplarischen Studien auf das (nördliche) Oberelsass angewandt. So werden Schlettstadt, Colmar, Mülhausen und Kaysersberg in ihrer frühen Entwicklung im Verhältnis zu den Staufern und nachfolgenden Herrschern sowie anderen Ortsherren untersucht, dann die Städte der Bischöfe von Straßburg in der Obermundat150 , bestimmte Städte der Habsburger im Untersuchungsraum (neben Ensisheim, Thann und Sennheim vor allem Bergheim), die Zentralorte der Herrschaft Rappoltstein151 und schließlich Türkheim als Gemeinde zwischen der Abtei Münster, den Habsburgern und dem Reich. Das Panorama endet mit einer Betrachtung solcher Orte, die erst spät oder nie zur Stadt wurden. Als übergeordnete Ergebnisse können festgehalten werden: 1. Auch im hoch- und spätmittelalterlichen Oberelsass gab es eigentlich nur Städte, die nicht allein in ihrer frühen Entwicklung hin zur Urbanität eine deutlich aristokratische Prägung offenbaren. Auffallend ist, dass an vielen Orten späterer Städte zunächst mehrere Herren mit qualifizierten Herrschaftsrechten und beständigen Vertretungen präsent waren. 149 Zur Forschungsgeschichte und im Überblick u. a. G ABRIEL Z EILINGER: Städte in der Landschaft – Städtelandschaft(en)? Thesen zu einer Geschichte der Urbanisierung des mittelalterlichen Elsass. In: L AURENCE B UCHHOLZER -R ÉMY u. a. (Hg.): Neue Forschungen zur elsässischen Geschichte im Mittelalter (= Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 56), Freiburg/München 2012, 119–130; B ERNHARD M ETZ: Essai sur la hierarchie des villes médiévales d’Alsace (1200–1350). In: Revue d’Alsace 128 (2002), 47–100 und (2e partie) 134 (2008), 129–167; O DILE K AMMERER: Entre Vosges et Forêt-Noire. Pouvoirs, terroirs et villes de l’Oberrhein 1250–1350 (= Histoire ancienne et médiévale 64), Paris 2001. 150 Siehe bereits G ABRIEL Z EILINGER: Eine Stadt zwischen Gebot und Gemeindefreiheit. Rufach als Interaktionsraum von Bischof und Bewohnern vom 12. Jahrhundert bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. In: S EGGERN , Z EILINGER (Hg.): „Es geht um die Menschen“ (wie Anm. 66), 245–260. 151 Dazu auch G ABRIEL Z EILINGER: Procurator, Schaffner und Vogt in der Urbanisierung der Herrschaft Rappoltstein (13.–15. Jahrhundert). In: G RUBER , P ILS , R ABELER , W EIGL , Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16), 201–216.

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Auch war adliger oder kirchlicher Allodialbesitz keine stärkere Wurzel für urbanen Ausbau als Vogtei- oder sogar Pfandherrschaft. Die eminente Rolle der „Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde“152 , mithin der Vögte, Schaffner, Schultheißen und Ratsleute, bei der Entstehung und Entwicklung von urbanen Siedlungen und ihren Gemeinden tritt für das Oberelsass genauso klar hervor wie andernorts153 . Mehrere, mitunter konkurrierende Herren an einem Ort bedeuteten manches Mal, aber nicht unweigerlich, mehr Freiheiten für diese Vermittler und/oder die Gemeinden, die eben keine monolithischen Blöcke waren154 . Die Parteienkämpfe zum Beispiel in Colmar und Mülhausen während des 13. Jahrhunderts belegen dies eindrucksvoll. 2. Die Ortsgemeinden hatten zumeist zwei Ausgangs- und andauernde Bezugspunkte für ihre Vergemeinschaftung und ihre Öffentlichkeit: (Pfarr-)Kirche und Kirchhof sowie die Allmende und die Verfügungsgewalt über sie. Die meisten frühen Dokumente aktiver Gemeindehandlungen beziehen sich auf mindestens einen dieser Plätze. Dies ist noch kein besonderer Umstand, der die frühstädtischen gegenüber den dörflichen Gemeinden heraushebt, doch in den Erstgenannten traten die korporative Aneignung (vor allem des Kirchhofs) und die korporativ getätigte Veräußerung (vor allem der Allmende) besonders früh in Erscheinung und zeitigten auf mittlere Sicht oft genug ‚urbane‘ Folgen. Allerdings sind gerade diese frühen Handlungen kaum als gänzlich genossenschaftliche Aktionen Gleicher zu sehen. In Colmar155 beispielsweise vereinnahmten offenbar die lokalen staufischen Dienstleute die Gemeinde gegen die anderen Ortsherren. Erstaunlich, aber vielleicht unter anderem dadurch erklärlich ist, dass in den (später städtischen) Gemeindebildungen auch des Oberelsass der Eid zwar eine mutmaßlich gemeinschaftsbegründende Bedeutung hatte, aber nur sehr selten explizit bezeugt ist. Doch beschworen oder nicht: Gemeinschaften, Bruderschaften, Gilden, dazu die Nachbarschaft von Menschen, die verschiedene rechtliche Zuordnungen kannten, aber zu derselben Pfarrei gehörten, waren sicherlich auch hier die Fundamente der Gemeinde und scheinen als solche durchaus auf. Ein ausbuchstabiertes Bürgerrecht steht hingegen eher am Ende von Stadtwerdung in dieser Region. 3. Wenigstens für die älteren Stadtgemeinden in den bereits größeren Städten war hingegen die Wechselwirkung von Stadtrat und Stadtgericht von erheblicher Bedeutung. Hierbei waren die Funktionsträger der Herrschaft wie so häufig Schlüsselpersonen, die Herrschaftswissen, politisches Selbstbewusstsein und ein (quasi-)aristokratisches Sozialprestige in die Stadt einbrachten – und doch in manchen Fällen ‚Grenzgänger‘ blieben. Diese und andere soziale Transformationen erweisen sich in einem größeren Raumsystem bisweilen markanter als in der einzelnen Stadt. Die Verhandlungen etwa zwischen Kaiser Friedrich II., seinem Sohn Heinrich (VII.) und ihren Leuten im Land auf der einen Seite und den Straßburger Bischöfen auf der anderen Seite belegen für die frühen 1220er Jahre eindrucksvoll, dass es ein breit gestreutes Interesse von Ministerialen gab, sich in Städten

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G RUBER, P ILS, R ABELER, W EIGL, Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16). Vgl. z. B. oben bei Anm. 58 und 124. Vgl. auch oben bei Anm. 55 ff. Dazu bereits G ABRIEL Z EILINGER: Urbane Entwicklung abseits der Kathedralstadt. Die Stadtwerdung Colmars und die Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. In: S USANNE E HRICH , J ÖRG O BERSTE (Hg.): Städtische Räume im Mittelalter (= Forum Mittelalter. Studien 5), Regensburg 2009, 123–136.

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niederzulassen und more civium zu leben156 . Die sich vollziehende Verbreitung dieser Lebensform fand sich auch nach den hier herangezogenen Urbanisierungszeugnissen adliger Provenienz157 , etwa dem Habsburgischen Urbar, vielerorts, und die Herrschaftsträger hatten darauf zu reagieren. Aber auch die kommunikativen, politischen oder gar verwandtschaftlichen Beziehungsnetze der Herrschaftsvertreter und der frühen städtischen Eliten, die unter anderem in die interkommunalen Bündnisse ab der Mitte des 13. Jahrhunderts mündeten, weisen die Raumwirkung von Urbanisierung aus. 4. Die vorrangig untersuchte Interaktion zwischen Herrschaft und Gemeinde zeigt auch für die Entwicklung einer Siedlung hin zur Urbanität auf, dass die Prozesse der Aushandlung und ihre Verschriftlichungen oftmals wesentlich gehaltvoller sind als die darin enthaltenen zentralörtlichen Faktoren. So können die untersuchten Kommunikationsprozesse mit ihren zeitlichen Abfolgen, ihren räumlichen Übergängen und ihren wechselnden Formen und Gegenständen der Aushandlung den Verlauf von Urbanisierung wenigstens in gewissen Aspekten präziser aufzeigen und erklären als die zweifellos unverzichtbaren Fragen nach der Zentralörtlichkeit bzw. der urbanen Erscheinungsform einer Siedlung. In dieser Arbeit wurde zudem oft bewusst keine Entscheidung gefällt, ob eine Siedlung in der Untersuchungszeit bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt noch Dorf oder schon Stadt war – nicht nur weil der Prozess an sich so interessant und bedeutungsvoll ist. Denn diese Scheidung kann den Blick darauf verstellen, dass Urbanisierung mehr oder minder die ganze natürliche wie die soziale Landschaft erfasste. Diese viele verschiedene Facetten beinhaltende Dynamik kann kaum katalogisiert werden und ist zudem schwerlich kartographisch darstellbar. 5. Was hingegen annähernd messbar ist, das ist der Schriftlichkeits- und Überlieferungsvorsprung gegenüber den ländlichen Siedlungen. Dieser zeichnet eben nicht nur die älteren und dann größeren Städte, sondern zunehmend auch die Kleinstädte des Oberelsass aus158 . Diese Feststellung mag vorderhand trivial wirken. Doch in ihr vereinigen sich im Grunde alle hier beschriebenen kommunikativen Verdichtungsprozesse. Schriftlichkeit in der Stadt war zum einen ein Angebot an das Umland, zum anderen aber, den Herren gegenüber, letztlich auch (partielle) Selbstverwaltung, was nicht unbedingt mit Autonomie gleichzusetzen ist. Urbanisierung erweist sich in der Einzelstadt wie in der Fläche des Raums nicht zuletzt in der ansteigenden Dichte wie in der Dispersion von Rechts-, Verwaltungs- und Schriftlichkeitspraxis. Diese Elemente und Vorstellungen von ‚Ordnung‘ entzogen die Städte im Untersuchungszeitraum immer mehr dem alten Monopol von Kirche und Hof und überformten damit hernach jene sozialen Orte im Widerspiel. Urbanisierung bedeutet in der Fläche dann auch die verbreitete, wenngleich nicht unbeschränkte Übernahme von Praktiken des öffentlichen und privaten Lebens, welche die Zeitgenossen nun als ‚städtisch‘ wahrnahmen. Urbanisierung ist also nicht zuletzt die (bewahrte) Schriftlichkeit über die Interaktion zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Art und Entwicklung dieser 156 Siehe etwa E DUARD W INKELMANN (Hg.): Acta imperii inedita saeculi XIII et XIV. Urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreichs und des Königreichs Sizilien, Bd. 1, Innsbruck 1880 (ND Aalen 1964), 483 (Nr. 603, mit dem Zitat). 157 Dazu siehe nun auch G ABRIEL Z EILINGER: Behauptete Städte. Urbanisierung und Urbanität in Texten adliger Herrschaftspraxis aus dem Oberelsass um 1300. In: M ARTINA S TERCKEN, U TE S CHNEIDER (Hg): Urbanität. Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern (= Städteforschung, Reihe A 90), Köln/ Weimar/Wien 2016, 67–81. 158 Vgl. auch die Ausführungen zu den welfischen Städten und zu Tirol, oben bei Anm. 74 ff. und 133 ff.

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Interaktion zeigt eben auch Urbanität an und qualifiziert sie. Dies ist bestimmt dann der Fall, wenn beide Seiten und ihre Akteure begrifflich wie bewusst über eine Stadt und in einer Stadt handelten. VI. Resümee und Ausblick (Oliver Auge) Am Ende des mehrjährigen DFG-geförderten Forschungsvorhabens zu städtischer Gemeinschaft und adliger Herrschaft in der mittelalterlichen Urbanisierung ausgewählter Regionen Zentraleuropas lässt sich ein vielschichtiges Fazit aus der vergleichenden Arbeit und den dabei zutage geförderten Ergebnissen ziehen. Das gilt zuvorderst für den Inhalt: Trotz der vergleichsweise heterogenen Räume, die in den Einzelprojekten betrachtet wurden, fallen die Resultate erstaunlich kongruent aus. Was so zum Beispiel schon länger für vereinzelte württembergische oder für die Tiroler Städte vermutet wurde159 , konnte jetzt durchweg konkretisiert und spezifiziert werden: Mit älteren Darstellungen zur Stadtgeschichte gilt es sich nachdrücklich neu auseinanderzusetzen. Christian Hagens Ausführungen dazu sind geradezu Programm, doch führen das alle vier Teiluntersuchungen mehr als deutlich vor Augen. Nina Kühnles gut begründete Infragestellung der sogenannten württembergischen „Ehrbarkeit“ als wissenschaftliches Konstrukt etwa könnte in Südwestdeutschland und auch darüber hinaus gar für ein kleines Erdbeben sorgen. Grundsätzlich ergeben sich für neue Ansätze der Stadtgeschichtsforschung, die in das Projekt einflossen und die darin vor allem weiterentwickelt wurden, in der Auseinandersetzung mit älteren ‚Meistererzählungen‘ gewaltige Arbeitsfelder, weil manches, was die frühere Forschung auf der ‚Haben-Seite‘ verbucht hat, wieder in Frage zu stellen ist. Wichtig ist beispielsweise die Remodulierung des Terminus ‚Städtepolitik‘, die alle Teilprojekte durchzieht. Die Brauchbarkeit als Forschungsinstrument ist je nach Zeit und Ort unterschiedlich zu bewerten, stets aber ist der Begriff, wie zum Beispiel Sven Rabeler begründet einfordert, aus seiner einseitigen Verwendung in Bezug allein auf Stadtherren zu lösen und für eine Einbeziehung weiterer städtespezifischer Akteure zu öffnen. Das bedeutet freilich keineswegs, wie Nina Kühnle ganz richtig schreibt, dass die landes- und stadtherrlichen Interessen und Intentionen vernachlässigt werden sollen, sondern im Gegenteil haben alle Teilprojekte die Notwendigkeit dieser Perspektive nachdrücklich unter Beweis gestellt. Zu den weiterführenden Ergebnissen zählt auch das differenzierte Bild der Stadtgemeinde oder -kommune. Städtische Gemeinden waren eben nicht, wie nochmals Rabeler zu Recht betont und auch Gabriel Zeilinger in seinen Ausführungen deutlich macht, erratische Blöcke, sondern sie setzten sich aus unterschiedlichsten Gruppen mit stark divergierenden Zielen und Interessen zusammen. Diese Divergenz sollte die künftige Stadtgeschichtsforschung stärker als bisher ein- und umfangen. Große Bedeutung kam innerhalb der Kommunen wie auch im Verhältnis zu den Herren der Aushandlung von Konsensen zwischen den beteiligten sozialen Gruppen und Trägern zu, wie wiederum alle 159 Siehe etwa nur O LIVER AUGE: Stadtwerdung in Tirol. Ansätze, Erkenntnisse und Perspektiven vergleichender Stadtgeschichtsforschung. In: R AINER L OOSE, S ÖNKE L ORENZ (Hg.): König, Kirche, Adel. Herrschaftsstrukturen im mittleren Alpenraum und angrenzenden Gebieten (6.–13. Jahrhundert), Lana 1999, 307–364; D ERS .: Seit wann gründeten die Staufer Göppingen? Eine kritische Hinterfragung bisheriger Theorien zur Stadtwerdung Göppingens. In: WALTER Z IEGLER (Hg.): Stadt, Kirche, Adel. Göppingen von der Stauferzeit bis ins späte Mittelalter (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen 45), Göppingen 2006, 182–201.

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vier Arbeiten ergaben. Das passt sich ungezwungen in aktuelle Sichtweisen konsensualer Herrschaftspraktiken im Mittelalter ein.160 Die erfolgreiche Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren machte im Kern die Urbanisierung aus, wie es Zeilinger darlegt und in allen Untersuchungsbereichen herausgearbeitet werden konnte. Als ertragreich erwies sich zudem die differenzierte Einbeziehung des städtischen Umlands in die Untersuchungen, da – wie es schon einleitend angesprochen wurde161 – Städte nie unabhängig von ihrer Umgebung existierten und nur in der Interdependenz mit den ökologischen, sozioökonomischen und politischen Umwelten zu begreifen sind. In sämtlichen untersuchten Räumen offenbaren sich die Städte als „Knotenpunkte im territorialen Herrschaftsgefüge“ (Kühnle). Anders ausgedrückt: Ohne sie konnte eine Herrschaft im Mittelalter nicht oder nur schwer funktionieren. Eine besondere Rolle nahmen dabei die Residenzstädte ein, die insbesondere Rabeler und Kühnle angesprochen haben. Und nicht zuletzt und damit zusammenhängend wird die Schriftlichkeit samt den dahinter stehenden herrschaftlichen, administrativen und sozialen Praktiken bei der Ausbildung gemeindlicher Strukturen und überhaupt im größeren Vorgang der hoch- und spätmittelalterlichen Urbanisierung auch zukünftig ein wesentliches stadtgeschichtliches Thema bleiben. Der Ertrag des Projekts ist über den hier nur nochmals anhand weniger Punkte resümierten Inhalt hinaus formal gesehen allein schon daran ablesbar, dass in seinem Rahmen drei Qualifikationsarbeiten – eine Habilitationsschrift, zwei Dissertationen – entstanden, die fristgerecht fertiggestellt wurden. Eine Dissertation ist bereits publiziert162 , die beiden anderen Monographien stehen kurz vor der Veröffentlichung163 . Die vierte Arbeit, bei der es sich nicht um eine Qualifikationsschrift handelt, soll 2017 im Druck erscheinen164 . Erfolgreich war das Gesamtvorhaben indes auch, was seine Außenwahrnehmung betrifft. So veranstalteten zwei Mitglieder der Arbeitsgruppe – Rabeler sowie Zeilinger – gemeinsam mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung und dem Verein für Geschichte der Stadt Wien, namentlich mit Elisabeth Gruber, Susanne Claudine Pils und Herwig Weigl, vom 23. bis zum 25. November 2011 eine internationale Tagung zum Thema ‚Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas‘. Die Beiträge der Tagung liegen seit 2013 im Druck vor165 . Die am 29. November 2013 in Berlin veranstaltete internationale Denkwerkstatt zum Gesamtprojekt setzte dann noch einmal einen Schlussakkord. Ganz bewusst wurde bei der Planung von der sonst üblichen Organisation einer publikumswirksamen Tagung abgewichen; stattdessen wählten die Projektleiter den intimeren Rahmen einer Klausur der Arbeitsgruppe samt weiteren ausgewiesenen Fachleuten, um so genügend Raum für eine zielgerichtete, konsistente Diskussion zu erlangen. Als externe Experten und Kommentatoren waren eingeladen und anwesend: Carla 160 161 162 163 164 165

S CHNEIDMÜLLER: Konsensuale Herrschaft (wie Anm. 94). Siehe oben nach Anm. 11. H AGEN: Fürstliche Herrschaft (wie Anm. 15). K ÜHNLE: Städtewesen (wie Anm. 14); Z EILINGER: Verhandelte Stadt (wie Anm. 4). R ABELER: Stadtgemeinden (wie Anm. 13). G RUBER , P ILS , R ABELER , W EIGL , Z EILINGER (Hg.): Mittler (wie Anm. 16). Zur Aufnahme in der Forschung vgl. die Rezensionen von O LIVIER R ICHARD in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, N. F.: Stadt und Hof 2 (2013), 133–137; K LAUS B RAND STÄTTER in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 122 (2014), 477–479; B ENJAMIN M ÜSEGADES in: Historische Zeitschrift 300 (2015), 773 f.

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Meyer (Heidelberg), Michel Pauly (Luxembourg), Frank Rexroth (Göttingen), Michael Rothmann (Hannover), Stephan Selzer (Hamburg) und Martina Stercken (Zürich)166 . In den ausführlichen Kommentaren und Diskussionen erwiesen sich die vom Kieler Projekt vorgestellten Ansätze als durchweg tragfähig. Nochmals wurde deutlich, wie eng Urbanisierungsprozesse Stadt und Land miteinander verknüpften und wie stark dadurch ganze Landschaften verwandelt wurden: „Urbanisierung ist nicht nur in der Stadt, geht aber schwerlich ohne Stadt“ (Zeilinger). Unbenommen von der Antwort auf die nach wie vor virulente Frage nach der Grenzlinie zwischen (Klein-)Stadt und Dorf konnte offengelegt werden, wie die Urbanisierung, nach der projektinternen Definition verstanden167 , einen Raum erfassen und große, stadtartige Dörfer wie kleine, dorfartige Städte zugleich urban (über-)formen konnte. Die forschungsstrategisch nutzbar zu machende definitorische Unschärfe des Städtebegriffs (Rabeler) und die damit verbundene definitorische Offenheit des Urbanisierungsterminus vermögen bei der Betrachtung der Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Land in jedem Falle weiterzuhelfen. Nochmals: Urbanisierung vollzog sich in der Durchsetzung und Verbreitung bestimmter als urban zu verstehender sozialer und wirtschaftlicher Praktiken und Lebensformen, die seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts eine neue Form von Urbanität in Zentraleuropa hervorbrachten. An die Stelle vereinzelter urbaner Zentren, die besonders die alten Römer- und Bischofsstädte gebildet hatten, trat seither eine großflächige Urbanisierung, die nun insbesondere auch kleine Orte betraf und umformte. Die Führungsgruppen blieben oft genug hier wie dort konstant. Diese neue Urbanität zeigte sich nicht nur in neuen sakralen und weltlichen Institutionen und Einrichtungen. Sie schlug sich auch organisationstechnisch nieder, was sich hauptsächlich am erlangten oder wachsenden Grad der Schriftlichkeit ablesen lässt. „Anders“, so Karsten Igel in seinem Bericht zum Workshop, „als ein Teil der klassischen Definitionen der mittelalterlichen Stadt erweist sich das vorgestellte Konzept [. . . ] als weitaus anschlussfähiger hin zur modernen Stadtgeschichte, ohne deswegen zugleich in eine evolutionäre oder gar teleologische Falle zu tappen und Brüche bzw. Unterschiede gegenüber der modernen, (post)industriellen Stadt zu überdecken“168 . Zusätzlich zur erfreulich positiven Resonanz regten die anwesenden Experten wichtige Perspektiven für die Zukunft an, so zum Beispiel eine stärkere Anbindung der erzielten Ergebnisse an Archäologie und Bauforschung. Auch könne der künftige Blick auf die Urbanisierung speziell in den größeren geistlichen Territorien gerichtet werden, die bislang unberücksichtigt geblieben seien. Außerdem stelle die spezifische Betrachtung von Urbanität oder ‚Urban Culture‘ ein großes und zugleich vielversprechendes Desiderat dar. „Das Kieler Urbanisierungs-Projekt lädt somit ein, fortgeschrieben zu werden“, resümierte Karsten Igel in seinem Bericht weiter. In der Tat ist das Projekt, für sich genommen, zwar jetzt zu einem erfolgreichen Ende geführt. Doch ist dieses Ende nur als eine Etappe auf dem Weg weitergehender Bemühungen Kieler Forscher und Forscherinnen um die mittelalterliche Stadt- und Urbanisierungsgeschichte zu verstehen. Da ist zum einen das an der Göttinger Akademie der Wissenschaften angesiedelte Langzeitvorhaben „Residenz166 Siehe den ausführlichen Bericht zum Workshop von K ARSTEN I GEL: Tagungsbericht: Mittelalterliche Urbanisierung. Akteure – Räume – Prozesse, 29.11.2013 Berlin, in: H-Soz-Kult, 09.07.2014, http://www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5451 [18.10.2015]. 167 Vgl. oben bei Anm. 11. 168 Zitat aus I GEL: Tagungsbericht (wie Anm. 166).

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städte im Alten Reich (1300–1800)“ zu nennen, in dessen Untersuchungsrahmen auch die Entstehungszusammenhänge und -voraussetzungen der Urbanisierung im Mittelalter einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Zum anderen könnte für die Kieler im Kontext der derzeit inhaltlich aufzustellenden Johanna Mestorf Akademie der Christian-AlbrechtsUniversität ein künftiges Forum für stadtgeschichtliche Bemühungen unter dem Dach des Oberthemas ‚Urban Culture‘ entstehen. Interdisziplinär und transepochal böte die Akademie den an der Stadtgeschichte interessierten Forscherinnen und Forschern jedenfalls eine gute Möglichkeit zum wissenschaftlichen Austausch und zur Untersuchung diverser Fragestellungen. Ein konkretes Anliegen wäre dabei zum Beispiel die historische Erarbeitung weiterer urbaner Räume zur Konstituierung einer validen Vergleichsbasis. Auch dürfte künftig etwa das Thema der mittelalterlichen Stadt- und Dorfwüstungen im Ostseeraum und darüber hinaus, von der Geschichtswissenschaft lange Zeit sträflich vernachlässigt, eine gewichtigere Rolle spielen. Städte und Dörfer wuchsen bekanntlich nicht nur, sie schrumpften vielfach oder verschwanden wieder ganz von der historischen Bildfläche. Urbanisierung war nie nur eine Erfolgsgeschichte, sondern von vielen Experimenten mit offenem Ausgang, Rückschlägen, Sackgassen begleitet. Insgesamt sollte demzufolge bei allen weiteren Bemühungen auch die dörfliche Perspektive eine wichtige Rolle einnehmen169 . Denn wie Städte lediglich im Verein mit ihrem Umland zu erfassen und zu verstehen sind, so ist ‚Urban Culture‘ auch nur in Spiegelung und Affinität zur ‚Rural Culture‘ und umgekehrt zu begreifen.

169 Siehe etwa schon K URT A NDERMANN, O LIVER AUGE (Hg.): Dorf und Gemeinde. Grundstrukturen der ländlichen Gesellschaft in Spätmittelalter und Frühneuzeit (= Kraichtaler Kolloquien 8), Epfendorf 2012.

Die Bamberger Stadtrechnungen im 15. und 16. Jahrhundert Aspekte ihrer Genese und ihre Bedeutung für die Stadt- und Regionalgeschichte von Christian Chandon I.

Einführung

Mittelalterliche Rechnungsbücher wurden in der deutschen Forschung bislang häufig als Zeugnis der Entwicklung des kommunalen oder herrschaftlichen Verwaltungswesens, insbesondere der Finanzverwaltung verstanden1 . Vereinzelt wurden Rechnungen verschiedener Städte bereits als Quellen für die Alltagsgeschichte, die Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ausgewertet2 . Auch in jüngerer Zeit ist in der Forschung der Trend zu beobachten, Rechnungsbücher, gerade aus dem städtischen Umfeld, zur Beantwortung verschiedener Fragestellungen der Stadt- und Regionalgeschichte zu heranzuziehen3 . Zudem mehren sich die Aufrufe, Rechnungsbücher als historische Quellen (wieder) ernst zu nehmen, indem ihre Bedeutung für die Erschließung städtischen Lebens unterstrichen wird4 . Die mittelalterlichen Bamberger Stadtrechnungen erfuhren bisher nur geringe Beachtung, ganz im Gegensatz zu den Rechnungen des Stadtbauhofs. Diese wurden durch Caroline Göldel und Johann Georg Sichler bearbeitet und ausgewertet5 . Doch ohne die 1

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Unter anderem grundlegend für den kommunalen Bereich B ERND F UHRMANN: Der Haushalt der Stadt Marburg in Spätmittelalter und früher Neuzeit (1451/52–1622) (= Sachüberlieferung und Geschichte. Siegener Abhandlungen zur Entwicklung der materiellen Kultur 19), St. Katharinen 1996; J OSEF RO SEN : Eine mittelalterliche Stadtrechnung - Einnahmen und Ausgaben in Basel 1360–1535. In: E RICH M ASCHKE: Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen (= Stadt in der Geschichte 2), Sigmaringen 1977, 45–68. Für den herrschaftlichen Bereich vgl. einführend M ARK M ERSIOWSKY: Die Anfänge territorialer Rechnungslegung im deutschen Nordwesten. Spätmittelalterliche Rechnungen, Verwaltungspraxis, Hof und Territorium (= Residenzenforschung 9), Stuttgart 2000. Unter anderem J OHANNES H OHLFELD: Stadtrechnungen als historische Quellen. Ein Beitrag zur Quellenkunde des ausgehenden Mittelalters. Dargelegt an dem Beispiele der Pegauer Stadtrechnungen des 14./15. Jahrhunderts (= Bibliothek der sächsischen Geschichte und Landeskunde 4,1), Leipzig 1912; PAUL S ANDER: Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs. Dargest. auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440, Leipzig 1902. Zum Beispiel I LSE E BERHARDT: „Van des stades wegene utgegeven unde betalt.“ Städtischer Alltag im Spiegel der Stadtrechnungen von Osnabrück (1459–1519) (= Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 37), Osnabrück 1996. So S EBASTIAN VON B IRGELEN: Die spätmittelalterlichen Stadtrechnungen Thüringens (1377–1525). In: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 66 (2012), 71–94, hier 71; H ELMUT F LACHENECKER, JANUS TANDECKI: Einleitung. In: D IES . (Hg.): Zahlen und Erinnerung. Von der Vielfalt der Rechnungsbücher und vergleichbarer Quellengattungen. Editionswissenschaftliches Kolloquium 2009 (= Publikationen des Deutsch-Polnischen Gesprächskreises für Quelleneditionen 5), Toru´n 2010, 7–9; W YBE JAPPE A LBERTS: Mittelalterliche Stadtrechnungen als Geschichtsquellen. In: Rheinische Vierteljahresblätter 23 (1958), 75–96. C AROLINE G ÖLDEL: Der Bamberger Stadtbauhof und dessen Schriftwesen im 15. Jahrhundert. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 123 (1987),

Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016), S. 51–69

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Einbeziehung der Stadtrechnungen bleibt die Beschäftigung mit der Bamberger Stadtgeschichte ab der Mitte des 15. Jahrhunderts unvollständig: In dieser Rechnungsserie sind zahlreiche Informationen enthalten, die aus anderen Quellen nicht zu erschließen sind und somit wichtige Ergänzungen und Hinweise liefern sowie Befunde bestätigen oder widerlegen können. Gerade zur Genese einer städtischen „Verwaltung“ in Bamberg im 15. Jahrhundert, zu deren Handlungsspielräumen sowie den Beziehungen der Stadt nach Außen bieten die Stadtrechnungen eine beachtliche Materialfülle6 . Der vorliegende Beitrag soll drei Dinge leisten. Zunächst wird zum Einstieg die Quellengrundlage skizziert (Kapitel II). Danach soll dargelegt werden, inwiefern zwischen den politischen Entwicklungen und der Entstehung der Stadtrechnungen in Bamberg ein Zusammenhang besteht (Kapitel III). Daneben zeigen die Bamberger Stadtrechnungen aber auch die Verflechtungen zwischen Stadt- und Regionalgeschichte. Dies soll an zwei Aspekten unterstrichen werden: den städtischen Kreditbeziehungen sowie dem städtischen Wehr- und Schützenwesen (Kapitel IV) im 15. und frühen 16. Jahrhundert. II. Die Bamberger Stadtrechnungen ab 1435 II.1.

Überlieferung und Form

Aus den Jahren 1435–1436 sowie 1437–1439 sind zwei Rechnungsbände überliefert, die als Stadtrechnungen bezeichnet werden können7 . Die Serie der Bamberger Stadtrechnungen setzt damit für den fränkischen Raum verhältnismäßig früh ein8 . Danach sind sie ab 1443 mit einigen Lücken, von 1471/72 bis 1769/70 beinahe vollständig erhalten9 . Von 1443 bis 1465/66 wurden Einnahmen und Ausgaben in getrennten Bänden aufgeschrieben, wobei ab 1453/54 mehrere Jahrgänge zusammen gebunden wurden. Erst ab 1471/72 wurden Einnahmen und Ausgaben jahresweise zusammengefügt, wobei immer mehrere

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223–282; J OHANN G EORG S ICHLER: Die Bamberger Bauverwaltung (Diss. Bamberg 1989) (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 41), Stuttgart 1990; C AROLINE G ÖLDEL: Die Jahresrechnungen des Bamberger Stadtbauhofes. Bemerkungen zu einem Rechnungsbestand des 15. Jahrhunderts. In: U LF D IRLMEIER , R AINER S. E LKAR , G ERHARD F OUQUET (Hg.): Öffentliches Bauen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Abrechnungen als Quellen für die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Bauwesens (= Sachüberlieferung und Geschichte 9), St. Katharinen 1991, 56–88. Ähnliches stellte Caroline Göldel bereits für die Rechnungen des Bauhofs fest, s. G ÖLDEL: Jahresrechnungen (wie Anm. 5), 62. Stadtarchiv Bamberg (StadtABa), B 7, Nummern 44 und 45. Unter anderem aus folgenden Städten sind ältere Stadtrechnungen erhalten: Würzburg ab 1362; Nürnberg ab 1377; Nördlingen ab 1399; Forchheim ab 1406; Wunsiedel ab 1418. Später im 15. Jahrhundert beginnende Stadtrechnungsserien bzw. Einzelrechnungen sind beispielsweise für Kronach (1444), Weißenburg (1455), Coburg (1473), Schweinfurt (1486) und Ochsenfurt (1493) bekannt. Natürlich handelt es sich hier um die ältesten erhaltenen Stadtrechnungen, sodass ein früheres Einsetzen der Rechnungsführung nicht ausgeschlossen werden kann. Die Informationen stammen aus: http://www.archive-in-bayern.de/server/index.html [07.12.2015], für Nürnberg aus: http://www.nuernberg.de/internet/stadtrecht/entfaltung_verfassung.html [21.08.2015]. Einnahmen 1445/46–1446/47, 1448/49–1451/52, 1453/54–1457/58, 1461/62–1466/67, sowie ab 1471/72 lückenlos; Ausgaben 1443/44, 1445/46–1447/48, 1449/50–1466/67, sowie ab 1471/72 lückenlos: StadtABa, B 7, Nummern 50 bis 114, sowie D 3001, Rep. 2, Nr. 1537 (Rechnungsjahre 1473–1475). Einzige Ausnahme sind die Jahre 1488/89 und 1489/90: Im Band Nr. 72 des Bestandes B 7 fehlt eine ganze Lage, die den Teil ab den Ungelt-Einnahmen aus der Oberen Pfarre 1488/89 bis zum gemeinen Ausgeben 1489/90 (weiter ab Martini 1489) umfasst hat.

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Jahrgänge in einen Band gebunden wurden. Auffällig ist vor allem die Lücke zwischen 1465/66 und 1471/72. Aus diesen Jahren sind weder Einnahmen noch Ausgaben erhalten. Die Rechnungen weisen ein breites Folioformat auf. Sie sind auf Papier geschrieben, mit meist schwarzen oder schwarzbraunen Tinten. Die Einbände sind durchweg aus Pergament und dürften original sein. Teilweise wurden sie in späterer Zeit beschnitten; besonders die Rückseiten der Umschläge fehlen häufig. Ihre Beschriftung ist teilweise zeitgenössisch, immer jedoch ist eine jüngere Hand aus dem späten 17. Jahrhundert zu finden. Diese Hand gehörte vermutlich einem frühen Vorläufer eines Archivars oder Registrators in Bamberg, denn es lassen sich Ordnungsziffern, Randbemerkungen und Exzerpte erkennen, die auf eine Kategorisierung der überlieferten Materialien in der Neuzeit schließen lassen. Die einzelnen Bände befinden sich zumeist in einem sehr passablen Zustand. Alle weisen abgesehen von unvermeidlichen Benutzungsspuren Wasserflecken auf, die jedoch nur bei zwei Bänden zu schwerwiegenderen Schäden führten. Ein Band (Einnahmen 1453/54– 1457/58) wurde zur Restaurierung von Wasserschäden und Zerstörungen durch frühere notdürftige Restaurierungsversuche aus dem Bestand genommen und ist bis auf Weiteres nicht benutzbar10 . Die frühen Rechnungen wurden in gut lesbaren hoch- und spätgotischen Bastardschriften niedergeschrieben, die den Amtsbuch- und Individualschriften zuzuordnen sind. In den 80er und 90er Jahren des 15. Jahrhunderts wurden die Rechnungen in einer Urkundenschrift verfasst; die neuzeitlichen Rechnungen wurden zumeist in den üblichen Kurrentschriften erstellt. Es handelt sich durchweg um Reinschriften, wobei alleine im Zeitraum von 1443 bis 1472 vermutlich drei Schreiberhände an den Rechnungen arbeiteten. Sie treten auch in anderen Quellen der kommunalen Verwaltung auf, so im alten Eidund Pflichtenbuch11 sowie im ältesten erhaltenen Ratsbuch der Jahre 1470–151912 . II.2. Aufbau und Struktur Der Band der Ausgaben 1443/44 weist fast ausschließlich Aufwendungen für den Schuldendienst auf. Einzig die Rubriken für den Lohn der Einsammler von Abgaben, für Schenkwein und Ehrbezeugungen (Auszgeben Erung vnd Schennckung) sowie Zinszahlungen an das Reiche Almosen13 , die bedeutendste bürgerliche Almosenstiftung des Spätmittelalters in Bamberg, dienten der Kategorisierung bestimmter Ausgaben. Bereits in der Ausgabenrechnung von 1445/46 kann man eine Ausbildung fest besoldeter städtischer Ämter beobachten, die zumeist noch in der Sammelrubrik Gemein auszgeben auftreten. Es handelt sich dabei um Stadtknecht, Stadtbote, Stadtschützenmeister und Stadtschreiber. Die Wochenknechte und die Sechs Einnehmer sowie der Schreiber, der zu Beginn der Entwicklung noch zusätzlich als Stadt- und Gerichtsschreiber fungierte, sind als fest be10 11 12 13

StadtABa, B 7, Nr. 62. StadtABa, B 4, Nr. 34. StadtABa, B 4, Nr. 4. Das Reichalmosen wurde 1419 von den Nürnberger Bürgern Burkhard und Katharina Helcher gestiftet. Vgl. W OLFGANG F. R EDDIG: Fürsorge und Stiftungen in Bamberg im 19. und 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 16), Bamberg 2013, 473. – Siehe auch M ARKUS B ERGER, A NTJE L UTZ, F RANZISKA S CHILKOWSKY, A NDREA S PENNINGER, M ARK H ÄBERLEIN: Das Reiche Almosen und die öffentliche Armenfürsorge in der Stadt Bamberg. In: M ARK H ÄBERLEIN , M ICHAELA S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Stiftungen, Fürsorge und Kreditwesen im frühneuzeitlichen Bamberg (= Bamberger historische Studien 13), Bamberg 2015, 47–90.

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soldete Funktionsträger erkennbar. Dass sich der Rat als verantwortlich für die öffentliche Sicherheit betrachtete, wird durch die Besoldung von Scharwächtern, die des Nachts auf den Straßen für Ordnung sorgen sollten, von Türmern auf den beiden Pfarrkirchtürmen und Torwächtern unter den vier Haupttoren der Stadt deutlich. Der Bauhof verfügte zwar über eigene Einnahmen zur Deckung des laufenden Betriebs14 , doch größere Bauvorhaben wie die Neubauten der Oberen Brücke15 (1451–1456), des Frauenhauses16 (1456), des Rathauses17 (1461–1467) und der Stadtmauer18 (ab 1449, mit Unterbrechungen bis 1503) erforderten die regelmäßige Bezuschussung durch die Stadtkasse. Die regelmäßigen Einnahmen bestanden aus dem so genannten Wochengeld und einem Teil der bischöflichen Verbrauchssteuern auf Wein, Bier und Getreide (Ungelt und Tatz). Kurzfristig benötigte Geldmittel wurden durch den Verkauf von Ewig- und Leibzinsen sowie die Aufnahme verzinster Kredite und unverzinster Darlehen beschafft. Hin und wieder kann eine Sonderauflage festgestellt werden, die vor Kriegszügen erhoben und Reysgeld genannt wurde19 . Der Beginn der Bamberger Rechnungsüberlieferung ist eng mit den rechtlichen und politischen Entwicklungen in der Stadt verbunden und ist auf konkrete Ereignisse der Stadtgeschichte zurückzuführen. Diese Verbindung wird im Folgenden knapp dargelegt20 .

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Dies waren 1442/43 im Einzelnen: Einnahmen vom städtischen Fuhrmann (Wagenknecht), Zolleinkünfte, die am Hafenkran anfielen (Kranichmeister), Mieteinkünfte aus Häusern, Marktständen und -buden, die vom Bauhof unterhalten wurden (Stadtzins), Einnahmen aus dem Bürgerrecht, an Bußgeldern, aus dem Unterhalt fremder Pferde und aus dem Verkauf von altem Holz, später auch von Steinen. Siehe StadtABa, B 5, Nr. 80 (1442/43), fol. 1 r–11 r. Ab 1446 kamen Einnahmen aus Wochengeldern hinzu, 1447 Einnahmen vom Ungelt, aus Meisterrechtserteilungen und Zahlungen von Einwohnern zur Ablösung ihres Frondienstes in den Stadtgräben. T ILMANN B REUER: Obere Brücke. In: D ERS ., R EINHARD G UTBIER (Hg.): Stadt Bamberg. Innere Inselstadt (= Die Kunstdenkmäler von Oberfranken VII, Stadt Bamberg 5), München 1990, 1233–1244, hier 1235. T HOMAS KORTH: Frauenstraße 31 (467). In: B REUER , G UTBIER (Hg.): Stadt Bamberg (wie Anm. 15), 604–608, hier 604. T ILMANN B REUER: Rathaus (sog. Altes Rathaus). In: D ERS ., G UTBIER (Hg.): Stadt Bamberg (wie Anm. 15), 247–295, hier 252–253. Vgl. S TEFAN P FAFFENBERGER: Stadtbefestigung. In: T HOMAS G UNZELMANN (Hg.): Stadtdenkmal und Denkmallandschaft 2: Das Stadtdenkmal Bamberg (= Die Kunstdenkmäler von Oberfranken III, Stadt Bamberg 1,2), Berlin/München 2012, 805–854, hier 831–844. So 1449/50: StadtABa, B 7, Nr. 59, fol. 4 r; 1475/76: StadtABa, B 7, Nr. 70, fol. 56 v. In der Folge gelten folgende Abkürzungen: StadtABa = Stadtarchiv Bamberg; StABa = Staatsarchiv Bamberg; fl. = Gulden (florenus); lb. = Pfund (librum); d. = Pfennig (denarius).

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III. Politische Entwicklungen im spätmittelalterlichen Bamberg In Bamberg wurden nach der Bistumsgründung im Jahr 1007 in kurzer Folge geistliche Stifte und ein Kloster gegründet, die wie der Dombereich jeweils einen eigenen Immunitätsbezirk21 erhielten22 . Diese befanden sich außerhalb der bereits besiedelten Fläche unterhalb des Bamberger Domberges und nahmen einen erheblichen Teil des direkten Umlands der civitas des Bischofs (Stadtgericht) ein. Neben den Stiftsherren siedelten sich auch Handwerker und Bauern innerhalb der Immunitäten an. Mit der Zeit konnte sich das Domkapitel die Herrschaft über die Immunitäten aneignen, sodass man spätestens ab der Mitte des 13. Jahrhunderts von einem Nebeneinander zweier Rechtsbereiche sprechen kann: dem Stadtgericht und den Immunitäten23 . Durch die stetige Zunahme der Einwohner wuchsen die Gebiete in baulicher Hinsicht zusammen, sodass im 15. Jahrhundert weite Teile der Siedlung links der Regnitz und auf den Regnitzinseln als zusammenhängend bebaut angesehen werden können. Dabei entwickelte sich das Stadtgericht im Bereich der Regnitzinsel und am Fuß der Domburg insgesamt gesehen zu einer tendenziell geschlossenen, kompakten urbanen Siedlung, während die Bezirke der Stifte und des Klosters St. Michael eher eine „zentrifugal-radiale Stadtentwicklung“ aufweisen24 . Während des gesamten 14. Jahrhunderts und bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts hinein kam es zu Konflikten zwischen Bischof, Bürgern und Domkapitel um den Einfluss und die Rechte im Stadtgericht und in den Immunitäten25 . Die Bischöfe waren bestrebt, die Immunitäten sowohl im Gerichtswesen, als auch im Abgaben- und Wehrwesen mit dem Stadtgericht zu vereinen und somit einen die gesamte städtische Siedlung Bamberg umfassenden Herrschaftsbereich zu schaffen. Das Domkapitel arbeitete darauf hin, diese Vereinigung zu verhindern und als dem Bischof gleichrangiger Verhandlungspartner Herrschaftsrechte in den Immunitäten zu bewahren bzw. hinzuzugewinnen. Im Gerichtswesen gelang dies, im Abgaben- und Finanzwesen mussten Zugeständnisse an Bischof und Bürger hingenommen werden. Die Bürger als Repräsentanten der Einwohner in Stadtgericht und Immunitäten bauten ihre Ansprüche stückweise aus. Es war nicht das Ziel, den Stadtherren aus der Stadt zu vertreiben und eine eigene Stadtherrschaft zu errichten, sondern Mitsprache- bzw. Mitentscheidungsrechte im Gerichts-, Abgaben- und 21

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Zu den Immunitätsbezirken in Bamberg vgl. einführend W ILHELM N EUKAM: Immunitäten und Civitas in Bamberg von der Gründung des Bistums 1007 bis zum Ausgang des Immunitätenstreits 1440. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 78 (1922/24), 189–369. – A LWIN R EINDL: Die vier Immunitäten des Domkapitels zu Bamberg. Ein Beitrag ihrer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, Verwaltung und Rechtsprechung. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 105 (1969), 213–509. T HOMAS G UNZELMANN, S TEPHAN P FAFFENBERGER: Das Bamberg Kaiser Heinrichs II. – die Stadt im 11. Jahrhundert. In: T HOMAS G UNZELMANN (Hg.): Stadtdenkmal und Denkmallandschaft 1: Stadtentwicklungsgeschichte (= Die Kunstdenkmäler von Oberfranken III, Stadt Bamberg 1,1), Berlin/München 2012, 192–201. Zur rechtlichen Aufteilung in Bamberg vgl. einführend C LAUDIA E SCH: How to Define a City: the Medieval Town(s) of Bamberg, the Citizens and the Question of Identity. In: A NN K ATHERINE I SAACS (Hg.): Citizenships and identities. Inclusion, exclusion, participation (= Transversal theme 5), Pisa 2010, 57–62. T HOMAS G UNZELMANN, S TEPHAN P FAFFENBERGER: Die Stadt zwischen Bischof, Domkapitel und Bürgern – 2. Hälfte 13. bis 1. Hälfte 15. Jahrhundert. In: G UNZELMANN (Hg.): Stadtdenkmal und Denkmallandschaft 1: Stadtentwicklungsgeschichte (wie Anm. 22), 292–297. Ebenda, 255–312.

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Wehrwesen zu erlangen. Die Folie für die Austarierung der Machtverhältnisse war das ‚gemeinsame Mitleiden‘ von Stadtgerichts- und Immunitätsbewohnern im Hinblick auf die Verbesserung der Infrastruktur und der öffentlichen Sicherheit26 . Die jeweiligen Parteien waren dabei unterschiedlich erfolgreich. Hier interessiert vor allem die Lage der Bürger. Diese erreichten 1377 zur Verbesserung der Infrastruktur (‚Stege und Wege‘) eine Beteiligung an den bischöflichen Verbrauchssteuereinnahmen27 . Für dieses Entgegenkommen bewilligte die Bürgerschaft dem Bischof die Einführung einer jährlichen Stadtsteuer von 1 000 Gulden, die von allen Laien im Stadtgericht und in den Immunitäten erhoben werden sollte28 . Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist die Ausbildung erster Strukturen einer kommunalen Finanzverwaltung (Einnehmer und Ausgeber, Rechnungsführung und -legung) anzunehmen. Die Einnehmer und Ausgeber waren verpflichtet, die Rechnung vor der gesamten Gemeinde abzulegen29 . Es bildete sich also auch das notwendige Wissen um die Verwaltung von Geldern eines Gemeinwesens heraus. Stadtgericht und Immunitäten wurden mit Ausnahme der Einnahme und Ausgabe des städtischen Anteils am Ungelt aber immer noch als prinzipiell unabhängig voneinander verstanden. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts trachteten die Bürger im Stadtgericht nach einer Ausweitung ihres Zuständigkeitsbereichs: Die Frage war, wer wann von wem Abgaben eintreiben durfte und wem die Einnahmen davon zufallen sollten. Im Jahr 1430 erreichte die Bedrohung durch die nach Westen vorrückenden Hussiten auch das Hochstift Bamberg. Eine Plünderung der Stadt konnte nur durch ein hohes Lösegeld vermieden werden30 . Zum Schutz gegen zukünftige Bedrohungen forderten die Bürger die Errichtung einer neuen Befestigung31 . Doch Bischof Friedrich III. von Aufseß (1421–1431) wollte weder sein Hoheitsrecht über das Wehrwesen in der Stadt aus der Hand geben, noch ein so kostspieliges Unterfangen selbst wagen. In dieser Lage wandten sich die Bürger an König Sigismund. Er gewährte ihnen die Ausstellung eines Privilegs, das über die städtischen Forderungen noch hinausging32 : König Sigismund hob die Freiheiten und Vorrechte der Bamberger Immunitätsgebiete und ihrer Bewohner auf. Die ökonomischen und fiskalischen Belastungen der Bevölkerung innerhalb und außerhalb dieser Gebiete sollten ausgeglichen, die Gerichtsbarkeit zugunsten des Stadtgerichts vereinheitlicht werden; eine neue Mauer sollte der Stadt gegen Kriegsereignisse Schutz 26

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C LAUDIA E SCH: Zwischen Institution und Individuum. Bürgerliche Handlungsspielräume im mittelalterlichen Bamberg (= Stadt und Region in der Vormoderne 4/Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 23), Würzburg 2016, 27–227. StadtABa, A 21, 09.10.1377. Den Bürgern in Stadtgericht und Immunitäten wurde ein Sechstel der jährlichen Einnahmen aus dem Ungelt zugesprochen, darüber hinaus 180 Gulden aus dem bischöflichen Anteil. Das Domkapitel sollte fortan ebenfalls ein Sechstel erhalten, während dem Bischof zwei Drittel verblieben. StadtABa, A 21, 24.04.1377 – 01 – A. StadtABa, A 21, 11.09.1420. Aus dieser frühen Zeit sind keine Stadtrechnungen erhalten. G UNZELMANN, P FAFFENBERGER: Stadt zwischen Bischof, Domkapitel und Bürgern (wie Anm. 24), 307. Siehe auch F RANZ M ACHILEK: Hus und die Hussiten in Franken. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 51 (1991), 15–37, hier 27–30; G ERHARD S CHLESINGER: Die Hussiten in Franken. Der Hussiteneinfall unter Prokop dem Großen im Winter 1429/30, seine Auswirkungen sowie sein Niederschlag in der Geschichtsschreibung (= Die Plassenburg 34), Kulmbach 1974, 76–83. Die erste Ummauerung stammte aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts und umfasste vor allem den damaligen bischöflichen Einflussbereich (Stadtgericht), vgl. P FAFFENBERGER: Stadtbefestigung (wie Anm. 18), 814–831. StadtABa, A 21, 23.04.1431 A.

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bieten. Bischof, Domkapitel und die Bewohner der Immunitäten wurden zur Einhaltung dieser Bestimmungen aufgefordert. Der zu bildende Rat der Stadt Bamberg und die gesworen schepfen wurden zu Loyalität gegenüber dem Bischof als ihren rechten vnd natürlichen herrn verpflichtet. Dies war nun eine Regelung, mit der der Bischof und die Bürger leben konnten. Das Domkapitel aber war nicht gewillt, seine Gerichtsrechte über die Immunitätsbereiche aufzugeben, und sah sich weiterhin berechtigt, Herrschaftsrechte in ihnen auszuüben. Es drängte Bischof Friedrich von Aufseß33 daher zur Abdankung. Nach der Wahl und Weihe Antons von Rotenhan34 zum neuen Bischof (1431–1459) verhärteten sich die Fronten und es kam 1435 zu einem Aufstand der Bürger35 . In der Folge wurde das Befestigungsrecht wieder dem Bischof zugesprochen36 . Zwar sollte das Stadtgericht das einzige Gericht in der Stadt bleiben; diese Entscheidung kam aber offenbar nicht zur Umsetzung. Hinsichtlich der prekären Schuldensituation der Stadt einigten sich Bischof, Domkapitel und Bürgerschaft nach mehrjährigen Verhandlungen 1439 auf die Erhebung eines 30. Pfennigs sowie eines Voraus von 3 Pfund Haller von allen Einwohnern im Stadtgericht und in den Immunitäten37 . Dies war anscheinend noch nicht ausreichend, denn im Jahr darauf erfolgte eine umfassendere Regelung38 . Besonderes Interesse an der Schuldentilgung dürften die Gläubiger ‚der Stadt‘ gehabt haben – diese waren vor allem Bürger aus Bamberg und Nürnberg39 . Auch in diesem Vertrag konnte oder wollte man sich noch nicht auf eine gemeinsame „Verwaltung“ von Immunitäten und Stadtgericht durch die Bürger verständigen. Nachdem sich die Lage nach der Einigung von 1440 einigermaßen beruhigt hatte, wurde den Bürgern klar, dass sie zwar vielleicht die Schulden der Stadt abbauen, aber ohne eine weitere oder lukrativere Einnahmequelle Kompetenzen im Wehr- und Finanzwesen nicht erlangen bzw. ausüben konnten. So kam es 1443 zu einer Modifizierung des Vertrags von 1440. Die Bürger im Stadtgericht und in den Immunitäten einigten sich auf die Einführung einer Abgabe aller Laien in der Stadt, um Ausgaben wegen der ‚Notdurft der Stadt‘ sowie die durch den Immunitätenstreit stark gewachsenen gemeinsamen Schulden von Stadt 33 34 35 36 37 38

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E RICH VON G UTTENBERG: Das Bistum Bamberg. Erster Teil (= Germania sacra II/1/1), Berlin/Leipzig 1937, 246–253. H ANSJOSEPH M AIERHÖFER: Anton von Rotenhan (ca. 1390–1459). In: Fränkische Lebensbilder 1 (1967), 46–71; G UTTENBERG: Bistum (wie Anm. 33), 253–261. Vgl. B ERNHARD P FÄNDTNER: Die Belagerung Bambergs im Jahre 1435. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 118 (1982), 83–99. StadtABa, A 21, 02.08.1437. StABa, A 91, Lade 466, Ziff. 1–4. StadtABa, A 21, 16.06.1440; A NTON C HROUST (Hg.): Chronik des Bamberger Immunitätenstreites von 1430–1435 mit einem Urkundenanhang (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte 1. Fränkische Chroniken 1,1), Leipzig 1907, Urkundenanhang Nr. 65, 361–368. Vgl. auch C AROLINE G ÖLDEL: Bamberger Stadtverfassung im 15. Jahrhundert im Spannungsfeld Rat – Gemeinde – Klerus. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 135 (1999), 7–44, hier 16 f. Zwischen dem 12.11.1431 und dem 10.11.1435 haben Bürgermeister, Rat und Gemeinde der Stadt Bamberg mindestens 24 Ewiggeldverträge mit einem Gesamtvolumen von 5 895 Gulden und einem Gesamtjahreszins von 393 Gulden und einen Ewiggeldvertrag (mit dem Katharinenspital) in Höhe von 3 900 böhmischen Groschen zu einem Zins von 240 böhmischen Groschen geschlossen, siehe StadtABa, A 21, 12.11.1431 I bis XI, 16.11.1431, 12.01.1433, 10.03.1433, 26.03.1433, 08.05.1433, 15.03.1435 I und II, 23.06.1435, 23.07.1435, 28.07.1435, 10.11.1435; D 3001, Rep. 1, Nr. 352, Nr. 355 und Nr. 363.

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und Immunitäten zu bezahlen und zukünftige Schulden zu vermeiden40 . Immunitäten und Stadtgericht wurden von ihren Bewohnern in fiskalischer Hinsicht also spätestens 1443 als Einheit gedacht und die Tilgung von Schulden der Immunitäten und des Stadtgerichts als gesamtstädtisches Anliegen definiert. Die Höhe der Abgabe wurde nicht festgelegt: Darüber sollte ein Gremium aus vier Ratsmitgliedern, zwei Bürgern aus der Gemeinde und sechs Immunitätsbewohnern entscheiden. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass sechs Personen, je zwei aus dem Rat, der Gemeinde und den Immunitäten, mit der Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben sowie mit Rechnungsführung und Rechnungslegung beauftragt wurden. Die Eintreibung erfolgte wöchentlich durch zwei Einnehmer, je einer für die beiden Pfarrbezirke St. Martin und Unsere Liebe Frau41 . Daraus leitet sich die Bezeichnung dieser Abgabe ab: das Wochengeld42 . Die Einnahmen aus dem Wochengeld sollten neben der Schuldentilgung auch anderen Zwecken zugeführt werden, vornehmlich der Verbesserung der Infrastruktur und dem Wehrbau. Fortan sollten je ein Baumeister aus dem Stadtgericht und einer aus den Immunitäten gemeinsam über das Bauwesen in Bamberg entscheiden43 . Im Jahr 1443 nahm mit der Einrichtung zweier Gremien (der Zwölfer des Wochengelds sowie der Sechs Einnehmer und Ausgeber) also eine Bamberger „Verwaltung“ schärfere Konturen an. Die Wochenstube unter der Leitung der Sechs Einnehmer und Ausgeber konstituierte sich als zentrale Finanzbehörde der Stadt, die der Kontrolle des Bischofs und des Domkapitels weitgehend entzogen war. Erstmals in der Bamberger Stadtgeschichte verfügten die Bewohner des Stadtgerichts und der Immunitäten über eine von allen Laien erhobene und gemeinsam verwaltete, regelmäßig erhobene Geldquelle. Ein langer Konflikt um das „gemeinsame Mitleiden“ der Immunitätsbewohner bei Ausgaben, die der gesamten Siedlung zu Gute kommen sollten, war vorerst weitgehend beigelegt. Die neue Abgabe ermöglichte Bürgermeister und Rat und den Baumeistern eine bis dahin nicht gekannte Handlungsfähigkeit. Anders als zuweilen von der Forschung behauptet44 , kann das Ende des Immunitätenstreits durch die dauerhafte Einführung des Wochengelds durchaus auch

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StadtABa, A 21, 15.01.1443 A: [. . . ] dauon vnd domit vnnsere vnd derselben Stat vnd Muntete gemeyne Schulde vnd notturfft Jerlichen erraichet .. Banne, Echte, vnd andere grosze verdurpliche Scheden ye bosz dann bisz here gescheen ist, mochten furkumen vnd vnterstannden werden [. . . ]. Über die Art der Eintreibung der Gelder schweigt die Urkunde mit Ausnahme des Einnahmeturnus; jedoch lässt sich die räumliche Aufteilung an den Rubriken der Wochenstubenrechnungen ablesen. Auch aus Basel ist die Bezeichnung „Wochengeld“ überliefert. Jedoch bezieht sich der Begriff der Basler Stadtrechnungen auf die wöchentliche Besoldung städtischer Bediensteter und somit auf Ausgabenposten. Vgl. J OSEF ROSEN: Verwaltung und Ungeld in Basel 1360–1535. Zwei Studien zu Stadtfinanzen im Mittelalter (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 77), Wiesbaden 1986, 68–72. StadtABa, A 21, 15.01.1443 A: Mere ist beredt worden, das es hinfur mit allen notdurfftigen Bewen an Brucken, Schrencken pflastern Turmen vnd Toren In allen Muntaten vngeuerlichen gleicherweise als Im Statgericht nach nutturfft gepawet, vnd gehalten werden sol, vnd vmb des willen, das sollichs also geschee, vnd vollfurt werde, So sol man hinfur allwegen einen In den Muntaten gesessen zu eine(m) Im Statgericht gesessen, Zu zweien Bawmeistern machen setzen vnd haben ongeuerde [. . . ]. So u. a. R EINDL: Immunitäten (wie Anm. 21), 240; G UDRUN H ÖHL: Städtische Funktionen Bambergs im Spiegel seiner Stadtlandschaft. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 15 (1955), 7–29, hier 13; H ERMANN N OTTARP: Bambergs Stadtentwicklung in rechtsgeschichtlicher Sicht. In: D ERS. (Hg.): Monumentum Bambergense. Festgabe für Benedikt Kraft (= Bamberger Abhandlungen und Forschungen 3), München 1955, 69–95, hier 89; N EUKAM: Immunitäten (wie Anm. 21), 241.

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als (Teil-) Erfolg der Bürger gewertet, jedenfalls nicht als deren vollständige Niederlage angesehen werden45 . Im Folgenden soll mittels zweier Aspekte der Stadtgeschichte gezeigt werden, wie sich die neue Handlungsfähigkeit des Stadtrats in den Stadtrechnungen niederschlug. Die beiden Unterkapitel sind als nicht abgeschlossen zu verstehen und sollen zu weiterer intensiver Beschäftigung mit den jeweiligen Aspekten anregen. IV. Die Bamberger Stadtrechnungen als historische Quelle Als Residenzstadt des Bischofs kamen Bamberg zentralörtliche Funktionen innerhalb seines Herrschaftsbereichs zu: Dort liefen die Stränge der Verwaltung des bischöflichen Territoriums, d. h. des Hochstifts Bamberg, zusammen. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ist eine Ausdifferenzierung und Neustrukturierung der Hochstiftsverwaltung zu beobachten, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war46 . Die Stadt lag außerdem an den Handelsstraßen zwischen Frankfurt und Prag sowie Erfurt und Nürnberg und war durch die Lage an der Regnitz ein wichtiger Umschlagplatz47 . Neben Würzburg und Eichstätt war Bamberg die dritte fränkische Bischofsstadt, umgeben von den Reichsstädten Schweinfurt und Nürnberg sowie den Residenzstädten der fränkischen Hohenzollern, Ansbach und Bayreuth, und einer Vielzahl an Klein- und Kleinststädten der Hochstifte Bamberger und Würzburg sowie der angrenzenden Territorien48 . IV.1. Kreditgeschäfte der Stadt, insbesondere mit Juden Die Erledigung der Kreditgeschäfte der Stadt außerhalb Bambergs erforderte in der Regel die Beteiligung oder Anwesenheit von Ratsherren, gerade dann, wenn höhere Summen verhandelt wurden. Unter den Orten, in denen kapitalkräftige Geldgeber aufgesucht wurden, ragt besonders Nürnberg hervor49 . Dorthin hat während des 15. Jahrhunderts eine ganze Reihe einflussreicher Bamberger Familien ihren Hauptwohnsitz verlegt, einen Seitenzweig gegründet, einen Nebenwohnsitz erworben oder wenigstens wirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt50 ; umgekehrt gab es auch einzelne Vertreter Nürnberger Familien, die sich in 45 46 47

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So auch G UNZELMANN, P FAFFENBERGER: Stadt zwischen Bischof, Domkapitel und Bürgern (wie Anm. 24), 311. G UTTENBERG: Bistum (wie Anm. 33), 62–64. W ILHELM N EUKAM: Wege und Organisation des Bamberger Handels vor 1400. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 14 (1954), 97–139; A LFRED KÖBERLIN: Der Obermain als Handelsstraße im späteren Mittelalter, Erlangen/Leipzig 1899. Zu den fränkischen Städten im Spätmittelalter vgl. W OLFRAM U NGER: Grundzüge der Städtebildung in Franken. Träger – Phasen – Räume. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 59 (1999), 57–86; H ELMUT F LACHENECKER: Landschafts- und Reichsbindung von Städten in Franken. In: J OHANNES M ERZ , ROBERT S CHUH (Hg.): Franken im Mittelalter. Francia orientalis, Franconia, Land zu Franken: Raum und Geschichte (= Hefte zur bayerischen Landesgeschichte 3), München 2004, 167–187. Zu den Geldgeschäften Nürnberger Bürger im Spätmittelalter vgl. W ERNER S CHULTHEISS: Geld- und Finanzgeschäfte Nürnberger Bürger vom 13.–17. Jahrhundert. In: S TADTARCHIV N ÜRNBERG (Hg.): Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Band 1 (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 11/I), Nürnberg 1967, 49–116. Zu den Bamberger Oberschichten vgl. einführend G USTAV F REIHERR VON H ORN: Die angesehensten und vornehmsten Bürger-Familien der Stadt Bamberg im 14. Jahrhundert. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 36 (1874), 83–103.

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Bamberg niederließen51 . Insgesamt kann für das 14. und 15. Jahrhundert eine intensive Verflechtung der Bamberger und Nürnberger Oberschichten angenommen werden. Dabei konnten sowohl alte als auch neue Familienbande sowie Geschäftsbeziehungen sicher zum Vorteil der Stadt genutzt werden. Doch es gibt in Bamberg keine städtischen Schuld- oder Zinsbücher aus dem Spätmittelalter. Das älteste städtische Zinsbuch umfasst die Jahre 1661–172152 . Aus der Zeit von 1390 bis 1563 sind im Stadtarchiv Bamberg stattdessen immerhin insgesamt 174 Schuldurkunden erhalten. Sie zeigen, auf welche Weise die Stadt Geld lieh53 . Die übliche Form war der Verkauf von Leib- und Ewigzinsen. Dabei stellte eine Person, eine Familie oder eine Institution einen Geldbetrag zur Verfügung und erhielt im Gegenzug eine jährliche Zinszahlung (teilweise in mehrere Raten aufgeteilt). Leibzinsen waren in der Regel an die Person gebunden und wurden nicht an Institutionen verkauft; die Zinszahlung endete mit dem Tod des Zinsempfängers. Ewigzinsen dagegen konnten verkauft oder übertragen werden; auch der Rückkauf durch den Schuldner war möglich. Bis 1431 verkaufte die Stadt ausschließlich Leibzinsen. Erst durch den enormen Geldbedarf im Zuge des Immunitätenstreits wurden auch Ewigzinse verkauft. In der Folge dominierten diese, ohne 51

52 53

Siehe u. a. G UNZELMANN, P FAFFENBERGER: Stadt zwischen Bischof, Domkapitel und Bürgern (wie Anm. 24), 297–301. – Zu einzelnen Familien siehe u. a. P ETER F LEISCHMANN: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert (Band 2: Ratsherren und Ratsgeschlechter) (= Nürnberger Forschungen 31/2), Nürnberg 2008, 437–456 (Groland), 457–470 (Groß), 498–544 (Haller), 601–631 (Imhoff), 671–695 (Löffelholz), 897–908 (Schlüsselfelder); B ERTOLD VON H ALLER : Die Pfinzing mit dem Adler und schwarz-gelb. Zugleich ein Beitrag zu den Geuschmid in Nürnberg und zu den Zollner-Geyer in Nürnberg. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 100 (2013), 149–226, hier 216–225; H ANS -D IETRICH L EMMEL: Herrn Brunwards Kinder zu Bamberg – Ergänzungen zur Genealogie der Bamberger Lemlein, Haller und Münzmeister im 14. Jahrhundert. In: Blätter für fränkische Familienkunde 33 (2010), 61–76; H ELMUT F RHR . H ALLER VON H ALLERSTEIN : Die Haller zu Bamberg und Nürnberg. Beiträge zur Geschichte der Familie Haller in Bamberg und Nürnberg 1. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 96 (1957/58), 101–148; H ANS PASCHKE: Besitz und Wirken der Kaulberger Haller zu Bamberg (Beiträge zur Geschichte der Familie Haller in Bamberg und Nürnberg 2). In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 96 (1957/58), 149–169. – Detaillierte Informationen und Stammtafeln zu Nürnberger und Bamberger Oberschichten sind außerdem im Internet zugänglich unter: http://geneal.lemmel.at/StammtafelnSD.html [18.08.2015]. StadtABa, B 7, Nr. 15. Vgl. einführend B ERND F UHRMANN: „Öffentliches“ Kreditwesen in deutschen Städten des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Scripta Mercaturae 37/1 (2003), 1–17, sowie H ANS -J ÖRG G ILOMEN: Städtische Anleihen im Spätmittelalter. Leibrenten und Wiederverkaufsrenten. In: C HRISTIAN H ESSE (Hg.): Personen der Geschichte – Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte. Festschrift für Rainer Christoph Schwinges zum 60. Geburtstag, Basel 2003, 165–185. – Für einzelne Städte siehe u. a. H ANS -J ÖRG G ILOMEN: Die städtische Schuld Berns und der Basler Rentenmarkt im 15. Jahrhundert. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 82 (1982), 5–64; B ERND F UHRMANN: Die öffentliche Verschuldung der Stadt Marburg 1451–1525. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 42 (1992), 103–115; D ERS .: Der rat aber war zu rat mer ewigs gelts zu verkauffen – Das kommunale Kreditwesen Nürnbergs im 15. Jahrhundert. In: H ARM VON S EGGERN , H ANS -J ÖRG G ILOMEN , G ERHARD F OUQUET (Hg.): Städtische Finanzwirtschaft am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (= Kieler Werkstücke, E 4), Frankfurt am Main u. a. 2007, 139–167; J ÜRGEN U WE O HLAU: Der Haushalt der Reichsstadt Rothenburg o. T. in seiner Abhängigkeit von Bevölkerungsstruktur, Verwaltung und Territorienbildung (1350–1450), Diss. Erlangen-Nürnberg 1965, 205–287; D IETER K REIL: Der Stadthaushalt von Schwäbisch Hall im 15./16. Jahrhundert. Eine finanzgeschichtliche Untersuchung (= Forschungen aus Württembergisch-Franken 1), Schwäbisch Hall 1967, 104–113.

Bamberger Stadtrechnungen

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die ältere Form des Leibgedings vollständig verdrängen zu können54 . Daneben konnten Bürgermeister und Rat auch Verträge über verzinste Kredite mit fester Laufzeit und sogar unverzinste Darlehen abschließen. Anhand der Schuldurkunden sind ohne Einbeziehung der Wochenstubenrechnungen zumindest Trends ablesbar, etwa zur Entwicklung der Zinsen bei Kreditgeschäften der Stadt: Vor 1400 lag der Zinssatz für von der Stadt an Christen verkaufte Leibgedinge bei 16,67 %, zwischen 1400 und 1431 bei 10 % bis 12,5 %. Ewiggelder wurden erst nach dem Privileg Sigimunds von 1431 in der Regel zu einem Zinssatz von 6,67 % verkauft. Nach 1446 pendelten sich die Zinssätze für Ewiggelder bei 5 %, für Leibgedinge zwischen 9,09 % und 11,11 % ein. Die Zinssätze für diese beiden Arten der Geldleihe blieben damit von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis mindestens in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts stabil. Ausnahmeregelungen waren jedoch immer möglich. Vor allem, wenn die Stadt dringend frisches Geld benötigte, nahmen die Ratsherren durchaus ungünstigere Zinssätze in Kauf55 oder liehen Geld bei Juden56 . Für diese galten andere Zinssätze bei den Kreditgeschäften der Stadt als für Christen, was bei längerem Zahlungsrückstand für den Schuldner zu einer kostspieligen Angelegenheit werden konnte. Daher war die Stadt Bamberg ab dem Frühjahr 1448 bestrebt, ihre Schulden bei verschiedenen Juden wieder abzulösen, und schickte dazu den Bürgermeister Heinz Schultheiß57 und Hans Herr nach Nürnberg58 . Zuvor waren in den Jahren 1444 bis 1447 mindestens fünf Schuldgeschäfte mit Juden mit einem Gesamtvolumen von 3 670 fl. abgeschlossen worden (siehe Tabelle 1 auf der nächsten Seite). Isaak von Königsberg aus Ebern und Seligman Pack aus Nürnberg gewährten am 27. Februar 1444 mit 1 550 fl. den größten Kredit59 . Der Stadt wurde eine zinsfreie Rückzahlungsfrist von einem Jahr eingeräumt, doch bei Verzug sollten wöchentlich 10 fl. als Zins fällig werden. Dies entsprach einem effektiven Jahreszins

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Noch 1537 hat die Stadt einen Leibzins verkauft, siehe StadtABa, A 21, 21.08.1537. So z. B. kaufte Heinz Keyl aus Bamberg 1435 einen Ewigzins von 50 fl. jährlich zu 600 fl. (8,33 %), StadtABa, A 21, 23.06.1435. Dieselben Konditionen galten für Els Dornpuschin aus Hammelburg 1437, StadtABa, A 21, 20.05.1437. Hans Warmut und seine Frau Katharina erwarben 1444 einen jährlichen Ewigzins von 68 fl. zu 1 000 fl. (6,8 %), StadtABa, A 21, 07.05.1444. Schlechtere Konditionen bei Leibzinsen nahmen Bürgermeister und Rat z. B. bei Angehörigen des Niederadels und des Klerus in Kauf: Ritter Heinz von Lichtenstein kaufte 1449 einen jährlichen Leibzins von 60 fl. für 480 fl. (12,5 %), StadtABa, B 7, Nr. 58, fol. 3 r. Pfarrer Conrad Kradel aus Poppendorf erzielte gar einen Zinssatz von 13 %, indem er einen jährlichen Leibzins von 20 fl. für 154 fl. Kapital erwarb, StadtABa, B 7, Nr. 58, fol. 37 r. Zur Geschichte der Juden in Bamberg im Mittelalter siehe u. a. H ANS -J ÜRGEN W UNSCHEL: Die Juden in Bamberg im Mittelalter. In: R EGINA H ANEMANN (Hg.): Jüdisches in Bamberg (= Schriften der Museen der Stadt Bamberg 51), Petersberg 2013, 49–56; D ERS .: Art. Bamberg. In: A RYE M AIMON (Hg.): Germania Judaica. Band III: 1350–1519. 1. Teilband: Ortschaftsartikel Aach-Lychen, Tübingen 1987, 73–81. – Zur Geschichte der Juden im Hochstift Bamberg: K ATHRIN G ELDERMANS -J ÖRG: „Als verren unser geleit get“. Aspekte christlich-jüdischer Kontakte im Hochstift Bamberg während des späten Mittelalters (= Forschungen zur Geschichte der Juden: Abteilung A, Abhandlungen 22), Hannover 2010; A DOLF E CKSTEIN: Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstbistum Bamberg, Bamberg 1898. Als Bürgermeister belegt am Sonntag nach Jubilate [21.04.] 1448: StadtABa, B 5, Nr. 80 (1447), fol. 45 r. StadtABa, B 7, Nr. 57, fol. 66 v: Item dedimus Heinczen Schultheissen vnd hannsenn heren von geheisz des Ratts als sie ritten gen nürbergk von der Stat notturff wegen der Stat gelt ausz zubringen da mit man von den Juden kumen mochte actum vt Supra [Samstag nach dem suntag letare] vi gulden. Eine detaillierte Darstellung des Inhalts der Schuldurkunde bei G ELDERMANS -J ÖRG: Aspekte (wie Anm. 56), 141–142.

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Tabelle 1: Kreditverträge der Stadt Bamberg mit Juden 1444–1447 Frist zur Rückzahlung

Kreditor

Herkunft

Kredit

Isaak von Königsberg / Seligmann Pack Joseph Jud

Ebern / Nürnberg

1 550 fl. rh.

12 Monate

Neustadt/ Aisch Eltmann

470 fl. rh. 650 fl. rh.

12 Monate

Bamberg

400 fl. rh.

8 Monate

Lichtenfels

600 fl.

Mose Jud

Strölein Jud von Königsberg Gollin Jüdin, Frau des Michel Jud a b c d e

Eff. Jahreszins

Datum der Schuldurkunde

Bei Verzug wöchentlich 10 fl.

33,55 %

1444 02 27a

Wöchentlich 2 d. pro fl. Wöchentlich 3 Heller pro fl. Bei Verzug wöchentlich 2 d. pro fl. Wöchentlich 2 d. pro fl.

65 %

1445 05 16b

48,75 %

1445 06 25c

65 %

1446 03 17d

65 %

1447 03 27e

Zinssatz

StadtABa, A 21, 27.02.1444. StadtABa, A 21, 16.05.1445. StadtABa, A 21, 25.06.1445. StadtABa, A 21, 17.03.1446. StadtABa, A 21, 27.03.1447 – 02.

von 33,55 % und lag deutlich unter den Zinssätzen der anderen Verträge60 . Tatsächlich verbuchte die Wochenstube bis Weihnachten 1445 eine Auszahlung von 260 fl. und für die 23 Wochen von Weihnachten 1445 bis Christi Himmelfahrt (26.05.) 1446 140 fl.61 Beide Summen sind niedriger als die Beträge, die eigentlich hätten gezahlt werden müssen, wenn die angesetzten 10 fl. pro Woche tatsächlich zu Grunde gelegt worden wären. Anscheinend konnte sich der Rat mit Isaak von Königsberg (zumindest vorläufig) auf eine Abschlagszahlung einigen; darauf weist auch der Vermerk in der Rechnung hin (als sich der Rat mit ihm vertragen hat)62 . Kurz darauf konnte die Stadt diesen Kredit umschulden, indem sie die Summe beim Bischof von Würzburg zu einem Jahreszins von 136 fl. (= 8,8 %) lieh63 . Heinz Schultheiß und Hans Herr erledigten ihren Auftrag erfolgreich: Der Eintrag über die Auszahlung eines Zehrgelds ist auf den 9. März zu datieren (Samstag nach dem Sonntag Lätare 1448); am 25. Mai und am 18. Juni 1448 wurden jeweils drei Kreditge-

60

61 62 63

Für die Berechnungen wurde für die Zeit zwischen 1445 und 1447 ein durchschnittlicher Guldenkurs von 160 d. angenommen. Noch 1449/50 wurde genau dieser Kurs verwendet (StadtABa, B 5, Nr. 80 [1449], fol. 60 r). In den folgenden Jahrzehnten verschlechterte sich der Guldenkurs zunehmend, bis er sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bei 240 bis 252 Pfenningen stabilisierte. Näheres bei H ANSHEINER E ICHHORN: Der Strukturwandel im Geldumlauf Frankens zwischen 1437 und 1610. Ein Beitrag zur Methodologie der Geldgeschichte (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 58), Wiesbaden 1973, 12–48. StadtABa, B 7, Nr. 53, fol. 43r. Ebenda. StadtABa, B 7, Nr. 55, fol. 36 v.

Bamberger Stadtrechnungen

63

schäfte mit Nürnberger Bürgern mit einem Gesamtvolumen von 4 130 fl. abgeschlossen64 . Während die drei Geschäfte vom 25. Mai als Kredite mit einer Laufzeit von zehn Jahren befristet wurden, waren die drei vom 18. Juni unbefristete Ewigzinse. Der Erlös aus diesen sechs Verträgen konnte den Betrag der großen Judenschuldentilgung im Rechnungsjahr 1447/48 nicht ganz decken: Insgesamt wurden für die Abzahlung von Krediten („Hauptsummen“), Zinsen und verpfändeten Judenschulden 6 629 fl. 1 777 lb. 10 d. entrichtet65 . Neben den durch Schuldurkunden belegten Krediten lassen sich weitere finanzielle Beziehungen der Stadt zu Juden innerhalb und außerhalb des Hochstifts nachweisen66 . Besonders ihre Funktion als „Instrument der Kreditabsicherung“67 bei Geschäften zwischen der Stadt Bamberg und Christen kann jedoch erst durch eine detaillierte Analyse der Bamberger Stadtrechnungen herausgearbeitet werden. Eine umfangreiche Auswertung der Wochenstubenrechnungen in Kombination mit den erhaltenen Schuldurkunden würde außerdem Rückschlüsse auf die Zahlungs(un)fähigkeit der Stadt zu verschiedenen Zeiten, Veränderungen im Geldbedarf der Stadt, Herkunft und sozialen Stand der Geldgeber (Bürger, Handwerker, Juden, Klerus und Institutionen der Geistlichkeit und der Wohlfahrt) sowie die Bedeutung der Stadt als Akteur auf dem Geldmarkt innerhalb des städtischen und des hochstiftischen Rahmens (und darüber hinaus) ermöglichen. IV.2.

Wehrwesen

Neben dem Erwerb und der Erweiterung städtischer Privilegien war die Abwehr äußerer Bedrohungen wohl die kostenintensivste Aufgabe einer kommunalen Verwaltung68 . Neben einzelnen verstreuten Dokumenten geben auch die Wochenstubenrechnungen Aufschluss über das Wehrwesen der Stadt Bamberg im 15. Jahrhundert. Aus ihnen werden die Reaktionen der Stadtverantwortlichen auf Bedrohungen von Außen ersichtlich, wie anhand zweier Beispiele gezeigt werden kann.

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Die Verträge im Einzelnen: Martin Haller d. Ä. 300 fl. Kredit auf zehn Jahre zu 15 fl. Zins jährlich (5 %), StadtABa, A 21, 25.05.1448 – 01; Peter Mendel d. Ä. 630 fl. Kredit auf zehn Jahre zu 30 fl. Zins jährlich (4,76 %), StadtABa, A 21, 25.05.1448 – 03; Jorg Keypper d. Ä. 1 200 fl. Kredit auf zehn Jahre zu 60 fl. Zins jährlich (5 %), StadtABa, A 21, 25.05.1448 – 05; Conrad Paumgartner d. Ä. 600 fl. zu einem Ewigzins von 30 fl. jährlich (5 %), StadtABa, A 21, 18.06.1448 – 02; Burkhardt Pesler d. Ä. 1 000 fl. zu einem Ewigzins von 50 fl. jährlich (5 %), StadtABa, A 21, 18.06.1448 – 03; Sebald Ellwanger 400 fl. zu einem Ewigzins von 20 fl. jährlich (5 %), StadtABa, A 21, 18.06.1448 – 04. E CKSTEIN: Geschichte (wie Anm. 56), 232 f. Vgl. G ELDERMANS -J ÖRG: Aspekte (wie Anm. 56), 139–146. Nach G ERHARD M ENTGEN: Die Juden und das Einlager als Instrument der Kreditabsicherung im 14. Jahrhundert. In: G ABRIELE B. C LEMENS (Hg.): Schuldenlast und Schuldenwert. Kreditnetzwerke in der europäischen Geschichte 1300–1900 (= Trierer historische Forschungen 65), Trier 2008, 53–66. Vgl. einführend G ERHARD F OUQUET: Die Finanzierung von Krieg und Verteidigung in oberdeutschen Städten des späten Mittelalters (1400–1500). In: B ERNHARD K IRCHGÄSSNER , G ÜNTER S CHOLZ (Hg.): Stadt und Krieg (= Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung 15), Sigmaringen 1989, 41–82.

64

Christian Chandon

Im Vorfeld des Süddeutschen Städtekriegs69 1449/50 ist eine Zunahme der städtischen Ausgaben für Bewaffnung sowie generell für das Wehrwesen feststellbar70 . So lassen sich schon 1447/48 unter anderem Ausgaben für Armbrustbolzen des Pfeilstickers in Eggolsheim (bei Forchheim)71 , außerdem wiederholt für Blei, Kugeln, Pulver, Salpeter und Schwefel sowie für 35 Pulverbeutel72 und für 100 Ladeisen für Handbüchsen73 nachweisen. 1446 wurde ein neuer Stadtschützenmeister74 eingestellt, 1450 ebenso ein Stadtsöldner75 , der im Fall des Einsatzes von Söldnern den Haufen führen sollte. Der Repräsentation der städtischen Aufgebote im Feld, wenn sie dann ausziehen sollten, diente vermutlich ein Banner. Zwei Ausgaben aus dem Frühjahr 1448 geben Auskunft darüber: Es wurde ein Futteral angeschafft, in das das Banner zum Transport gelegt werden konnte76 . Das Banner selbst wurde durch den Maler Cuntz Pleydenwurff gefertigt77 . Er ist vermutlich der Großvater des Wilhelm Pleydenwurff78 , welcher mit seinem Stiefvater Michael Wolgemut die Holzschnitte der Schedelschen Weltchronik angefertigt hat.

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Vgl. grundlegend G ABRIEL Z EILINGER: Lebensformen im Krieg. Eine Alltags- und Erfahrungsgeschichte des süddeutschen Städtekriegs 1449/50 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 196), Stuttgart 2007. Siehe auch G ABRIEL Z EILINGER: Kleine Reichsstadt – großer Krieg. Der süddeutsche Städtekrieg 1449/50 im Spiegel der Windsheimer Stadtrechnungen. In: H ARM VON S EGGERN , H ANS -J ÖRG G ILOMEN , G ERHARD F OUQUET (Hg.): Städtische Finanzwirtschaft am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (= Kieler Werkstücke, E 4), Frankfurt a. M. u. a. 2007, 169–181. StadtABa, B 7, Nr. 57, fol. 45 v und 50 v. StadtABa, B 7, Nr. 57, fol. 57 r: Item dedimus vllein mettendorffer von geheisz des Ratts fur xxxv pulfer peutel ie ein peutel vmb vii dn actum vt Supra facit viii lb v d. StadtABa, B 7, Nr. 59, fol. 59 r: Item dedimus Cunczen smit Inder langassen fur ein hundert ladeyssen zu den hantpuschen ie fur eins funf heller actum am dinstag nach sand merteins tagk viii lb x d. StadtABa, B 7, Nr. 55, fol. 78 v. StadtABa, B 7, Nr. 61, fol. 37 r. StadtABa, B 7, Nr. 57, fol. 67 r: Item dedimus dem vlrich barbirer von geheisse des Ratts fur ein futer zu der Stat panir actum am montag nach dem Suntag Judica iiiii lb. StadtABa, B 7, Nr. 57, fol. 69 r: Item dedimus Cunczen pleidenwurff maler von geheissz des Ratts von der Stat paner zu machen actum am mitwochen nach dem Suntag cantate xvii guldein. In den Jahren 1449 und 1450 ist Conrad Pleydenwurff darüber hinaus auch als Bürgermeister belegt, siehe StadtABa, B 7, Nr. 59, fol. 13 v und Nr. 61, fol. 37 v. G ERHARD W EILANDT: Pleydenwurff. In: NDB 20 (2001), 538–540; ROBERT S UCKALE: Die Erneuerung der Malkunst vor Dürer, Band 1 (= Historischer Verein für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg, Schriftenreihe 44,1), Petersberg 2009, 103–104.

Bamberger Stadtrechnungen

65

Das Rüstzeug diente im Verteidigungsfall zur Ausrüstung bürgerlicher Schützen79 . Diese waren im Spätmittelalter ein elementarer Bestandteil städtischen Wehrwesens80 . Bürgerliche Schützen kamen hauptsächlich bei der Verteidigung der eigenen Stadt zum Einsatz, konnten jedoch auch für kurze Zeit im Feld aufgeboten werden. Üblicherweise unterstützte der Stadtrat die Armbrust- und Büchsenschützen finanziell, was sich besonders an den städtischen Rechnungen ablesen lässt. Auch in Bamberg ist dies im 15. Jahrhundert festzustellen81 . Zunächst förderte der Rat regelmäßige lokale Übungsschießen, die während der Sommermonate von etwa Mai bis Oktober sonntäglich stattfanden. Vermutlich seit 1402, also noch weit vor der Einführung des Wochengelds, erhielten die Schützen eine regelmäßige Unterstützung82 . Der Hinweis darauf ist jedoch nur auf der Umschlaginnenseite der ältesten erhaltenen Stadtrechnung von 1435 erhalten; weitere Nachweise fehlen. Somit bleibt unklar, aus welchen Geldern und durch welche Personen die Schützen diese Unterstützung erhielten. Erst seit 1437 ist die jährliche Förderung durch den Rat nachweisbar83 . Außerdem wurden Sachpreise für 79

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Grundlegende Einführung, allerdings mit einem regionalen Schwerpunkt im nordwestlichen mittelalterlichen Reich, ist immer noch T HEODOR R EINTGES: Ursprung und Wesen der spätmittelalterlichen Schützengilden (= Rheinisches Archiv 58), Bonn 1963. Im November 2015 wurde an der École des Hautes Études en Sciences Sociales eine umfangreiche Dissertation zum Schützenwesen im süddeutschen spätmittelalterlichen Reich (15.–17. Jahrhundert) vorgelegt, die jedoch die bayerischen Herzogtümer und Teile Frankens weitgehend ausklammert: J EAN -D OMINIQUE D ELLE L UCHE: Le plaisir des bourgeois et la gloire de la ville. Sociétés et concours de tir dans les villes du Saint-Empire XVe –XVIe siècles (Thèse EHESS), Paris 2015. Daneben existiert eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen, deren Aussagekraft teilweise stark schwankt. Von diesen sind aus dem regionalen Umfeld der Stadt Bamberg u. a. anzuführen: E RNST KOBER: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Königlich Privilegierten Hauptschützengesellschaft Ansbach, Ansbach 1962; H UBERTUS H ABEL: Schützen im spätmittelalterlichen Coburg. In: R EINHARDT B UTZ , G ERT M ELVILLE (Hg.): Coburg 1353. Stadt und Land Coburg im Spätmittelalter; Festschrift zur Verbindung des Coburger Landes mit den Wettinern vor 650 Jahren bis 1918 (= Schriftenreihe der Historischen Gesellschaft Coburg e. V. 17), Coburg 2003, 283–294; L EOPOLD BACHMANN: Zum 500jährigen Jubiläum der kgl. priv. Schützengesellschaft Kitzingen, Kitzingen 1908.; G USTAV B UB: Geschichte des Feuerschützenwesens zu Nürnberg. In: E MIL R EICKE (Hg.): Festschrift zur Feier des fünfhundertjährigen Bestehens der Hauptschützengesellschaft Nürnberg 1429–1929, Nürnberg 1929, 11–129. Zum städtischen Wehrwesen siehe u. a. B. A NN T LUSTY: The Martial Ethic in Early Modern Germany. Civic Duty and the Right of Arms (= Early Modern History: Society and Culture), New York 2011; B RIGITTE W ÜBBEKE -P FLÜGER: Sicherheitsorganisation und Wehrwesen niedersächsischer Städte am Ausgang des Mittelalters. In: M ATTHIAS P UHLE (Hg.): Hanse – Städte – Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500. Teil 1: Aufsätze (= Magdeburger Museumsschriften 4,1), Magdeburg 1996, 173–181; B RIGITTE W ÜBBEKE: Das Militärwesen der Stadt Köln im 15. Jahrhundert (Diss. Bonn 1989) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 91), Stuttgart 1991; B EATE S AUERBREY: Die Wehrverfassung der Stadt Braunschweig im Spätmittelalter (= Braunschweiger Werkstücke, Reihe A 2775), Braunschweig 1989; M ARTIN ROMEISS: Die Wehrverfassung der Reichsstadt Frankfurt a. M. im Mittelalter. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 41 (1953), 5–63; K ARL S AUR: Die Wehrverfassung in schwäbischen Städten des Mittelalters. Straßburg, Basel, Augsburg, Ulm, Rottweil, Überlingen, Villingen, Freiburg i. Br. 1911. Zum Schützenwesen in Bamberg vgl. C HRISTIAN C HANDON: Schützen zwischen Stadtverteidigung und Geselligkeit: Vier gedruckte Ladschreiben des Bamberger Rates aus dem späten 15. Jahrhundert. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 146 (2010), 109–138, hier 112–118; K ARL A RNETH: 650 Jahre Schützengesellschaft in Bamberg. Ein Beitrag zur Geschichte des fränkischen Schützenwesens. In: Fränkische Blätter 8/5 (1956), 17 f. StadtABa, B 7, Nr. 44, Umschlagrückseite: Dominicam post Michaelis hat man angehebt den schutzen gelt zugeben anno Mcccc secundo. StadtABa, B 7, Nr. 45, fol. 16 r: Item dedimus den Schieszgesellen das sich gepurt ein gantzes Jare nemlichen auf yeden Suntag xvi d facit Intoto .. vnd treten auf Suntag nach Margarete Anno etc. xxxviiio wider an zunemen xxvii lb xxii d.

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Christian Chandon

lokale Wettschießen gestiftet84 . Spätestens ab 1449 erhielten die Schützen im Voraus eine jährliche Zahlung von 4 fl. dorumb sie das Jar schiszen sullen. Bis 1461 handelte es sich dabei um Armbrustschützen, vielleicht auch um Büchsenschützen. In diesem Jahr endet jedenfalls die Zahlung der 4 fl. an „die Schützen“. Sie wird durch einen wöchentlichen Zuschuss für die Büchsenschützen abgelöst, der 1460 1 lb. wöchentlich, 1461 1,5 lb. und ab 1462 2 lb. betrug und nicht im Voraus ausbezahlt wurde85 . Im Jahr 1498 wurde diese Unterstützung auf 2,5 lb. wöchentlich erhöht86 . Ab dem Rechnungsjahr 1515/16 erhielten zudem auch die Pirschbüchsen-Schützen eine jährliche Zahlung von 2 fl.87 Neben den örtlichen Übungsschießen veranstalteten die Schützen auch Schützenfeste88 , zu denen sie fremde Schützen einluden. Der Nachweis über die tatsächliche Abhaltung eines Schützenfestes mit Beteiligung fremder Schützen gelingt häufig nur durch entsprechende Einträge in den Stadtrechnungen über die Bezuschussung durch den Rat, indem dieser Lebensmittel (Wein, Brot, Käse) zur Verfügung stellte89 . Zwischen 1446 und 1513 fanden nach derzeitigem Forschungsstand 21 Schützenfeste in Bamberg statt. Von diesen sind 16 auch in den Wochenstubenrechnungen nachweisbar (siehe Tabelle 2 auf der nächsten Seite). Es ist denkbar, dass sich Nachweise über Bamberger Schützenfeste auch andernorts durch fremde Stadtrechnungen, Ratsprotokolle, Chroniken, Briefeingangsregister oder Einladungsschreiben feststellen lassen, vor allem zwischen 1467 und 1476. Die Einträge in den Bamberger Wochenstubenrechnungen teilen nur selten mit, aus welchen Städten Teilnehmer erschienen: Beim Büchsenschießen 1487 nahmen Forchheimer teil90 , 1504 schossen Büchsenschützen aus Hallstadt in Bamberg91 . Doch alleine der Hinweis auf abgehaltene Schützenfeste kann ein wertvoller Fingerzeig sein, um den Teilnehmerkreis aus anderen Quellen zu erschließen. Zum Armbrustschießen 1467 wurden Einladungen an Nördlingen und Kitzingen verschickt92 , zum großen Armbrustschießen 1479 lud man unter anderem Schützen aus Straßburg und Mergentheim ein93 . Am besten ist das Armbrust- und Büchsenschießen im August 1500 durch einen mehrseitigen Eintrag

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89 90 91 92 93

StadtABa, B 7, Nr. 45, fol. 10 r: Item dedimus vmb ein weiszen Barchat den Schieszgesellen dorumb zuschiessen dominica post Mathei viiii gulden xxiiii d. StadtABa, B 7, Nr. 64, fol. 170 r (1460); StadtABa, B 7, Nr. 66, fol. 35 r (1461), fol. 82 r-82 v (1462). StadtABa, B 7, Nr. 73, fol. 322 r. StadtABa, B 7, Nr. 75, fol. 152 r. Zu spätmittelalterlichen Schützenfesten siehe u. a. J EAN -D OMINIQUE D ELLE L UCHE: Schützenfeste und Schützengesellschaften in den Residenzstädten: Konfigurationen zwischen Stadt und Fürsten im 15. und 16. Jahrhundert (Pforzheim, Würzburg, Ansbach, Stuttgart). In: JAN H IRSCHBIEGEL , W ERNER PARAVICINI , K URT A NDERMANN (Hg.): In der Residenzstadt. Funktionen, Medien, Formen bürgerlicher und höfischer Repräsentation (= Residenzforschung. Neue Folge: Stadt und Hof 1), Ostfildern 2014,157– 174; K AZUHIKO K USUDO: Ein Beitrag zur Geschichte des „Freischiessens“ in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 10/3 (1996), 34–49; T HOMAS S CHNITZLER: Die Kölner Schützenfeste des 15. und 16. Jahrhunderts. Zum Sportfest in „vormoderner“ Zeit. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 63 (1992), 127–142. U. a. StadtABa, B 7, Nr. 55, fol. 63 r. StadtABa, B 7, Nr. 72, fol. 210 r. StadtABa, B 7, Nr. 75, fol. 22 r. C HRISTIAN M AYER: Gedenkblatt zur Feier des Jubelfestes der Schützengesellschaft der Stadt Nördlingen. 9.–13. Juni 1900, Nördlingen 1900, 26; BACHMANN: Schützengesellschaft Kitzingen (wie Anm. 79), 70. StA Ludwigsburg, B 243 Bü 44 a; M ARCUS O STERMANN: Ein Straßburger Schützenbrief aus dem Jahr 1494. In: Gutenberg-Jahrbuch 73 (1998), 131–138, hier 138.

Bamberger Stadtrechnungen

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Tabelle 2: Schützenfeste in Bamberg 1446–1513 Jahr

Datum aufgelöst

Waffen

1446 1450

1451 1453 1459 1462 1464 1467

29.09. 01.10.–07.10. 20.10. 10.10. 30.08.

Armbrust

1476 1477 1479

22.08.

Armbrust

1482 1483 1484 1486 1487 1488 1500 1504 1505 1513

26.08.-28.08. 30.08. 24.10. 04.09. 21.10. 30.08. 24.08. Juli 31.08. 04.-05.09.

Armbrust

Armbrust Armbrust Büchse Armbrust + Büchse Armbrust + Büchse Büchse Armbrust Armbrust + Büchse

Fundstelle StadtABa, B 7, Nr. 55, fol. 63 r K ARL -S IGISMUND K RAMER: Volksleben im Hochstift Bamberg und im Fürstentum Coburg (1500 – 1800). Eine Volkskunde auf Grund archivalischer Quellen (= Beiträge zur Volkstumsforschung 15), Würzburg 1967, 72. StadtABa, B 7, Nr. 61, fol. 40 r StadtABa, B 7, Nr. 63, fol. 59 r StadtABa, B 7, Nr. 64, fol. 107 v StadtABa, B 7, Nr. 66, fol. 64 r StadtABa, B 7, Nr. 66, fol. 163 r BACHMANN: Schützengesellschaft Kitzingen (wie Anm. 79), 70. StadtABa, B 7, Nr. 70, fol. 94 r StadtABa, B 7, Nr. 70, fol. 194 v Staatsbibliothek Bamberg, VI F 26; Staatsarchiv Ludwigsburg, B 243 Bü 44 a StadtABa, B 7, Nr. 72, fol. 28 r StadtABa, B 7, Nr. 72, fol. 62 v, 70 r, 70 v StadtABa, B 7, Nr. 72, fol. 98r StadtABa, B 7, Nr. 72, fol. 184 r StadtABa, B 7, Nr. 72, fol. 210 r Staatsbibliothek Bamberg, VI F 27 StadtABa, B 4, Nr. 3, fol. 65 v–67 v StadtABa, B 7, Nr. 75, fol. 22 r StadtABa, B 7, Nr. 75, fol. 52 v StadtABa, B 7, Nr. 76, fol. 67 v

im Ratsprotokoll dokumentiert94 : Zu diesem Schießen wurden Einladungen an 44 Städte und Orte in den Hochstiften Bamberg und Würzburg sowie an sechs Grafen, vier Ritter, sieben weitere Adlige und den Bischof von Bamberg samt Hofgesinde verschickt. Der Einladung folgten 101 Schützen aus folgenden Orten: Bamberg (35), Zeil (5), Kronach (3), Schleusingen (2), Gerolzhofen (2), Haßfurt (4), Wertheim (4), Volkach (3), Nürnberg (9), Lichtenfels (1), Dettelbach (2), Staffelstein (3), Baunach (2), Coburg (4), Schweinfurt (12), Ebern (3), Römhild (2), Ochsenfurt (3), Herzogenaurach (1) und Strullendorf (1). Daneben nahmen noch zwei Adelige ohne „Hauptort“ teil, Johann von der Thann und Ritter Heinrich von Redwitz. Drei weitere Adelige traten für „ihre“ Orte an: Domherr Hans von Redwitz und Claus von Königsfeld für Bamberg sowie Amtmann Herrmann von Schneeberg für Zeil. Neben den sonntäglichen Übungsschießen und den Schützenfesten mit Beteiligung fremder Schützen unterstützte der Rat auch die Teilnahme Bamberger Schützen an auswärtigen Schießen. So erhielten Schützen Zehrgeld für den Besuch der Schießen in Forchheim

94

StadtABa, B 4, Nr. 3, fol. 65 v-67 v.

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Christian Chandon

(1445)95 , Ansbach (1454)96 , Würzburg (1455)97 und Nürnberg (1458)98 . Auffällig ist, dass nach dem Nürnberger Schützenfest keine weiteren Zehrgelder für den Besuch auswärtiger Schützenfeste in den Wochenstubenrechnungen eingetragen wurden, obwohl Bamberger Schützen mindestens in Neustadt/Aisch (1475)99 , Stuttgart (1501)100 und Iphofen (1502)101 teilgenommen haben. Zumindest für das Schießen in Iphofen wurde den sechs dorthin ziehenden Armbrustschützen auch ein Zehrgeld von 3 fl. bewilligt102 . Die finanzielle Unterstützung der Schützen durch die Wochenstube hielt sich insgesamt gesehen in einen relativ überschaubaren Rahmen. Die Stiftung von Sachpreisen für lokale Wettschießen, jährliche bzw. wöchentliche Zuschüsse, die Förderung der Abhaltung von Schützenfesten mit fremden Schützen sowie des Besuchs auswärtiger Schützenfeste zeigt aber, dass der Rat sich für die Kontrolle der heimischen Schützen zumindest verantwortlich fühlte und damit eine zentrale kommunale Aufgabe wahrnahm. V.

Zusammenfassung

Trotz ihrer dichten Überlieferung mit nur wenigen Lücken zwischen 1435 und 1770 und ihres exzellenten Erhaltungszustandes wurden die Bamberger Stadtrechnungen von der stadt- und regionalgeschichtlichen Forschung bisher nur wenig beachtet. Sie setzen mit dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um politischen Einfluss und Handlungsspielräume zwischen dem Bischof, dem Domkapitel und den Bürgern in Bamberg ein: dem Immunitätenstreit 1431–1440. Mit der Einführung des Wochengelds 1443 verfügte der Stadtrat erstmals über eine Einnahmequelle, die dauerhaft von allen Laien im Stadtgericht und in den Immunitäten erhoben und gänzlich der Stadt zugeführt wurde. Sie führte zur Anlage der Wochenstubenrechnungen sowie der Ausbildung fest besoldeter städtischer Ämter und ermöglichte eine neue Handlungsfähigkeit der Stadtverantwortlichen. Regelmäßig waren Bürgermeister und Rat mit der Beschaffung von Finanzmitteln für die Stadt beschäftigt. Nachdem der Immunitätenstreit zu einer starken Verschuldung der Stadt geführt hatte und die Einnahmen aus dem Wochengeld zur Rückzahlung nicht ausreichend waren, sahen sich die Stadtverantwortlichen gezwungen, zwischen 1444 und 1447 mehrere Kreditgeschäfte mit Juden abzuschließen. Wie ein Eintrag in den Wochenstubenrechnungen des Rechnungsjahrs 1447/48 ausweist, sollten diese durch ihre hohen Zinsen sehr kostspieligen Verträge durch Gelder Nürnberger Bürger umgeschuldet werden. Die Stadt war darin offenbar erfolgreich, was sich am Abschluss von drei Kreditund drei Ewiggeldverträgen im Frühjahr 1448 ablesen lässt. 95 96 97 98 99 100

StadtABa, B 7, Nr. 53, fol. 83 v. StadtABa, B 7, Nr. 63, fol. 30 r. StadtABa, B 7, Nr. 63, fol. 119 v. StadtABa, B 7, Nr. 64, fol. 5 v. StadtABa, B 7, Nr. 70, fol. 24 r K URT H ANNEMANN: Das Stuttgarter Freischießen des Jahres 1501 im Spiegel der „Rhetorica“ des Pforzheimer Stadtschreibers Alexander Hugen von 1528. In: W ERNER F LEISCHHAUER , WALTER G RUBE , PAUL Z INSMAIER (Hg.): Neue Beiträge zur südwestdeutschen Landesgeschichte. Festschrift für Max Miller (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B 21), Stuttgart 1962, 112–143, hier 137. 101 StadtABa, B 4, Nr. 3, fol. 105 r. 102 Ebenda.

Bamberger Stadtrechnungen

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Ein Großteil der städtischen Finanzmittel floss in die Abwehr äußerer Bedrohungen. Wie die Wochenstubenrechnungen zeigen, stockte die Stadt Bamberg ihr Rüstzeug im Vorfeld des Süddeutschen Städtekriegs 1449/50 auf. Ebenso wurden mit einem Stadtsöldner und einem Stadtschützenmeister zwei fest besoldete Stellen geschaffen, die die Wehrhaftigkeit der Stadt und ihrer Bürger erhöhen sollten. Die Verantwortlichkeit des Rats zeigt sich auch in der Förderung der Schützen. In den Wochenstubenrechnungen ist die finanzielle Unterstützung wöchentlicher Übungsschießen für die Armbrustschützen, ab 1460 für die Büchsenschützen und ab 1515 auch für Pirschbüchsenschützen nachweisbar. Darüber hinaus fanden zwischen 1446 und 1513 insgesamt 21 Schützenfeste in Bamberg statt. Zu den meisten von ihnen steuerte der Rat eine Geldspende bei oder stiftete Lebensmittel wie Brot, Käse und Wein. Die Bamberger Stadtrechnungen enthalten folglich zahlreiche Informationen, die aus anderen Quellen nicht zu erschließen sind und die wichtige Ergänzungen und Hinweise liefern sowie Befunde bestätigen oder widerlegen. Darauf aufbauend erlauben diese Informationen Rückschlüsse über politische, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse.

Tod, Krankheit und Beerdigung in Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649) von Jan Kilián Vor einiger Zeit wurden dem deutschen Leser die Aufzeichnungen des Graupener Bürgers und Gerbers Michel Stüeler aus den Jahren 1629–16491 in Form einer Edition zugänglich gemacht. Diese detaillierten Aufzeichnungen stellen ein wertvolles Selbstzeugnis eines Angehörigen der Bürgerschicht dar, mit dessen Augen wir das Geschehen im Vorerzgebirge in Böhmen während des Dreißigjährigen Krieges „aus erster Hand“ verfolgen können. Dieses Gedenkbuch, das vom Autor fortlaufend geführt wurde, sollte ursprünglich rein privaten Zwecken dienen; es handelt sich um keine annalistische Arbeit auf Grund einer kommunalen oder anderweitigen offiziellen Bestellung. Aus diesem Grunde enthält es auch eine ganze Reihe, heute würden wir sagen kompromittierender Äußerungen, weil Stüeler hier seine Beweggründe, Meinungen, ja selbst sein Handeln in den intimsten Sphären in keiner Weise verborgen hat. In dem nachfolgenden Beitrag beschäftige ich mich (nach kurzer biografischer Vorstellung der Persönlichkeit selbst) mit den Reflexionen über Tod und Krankheit in Stüelers Erinnerungen, die es in dieser Quelle sehr oft, nicht nur vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges, sondern auch deswegen gibt, weil Stüelers Stadt in jenem Zeitraum von der Pest betroffen war und weil der überkommene Teil der Aufzeichnungen aus einer Zeit stammt, als er alterte und verschiedene Krankheiten ihm in zunehmendem Maße zu schaffen machten. Im tschechischen Umfeld wurde dank Marie Tošnerová relativ solide das chronographische Schrifttum der Zeit vor dem Weißen Berg erfasst2 . Erinnerungen aus dem urbanistischen Umfeld gehören dabei zu den umfangreichen Familienquellen, die modern auch als Ego-Dokumente bezeichnet werden3 . In Sachsen und der Lausitz stammten ihre frühneuzeitlichen Schreiber aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, es überwogen jedoch Geistliche, Kantoren und Handwerker; die Feder ergriffen ebenfalls führende Ratsherren und wohlhabende Händler, die untere Schicht dagegen engagierte sich in dieser Richtung praktisch gar nicht4 . In den böhmischen Ländern traf Marie Tošnerová 1 2

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JAN K ILIÁN (Hg.): Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649). Alltagsleben in Böhmen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Göttingen 2014 (Weiter nur Gedenkbuch). M ARIE T OŠNEROVÁ: Kroniky cˇ eských mˇest z pˇredbˇelohorského období. Úvod do studia mˇestského ˇ kronikáˇrství v Cechách v letech 1526–1620 [Die Chroniken der böhmischen Städte aus der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg. Eine Einleitung ins Studium der Stadtchronistik in Böhmen i. J. 1526–1620], Praha 2010. Lückenhaft sind besonders Informationen über das Schrifttum aus national-, resp. deutschsprachigen Städten. Vgl. besonders W INFRIED S CHULZE (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. H ELMUT B RÄUER: Stadtchronistik und städtische Gesellschaft: Über die Widerspiegelung sozialer Strukturen in der obersächsisch-lausitzischen Stadtchronistik der frühen Neuzeit, Leipzig 2009, 253–254. Vgl. W ERNER L AUTERBACH: Zum 400. Geburtstag des Freiberger Chronisten Andreas Miller. In: Mitteilungen des Freiberger Altertumvereins 80, Neue Folge 9 (1998), 5–53; A NDRÉ T IEME: Petrus Albinus und die sächsische Geschichtsschreibung im 16. Jahrhundert. In: Monumenta Misnensia 7 (2005–2006), 183–193; H ELMUT U NGER , R EINHART U NGER (Hg.): Georg Arnold. Chronicon Annaebergense continuatum, Stuttgart 1992; S TEPHAN S CHMIDT-B RÜCKEN , K ARSTEN R ICHTER: Der Erzgebirgschronist Christian Lehmann. Leben und Werk, Marienberg 2011 oder D ETLEF D ÖRING: Das Leben in Leipzig in der Zeit

Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016), S. 71–87

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als häufigste Autoren auf Stadtschreiber, die einen leichten Zugang zu den Stadtbüchern und weiteren wichtigen Dokumenten hatten5 . Für das deutsche Bürgertum der grenznahen nordböhmischen Städte im verfolgten Zeitraum hat diese Schlussfolgerung aber keine Gültigkeit – es wäre zu empfehlen, Analogien und vor allem auch Traditionen und ein bestimmtes Maß an Verknüpfungen gerade im Nachbarland, in Sachsen, zu suchen. Es sei nur daran erinnert: Der Graupner Michel Stüeler und der aus Böhmisch Leipa stammende Hans Kriesche waren Handwerker, Christian Hauf aus Bensen war Kantor, der Karbitzer Bartel Habel war Pastor und der Joachimsthaler „Nestor“ der deutschen Chronistik in Böhmen, Johann Mathesius, war Geistlicher und Pädagoge. Es ist kein Zufall, dass gerade der Dreißigjährige Krieg zu einem Anwachsen des annalistischen Schaffens führte6 . Dank dieser subjektiven Schilderungen der gespannten Situation in den Jahren 1618–1648 gehören Chroniken und Erinnerungen, die diese Zeit einfangen, zu den meistgelesenen frühneuzeitlichen Quellen, dessen sich auch die tschechischen Geschichtsschreiber bewusst waren und sind. Ein Großteil des grundlegenden tschechischsprachigen Quellenmaterials waren bereits editionsmäßig zugänglich, einige sogar wiederholt, bei anderen wird eine Neuauflage erwogen7 . Michel Stüeler aus dem erzgebirgischen Graupen war mit seinem Interesse an Aufzeichnungen von Geschehnissen keineswegs eine Ausnahme, in seiner Stadt aber in dieser Form als Erster tätig und noch dazu in solch origineller und dabei aussagekräftiger Weise, dass seine Erinnerungen in Böhmen im Grunde einmalig sind.

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des Dreißigjährigen Krieges. Dargestellt anhand der Annalen des Zacharias Schneider. In: Leipzig. Aus Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge zur Stadtgeschichte 3 (1984), 151–175. T OŠNEROVÁ: Kroniky (wie Anm. 2), 35. Vgl. B ENIGNA VON K RUSENSTJERN: Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis, Berlin 1997. Siehe auch z. B. H ANS M EDICK , B ENJAMIN M ARSCHKE (Hg.): Experiencing the Thirty Years War. A Brief History with Documents, Boston/New York 2013 oder H ANS J ESSEN (Hg.): Der Dreissigjährige Krieg in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1963. Tagebücher führten sogar Soldaten – JAN P ETERS (Hg.): Peter Hagendorf – Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg, Göttingen 2012. ˇ M IKULEC (Hg.): Mikuláš Daˇcický z Heslova. Pamˇeti [Nikolaus Daˇcický von Heslov. ErinVgl. J I RÍ ˇ K AMPER (Hg.): Kronika mladoboleslavská od Jiˇríka Bydžovského nerungen], Praha 1996; Z DEN EK sepsaná [Die Jungbunzlauer Chronik von Georg Bydžovský geschrieben], Mladá Boleslav 1935; V LASTA F IALOVÁ (Hg.): Kronika Holešovská (1615–1645) [Die Chronik von Holleschau (1615–1645)], Holešov 1967; F RANTIŠEK D OSTÁL (Hg.): Valašské Meziˇríˇcí v pamˇetech tˇricetileté války [Wallachisch-Meseritsch in Erinnerungen des Dreißigjährigen Krieges], Ostrava 1962; JAN B OHUSLAV M ILTNER (Hg.): Pamˇeti volyˇnské (1617–1647) Bartolomˇeje Prokopa [Wolliner Erinnerungen (1617–1647) von Bartolomˇej Prokop]. In: Památky archeologické a místopisné 13 (1885–1886), 49–64, 163–170, 255–262, 315–320; D ERS . (Hg.): Kalendáˇr historický Daniele Vepˇrka, mˇeštˇenína Slánského [Historischer Kalender von Daniel Vepˇrek, Bürger von Schlan]. In: Jahresbericht des k. u. k. Höheren Gymnasiums in Königgrätz zu Ende des Schuljahrs 1883, Hradec Králové 1883, 1–19; M ARTIN KOVÁ Rˇ : Pavel Mikšovic a jeho kronika Lounská [Paul Mikšovic und seine Chronik von Laun]. In: Sborník historického kroužku 1–16 (1900–1915); ˇ K AREL P LETZER: Ceskobudˇ ejovická analistika v období tˇricetileté války [Budweiser Chronistik zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges]. In: Jihoˇceský sborník historický 28 (1959), 113–120 und ganz neu M ARTINA L ISA (Hg.): Die Chronik des Václav Nosidlo von Geblice. Aufzeichnungen aus der böhmischen Exulantengemeinde in Pirna zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Edition und Übersetzung, Stuttgart 2014.

Tod, Krankheit und Beerdigung

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Stüeler kam wahrscheinlich 15838 zur Welt und erhielt im Alter von fünfundzwanzig Jahren, obwohl er der zweitgeborene Sohn war, das Haus seines Vaters. Er lernte den Beruf des Gerbers; in späteren Zeiten jedoch blieb ihm für dieses Gewerbe wegen amtlicher Auslastung nur sehr wenig Zeit, was auch mit der bedrückenden Realität des Dreißigjährigen Krieges zu tun hatte. Stüeler musste nach Kriegsende auch seinen Gerberkessel verkaufen, und auf seine ursprüngliche Unterhaltsquelle verzichtete er zumindest eine gewisse Zeit völlig, obwohl er bis ins hohe Alter Zunftmeister der Gerber blieb. Von Jugend auf bekleidete er auch die Funktion eines Waldhüters, oder besser gesagt eines Försters, weil in seinen Kompetenzbereich eigentlich nicht die Jagd oder die Aufsicht über Wilderer fiel, sondern der Holzdiebstahl in den Graupener Wäldern. Dies bedeutete andererseits nicht, dass ihm die Jägerei nicht ans Herz gewachsen wäre, wie wir aus der Beschwerde des Sobochlebener (Sobˇechleby) Grundherrn erfahren, dass ihm Stüeler im Wald Hasen geschossen hätte9 . In Graupen wurde Stüeler mit der Zeit ein angesehener Mann, der bei keiner wichtigen Amtshandlung fehlen durfte, sei es die Übergabe der Stadt an die neue Obrigkeit der Herren von Sternberg oder nicht lange danach, in der Zeit des Ständeaufstands, die erfolgreichen Verhandlungen über den Loskauf der Stadt aus dem Untertänigkeitsverhältnis. Stüelers Gesichtskreis erweiterte sich durch zahlreiche Reisen, auf denen er auch die Metropole des Böhmischen Königreichs kennen lernte, wo dieser geborene Lutheraner nach dem Sieg der Habsburger über die Ständerebellen gezwungen wurde, zum katholischen Glauben zu konvertieren. Ein eifriger Bekenner des allein selig machenden Glaubens wurde er zwar nicht; die Konversion war jedoch eine Voraussetzung seiner weiteren Karriere. Stüeler wurde so schon Ende der 20er Jahre des 17. Jahrhunderts Gemeindeältester und Gegenhändler, also eine Art Kontrolleur des Bergamtes. Hier erwies er sich als so erfolgreich, dass ihm im Jahre 1633 die höchste Funktion, der Posten eines Graupener Bergmeisters, anvertraut wurde. Nach vier Jahren verlor er diese, als er sich bei der Sternberg’schen Obrigkeit durch sein zu vehementes Eintreten für die Bürgerrechte unbeliebt gemacht hatte. Er wurde damals sogar in der Kälte des Bechiner (Bechynˇe) Schlosskerkers inhaftiert. Danach engagierte sich Stüeler nicht mehr in Bergbauangelegenheiten und zeigte auch an der kommunalen Verwaltung kein größeres Interesse, auch wenn er noch kurzzeitig das Amt eines Faktors ausübte. Seine intellektuellen Interessen (Lesen, Gesang, Orgelspiel) und eine solide Bildung führten ihn zur Ausübung einer pädagogischen Tätigkeit: Er eröffnete eine Mädchenschule. Er war insgesamt dreimal verheiratet und war Vater von einem Dutzend Kindern. Er verstarb im Jahre 165710 . Zur alltäglichen menschlichen Realität, und damit auch zu derjenigen Stüelers, gehörten natürlich auch Krankheit und Tod. Der in Graupen Geborene, der in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und fataler Epidemien lebte, hatte beides praktisch ständig vor 8

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Laut Matrikel verstarb er nämlich 1657 im Alter von 64 Jahren. Státní oblastní archiv Litomˇeˇrice [Staatliˇ ches Gebietsarchiv Leitmeritz], Matriky [Kirchenbücher], Rímsko-katolický farní úˇrad Krupka [Römischkatholischer Pfarramt Graupen], Sign. 83/2 – Narození, oddaní, zemˇrelí 1652–1744 [Geborene, Verheiratete, Gestorbene 1652–1744], pag. 231. Státní okresní archiv Teplice [Staatliches Bezirksarchiv Teplitz], Archiv mˇesta Krupka [Archiv der Stadt Graupen], Inv. Nr. 56, Pamˇetní kniha 1426–1853 [Gedenkbuch 1426–1853], Buch Nr. 1, fol. 7 und 10. Neuerdings JAN K ILIÁN: Pˇríbˇeh z doby neobyˇcejného šílenství. Život a svˇet krupského koželuha Michela Stüelera za tˇricetileté války [Begebenheiten aus der Zeit ungemeinen Wahnsinns. Leben und Welt des Graupener Gerbers Michel Stüeler während des Dreißigjährigen Krieges], Praha 2014. Vgl. auch RUDOLF K NOTT: Michel Stüeler. Ein Lebens- und Sittenbild aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges, Teplitz 1903.

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Abbildung 1: Graupen in Böhmen mit der Pfarrkirche, 1873.

Augen. Neben der hohen zeitgenössischen Kindersterblichkeit, natürlichen Todesfällen und tödlichen Unglücksfällen starben viele Menschen durch militärische Gewalt und vor allem infolge der von den Soldaten in die Stadt eingeschleppten Pestepidemien. Wie sah diese Erfahrung jedoch konkret in Stüelers Graupen aus? Welche Leiden haben ihn selbst und seine Nächsten gepeinigt und wie wurde er damit fertig? Kam er allein damit zurecht oder nahm er die Hilfe von Badern und weiteren Spezialisten in Anspruch? Weil jeder gute Christ mit der Sterblichkeit seines Körpers rechnen musste, ergriff er, als die Zeit gekommen war, adäquate Maßnahmen; vor allem formulierte er seinen letzten Willen. Wie war dabei die Graupener Praxis? Welchen Platz der ewigen Ruhe wählten sich die Bürger dieser erzgebirgischen Lokalität und wie verlief deren Beerdigung? Der Tod und die damit verbundenen Angelegenheiten füllen im Gedenkbuch Michel Stüelers viele Seiten, zwar oft im Informationsgehalt sehr knapp, in einigen Fällen jedoch auch ausführlicher. Die Geschichte des Todes, die sich auf die heute schon klassische Arbeit von Ariès11 stützt, erlebt derzeit zweifellos auch in der tschechischen Historiografie eine Phase, die diese in das Rampenlicht einer historischen, resp. historisch-anthropologischen Forschung stellt. Das gilt auch für die frühe Neuzeit12 . Außerordentlich präzise wurde schon die Problematik des Sterbens der böhmischen Aristokratie bearbeitet13 ; Interesse erweckt diese Thematik aber auch im Fall der Städte, wo primär die bürgerlichen Testamente 11 12 13

P HILIPPE A RIÈS: Dˇejiny smrti [Geschichte des Todes] I–II, Praha 2000. Siehe auch N ORBERT O HLER: Umírání a smrt ve stˇredovˇeku [Sterben und Tod im Mittelalter], Jinoˇcany 2001. ˇ M IKULEC (Hg.): Církev a smrt. Institucionalizace smrti v raném novovˇeku Vgl. M ARTIN H OLÝ, J I RÍ [Kirche und Tod. Institutionalisierung des Todes in der frühen Neuzeit], Praha 2007. ˇ PAVEL K RÁL: Mezi životem a smrtí [Zwischen Leben und Tod], Ceské Budˇejovice 2002. Hier auch weitere Literatur.

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untersucht wurden, und zwar nicht nur im Hinblick auf Alltagsgeschichte14 und andere Aspekte des irdischen Lebens15 , sondern auch hinsichtlich der Frömmigkeit und der „Jenseitsgedanken“ ihrer Verfasser16 . Analysiert wurde z. B. die interessante Frage nach dem Verlauf eines bürgerlichen Begräbnisses in einer konfessionell gemischten Gemeinde17 . Sepulkrale Denkmäler erfreuen sich des Interesses sowohl von Historikern als auch von Kunsthistorikern, und sie verfügen über eine ausgezeichnete Publikationsplattform18 . Über Krankheiten der Bürger dagegen, über ihre Reflexion und das eventuelle Sterben daran, wissen wir für das 17. Jahrhundert – abgesehen von der Pest – bisher sehr wenig19 . Nicht anders verhält es sich mit Unfällen, und zwar nicht nur mit denen im Kindesalter, sondern auch mit den Verletzungen von Erwachsenen20 . Die größte Plage der böhmischen Bevölkerung blieb auch im 17. Jahrhundert die Pest, der Schwarze Tod. Verursacht wurde diese durch das Bakterium Yersinia pestis, das auf den Menschen in Form der Beulenpest durch Flöhe von infizierten Nagern übertragen 14

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ˇ Z. B. JANA KOPE CKOVÁ : Pˇredbˇelohorská kniha kšaft˚u mˇesta Domažlic a možnosti jejího využití k výzkumu každodenního života [Testamentsbuch vor der Schlacht am Weißen Berg der Stadt Taus und Möglichkeiten seiner Verwendung zur Untersuchung des alltäglichen Lebens]. In: Západoˇceský sborník historický 6 (2000), 117–144. Z. B. JANA R ATAJOVÁ: Pražské testamenty (1600–1620) jako pramen k dˇejinám rodinných struktur [Prager Testamente (1600–1620) als Quelle zur Geschichte von Familienstrukturen]. In: Pražský sborník historický 30 (1998), 90–125; P ETRA H OFFMANNOVÁ: Rodina v 16. století z pohledu testament˚u královského mˇesta Louny [Die Familie im 16. Jh. aus Sicht der Testamente der Königsstadt Laun]. In: M ICHAELA H RUBÁ ˇ (Hg.): Mˇesta severozápadních Cech v raném novovˇeku, Ústí nad Labem 2000, 107–122; M ICHAELA ˇ H RUBÁ: Bratrstva a cechy z pohledu mˇešt’anských testament˚u královských mˇest severozápadních Cech v raném novovˇeku [Bruderschaften und Zünfte aus der Sicht bürgerlicher Testamente der Königsstädte Nordwestböhmens in der frühen Neuzeit]. In: Documenta Pragensia 18 (2000), 27–47; P ETR R AK: Kadaˇnské knihy trh˚u a testament˚u z let 1465–1603 a testamentární praxe v Kadani od poloviny 15. do poˇcátku 17. století [Kaadener Markt- und Testamentsbücher von 1465–1603 und die testamentarische Praxis in Kaaden ab Mitte des 15. Jh. bis Beginn des 17. Jh.]. In: Sborník archivních prací 48/2 (1998), 3–106 oder T OMÁŠ M ALÝ: „. . . nechtˇeje tomu, aby jací soudové a nevole po mé smrti byly. . . “ (Dˇedická praxe a poz˚ustalostní konflikty v ranˇe novovˇeké Chrudimi) [Erbpraxis und Nachlasskonflikte in der frühneuzeitlichen Chrudim]. In: Chrudimský vlastivˇedný sborník 8 (2004), 55–100. Besonders T OMÁŠ M ALÝ: Smrt a spása mezi Tridentinem a sekularizací. Brnˇenští mˇešt’ané a promˇeny laické zbožnosti v 17. a 18. století [Tod und Erlösung zwischen Tridentinum und Säkularisation. Die Brünner Bürger und der Wandel der Laienfrömmigkeit im 17. u. 18. Jh.], Brno 2009 oder auch T OMÁŠ M ALÝ: „Mentalita“, zbožnost a smrt chrudimského mˇešt’ana v raném novovˇeku (Chrudimské kšafty ze 16.–18. století) [„Mentalität“, Frömmigkeit und Tod einer Chrudimer Bürgers in der frühen Neuzeit (Chrudimer Testamente aus dem 16.–18. Jh.)]. In: Chrudimský vlastivˇedný sborník 7 (2003), 19–70. T OMÁŠ S TERNECK: „Chtˇejí krchov, by pak tˇrebas na nˇekoliko zámkuov zamˇcen byl, mocnˇe odevˇrít a to mrtvé tˇelo sami pochovati“. Pohˇrby v konfesijnˇe rozdˇeleném prostˇredí na pˇríkladu pˇredbˇelohorského Brna [Begräbnisse und konfessionell unterschiedliche Milieus am Beispiel von Brünn vor der Schlacht am Weißen Berg]. In: H OLÝ, M IKULEC (Hg.): Církev a smrt (wie Anm. 12), 79–113. Epigraphica et Sepulcralia. Zum Vergleich bieten sich an: VÁCLAV S CHULZ (Hg.): Pˇríspˇevky k dˇejinám moru v zemích cˇ eských z let 1531–1746 [Beiträge zu Geschichte der Pest in den Böhmischen Ländern 1531–1746], Praha 1901; E LIŠKA ˇ ˇ Cˇ Á NOVÁ : Mor v Cechách v roce 1680 [Die Pest in Böhmen im Jahre 1680]. In: Sborník archivních prací 31 (1981), 265–339; M ARTINA H OLASOVÁ: Každodenní život mˇestského obyvatelstva za cˇ as˚u morové ˇ epidemie v 16. a 17. století. Ceské Budˇejovice 1680 [Das Alltagsleben der Stadtbevölkerung während der Pestepidemien im 16. u. 17. Jh., Budweis 1680]. In: Historická demografie 29 (2005), 5–28; A NNA ˇ K UBÍKOVÁ: Morová epidemie roku 1598 v Ceském Krumlovˇe [Die Pestepidemie 1598 in Böhmisch Krummau]. In: Documenta Pragensia 16 (1998), 221–226. Vgl. JAKUB L IKOVSKÝ: Zobrazení nemocí a zranˇení v cˇ eské malbˇe pozdní gotiky a renesance [Darstellung von Krankheiten und Verletzungen in der böhmischen Malerei der Spätgotik und Renaissance]. In: Dˇejiny vˇed a techniky 34/1 (2001), 1–7.

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wurde oder in Form der Lungenpest durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch mit einer hohen Sterblichkeitsrate. Es besteht kein Zweifel, dass in Graupen 1634 die Lungenpest ausbrach. Das infizierte Individuum hat nicht lange gelitten, es wurde plötzlich von Fieber und Schüttelfrost befallen, spürte Müdigkeit und Schmerzen in den Gliedern; der Verlauf war einer starken Lungenentzündung sehr ähnlich. Ausgiebige Erfahrung mit der Epidemie hatten die Einwohner Graupens schon aus der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war angeblich eine große Zahl der umliegenden Ortschaften beinahe ausgestorben21 , und nur ein Jahr bevor Michel Stüeler geboren wurde, wütete die Seuche hier dermaßen, dass sie angeblich allein in der Stadt vierhundert Opfer forderte, in den umliegenden Dörfern weitere zweihundertfünfzig22 . Auch danach zeigte sich die Pest in der Region zeitweilig, erreichte aber kein solch schreckliches Ausmaß. Die Situation sollte sich erst mit dem Dreißigjährigen Krieg ändern, der ideale Voraussetzungen für die Verbreitung der Krankheit durch die große Konzentration von Menschen, notabene unterschiedlichster Herkunft und Ansehens, an einem Ort schuf. Mitte der 1620er Jahre dezimierte die Pest fast das gesamte böhmische Land und verschonte auch die Erzgebirgsstadt nicht. Der Chronist vermerkte Ende August 1626 den Tod einer dreiköpfigen Familie (waren sie die ersten Infektionsopfer?) und ihr Begräbnis im Garten neben dem Haus (warum gerade hier?) durch einen speziell dafür engagierten Totengräber aus dem sächsischen Geising, mit dem die Graupener anschließend den Vertrag verlängerten. Für jeden Leichnam sollte er einen Taler erhalten. Er hat sicherlich daran verdient, denn allein bis zum Jahresende sollten an der Pest etwa hundertfünfzig Personen sterben, unter ihnen z. B. auch der frisch ernannte Ratsherr David Eckert23 . Der schlimmste Schlag sollte jedoch erst nach weiteren acht Jahren kommen. Der Zeitraum für eine demografische Erholung der Gemeinde war also nicht sonderlich lang und es ist kein Wunder, dass die Anzahl der Einwohner ständig sank24 . Die Opfer dieser beiden großen Pestepidemien in einem kurzem Zeitabschnitt – im zweiten Falle 390 Tote25 – machten wohl etwa die Hälfte der gesamten Graupener Bevölkerung aus. Zum Vergleich: in den pestfreien Jahren überstieg die Mortalität in Graupen kaum ein paar Dutzend Individuen pro Jahr. Kaum eine Familie blieb verschont; einige starben sogar völlig aus. Stüeler, der früher von zahlreichen Nachkommen und einer fürsorgenden Frau umgeben gewesen war, blieb allein mit einer einzigen Tochter am Leben. Es starben kleine Kinder, Männer in der Mitte des Lebens, junge Mütter und Hebammen, Bräutigame und ihre Bräute, Mägde und Knechte, der Tod war nicht wählerisch. Wie hat ihn aber der Graupener Gerber wahrgenommen? Er notierte sich zwar 1634 einen Sterbefall nach dem anderen, aber erst beim Tod seines Sohnes im fortgeschrittenen Jugendalter führte er an, dass es sich um die Pest handelte. Gleichzeitig hielt er fest, dass es sich seit Neujahr schon um das 132. Opfer 21 22 23 24

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Gedenkbuch (wie Anm. 1), 220. Státní okresní archiv Teplice, Archiv mˇesta Krupka, Inv. Nr. 56, Buch Nr. 1 – Pamˇetní kniha 1426–1853 [Gedenkbuch 1426–1853], fol. 2. Ebenda, fol. 33. Ich stütze mich auf das (in der Matrikel festgestellte) Absinken der Geburtenrate in den 30er und 40er ˇ Jahren des 17. Jahrhunderts. Státní oblastní archiv Litomˇeˇrice, Matriky, Rímsko-katolický farní úˇrad Krupka, Sign. 83/1 – Narození 1624–1655 [Geborene 1624–1655]. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 145.

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handelte. Der dreizehnjährige Jeremias Stüeler kämpfte mit der tödlichen Krankheit ab dem ersten Schüttelfrost vier Tage lang; am fünften Tag verließ er den tief trauernden Vater für immer. Um Vieles schneller war eine Woche zuvor der Verlauf der Krankheit bei Stüelers Magd gewesen, bei der sich die ersten Anzeichen wohl erst am Morgen des Tages zeigten, an dem sie nachmittags starb. Angesteckt hatte sie sich angeblich beim Ausheben des Dammes für einen Fischteich, und es ist möglich, dass dieses Mädchen der erste Bazillenträger im Haushalt des Gerbers war. Im August kulminierte die Katastrophe: Es starben bis zu zehn Menschen täglich, und die Krankheit war bereits längst auch in Rosenthal und Obergraupen ausgebrochen. Beerdigt wurde gleich am folgenden Tag, meist auf dem Friedhof an der St. Annakirche, der sich für diesen Zweck wegen seiner Vorstadtlage gut eignete (Abbildung 2 auf der nächsten Seite). Offen bleibt die Frage, ob hier wohl auch einige Massengräber entstanden, wie später im Jahre 168026 , ausschließen lässt sich das aber nicht. Stüeler beerdigte weitere seiner Kinder und schließlich auch seine Frau. Zu allem Überfluss erschien nun noch der schwedische Feind und plünderte die Region, wobei er auch Graupen nicht verschonte. Die Krankheit ging wohl erst im Laufe des Herbstes zurück, für den Einträge des Gerbers fehlen. Im Jahre 1640 kehrte sie aber in die Region zurück und raffte besonders die Ansiedler von Niklasberg27 (Mikulov) und in Zinnwald (Cínovec) dahin. In Graupen starb binnen kurzer Zeit, wohl an einem einzigen Tag, die ganze Familie von Simon Krüger28 aus; andere Opfer sind zumindest nicht bekannt. Den letzten, vereinzelten Fall der Krankheit verzeichnete Stüeler Mitte der 40er Jahre29 . Wie konnte der Pest begegnet werden bzw. wie urteilte darüber der Graupener Gerber? Die damalige Medizin war ratlos, weil sie noch nicht den wahren Grund der Krankheit kannte; Praktiken wie das Auskurieren und das Tragen von Masken halfen nicht30 . Auch Stüeler deutet keinerlei Versuche einer Heilung dieser tödlichen Krankheit an. Helfen konnte wohl als Einziges völlige Isolierung oder Wegzug, eigentlich eher eine rasche Flucht aus dem betroffenen Ort. Das verseuchte Graupen verließ zum Beispiel Stüelers Schwiegervater und begab sich an einen sicheren Ort. In eine andere Stadt zu gelangen war aber schwer, weil der Zugang von Personen aus den verseuchten Gebieten verständlicherweise überall verhindert wurde. Die Vertreter der örtlichen Verwaltung bemühten sich gleichzeitig, das Epizentrum der Ansteckung zu entdecken und sofort zu versiegeln. Als der junge Johann Christoph Sadler nicht lange nach dem erwähnten Krügner starb, allerdings in Leitmeritz, ließen die Ratsherrn das Graupener Haus seiner verwitweten Mutter umgehend präventiv verschließen31 .

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ˇ W OLF: Mor na Teplicku v roce 1680 ve zprávách Zu dieser Katastrophe, mit regionaler Orientierung J I RÍ oseckých cisterciák˚u [Die Pest in der Teplitzer Region 1680 in den Berichten der Ossegger Zisterzienser]. In: Historická demografie 27 (2003), 250–256. ˇ Státní oblastní archiv Litomˇeˇrice, Matriky, Rímsko-katolický farní úˇrad Moldava, Sign. 117/1 – Narození, oddaní, zemˇrelí 1608–1665 [Römisch-katholisches Pfarramt Moldau, Sign. 117/1 – Geborene, Verheiratete, Gestorbene 1608–1665], fol. 493. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 228. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 334. Vgl. OTTO U LBRICHT (Hg.): Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2004. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 228.

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Abbildung 2: Friedhof der St. Anna-Kirche in Graupen, um 1900.

Die Pest war also praktisch unheilbar, nicht aber die anderen Krankheiten32 . Die meisten Graupener machten im zarten Alter Pocken- und Masernerkrankungen durch, die nur in seltenen Fällen tödlich verliefen, eventuell auch andere Kinderkrankheiten, unter anderem verschiedene Durchfallerkrankungen. Gefährlich konnte Fieber sein; daran litt wiederholt Stüelers Frau Elisabet, und selbst der Gerber blieb davon nicht verschont33 . Heftige Fieberanfälle und Schüttelfrost, oftmals nach ein paar Tagen wiederkehrend, fesselten den Betroffenen ans Bett. Mit Ausnahme des abergläubischen Versuchs, durch Abschneiden der Nägel und Anhängen an ein Fischlein, das anschließend zurück in den Teich befördert wurde, um diese Krankheit abzuwenden, erwähnt Stüeler aber nicht, auf welche Art er oder seine Frau versucht haben, das Fieber loszuwerden. Eines Nachts weckte den 52jährigen Stüeler starkes Zucken (Ziehen) im linken großen Zeh. Vielleicht handelte es sich um eine Infektion? Solchen waren sicher auch die Graupener Einwohner, Landwirte im Nebenerwerb, in höherem Maße ausgesetzt; in offene Wunden und Kratzer konnte ein Infekt bei der Arbeit sehr leicht eindringen. Diese Zuckungen waren so schmerzhaft, dass Stüeler den Bader kommen lassen musste, dem er für die Heilung zwei Taler bezahlte. Dennoch musste er ganze drei Wochen das Bett hüten34 , und im selben Jahr erkrankte er noch einmal ernsthaft. Und was signalisierte wohl das Blut, das dem 32

33 34

ˇ Vgl. L UDMILA H LAVÁCKOVÁ , P ETR S VOBODNÝ: Dˇejiny lékaˇrství v cˇ eských zemích [Geschichte der Heilkunde in den Böhmischen Ländern], Praha 2004; hier auch weitere Literatur zur Geschichte der Heilkunde. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 158. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 162.

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gerade Sechzigjährigen aus der Nase floss, ohne dass er dabei subjektiv irgendwelche weiteren gesundheitlichen Beschwerden verspürte35 ? In fortgeschrittenem Alter quälten Stüeler bereits eine große Anzahl von Krankheiten, die vor allem mit dem Alter zusammenhingen. Somit wundert es nicht, wenn er sich für das neue Jahr an erster Stelle einen gesunden Körper für seine Nächsten und vor allem für sich selbst wünschte, damit er sie ernehren und erhalten bies an mein Ende36 konnte. Eine unangenehme Kolik verursachte einmal, dass er kaum sein Zuhause erreichte, wo er dann zwei Tage Bettruhe halten musste37 . Erneut kehrte das Ziehen im Fuß zurück und schränkte einige Zeit seine Bewegungsfähigkeit ein, ein andermal (diesmal handelte es sich aber um das andere Bein) musste er deswegen an Krücken in die Kirche gehen38 . Am Bein begann sich noch dazu eine Rose zu zeigen, also eine infektiöse Hauterkrankung, die von Bakterien aus der Gruppe der Streptokokken verursacht wird, die meist schon geschwächte Menschen befallen. Neben den charakteristischen Symptomen auf der Haut, die sich rot färbt und schmerzhaft empfindlich ist, ist sie auch von erhöhter Temperatur, Schüttelfrost und Zittern, Verdauungsstörungen und Übelkeit begleitet. Stüeler befreite sich davon, ohne dass wir ahnen könnten, wie und ob er sie überhaupt behandelt hat, nach etwa fünf Tagen39 . Nach dreieinhalb Jahren erfolgte jedoch eine weitere Attacke, diesmal ernsthafter und schon fast drei Wochen Aufenthalt im Bett erfordernd40 . Im selben Jahr wie die Rose zeigte sich bei ihm auch die Gicht (Chiragra), eine schmerzhafte Erkrankung der Gelenke an der Hand. Sie plagte ihn aber nicht lange, denn nach ein paar Tagen arbeitete Stüeler bereits wieder41 . In der Kirche überfiel ihn einmal ein starker Kopfschmerz, der zwei Tage andauerte42 , und um die gleiche Zeit plagte ihn noch eine andere Krankheit43 . Eine weitere, nicht näher spezifizierte Erkrankung kurierte er erfolgreich in mehr als zwei Wochen aus44 . Das Jahr 1646 verbrachte er generell mit Schwermut und Kranckheit45 . Ein Jahr später schaute er auf sich selbst bereits wie auf einen alten und kranken Mann; er erkrankte nämlich nach seinen eigenen Worten gleich mehrere Male46 . Ebenso war es auch in den letzten beiden Jahren, aus denen die Gedenkbücher des Gerbers erhalten blieben. Zu allen Leiden gesellte sich schließlich noch Rheuma im Rücken hinzu, weswegen er auch seine frommen Pflichten vernachlässigen musste47 . Zehn Tage nach dem Rheumaanfall befiel ihn wieder die Kolik, und nach einem weiteren Monat verstauchte er sich das Bein. Wir können also annehmen, dass Stüeler danach an seinen Krankheiten bis zu seinem Tode laborierte. Etwa ab seinem sechzigsten Lebensjahr wurde sein Lachen von einem Loch in einem Zahn des Oberkiefers geziert, der ihn dermaßen schmerzte, dass er ihn sich 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Gedenkbuch (wie Anm. 1), 286. Zu Krankheitsbildern und Behandlungsmethoden vgl. ROBERT J ÜTTE: Krankheit und Gesundheit in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2013. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 382. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 379. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 327. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 324. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 372. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 332. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 301. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 341. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 250. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 344. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 353. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 378.

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ziehen ließ48 . Dabei handelte es sich allerdings um einen Vorderzahn; wer weiß, um wie viele Backenzähne er bereits gekommen war, die für Karies noch viel anfälliger sind? Manchmal notierte sich Stüeler, dass auch seine Freunde und Bekannten von Krankheiten gepeinigt waren, z. B. der Bergmeister Valten Hüebel oder der Ratsherr Jacob Güchra sen. Bei einigen Nachbarn und Nachbarinnen nannte er auch die Ursachen ihres Todes. Oftmals war es ein Schlaganfall, woran auch seine Schwiegermutter verstarb: für dem Ofenloche; hat wollen einheizen, ist uf Kloz sizen blieben49 . Die Frau des Müllers Gorge Reichel traf der Schlag in den rechten Teil des Körpers, und sie lebte danach gelähmt noch drei Tage. Merten Bartelt, den ein Schlaganfall während des Jahrmarktbesuchs getroffen hatte, starb sogar erst fast zwei Monate nach dem Ereignis50 . Einige Leute waren gelähmt, blind oder auch langfristig gehörlos. Der lahme und blinde Tobias Gottlich lag angeblich lange Jahre auf einer Stelle, bevor er starb51 . Keine Hinweise liegen in Graupen für die Gicht in den Füßen (Podagra) vor, die allerdings eher typisch für die obere Gesellschaftsschicht war, die in größerem Maße Alkohol und fette Speisen konsumierte52 . Unklar bleibt, was hinter dem Tod von Hüebels Frau stand, die vor ihrem Tode ganz „unzurechnungsfähig“ gewesen sein soll. Psychische Erkrankungen allerdings fehlten im Repertoire der Krankheiten der Graupener Bevölkerung keineswegs, besonders wenn wir uns bewusst machen, um welch schreckliche Zeit es sich handelte. Ein weiterer „Unzurechnungsfähiger“ musste im örtlichen Spital nicht lange vor seinem Ableben sogar an eine Kette gebunden werden53 . Eine gute Bekannte Stüelers, Gott der himmlische Vater behüte einem jedem frommem Christen darfür, verlor den Verstand und es dauerte Wochen, bevor es ihr wieder besser ging54 . Einige psychisch gestörte oder verzweifelte Individuen begingen allerdings Selbstmord55 , ob nun durch Erhängen oder Sprung in einen Schacht. Rosina Selerin vergiftete sich mit Giftpflanzen, die sie konsumiert hatte, vielleicht bei der Speisenzubereitung (oder ging es hier nicht auch um Selbstmord?)56 ; Melcher Fleck wiederum erfror im Winter auf der Voitsdorfer Ebene, nachdem er sich verirrt hatte57 . Und an welcher Krankheit litt wohl der junge Graupener Pfarrer Simonis, der ein halbes Jahr vor seinem Tode in der Kirche wiederholt stolperte und fiel, als er zum Altar trat und noch davor einen Teil seiner Soutane verlor58 ? Frauen überlebten oft die Geburt oder die nachfolgenden Komplikationen nicht; Männer zogen sich bei ihrer Arbeitstätigkeit fatale Verletzungen zu, Verletzungen des Kopfes, des Körpers und der Gliedmaßen, denen sie nicht selten erlagen, wenn auch eine Amputation

48 49 50

51 52 53 54 55 56 57 58

Gedenkbuch (wie Anm. 1), 271. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 392. Státní okresní archiv Teplice, Archiv mˇesta Krupka, Inv. Nr. 56, Buch Nr. 1 – Pamˇetní kniha 1426–1853 ˇ [Gedenkbuch 1426–1853], fol. 92 (Schlag) und Státní oblastní archiv Litomˇeˇrice, Matriky, Rímskokatolický farní úˇrad Krupka, pag. 230 (Tod). Gedenkbuch (wie Anm. 1), 289. Vgl. ROY P ORTER: Gout. The patrician malady, London 2000. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 110. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 330. Zur Thematik der Selbstmorde vgl. A LEXANDER K ÄSTNER: Tödliche Geschichte(n). Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547–1815), Konstanz 2012. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 363. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 73. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 210.

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nicht half. Hinzu kamen die Opfer von Straftaten59 und der Tod von Bergleuten beim Sturz in einen Schacht oder an Asthma. Gorge Schiderich brach sich bei der Handhabung der Weinpresse das Genick; Nickel Wagner starb an hohem Blutverlust, nachdem er sich ins Bein gehackt hatte; einige Männer wurden auf dem Wagen oder Schlitten von ihrer schweren Ladung erschlagen; Hans Hüebel verstarb infolge einer nicht gelungenen Amputation der linken Schulter, in die ihn zuvor sein Widersacher dreimal mit dem Messer gestochen hatte, wovon der Wundbrand bekam. Größeres Glück hatte in dieser Hinsicht Stüelers Frau, die sich nach einer tiefen Stichwunde am Bein wieder erholte. Viele Leute jedoch starben einfach nur aus Altersgründen, einige davon im Spital60 , und mitunter in einem wirklich bemerkenswerten Alter, vereinzelt sogar jenseits der neunzig Jahre. Die Graupener nahmen bei der Heilung schwerer Verletzungen und einiger Erkrankungen sowohl die Dienste des örtlichen Baders als auch mitunter des Baders aus Teplitz oder anderer Spezialisten in Anspruch. Bei der erwähnten Amputation Hüebels assistierte ebenfalls der Teplitzer Bader, wohl ein Feldscher, der vor allem mit Stich- und Hiebwunden Erfahrung besaß. Stüeler rief den Bader sowohl zu seiner durch ein Messer verletzten Frau, was ihn zweieinhalb Taler kostete, als auch bei seinem schmerzenden Zeh, was nicht viel billiger war. Die Bader öffneten die Wunden und reinigten sie; danach verbanden sie diese und gaben eine Wundsalbe hinzu – ein schlechter Verband konnte Infektion und Wundbrand verursachen. Als Urheber eines solchen beschuldigte Stüeler auch den Bader, der den Eingriff bei Hüebel vornahm. Die Bader führten weiterhin den Aderlass durch, wobei dieser Prozess (die sog. Purgation), den auch der hiesige Gerber nicht ausließ61 , zum Ziel hatte, ein ausgeglichenes Verhältnis der Körpersäfte zu erreichen, die nach den damaligen Vorstellungen im Gleichgewicht sein sollten62 . Verwendete vielleicht Stüeler auch ein reinigendes Schwitzbad? Dieses erwähnt er zwar einmal in seinen Erinnerungen, jedoch nie im Zusammenhang mit seiner eigenen Erfahrung. Nötig waren die Bader auch bei Brüchen und Verrenkungen der Gliedmaßen, die durch verschiedene Stürze verursacht wurden, wie vor allem im Winter auf der Straße, aber auch im Sommer und Herbst von den Bäumen bei der Obsternte, aus den Bodenfenstern beim Einlagern vom Heu oder in verschiedene Gruben, z. B. in einen Fuchsbau oder direkt in einen Schacht. Nicht selten musste er auch Teilnehmer von Schlägereien behandeln, oder, was auch bei Stüeler der Fall war, Opfer von Gewalt im Haushalt. Michel Wagner hätte beinahe seiner Schwester mit dem Stock das Auge aus dem Kopf geschlagen. Ein anderer Mann ging unvorsichtig mit seiner Waffe um; es zerriss ihr den Lauf und er wurde schwer verletzt. Wenn der Bader nicht half, konnten sich die Leute auch an verschiedene Volksheiler oder Scharlatane wenden. Stüelers kleiner Tochter sollte ein Heiler aus dem vorerzgebirgischen Katzendorf (Kocourkov) bei der Beeinträchtigung des Augenlichts durch die Pocken helfen63 . Zu einem wirklichen Spezialisten, einem Doktor 59 60 61 62

63

Vgl. z. B. G ERD S CHWERHOFF: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/Berlin 1991. Vgl. z. B. ROBERT J ÜTTE: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln, Köln/Wien 1984. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 324. Dazu besonders H ANA F LORIÁNOVÁ: Pouštˇení žilou ve stˇredovˇeku [Der Aderlass im Mittelalter]. In: Historia monastica I, Praha 2005, 45–48. Hier auch Hinweise auf weitere relevante medizingeschichtliche Literatur. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 91. Zum medizinischen Angebot vgl. ROBERT J ÜTTE: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der Frühen Neuzeit, München 1991.

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aus Nürnberg, der sich damals in Aussig an der Elbe aufhielt, begab sich einer seiner Graupener Nachbarn, um von ihm die Spalte im Obergaumen seiner Tochter entfernen zu lassen, damals auch Hasenscharte genannt64 . Von den gewöhnlichen Krankheiten versuchten sich die Graupener selbst zu heilen und nutzten dazu sowohl die Apotheke, die in Graupen von der wohlhabenden Familie Hainer geführt wurde, als auch Kräuter aus dem eigenen Garten und Gebrauchsanweisungen in medizinischen Büchern (oder Kräuterbüchern). Auch Stüeler hatte mindestens eines davon. Die Sorge eines jeden Haushälters bzw. einer selbständigen Haushälterin vor dem Tode galt der Regelung der Besitz- und Erbangelegenheiten. Zu diesem Zweck setzten sie einen letzten Willen auf oder diktierten ihn zumindest in der zeitgenössischen Terminologie eines Testaments. Aus Graupen ist in der betreffenden Zeit leider keines überkommen. Wir setzen voraus, dass es auch hier eine standardisierte Form und Struktur hatte65 , also dass sein Verfasser darin zunächst seine Seele Gott übereignete und danach zur Verteilung des Vermögens zwischen seinen Erben schritt. Solange der Partner lebte und er Kinder hatte, wurden meistens diese zu Universalerben ernannt, aber auch ihre Enterbung war nicht ausgeschlossen. Vererbt wurden sowohl Immobilien, Bargeld und Schmuck als auch Einzelstücke des häuslichen Inventars, besonders Textilien. Auch Verwandte und engere Freunde kamen nicht zu kurz, aber auch ein Diener, der sich durch außergewöhnlich treue Dienste auszeichnete, konnte mit einem Legat bedacht werden. Spezifisch waren Vermächtnisse für fromme und karitative Zwecke oder Vermächtnisse an lokale Institutionen, einschließlich der Gemeinde, Zünften oder Bruderschaften. Im Jahre 1614 vermachte die Gemahlin des verstorbenen Basilius Köler je fünfzig Schock Meissner Groschen der Kirche, den Schulbediensteten und armen Leuten66 . Die Graupener Apothekerin Magdalena Hainer vermachte der Gemeinde, unter Berücksichtigung Stüelers, sogar fünfhundert und der Pfarrkirche zweihundert Schock Groschen, während sie das ursprüngliche Testament annullierte und den Universalerben Lorenz Rau im Prinzip enterbte67 . Rau erhob aber Einspruch und erhielt schließlich doch wenigstens einen kleinen Teil des Erbes. Eine der Bürgerinnen vermachte den Graupener Literaten eine Wiese, in deren Besitz sich schließlich die Mitglieder der Bruderschaft jährlich abwechselten68 . Dieselbe Frau vermachte in Stüelers Anwesenheit ihrem Dienstmädchen vier Schock Groschen in bar, hohe Schuhe und zwei Paar flache Schuhe als Dienstlohn, weiter Federbett, Kissen, einen Tuchmantel und eine Tuchschürze69 . Stüeler und seine Nächsten erbten ebenfalls: seine zweite Ehefrau nach dem Tod des Bruders einen Branntweinkessel oder die dritte Ehefrau einen Weinberg und wertvolle Kleidung von ihrem vorhergehenden Mann. Schließlich schickte sich auch Stüeler an, seinen letzten Willen aufzusetzen, wie er schon einige Male beabsichtigt hatte. 64 65

66 67 68 69

Gedenkbuch (wie Anm. 1), 388. Vgl. z. B. M ICHAELA H RUBÁ: „Nedávej statku žádnému, dokud duše v tˇele“. Poz˚ustalostní praxe a agenda ˇ královských mˇest severozápadních Cech v pˇredbˇelohorské dobˇe [Nachlasspraxis und Agenda in den Königsstädten Nordwestböhmens vor der Schlacht am Weißen Berg], Ústí nad Labem 2002 oder T OMÁŠ M ALÝ: Kterak „Starochrudimští“ na smrtelném loži kšaftovali (Testamentární praxe v ranˇenovovˇeké Chrudimi [Testamentspraxis in der frühneuzeitlichen Chrudim]). In: Sborník prací východoˇceských archiv˚u 10 (2005), 13–36. Státní okresní archiv Teplice, Archiv mˇesta Krupka, Inv. Nr. 56, Buch Nr. 1 – Pamˇetní kniha 1426–1853 [Gedenkbuch 1426–1853], fol. 4. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 66. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 287. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 360.

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Zum Beispiel drohte er einmal an, das er denjenigen, der sich nicht so benahm, wie er erwartete, daran in seinem Testament erinnern werde. Stüelers letzten Willen kennen wir nicht, aber es besteht wohl kein Zweifel, dass seine Universalerbin seine Frau Elisabet mit ihren kleinen Kindern wurde, während sich die verheirateten und durch Mitgift saturierten Töchter aus den vorhergehenden Ehen höchstens an Kleinigkeiten erfreuen konnten. Es war auch Elisabet, die nicht lange nach dessen Ableben Stüelers Haus mit allem Zubehör verkaufte.

Abbildung 3: Friedhofskirche St. Anna in Graupen, um 1890.

Als Ort der letzten Ruhe diente den Graupener Einwohnern meist der Friedhof an der St. Annakirche (Abbildung 3), mitunter auch ihr Innenraum sowie in nicht wenigen Fällen Grabstätten unter der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt und unter der Klosterkirche Allerheiligen; in der Spitalkirche wurde nicht beigesetzt. In seltenen Fällen diente auch der Friedhof an der einsamen St. Prokopikirche, etwa einen Kilometer südlich der Stadt gelegen, als Begräbnisort, wo vor allem die Rosenthaler ihre Verstorbenen zur letzten Ruhe brachten, wo aber auch in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg Beerdigungen einiger hartnäckiger Graupener Lutheraner stattfanden, die der katholische Pfarrer nicht

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auf dem Boden der Stadt ruhen lassen wollte. Andere Graupener Lutheraner mussten sogar noch weiter entfernt beerdigt werden, nämlich auf der sächsischen Seite der Grenze70 . Die meisten der Graupener Verstorbenen kamen also auf den Friedhof bei der St. Annakirche71 . Der Trauerzug begab sich aus dem Haus des Verstorbenen am zweiten oder dritten Tag nach seinem Ableben dorthin, solange es sich nicht um eine stark ansteckende Krankheit handelte. An der Prozession nahmen neben den Verwandten, Freunden und der Dienerschaft auch Zunftmitglieder teil, was auch für die Ehefrauen der verstorbenen Handwerker galt. Die nächsten Angehörigen, natürlich ausschließlich Männer, trugen auf den Schultern den Sarg mit den sterblichen Überresten des Verstorbenen. Kleine Kinder konnten auf den Friedhof auch von einem Erwachsenen geführt werden, zumeist von dem Paten oder einem Elternteil. Zur Beerdigung eines Bekannten oder gar eines Verwandten nicht zu erscheinen und zu diesem Zweck Schleier und andere Trauergegenstände (Kleidungsstoffe, Gürtel, Kreuze, Kreuzchen u. Ä.) zu schicken, galt als eine große Respektlosigkeit. Als beim Tod von Stüelers Söhnchen dessen Onkel und Tante nicht kamen, um sich von ihrem Neffen zu verabschieden, zögerte der Autor des Gedenkbuches nicht, sie als Schelme zu bezeichnen72 . Den Trauerzug begleiteten Glockengeläut, manchmal mehrfach wiederholt, und Chorgesang der Mitglieder der Literatenbruderschaft bzw. der örtlichen Kantorei. Zu den regelmäßigen Sängern auf Begräbnissen gehörte Stüeler, der auch in der Mariascheiner Marienkirche bei der Beerdigung des Sobochlebener Herrn Karl Maximilian von Bleileben sowie des erschossenen kaiserlichen Hauptmanns Georg Jakob von Stadion sang. Die Glocken läuteten nicht bei Opfern eines Verbrechens, solange der Täter nicht gefasst war73 , sowie bei Neugeborenen, die ungetauft geblieben waren. Schließlich wurde den Lutheranern weder geläutet noch gesungen, wenn es der katholische Pfarrer verbot. Dieser konnte sogar verbieten, ein nichtkatholisches Grab mit einem Kreuz zu kennzeichnen. Wie eines dieser Begräbnisse aussah, beschreibt Stüeler sehr detailliert: Den 19. dito [August 1646] Mortuus est uxor sua Maria Michael Pazelt früe umb 8 Uhr, ihres Alters 45 Jahr und den 21. dito uf S. Anna-Kirchhoff begraben worden ohne Klang. Und hat die Cantorei nicht weiter gesungen bis ufn Kirchhoff. Auch ist die Kirche vorsperrt gewest, daß kein Mensch hat können neiner gehen, es hat keines dürffen ufm Kirchhoff niederknien bei Straf. Es haben die Bergleute als Michel Stübner ausn Geusing angefangen zu singen „Nun last uns den Leib begraben“74 und „O Welt, ich mus dich lassen“75 . Und ist die Glocke ufn Mückenberg geleutet worden. Den sie ist Luterisch gewest. Meiner Liesen 2 Elen zum Trauerschleier geben. Und Gott sei ihr genedig. Bin 2 mal beim Pfarrherrn gewest, daß ich die Cantorei habe erlangt und das Creuze. Gorge Janich, Paul Mennichen, Merten Partelt, Elias Mende, Hans Prinziger, Christian Reichel haben sie getragen. Hat sehr geregnet76 . 70

71 72 73 74 75 76

Wie Katarina Pizigerin, verstorben im Februar 1648 und beerdigt in Fürstenau (Gedenkbuch (wie Anm. 1), 365) oder auch Maz Forman, verstorben im November 1642 und beerdigt in Geising (Gedenkbuch (wie Anm. 1), 269). Zu Beerdigungen im betreffenden Zeitraum vgl. M ARTIN I LLI: Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt, Zürich 1992. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 80. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 103. Es handelt sich um ein Begräbnislied von Pastor Michael Weiße (1488–1534), einem böhmischen Bruder. Ein lutherisches Lied auf eine ältere Melodie, wahrscheinlich von Heinrich Issac († 1517). Gedenkbuch (wie Anm. 1), 339.

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Nach der von einem Pastor oder Pfarrer eventuell vorgetragenen Predigt über dem Leichnam wurde dieser in das Grab gelegt, das in der Regel der Totengräber vorbereitet hatte, manchmal aber auch der Bader77 . Mit dieser Tätigkeit befasste sich auch Stüeler, ohne sie jedoch zu konkretisieren. Einmal soll er sich bei der Beerdigung eines kleinen Kindes so fünf Groschen hinzuverdient haben78 . Kleinere Einnahmen konnte er auch durch seinen Gesang erzielen, meist wurden jedoch die Musikanten nur bewirtet bzw. mit Wein oder Bier beschenkt. Dagegen hatten die Totengräber, die ihren Dienst oftmals lange Jahre gleichzeitig als Nachtwächter ausübten, ein ständiges Gehalt, zu Beginn der 30er Jahre des 17. Jahrhunderts dreißig Kreuzer wöchentlich. Dazu bekamen sie ein Entgelt für jedes Begräbnis, wobei gestaffelt wurde, ob es sich um einen Erwachsenen, einen Halbwüchsigen oder ein Kleinkind handelte. Es wurden auch vier böhmische Groschen an die Kirche gezahlt, falls geläutet wurde79 . Zudem musste mit weiteren Ausgaben gerechnet werden, unter anderem für Textilien oder Bewirtungskosten. Ein Gastmahl nach dem Begräbnis fand nicht immer statt; auch die Verteilung von Brot und Wein an die armen Leute lag im Ermessen des Verstorbenen und an seinen Vermögensverhältnissen. Eine Beerdigung war aber in jedem Fall für die Verwandten eine aufwändige Angelegenheit; Stüeler haben die letzten Dinge seines wenige Wochen alten Söhnchens Daniel (I.) fünf80 und im Falle des dreizehnjährigen Jeremias sogar achteinhalb Gulden gekostet81 . Seine Ehefrau Dorothea beerdigte er gemeinsam mit dem verstorbenen Neugeborenen Christian, der im Sarg in ihren Arm gelegt wurde; ihren Leichnam trugen die Mitglieder der Zunft der Gerber und Bäcker auf den St. Annafriedhof82 . Michel Stüeler selbst starb am 26. November 1656 im Alter von 73 Jahren und wurde ebenfalls dort, an der Seite seiner nächsten Angehörigen beigesetzt83 . Die Toten erwartete nach den damaligen Vorstellungen eine freudige Auferstehung zum ewigen Leben. Vielen sollte ihre Pilgerfahrt nach dem Tode neben Gebeten der Hinterbliebenen (besonders im katholischen Milieu) auch durch Seelenmessen erleichtert werden84 , für die ein bestimmter Betrag aus dem Nachlass bestimmt wurde. Einige Graupener ließen sich aufwändige Grabsteine anfertigen, die seit dem 16. Jahrhundert auch im Bürgertum häufiger Verwendung fanden, oder gar Epitaphe (im Unterschied zu den Grabsteinen deckten sie das Grab nicht ab, sondern bewahrten an den Kirchenwänden das Andenken des bzw. der Verstorbenen), auch wenn aus der Graupener Umgebung keines mehr erhalten ist85 . Der Auftraggeber konnte zwischen figuralen, symbolischen und beschrifteten Grabsteinen auswählen. Von den Materialien war der dauerhafte Marmor beliebt und zwar in roter Schattierung; sepulkrale Denkmäler aus Sandstein und

77 78 79 80 81 82 83 84 85

Gedenkbuch (wie Anm. 1), 351–352. Es handelte sich um das Opfer eines Infantizids. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 391. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 80. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 80. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 140. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 144. ˇ Státní oblastní archiv Litomˇeˇrice, Matriky, Rímsko-katolický farní úˇrad Krupka, Sign. 83/2 – Narození, oddaní, zemˇrelí 1652–1744 [Geborene, Verheiratete, Gestorbene 1652–1744], pag. 231. Vgl. Gedenkbuch (wie Anm. 1), 378. ˇ Vgl. O ND REJ JAKUBEC (Hg.): Ku vˇecˇ né památce. Malované renesanˇcní epitafy v cˇ eských zemích [Zum ewigen Gedenken. Gemalte Renaissance-Epitaphe in den Böhmischen Ländern], Olomouc 2007.

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Abbildung 4: Interieur der St. Anna-Kirche in Graupen, um 1939.

Schiefer unterlagen nämlicher leichter der Verwitterung86 . Letztere aber überwogen im bürgerlichen Graupen. Weiterhin wurde ihre langfristige Erhaltung durch die absichtlich horizontale Platzierung im Boden der Kirche erschwert, wo gelaufen wurde; lutherische Kirchen waren damit oftmals völlig ausgefüllt. Erst sehr viel später begann man, wertvolle Grabsteine in die ursprüngliche Lage zurückzuversetzen, also in eine vertikale Position an der Kirchenmauer, wie dies auch in der St. Annakirche in Graupen geschehen ist. Hatte hier wohl auch der Graupener Gerber und Chronist Stüeler seinen Grabstein? In diesem Falle muss dieser schon vor langer Zeit verschwunden sein, noch vor dem Ende des vorletzten Jahrhunderts. Er könnte dem erhaltenen Grabstein seines guten Bekannten Michel Weiner ähnlich gewesen sein, der nur drei Jahre vor Stüeler gestorben war. Es handelt 86

ˇ Vgl. P ETRA NACERADSKÁ : Nápisy okresu Kutná Hora [Inschriften im Kreis Kuttenberg], Praha 2002; ˇ ˇ ROHÁCEK J I RÍ : Nápisy mˇesta Kutné Hory [Inschriften der Stadt Kuttenberg], Praha 1996.

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sich um einen Grabstein aus rötlich gefärbtem Sandstein mit einer frommen Umschrift an den Rändern, im Feld mit Angaben über den Toten und mit Wünschen einer glücklichen Wiederauferstehung. Unten im Oval befindet sich ein Zeichen, jedoch kein persönliches (Wappen), sondern ein symbolisches87 .

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Zu dem kleinen, aber sicher interessanten Komplex Graupener Grabsteine in St. Anna bisher nur F ER ˇ DINAND M AD ERA : Heraldické památky regionu Teplice [Heraldische Denkmäler der Region Teplitz], Teplice 2001, 51–54.

Böhmen in Bamberg: Migration und Integration vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert von Mark Häberlein und Lina Hörl I.

Einleitung

Die Migrations- und Handelsbeziehungen zwischen dem Königreich Böhmen und seinen Nachbarregionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit sind in der Forschung bereits auf verschiedenen Ebenen untersucht worden. Erstens hat sich eine Reihe von Studien mit den wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen der Handelsmetropole Nürnberg und Böhmen befasst. Zwischen der Mitte des 15. und dem frühen 17. Jahrhundert unterhielten Kaufleute der fränkischen Reichsstadt intensive Beziehungen zu Städten wie Prag, Eger und Pilsen und investierten in den Kuttenberger und Schlaggenwalder Bergbau1 . In der Reformationszeit war Nürnberg zudem ein wichtiger Druckort für tschechischsprachige Bücher; der aus Schwabach stammende Hans Peck, der von Nürnberg nach Pilsen übersiedelte, steht beispielhaft für die intensiven Beziehungen im Druckergewerbe im frühen 16. Jahrhundert2 . Zweitens trugen die Bildungsreisen böhmischer Adeliger und die Mobilität von Gelehrten seit dem Spätmittelalter zu einer Verdichtung der Kommunikation und des kulturellen Austauschs innerhalb Mitteleuropas bei3 . Drittens führten die Rekatholisierungsmaßnahmen der Habsburger nach ihrem militärischen Sieg über die böhmischen „Rebellen“ seit den 1620er Jahren zu starken Migrationsbewegungen 1

2

3

Vgl. R ICHARD K LIER: Nürnberg und Kuttenberg. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 48 (1958), 51–78; F RIEDRICH L ÜTGE: Der Handel Nürnbergs nach Osten im 15./16. Jahrhundert. In: S TADTARCHIV N ÜRNBERG (Hg.): Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Bd. 1, Nürnberg 1967, 318–376, bes. 326–338; H EKTOR A MMANN: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter (= Nürnberger Forschungen 13), Nürnberg 1970, 156–160; J OSEF JANÁCEK: Prag und Nürnberg im 16. Jahrhundert (1489–1618). In: I NGOMAR B OG (Hg.): Der Außenhandel Ostmitteleuropas 1450–1650. Die ostmitteleuropäischen Volkswirtschaften in ihren Beziehungen zu Mitteleuropa, Köln/ Wien 1971, 204–228; H ELMUT H ALLER VON H ALLERSTEIN: Nürnberger Unternehmer im Bergbau und Zinnhandel zu Schlaggenwald im 16. und 17. Jahrhundert. In: Scripta Mercaturae 9/1 (1975), 41–72; M ILOSLAV P OLÍVKA: Wirtschaftliche Beziehungen mit den „Böhmischen Ketzern“ in den Jahren 1419 bis 1434. Haben die Nürnberger mit den Hussiten Handel betrieben? In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 86 (1999), 1–19. F RANZ S PINA: Tschechischer Buchdruck in Nürnberg am Anfang des 16. Jahrhunderts. In: Untersuchungen und Quellen zur Germanischen und Romanischen Philologie (= Prager deutsche Studien 9), Prag 1908, 29–51; H OLGER K LATTE: Handelsbeziehungen zwischen Nürnberg und Prag im Spiegel deutschtschechischer Sprachlehrwerke des 16. Jahrhunderts. In: M ARK H ÄBERLEIN , C HRISTIAN K UHN (Hg.): Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke (= Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 7), Wiesbaden 2010, 197–209. JAROSLAV PÁNEK , M ILOSLAX P OLÍVKA: Die böhmischen Adelsreisen und ihr Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit. In: R AINER BABEL , W ERNER PARAVICINI (Hg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, 53–69; M ARTIN H OLY: Ausländische Bildungsreisen böhmischer und mährischer Adeliger an der Schwelle zur Neuzeit. In: Historica. Historical Sciences in the Czech Republic, Series Nova 11 (2004), 65–90; DERS .: Vzd˘elanostní migrace v cˇ esko-n˘emeckém prostoru v 16. a raném 17. století [Bildungsmigration im böhmisch-deutschen Raum im 16. und frühen 17. Jahrhundert]. In: Navzdory hranici. Migraˇcni procesy na cˇ esko-n˘emeckém pomezí/ Trotz der Grenze. Migrationsprozesse im tschechisch-deutschen Grenzgebiet. Fachtagungsvorträge, Eger 27.–29. Mai 2013, Pilsen 2013, 18–31.

Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016), S. 89–113

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ins protestantische Sachsen, die sich sowohl in der dauerhaften Niederlassung böhmischer Exulanten in größeren Städten und eigenen Siedlungen als auch in einem intensiven „kleinen Grenzverkehr“ in der böhmisch-sächsischen Grenzregion manifestierten4 . Der im Folgenden untersuchte Fall der Migrations- und Handelsbeziehungen zwischen Böhmen und der fränkischen Residenzstadt Bamberg entspricht indessen keinem der genannten Muster. Weder erlangte Bamberg in der Frühen Neuzeit eine vergleichbare ökonomische Zentralität wie Nürnberg, noch spielten konfessionelle Faktoren für die Migration zwischen Böhmen und dem Hochstift Bamberg nach dem Westfälischen Frieden eine Rolle, da es sich um Regionen gleicher (katholischer) Konfessionszugehörigkeit handelte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Wanderungsbewegungen von Böhmen nach Bamberg sowie das Auftreten böhmischer Händler in der fränkischen Bischofsstadt primär durch die Suche nach Arbeitsmöglichkeiten und Absatzmärkten motiviert waren. Dass es sich gleichwohl um ein Phänomen von beträchtlicher Größenordnung handelte, werden unsere Untersuchungen, die sich in erster Linie auf Bamberger Archivmaterial stützen, zeigen. Zugleich sollen sie verdeutlichen, dass die Beziehungen zwischen den Regionen Böhmen und Franken ganz unterschiedliche Personenkreise – von Hofkünstlern über Kaufleute und zünftische Handwerker bis hin zu Angehörigen der nichtsesshaften Unterschichten – umfassten und sich auch angesichts der Vielfalt der Migrationserfahrungen – die von erfolgreicher Integration bis zu geschäftlichem Scheitern und kriminellem Verhalten reichten – kaum in gängige Typologien der historischen Migrationsforschung einordnen lassen5 . Um einen Eindruck von der Größenordnung der böhmischen Zuwanderung in Bamberg zu vermitteln, werden zunächst zwei serielle Quellen, die von 1625 bis 1819 weitgehend vollständig überlieferten Bamberger Bürgerbücher sowie die vor allem auf der Auswertung von Pfarrmatrikeln basierende sog. Röttinger-Kartei des Stadtarchivs Bamberg ausgewertet (Abschnitte II und III). Neben Umfang und zeitlichen Konjunkturen der böhmischen 4

5

Vgl. L ENKA B OBKOVÁ: Böhmische Exulanten in Sachsen während des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel der Stadt Pirna. In: Frühneuzeit-Info 10 (1999), 21–30; A LEXANDER S CHUNKA: Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert (= Pluralisierung & Autorität 7), Münster u. a. 2006; D ERS.: Böhmische Exulanten in Sachsen seit dem 17. Jahrhundert. In: K LAUS J. BADE u. a. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u. a. 2007, 410–413; W ULF WÄNTIG: Kursächsische Exulantenaufnahme im 17. Jahrhundert. Zwischen zentraler Dresdner Politik und lebensweltlicher Bindung lokaler Machtträger an der sächsischböhmischen Grenze. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 74/75 (2003/04), 133–174; D ERS.: Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert (= Konflikte und Kultur 14), Konstanz 2007; D ERS.: Der Taufbrunnen jenseits der Grenze. Alltagserfahrung, kirchliche Praxis und religiöse Flucht im böhmisch-sächsisch-oberlausitzischen Grenzraum. In: J OACHIM BAHLCKE , R AINER B ENDEL (Hg.): Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Köln/Weimar/Wien 2008, 203–222; M ILOŠ Rˇ EZNÍK: Migrace raného novov˘eku a 19. století v cˇ esko-saském prostoru. Metody, koncepty a vyzkumy v souˇcasné historiografii [Migration in der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts im böhmisch-sächsischen Raum. Methoden, Konzepten und Forschungen in der gegenwärtigen Historiographie]. In: Navzdory hranici (wie Anm. 3), 7–17; H ANA K NETLOVÁ: Regulace pˇrekaˇcování hranic v období rekatolizace Chebu v první polovin˘e 17. století [Regulierungen der Grenzüberschreitung im Zeitraum der Rekatholisierung in Eger der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts]. In: ebenda, 32–44. Vgl. M ATTHIAS A SCHE: Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit – Versuch einer Typologie. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 32 (2004), 74–89; K LAUS J. BADE , JAN L UCASSEN , L EO L UCASSEN: Terminologien und Konzepte der Migrationsforschung. In: BADE u. a. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa (wie Anm. 4), 28–53; R EINHARD BAUMANN , ROLF K IESSLING (Hg.): Mobilität und Migration in der Region (= Forum Suevicum 10), Konstanz 2013.

Migration und Integration

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Zuwanderung nach Bamberg geben diese Quellen Auskunft über Herkunft, Geschlecht, Familienstand und Beruf6 . Daran anschließend werden einige Böhmen, über deren Lebensläufe die Bamberger Quellen nähere Auskunft geben, exemplarisch vorgestellt (Abschnitt IV). Während im Falle des Hofbildhauers Ferdinand Tietz und des Hofmusikers Kaspar Bäuml von einer erfolgreichen Integration gesprochen werden kann, veranschaulichen der Konkurs eines Kaufmanns und die Ausweisung eines Handwerksgesellen die Erfahrungen geschäftlichen Scheiterns und gesellschaftlicher Ablehnung. Ein eigener Abschnitt (V) ist den Aktivitäten böhmischer Händler auf den Bamberger Märkten gewidmet. Der singuläre, dicht dokumentierte Fall einer Mesalliance zwischen einem fränkischen Adeligen und einer böhmischen Komödiantin unterstreicht abschließend nochmals die Vielgestaltigkeit der Beziehungen zwischen den beiden Regionen (Abschnitt VI). II.

Einbürgerungen von Böhmen in Bamberg

Bei der Aufnahme in die Bürgerschaft der Stadt Bamberg war in der Frühen Neuzeit grundsätzlich ein Bürgergeld zu zahlen, welches zusammen mit einigen schematischen Informationen zur betreffenden Person in Bürgerbüchern dokumentiert wurde. Für Bamberg geben sieben von der Stadtwochenstube geführte Bände nahezu lückenlos Auskunft über die Bürgerrechtsverleihungen von 1625 bis 1819. In diesem Zeitraum wurde für insgesamt 8 899 Personen das Bürgergeld gezahlt. Das mit verschiedenen Rechten und Pflichten behaftete Bürgerrecht stand in einem engen Zusammenhang mit der Erlaubnis zur Ausübung einer Handels- bzw. Handwerkstätigkeit. Das Meisterrecht erforderte den Kauf des sogenannten kleinen Bürgerrechts; die Ausübung einer Handelstätigkeit setzte ein spezielles großes Bürgerrecht voraus. Auch die Konzession einer Brenn-, Brau- oder Schanktätigkeit war an den Erwerb des großen Bürgerrechts geknüpft, sodass vor der Aufnahme eines dieser Berufe zuerst das entsprechende Bürgergeld entrichtet werden musste7 . Hinweise auf die Herkunft der Neubürger liegen für 7 651 dieser 8 899 Fälle vor. Knapp zwei Drittel (66 %) aller Neubürger mit eindeutiger Herkunftsangabe stammte erwartungsgemäß aus der Stadt selbst oder einem anderen Ort im Hochstift Bamberg. Gut ein Drittel (34 %) der in den Bürgerbüchern mit Nennung des Herkunftsorts registrierten 6

7

Zu den Bamberger Bürgerbüchern und ihren Auswertungsmöglichkeiten siehe L INA H ÖRL: Worin eigentlich die Würkungen des Großen und Kleinen Burgerrechts bestehen? Das Bamberger Bürgerrecht im 17. und 18. Jahrhundert. In: A DA R AEV, M ARGARETE WAGNER -B RAUN , M IRJAM S CHAMBECK (Hg.): Kolloquium 2009. Beiträge Bamberger Nachwuchswissenschaftlerinnen (= Forschende Frauen in Bamberg 2), Bamberg 2009, 63–95; D IES.: Von Schneidern, Schustern und Zitronenkrämern. Die Bürgerbücher der Stadt Bamberg von 1625 bis 1819. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 28 (2010), 79–98. Vgl. H ÖRL: Worin eigentlich die Würkungen (wie Anm. 6); D IES.: Von Schneidern (wie Anm. 6); D IES .: Handwerk in Bamberg. Strukturen, Praktiken und Interaktionen in Stadt und Hochstift (1650–1800) (= Stadt und Region in der Vormoderne 2 / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 20), Würzburg 2014, 57–90. – Zum Bürgerrecht in der Vormoderne im Allgemeinen vgl. G ERHARD D ILCHER: Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 1996; E RNST B RUCKMÜLLER: Art. Bürger. In: F RIEDRICH JAEGER (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 2005, 546–548; A NDREAS FAHRMEIR: Art. Bürgerrecht. In: ebenda, 575–580; R AINER C HRISTOPH S CHWINGES (Hg.): Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550) (= Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 30), Berlin 2002; B ERT DE M UNCK , A NNE W INTER (Hg.): Gated Communities? Regulating Migration in Early Modern Cities, Surrey/Burlington 2012.

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Mark Häberlein und Lina Hörl

Personen war hingegen aus einem anderen Territorium in die fränkische Bischofsstadt übergesiedelt8 . Darunter befanden sich insgesamt 75 aus Böhmen stammende Neubürger, die im Zeitraum von 1633 bis 1810 in die Bürgerlisten eingetragen wurden. Gemessen an der Gesamtzahl aller Neubürger mit Herkunftsangabe entspricht dies einem Anteil von knapp unter einem Prozent. Unter allen von außerhalb des Hochstifts stammenden Neubürgern machen die Böhmen einen Anteil von etwa drei Prozent aus. Von den 75 aus Böhmen stammenden Neubürgern waren 49 Männer und 26 Frauen. 52 Böhmen erwarben das kleine Bürgerrecht (69 %), das zur Ausübung eines Handwerks berechtigte, 19 zahlten das für Handels- und Schanktätigkeit vorgesehene große Bürgergeld (25 %), vier weitere erhielten lediglich den Status eines minderberechtigten Schutzverwandten (5 %). Mit dieser Verteilung entspricht der Rechtsstatus der böhmischen Neubürger in groben Zügen dem Bild, das für die Gesamtheit der Bamberger Neubürger ermittelt werden konnte. Denn von allen neu aufgenommenen Bürgern, die mit einem eindeutigen Rechtsstatus verzeichnet wurden (8 747), entschieden sich 60 Prozent für das kleine Bürgerrecht, 37 Prozent wählten das große Bürgerrecht und drei Prozent zahlten ein Schutzgeld9 . Der 1725 eingebürgerte Maler Joseph Stoll stockte sein kleines Bürgerrecht später zum großen auf, um Kramhandel treiben zu können10 . Zeiträume, in denen verstärkt Neubürger aufgenommen wurden, lassen sich für die fränkische Residenzstadt um 1700, um 1750 und noch einmal gegen Ende des 18. Jahrhunderts identifizieren.11 Auch die Registrierung der böhmischen Neubürger lässt Phasen verstärkter Zuwanderung erkennen, die sich mit Phasen abwechselten, in denen über mehrere Jahre hinweg kein einziger Böhme in Bamberg ansässig wurde. Erste Belege finden sich für die Jahre 1633, als Thomas Köhler aus Eger das große Bürgerrecht erhielt, und 1637, als Barbara Jäger aus Karlsbad, die Frau des Schmieds Jacob Igel, in die Bürgerschaft aufgenommen wurde12 . Ein stärkerer Zuzug aus Böhmen ist hingegen erst im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts zu erkennen, in dem 24 Böhmen in Bamberg eingebürgert wurden – dies entspricht knapp einem Drittel aller böhmischen Neubürger des Untersuchungszeitraums. Auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist mit 17 Neubürgern im ersten und 16 im zweiten Vierteljahrhundert ein relativ starker Zuzug feststellbar; danach gehen die Einbürgerungen von Böhmen deutlich zurück. Unter den Herkunftsorten der böhmischen Neubürger sticht die alte Reichsstadt Eger (Cheb), die seit Mitte des 14. Jahrhunderts zum Königreich Böhmen gehörte13 und 8 9 10

11 12 13

Vgl. H ÖRL: Von Schneidern (wie Anm. 6), 94–97. Vgl. ebenda, 85. Stadtarchiv Bamberg (im Folgenden: StadtABa), B 7 Nr. 7 fol. 203 v. Dass die normativ festgelegte Voraussetzung des Erwerbs des großen Bürgerrechts für die Aufnahme einer Handelstätigkeit in der Praxis allerdings nicht immer eingehalten wurde, zeigt L INA H ÖRL: Handelsrechte als Verhandlungssache. Bürgerrecht, Handel und Handwerk in der Stadt Bamberg im 17. und 18. Jahrhundert. In: M ARK H ÄBERLEIN , M ICHAELA S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Handel, Händler und Märkte in Bamberg. Akteure, Strukturen und Entwicklung in einer vormodernen Residenzstadt (1300–1800) (= Stadt und Region in der Vormoderne 3 / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 21), Würzburg 2015, 151–170. Vgl. ebenda; H ÖRL: Handwerk (wie Anm. 7), 76–82. StadtABa, B 7, Nr. 1, fol. 31 r, 50 r. Formalrechtlich war Eger seit 1353 an das Königreich Böhmen verpfändet, die Pfandschaft wurde jedoch bis zum Ende des Alten Reiches nicht eingelöst. Vgl. G ERHARD KÖBLER: Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien und reichunmittelbaren Geschlechter vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 6. Aufl. Darmstadt 1999, 143 f.

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Migration und Integration

Tabelle 1: Konjunkturen der Einbürgerung von Böhmen in Bamberg

Eger

andere Orte

Böhmen insgesamt

1625–1649 1650–1674 1675–1699 1700–1724 1725–1749 1750–1774 1775–1799 1800–1819

1 1 13 8 6 — — —

1 2 11 9 10 4 4 5

2 3 24 17 16 4 4 5

Gesamt

29

46

75

Zeitraum

um die Mitte des 18. Jahrhunderts etwa 5 500 Einwohner zählte14 , mit 29 Neubürgern heraus. Die Zuwanderung aus Eger konzentrierte sich im letzten Viertel des 17. sowie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als Gründe für diese auffällige Konzentration kommen die relative geographische Nähe und etablierte Handelsbeziehungen15 ebenso in Betracht wie Phänomene der Kettenwanderung. Bei den beiden Zeugmachern Christoph und Thomas Rasp, die mit ihren Familien 1693 nach Bamberg kamen und nach einer Serie von Ratenzahlungen 1702 bzw. 1703 das Bürgerrecht erhielten, könnte es sich um Brüder handeln. Die fünf Kinder des Christoph sowie die Tochter des Thomas Rasp blieben vom Bürgerrecht ausgeschlossen.16 Bei Anna Elisabeth und Magdalena Bollandin, die 1739 bzw. 1749 Bamberger Bürgerinnen wurden und beide Maler heirateten, dürfte es sich um Schwestern handeln.17 Auffällig ist auch, dass 1688/89 kurz nacheinander mit Johann Anton Popp und Georg Adam Ludwig zwei Apotheker aus Eger nach Bamberg zogen und dort die Obere bzw. Untere Apotheke übernahmen18 , Mitunter wurde in den Bürgerbüchern festgehalten, dass die Neubürger über Jahre hinweg die Aufnahmegebühren in Raten abzahlten. Neben den bereits erwähnten Christoph und Thomas Rasp lässt sich dies beispielsweise auch für den Schuster Adam Benzel aus Eger, der von 1676 bis 1687 Ratenzahlungen leistete, und den aus derselben Stadt stam-

14 15

16 17 18

H ERIBERT S TURM: Eger. Geschichte einer Reichsstadt, Augsburg 1951, 220. Statistisch-topographische Beschreibungen des Hochstifts Bamberg vom Ende des 18. Jahrhunderts weisen u. a. auf den regen Handel mit Bamberger Dörrobst und Gemüse nach Eger hin: B ENIGNUS P FEUFER: Beyträge zu Bambergs Topographischen und Statistischen so wohl älteren als auch neueren Geschichte, Bamberg 1792, 148, 165; F RANZ A DOLF S CHNEIDAWIND: Versuch einer statistischen Beschreibung des kaiserlichen Hochstifts Bamberg, 2 Bde., Bamberg 1797, Bd. 1, 147; vgl. auch S TURM: Eger (wie Anm. 14), 242; E RNST S CHUBERT: Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe IX 26), Neustadt an der Aisch 1990, 51. StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 169 r, 171 r–171 v. StadtABa, B 7, Nr. 8, fol. 25 v, 177 r. StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 15 v, 120 v.

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menden Gärtner Hans Sack feststellen, für den von 1688 bis 1696 Zahlungen vermerkt sind19 . Insgesamt erwarben fünf Böhmen – vier aus Eger, einer aus Brüx (Most) – auch für ihre aus ihrer Heimatregion stammenden Ehefrauen das Bamberger Bürgerrecht20 . Singulär ist der Fall der Frau des Andreas Bertach: Im Bürgerrechtseintrag des im März 1696 ins Bürgerrecht aufgenommenen Bortenwirkermeisters heißt es, seine namentlich nicht genannte, aber angeblich aus Eger stammende Frau sei von Jhme wider hinweg und zu ihren Eltern gezog[en]. Im Falle ihrer Rückkehr sei ihr Mann bereit, sechs Gulden für ihr Bürgerrecht zu zahlen. Ende 1705 wurde dann eine Maria Brandlin aus dem böhmischen Schlaggenwald (Horní Slavkov) als widergekommene Hausfrau des Andreas Bertach mit einer Zahlung von sechs Gulden im Bamberger Bürgerbuch verzeichnet21 . Im Falle des Constantin Saraba, der im Dezember 1698 eingebürgert wurde22 , lässt sich durch das Testament seiner ersten Frau nachweisen, dass seiner Bürgeraufnahme ein längerer Aufenthalt in Bamberg vorangegangen war. Im Oktober 1692 sah sich Eva Margaretha Sarabin durch unklückseelige, und schwere Kindtsnöthen veranlasst, ihren letzten Willen zu diktieren. Darin vermachte sie ihrem Bruder Hans Adam Dittrich, dem Bamberger Hofratsagenten in Wien, 15 Gulden, ihrem jüngsten Bruder Hans Conrad – dem sie außerdem einschärfte, er wolle umb Gottes willen meinen hinterlassenen offtgedachten Ehmann auff- und mich unter der Erden mit unnöthigen [. . . ] strittigkeiden nit beunruhigen – fünf Gulden und ihren Tauf- und Firmpatenkindern kleinere Legate. Als Universalerben ihrer unverteilten Habe setzte sie ihren Ehemann Constantin Saraba ein. Dafür sollte dieser 50 Messen für das Seelenheil seiner verstorbenen Frau in der Bamberger Pfarrkirche St. Martin lesen lassen und nach dem Begräbnis ein Almosen an die Armen geben23 . III. Herkunft, Erwerbstätigkeit und Heiratsverbindungen Weitere Informationen zu Böhmen in Bamberg, die zu einem Gesamtbild beitragen, können der sog. Röttingerkartei entnommen werden, einer in den 1920er und 30er Jahren angelegten Sammlung personenbezogener Daten im Stadtarchiv Bamberg. Die in dieser Kartei gesammelten Daten geben Auskunft über 186 aus Böhmen stammende Personen und lassen genauere Rückschlüsse auf deren Herkunft, Erwerbstätigkeiten und Heiratsverhalten zu24 . 36 Karteikarten beziehen sich auf Frauen, 150 wurden für aus Böhmen zugezogene Männer angelegt. In 19 Fällen ist die Herkunft der Personen lediglich mit der 19 20

21 22 23 24

StadtABa, B 7 Nr. 5, fol. 16 r; B 7, Nr. 6, fol. 184 v–185 r. Neben den erwähnten Christoph und Thomas Rasp waren dies der Hofschreiner Andreas Bauer aus Eger 1700 (StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 225 v), der aus derselben Stadt stammende Gärtner Oswald Luderich 1728 (StadtABa, B 7, Nr. 7, fol. 125 v) und der Goldschmied Carl Joseph Rudolph aus Brüx 1749 (StadtABa, B 7, Nr. 8, fol. 226 v). StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 13 v. StadtABa, B 7, Nr.6, fol. 202 v. Staatsarchiv Bamberg (im Folgenden: StABa), Hochstift Bamberg, Geistliche Regierung, Nr. 5286. Für die Datengrundlage danken wir Gabi Schopf, die die von ihr erfassten und aufbereiteten Daten aus der Röttingerkartei freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Zu den methodischen Problemen im Umgang mit dieser Kartei, die unter der ideologischen Prämisse angelegt wurde, als Grundlage für die Erstellung von Abstammungsnachweisen („Ariernachweisen“) zu dienen, vgl. G ABI S CHOPF: Zwischen den Welten. Italienische Kaufleute in Bamberg im 17. und 18. Jahrhundert. In: H ÄBERLEIN , S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Handel, Händler und Märkte (wie Anm. 10), 213–237, hier 214 f.

Migration und Integration

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allgemeinen Angabe versehen, dass sie aus Böhmen stammen würden. 167-mal verfügen die Karteikarten über eine genauer spezifizierte Angabe des Herkunftsortes. Auch hier sticht mit insgesamt 48 Nennungen die Stadt Eger besonders hervor; 16 weitere Personen stammten aus in der Nähe von Eger gelegenen Ortschaften wie dem Wallfahrtsort Maria Kulm. Einen Schwerpunkt bildete daneben die Hauptstadt Prag, aus der acht der in der Röttingerkartei aufgenommenen Personen kamen. Viermal sind Orte in der Nähe von Pilsen (Plzeˇn) als Herkunftsort genannt, dreimal Orte in der Nähe von Falkenau an der Eger (Sokolov). Alle weiteren Personen zogen aus Orten zu, die jeweils nur ein- oder zweimal innerhalb des Datensamples vorkommen. Ferner gibt die Röttingerkartei in den meisten Fällen Auskunft darüber, welchen Berufen die nach Bamberg zugezogenen Böhmen nachgingen. Bei 44 Personen fehlen die Angaben zur Erwerbstätigkeit. Vor allem bei den Frauen ist häufig kein Beruf genannt; nur in zehn Fällen sind hier Angaben zur Erwerbstätigkeit des Vaters oder des verstorbenen Mannes verzeichnet. Bei den Männern beziehen sich die Berufsangaben in der Regel auf die selbst ausgeübte Tätigkeit, jedoch fehlen auch hier in 19 Fällen Informationen. Insgesamt ergibt sich aus den Daten ein breites Spektrum an Berufen. So fanden sich unter den Böhmen die Tochter eines österreichischen Majors, ein Mühlknecht, ein Nachtwächter, ein Goldsticker, ein Klosterpförtner, ein Porzellanhändler, ein Stadtmesser, ein Forstmeister, ein Fourierschütze oder ein Zwirnhändler. Insgesamt liegen für die Böhmen in Bamberg 158 Berufsangaben vor; 15 Personen übten – entweder gleichzeitig oder zeitversetzt – verschiedene Berufe aus25 . Der aus der Nähe von Pilsen stammende Thomas Eberlein, für den eine Heirat im Jahr 1672 belegt ist, ist beispielsweise als Messerer und als Bäcker verzeichnet. Ordnet man die einzelnen Berufsangaben bestimmten Gewerbebranchen zu26 , so ergibt sich ein deutliches Übergewicht des Handwerks. Gut zwei Drittel der Böhmen (67 %) gingen einem Handwerksberuf nach. Die Kategorien „Gastronomie“, „Landwirtschaft“, „Logistik/Transport“ sowie „Militär“ fielen mit jeweils 2 bis 3 % hingegen kaum ins Gewicht. Etwas höhere Anteile entfallen mit jeweils 6 % auf die Branchen „Handel“ und „Hof/Stadt/Verwaltung“ sowie mit 5 % auf Berufe, die sich der Kategorie „Bedienstete/Knechte/Tagelöhner“ zuordnen lassen. Im Gegensatz zu italienischstämmigen Zuwanderern in Bamberg, unter denen im späten 17. und 18. Jahrhundert eine ausgeprägte Spezialisierung auf den Handel sowie auf bestimmte Gewerbe wie die Schornsteinfegerei feststellbar ist, dominiert im Falle der Böhmen der Eindruck einer breiten Streuung der Erwerbstätigkeiten27 . Die Eintragungen der Röttingerkartei liefern zudem in fast allen Fällen Informationen zum Ehestand bzw. zum Ehepartner der Personen und lassen somit Aussagen zum Heiratsverhalten zu. Nur bei 15 Böhmen findet sich kein Hinweis auf einen Ehepartner. Demnach können die Eheschließungen von insgesamt 171 Paaren mit mindestens einem böhmischen Ehepartner analysiert werden. Von diesen 171 Ehepaaren sind in der Röttingerkartei 131 mit einer Angabe zum Heiratsort versehen; in 40 Fällen ist der Name des Ehepartners mit aufgeführt oder durch die Nennung des Heiratsdatums ein Hinweis auf eine Eheschließung gegeben, ohne dass Informationen zum Ort der Heirat vorliegen. Fast 25

26 27

Zum verbreiteten Phänomen sogenannter Patchwork-Einkommen in der Region vgl. G ÜNTER D IPPOLD: Berufszuschreibungen und Erwerbsrealität in fränkischen Kleinstädten vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Volkskunde 28 (2005), 115–136. Zur Zuordnung der Berufe in einzelne Branchen vgl. H ÖRL: Handwerk in Bamberg (wie Anm. 7), 64–66. Vgl. S CHOPF: Zwischen den Welten (wie Anm. 24), 216 f.

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Mark Häberlein und Lina Hörl

Tabelle 2: Erwerbstätigkeiten der Böhmen in Bamberg nach Branchen

Branche

Anzahl

Prozent

Handwerk Bedienstete/Knechte/Tagelöhner Gastronomie Handel Hof/Stadt/Verwaltung Landwirtschaft Logistik/Transport Militär Sonstiges

106 8 4 9 10 4 5 3 9

67 % 5% 3% 6% 6% 3% 3% 2% 6%

Gesamt

158

100 %

alle Eheschließungen, für die der Ort der Heirat mit angegeben ist, fanden in Bamberg statt (128) – angesichts der Tatsache, dass die Röttingerkartei maßgeblich auf Kirchenmatrikeln basiert, ein wenig überraschender Befund. Fehlt die Angabe des Heiratsortes, so liegt in einigen Fällen zudem nahe, dass die Ehe in Bamberg geschlossen wurde. Der Schneider Georg Friedrich Bezoffsky/Bischoffsky aus Schieserlitz heiratete beispielsweise am 9. November 1711 Susanne Margaretha Fißler aus der Judengasse in Bamberg und erwarb vier Tage später das kleine Bürgerrecht28 . Nur bei wenigen Paaren geht aus der Kartei eindeutig hervor, dass diese bereits vor ihrem Umzug nach Bamberg verheiratet gewesen waren. Der Maler und Bildhauer Georg Bartholomäus Bezet aus Eger heiratete am 17. September 1719 in seiner Heimatstadt Anna Regina Friedrich und zog gemeinsam mit dieser nach Bamberg. Die aus Deutschbrod (Havlíˇck˚uv Brod) stammende Katharina Maria Hoffmann, Tochter des „Senators“ Adalbert Hoffmann, ehelichte am 22. November 1751 den aus demselben Ort stammenden Moritz Guth29 . Insgesamt bestätigt die Röttingerkartei jedoch den bereits aus den Bürgerbüchern gewonnenen Eindruck, dass nur wenige Böhmen mit Ehepartnern aus ihrer Heimatregion kamen oder in Bamberg andere Böhmen ehelichten; vielmehr bildete die Einheirat in bürgerliche Bamberger Familien das dominante Heiratsmuster. In 22 Fällen lässt sich für beide Ehepartner eine Berufsangabe feststellen. Diese Fälle machen die Möglichkeiten sozialer Mobilität der nach Bamberg übergesiedelten Böhmen sichtbar. So findet sich eine Reihe von Beispielen für Eheschließungen innerhalb ähnlicher sozialer Kreise oder Berufsgruppen. Exemplarisch genannt seien der Zeugmacher Lorenz Habelitz aus Eger, welcher am 5. Oktober 1721 die Witwe eines Zeugmachers namens Ursula Dos ehelichte, und Karl Gruber, ein Drechsler aus Prag, der am 25. November 1805 Barbara Walfahrter, die Tochter eines Hofdrechslers, heiratete. Die Tochter eines österreichischen Majors, Klara von Lamser aus Eger, wurde am 27. Januar 1831 in Bamberg mit Christoph Etzinger, einen erzbischöflichen Kanzlisten, getraut30 . Ausweislich 28 29 30

StadtABa, D 1008, Nr. 124/M; B 7, Nr. 7, fol. 15 v. StadtABa, D 1008, Nr. 124/M. Für Einzelnachweise vgl. StadtABa, D 1008, Nr. 124/M (Röttingerkartei).

Migration und Integration

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der Bürgerbücher heirateten mindestens neun böhmische Neubürger die Witwen Bamberger Bürger; die Verehelichung mit einer Bürgerwitwe scheint also eine ausgesprochen geläufige Strategie zur Integration in den Bürgerverband gewesen zu sein31 . Darüber hinaus finden sich auch Belege für Heiratsverbindungen, die zwischen Personen aus ganz unterschiedlichen Gewerbebranchen geschlossen wurden. So heiratete Johann Arnolt aus Altenzettlisch, Sohn eines Bäckers und von Beruf Schweinehändler, am 15. Juli 1728 die Gärtnerstochter Anna Katharina Röser32 . Der Schreiner Franz Anton Thomas aus Kemnitz, der im Mai 1736 das Bamberger Bürgerrecht erhielt, war mit der Tochter eines Bamberger Weinhändlers verheiratet33 . Franz Benedikt Hickel, Kammmacher aus Komotau und im Dezember 1744 in Bamberg eingebürgert, ehelichte die Tochter eines Schuhmachers34 . Andreas Stadler aus Eger, Sohn eines Maurers und selbst als Maurerpolier im Bamberger Stadtviertel Matern ansässig, nahm am 31. Januar 1747 Sofie Bonifig, die Tochter des dortigen Kirchners, zur Frau35 . IV.

Karrierewege

Nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges, insbesondere aber nach dem Herrschaftsantritt des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn (1655–1729) im Jahre 1693, setzte in Bamberg ein Bauboom ein, der das Stadtbild durch repräsentative öffentliche Bauten, aber auch durch die Neuerrichtung und Umgestaltung zahlreicher Privatbauten nachhaltig prägte36 . Diese Baukonjunktur eröffnete Baumeistern, bildenden Künstlern und Kunsthandwerkern aus den habsburgischen Ländern die Möglichkeit, lukrative Anstellungen und Aufträge zu akquirieren. So kamen die aus dem bayerischen Aibling stammenden Brüder Georg, Leonhard und Johann Dientzenhofer über Prag, wo sie 1678 31

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Mit einer Bamberger Bürgerwitwe aus ihrem eigenen Gewerbe verheiratet waren der Wagner Georg Buchner aus Falkenau 1695 (StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 17 r), der Flaschner Jacob Schwinger aus Deinniz 1701 (StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 197 v), der bereits erwähnte Zeugmacher Lorenz Habelitz aus Eger 1721 (StadtABa, B 7, Nr. 7, fol. 103 v), der Hutmacher Nicolaus Reindel aus derselben Stadt 1722 (StadtABa, B 7, Nr. 7, fol. 170 r), der ebenfalls aus Eger stammende Maler Joseph Stoll 1725 (StadtABa, B 7, Nr. 7, fol. 203 v), der Schwertfeger Joseph Lorenz aus Prag 1739 (StadtABa, B 7, Nr. 8, fol. 167 v) und der Riemenschneider Hans Michael Zuber 1741 (StadtABa, B 7, Nr. 8, fol. 297 r). Der Weber Simon Joseph Schmitt hingegen heiratete 1731 mit Barbara Meznerin die Witwe eines Bildhauers (StadtABa, B 7, Nr. 7, fol. 269 v). Auch der Goldarbeiter und ehemalige Leibeigene Hans Georg Faßmann, der 1697 Bamberger Bürger wurde, war mit einer Bürgerwitwe verheiratet (StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 78 r). Für Witwenheiraten im Kontext der Erlangung des Meisterrechts vgl. die einschlägigen Beispiele bei H ÖRL: Handwerk in Bamberg (wie Anm. 7), 189, 192. Zur rechtlichen und sozialen Stellung von Witwen vgl. allgemein G ESA I NGENDAHL: Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie (= Geschichte und Geschlechter 54), Frankfurt/New York 2006. StadtABa, D 1008, Nr. 124/M; B 7, Nr. 8, fol. 1 r. StadtABa, B 7, Nr. 8, fol. 61 r. StadtABa, B 7, Nr. 8, fol. 146 r. StadtABa, D 1008, Nr. 124/M (Röttingerkartei). Vgl. T ILMANN B REUER: Bamberg als Stadt des 18. Jahrhunderts. In: Ars bavarica 27/2 (1982), 127–142; G ÜNTER D IPPOLD: „Einen mehrern Lust zu Erbauung neuer und sauberer Häuser“. Zur Bauförderungspolitik der Bamberger Fürstbischöfe zwischen Dreißigjährigem Krieg und Aufklärung. In: Beiträge zur fränkischen Kunstgeschichte 3 (1998), 221–239; C HRISTIAN D ÜMLER: Die Neue Residenz in Bamberg. Bau- und Ausstattungsgeschichte der fürstbischöflichen Hofhaltung im Zeitalter der Renaissance und des Barock, Neustadt an der Aisch 2001; T HOMAS G UNZELMANN: Stadt Bamberg. Stadtdenkmal und Denkmallandschaft. Halbband 1: Stadtentwicklungsgeschichte (= Die Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken III.1.1), Bamberg/München 2012, 389–488.

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nachgewiesen sind, und das oberpfälzische Waldsassen, wo sie seit 1682 am Neubau von Klosteranlage und Stiftsbasilika arbeiteten, nach Bamberg. Mit den Großbauten der Jesuitenkirche (1686–1693), der Neuen Residenz (1695–1703) und der Karmeliterkirche St. Theodor schufen die in Bayern und Böhmen ausgebildeten Brüder Höhepunkte des Bamberger Barock37 . Von dieser barocken Baukonjunktur profitierte auch der aus Böhmen stammende Hofschreiner Andreas Bauer, der im Jahre 1700 zusammen mit seiner Ehefrau Anna Rosina Meyerlin und seiner Tochter Maria Margaretha gebührenfrei in das große Bürgerrecht der Stadt Bamberg aufgenommen wurde38 . Der im Jahre 1657 als fünftes von zehn Kindern des Kunsttischlers Hans Adam Bauer in Eger geborene Andreas Bauer war Sigrid Sangl zufolge „mit Sicherheit in der Werkstatt seines Vaters ausgebildet worden, wo er die Spezialität der außerzünftig arbeitenden Tischler Egers, die Herstellung von Reliefintarsien, erlernt hat.“ Als einziger von vier Söhnen Hans Adam Bauers, die das Schreinerhandwerk erlernten, wanderte Andreas aus Eger ab; im Mai 1695 ist er in einem Dekret des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn, der seine Aufnahme in das Meisterrecht wegen des jüngst gefertigten Schreibtisches verfügte, in Bamberg belegt. Sangl zufolge wird Bauer in dieser Quelle „bereits als Hofschreiner genannt, d. h. er erhielt diese privilegierte Stellung noch im Status eines Gesellen, ein einzigartiger Vorgang, der in krassem Widerspruch zu den Ordnungen der Zunft stand“39 . Diese landesherrliche Protektion trug Andreas Bauer offenbar den Unmut der zünftig organisierten Schreiner ein, denn im Februar 1699 sah sich Fürstbischof Lothar Franz von Schönborn genötigt, ihn in einem Dekret gegen deren Schmähungen in Schutz zu nehmen. Bei seinem letzten Aufenthalt in Bamberg habe Bauer dem Bischof berichtet, dass er von einigen seiner mitmeistern über die Ihme ertheilte landsfürstlich gnad offentlich verhöhnet, auch Ihme dieselbe gleichsamb gänzlich abgesprochen werden wollte, das er eines theils noch kein Burgerm andern theils aber kein Zünftig, sondern ein bloßer gnadenmeister wäre, und der dem Handwerks das seynige nicht in allem gereicht, welches dann lauter solcher lose und leichtfertige Rede seint. Dadurch werde nicht nur Bauer als Person, sondern auch die Autorität des Fürstbischofs angegriffen, weshalb Schönborn bei Androhung einer hohen Geldstrafe verbot, gegen obgedachten Andreas Bauern eine fernere dergleichen oder andere antringlichkeit zu thun. Vielmehr solle ihn das Schreinerhandwerk als einen rechtmessig und Zunftig meister passiren lassen. Entscheidend für die Zuerkennung des Meisterrechts sei die Qualität der Arbeit, und diese sei im Falle Bauers über jeden Zweifel erhaben. Schönborn wies den Bamberger Oberschultheißen an, die für die Verleihung des Bürgerrechts an Bauer und seine Ehefrau erforderliche Gebühr von 24 Gulden zu halbieren – wie bereits erwähnt, wurde sie ihm schließlich ganz erlassen40 .

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Vgl. H ANS Z IMMER: Die Dientzenhofer. Ein bayerisches Baumeistergeschlecht in der Zeit des Barock, Rosenheim 1976; M ILADA V ILÍMKOVÁ , J OHANNES B RUCKER: Dientzenhofer. Eine bayerische Baumeisterfamilie in der Barockzeit, Rosenheim 1989. StadtABa, B 7, Nr. 6, fol. 225 v. S IGRID S ANGL: Das Bamberger Hofschreinerhandwerk im 18. Jahrhundert (= Bayerische Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen. Forschungen zur Kunst- und Kulturgeschichte 1), München 1990, 75 f. StadtABa, H.V. Rep. III, Nr. 756, hier zitiert nach S ANGL: Hofschreinerhandwerk (wie Anm. 39), 87 Anm. 12. Vgl. auch ebenda, 76.

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Zwischen 1698 und 1711 brachte Bauers Ehefrau Anna Rosina fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter, zur Welt. Die Familie lebte im Sandgebiet, wo Bauer zur Sicherung des Lebensunterhalts der Familie neben dem Schreinerhandwerk – er fertigte unter anderem Fußböden für die Bamberger Residenz und Arbeiten in der Stiftskirche St. Stephan – auch den Beruf eines Weinschenken ausübte. Im November 1734 verstarb er kurz nach seiner Frau in seinem 77. Lebensjahr41 . Andreas Bauers Sohn Nikolaus (1700–1771) trat in die Fußstapfen seines Vaters: Er erhielt 1736 das Meisterrecht in Bamberg und wurde 1742 zum Hofschreiner angenommen. Aus seinem Bewerbungsschreiben um diese Position geht hervor, dass er während seiner Gesellenwanderschaft in Wien sowie in den Residenzen der Schönborn gearbeitet und seit 1735 für den aus Brabant stammenden Hofschreiner Servatius Brickard Verschiedene arbeith [. . . ] gefertiget hatte. Neben Schreinerarbeiten in der Bamberger Residenz und in Schloss Seehof vor den Toren der Stadt führte er auch Arbeiten an Altären und Chorgestühlen in Forchheimer Kirchen aus. In Seehof arbeitete er 1750/51 mit Franz Anton Thomas zusammen, der wie Bauers Vater aus Böhmen stammte42 . Mit dem 1708 in Holtschitz (Holešice) im Erzgebirge geborenen Ferdinand Tietz (Dietz) avancierte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein aus Böhmen stammender Künstler zum Bamberger und Würzburger Hofbildhauer. Nachdem er wahrscheinlich in der Werkstatt seines Vaters Adam Tietz, Bildhauer am Hof der adeligen Familie Lobkowitz in Eisenberg, seine Ausbildung erhalten und sich einige Zeit in Wien aufgehalten hatte, ging er 1736 an den Hof des ehemaligen Reichsvizekanzlers und Würzburger Fürstbischofs Friedrich Karl von Schönborn (reg. 1729–1746). In Würzburg führte er in den folgenden Jahren unter der Leitung Johann Wolfgang von der Auweras bauplastische Arbeiten an der Residenz und in Schloss Werneck aus, schuf aber auch Skulpturen für verschiedene Kirchen im Hochstift. 1744 plante Tietz eine Reise nach Böhmen, um den vom Würzburger Rat als Vorbedingung seiner Aufnahme ins Bürgerrecht geforderten Geburtsbrief abzuholen. Drei Jahre später siedelte er nach Bamberg über und wurde im Dezember 1748 von Fürstbischof Philipp Anton von Franckenstein zum Hofbildhauer ernannt. Nach einem Aufenthalt in Trier (1754–1760) kehrte er nach Bamberg zurück und verstarb 1777 im unweit der Residenzstadt gelegenen Memmelsdorf. Seit 1767 trug er auch den Titel eines Hofbildhauers von Würzburg43 . Der insbesondere von Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim, welcher von 1757 bis 1779 die Hochstifte Würzburg und Bamberg in Personalunion regierte, hoch geschätzte Tietz schuf eine Serie von überlebensgroßen Heiligenstatuen für die 1784 bei einem Hochwasser zerstörte Seesbrücke in Bamberg sowie Hunderte von Skulpturen für die Gärten der Neuen Residenz in Bamberg und der Schlösser Seehof bei Bamberg sowie Veitshöchheim bei Würzburg. Wolfgang Brassat hat Tietz, dessen Werk rund 1 000 Skulpturen umfasst, 41 42

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S ANGL: Hofschreinerhandwerk (wie Anm. 39), 76 f. Ebenda, 94–98 und passim. Vgl. auch C HRISTOPH G RAF VON P FEIL: Chorgestühle des 18. Jahrhunderts in Bamberg (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, VII. Reihe, Quellen und Darstellungen zur Fränkischen Kunstgeschichte 9), 252. Für konzise biographische Überblicke vgl. B ERND W OLFGANG L INDEMANN: Ferdinand Tietz 1708– 1777. Studien zu Werk, Stil und Ikonographie, Weißenhorn 1989, 11–14, und W OLFGANG B RASSAT: Ferdinand Tietz. Zu Leben, Werk und Nachruhm des Rokoko-Bildhauers. In: D ERS. (Hg.): Ferdinand Tietz 1708–1777. Symposium und Ausstellung anlässlich des 300. Geburtstags des Rokoko-Bildhauers, Petersberg 2010, 8–20, bes. 8–12.

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als Künstler charakterisiert, der trotz einer rein handwerklichen Ausbildung „als Leiter einer großen Werkstatt eine Produktivität entfaltete, die in der Geschichte der Skulptur ihresgleichen sucht.“ Anders als Seinsheim hatte dessen Nachfolger, der asketische, tief gläubige und den Ideen der katholischen Aufklärung verpflichtete Franz Ludwig von Erthal (reg. 1779–1795), für den Rokokostil von Tietz wenig übrig und ließ die meisten Skulpturen aus dem Park von Schloss Seehof entfernen und in eigens dafür errichtete Schuppen bringen. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, der auf seiner Reise durch Süddeutschland 1781 den Park von Seehof besichtigte, bemerkte zu diesem „beispiellos rigorosen Akt der Distanzierung von seinem Vorgänger“ (Brassat): Das Publikum in Bamberg war darüber unwillig, und glaubte, es wären nur die mythologischen von Göttern und Göttinnen diesem Fürsten, der sehr ängstlich religiös ist, anstößig. Vielleicht aber ist auch nur die überhäufte Menge von Figuren dem Fürsten zuwider gewesen, und dann hätte er nicht so sehr unrecht gehabt. Einige hundert Figuren von Einer nicht sehr hervorstechenden Manier und von Einem Meister in Einem Garten, mußten gewiß viel Einförmigkeit verursachen44 . Am Bamberger Hof Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheims fand auch der als Sohn eines Kochs in Eger geborene Violinist Johann Kaspar Bäuml (gest. 1796) Anstellung. Bäuml hatte in Würzburg eine musikalische Ausbildung erhalten und Sachsen sowie die Schweiz bereist, ehe er 1771 nach Bamberg kam. Dort wurde 1773 zum ersten Violinisten der Hofkapelle bestellt und bezog sechs Jahre später ein Jahresgehalt von 366 Gulden und 24 Kreuzern. Dass er auch außerhalb Bambergs als Virtuose geschätzt war, zeigt die Tatsache, dass er im Winter 1782/83 eine Serie von Konzerten in Frankfurt gab, für die er eine Gage von 700 Gulden empfing. Nachdem die Bamberger Hofkapelle kurze Zeit später begann, öffentliche Winterkonzerte zu geben, fungierte Bäuml als Veranstalter der Konzertsaison 1787/88. Trotz seiner guten Einkommenssituation hatten der Hofviolinist und seine Frau, die Hofsopranistin Maria Barbara Bauerschmitt, wiederholt finanzielle Schwierigkeiten45 . Auch außerhalb des höfischen Umfelds gelang es böhmischen Zuwanderern, in Bamberg Fuß zu fassen. Eine erfolgreiche Integration in die bürgerliche Gesellschaft vollzog beispielsweise der Apotheker Johann Anton Popp, der 1688 ledig aus Eger nach Bamberg kam und dort das große Bürgerrecht erwarb. 1692/93 bezahlte Popp, nunmehr als Apotheker an der Oberen Brücke bezeichnet, in zwei Raten für die Aufnahme seiner Frau Maria Margaretha Eppenauer in das große Bürgerrecht46 . Er wurde 1709 in den Bamberger Stadtrat kooptiert und kaufte im folgenden Jahr das Haus des Karl von Aufsees, das er 1720 an die Adelige Anna Maria Groß von Trockau veräußerte47 . Seine Tochter Maria Eva ehelichte 1725 den aus Koblenz stammenden Apotheker Johann Wilhelm Koch48 .

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B RASSAT: Ferdinand Tietz (wie Anm. 43), 8, 12. Fürstlichen Hochstift Bamberg Hof- Stands- und Staats-Calender [. . . ], Bamberg 1774, 55; HochfürstlichBambergisches Intelligenzblatt, 28. Dezember 1787, Num. 100; E MIL F REIHERR M ARSCHALK VON O STHEIM: Die Bamberger Hof-Musik unter den drei letzten Fürstbischöfen, Bamberg 1885, 26. Das Bayerische Musiker-Lexikon Online gibt hingegen als seinen Geburtsort Würzburg an: http://www.bmlo. lmu.de/b0071 [13.4.2015]. StadtABa, B 7, Nr. 106, fol. 9 v. StadtABa, D 3001, Rep. 1, Nr. 124 und 125. Für diese Informationen danken wir Frau Gertrud Döllner. StadtABa, B 7, Nr. 110, fol. 6 r–6 v.

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Zu den vergleichsweise wenigen kaufmännischen Zuwanderern aus Böhmen gehörte ˇ der aus Schönau (Cinov) stammende Zwirnhändler Joseph Eisseldt, der am 26. Februar 1762 gegen Zahlung von 25 Gulden das große Bürgerrecht der Stadt Bamberg erhielt49 . Das Vermögen Eisseldts, der mit Katharina Schwangin, anscheinend einer gebürtigen Bambergerin, verheiratet war, wurde anlässlich einer 1767 vorgenommenen Steuerrevision auf 900 Gulden geschätzt, womit er allerdings nicht zu den größten Händlern der Stadt gehörte: Nur vier der 25 in dieser Steuerliste identifizierbaren Handelsbürger verfügten über Vermögenswerte von weniger als 1 000 Gulden.50 Nach Eisseldts Tod, der wohl in den 1770er Jahren anzusetzen ist, führte seine Witwe das Geschäft an der zentral im Stadtgebiet gelegenen Oberen Brücke zunächst weiter, musste aber 1782 den Immobilienbesitz zum Verkauf ausschreiben51 . Der geplante Verkauf kam jedoch nicht zustande, und die Vermögensumstände der Witwe verschlechterten sich soweit, dass ihre Immobilien im Sommer 1785 obrigkeitlich geschätzt52 und zwangsversteigert wurden: Demnach die hiesige verwittibte Handelsburgerin Katharinen Eiseltin in Abfall ihres Vermögens gerathen, und dahero durch den Bescheid vom 16ten dieses [Monats] der Concurs und öffentliche Ladung der Gläubiger erkannt, auch zugehöriger Vorbringung der Forderungen Termin auf den 3ten October laufenden Jahres und zwar 14 Täge zum ersten, 14 Tägen zum anderen und 14 Täge zum dritten und lezten peremtorischen Termin angesezet worden; als werden hiermit alle und jede, welche an der gedachten Handelsbürgerin Katharinen Eiseltin Vermögen Forderungen zu haben vermeinen, Kraft dieses zitirt und vorgeladen, besagten Tages Morgens um 9 Uhr auf hiesigen Rathhause zu erscheinen, ihre Forderungen gehörig an= und vorzubringen, den vermeinten Vorzug auszuführen, und über dieses alles bis zum Schlusse zu verfahren; mit der Verwarung, daß diejenige, so in diesem Termin nicht erscheinen, und ihre Forderungen nicht gebührend anzeigen werden, von diesem Concurs abgewiesen werden sollen. Auch wird das Eiseltische auf der oberen Brücke dahier gelegene Wohnhaus, worauf bereits ein Aufgeboth von 1 800 fl. fränk. nebst 2 Karolin zum Leykauf geschehen ist, dem öffentlichen Verkauf ausgesezet, dessen Liebhabere sich bey dem hiesigen Stadtrath in Zeiten zu melden haben53 .

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StadtABa B 7 Nr. 9, fol. 54 v. Zu dieser Quelle vgl. Z ENO H IPPKE: Zur Erforschung der frühneuzeitlichen Sozialstruktur Bambergs. Die Steuerrevision im Stadtgericht von 1767. In: M ARK H ÄBERLEIN , K ERSTIN K ECH , J OHANNES S TAUDEN MAIER (Hg.): Bamberg in der Frühen Neuzeit. Neue Beiträge zur Geschichte von Stadt und Hochstift (= Bamberger Historische Studien 1), Bamberg 2008, 223–260. Die Angaben zu den Vermögensschätzungen erfolgen nach der von Hippke erstellten Datenbank. Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 12. Februar 1782, Lit. M: Es dient dem geehrten Publiko zu wissen, daß Katharina Eißlin Handelsmännin auf der obern Brücke ihre zwey nebeneinander stehende Häuser mit einander oder einzeln dem offentlichen Verkauf ausstellet; die Liebhaber hiezu können sich bey der Eigenthümerin melden, die Häuser einsehen, und mit ihr einen annehmlichen Kauf verabschließen. StadtABa, B 5 Nr. 45, fol. 109 v, 17. August 1785: Haus der Katharina Eiseldin auf der Oberen Brücke auf 1 900 Gulden eintaxirt. Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 23. August 1785, Nr. 62, und 30. August 1785, Nr. 64.

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Im September 1785 wurde noch mehrfach bekannt gemacht, dass das Haus für ein höheres Gebot als die gebotenen 1 800 Gulden erworben werden konnte54 . Dass die Niederlassung von Böhmen im Hochstift Bamberg durchaus auf lokale Widerstände stoßen konnte zeigt der Fall des Schlossergesellen Wenzel Progaska, eines Meistersohnes aus dem südböhmischen Pisek. Progaska, der etliche und 30 Jahre alt und bereits 14 Jahre auf Wanderschaft war, suchte 1786 bei der fürstbischöflichen Regierung um das Schlossermeisterrecht im unweit der Residenzstadt gelegenen Hallstadt nach. Er beabsichtigte, dort die Schlossermeisterwitwe Katharina Schorrin zu heiraten – wie bereits erwähnt eine unter böhmischen Zuwanderern wiederholt erfolgreich praktizierte Strategie zur Erlangung des Bürger- und Meisterrechts. Das fürstbischöfliche Zentamt fand an diesem Vorhaben auch nichts auszusetzen, aber die zuständige Polizeikommission hatte noch Fragen zu diesem Fall an das Amt: Ob es kein Landeskind gäbe, welches das Schlosserhandwerk erlernt habe und geneigt wäre, die Witwe zu ehelichen; wie alt die Witwe eigentlich sei; und wie der Nutzen und die Notwendigkeit der Niederlassung eines auswärtigen Schlossers im Amt beurteilt würden. Das Zentamt teilte daraufhin mit, dass die Witwe ungefähr 40 Jahre alt sei, zwei Kinder im Alter von zehn und 14 Jahren sowie fast 380 Gulden Vermögen habe. Sie sei seit einem Jahr verwitwet, und außer dem Schlossergesellen Progaska gäbe es keinen weiteren Heiratskandidaten; sie hätte sich dieserthalben alle Mühe gegeben, welche aber fruchtlos gewesen sey. Angesichts der Größe des Ortes Hallstadt sei ein Schlossermeister unbedingt notwendig, und dieser könne sich gar wol ernähren55 . Trotz dieser positiven Einschätzung hegte die fürstbischöfliche Regierung Bedenken, die sich teilweise auf die Herkunft und die Vermögensumstände des Bewerbers, teilweise auf die Situation der Familie bezogen, in welche Progaska einheiraten wollte: der Kandidat ist 1) ein Böhm, hat zwar aller Erfordernissen, ausgenommen, daß Supplikant das edictmäsige Vermögen nicht besitze; es ist auch 2) die Wittib allschon in den gestandenen Jahren, worauf in derley Vorfallenheiten die mehreste Umbsicht zu nehmen seyn wolle; dem noch beytritt, daß diese Wittib 3) einen Sohn von 14 Jahren habe, welcher nach etwa Verlauff 8 Jahren die Schloßers Profession erlernen, seine Wanderjahren erstehen, sofort die Werkstatt seines Vaters beziehen könne, welcher Vorteil diesem jungen Menschen als einem Landeskinde ehender als einem frembden gar wohl zu vergönstigen seyn könte. Allerdings sei auch zu bedenken, dass die Schlosserwitwe unterdessen ohne Nahrung sei und keinen Gesellen außer Progaska habe finden können. Außerdem habe Progaska angeboten, den Sohn auszubilden, und er war angeblich ein geschickter Arbeiter. Schließlich habe das Amt auch zu erkennen gegeben, es sey mit allem grund zu besorgen, daß die Eheverzögerung bey der Eheverlobten zu allerhand Ausschweifungen Anlass und gelegenheit geben möchte. Da eine funktionierende Schlosserwerkstatt im Amt Hallstadt notwendig sei und den Kindern erster Ehe kein Schaden aus der Verbindung entstehe, da durch Treibung der Schlossers Profession die ersteheligen Kinder genähret und das wenige Vermögen beibehalten werde, ohne Treibung der Profession aber die wittib sich genöthiget siehet, das ihre geringe Vermögen zuzusezen, und in aelteren Jahren, wo 54 55

Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 6., 13. und 16. September 1785, Nr. 66, 68 und 69. Dieser und der folgende Abschnitt nach StABa, Hochstift Bamberg, Geheime Kanzlei, Nr. 1180, Prod. 85, Protokollextrakt vom 11. März 1786 und Resolution vom 18. März 1786.

Migration und Integration

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sie durch Handarbeit etwa sich nicht mehr aus Abgang der Kräfften Nahrung würde verschaffen können, dem Marckflecken Hallstadt zu Last fallen würde, sprach sich die Polizeikommission für die Bewilligung des Gesuchs aus; Progaska sollte zur Fertigung eines Meisterstücks zugelassen werden. Wie aus einem weiteren Protokolleintrag hervorgeht, nahm die Angelegenheit in den folgenden Wochen jedoch eine unerwartete Wendung. Demnach hatte der Pfarrer von Hallstadt offenbar veranlasst, dass Progaska aus dem Markte Hallstatt geschafft werde; Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal wollte daraufhin wissen, ob er bereits weggezogen war und wie der Pfarrer das bewerkstelligt habe. Obwohl weitere Nachrichten zu diesem Fall fehlen, ist davon auszugehen, dass die vom Zentamt befürchteten Ausschweifungen die örtlichen Sittenwächter auf den Plan gerufen hatten und Progaska aufgrund sexueller Beziehungen zu der Meisterwitwe denunziert worden war56 . Während es sich bei Wenzel Progaska um einen Fall von kirchlich sanktionierter, gesellschaftlich aber weithin akzeptierter sexueller Devianz gehandelt haben mag57 , berichten die zwischen den 1750er und 1770er Jahren von der fürstbischöflichen Hofbuchdruckerei publizierten Nachrichtenblätter über Hinrichtungen in Bamberg58 von zwei Fällen schwerer Kriminalität. Am 6. Februar 1760 wurde der 35-jährige Franz Thomas aus Prag in der fränkischen Residenzstadt als Mörder hingerichtet. Der ledige katholische Buchbindersohn, der sich offenbar im Hochstift Bamberg als Landarbeiter und Tagelöhner verdingte, hatte die Ermordung eines Bauernjungen und eines Mädchens gestanden. Anfang 1753 war er mit dem Bauernbuben Hans Behr aus Weyden im Amt Weismain von dessen Eltern zum Tabakkauf nach Bamberg geschickt worden. Unterwegs habe sich Behr in Memmelsdorf an Brand-Wein berauschet. Thomas nutzte die Situation aus, indem er dem betrunkenen Jungen zunächst die drei Gulden Bargeld, die dieser mit sich führte, abnahm, und ihn anschließend mit seinem bey sich gehabten zimlich starcken Stecken erschlug. Ein Jahr später war Franz Thomas auf dem Weg von Waischenfeld nach Rabeneck dem Mädchen Catharina Weberin begegnet, die einen Korb bei sich trug, in dem sich einige Gegenstände von geringem Wert befanden. Der Delinquent habe dem Mädchen zunächst den Korb entrissen und sei damit davongelaufen, habe sie dann aber zu sich gerufen und schließlich bey denen Hüften ergriffen, und sie, ihres wiedersetzens ohngeachtet, 4. oder 5. Schritt weit, um selbige zu erträncken, in dortigen Fluß geworfen. Von seinem Opfer habe er danach nur noch gesehen, daß sie ihre Hände aus dem Wasser in die Höhe gestrecket habe. Als Landesfremder, der zwei heimtückische Morde an wehrlosen Opfern begangen 56 57

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StABa, Hochstift Bamberg, Geheime Kanzlei, Nr. 1183, Prod. 244, Resolution vom 12. Juni 1786. Zur Problematik der Regulierung sexuellen Verhaltens in süddeutschen Territorien in der Frühen Neuzeit vgl. S TEFAN B REIT: „Leichtfertigkeit“ und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991; I SABEL V. H ULL: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815, Ithaca/London 1996. In einem am 22. Mai 1754 in den „Hochfürstlich-Bambergischen Wochentlichen Frag- und AnzeigeNachrichten“ gedruckten Avertissement hieß es: Dem Publico dienet zur Nachricht, daß ferner hin alle Verbrechen, und darob abgefasste Todes-Urtheile deren zu Justificirenden in Druck beförderet, denen Herren Praenumeranten durch Post und Botten mit dem Wochentlichen Nachrichten-Blatt [. . . ] werden zugeschicket werden. Auch können an dem Tag des zu vollziehenden Todes-Urtheil die Exemplaria in Hochfürstl. Nachrichts-Stube abgelanget werden, das Stuck à einen leichten Kreutzer. Zu gedruckten Berichten über Verbrechen in der Frühen Neuzeit vgl. allgemein DANIELA K RAUS: Kriminalität und Recht in frühneuzeitlichen Nachrichtendrucken. Bayerische Kriminalberichterstattung vom Ende des 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Regensburg 2013.

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hatte, erhielt Franz Thomas eine besonders drakonische und abschreckende Strafe: Das Urteil lautete, dass der Delinquent gemäß Artikel 162 der Bamberger Halsgerichtsordnung durch Zerstossung seiner Glieder mit dem Rad von dem Leben zum Tod hinzurichten seye, und fürter offentlich darauf geleget werden. Aus besonderen Gnaden wurde die Strafe dahingehend abgewandelt, dass die 3. ersten Stösse, nebst der gewöhnlichen Strangelirung, mit dem Rad auf das Herz gegeben werden sollen59 . Neun Jahre später wurde der aus Gießhübel (Olešnice v Orlických Horách) stammende 32-jährige Johann Georg Müller wegen mehrerer besonders schwerer Eigentumsdelikte gehängt. Müller hatte in der Marter-Kammer nach erhaltenen etwelchen Streichen gestanden, dass er im Herbst 1767 nachts aus einem Stall des von Adam Vogel bewirtschafteten Windisch Hof seinen Angaben zufolge 49 Schafe – der Geschädigte sprach von 60 Tieren – in Willens, solche nach Eger zu treiben, diebisch entwendet. Unterwegs habe er die gestohlenen Tiere jedoch bis auf 15 verkauft, und das dabei erlöste Geld sei ihm von denen Strick-Reutteren bey Löhna wegen des vertriebenen Zolls bis auf 20 Gulden, welche er in seine Stiefel habe fallen lassen, abgenommen worden. Außerdem gestand Müller einen Ochsendiebstahl, und da er bereits wegen der Entwendung eines Sattels eine Strafe im Bamberger Arbeitshaus verbüßt hatte, wurde er als Wiederholungstäter zum Tod durch den Strang verurteilt60 . V.

Böhmische Händler auf den Bamberger Märkten

Neben den Kaufleuten, Handwerkern und Künstlern, die sich dauerhaft in Bamberg niederließen, sowie den Knechten und Tagelöhnern, die in der Umgebung arbeiteten, hielten sich zahlreiche Böhmen vorübergehend in der Stadt auf, um Geschäfte zu tätigen61 . Der Bamberger Hofrat und Archivar Benignus Pfeufer, der 1791 eine Landesbeschreibung des Hochstifts Bamberg publizierte, führte die Prosperität der Residenzstadt unter anderem auf den Umstand zurück, dass diese Stadt die Hauptpassage von Frankfurt nach Böhmen, Ober- und Niedersachsen, und aus Niedersachsen nach Italien hat62 . Diese Lage an einer wichtigen Fernhandelsstraße nach Böhmen schlug sich auch in der Präsenz böhmischer Händler nieder.

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Die durch Menschen-Blut abgezahlte Mord-Thaten, Als Franz Thomas, Aus Prag gebürtig, In dem 35ten Jahr seines Alters, Bamberg, den 6ten Februarii, 1760. mit dem Rad Durch Zerstossung seiner Glieder hingerichtet wurde [Druck, 4 Seiten, Staatsbibliothek Bamberg]. Der von Gießübel in Böhmen gebohrne Ueble Schaaf-Hirt, Johann Georg Müller, mußte als ein bereits corrigirter, dadurch aber zu keiner besseren Lebens-Art bewogen wordener Dieb, Bamberg den 15ten Februarii 1769. zur wohl-verdienten Strafe: anderen seines gleichen gefährlichen Dieben zur Warnung sein Leben in dem 32ten Jahr seines Alters an dem Strang schimpflich beschliessen [Druck, 4 Seiten, Staatsbibliothek Bamberg]. Vgl. dazu auch H ERMANN C ASPARY: Staat, Finanzen, Wirtschaft und Heerwesen im Hochstift Bamberg (1672–1693) (= Historischer Verein Bamberg, Beiheft 7), 273, 283, 286. P FEUFER: Beyträge (wie Anm. 15), 145 f. Vgl. zu diesem Werk G EORG S EIDERER: Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich (= Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 114), München 1997, 289–292; H EINRICH L ANG: Das Fürstbistum Bamberg zwischen katholischer Aufklärung und aufgeklärten Reformen. In: M ARK H ÄBERLEIN (Hg.): Bamberg im Zeitalter der Aufklärung und der Koalitionskriege (= Bamberger Historische Studien 12 / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 19), Bamberg 2014, 11–70, hier 30, 48 f., 64, 66.

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So dokumentieren die Abtei- und Ökonomierechnungen des Klosters St. Michael Verkäufe böhmischer Händler an das Kloster63 . Hans Wunderlich aus Asch (Aš) bei Eger lieferte im Rechnungsjahr 1699/1700 für insgesamt rund 42 Gulden und im folgenden Rechnungsjahr nochmals für fünf Gulden Leinöl. Lorenz Jäger aus demselben Ort hatte 1700/01 ebenfalls Leinöl im Angebot.64 Ein namentlich nicht genannter Händler aus Eger lieferte dem Kloster 1694/95 grobes Tuch65 ; der Händler Johann Müller aus Sonnenberg (Výsluní) setzte im selben Rechnungsjahr und erneut 1699/1700 kleinere Mengen Eisenwaren ab66 . Eine erhebliche Rolle für die Versorgung des lokalen Braugewerbes mit einem wichtigen Rohstoff spielten böhmische Hopfenhändler. Wer die ausserordentliche Menge Biers kennt, das in dem Fürstenthume theils getrunken, theils [. . . ] ins Ausland verführt wird, schrieb der Hofrat Benignus Pfeufer 1791, der wird sich die große Geldmasse denken können, die aus unseren Landen nach Böhmen gieng, um von da aus den dazu nöthigen Hopfen uns zu verschaffen67 . An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert sind Vertreter dieser Gruppe mehrfach in den Abtei- und Ökonomierechnungen des Klosters St. Michael belegt. In den Rechnungen der Jahre 1692/93 bis 1700/01 sind größere Hopfenverkäufe durch den zunächst in Petschau (Beˇcov nad Teplou), später in Sangerberg (Prameny) ansässigen Simon Wollner verzeichnet, bei denen der Böhme insgesamt rund 475 Gulden erlöste68 . Für die Rechnungsjahre 1700/01, 1703/04 und 1704/05 dokumentieren die Ökonomierechnungen des Klosters Hopfeneinkäufe bei Händlern aus den böhmischen Orten Falkenau (Sokolov) und Sonnenberg (Výsluní)69 . Im April 1718 zahlte das Kloster Peter Michael Schugenders aus Falkenau vier Gulden für 2000 Böhm: Hopfen fexer à 3 bazen70 . Auch in den seit 1754 von der fürstbischöflichen Hofbuchdruckerei erstellten „Hochfürstlich-Bambergischen Frag- und Anzeige-Nachrichten“71 ist die Präsenz böhmischer Hopfenhändler belegt. Im Frühjahr 1755 bot Johann Baumann böhmischen Hopfen für 22 Reichstaler an, und seine Landsleute Adalbert Dantzer und Cornelius Butz verkauften im fürstbischöflichen Waaghaus Satzer und auch Auscher Hopfen für 23 Reichstaler pro 63

64 65 66 67 68

69 70 71

Vgl. zu diesen Quellen sowie zu St. Michael als Wirtschaftssubjekt A NDREAS S CHENKER: Der Warenhandel des Klosters Michelsberg in Bamberg 1690/91–1700/01. Transaktionen, Konjunkturen und Akteure auf Grundlage der Abteirechnungen. In: H ÄBERLEIN , S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Handel, Händler und Märkte (wie Anm. 10), 171–211. Für die folgenden Informationen aus den Abtei- und Ökonomierechnungen danken wir Andreas Schenker und Hans-Jörg Künast sehr herzlich. StABa, A 232/IV, Nr. 34.199 (1699/1700), fol. 35 v; Nr. 34.200 (1700/01), fol. 36 r. StABa, A 232/IV, Nr. 34.194 (1694/95), fol. 26 v. StABa, A 232/IV, Nr. 34.194 (1694/95), fol. 35 v; Nr. 34.199 (1699/1700), fol. 44 v. P FEUFER: Beyträge (wie Anm. 15), 268. StABa, A 232/IV, Nr. 34.192 (1692/93), fol. 32 r; Nr. 34.195 (1695/96), fol. 31; Nr. 34.196 (1696/97), fol. 35 r; Nr. 34.197 (1697/98), fol. 24 v (II); Nr. 34.199 (1699/1700), fol. 39 r; Nr. 34.200 (1700/1701), fol. 42 r; S CHENKER: Warenhandel (wie Anm. 63), 200. StABa, A 232/IV, Nr. 34.200 (1700/01), fol. 42 r; Nr. 34.203 (1703/04), fol. 60 r; A 232/IV, Nr. 34.204 (1704/1705), fol. 103 r; S CHENKER: Warenhandel (wie Anm. 63), 200. StABa, A 232/IV, Nr. 34.218 (1717/18), fol. 148 r. Zu diesem in der Bamberger Hofbuchdruckerei von dem ehemaligen Offizier Johann Georg Christoph Gertner (1709–1786) hergestellten Intelligenzblatt vgl. S EIDERER: Formen der Aufklärung (wie Anm. 62), 62 f., 130; M ARKUS B ERGER: Handel und Messen im Spiegel der Bamberger Intelligenzblätter 1754–1802. In: H ÄBERLEIN , S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Handel, Händler und Märkte (wie Anm. 10), 297–324, bes. 298–301.

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Zentner72 . Drei Jahre später boten Joseph Reinholtz aus Neustadt an der Mettau (Nové M˘esto), Joseph Dantzer, Christoph Mertzer und Leonhard Baumann aus Sangerberg (Prameny) im fürstlichen Waag- und Kaufhaus Hopfen feil. Mertzer gab am 10. März 1758 bekannt, dass er noch zehn Zentner Böhmischen Auscher Hopfen, den Centner ad 24. Rthlr. zu verkaufen habe73 . Im Januar 1759 verkündeten die „Frag- und AnzeigeNachrichten“, dass Johann Baumann aus Böhmen noch zehn, sein Landsmann Johann Radel acht Zentner Satzer und Georg Neiunkel sechs Zentner Falkenauer Hopfen zum Preis von 20 Reichstalern pro Zentner abgeben würden74 . Laut einem Gerichtsprotokoll des Bamberger Heinrichsviertels forderte der Hopfenmann Joseph Ones aus Böhmen 1760 von der Büttnermeisterin Katharina Gerberin für den an sie verkaufen Hopfen noch 18 Reichstaler, die er von einem Versatzschein bei dem alten Juden Hesslein bekommen sollte. Zudem forderte er 18 Reichstaler als Vertreter seines Schwagers Anton Böhm für verkauften Hopfen75 . Ein anderer Hopfenmann aus Böhmen, Augustin Troser, verklagte drei Jahre später den Büttnermeister Heinrich Dreschner, der ihm für einen halben Zentner Hopfen noch 51 Reichstaler schuldig war und ihn bis zum Johannistag vertröstete76 . Dass böhmische Hopfenhändler im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts seltener in Bamberger Quellen begegnen, dürfte damit zusammenhängen, dass der Hopfenanbau im Hochstift in dieser Zeit deutlich intensiviert wurde. Der Jurist Franz Adolf Schneidawind (1766–1807), der im Jahr 1797 zum Bamberger Hofkammerrat ernannt wurde, schrieb in seinem im selben Jahr erschienenen statistischen Werk über das Hochstift Bamberg, dass die fürstbischöfliche Regierung den Hopfenanbau seit einigen Jahren durch Steuer- und Zehntbefreiungen sowie durch Prämien fördern würde: Durch diese Bemühungen, so Schneidawind, gespart das Land wenigstens 2 Drittheile jener Summe, die sonst nach Böhmen, Eichstädt, und der Oberpfalz wanderten. [. . . ] Und wenn erst jenes Vorurtheil zernichtet ist, daß Böhmischer Hopfen zu Lagerbieren gebraucht werden müsse, so wird auch das letzte Dritttheil im Lande bleiben. Angeblich kam es sogar vor, daß fremde Hopfenhändler den Bambergischen aufkaufen, und ihn als Böhmischen wieder einbringen77 . Eine weitere Möglichkeit für böhmische Händler, ihre Waren in Bamberg abzusetzen, boten die zweimal jährlich im Mai und Oktober stattfindenden Handelsmessen, die in der Hierarchie mitteleuropäischer Märkte zwar deutlich unterhalb der großen Reichsmessen 72 73 74 75

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Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 28. Februar 1755, Lit. R; 11. März 1755, Lit. U. Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 17. Februar 1758, Nr. 14; 7. März 1758, Nr. 19; 10. März 1758, Nr. 20; 14. März 1758, Nr. 21. Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 19. Januar 1759, Nr. 6. StadtABa B 4, Nr. 85 (St. Heinrichs-Viertelprotokoll), 8.1.1760, fol. 1 r. Eine umfassende Auswertung dieser Quelle bietet F RANZISKA D EUTER: Schulden und Privatkredit im 18. Jahrhundert am Beispiel des Bamberger Heinrichsviertels. In: M ARK H ÄBERLEIN , M ICHAELA S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Stiftungen, Fürsorge und Kreditwesen im frühneuzeitlichen Bamberg (= Bamberger Historische Studien 13), Bamberg 2015, 137–184. StadtABa B 4, Nr. 85 (St. Heinrichs-Viertelprotokoll), 4.2.1763, fol. 44 v–45 r. Die Büttner übten in Bamberg in der Regel auch das Braurecht aus. S CHNEIDAWIND: Versuch einer statistischen Beschreibung (wie Anm. 15), Bd. 1, 29 f. (Zitate 30). Vgl. zu diesem Werk S EIDERER: Formen der Aufklärung (wie Anm. 62), 292–296; L ANG: Das Fürstbistum Bamberg (wie Anm. 62), 30, 53, 64, 66 f. Ähnliche Aussagen zur Verdrängung des böhmischen durch einheimischen Bamberger Hopfen auch bei P FEUFER: Beyträge (wie Anm. 15), 268–270.

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in Frankfurt, Leipzig und Braunschweig standen, aber eine wichtige Rolle in der Warendistribution auf regionaler Ebene spielten. Wie eine Auswertung der Anzeigen, welche auswärtige Messebeschicker in den Bamberger Intelligenzblättern schalteten, ergeben hat, kamen neben Händlern aus fränkischen Städten (Nürnberg, Fürth, Erlangen, Bayreuth) auch Frankfurter, Mainzer, Solinger, Thüringer und sächsische Händler sowie Niederländer, Österreicher, Schweizer, Italiener und Franzosen auf die Bamberger Messen, wo sie häufig Luxus-, Mode- und Manufakturwaren sowie Produkte ihrer Herkunftsregionen vertrieben78 . Zu den regelmäßigen Besuchern der Bamberger Handelsmessen gehörte der Zinnhändler Johann Matthäus Raab aus dem böhmischen Karlsbad: Von 1760 bis 1786 bot er an mehr als einem Dutzend Messeterminen ein breit gefächertes Sortiment an Schlaggenwalder Zinnwaren feil. Seine Warenpalette, die er in Anzeigen in den Bamberger Intelligenzblättern bewarb und von Messe zu Messe leicht variierte, umfasste Tafelservice, Tischaufsätze, Löffelgarnituren, Becken (Lavoren), Tee- und Kaffeeservice, Messkännchen, Leuchter, Pistolen und Präsentierteller. Hinzu kamen sog. Karlsbader Waren wie verzierte Schachteln und Schatullen, Steck- und Stricknadeln, Schreibzeuge aus Stahl und mit Gold eingelegte Messer. Charakteristisch für sein Angebot ist die folgende Anzeige vom Mai 1778: Es wird bekannt gemachet, daß Mathias Raab aus Carlsbaad die Messe hindurch Schlackenwalder feines Zinn von allerhand Gattung auf die neueste Silber Art zu verkaufen hat, Carlsbaader Stopf=, Strick= und Filee=Nadel, Zupf und Spiel=Kistlein, Pistolen, Schreibzeug mit Silber und Gold eingeschlagen, von allerhand vergoldeter Carlsbaader Arbeit. Die Bouttique ist auf dem Markt bey der Behausung des jungen Herrn Fexers. Seine Logie ist am Steinweeg bey dem goldenen Adler79 . Im Mai 1786 inserierten die Gebrüder Zinkel aus Böhmen, sie seien anlässlich der laufenden Frühjahrsmesse zum erstenmal hier angekommen und würden in ihrer Messeboutique auf dem Markt schlesische und böhmische Tuch- und Strumpfwaren um die billigsten Preise verkaufen80 . Zehn Jahre später hielt sich Jakob Rauscher aus Böhmen außerhalb der Messezeiten für kurze Zeit in Bamberg auf und kündigte an, dass er Bettpflaumen, Rupffedern, dann geschliffene Federn nämlich fein und grobe, welche schon geschliffen sind, und des Ausglaubens nicht mehr bedürfen, um billige Preiße zu verkaufen hat81 . Dass Händler aus Böhmen in den 1790er Jahren seltener im Anzeigenteil der Bamberger Intelligenzblätter erscheinen, könnte unter anderem der Tatsache geschuldet sein, dass nun auch einheimische Geschäftsleute böhmische Produkte wie Glaswaren und Hopfen anboten. Der Glasermeister Matthäus Röhrer etwa führte 1791 sehr schönes, und fein 78 79

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Vgl. dazu B ERGER: Handel und Messen (wie Anm. 71), 316–324. Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 14. Oktober 1760, Nr. 79; 16. Oktober 1761, Lit. EEEE; 14. Mai 1762, Nr. 35; 10. Oktober 1762, Nr. 78; 22. Mai 1767, Lit. Mm; 6. Mai 1768, Nr. 33; 11. Mai 1770, XXXIV. Stück; 19. Mai 1772, Achtunddreißigstes Blatt; 16. Mai 1775, Lit. Nn; 19. Mai 1778, Num. 37; 15. April 1780, Nr. 28; 28. April 1780, Nr. 29; 29. April 1785, Nr. 30; Hochfürstlich-Bambergisches Intelligenzblatt, 27. Mai 1791, Num. 41; B ERGER: Handel und Messen (wie Anm. 71), 322. Hochfürstlich-Bambergisches Intelligenzblatt, 19. Mai 1786, Nr. 38. Hochfürstlich-Bambergisches Intelligenzblatt, 1. Juli 1796, Num. 51.

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geschliefenes böhmisches Glaß, vergoldet und unvergoldet82 . Franz Kreibig, der selbst aus Böhmen stammte und im Mai 1799 das große Bürgerrecht erwarb83 , teilte im Dezember desselben Jahres im Bamberger Intelligenzblatt mit, daß er sein bisheriges Logie im steinernen Hause in der langen Gasse verlassen, und dagegen mit seinem vollständigen Waarenlager von englischen Steingut, Porzelain, und feinen böhmischen Glaswaaren [et]c. den untern Stock in dem Hause der Frau Hofkammerräthin Weniger am Ende der Fleischgasse bezogen habe84 . In der Körnerischen Spezereyhandlung bey St. Martin gegen der Hauptwache hin war 1802 feiner egerischer silberfarbe[ne]r und weißer Flachs um billigen Preis zu haben85 . Der jüdische Händler Herz Koppel aus Bayreuth schließlich war auf der Frühjahrsmesse 1798 mit einem Sortiment [. . . ] fein= und mittel Sorten böhmischen Tuch[s] in allen Couleuren vertreten86 . VI. Der Edelmann und die Komödiantin: Eine fränkisch-böhmische Mesalliance Reicht das Spektrum der bislang vorgestellten Fälle von angesehenen Hofkünstlern und Kaufleuten bis zu Angehörigen der Unterschichten, so kommt im hier abschließend behandelten Beispiel mit einer böhmischen Komödiantentruppe, die in den 1740er Jahren in Bamberg gastierte, eine weitere mobile Bevölkerungsgruppe in den Blick. Zugleich handelt es sich um einen besonders dicht dokumentierten Fall, der bemerkenswerte Schlaglichter auf den Abstieg einer angesehenen Bamberger Familie sowie auf Formen der geographischen Mobilität zwischen Franken und Böhmen wirft. Im Zentrum dieses Falls steht Philipp Adam Johann Zollner vom Brand, der einer Familie entstammte, die im Spätmittelalter aus dem Bamberger Bürgertum in die fränkische Ritterschaft aufgestiegen war. Die Zollner waren jedoch wenig begütert – neben ihrem Stammhaus auf dem Brand in Bamberg besaßen sie einige Zehnten und kleinere Güter im Umland – und waren spätestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts verschuldet87 . Zu den finanziellen Problemen kamen im 18. Jahrhundert erhebliche innerfamiliäre Konflikte hinzu. Der 1715 geborene Philipp Adam Johann hatte 1736 völlig unstandesgemäß und gegen den Widerstand seiner Verwandtschaft die 15 Jahre ältere Rotgerbertochter und Kanzlistenwitwe Maria Barbara Reinländer geheiratet, die angeblich verschuldet war, einen zweifelhaften Ruf genoss und drei unmündige Kinder mit in die Ehe brachte. Diese Ehe war von Anfang an von massiven Angriffen der Schwestern Philipp Adam Johanns auf dessen vorgeblich liederliche und verschwendungssüchtige Frau überschattet, bei denen 82 83 84 85 86

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Hochfürstlich-Bambergisches Intelligenzblatt, 24. Mai 1791, Num. 40; vgl. auch 20. Oktober 1789, Num. 82; 7. Mai 1790, Num. 36. StadtABa B 7 Nr. 10 fol. 114 r. Hochfürstlich-Bambergisches Intelligenzblatt, 13. Dezember 1799, Num. 98. Hochfürstlich-Bambergisches Intelligenzblatt, 23. November 1802, Num. 92. Hochfürstlich-Bambergisches Intelligenzblatt, 8. Mai 1798, Num. 36. Vgl. M ICHAELA S CHMÖLZ H ÄBERLEIN: Auswärtige Juden auf den Bamberger Messen. In: H ÄBERLEIN , S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Handel, Händler und Märkte (wie Anm. 10), 325–342, hier 335. KONRAD A RNETH: Die letzten der Zollner vom Brand. In: 109. Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg (1973), 333–378, hier 334 f.; K LAUS RUPPRECHT: Die Familie Zollner vom Brand – Schlossherren und Ganerben zu Bischberg. In: W ERNER TAEGERT (Hg.): 1 000 Jahre Bischberg. Beiträge zur Geschichte eines Zwei-Flüsse-Dorfes in Franken, Petersberg 2014, 83–100, bes. 92.

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es indessen nicht nur um deren niedrigen sozialen Stand, sondern auch um Erbansprüche der Schwestern gegangen sein dürfte88 . Im Herbst 1743 ging der Bamberger Edelmann ein Verhältnis mit einer Komödiantin ein, die zu der durchreisenden Schauspieltruppe des Wenzel Bancka gehörte und angeblich dessen Ehefrau war. In einer Supplikation an den Fürstbischof beschwerte sich Zollner vom Brands Ehefrau, dass ihr Gatte sich mit genehmhaltung ihres interessirten angeblichen Manns an die Komödiantin angehänget habe und sich mit ihr bei dem Ringleins=Bäcken Frantz Brehm im Sandgebiet in einem Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses getroffen habe. Dort hätten sie bey tag und bey nacht geschlemmet und gedemmet und, Gott allein weis, was noch weithers dabey verübet. Die Ehefrau war sogar geneigt, dem böhmischen commoedianten=volck magische Kräfte zuzuschreiben; es habe ihrem Gatten diese principia Diabolica beygebracht und von dem Christophorus=gebett und der freymaurers Kunst die falscheste abbildung ganz leicht vorgemahlet, bis ihr Mann ihnen fast wie ein unvernünfftiges thier blindlings nachgeeilt sei89 . Mit den angeblichen Zauberkräften der Komödianten schnitt Zollners Ehefrau ein Thema an, das auch Autoren wie den italienischen Jesuiten Paolo Segneri (1624–1694) beschäftigte. In seiner Predigt hatte dieser vor dem „Zauber“ gewarnt, „der sich von dem Geschehen auf der Bühne auf die Zuschauer übertrug.“ Rainer Beck zufolge war damit ein Zauber gemeint, „der, wie bei der Hexerei, einer Vergiftung gleichkam. Damit war auch schon der Status der Komödianten umrissen: Zwar waren sie keine Teufel, dafür aber ‚Schwarzkünstler‘ und Verhexer ‚der Gemüter‘.“ Beck zufolge waren Komödianten aus Sicht vieler Zeitgenossen „Virtuosen der Trugbilder sowie Verstellungen und darin wiederum dem Teufel ähnlich, von dem es nicht nur hieß, dass er der Vater der Lügen, sondern auch dass er der Urvater und Erfinder der Maskerade sei“90 . Nach der Abreise der Komödianten habe Philipp Adam Johann Zollner vom Brand einen Brief aus Bayreuth erhalten und sei daraufhin unter dem Vorwand, eine Wallfahrt nach Glosberg unternehmen zu wollen, seiner Geliebten mit zwei Pferden nachgereist, wobei er eine erhebliche Menge Bargeld und Silber mitgenommen habe. Ein Mitglied der Schauspieltruppe, der aus Prag stammende Caspar Milander, welcher sich noch in Bamberg aufhielt, gab Anfang November 1743 vor einem Notar zu Protokoll, Zollner vom Brand und die Eheleute Bancka hätten sich im Haus des Bäckers öffters lustig gemacht, sie seien in dessen Weingarten Spatzieren gegangen, und Zollner habe den commoedianten und sein weib samt den ringleins=Bäcken mit guten speissen und getränck tractiret. Nach dem Gelage, das sich oft bis elf Uhr nachts hinzog, habe man die schändlichste lieder gesungen, und die Ehr vergessenste gespräch geführet. Man habe Karten gespielt und über Zollners Frau gelästert. Außerdem schilderte Milander freimütig die sexuellen Kontakte zwischen dem Edelmann und der Komödiantin: Es hätte zwey bis drey mahl der herr von Zollner mit fleis das liecht ausgelescht und verursacht, daß der ringleins=Bäck solches 88

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A RNETH: Die letzten der Zollner vom Brand (wie Anm. 87), 336–339; RUPPRECHT: Die Familie Zollner (wie Anm. 87), 92; E VA -M ARIA D RECHSEL: Ein Ehekonflikt in der frühneuzeitlichen Lebenswelt – Anna Maria Barbara und Philipp Adam Zollner vom Brand vor Gericht (Bamberg 1743–1746), unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Bamberg 2008. StABa, Hochstift Bamberg, Zent- und Fraischgericht, Nr. 170, unpaginiert, Supplik der Maria Zollner vom Brand, s.d. [Herbst 1743]. R AINER B ECK: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715–1723, München 2012, 510 f.

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wieder anzuzünden fortgegangen, wo sich inzwischen ged[acht]er herr von Zollner nah an des Wenzels Eheweib gemacht, und ohne scheü in Beyseyn ihres manns sich nicht nur allein unzüchtig auffgeführet, sondern auch durch garstiges greiffen und antasten sein Vergnügen gesucht. Im Haus des Altmachers (Schuhflickers) Gerber sei es zu noch intimeren Handlungen gekommen. Der daraufhin zum Verhör bestellte Bäcker Franz Brehm stellte sich als ehrenwerten, ahnungslosen Bürger dar, während Johann David Mayer, der Leiter der Comoedianten=bande, Wenzel Bancka als Menschen von einer liederl[ichen] Conduite beschrieb, der aus Olmütz in Mähren stamme und seit zehn Jahren mit seiner angeblichen Frau zusammenlebe91 . Philipp Adam Johann Zollner vom Brand zog mit der Truppe Wenzel Banckas ein halbes Jahr lang durch Böhmen und Mähren und kehrte schließlich im Mai 1744 nach Bamberg zurück, wo er verhaftet und auf der Hauptwache verhört wurde. In einem Brief, den Zollners Ehefrau von Wenzel Bancka erhielt, hatte dieser behauptet, dass Zollner in Prag mit seinem [. . . ] bösen Eheweib habe durchgehen wollen. Er habe die beiden jedoch eingeholt, woraufhin Zollner verhaftet und der Stadt verwiesen worden sei. Auf dem Weg von Prag nach Olmütz habe er ihm seine Frau erneut als ein schändlicher Ehebrecher entführet und in einem Gasthaus in Brünn 60 Gulden Schulden hinterlassen. Seine verantwortungslose Frau habe sogar ihr Kind bei Bancka zurückgelassen92 . Zollner vom Brand stritt in seinem Verhör die meisten Vorwürfe ab. Er habe sich in Bamberg mit der Komödiantin nichts zuschulden kommen lassen; der Zeuge Milander sei ein nichtsnutziger Kerl, den seine Frau durch Bestechung zu einer Falschaussage verleitet habe. Bamberg habe er nicht auf Veranlassung der Banckas, sondern wegen seiner Eheprobleme und der Erbstreitigkeiten mit seiner Verwandtschaft verlassen. Eigentlich habe er nach Karlsbad reisen wollen, um seinen kranken Arm zu kurieren, und sei nur zufällig wieder auf die Schauspieltruppe getroffen. Gemeinsam mit den Komödianten sei er daraufhin auff der reithenden, und fahrenden Post über Eger und Karlsbad nach Prag gereist. Dort habe er sich in einem Wirtshaus in der Altstadt mehrere Wochen aufgehalten und die Zeit mit spazieren- und in die comoedien-gehen zugebracht. Während dieser Zeit habe sich Banckas Frau nach einem Streit zwei Tage lang von ihm getrennt, sei dann aber von ihrem Mann zurückgeholt worden. Von Prag aus ging die Reise weiter nach Brünn in Mähren – wiederum in Gesellschaft der Banckas, weilen dortherum alles böhmisch seye, und der Bancka diese sprach verstanden habe. In Brünn habe er zunächst drei Wochen in einem Wirtshaus und anschließend neun bis zehn Wochen bei einem Schreiner gewohnt, während die Komödianten nach Olmütz weitergereist seien. Nachdem das Bargeld des Bamberger Edelmanns allmählich zur Neige gegangen sei, habe er seine Strümpfe und Hemden verkauft, seinen Degen versetzt und ihn schließlich ebenfalls für zehn Gulden losgeschlagen. Auch seine silberne Sackuhr, seine Tabaksdose und seine Schuhschnallen landeten bei einem Pfandleiher in Brünn. In Begleitung seines Jägers habe er schließlich zu Fuß die Rückreise angetreten. Dass er sich so lange in Gesellschaft der Komödianten aufgehalten habe, begründete er damit, dass er eines theils die böhmische Sprach nicht verstanden, anderen theils aber davor gehalten habe, daß diese leüthe, wan Er allenfalls 91

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StABa, Hochstift Bamberg, Zent- und Fraischgericht, Nr. 170, unpaginiert, Zeugenverhörprotokolle vom 4. und 8. November 1743. In stark verkürzter Form wird der Fall resümiert bei A RNETH: Die letzten der Zollner vom Brand (wie Anm. 87), 339–341. StABa, Hochstift Bamberg, Zent- und Fraischgericht, Nr. 170, unpaginiert, Inquisitionsprotokoll vom 1. Dezember 1744.

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krank werden solte, an die seinige heraußschreiben, und ihnen seine Kranckheit zu wissen machen könten93 . Nachdem Zollner zunächst aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt worden war, um seinen Arm behandeln zu lassen, tauchte unvermutet die Komödiantin wieder bei ihm auf. Daraufhin wurden beide verhaftet und verhört. Zollner erklärte ihr Erscheinen zunächst mit Schulden, die er bei ihr gemacht hatte, gab dann aber zu, dass sie bei ihm in Brünn geblieben war, während Wenzel Bancka alleine nach Olmütz weitergereist sei. Von dort aus wären sie gemeinsam mit dem Jäger bis nach Muggendorf im Hochstift Bamberg gereist und hätten unterwegs im Stroh übernachtet. Nachdem sie der Jäger einige Zeit an verschiedenen Orten in der Umgebung Bambergs untergebracht hatte, habe sie ihn schließlich in seinem Haus aufgesucht, um Geld von ihm zu fordern. Unsittliche Kontakte mit Banckas Ehefrau stritt Zollner ab: Er habe sie die ganze Zeit über, daß Er mit ihr bekant- und herumbgezogen seye, nicht geküsset, oder unkeüsch angerühret, viel weniger fleischliche unzucht mit ihr getrieben, oder zu Prag mit ihr durchzugehen verlanget. Dass er kurzzeitig in Prag verhaftet worden sei, erklärte er damit, dass man ihn für einen preußischen Spion gehalten habe94 . Die Komödiantin Franziska Bancka gab im Verhör an, sie sei 29 Jahre alt, katholisch, in Elleschau in Böhmen geboren und in Prag aufgewachsen, wo ihr Vater Kammerdiener des Erzbischofs gewesen sei. Sie sei bereits im zehnten Jahr mit Wenzel Bancka aus dem mährischen Olmütz verheiratet und habe sieben Kinder zur Welt gebracht, von denen aber nur noch ein Mädchen, das noch nicht ganz zwei Jahre alt war, am Leben sei. Das Kind habe sie vor ungefähr zwanzig Wochen zu ihrem Mann geschickt, der damals als Leiter einer Schauspieltruppe in Olmütz fungierte, während sie selbst, weil sie sich mit ihrem Mann nicht habe vertragen können, sich einer Komödiantentruppe in Brünn angeschlossen habe. Von dort aus wollte sie angeblich zunächst zu Verwandten nach Wien gehen; weilen sie aber schlecht gekleidet gewesen seye, sei sie nach Neuhaus gezogen, wo sie Marionettenspieler getroffen habe, mit denen sie in der Pfalz, und in Bayeren herumbgezogen seye. Schließlich habe sie beschlossen, nach Bamberg zu gehen und ihre in Brünn und Prag getätigten Auslagen von Zollner vom Brand zurückzufordern. Während dieser sie mehrfach vertröstet habe, sei sie in seinem Haus geblieben und habe dort in der oberen Kammer übernachtet. Auch Franziska Bancka bestritt ein intimes Verhältnis mit Philipp Adam Johann Zollner vom Brand. Ihre Beschreibung der Reise von Bayreuth nach Prag deckte sich weitgehend mit derjenigen des Bamberger Edelmanns. Dass sie ihren Mann in Prag vorübergehend verlassen hatte, begründete sie mit dessen gewalttätigem Verhalten: Sie habe nacher Dresden zu einem principalen gehen wollen, weilen ihr Mann sie vielmahls mit dem bloßen degen überloffen, und das pistol gegen sie gezücket, nicht minder ihre sachen zu der stubenthür hinaußgeschmissen, und ihr getrohet habe, daß, wan sie abends umb 7. uhr nicht fort seye, Er sie mit haaren hinausziehen wolle. Bei ihrer Schilderung der Reise von Brünn nach Bamberg verwickelte sie sich allerdings in Widersprüche, konnte mehrerer Falschaussagen überführt werden und gestand schließlich, gemeinsam mit Zollner vom Brand bis nach Muggendorf gereist zu sein95 .

93 94 95

Ebenda. Ebenda. Preußen und Österreich standen sich zu dieser Zeit im Zweiten Schlesischen Krieg gegenüber. Ebenda.

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Mark Häberlein und Lina Hörl

Ungeachtet ihres Leugnens befand das Bamberger Malefizamt Philipp Adam Johann Zollner vom Brand und Franziska Bancka für schuldig, ihre Ehepartner aus bloßer absicht, und begierde lasterhaffter fleischlicher wollüsten böswillig verlassen und sich miteinander eingelassen zu haben. Zollner wurde schließlich zu drei Jahren Festungshaft verurteilt. Während ihr Ehemann in Kronach in Haft saß, wurde auch Anna Maria Barbara Zollner vom Brand außerehelicher Beziehungen bezichtigt, wobei die Vorwürfe aus dem engsten sozialen Umfeld kamen. Die detaillierten Anschuldigungen der Schwägerinnen, der Dienstmägde und der Tochter aus erster Ehe ließen sich jedoch nicht belegen, und Anna Maria Barbara wurde freigesprochen96 . Die Komödiantin Franziska Banckin wurde im Februar 1745 wegen Ehebruchs auf ewig des Landes verwiesen. Im fürstbischöflichen Ausweisungsdekret wurde sie beschrieben als etwas langlichter und haagerer Statur, blattermäsigen angesichts, eine weise hauben auf dem Kopf, ein weis pargetes Mützchen, grün und weis gestreiften rock, dann einen weis und blau geblümten schurzer am leib tragend. Einer Leibesstrafe entging sie nur, weil sie – wahrscheinlich von Zollner vom Brand – schwanger war97 . Der Fall des Bamberger Edelmanns Philipp Adam Johann Zollner vom Brand und der böhmischen Komödiantin Franziska Bancka ist nicht nur als Beziehungsgeschichte zwischen zwei Personen von höchst ungleichem Stand und als Skandalchronik der Verfehlungen eines Mitglieds der fränkischen Ritterschaft von Interesse, sondern wirft auch Schlaglichter auf Formen und Bedingungen der Mobilität zwischen Franken und Böhmen im 18. Jahrhundert. Zum einen legen die Aussagen Franziska Banckas nahe, dass in Süddeutschland, Sachsen und der Habsburgermonarchie ein ganzes Netzwerk von fahrenden Schauspieltruppen bestand, die in ihrer Zusammensetzung flexibel waren und denen sich einzelne Komödianten fallweise anschlossen. Dieser Befund deckt sich mit Forschungsergebnissen zu anderen mobilen Bevölkerungsgruppen, die außerhalb der ständischen Gesellschaftsordnung standen98 . Zum anderen konnte die Reisegruppe Zollners vom Brand und der Komödianten zwischen Bayreuth und Prag auf eine gut ausgebaute Infrastruktur von Poststationen und Herbergen zurückgreifen und stieß offenbar auch auf keine Verständigungsschwierigkeiten. Erst zwischen Prag und Brünn bewegte sich Zollner vom Brand überwiegend auf tschechischsprachigem Terrain und war auf die Dolmetscherdienste Wenzel Banckas und seiner Frau angewiesen. So ungewöhnlich dieser Fall auch sein mag, bestätigt er somit doch nochmals den Befund, dass das Hochstift Bamberg und die deutschsprachigen Regionen Böhmens einem – auch in konfessioneller und sprachlicher Hinsicht – einheitlichen Handels-, Migrations- und Kommunikationsraum angehörten. 96 97 98

Ebenda. StABa, Hochstift Bamberg, Zent- und Fraischgericht, Nr. 170, unpaginiert, Entwurf des Ausweisungsbefehls, 8. Februar 1745; A RNETH: Die letzten der Zollner vom Brand (wie Anm. 87), 341. Vgl. exemplarisch A NDREAS B LAUERT: Sackgreifer und Beutelschneider. Die Diebesbande der Alten Lisel, ihre Streifzüge um den Bodensee und ihr Prozeß 1732, Konstanz 1993; D ERS ., E VA W IEBEL: Gauner- und Diebslisten. Unterschichten- und Randgruppenkriminalität in den Augen des absolutistischen Staates. In: M ARK H ÄBERLEIN (Hg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.–18. Jahrhundert) (= Konflikte und Kultur 2), 67–96; E VA W IEBEL: Minderheiten in der Randgruppe? „Welsche“ und Juden in Gauner- und Diebslisten des 18. Jahrhunderts. In: M ARK H ÄBERLEIN , M ARTIN Z ÜRN (Hg.): Minderheit, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum, St. Katharinen 2001, 183–232.

Migration und Integration

VII.

113

Schluss

Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass die Böhmen, die zwischen dem späten 17. und dem frühen 19. Jahrhundert nach Bamberg kamen, eine ausgesprochen heterogene Gruppe waren. In sozialer Hinsicht reicht das Spektrum von angesehenen Hofkünstlern und Kaufleuten bis hin zu Angehörigen der nichtsesshaften Unterschichten; hinsichtlich der Aufenthaltsdauer in der fränkischen Residenzstadt zeigte sich eine Bandbreite von sporadischen oder periodischen Messebesuchen bis hin zu dauerhafter Niederlassung und Einbürgerung, die immerhin für 75 Böhmen im Untersuchungszeitraum belegt ist. Anders als italienischsprachige Zuwanderer, unter denen Händler dominierten, übten die meisten böhmischen Zuwanderer handwerkliche Berufe aus, ohne dass deutliche Spezialisierungen erkennbar sind. Vielmehr wird in den Quellen ein breites Spektrum an textil-, leder-, holzund metallverarbeitenden Berufen genannt. Auch im Vergleich mit den italienischen Zuwanderern stellt sich die Frage, inwieweit die Böhmen in Bamberg überhaupt als eigene landsmannschaftliche Gruppe anzusehen sind. Sprachliche und religiöse Barrieren bestanden im Fall der Böhmen offensichtlich nicht, da sie in der Regel aus deutschsprachigen Gemeinden kamen und katholischer Religion waren99 . Die zahlreichen Einbürgerungen und Heiratsverbindungen mit Bamberger Bürgern und Bürgerinnen lassen jedenfalls keine nennenswerten Integrationshindernisse erkennen. Insbesondere zur ehemaligen Reichsstadt Eger gestalteten sich die Handelsund Migrationsbeziehungen zeitweilig ausgesprochen eng. Mitunter verwiesen Böhmen in Bamberg durchaus selbstbewusst auf ihre Herkunft; dies gilt neben den Hopfen- und Zinnhändlern sogar für Dienstboten, wie eine Anzeige im Bamberger Intelligenzblatt aus dem Jahre 1784 zeigt: Ein junger großer Mensch von 24 Jahren, ledigen Stands, katholischer Religion, der Frißiren und Barbiren kann, und aus Deutschböhmen gebürtig ist, sucht bey einer gnädigen Herrschaft entweder als Bedienter oder Postilion in Dienste zu kommen. Logirt im goldnen Adler im Steinweg100 . Dass es in Einzelfällen dennoch zu Vorbehalten gegenüber Böhmen oder sogar zu Diskriminierungen aufgrund ihrer Herkunft kommen konnte, zeigen die Schmähungen des Hofschreiners Andreas Bauer ebenso wie die Widerstände gegen die Aufnahme des Schlossergesellen Wenzel Progaska in Hallstadt. Während die fränkische Residenzstadt Bamberg nicht wenigen böhmischen Zuwanderern beachtliche Aufstiegs- und Integrationschancen bot, machen die geschilderten Konflikte, Konkurse und Ausweisungen deutlich, dass dies längst nicht für alle Böhmen in Bamberg galt.

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Zu den Sprachkenntnissen italienischer Zuwanderer in Bamberg vgl. S CHOPF: Zwischen den Welten (wie Anm. 24), 227. 100 Hochfürstlich-Bambergische Wochentliche Frag- und Anzeige-Nachrichten, 5. November 1784, Nr. 85.

Von Itzig Jacob zu Izaak Flatau Transregionaler Handel im preußisch-polnischen Teilungsgebiet von Cornelia Aust In seiner Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Geschichte der Warschauer Juden beschrieb der polnisch-jüdische Journalist Hilary Nussbaum (1820–1895) eine der bekanntesten Figuren der wirtschaftlichen Elite der Warschauer Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Der wohlhabende ausländische Israelit Izaak Flatau ließ sich in Warschau nieder und eröffnete eine private Synagoge auf seine eigenen Kosten in seinem Haus in der Danielewiczowska Straße Nr. 616. Er strebte nach keinem Profit, sondern hatte die Bedürfnisse seiner eigenen zahlreichen Familie, seiner Freunde und Bekannten im Blick, die kurze europäische Kleidung trugen und reines Deutsch sprachen und sich von dem Rest der Juden in ihren langen Mänteln und mit ihrem Jargon unterschieden1 . Nach Nussbaums Beschreibung erscheint der Lebensweg Izaak Flataus klar und geradlinig: ein wohlhabender ausländischer jüdischer Kaufmann und Bankier, der wegen seiner Geschäfte nach Warschau zog, und sich dort in Kleidung, Sprache und Habitus deutlich von seinen polnischen Glaubensgenossen unterschied. Verfasst in einer Zeit, in der nationale Trennlinien klar etabliert waren, und im Einklang mit Nussbaums eigenen Überzeugungen als Integrationist, der sowohl die Integration der jüdischen Bevölkerung in die polnische Gesellschaft als auch eine Stärkung der jüdischen Identität anstrebte, verdeckt dieses Narrativ jedoch die sehr viel kompliziertere Geschichte von Itzig Jacob, der erst in seinen letzten Lebensjahren als Izaak Flatau bekannt wurde. Seine Geschichte beginnt im preußisch-polnischen Grenzland, einem der vielen Gebiete im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in denen sich politische Grenzen verschoben, Loyalitäten veränderten und kulturelle Zugehörigkeiten multidimensional waren. Wie auch im deutsch-französischen Grenzgebiet Elsass-Lothringen nahmen zeitgenössische Reisende keine abrupten Grenzen, sondern eher eine langsame Veränderung der Landschaft, Kultur und Sprache wahr2 . Auch Moses Wasserzug, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Skoki (Schokken) in Großpolen zur Welt kam, beschreibt in seinen Memoiren kaum Grenzen oder deren Überquerung und Verschiebung, obwohl er von seinem Heimatort nach Frankfurt (Oder), Berlin und in kleinere preußische Orte reiste. Skoki und Kórnik, wo er in den 1790er Jahren lebte, fielen in der zweiten Teilung

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˙ H ILARY N USSBAUM: Szkice historyczne z z˙ ycia Zydów w Warszawie od pierwszych s´ladów pobytu ich w tem mie´scie do chwili obecnej, Warschau 1881, 92. B ERNHARD S TRUCK: Vom offenen Raum zum nationalen Territorium. Wahrnehmung, Erfindung und Historizität von Grenzen in der deutschen Reiseliteratur über Polen und Frankreich um 1800. In: E TIENNE F RANÇOIS , J ÖRG S EIFARTH , B ERNHARD S TRUCK (Hg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2007, 77–104, hier 81–90.

Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016), S. 115–135

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Polens 1793 unter preußische Herrschaft, worüber er ohne große emotionale Anteilnahme berichtet3 . Im Folgenden soll das unstete Leben Itzig Jacobs alias Izaak Flatau von seinen Anfängen in den bei der ersten Teilung Polens 1772 an Preußen gefallenen Gebieten bis zu seiner Etablierung als Bankier und Unternehmer in Warschau zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieben werden. Dabei soll gezeigt werden, wie die sich verändernden rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen von der dezentralisierten Herrschaft in der polnischlitauischen Adelsrepublik hin zum festen Griff des absolutistischen Preußen das Leben der örtlichen jüdischen Bevölkerung beeinflussten. Die Versuche, die neu besetzten Gebiete in die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen des preußischen Staates zu integrieren, hatten ernsthafte Konsequenzen für die betroffene Bevölkerung im Allgemeinen und für die jüdische Bevölkerung im Besonderen. Obwohl diese Veränderungen die weitgehenden Rechte beschnitten, die die jüdische Bevölkerung unter der Herrschaft der polnischen Könige genossen hatte, ermöglichte der Status als Grenzland auch einigen Juden, wirtschaftlich von diesen Veränderungen zu profitieren. Auch wenn der Fall von Itzig Jacob eher die Ausnahme als die Regel darstellt, zeigt sein Beispiel, wie er sein Leben zu einer erfolgreichen Reise ostwärts gestaltete und damit zu einer kleinen, aber wichtigen Gruppe jüdischer Migranten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gehörte, die von dem allgemeinen Narrativ der jüdischen Migration von Ost nach West seit Mitte des 17. Jahrhunderts abweicht4 . Wie viele andere Juden in ähnlichen Situationen nutzte Itzig Jacob eine Bandbreite von Strategien – persönliche Eingaben, hohe Flexibilität in seinen wirtschaftlichen Unternehmungen und eine kluge Kombination von Geschäfts- und Heiratsverbindungen – um seine oft schwierige Situation gewinnbringend in neue Möglichkeiten umzuwandeln. Die spezifische Situation des Grenzlandes und die konfliktreichen Jahre von den Teilungen Polens bis zu den Napoleonischen Kriegen erlaubten ihm und anderen jüdischen Kaufleuten, von dem hohen Bedarf an Nahrungsmitteln, Kleidung und Futter bei den involvierten preußischen, polnischen, russischen und später französischen Truppen zu profitieren. Das Geschäft mit Armeelieferungen erlaubte jüdischen Unternehmern hier und in anderen Grenzregionen Europas einen Einstieg in neue Geschäftsbereiche und langfristig vor allem ins Bankwesen.

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S TEFI J ERSCH -W ENZEL (Hg.): Die Memoiren des Moses Wasserzug, Leipzig 1999, 29 f., 48. Die hebräische Version findet sich bei H EINRICH L OEWE: Memoiren eines polnischen Juden. In: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 8 (1910), 87–114, 440–446. Die Standardarbeit zur westwärts gerichteten Migration ist immer noch M OSES A. S HULVASS: From East to West: The Westward Migration of Jews from Eastern Europe during the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Detroit 1971.

Von Itzig Jacob zu Izaak Flatau

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I. Von Polen nach Preußen Itzig Jacob wurde wahrscheinlich ein Jahrzehnt oder mehr vor der ersten Teilung Polens 1772 in Flatow (Złotów) geboren. Seine Familie lebte in der kleinen Stadt in adeligem Besitz, deren Bewohner seit dem Polnisch-Schwedischen Krieg in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer wieder Unruhen und Kriege erlebt hatten. Nichtsdestotrotz hatten sich die Bierbrauerei und das Kleidungshandwerk gut in der Stadt mit ca. 900 jüdischen Einwohnern entwickelt. Im nun so genannten Netzedistrikt, einem schmalen Streifen entlang beider Seiten des Flusses Netze (Notec) gelegen, lebte in Flatow die größte Zahl an Juden, die ungefähr die Hälfte der Stadtbevölkerung stellten5 . Itzig Jacobs Familie, darunter seine sechs Brüder, lebten vor allem vom Handel6 . Wie die meisten Juden in der polnisch-litauischen Adelsrepublik hatten die Juden im großpolnischen Flatow, im westlichen Teil der Adelsrepublik, von einem hohen Maß an wirtschaftlicher Freiheit und Gemeindeautonomie auf der Grundlage königlicher und adeliger Privilegien profitiert7 . Die Zahl der jüdischen Bewohner war seit dem 15. Jahrhundert kontinuierlich angestiegen, und die den Juden erteilten Privilegien gestanden ihnen erhebliche wirtschaftliche Freiheiten zu. Juden konnten sich relativ frei in Handel und Handwerk betätigen, und auch die Entfernung vieler Juden aus der königlichen Jurisdiktion im 16. Jahrhundert schadete ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Position kaum. Als die polnischen Magnaten ihre Macht gegenüber dem König ausbauten, übernahmen Juden zunehmend wichtige Funktionen im feudalen Wirtschaftssystem als Pächter, Kaufleute und Lieferanten8 . Mitte des 18. Jahrhunderts waren Juden ein integraler Teil der Feudalwirtschaft der Adelsrepublik und rechtlich wie ökonomisch eng mit dem Adel verbunden9 . Trotz der Bemühungen des 1764 gewählten letzten polnischen Königs Stanisław August Poniatowski, Polen nach einer Zeit wiederholter kriegerischer Auseinandersetzungen und politischer Instabilität durch Reformen in einen „aufgeklärten, prosperierenden und gut regierten“ Staat zu verwandeln, hatten seine Versuche, die christliche Bürgerschaft zu stärken, nur wenig Einfluss auf die Situation der jüdischen Bevölkerung in kleinen adeligen Städten wie Flatow10 . 5 6

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S ELMA S TERN: Der Preussische Staat und die Juden. Dritter Teil: Die Zeit Friedrichs des Großen, Bd. 2, Tübingen 1971, Nr. 1222, 1489–1493. 106 Häuser waren in Besitz jüdischer Einwohner. In einem Brief an die preußische Verwaltung von 1791 erwähnt Itzig Jacob seine sechs Brüder. Acta betr. das Gesuch des jüdischen Handlungs-Bedienten Itzig Jacob, um Bewilligung eines Schutz-Privilegii auf die Stadt Soldau, 1791, 1792. Geheimes Preußisches Staatsarchiv Berlin (im Weiteren: GStA Berlin), II. HA, Abt. 7, II Materien, Nr. 4717, 1. Zur rechtlichen Lage der polnischen Juden siehe JACOB G OLDBERG: Jewish Privileges in the Polish Commonwealth: Charters of Rights Granted to Jewish Communities in Poland-Lithuania in the Sixteenth to Eighteenth Centuries, Jerusalem 1985; A DAM T ELLER: The Legal Status of the Jews on the Magnate Estates of Poland-Lithuania in the Eighteenth Century. In: Gal-Ed 15–16 (1997), 41–63. A DAM T ELLER: Telling the Difference: Some Comparative Perspectives on the Jews’ Legal Status in the Polish-Lithuanian Commonwealth and the Holy Roman Empire. In: Polin 22 (2009), 109–141, hier 119. Siehe dazu die Arbeiten von G ERSHON DAVID H UNDERT: The Jews in a Polish Private Town: The Case of Opatów in the Eighteenth Century, Baltimore 1992; M OSHE ROSMAN: The Lords’ Jews: MagnateJewish Relations in the Polish-Lithuanian Commonwealth During the Eighteenth Century, Cambridge 1990; A DAM T ELLER: Kesef, koah, ve-hashpa’ah: ha-Yehudim ba-ahuzot bet Radzivil be-Lita ba-me’ah ha-18, Jerusalem 2006. R ICHARD B UTTERWICK: The Enlightened Monarchy of Stanisław August Poniatowski (1764–1795). In: D ERS . (Hg.): The Polish-Lithuanian Monarchy in European Context, c. 1500–1795, New York 2001, 193–218, hier 193. Das Gesetz von 1768, das den rechtlichen und wirtschaftlichen Status der Juden in den

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Das änderte sich jedoch grundlegend, als Preußen 1772 die westlichen Teile Polens besetzte. In den alten preußischen Provinzen war die Zahl der jüdischen Bevölkerung klein geblieben, wie von der restriktiven Politik gegenüber den Juden seit der Wiederansiedlung in Preußen Ende des 17. Jahrhunderts beabsichtigt. Damit stellte die erste Teilung Polens 1772 und die Besetzung weiterer polnischer Gebiete 1793 und 1795 eine große Herausforderung für die preußische Verwaltung und die politischen Entscheidungsträger dar. Die jüdische Bevölkerung in den neuen preußischen Territorien – Westpreußen und der Netzedistrikt 1772, Süd- und Neuostpreußen 1793 sowie einige zusätzliche Gebiete 1795 – überstieg bei weitem die Zahl der bisher in Preußen lebenden Juden. Mit einem Schlag wurden ca. 3 600 Juden in Westpreußen und zwischen 11 000 und 16 000 Juden im Netzedistrikt, wo sie sechs bis zehn Prozent der Bevölkerung stellten, zu preußischen Untertanen. Im Netzedistrikt machten Juden in vielen adeligen Städten und Gütern bis zur Hälfte der Bevölkerung aus11 . Rechtlich wurde das 1750 in Preußen erlassene Generalreglement 1772 auch auf die neu eroberten Gebiete übertragen, was theoretisch die Abschaffung der Privilegien der jüdischen Gemeinden und ernsthafte Einschränkungen der wirtschaftlichen Möglichkeiten für die jüdische Bevölkerung bedeutet hätte. Praktisch blieben die meisten Bereiche der gemeindlichen Autonomie vorerst unberührt, da die preußischen Behörden vor allem die wirtschaftliche Situation der jüdischen Bevölkerung in den Blick nahmen. Darüber hinaus war den meisten preußischen Beamten unbekannt, welche Rechte Juden in der Adelsrepublik genossen hatten12 . Juden waren im Handel und Handwerk aktiv und bildeten das Rückgrat des lokalen und regionalen Handels, oft zur Überraschung der neuen preußischen Verwaltungsbeamten. Geheimrat von Boden beklagte 1773 hinsichtlich des Netzedistrikts: Hier ist es mir zu toll mit allen Juden. Will ich einen Chirurgen haben, kommt ein Jude, einen Fischer ein Jude, Schlächter, Bäcker Juden, alle möglichen Handwerker sind Juden13 . Diese Äußerung spiegelt nicht nur die Bevölkerungsstruktur und die wirtschaftliche Situation in Westpreußen und dem Netzedistrikt wider, sondern auch das Erstaunen der Beamten darüber. Nicht nur die preußische Verwaltung, sondern auch die jüdische Bevölkerung musste sich mit der neuen Realität auseinandersetzen. 1775 reichte der Vertreter der jüdischen Gemeinden in Westpreußen und im Netzedistrikt, Jacob Moses, eine Petition bei der preußischen Obrigkeit ein. Darin hob er vor allem die Unwissenheit der jüdischen Bevölkerung

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Städten der Adelsrepublik stark eingeschränkt hätte, wurde nie umgesetzt. T ELLER: Telling the Difference (wie Anm. 8), 130–131; G ERSHON DAVID H UNDERT: Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century: A Genealogy of Modernity, Berkeley 2004, 44–47. Neuere Schätzungen gehen von bis zu 16 000 Juden im Netzedistrikt aus. M ANFRED J EHLE: ‚Relocations‘ in South Prussia and New East Prussia: Prussia’s Demographic Policy towards the Jews in Occupied Poland 1772–1806. In: Leo Baeck Year Book 52 (2007), 23–47, hier 25. Siehe auch H ANS -J ÜRGEN B ÖMELBURG: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806), München 1995, 422–424. J EHLE: Relocations (wie Anm. 11), 23–47. J ÜRGEN H EYDE: Zwischen Polen und Preußen – Die jüdische Bevölkerung in der Zeit der Teilungen Polens. In: H ELGA S CHNABEL -S CHÜLE , A NDREAS G ESTRICH (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. 2006, 292–332, hier 303 f. S ELMA S TERN: Der Preussische Staat und die Juden. Dritter Teil: Die Zeit Friedrichs des Großen. Bd. 1 (Darstellung), Tübingen 1971, 40.

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über die neuen Beschränkungen hervor, die bis dahin nur mündlich verkündet worden seien. Er bat daher um eine detaillierte schriftliche Bekanntgabe aller neuen Bestimmungen, vor allem weil die Judenschaft in Westpreußen sowohl als in Pohlen der teutschen Sprache nicht kundig, noch sich in solcher deutlich und verständlich auszudrücken im Stande sind14 . Des Weiteren bat er darum, die Ausstellung aller Schriftstücke, Wechsel und Verträge weiterhin auf Hebräisch zu erlauben und die Rechtsprechung in allen Angelegenheiten, die polnische Juden betrafen, bei den rabbinischen Gerichten zu belassen. Angesichts der restriktiven preußischen Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung ist es überraschend, dass die Verwaltung Jacob Moses‘ Forderungen vorerst akzeptierte15 . Nach der ersten Teilung Polens bemühte sich Preußen vor allem um die Stärkung seiner protektionistischen Wirtschaftspolitik und um die Einführung von Schutzzöllen, um Manufakturen und Handel innerhalb Preußens zu stärken. Eine weitere wichtige Maßnahme war die Ausweitung der Magazinwirtschaft mit der Schaffung eines engen Netzes von Getreidespeichern, die der Armee und in Notfällen der Bevölkerung dienen sollten. Diese Maßnahmen stimulierten die Landwirtschaft und den Getreidehandel, einschließlich des Imports von billigem Getreide aus Polen. Gleichzeitig sicherte das polnisch-preußische Handelsabkommen, das der polnischen Regierung 1775 aufgezwungen wurde, Preußen den unbegrenzten Export preußischer Manufakturgüter nach Polen, und stützte den polnisch-preußischen Handel durch niedrige Zölle, während es den Handel mit polnischen Gütern durch preußisches Territorium mit hohen Zöllen belegte. Diese Maßnahmen brachten jedoch nicht den gewünschten Erfolg, da der Handel in Westpreußen vor allem über die Nord-Süd-Achse von Danzig in die zentralen polnischen Provinzen verlief und nicht problemlos in das preußische Wirtschaftssystem integriert werden konnte16 . Der Einfluss der preußischen Handelsbeschränkungen in den 1772 eroberten Gebieten war damit begrenzt. Preußen unterstützte Teile des transregionalen Handels, beschränkte aber gleichzeitig den Handel mit vielen Gütern in dem Versuch, Polen zu einer Quelle billiger Rohmaterialien und zum Markt für preußische Manufakturgüter zu machen. Diese Maßnahmen trafen jedoch auf den Widerstand des lokalen Adels wie auch der jüdischen Bevölkerung in Westpreußen und im Netzedistrikt17 . Vor allem die große Anzahl an Juden stellte für die preußische Obrigkeit eine ernsthafte Herausforderung im Hinblick auf deren restriktive Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung dar, die die Zahl der Juden gering halten und die neuen Gebiete in den bereits bestehenden rechtlichen Rahmen des preußischen Staates integrieren wollte. Ein Mittel dazu war die angestrebte Ausweisung aller jüdischen Familien, vor allem aus dem Netzedistrikt, die keinen Besitz von mindestens 1 000 Talern pro Familie nachweisen konnten. Die Umsetzung dieser Vorgabe wurde jedoch oft von dem jeweiligen Verständnis der demographischen und wirtschaftlichen Realitäten der lokalen preußischen Verwaltungsbe14 15 16

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Eingabe von Jacob Moses, Bevollmächtigter der Judenschaft in Westpreußen und dem Netzedistrikt, Berlin 29. Juli 1775. GStA Berlin, HA II, Abt. 9 Materien, Tit. LXVI, Sekt. 1, Nr. 4, Bd. 1, 158–160. Resolution für den Bevollmächtigten der Judenschaft in Westpreußen und dem Netzedistrikt, Jacob Moses, Berlin, 18. August 1775. GStA Berlin, HA II, Abt. 9 Materien, Tit. LXVI, Sekt. 1, Nr. 4, Bd. 1, 166. B ÖMELBURG: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat (wie Anm. 11), 191–194, 289, 295. Zum polnisch-preußischen Handelsabkommen siehe J ERZY L UKOWSKI: Liberty’s Folly. The Polish-Lithuanian Commonwealth in the Eighteenth Century, 1697–1795, London/New York 1991, 206. B ÖMELBURG: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat (wie Anm. 11), 462–464; H EYDE: Zwischen Polen und Preußen (wie Anm. 12), 299 f., 306, 313 f.

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amten bestimmt. In manchen Fällen widersprachen die Beamten dabei den Vorgaben der Regierung, da sie die zentrale wirtschaftliche Rolle der jüdischen Bevölkerung verstanden. So schrieb der preußische Beamte Franz Balthasar Schönberg von Brenckenhoff nach der Besetzung des Netzedistrikts zu den Ausweisungsplänen der Regierung: [. . . ] Ich bin bekanntermaßen kein Judenfreund oder Protector. Allein ich halte es dem Kgl. Finanzinteresse zu dem größten Nachtheil schon itzo auf einmal so viele tausend Einwohner aus dem Lande zu jagen und manche Städte fast ganz zu entvölkern, ehe nicht andere christliche Einwohner dafür angeschaffet sind. [. . . ] Fordon, Zempelburg, Lobsens, Flatow werden auf einmal zu Einöden, der übrigen Städte nicht zu gedencken, wo die Hälfte und das Drittel der Einwohner Juden sind18 . Auch wenn die preußischen Beschränkungen von Ansiedlungsrechten und die Ausweisungen viele Juden in Bedrängnis brachten, gelang es der Verwaltung nicht, die Siedlungsund Wirtschaftsstruktur der neuen preußischen Territorien grundlegend zu verändern. In Itzig Jacobs Heimatstadt Flatow sank die Zahl der Juden durch die Vertreibungen zwar, die Zahl jüdischer Hausbesitzer blieb jedoch gleich. 1783 lebten ca. 1 600 Einwohner in der Stadt, von denen ca. 700 Juden, 600 Protestanten und 300 Katholiken waren19 . Mit der Schaffung Süd- und Neuostpreußens 1793 und dem Verschwinden des polnischen Staates ging die Vertreibungspolitik endgültig zu Ende, auch dank des Einflusses lokaler Verwaltungsbeamter, die die Regierung in Berlin dringend baten, in Süd- und Neuostpreußen nicht dieselben Maßnahmen einzuführen wie zuvor in Westpreußen und im Netzedistrikt. Letztendlich war die preußische Regierung bereit, diesen Kompromiss einzugehen, um ihre Autorität in den neuen Gebieten zu festigen20 . II.

Auf der Suche nach wirtschaftlichen Gelegenheiten

Wie andere Untertanen bemühten sich auch jüdische Kaufleute, über ihre Betätigungsmöglichkeiten zu verhandeln sowie die neuen Ansiedlungsbeschränkungen und wirtschaftlichen Einschränkungen anzufechten. Mitglieder der jüdischen Wirtschaftselite entwickelten Strategien, um mit den neuen Beschränkungen umzugehen und gleichzeitig ihr Auskommen zu sichern. Obwohl sich diese Strategien nicht immer als erfolgreich erwiesen, hatten auch die neuen Herrscher ein Interesse daran, sich die Loyalität ihrer 18 19

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Zitiert nach: B ÖMELBURG: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat (wie Anm. 11), 434. J OHANN F RIEDRICH G OLDBECK: Vollständige Topographie des Königreichs Preußen, Bd. II, Marienwerder 1789, 99, Nr. 4. Als ein Bruder von Itzig Jacob um die Erlaubnis bat, ein Haus zu erwerben, das bereits zu polnischen Zeiten im Besitz anderer Familienmitglieder war, erhielt er letztendlich die Erlaubnis, obwohl 71 jüdische Familien zusammen bereits 110 Häuser in Flatow besaßen. Acta betr. die Concession für den ordinairen Schutz Juden Israel Jacob zu Flatow zum eigenthümlichen Besitz eines daselbst angekauften Hauses, 1806. GStA Berlin, II. HA, Abt. 9, Westpreußen/Netzedistrikt, Stadt Flatow, Sekt. 4, Nr. 13, 14. Die Vertreibungen setzten sich bis in die 1790er Jahre fort, betrafen aber nie alle armen Juden. J EHLE: Relocations (wie Anm. 11), 26–29 schätzt, dass insgesamt 6 000 bis 7 000 Juden vertrieben wurden. J EHLE: Relocations (wie Anm. 11), 30 f.; B ÖMELBURG: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat (wie Anm. 11), 462–464.

Von Itzig Jacob zu Izaak Flatau

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neuen Untertanen zu sichern und ihre Herrschaftsstrukturen zu legitimieren21 . Um erfolgreich über die eigene Position unter den neuen politischen Gegebenheiten zu verhandeln, brauchte der Einzelne Wissen über die ökonomischen Prämissen der neuen Machthaber oder zumindest eine klare Vorstellung von der eigenen Nützlichkeit. Itzig Jacobs Fall zeigt deutlich, wie jüdische Kaufleute ihre Position auszuhandeln suchten. Sein Fall macht außerdem die Uneinheitlichkeit der preußischen Maßnahmen deutlich, da nicht nur arme Juden von den neuen preußischen Bestimmungen in den polnischen Teilungsgebieten betroffen waren. Itzig Jacobs Familie handelte erfolgreich mit Samt, Seide und anderen Textilien. Dafür reisten er und seine Brüder regelmäßig zu den Messen in Frankfurt (Oder). 1780 bestätigte der Bürgermeister von Flatow den wirtschaftlichen Wohlstand Itzig Jacobs, der Waren im Wert von wenigsten 10 000 Talern von der Frankfurter Messe und außerdem ein Vermögen von wenigsten 5 000 Talern habe. Dasselbe traf offenbar auf seine Brüder zu, die alle Ansiedlungsprivilegien in Flatow und Gumbinnen (Gusev, Kaliningrader Oblast) besaßen und ein jährliches Verkaufsvolumen von 10 000 bis 12 000 Talern aufwiesen22 . Aus ungeklärten Gründen erhielt Itzig Jacob jedoch selbst kein Ansiedlungsprivileg wie seine Brüder. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, sich in den 1780er Jahren zuerst in Allenstein (Olsztyn) und dann in Soldau (Działdowo) – beide in der in Ostpreußen umbenannten alten preußischen Provinz – niederzulassen, lebte er zeitweise in Ortelsburg (Szczytno) im Netzedistrikt, in Lowitz (Łowicz) bei Warschau und in Posen (Pozna´n) in Südpreußen, nachdem letzteres 1793 unter preußische Herrschaft gefallen war23 . Offiziell war er jedoch in dieser Zeit als tolerierter Schutzknecht eines gewissen Israel Levin in Flatow registriert24 und fiel damit in die niedrigste mögliche Rechtskategorie nach dem Revidierten Generalreglement von 1750. Damit war seine rechtliche Stellung ausschließlich von Israel Levin abhängig; eine Heirat war ihm ebenfalls untersagt. Trotz seiner Beschreibung als ein aus Flatau [sic!] in Westpreußen gebürtiger sehr wohlhabender Jude Namens Itzig Jacob deßen baares und reines Vermögen auf 50 000 rth. geschäzzet wird25 , blieb ihm ein Privileg durch die preußischen Behörden versagt. Im Laufe der Jahre unternahm Itzig Jacob eine ganze Reihe von Versuchen, ein Ansiedlungsprivileg zu erhalten. Als er sich um ein Privileg für Soldau, eine Stadt nahe der polnischen Grenze, bemühte, merkte er an, dass er vorhabe [. . . ] als Kaufmann, jedoch nur en Groß mit Schnitt Waaren von Einländischen auch erlaubten fremden Fabriquen 21

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H ELGA S CHNABEL -S CHÜLE: Herrschaftswechsel – zum Potential einer Forschungskategorie. In: D IES ., A NDREAS G ESTRICH (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk: Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. 2006, 5–20, hier 9. Acta betr. das Gesuch des jüdischen Handlungs-Bedienten Itzig Jacob, um Bewilligung eines SchutzPrivilegii auf die Stadt Soldau, 1791, 1792. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7, II Materien, Nr. 4717, 1. Acta wegen des von dem Juden Isaac Jacob aus Flatow intendirten Etablissements in der Stadt Allenstein, 1780–1782. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7, Ostpreußen und Litauen, II Materien, Nr. 4709, 4. Acta wegen der verbothenen Waaren 1765–1810. GStA Berlin, II. HA, Abt. 24, Generalakzise- und Zolldepartement B2, Tit. 24, Nr. 1, 60. Acta das Gesuch des Itzig Jacob wegen seiner Forderungen in Pohlen betr. GStA Berlin, I. HA, Rep. 7, Nr. 106 i, Fasz. 62. In Sachen des Juden Itzig Jacob aus Lowitz. GStA Berlin, XX. HA, Etats-Ministerium (EM), Tit. 97j, Nr. 37, 1–3. Das Judenwesen in Südpreußen. Archiwum Główne Akt Dawnych Warschau (im Weiteren: AGAD Warschau), Generalne Dyrektorium. Departament Prus Południowych I, Nr. 884, 390–392, 485–490 v. Die Gesuche verschiedener Juden um allgemeine Privilegien und Konzessionen auf Südpreußen. AGAD Warschau, Generalne Dyrektorium. Department Prus Południowych I, Nr. 896, 6.

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zur Exportation in das angrenzende Pohlen [zu] handeln [. . . ]26 . Er betonte damit seine wirtschaftliche Nützlichkeit und zeigte, dass er sich bewusst war, dass nicht alle ausländischen Manufakturwaren zur Ein- und Ausfuhr freigegeben waren. Außerdem war er sich offenbar der häufigen Anschuldigungen christlicher Händler gegen ihre jüdischen Konkurrenten bewusst, da er hinzufügte: Obgleich in gedachtem Soldau ein gewißer Kaufmann Schmidt mit Schnittwaaren handelt, so ist derselbe doch nur ein Detailleur der auch nur einen unbedeutenden Kram führt und dessen etwaige Wiedersprüche meinem intendirten Etablisement keine Schwirigkeiten verursachen können27 . Trotz allem lehnte die Regierung in Berlin sein Gesuch auf Niederlassung in Soldau und eine Handelserlaubnis ab. Damit folgte sie strikt ihren eigenen Vorgaben, aber man kann annehmen, dass auch die Ablehnung seines Ansinnens durch die Bürger und Kaufleute von Soldau, die ihn abfällig als ein gewißer Jude Itzig, der nirgends eine bleibende Stätte hat28 bezeichneten, zu der Entscheidung beitrug. Das Beispiel zeigt, dass neben den gesetzlichen Vorgaben auch die Eingaben anderer Beteiligter, meist örtliche christliche Kaufleute und Bürger, einen Einfluss auf die Beschränkung von Ansiedlungs- und Handlungsrechten jüdischer Kaufleute ausüben konnten. In Soldau wandten sich die Bittsteller gezielt gegen Itzig Jacobs Versuch, sich in der Stadt niederzulassen, und argumentierten, dass selbst ein einzelner privilegierter Jude bald Bedienstete, Lehrer und andere Juden mitbringen würde: Soldau liegt an der äußersten Grenze mit Pohlen, und ist mit Pohlen fast ganz umringt, sowohl diese Laage, als die starke Passagé von Danzig und Elbing nach Warschau ist die Ursache, daß die Grenze von Pohlen ganz mit pohlnischen Juden besezt ist, denen zum Verdrus des preußischen Verkehrs dies jetzt nichts mehr gemangelt hat; als einen festen Fuß in der Preußischen Grenze zu haben29 . Das Ziel war es, jüdische Kaufleute, auch wohlhabende, aus der Stadt fernzuhalten – in diesem Fall erfolgreich. Einige Jahre früher hatte es die preußische Regierung schon einmal abgelehnt, Itzig Jacob ein Ansiedlungsprivileg zu erteilen, obwohl die wirtschaftlichen Interessen des preußischen Staates vielleicht sogar für die Erteilung eines Privilegs gesprochen hätten. Die Entscheidung wurde aber gegen die wirtschaftlichen Interessen der örtlichen Wollfabrikanten in Allenstein getroffen. Anfang der 1780er Jahre hatte Itzig Jacob für ein Ansiedlungsprivileg in Allenstein angeboten, die örtliche Wollfabrik mit Rohstoffen zu versorgen und jährlich 4 000 Stück Stoff abzunehmen sowie in Berlin preußisches Porzellan im Wert von 300 Talern zu erstehen und im Ausland weiterzuverkaufen. Sein Angebot wurde abgewiesen, obwohl die christlichen Wollfabrikanten in Allenstein sein Anliegen mit mehreren Petitionen unterstützt hatten. Sie argumentierten, dass sie bereits seit mehr als zwei Jahren Wolle von Itzig Jacob kauften, die eine sehr viel bessere Qualität habe als Wolle, die ihnen durch staatliche Stellen bereitgestellt werde oder die von 26 27 28 29

Acta betr. das Gesuch des jüdischen Handlungs-Bedienten Itzig Jacob, um Bewilligung eines SchutzPrivilegii auf die Stadt Soldau, 1791, 1792. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7, II Materien, Nr. 4717, 1. Ebenda. Ebenda, 10 v. Ebenda.

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polnischen Gütern komme. Außerdem sei die Wolle günstiger und Itzig Jacob gewähre den Fabrikanten Kredit oder akzeptiere Bezahlung mit Stoffen, die er dann in Polen verkaufe. Hier wich die Zentralregierung in Berlin trotz der Unterstützung durch örtliche Unternehmer nicht von ihrer restriktiven Ansiedlungspolitik ab30 . Dies war mit Sicherheit keine Ausnahme, da Webergilden und örtliche Magistrate häufig gegen die Vertreibung von Juden aus westpreußischen Städten protestierten, weil sie vom Handel der jüdischen Kaufleute abhängig waren31 . Dies zeigt deutlich die gegensätzlichen Vorstellungen von lokalen Akteuren und Vertretern der Zentralregierung hinsichtlich der Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung in den Teilungsgebieten. Neben der Betonung ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit bedienten sich jüdische Kaufleute vor allem ihrer Mobilität und ihrer transregionalen Netzwerke, um ihre wirtschaftliche Position zu verbessern und rechtliche Beschränkungen zu überwinden. Es ist schwierig, alle familiären und wirtschaftlichen Verbindungen Itzig Jacobs zu rekonstruieren, aber diejenigen, die nachverfolgbar sind, waren für seinen Aufstieg vom kleinstädtischen Kaufmann zum Armeelieferanten und schließlich zum Bankier in Warschau entscheidend. Wie schon erwähnt, reisten er und andere Familienmitglieder regelmäßig zu den Messen in Frankfurt (Oder), um dort mit landwirtschaftlichen Produkten und Textilien zu handeln. Außerdem hielt Itzig Jacob engen Kontakt nach Ostpreußen, wo sein Geschäftspartner Baruch Chemiak mindestens seit 1775 in der Stadt Neidenburg (Nidzica) lebte. Zwar wissen wir nicht, wie der Kontakt zwischen den Geschäftspartnern ursprünglich zustande kam, doch waren beide in die Belieferung der preußischen Armee involviert. In einer Eingabe an die preußische Verwaltung von 1791 bemühte sich Chemiak um den Status eines ordentlichen Schutzjuden und betonte, dass er nicht nur unter allen Einwohnern der Stadt Neidenburg, Juden wie Christen, einen ausgezeichneten Ruf genieße, sondern auch die durchziehenden preußischen Truppen wiederholt mit Fleisch versorgt habe, das er aus weiter Ferne habe herbeischaffen müssen32 . Auch Itzig Jacob bezeichnete sich als Fleischer, als er sich um seine Ansiedlung in Allenstein bemühte, und es kann daher angenommen werden, dass auch er so in das Geschäft mit Armeelieferungen eingestiegen war33 . Dabei verkauften jüdische Fleischer die nicht koscheren Teile der geschlachteten Tiere an Christen. Zu Beginn der 1790er Jahre belieferten Itzig Jacob und Baruch Chemiak gemeinsam die Speicher der Zweiten Preußischen Armee in der Umgebung von Neidenburg34 . Auch wenn wir nicht die konkrete Form der Partnerschaft zwischen den beiden Geschäftspartnern kennen und Itzig Jacob bald erfolgreich sein Geschäft als Armeelieferant ausbaute, brachen die Kontakte zwischen ihnen und ihren Familien nicht ab. 1798 heiratete Eva, eine Tochter Baruch Chemiaks, Moses Abraham aus Flatow, einen Neffen 30

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Acta wegen des von dem Juden Isaac Jacob aus Flatow intendirten Etablissements in der Stadt Allenstein, 1780–1782. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7, Ostpreußen und Litauen, II Materien, Nr. 4709, 8–9, 17–22. Seine Petition wurde 1782 endgültig abgelehnt. Zur preußischen Verpflichtung für Juden, schwer verkäufliches inländisches Porzellan aus Berlin zu erwerben, siehe T OBIAS S CHENK: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763–1812), Berlin 2010, 250–496. J EHLE: Relocations (wie Anm. 11), 26 f. Acta betr. die dem Juden Baruch Chemiac zu Neidenburg ertheilte Concession zu seiner Ansetzung daselbst als Extraordinarius. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7 (Ostpreußen und Litauen), II Materien, Nr. 4712, 2–5 v. Acta wegen des von dem Juden Isaac Jacob aus Flatow intendirten Etablissements in der Stadt Allenstein, 1780–1782. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7, Ostpreußen und Litauen, Materien, Nr. 4709, 1. Das Judenwesen in Südpreußen. AGAD Warschau, Departament Prus Południowych I, Nr. 884, 391.

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Itzig Jacobs35 . Auch Itzig Jacob bemühte sich, durch Heirat seine Geschäftsbeziehungen auszubauen und seine rechtliche Situation zu verbessern. Nach seinem Einstieg ins Geschäft mit Armeelieferungen nutzte er seine Kontakte nach Polen, um Tierfutter für die preußische Armee zu beschaffen. Sein wichtigster Kontakt in Polen waren Szmul und Judyta Jakubowicz, die bedeutendsten Armeelieferanten in Warschau zu dieser Zeit. Auch hier lässt sich der Ursprung der Verbindung nicht zurückverfolgen; man kann aber davon ausgehen, dass es sich entweder um Kontakte handelte, die die Familie Itzig Jacobs schon vor der ersten Teilung Polens aufgebaut hatte, oder dass Itzig Jacob durch seine Besuche der Frankfurter Messen Kontakte zu Judyta und ihrer Familie in Frankfurt (Oder) geknüpft hatte36 . In der schon erwähnten Petition Itzig Jacobs für ein Ansiedlungsprivileg in Soldau von 1791 heißt es unter anderem: [. . . ] daß der weise Königl. Pohlnische Hof Jude Schmul zu Warschau, welcher um diese Hauptstadt große adeliche Güter besitzt, mir die förmliche Einwilligung zur Verheirathung mit seiner ältesten Tochter jedoch mit dem Vorbehalt gegeben, daß ich mich, wenn schon nicht in Warschau, so doch in Soldau als Schutz-Jude vorher etabliren möchte. Bei einer ohnlängst mit Pohlnischen Leder gemachten glücklichen Expedition erhielt ich selbst in Warschau dieses Ja-Wort, fürchte aber mit Grunde Gefahr im Verzuge, wenn mein gewünschtes Etablissement und Schuz Privilegium nicht baldigst erfolgen möchte37 . Itzig Jacob argumentierte, dass die geplante Hochzeit erhebliches Vermögen in die preußische Provinz bringen werde und die örtlichen Manufakturen von seinem Handel profitieren würden. Szmul Jakubowicz unterstützte dieses Anliegen mit einem eigenen Schreiben, in dem er ebenfalls das erhebliche Vermögen betonte, das durch die Mitgift seiner Tochter nach Preußen transferiert werde38 . Während Itzig Jacob also die Nützlichkeit seiner Geschäfte und die Zufriedenheit der preußischen Armee mit seinen Lieferungen betonte, benutzte er gleichzeitig seine geschäftlichen und persönlichen Verbindungen, um sein Anliegen voranzutreiben. Allerdings wurden sowohl diese Petition als auch eine spätere um ein Generalprivileg für Südpreußen zurückgewiesen, obwohl für letzteres ein undatierter und nicht unterzeichneter Entwurf in den Akten der südpreußischen Regierung 35 36

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Acta betr. die dem Juden Baruch Chemiac zu Neidenburg ertheilte Concession zu seiner Ansetzung daselbst als Extraordinarius. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7 (Ostpreußen und Litauen), II Materien, Nr. 4712, 92–95. Zu Szmul Jakubowicz siehe E MANUEL R INGELBLUM: Szmul Zbytkower. In: Zion 3, 3–4 (1938), 246–266, ˙ 337–355; A NNA M ICHAŁOWSKA: Szmul Jakubowicz Zbytkower. In: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego 162–163 (1992), 79–90; K AZIMIERZ R EYCHMAN: Szkice genealogiczne, Warschau 1936, 11–18. Judyta stammte aus einer der wichtigsten Frankfurter jüdischen Familien. Ihr Vater Levin Buko (Levin Jacob Elias) war einer der wohlhabendsten jüdischen Kaufleute in Frankfurt (Oder) und fungierte für viele Jahre als Gemeindeältester. Judyta zog Ende der 1770er Jahre nach Warschau, wo sie den um viele Jahre älteren Szmul Jakubowicz heiratete, der zuvor bereits zweimal verheiratet war. Siehe C ORNELIA AUST: Merchants, Army Suppliers, Bankers: Transnational Connections and the Rise of Warsaw’s Jewish Mercantile Elite (1770–1820). In: G LENN DYNNER , F RANÇOIS G UESNET (Hg.): Warsaw. The Jewish Metropolis. Essays in Honor of the 75th Birthday of Professor Antony Polonsky, Leiden 2015, 42–69, hier 55–57. Acta betr. das Gesuch des jüdischen Handlungs-Bedienten Itzig Jacob, um Bewilligung eines SchutzPrivilegii auf die Stadt Soldau, 1791, 1792. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7, II Materien, Nr. 4717, 1 v–2. Letztendlich heiratete Itzig Jacob die zweite und nicht die älteste Tochter von Szmul und Judyta. Zum Zeitpunkt des Briefes war diese allerdings erst 10 Jahre alt. Ebenda, 7–7 v.

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vorliegt39 . Letztendlich war es die Heirat mit Szmul und Judyta Jakubowiczs Tochter Ludwika, die es Itzig Jacob 1796 erlaubte, sich im unterdessen preußisch besetzten Warschau niederzulassen. III.

Mit Armeelieferungen zum wirtschaftlichen Erfolg

Armeelieferungen waren im späten 18. Jahrhundert kein neues Geschäftsfeld für jüdische Kaufleute und Unternehmer. Bereits die Wiederansiedlungen in Teilen West- und Mitteleuropas zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges waren mit den Aktivitäten jüdischer Unternehmer als Armeelieferanten und in der Kriegsfinanzierung, zwei eng miteinander verknüpfte Tätigkeiten, verbunden40 . Ihr Erfolg im Bereich der Armeelieferungen war von einer Reihe von Faktoren abhängig, darunter ihre Erfahrung im Handel mit Gütern wie Textilien, Getreide, Leder, Vieh und Pferden und ihre Kenntnisse von Handelsrouten, Herstellern und Kaufleuten über politische Grenzen hinweg. Eine detaillierte Studie von selbstständigen Armeelieferanten und deren abhängigen Zulieferern am Beispiel der Habsburger Hofjuden Samuel und Emanuel Oppenheimer, Samson Wertheimer und anderer hat gezeigt, dass diese Faktoren eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Belieferung der kaiserlichen Armee in Ungarn in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielten41 . In Mittel- und Osteuropa gewannen Armeelieferungen von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der Napoleonischen Kriege zunehmend an Bedeutung. Der Siebenjährige Krieg (1756–1763), der auf die Schlesischen Kriege der 1740er Jahre folgte, involvierte nicht nur sächsische und preußische Truppen, sondern zog auch russische Truppen westwärts, die besonders unter einem unausgereiften und unzureichenden Liefersystem litten42 . In Polen war die Lage trotz der Reformbemühungen Stanisław August Poniatowskis angespannt. Die Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 führten zu bedeutenden Truppenbewegungen und damit zu einem dauerhaften Bedarf an Lebensmitteln und Tierfutter. Es waren dieser Bedarf an großen Mengen von Armeegütern, die schnell und oft über weite Distanzen an die Peripherien der involvierten Staaten transportiert werden mussten, sowie die Möglichkeit und Bereitschaft der jüdischen Armeelieferanten, diese Güter trotz schwieriger Umstände und finanzieller Risiken bereitzustellen, die Armeelieferanten wie Itzig Jacob zu ihrer Bedeutung verhalfen. Die Versuche der preußischen Regierung, in den früheren polnischen Gebieten Getreide durch lokale und regionale Beamte einhergehend mit einer strikten Regulierung des Getreidehandels zu akquirieren, zeigten oft nur begrenzte Erfolge. Wie in Ungarn ein halbes Jahrhundert zuvor bemühte sich der Staat, die Belieferung der Armee durch ein System von Speichern zu verbessern und zu zentralisieren43 . Dabei wurde die Aufgabe, 39 40 41 42

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Die Gesuche verschiedener Juden um allgemeine Privilegien und Konzessionen auf Südpreußen. AGAD Warschau. Department Prus Południowych I, Nr. 896, 12–14, 17. J ONATHAN I SRAEL: European Jewry in the Age of Mercantilism, 1550–1750, 3. Aufl., London/Portland 1998, 72–87. A NAT P ERI: Pe’ilutam shel safkei tsava yehudim be-mamlekhet hungarit be-mahtsit ha-rishonah shel ha-me’ah ha-18. In: Zion 57,2 (1992), 135–174. Russische Truppen waren während des Siebenjährigen Krieges stark auf jüdische Armeelieferanten angewiesen. J OHN L.H. K EEP: The Russian Army in the Seven Years War. In: E RIC L OHR , M ARSHALL P OE (Hg.): The Military and Society in Russia 1450–1917, Leiden 2002, 24–44, hier 31 f. P ERI: Pe’ilutam shel safkei tsava yehudim (wie Anm. 41), 171.

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die preußischen Lagerhäuser zu füllen, zunehmend an professionelle Armeelieferanten übergeben, auch wenn diese Entwicklung nicht unumstritten war. Besonders der preußische Minister der Provinz Schlesien, Karl Georg Heinrich von Hoym, unterstützte die Vergabe von Lieferverträgen an jüdische Lieferanten44 . Dies mag auf seine enge Verbindung mit einigen jüdischen Unternehmern zurückzuführen sein, aber vor allem wohl auf seine Einsicht, dass diese jüdischen Lieferanten die benötigten Güter über Grenzen hinweg beschaffen konnten und somit am zielführendsten für seine Bemühungen waren, das System der Getreidespeicher in Schlesien in eines der am besten funktionierenden in Preußen zu verwandeln. Andere preußische Beamte widersprachen diesen Maßnahmen allerdings und argumentierten zum Beispiel, dass ein Vertrag Itzig Jacobs und seiner Partner für ganze südpreußische Distrikte unvorteilhaft für den Staat wie auch für die örtliche Bevölkerung sei, die nun durch Geldzahlungen anstelle von Naturalien zur Versorgung der Armee beitragen musste. Das von Hoym eingeführte System setzte auf den Ersatz lokaler Lieferungen durch transregional erworbenes Getreide. Seine Gegner behaupteten jedoch, Itzig Jacob habe in diesem Fall den kompletten Zuschlag erhalten und ihn direkt für viel niedrigere Preise an Unterlieferanten weitergegeben, so dass alle Produkte durch die Hände von drei oder vier Parteien gingen, die alle ihren eigenen Gewinn suchten. Daher, so das Argument, wären die Kosten deutlich höher als bei der Akquirierung des Getreides vor Ort45 . Der Vertrag selbst gibt jedoch zu erkennen, dass ein ausschließlich lokaler Erwerb von Getreide unzureichend gewesen wäre. Der Vertrag, der zwischen Ende Mai und Anfang Juni 1795 ausgehandelt wurde, legte fest, dass Itzig Jacob und seine Partner verpflichtet waren, Naturalienzahlungen von Einwohnern anzunehmen, daneben aber zusätzliches Getreide von außerhalb Südpreußens ankaufen mussten, um die Vertragsbedingungen zu erfüllen46 . Es ist schwierig zu bewerten, wie diese Aufträge vergeben wurden. In manchen Fällen wurden die Lieferungen öffentlich ausgeschrieben und die Verträge durch Versteigerung vergeben47 . Man kann davon ausgehen, dass enge Verbindungen mit Beamten in der jeweiligen Verwaltung bei solchen Versteigerungen von enormem Vorteil waren. Geschäftspartner übernahmen aus logistischen und finanziellen Gründen die Ausführung solcher Verträge oft gemeinsam. Das schloss einerseits Verträge zwischen Geschäftspartnern über politische Grenzen hinweg, andererseits Unterlieferverträge mit örtlichen Lieferanten ein. Basierend auf den bereits bestehenden Geschäftsverbindungen zwischen Szmul Jakubowicz in Warschau und seinem zukünftigen Schwiegersohn Itzig Jacob waren beide auch gemeinsam im Geschäft mit Armeelieferungen aktiv. Direkt nach der dritten Teilung Polens 1793 zog Itzig Jacob nach Łowicz im neu entstandenen Südpreußen, von wo aus er preußische Truppen in der näheren Umgebung belieferte. 1792 hatte er bereits 44 45

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AUGUST S KALWEIT: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Preußens 1756–1806, Berlin 1931, 177–179. Die allgemeine Recherche der südpreußischen Kreise und deren Kassen besonders wegen Mißbräuche beim Fouragelieferungswesen, 1795–1806. AGAD Warschau, Generalne Dyrektorium. Department Prus Południowych I, Nr. 1028, 110–113. Die Angelegenheiten der Entrepreneurs, 1798–1803. AGAD Warschau, Generalne Dyrektorium. Department Prus Południowych IX, Nr. 256, 16, 20. 1801 bat die südpreußische Regierung in der Warschauer Zeitung (Gazeta Warszawska) um Angebote für eine umfangreiche Lieferung an Viehfutter. Gazeta Warszawska, Nr. 54, dodatek, 7.7.1801, 956.

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russische Truppen in Lublin versorgt, auch hier sicherlich mit Unterstützung seines zukünftigen Schwiegervaters Szmul Jakubowicz, der enge Verbindungen nach Lublin unterhielt. Zusammen belieferten sie außerdem während des polnischen Ko´sciuszko-Aufstandes gegen die Teilungsmächte 1794 die russische Armee von Łowicz aus, wohin sich auch Szmul Jakubowicz und seine Familie während des Aufstandes begeben hatten48 . Zu diesem Zeitpunkt war aus dem kleinen lokalen Unterlieferanten Itzig Jacob bereits ein erfolgreicher Lieferant mehrerer Armeen geworden49 . Mit der Zeit hatte er somit aus der expansionistischen Politik Preußens Kapital schlagen können und zog im Zuge der zweiten und dritten Teilung Polens ostwärts. Nach seinem Aufenthalt in Łowicz zog er 1795 nach Posen und setzte sich bei den Verhandlungen über einen umfangreichen Liefervertrag für die preußische Armee in Südpreußen gegen einen jüdischen Lieferanten aus Breslau durch. Die Verhandlungsprotokolle zeigen, dass er der Hauptlieferant war, sich aber die umfangreiche Aufgabe der Lieferungen von Hafer, Roggen, Mehl, Heu und Stroh mit Salomon Neumann aus Łowicz sowie Michael Schweitzer und Itzig Kempner aus dem schlesischen Breslau teilte. Die geographische Verteilung der Geschäftspartner trug dazu bei, dass sie die geforderten Waren außerhalb Südpreußens, in diesem Fall in Galizien, Schlesien und im Gebiet um Sandomirz, erwerben konnten. Für diese Zwecke wurden Armeelieferanten auch regelmäßig Pässe ausgestellt, die es ihnen erlaubten, die regionalen Grenzen mit ihren Gütern zu überqueren50 . Die Verhandlungsprotokolle gewähren jedoch auch Einblick in einen anderen Aspekt jüdischer Armeelieferungen, die scharfe Konkurrenz zwischen einzelnen jüdischen Lieferanten. Solidarität entlang ethnischer Identität beim Aufbau von Handelsnetzwerken schloss Konkurrenz zwischen jüdischen Lieferanten keinesfalls aus. Am 28. Mai 1795 erschienen Itzig Jacob und seine Geschäftspartner in der lokalen Verwaltung Südpreußens in Petrikau, um den neuen Vertrag auszuhandeln, der bis dahin von einem gewissen Nathan Abraham erfüllt worden war. Sie waren nicht die einzigen Bieter. Auch der jüdische 48

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In Sachen des Juden Itzig Jacob aus Lowitz. GStA Berlin, XX. HA, Etats-Ministerium (EM), Tit. 97j, Nr. 37, 1. Resolution für den Itzig Jacob Flatow zu Warschau. GStA Berlin, I. HA, Geheimer Rat, Rep. 11, 171–175, Rußland D, 1796–1797. Verschiedene Quellen bestätigen, dass sich Szmul und Judyta 1794 im russischen Lager in Łowicz aufhielten und dort auch preußische Armeelieferanten anwesend waren. Kommissya Porzadkowa ˛ X. Mazowskiego, 1794. AGAD Warschau, Archiwum Królestwa Polskiego, syg. 241, [mf. 10703], 69, 88. Excerpt z Rapportu Cyrkułu Siodmego Miasta Warszawy. AGAD Warschau, Archiwum Królestwa Polskiego, syg. 257, [mf. 10715], 304. Powtorna Indagacya z Zyda Boruchowicza. AGAD Warschau, Archiwum Królestwa Polskiego, syg. 254, [mf. 10713], 32–33. Relacya od Łowicza 16. Maia 1794. AGAD Warschau, Archiwum Królestwa Polskiego, syg. 323, [mf. 3670], 197. Das Judenwesen in Südpreußen. AGAD Warschau, Generalne Dyrektorium. Departament Prus Południowych I, Nr. 884, 391. Mit seinem langjährigen Geschäftspartner Baruch Chemiak belieferte er 1790/91 weiterhin lokale Speicher in der Nähe von Neidenburg, wo Chemiak lebte. Sie belieferten die Zweite Preußische Armee in Ortelsburg, Schimanen, Willenberg, Neidenburg und Possenheim. Zu den engen Beziehungen zwischen den Orten Flatow, Ortelsburg und anderen benachbarten Städten siehe A NDREAS KOSSERT: Die jüdische Gemeinde Ortelsburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Masuren. In: M ICHAEL B ROCKE , M ARGRET H EITMANN , H ARALD L ORDICK (Hg.): Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Hildesheim 2000, 87–124, hier 89–91, 112–115. Die Angelegenheiten der Entrepreneurs, 1798–1803. AGAD Warschau. Department Prus Południowych IX, Nr. 256, 22, 26. In den frühen 1790er Jahren erhielt eine Gruppe preußischer Armeelieferanten Pässe, die ihnen erlaubten, über einen Zeitraum von zwölf Wochen von Schlesien nach Polen zu reisen, um Pferde zu liefern. W IESŁAW S ZAJA: Sprawy z˙ ydowskie przed komisjami porzadkowymi ˛ cywilno-wojskowymi ´ aska na pograniczu wielkopolski i Sl ˛ w latach 1789–1792. In: Acta Universitatis Wratislaviensis 84 (1991), 171–180, hier 174.

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Armeelieferant Joachim Meyer aus Breslau erschien, um sein Gebot einzureichen. Dabei senkte er die Preise jeweils um einige Groschen per Scheffel oder Zentner. Die königliche Kammer informierte Itzig Jacob über Meyers niedrigeres Gebot und forderte von ihm, dessen Preise seinerseits zu unterbieten. Itzig Jacob und seine Geschäftspartner weigerten sich jedoch, auf dieses Angebot einzugehen, und argumentierten, dass die Getreidepreise bis zur Ernte wahrscheinlich steigen würden und die aktuellen Marktpreise für einige Produkte bereits zum jetzigen Zeitpunkt über ihrem eigenen Angebot lägen. Sie boten daher eine Kaution von 20 000 Talern in bar, die, wie sie behaupteten, Joachim Meyer nicht beibringen könne. Solche Kautionen dienten offenbar dazu, die gute finanzielle Situation eines Lieferanten unter Beweis zu stellen und damit sicherzustellen, dass der Lieferant tatsächlich auch unter schwierigen Umständen die Lieferungen erfüllen würde, um die Kaution nicht zu verlieren. Darüber hinaus behaupteten Itzig Jacob und seine Geschäftspartner, dass die Kammer Meyer [. . . ] wahrscheinlich bey einer so grossen Entrepriese unangenehmer Verlegenheit aussetzen [werde], da er seine gegenwaertige kleine Lieferung gehoerig zu besorgen ausser Stande sey, es bald hier und da fehlen lasse, und seine Unterlieferanten nicht befriedige, wodurch sie dem groessten Elende ausgesezt werden51 . Sie beschworen die Beamten unter Bezug auf Meyers Sublieferanten, nicht für eine geringe Ersparnis das Unglück mehrerer Familien in Kauf zu nehmen. Es ist fraglich, ob die Beamten dieser Art von Argumentation zugänglich waren oder ob Itzig Jacob und seine Geschäftspartner einfach einen besseren Ruf und stärkere Unterstützung einzelner Beamter hatten. Letztendlich erhielten sie den Zuschlag für den Vertrag. Die Diffamierung eines Mitbewerbers – ob zu Recht oder zu Unrecht – erwies sich in diesem Fall als erfolgreich. Jüdische Netzwerke existierten also gleichzeitig mit intensiver Konkurrenz zwischen jüdischen Unternehmern um attraktive Verträge52 . Solche Fälle von Wettbewerb weisen gewisse Parallelen zu einer vergleichbaren Konkurrenzsituation zwischen jüdischen Pächtern adeliger Güter und Monopole in der polnisch-litauischen Adelsrepublik auf. Dort bemühten sich sowohl die jüdischen Gemeinden als auch die überregionalen Selbstverwaltungsorgane wie der Vierländerrat, solche Konkurrenz zu verhindern oder zumindest einzuschränken, indem sie die Rechte der Pächter schützten (dinei hazakah)53 . Es ist fraglich, ob im Fall der Armeelieferanten ähnliche Mittel Anwendung fanden und ob dies angesichts ihrer Mobilität und der eingeschränkten Rechtsmittel jüdischer Gemeinden in Preußen von lokalen jüdischen Gemeinden überhaupt hätte geleistet werden können. Neben der starken Konkurrenz zwischen den meist jüdischen Armeelieferanten, den knapp kalkulierten Preisen und den Schwierigkeiten bei der Belieferung mehrerer Armeen 51

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Die Angelegenheiten der Entrepreneurs, 1798–1803. AGAD Warschau. Department Prus Południowych IX, Nr. 256, 11–12. Die allgemeine Recherche der südpreußischen Kreise und deren Kassen besonders wegen der Mißbräuche beim Fouragelieferungswesen. AGAD Warschau, Generalne Dyrektorium. Department Prus Południowych I, Nr. 1025, 188. Für einen ähnlichen Fall siehe C OLMAR G RÜNHAGEN: Eine südpreußische Kriegslieferung von 1794. In: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 12 (1897), 53–60. T ELLER: Kesef, koah, ve-hashpa’ah (wie Anm. 9), 135–147); ROSMAN: The Lords’ Jews (wie Anm. 9), 141. Zur Rolle der Chassidim bei der Eingrenzung von Konkurrenz zwischen Pächtern siehe C HONE S HMERUK: Hahasidut ve’iskei hahakhirot. In: Zion 35 (1970), 182–192.

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im Kontext sich verändernder politischer Bedingungen und Grenzen erschwerte die Zahlungsmoral der involvierten Staaten das Geschäft zusätzlich. In der zweiten Hälfte der 1790er Jahre bemühte sich Itzig Jacob, größere Summen für die Belieferung preußischer und russischer Truppen von den preußischen Behörden einzutreiben, einschließlich einer größeren Summe an aufgelaufenen Zinsen. Im Fall der russischen Truppen handelte es sich um die Zahlung von 2 000 Dukaten für Tierfutter, das diese zurückgelassen hatten und das von den preußischen Truppen übernommen wurden war54 . In Zeiten sich ständig verändernder Grenzen und Machtkonstellationen waren die Möglichkeit und die Bereitschaft, Grenzen zu überqueren und relativ hohe finanzielle Risiken in Kauf zu nehmen, für den Erfolg als Armeelieferant genauso grundlegend wie die Vertrautheit mit dem Handel landwirtschaftlicher Produkte wie Getreide, Vieh und Holz. Verspätete Zahlungen und die unsichere politische Lage machten Armeelieferungen zu einem hohen wirtschaftlichen Risiko55 . Gleichzeitig waren es aber genau diese politischen Bedingungen, die den Kaufleuten und Armeelieferanten, welche bereit waren, solche Risiken auf sich zu nehmen und erfolgreich durch diese unsicheren Zeiten zu manövrieren, die Möglichkeit boten, zu einer neuen wirtschaftlichen Elite in diesen Gebieten und vor allem in Warschau aufzusteigen. IV. Warschau: Anhaltende Unsicherheit Wir wissen nicht, ob Itzig Jacob von Anfang an ein Auge auf Warschau geworfen hatte, als er mit seinen Armeelieferungen begann und mit Szmul und Judyta Jakubowicz über seine Heiratspläne verhandelte. Die politischen und territorialen Veränderungen der 1790er Jahre beeinflussten jedoch deutlich seine wirtschaftlichen Aktivitäten und Netzwerke. Mit dem Zugewinn weiterer Gebiete für Preußen 1793 und 1795 und der Einnahme der früheren polnischen Hauptstadt Warschau erhöhte sich die Zahl der preußischen Juden noch einmal deutlich. Nach dem polnischen Aufstand unter Tadeusz Ko´sciuszko 1794, der von den russischen Truppen niedergeschlagen wurde, fiel Warschau 1795 an das Russische Reich. In den endgültigen Regelungen zwischen den Teilungsmächten Russland und Preußen ging Warschau 1796 in preußische Hände über. Bis Mitte der 1790er Jahre hatte die preußische Administration weitgehend auf die sich verändernden Bedingungen reagiert, doch nun versuchte man, aktiv einen rechtlichen Rahmen für die jüdische Bevölkerung in den früheren polnischen Territorien durchzusetzen. Das stark einschränkende Generalreglement von 1750 blieb in Westpreußen, dem Netzedistrikt und allen alten preußischen Provinzen bis zum Emanzipationsedikt von 1812 in Kraft56 . Allerdings verstanden die preußischen Behörden angesichts der Schwierigkei54

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Die Angelegenheiten der Entrepreneurs 1798–1803. AGAD Warschau. Department Prus Południowych IX, Nr. 256, 25–27, 34–40. In Sachen des Juden Itzig Jacob aus Lowitz. GStA Berlin, XX. HA, EtatsMinisterium (EM) Tit. 97j, Nr. 37, 1, 3. Einige der ausstehenden Zahlungen waren auch 1803 noch nicht beglichen worden. Das gleiche gilt für Armeelieferanten im Habsburger Reich. P ERI: Pe’ilutam shel safkei tsava yehudim (wie Anm. 41), 171. I SMAR F REUND: Die Emanzipation der Juden in Preussen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preussen, 2 Bde., Berlin 1912; I RENE D IEKMANN (Hg.): Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen: Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“, Berlin/Boston 2013.

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ten, die bei der Anwendung des Reglements von 1750 in den 1772 besetzten Gebieten aufgetreten waren, dass eine Übertragung dieser Regelungen auf die neuen Provinzen Süd- und Neuostpreußen wohl nicht erfolgreich seien würde. Daher erließ die preußische Regierung im April 1797 ein eigenes General-Juden-Reglement für Süd- und Neuostpreußen, das eine Mischung aus Reformen und Beschränkungen darstellte, ohne den jüdischen Bewohnern jedoch politische Rechte zu gewähren57 . Trotz weiterhin bestehender wirtschaftlicher und politischer Einschränkungen erleichterte die neue Gesetzeslage das Leben der jüdischen Bevölkerung zumindest teilweise. Moses Wasserzug zum Beispiel, der zu dieser Zeit noch als Bediensteter der Płocker jüdischen Gemeinde fungierte, konnte diese Position verlassen und außerhalb der Stadt eine Herberge errichten. Dafür erhielt er nicht nur schnell eine Genehmigung, sondern auch ein Darlehen der Königlichen Kammer. Obwohl sein Erfolg und Aufstieg nicht mit dem von Itzig Jacob vergleichbar ist, profitierte er doch von der preußischen Besatzung und stieg vom Gemeindebediensteten zum Herbergsbesitzer auf58 . Sollte das neue Generalreglement einerseits klare Richtlinien für die jüdische Wirtschaftstätigkeit schaffen, griff es andererseits tief in das religiöse und kulturelle Leben der jüdischen Bevölkerung ein, ohne ihr politische Rechte einzuräumen. Die einzige Erleichterung war die wiederholte Abschaffung des Privilegs de non tolerandis Judaeis, auf das viele Städte in den früheren polnischen Gebieten bestanden. Auch für Warschau galt die Abschaffung des Ansiedlungsverbotes, doch die Situation der jüdischen Bevölkerung in der Stadt blieb trotzdem schwierig und unsicher. Nach seiner langen und dennoch recht erfolgreichen Odyssee durch die preußischen Teilungsgebiete ließ sich Itzig Jacob 1796 in Warschau nieder. Die lang geplante Hochzeit mit Ludwika, der mittleren Tochter von Szmul und Judyta Jakubowicz, fand nun endlich statt. Itzig Jacob war jedoch nur einer aus einer ganzen Reihe von jüdischen Kaufleuten, Armeelieferanten und Unternehmern, die in der ehemaligen polnischen Hauptstadt eintrafen. Leib Oesterreicher, seinem Namen nach aus dem Habsburger Reich stammend und mit Familie in Schlesien, heiratete Szmul und Judyta Jakubowiczs älteste Tochter Bona und zog nach Warschau, wo er geschäftlich aktiv war und sich regelmäßig mit seinem Schwiegervater wie auch mit Itzig Jacob zusammentat. Ein anderer enger Geschäftspartner Itzig Jacobs, Moses Aron Fürstenberg, war ebenfalls aus Preußen nach Warschau übergesiedelt. Trotz der wirtschaftlichen Anreize, die die Stadt diesen jüdischen Unternehmern und vielen anderen Juden offenbar bot, blieben die restriktiven Ansiedlungsrechte eine Belastung für die jüdische Bevölkerung. Die Debatte über die Ansiedlung von Juden in der Stadt während des Vierjahressejms (1788–792) löste das Problem nicht. Auch nachdem Preußen die Herrschaft über die Stadt übernommen hatte, wurde die Debatte über jüdische Ansiedlungsrechte fortgesetzt59 . 1799 führte Preußen die sogenannten Tageszettel ein, die 57

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Abgedruckt in: L UDWIG VON RÖNNE , H EINRICH S IMON: Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußischen Staates. Eine Darstellung und Revision der gesetzlichen Bestimmungen über ihre Staats- und privatrechtlichen Zustände, Breslau 1843, 292–302. J ERSCH -W ENZEL: Die Memoiren des Moses Wasserzug (wie Anm. 3), 48, 55–57, 60. Siehe auch H EYDE: Zwischen Polen und Preußen (wie Anm. 12), 331. Für eine ausführliche Beschreibung der Debatten während des Vierjahressejms siehe A RTUR E ISENBACH: The Jewish Population in Warsaw at the Turn of the Eighteenth Century. In: Polin 3 (1988), 46–77, hier 49–57; D ERS .: Materiały do dziejów sejmu czteroletniego, Bd. 6, Wrocław 1969.

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es Juden, die vor 1796 nach Warschau gekommen waren, erlaubten, weiterhin in der Stadt zu wohnen. Juden, die nach 1796 angekommen waren, mussten für dieselbe Erlaubnis eine hohe Steuer zahlen, während alle Juden, die ab 1799 in der Stadt ankamen, einen gewissen Tagessatz zahlen mussten, um zumindest zeitweise in der Stadt bleiben zu dürfen60 . Itzig Jacob und Leib Oesterreicher hatten das Glück, dass es ihren Schwiegereltern 1798 gelungen war, ein Generalprivileg von der preußischen Regierung zu erhalten, unter das auch die Töchter und Schwiegersöhne fielen61 . Nichtsdestotrotz war Itzig Jacobs Rechtssicherheit an seine Frau gebunden; ihr Tod hätte ihn in die niedrigste Kategorie des tolerierten Juden zurückfallen lassen. In einem Briefwechsel mit der preußischen Verwaltung argumentierte er nicht nur mit seiner starken wirtschaftlichen Position, sondern auch mit seiner Stellung als Repräsentant der jüdischen Gemeinde in Warschau. Die Verwaltung hielt dem jedoch entgegen, dass sein Wunsch nach einem eigenen Privileg nicht erfüllt werden könne, da er zwar einige Fürsprecher unter den Bürgern Warschaus habe, diese jedoch nicht die Meinung aller christlichen Einwohner widerspiegelten62 . Trotz der rechtlichen Beschränkungen hatte eine größere Zahl vermögender jüdischer Unternehmer, aber auch weniger wohlhabender Juden die Gelegenheit genutzt, sich im Laufe des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts in Warschau niederzulassen63 . 1801 mietete Itzig Jacob zusammen mit seinem Geschäftspartner Moses Aron Fürstenberg das sogenannte Krakau-Palais in der Senatorska-Straße auf zehn Jahre64 . 1806 beschloss der Magistrat jedoch, dass Juden die inneren Straßen der Stadt innerhalb von zwei Jahren verlassen müssten65 . Itzig Jacob und Moses Aron Fürstenberg führten in ihrer schriftlichen Beschwerde beim Magistrat drei Punkte an, um ihre Vertreibung aus dem Krakau-Palais, nördlich des Sächsischen Gartens (Ogród Saski), eines zentralen Platzes nahe dem Theater gelegen, zu verhindern. Sie argumentierten, dass sie erstens eine erhebliche Summe für die Renovierung des Gebäudes aufgewendet hätten. Zweitens merkten sie an, dass laut Vertrag Juden gar nicht erlaubt war, in dem Gebäude zu leben, und dass sie ausschließlich Lagerräume für den Handel vermieteten. Ihr dritter Punkt ist jedoch am aufschlussreichsten. 60 61

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E ISENBACH: The Jewish Population in Warsaw (wie Anm. 59), 58. Szmul Jakubowicz hatte 1771 ein ähnliches Privileg für Schlesien erhalten. Obwohl ein solches Privileg normalerweise nicht erneuert werden musste, lag die Situation hier etwas anders, da Szmul Jakubowicz nie die Bedingung für das Privileg, nämlich sich in Schlesien anzusiedeln, erfüllt hatte. Der polnische Jude Jacobowicz wird Königl. Commissarius, 1771–1772. GStA Berlin, I. HA, Rep. 46B, Nr. 203a (Pk.1). Beide Privilegien und ein weiteres von 1787 blieben im Besitz der Familie und werden von Krzysztof Teodor Toeplitz in Warschau aufbewahrt, der mir freundlicherweise Einsicht gewährte. Alle drei Privilegien sind abgebildet in: K RZYSZTOF T EODOR T OEPLITZ: Rodzina Toeplitzów. Ksia˙ ˛zka mojego ojca, Warschau 2004, 32, 38, 42. Die Gesuche verschiedener Juden um allgemeine Privilegien und Konzessionen auf Südpreußen. AGAD Warschau, Department Prus Południowych I, Nr. 869, 133–138, 147–152, 157–174, 192–197. ˙ Konskrypcia Zydów 1778. AGAD Warschau, Archiwum Publiczne Potockich, syg. 93, [mf. 17867]. Siehe H ANNA W EGRZYNEK ˛ : Illegal Immigrants: The Jews of Warsaw, 1527–1792. In: DYNNER , G UESNET (Hg.): Warsaw (wie Anm. 36), 19–41, hier 27–40; P ETER M. M ARTYN: The Undefined Town Within a Town. A History of Jewish Settlement in the Western Districts of Warsaw. In: Polin 3 (1988), 17–45, hier 27 f., 31 f. I GNACY S CHIPER: Dzieje handlu z˙ ydowskiego na ziemiach polskich, Warschau 1937 [Nachdruck Krakau 1990], 369. S TEFAN K IENIEWICZ: The Jews of Warsaw, Polish Society and the Partitioning Powers 1795–1861. In: Polin 3 (1988), 102–121, hier 106. Siehe auch E LEONORA B ERGMAN: Nie masz bó˙znicy powszechnej: Synagogi i domy modlitwy w Warszawie od ko´nca XVIII do poczatku ˛ XXI wieku, Warschau 2007, Karte II.

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Die beiden erfolgreichen Kaufleute vermuteten, dass die Maßnahmen getroffen worden seien, um arme Juden aufgrund ihrer „Unreinlichkeit“ aus der Stadt zu vertreiben, und diese Maßnahmen daher auf sie selbst gar nicht zutreffen sollten66 . Itzig Jacobs und Fürstenbergs Argumentation spiegelt damit ein klares Zugehörigkeitsgefühl zu einer wirtschaftlichen (jüdischen) Elite wider, auch wenn dieses nur teilweise Ausdruck in ihrem rechtlichen Status fand. V.

Warschau: Der Einstieg ins Bankgeschäft

Eine weitere wirtschaftliche Entwicklung, die Anfang der 1790er Jahre einsetzte, machte aus Itzig Jacob letztendlich den bekannten Bankier Izaak Flatau. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die wichtigsten Bankhäuser in Warschau von christlichen Bankiers, weitestgehend mit deutsch-protestantischem Hintergrund, geführt, auch wenn einige wenige polnische Adelige oder ausländische Juden wie Simon Symons aus Amsterdam ebenfalls im Bankgeschäft aktiv waren67 . Das Jahr 1793 wurde jedoch zum Wendepunkt in der Warschauer Bankengeschichte. Überall in Europa zeichnete sich eine Schwächung protestantischer Bankennetzwerke ab, doch in Warschau wurde die Situation durch den Bankrott aller wichtigen Banken weiter befeuert. Der Zusammenbruch resultierte aus der Kombination eines allgemeinen Abschwungs der europäischen Wirtschaft, der auch zum Bankrott einiger holländischer und englischer Banken führte, und den politischen Unruhen in Polen68 . Als sich 1793 in Warschau Gerüchte verbreiteten, das Bankhaus Tepper sei durch unbezahlte Anleihen der polnischen Regierung in finanzielle Schwierigkeiten geraten, begannen die Gläubiger der Bank ihr Kapital abzuziehen. Der daraufhin erfolgte Bankrott wirkte wie ein Schock auf die anderen Warschauer Banken, die ebenfalls bankrott gingen69 . Dieser Untergang der alten Bankenelite erleichterte einer neuen Gruppe von Unternehmern den Einstieg ins Bankgeschäft. Ähnlich wie Armeelieferanten in Elsass-Lothringen brachte sie ihre herausragende Stellung als Armeelieferanten in eine gute Ausgangsposition, um von den Bankrotten der Bankhäuser des 18. Jahrhunderts zu profitieren, da das Feld für neue Unternehmer weit geöffnet war. Zwar bereiteten die politischen Unruhen nach 1793, die zweite und dritte Teilung Polens, der Ko´sciuszko-Aufstand und die Übernahme Warschaus durch Preußen den jüdischen Unternehmern logistische und finanzielle Schwierigkeiten, und führten zu Vermögensverlusten. Doch gleichzeitig schufen diese politisch instabilen Umstände auch neue Möglichkeiten für jüdische Unternehmer, die bereit waren, die damit verbundenen Risiken auf sich zu nehmen.

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Die Umquartierung der Juden von den inneren in die äußeren Straßen Warschaus 1806. AGAD Warschau, Generalne Dyrektorium. Department Prus Południowych VI, Nr. 3399. Zu Simon Symons siehe C ORNELIA AUST: Between Amsterdam and Warsaw. Commercial Networks of the Ashkenazic Mercantile Elite in Central Europe. In: Jewish History 27,1 (2013) 41–71, hier 46 f., 61. Zur Kategorie des Bankrotts siehe M ARK S TEELE: Bankruptcy and Insolvency: Bank Failure and Its Control in Preindustrial Europe. In: Banchi pubblici, banchi privati e monti di pietà nell’Europa preindustriale: Amministrazione, techniche operative e ruoli economici, Atti della Società Liure di Storia Patria, 31,15 (1991), Bd. 1, 181–204. BARBARA G ROCHULSKA: Échos de la faillite des banques de Varsovie. In: Annales Historiques de la Révolution Française 53,4 (1981), 529–540.

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Unter den ersten, die diese Möglichkeiten und den großen Bedarf polnischer Adeliger an Krediten nutzten, war Itzig Jacob. Dieser Geschäftszweig wurde zudem von der preußischen Verwaltung befördert, die direkt nach der zweiten Teilung Polens 1793 ein neues Hypothekensystem einführte, das es polnischen Adeligen erlaubte, ihre Güter systematisch zu beleihen70 . Archivdokumente belegen Itzig Jacobs Aktivitäten als Bankier seit 1803, wobei man davon ausgehen kann, dass er bereits vor der Jahrhundertwende ins Bankgeschäft eingestiegen war71 . Zwei Jahre später, 1805, beschloss der adelige Gutsbesitzer Damasius von Krajewski, als er Barmittel brauchte, um seinen Bruder auszuzahlen, zu dem Schutz-Juden, dem bekannten hiesigen Negotianten Nahmens Itzig Jacob Flatau hirher nach Warschau72 zu reisen. Innerhalb weniger Jahre hatte Itzig Jacob bereits einen Ruf als wichtiger Warschauer Bankier erworben. Trotz dieses erfolgreichen Einstiegs ins Bankgeschäft setzte Itzig Jacob bis zu seinem Tod 1806 weiter auf eine ganze Reihe von Einkommensquellen, einschließlich der Fortführung seiner Aktivitäten als Armeelieferant. Er besaß außerdem Schänken bzw. Herbergen und pachtete damit wahrscheinlich auch ein Monopol für die Produktion und den Verkauf von Alkohol, während sein Besitz einer Ziegeleimanufaktur auf einen Versuch schließen lässt, ins Manufakturwesen einzusteigen73 . Seine Geschäfte beschränkten sich also 1806 nicht auf die Führung eines klassischen Bankhauses des 19. Jahrhunderts. Auch andere jüdische Unternehmer wie Moses Aron Fürstenberg und Leib Oesterreicher handelten um die Jahrhundertwende mit Obligationen und vergaben Kredite, ohne dass sie schon ausschließlich im Bankgeschäft tätig waren74 . Vor allem Armeelieferungen blieben weiterhin eine zentrale Einkommensquelle. Während der preußischen Besatzung Warschaus war die Obrigkeit gezwungen, Getreide, vor allem aus Galizien, zu importieren. Itzig Jacob belieferte 1801 die Warschauer Speicher mit Roggen aus Galizien, während der Schwager seiner Frau, Leib Oesterreicher, 1803 einen Vertrag über Getreidelieferungen nach Warschau erhielt, als die Obrigkeit einen Getreidemangel in der Stadt fürchtete. Auch er bezog sein Getreide aus dem Habsburger Reich75 .

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A DELHEID S IMSCH: Die Wirtschaftspolitik des preußischen Staates in der Provinz Südpreußen 1793– 1806/07, Berlin 1983, 208; A LBERT A. B RUER: Geschichte der Juden in Preußen (1750–1820), Frankfurt a. M./New York 1991, 161. Prozess des Starosten Joseph von Niemojewski gegen den Landesältesten Jacob Lewin in Marienwerder wegen der letzterem übertragenen drei Obligationen in Höhe von 62 000 Rtlr. des Bankiers Itzig Jacob Flatau. GStA Berlin, I. HA, Rep. 7C, Nr. 6 N 10, Fasz. 16. Beschwerde des Gutsbesitzers Damasius von Krajewski in seinem Prozess gegen den Juden Itzig Jacob Flatau wegen einer Obligation, 1805. GStA Berlin, I. HA, Rep. 7C, Nr. 34g, Fasz. 367. Zum Begriff Negotiant siehe J OHANN G EORG K RÜNITZ: Oekonomische Encyclopaedie oder Allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- u. Landwirthschaft, Bd. 36, Berlin 1786, 496 f. Kancelaria Andrzeja Kalinowskiego. Archiwum Pa´nstwowe Warschau (im Weiteren: AP Warschau), syg. 23 [mf. S-980], 17, 23, 29, 41. Kancelaria Teodora Czempi´nskiego. AP Warschau, syg. 8, Nr. 874. Kancelaria Prze˙zdzieckiego. AP Warschau, syg. 7, Nr. 19, 23, 26. Kancelaria Aleksandra Engelke. AP Warschau, syg. 2, Nr. 165, syg. 10, Nr. 1362. Acta wegen eines in Warschau befürchteten Getreide Mangels und der deshalb getroffenen Anstalten, 1801. AGAD Warschau, Generalne Dyrektorium. Department Prus Południowych VI, Nr. 3361. Erwirkung eines Freipasses für Roggen für Itzig Jacob Flatow in Warschau zur Belieferung des dortigen Getreidemagazins, 1803. GStA Berlin, I. HA, Rep. 11, Nr. 279, Fasz. 361. 1803 wandten sich Itzig Jacob und Joseph Rosenthal mit einer Beschwerde an die örtliche Verwaltung in Białystok, da zwei örtliche Adelige bereits bezahlte Waren – Roggen, Weizen, Pottasche und Gefäße für den Transport per Boot – über mehrere Monate nicht

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Die weitreichenden wirtschaftlichen Unternehmungen der jüdischen Immigranten nach Warschau garantierten ihnen in politisch schwierigen Zeiten ihr wirtschaftliches Überleben. Die Risiken des Armeelieferungsgeschäfts wurden mit traditionellen Aktivitäten im Handel abgefedert, während die sich oft lang hinziehenden Bezahlungen der Truppenlieferungen bereits die Bereitstellung von Kredit erforderten und damit den Einstieg ins Bankgeschäft erleichterten. Letztendlich waren es die Bereitschaft, ein erhöhtes Risiko auf sich zu nehmen, um die eigene wirtschaftliche, aber auch rechtliche Lage zu verbessern, und die transregionalen Verbindungen über die sich verändernden politischen Grenzen hinweg, die zum wirtschaftlichen Erfolg einer kleinen Gruppe jüdischer Unternehmer führten. Auch wenn sicherlich viele Kaufleute und Armeelieferanten solche Strategien nutzten, waren nur wenige so erfolgreich wie Itzig Jacob. VI.

Eine „deutsche“ Synagoge in Warschau

Wie wir zu Beginn gesehen haben, wurde Itzig Jacob vor allem durch die Eröffnung einer Synagoge in der Daniłowiczowska-Straße bekannt. Nussbaum beschreibt ihn in diesem Zusammenhang als einen religiösen Reformer nach deutschem Vorbild – eine Vorstellung, die auch in der polnischen Historiographie starken Niederschlag gefunden hat, in der preußisch-jüdische Immigranten häufig das Vorantreiben einer wie auch immer gearteten Germanisierung zugeschrieben wird76 . Man sollte dabei im Blick behalten, dass Itzig Jacob sehr wohl aus einer ursprünglich polnisch-jüdischen Familie stammte und dessen Heimatstadt Flatow erst unter preußische Besatzung fiel, als er ein kleiner Junge war. Er mag sich in Auftreten und Kleidung – seinem „europäischen Aufzug“ – als eine wohlhabende Persönlichkeit in der Warschauer Geschäftswelt von seinen traditionelleren polnischen Glaubensgenossen unterschieden haben77 . Das entsprechende Haus in der Daniłowiczowska-Straße kaufte er 1800; allerdings wissen wir nicht genau, wann er dort eine Synagoge eröffnete78 . Das Gebäude war außerhalb der Stadtmauern und nahe am Theaterplatz gelegen. Die Synagoge selbst, die man vielleicht eher als ein privates Bethaus bezeichnen sollte, führte jedoch zu dieser Zeit keine signifikanten Reformen ein, die denen der frühen Reformbewegung in Deutschland ähnelten. Die erste deutsche Predigt wurde dort erst 1838 gehalten, mehr als 30 Jahre nach Itzig Jacobs Tod79 . Vielmehr sollte man wohl die Motivation für die Eröffnung eines privaten Bethauses in einer Tradition verorten, die der polnisch-jüdischen Gesellschaft vor dem Hintergrund der in der polnischlitauischen Adelsrepublik gewährten religiösen Freiheiten nicht fremd war. Auch in Itzig

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geliefert hätten. Vorstellung Itzig Jacob Flatau und Joseph Rosenthal and die Regierung in Bialystok, 1803. GStA Berlin, I. HA, Geheimer Rat, Rep. 7A Neuostpreußen, Nr. 1894. J ÜRGEN H ENSEL: Wie „deutsch“ war die „fortschrittliche“ jüdische Bourgeoisie im Königreich Polen? In: H ANS H ECKER , WALTER E NGEL (Hg.): Symbiose und Traditionsbruch. Deutsch-jüdische Wechselbeziehungen in Ostmittel- und Südosteuropa (19. und 20. Jahrhundert), Essen 2003, 135–172, hier 142. Ebenda, 138–141. Zur Rolle von Kleidung in der Akkulturation polnischer Juden im Warschau der zweiten ˙ ´ Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe: AGNIESZKA JAGODZI NSKA : Pomi˛edzy. Akulturacja Zydów Warszawy w drugiej połowie XIX wieku, Wrocław 2008, 80–139. B ERGMAN: Nie masz bó˙znicy powszechnej (wie Anm. 65), 200. E LEONORA B ERGMAN: Synagoga na Daniłowiczowskiej 1800–1878 – próba rekonstrukcji. In: J OLANTA ˙ Z˙ YNDUL (Hg.): Rozdział wspólnej historii. Studia z dziejów Zydów w Polsce ofiarowane profesorowi Jerzemu Tomaszewskiemu w siedemdziesiat ˛ a˛ rocznic˛e urodzin, Warschau 2001, 113–128, hier 114 f.

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Jacobs Heimat in Westpreußen waren solche Bethäuser verbreitet, nur dass sie unter preußischer Herrschaft genehmigt werden mussten. Itzig Jacobs Bruder Moses Jacob erbat 1796 die Erlaubnis, ein Bethaus in Gumbinnen eröffnen zu dürfen, während Itzig Jacobs Geschäftspartner Baruch Chemiak 1792 ein Bethaus und ein rituelles Bad (mikveh) in Neidenburg errichtete80 . Das lässt zumindest vermuten, dass Itzig Jacob nicht in erster Linie seine „Verachtung“ für seine polnischen Glaubensgenossen ausdrücken wollte, sondern dass die Errichtung eines privaten Bethauses für die eigene Familie und nahe Bekannte einer eigenen Tradition folgte. Es mag auch auf seine Versuche hinweisen, seine Position innerhalb der lokalen jüdischen Gemeinde zu stärken. VII. Schlussfolgerungen Der Aufstieg Itzig Jacobs von einem kleinstädtischen Kaufmann und Armeelieferanten in der preußischen Provinz zu einem bekannten Bankier und Unternehmer in Warschau war zweifellos kein einfacher Weg. Die rechtlichen Restriktionen, denen Juden unterworfen waren, zwangen ihn und andere jüdische Kaufleute, spezifische Strategien zu entwickeln, um mit diesen Einschränkungen umzugehen und gleichzeitig ihr wirtschaftliches Vorankommen zu sichern. Besonders ihre Mobilität sowie die Schaffung und Erhaltung transregionaler Netzwerke trugen dazu bei, rechtliche Beschränkungen zu überwinden. Gleichzeitig war es für jüdische Kaufleute entscheidend, sich ihrer Möglichkeiten bewusst zu sein, indem sie mit ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit argumentierten. Das Grenzland zwischen Preußen und Polen mit seinen sich immer wieder verändernden Grenzen und Herrschern brachte dabei besondere Herausforderungen mit sich, aber auch neue Chancen für zumindest einen kleinen Teil der jüdischen Bevölkerung. Die Grenzregion war nicht von starren Grenzen, sondern von kultureller und sprachlicher Fluidität geprägt. Gleichzeitig war die Anwendung preußischer Gesetze im neu eroberten Grenzland oft inkonsequent, wenn örtliche Beamte versuchten, diese mit den Bedingungen vor Ort, die sich grundlegend von denen in den alten preußischen Provinzen unterschieden, in Einklang zu bringen. Die Übernahme riskanter Geschäfte stellte damit eine spezifische Strategie dar, mit der jüdische Kaufleute und Unternehmer versuchten, ihre Mittel und Dienste als eine Art Versicherungspolice zu verwenden, um ihren rechtlichen Status zu sichern oder zu verbessern. Gleichzeitig erhöhte die Kooperation mit örtlichen Kaufleuten und in transregionalen Netzwerken den Grad an Mobilität. Die Kombination von Petitionen, die die eigene wirtschaftliche Nützlichkeit betonten, wirtschaftlicher Flexibilität, eng verwobenen Netzwerken von Geschäfts- und Familienverbindungen und der Bereitschaft, höhere finanzielle Risiken in Kauf zu nehmen, führten zum Erfolg von Itzig Jacob und einer kleinen Gruppe jüdischer Unternehmer, die sich um die Jahrhundertwende in Warschau niederließen. So wurde aus Itzig Jacob aus Flatow der wohlhabende Bankier Izaak Flatau in Warschau.

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Acta wegen der von dem Schutz Juden Moses Jacob in Gumbinnen nachgesuchten Erlaubniß zur Erbauung eines Beth-Hauses, 1796–1799. GStA Berlin, II. HA, General Directorium, Abt. 7, Ostpreußen und Litauen, II Materien, Nr. 4767), 1–2, 10, 51. Acta betr. die dem Juden Baruch Chemiac zu Neidenburg ertheilte Concession zu seiner Ansetzung daselbst als Extraordinarius. GStA Berlin, II. HA, Abt. 7 (Ostpreußen und Litauen), II Materien, Nr. 4712, 41.

REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN

Epochenübergreifend

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1. Epochenübergreifend N ORBERT F ISCHER , O RTWIN P ELC (H G .): Flüsse in Norddeutschland. Zu ihrer Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart (= Schriften des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 41; Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 50), Neumünster: Wachholtz Verlag 2013, 528 S., (ISBN 978-3-529-03250-9), 32,00 EUR. Der Sammelband vereint im Wesentlichen die zu Aufsätzen verschriftlichten Referate einer Tagung, die vom 19. bis 20. Februar 2011 zum Thema „Leben am Wasser. Flüsse in Norddeutschland“ im Museum für Hamburgische Geschichte in Hamburg stattfand. Die Tagung wurde vom Arbeitskreis für Wirtschafts- und Sozialgeschichte SchleswigHolsteins, dem Hamburger Arbeitskreis für Regionalgeschichte sowie dem Museum für Hamburgische Geschichte unter Federführung von Norbert Fischer und Ortwin Pelc veranstaltet. Beide fungieren nun als Herausgeber des erfreulich gründlich redigierten, übersichtlich und ansprechend gestalteten und mit zahlreichen farbigen bzw. schwarzweißen Karten, Tabellen sowie Illustrationen versehenen Tagungsbandes. Den Auftakt der Beiträge bildet eine knappe Einführung der Herausgeber zum Thema Flussgeschichte, worin sie die Berechtigung der Beschäftigung mit Flüssen wegen ihrer raumbildenden Rolle, ihrer multifunktionalen Bedeutung in Geschichte und Gegenwart, ihrer symbolischen Aufladung, ihrer Ambivalenz zwischen Segen und Fluch usw. und ihre besondere Eignung für eine interdisziplinäre Annäherung unterstreichen und das kulturhistorische Konzept von Flussbiographien in Fortführung grundlegender Gedanken Lucien Febvres sowie Claudio Magris’ als Ansatzpunkt für eine weitergehende moderne Flussforschung vorstellen (9–16). Diese einleitenden Ausführungen machen in der Tat Appetit auf eine solche, wie sie sodann in der beeindruckenden Fülle von 21 exemplarischen Beiträgen vor Augen geführt wird. Ortwin Pelcs Beitrag zu Trave und Warnow in der Siedlungsgeschichte des südlichen Ostseeküstenraums vom 8. bis zum 18. Jahrhundert macht den Anfang (17–54). Wolf Karge stellt im Anschluss die Sude als Wasserverbindung zwischen Lüneburg und Wismar bzw. Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen in den Mittelpunkt seiner Betrachtung (55–66), wohingegen Wolfgang Muth die Verschmutzung der Trave durch das Hochofenwerk Lübeck behandelt (67–87). Das technische, ökonomische sowie politische Ringen um eine im 19. und frühen 20. Jahrhundert zwischen Kieler Förde und Elbe geplante Kanalverbindung stellt darauf Detlev Kraack vor (89–120), wonach Daniel Frahm den Eiderkanal und seine wirtschaftliche Bedeutung für die Region (121–145) und Hans-Georg Bluhm die Stör flussbiographisch (147–166) untersuchen. Die Krückau als Problemfluss oder Lebensader der Industriestadt Elmshorn nimmt anschließend Peter Danker-Carstensen in den Blick (167–211). Flüsse als soziale Grenzen spiegelt das Heiratsverhalten der Bauern aus der Kremper Marsch wider, wie als nächster Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt zeigt (213–224). Nochmals mit Kanälen – diesmal dem Alster-Trave-Kanal und weiteren Wasserstraßenprojekten im 16. Jahrhundert – befasst sich in der Folge Niels Petersen (225–244), worauf Olaf Matthes die Bille als Grenzfluss und Wirtschaftsweg vorstellt (245–259). Mit „Hamburg, Elwe und Ewer“ ist der folgende Aufsatz von Hansjörg Küster zur Versorgung der Großstadt Hamburg auf Wasserwegen überschrieben (261–269). Günther Bock stellt daraufhin die Frage, ob die Unterelbe im Hochmittelalter Grenzzone oder Kontaktraum war (271–303),

Rezension im Jahrbuch für Regionalgeschichte 34 (2016)

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Rezensionen und Annotationen

und in ähnlicher Richtung, allerdings mit anderem zeitlichen Schwerpunkt, geht Horst Hoffmann der Geschichte der Ilmenau als Grenze und Verbindungsweg nach (305–318). Historische und archäologische Aspekte zur Schwinge als Fluss im Elbe-Weser-Raum und der damit in Verbindung stehenden sog. Schwedenschanze tragen Christina Deggim und Andreas Schäfer bei (319–360). Über den Umgang mit dem Wasser an der Oste als Fluss-Gesellschaft schreibt im Anschluss Norbert Fischer (361–377), wonach Michael Ehrhardt auf Deiche und Siele am rechten Ufer der Unterweser zwischen Drepte und Lune (379–405) und Hartmut Bickelmann auf Geeste und Lune als zwei Flüssen im Einzugsbereich Bremerhavens (407–440) eingehen. Die Struktur von Landeplätzen und Ufermärkten des ersten Jahrtausends an Weser und Ems stellt dann Annette Siegmüller vor (441–459); Antje Sander behandelt die Maade als Fluss, Bucht und Siel (461–470). Die Entwicklung der Ems und des Dortmund-Ems-Kanals vom Fluss an der Peripherie zur europäischen Wasserstraße beschreibt Claus Veltmann (471–486), bevor schließlich Sylvina Zander norddeutsche Flüsse im Winter behandelt (487–502). Ein Dank (503), ein Abkürzungsverzeichnis (505 f.) und ein wegen der vielen vorkommenden Namen und Orte mehr als notwendiges, in sich stimmiges Personen- und geographisches Register (507–526), zum guten Ende noch ein Verzeichnis aller Autoren und Autorinnen (!) (527 f.) beschließen den durchweg gelungenen und lesenswerten Band. Er bietet auf dem Wege von Flussbiographien eine löblich differenzierte, thematisch vielfältige, epochal übergreifende, regional nahezu umfassende Annäherung an das Thema. Die Fülle der Aufsätze mit ganz unterschiedlichen Fragen und Erkenntnissen, die aus den beteiligten Autorinnen und Autoren geradezu zu sprudeln scheinen, zeigt, dass die Organisatoren der Tagung und Herausgeber des Bandes mit der Wahl des Themas „Flussgeschichte“ goldrichtig lagen. Flüsse werden in ihrer historischen Relevanz und ihrer mehr als ambivalenten Erfahrbarkeit sichtbar, wobei man ehrlicher Weise sagen muss, dass ein Großteil der Beiträge natürlich ebenso vom Land um die Flüsse handelt und von den Menschen, die dort leb(t)en. Das Land kann einfach gar nicht losgelöst von den Flüssen, die sie durchfließen oder umgrenzen und verbinden, gedacht und betrachtet werden. Einziger Wermutstropfen: Bei so vielen behandelten Flüssen mit ganz unterschiedlichen thematischen und epochalen Herangehensweisen – die für sich genommen wohlgemerkt allesamt legitim sind! – wäre es mehr als notwendig gewesen, das Gesamtspektrum des Tagungsbandes in einer Synthese zusammenzuführen, um die sonst zuweilen doch sehr disparaten Enden der Beiträge zu einem sinnvollen Ganzen zu verflechten und der nachfolgenden Forschung als appetitgerechten Denkanstoß zu servieren. Gleichwohl fungiert der Band auch so schon als eindrucksvolles und in jedem Fall zur Lektüre zu empfehlendes Plädoyer für eine weitergehende Betrachtung von Flussbiographien im Rahmen moderner Regionalgeschichtsforschung. Oliver Auge

Kiel

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P ETER FASSL , W ILHELM L IEBHART, W OLFGANG W ÜST (H G .): Groß im Kleinen – Klein im Großen. Beiträge zur Mikro- und Landesgeschichte. Gedenkschrift für Pankraz Fried (= Irseer Schriften. Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätengeschichte 10), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2014, 471 S., (ISBN 978-3-86764-365-8), 49,00 EUR. Der aus einer Fest- zu einer Gedenkschrift zu Ehren des unmittelbar nach seinem 80. Geburtstag verstorbenen schwäbischen Landeshistorikers Pankraz Fried mutierte Sammelband beschäftigt sich mit einem zentralen Thema der Landesgeschichte: Inwieweit spiegelt die Mikro- bzw. Lokalgeschichte die ‚große Geschichte‘? Ist Erstere nur ein Reflex auf globalere, politisch und gesellschaftlich konnotierte Wandlungsprozesse oder besitzt die Untersuchung des Kleinen eine Eigenmächtigkeit? Umgekehrt gefragt: Sind die sogenannten großen Strukturen überhaupt so wirkmächtig in den unterschiedlichen Regionen, wie gerne behauptet wird? Richtigerweise wird man beide Untersuchungsebenen miteinander in Beziehung setzen müssen, um sie in ihrem Eigenwert wie auch in ihrer Begrenztheit einigermaßen richtig beurteilen zu können. Die zahlreichen Beispiele in den Einzelbeiträgen zeigen aber auch die Schwierigkeiten, das ‚Kleine‘ überhaupt zu definieren: In der Autobiographie des Fabrikarbeiters, zeitweisen Kapuziners, Gelegenheitsdichters und Laternenanzünders Jakob Gruber (gest. 1954) ist der Leser beeindruckt von den Bemühungen eines ‚kleinen‘ Mannes, in seine prekären Lebensumstände durch Fakten und Fiktionen eine Ordnung hineinzubringen (großartig geschrieben von Karl Borromäus Murr und Benjamin Widholm). Bei einem Repräsentanten des süddeutschen Wirtschaftsbürgertums, Wilhelm von Finck (gest. 1924), ist das ‚Kleine‘ eher im regionalen Handlungsraum anzusiedeln, der aber im Bereich des Versicherungsgewerbes (‚Allianz‘) großzügig durchbrochen wird (Marita Krauss). Die Nürnberger Arbeitersiedlungen (Andrea Groß) spiegeln in ihrer Bauanlage und Baukunst als Mittel zur Volkserziehung zugleich die Angst des Bürgertums vor einem Aufstand der Arbeiter, die frühneuzeitlichen Residenzstädte dagegen demonstrieren in herrschaftlich ‚kleinen‘ Territorien das Bemühen der reichsunmittelbaren Herren um Herrschaftsmanifestation durch Bauten in einer gleichartigen und regelmäßigen Struktur (Markus Weis). Staatliche Selbstdarstellungen finden sich ebenso in den Amtsund Staatskalendern des 18. Jahrhunderts (Regina Hindelang). Die zunehmende Anzahl staatlicher Nachrichten verbindet sich in den Intelligenzblättern mit privaten Anzeigen, sodass damit die Entstehung eines öffentlichen Marktes begünstigt wurde (Tobias Riedl): Staatliche Durchdringung des Raumes sowie die Entstehung größerer Öffentlichkeiten werden hier im regionalen ‚Kleinen‘ sichtbar. ‚Klein‘ verstanden als gesellschaftliche Gruppe und deren Interaktionen in der Region behandelt der Beitrag zu den Hirten, einer Gruppe, die stets am Rande der dörflichen Gesellschaft blieb (Alois Schmid). Ob es sich bei ihnen überhaupt um eine geschlossene Gruppe gehandelt hat, kann aufgrund der Vereinzelung der Hirten eher bezweifelt werden. Die Einschätzung der Bewohner und ihrer Handlungsweisen im ländlichen Raum dokumentieren die Physikatsberichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in denen sich mündlich tradierte und akzeptierte Stammesstereotype (Franken, Schwaben, Bayern) aus dem bürgerlichen Blickwinkel beobachten lassen (Peter Fassl). Wandel im ‚Kleinen‘ kann bis zur Veränderung der Flora und Fauna reichen (Eberhard Pfeuffer). Neben der naturräumlichen Verlustgeschichte gibt es aber auch positive Beispiele wie den Weinberg. Rechnungsbücher zeigen den weit verzweigten Handel mit Wein in

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Mitteleuropa, sozusagen vom ‚kleinen‘ Weinberg zum überregionalen ‚großen‘ Handel (Andreas Otto Weber). Handeln im regionalen Raum mit seinen, besonders in Schwaben und Franken, unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen erfordert eine ausgeklügelte Kommunikation bei allfällig anstehenden Interaktionen und Konflikten. Kleinräumliche Beispiele geben Auskünfte über den regionalen Einfluss von übergreifenden herrschaftlichen Ansprüchen und deren Durchsetzung. Die Historische Atlasforschung (Matthias Körner) gibt dazu ebenso gewichtige Antworten wie beispielsweise die Kriminalitäts- und Rechtsgeschichte, seien es Armutsdiebstähle von Mägden (Marina Heller), seien es die ausdifferenzierten PoliceyOrdnungen sowie das in der Frühen Neuzeit weit verbreitete Supplizieren von Bürgern und Bauern an die höchsten Reichsgerichte (Wolfgang Wüst). Ein anderer Bereich wären die Grundstücksübertragungen in unterschiedlichen Städten wie Augsburg und Neuss (Nicola Birk). Auf weitere Beispiele mikrohistorischen Zugriffs kann hier nur kursorisch hingewiesen werden: die Doppelstadt Kempten (Franz-Rasso Böck), mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Benediktinerinnenklöster im Bistum Augsburg (Wilhelm Liebhart), das Verhältnis zwischen Norm und Praxis vor Ort bei Sportvereinen in der NS-Zeit (Markwart Herzog), die anfangs antidemokratisch-konservativ ausgerichtete Regionalmuseumsbewegung (Wolfgang Ott) sowie ein mehr literaturhistorisch ausgerichteter Blick auf die Augsburger Alltagsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg (Helmut Gier). Ausführlich gewürdigt wird das Leben, das universitäre wie gesellschaftliche Wirken sowie die breite Forschungstätigkeit von Pankraz Fried, der bleibende Spuren in der schwäbischen Region wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion der vergleichenden Landesgeschichte hinterlassen hat (Peter Fassl, Alois Schmid). Die vielfältige und ungemein anregende Diskussion um die Bedeutung des ‚Kleinen‘ unterstreicht dies. Helmut Flachenecker

Würzburg

S TEFAN G ORISSEN , H ORST S ASSIN , K URT W ESOLY (H G .): Geschichte des Bergischen Landes. Band 1: Bis zum Ende des alten Herzogtums 1806 (= Bergische Forschungen 31), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2014, 736 S., 440 Abb., (ISBN 978-3-89534971-3), 29,00 EUR. Vor gut fünfzig Jahren ist der letzte Versuch einer solchen Gesamtdarstellung erschienen (Bergische Geschichte, Remscheid 1958); auch damals schon fungierte der Bergische Geschichtsverein als Herausgeber. Wenn nun derselbe Verein anlässlich seines 150-jährigen Bestehens unter neuen Vorzeichen einen zweibändigen Neuanfang wagt, so ist das Werk, das dabei herausgekommen ist, nicht von ungefähr ein fundamental anderes. Das betrifft auf den ersten Blick den schieren Umfang: Nur der erste Band von fast 800 Seiten, der die Zeit bis zum Ende des Alten Reiches abdeckt, liegt bisher vor, der zweite dürfte nicht viel schmaler ausfallen. Neben dem gefälligen zeitgemäßen Satz und den vielen – leider nur mehrheitlich, aber nicht immer qualitativ überzeugenden – Farbabbildungen fällt noch ein Zweites ins Auge: Diesmal gibt es einen wissenschaftlichen Apparat. Der nämlich fehlte in der Bergischen Geschichte von 1958 empfindlich. Der ganz große Unterschied aber wird erst auf den zweieinhalbten Blick deutlich, nämlich der verschobene landeshistorische Fokus: Den Herausgebern ist es wichtig, „dass es um die Geschichte eines Raumes, nicht um

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die Geschichte eines Territoriums oder einer Dynastie gehen soll“ (21). Deshalb auch die Entscheidung für eine „Geschichte des Bergischen Landes“, keine „Bergische Geschichte“ – auch wenn hier im ersten Band der Untertitel, der explizit das alte Herzogtum aufgreift, diesen Ansatz gleich im zweiten Atemzug wieder ein bisschen einholt. Im zweiten Band wird diese Schwerpunktsetzung sicher noch stärker auffallen. Im hier vorliegenden ersten merkt man es – und darüber könnte man im Einzelfall wahrscheinlich streiten – etwa in der fast marginalen Rolle, die große Teile des Oberbergischen Landes darin einnehmen. Daran merkt man doch sehr deutlich, dass sich der erste Band noch im Wesentlichen als eine Territorialgeschichte darstellt, die die heutigen Teile des Oberbergischen Landes, die ehemals zu den Herrschaften Gimborn und Homburg gehörten, fast gänzlich ausspart. Das konterkariert in gewisser Weise die Programmatik der Herausgeber, ist aber andererseits historisch durchaus nachvollziehbar. Man darf auf den zweiten Band gespannt sein, der dann vor der Aufgabe stehen wird, Landesgeschichte nach dem Wegfall dieser territorialen Begrenzungen zu schreiben. In der Anlage der Einzelbeiträge, für die sämtlich einschlägig ausgewiesene Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gewonnen werden konnten, fügen sich zwischen die drei mit jeweils rund 100 Seiten in sich schon fast monographischen Überblicksartikel zur chronologisch fortlaufenden Territorialgeschichte von Wilhelm Janssen (Mittelalter), Stefan Ehrenpreis (16. Jahrhundert) und Klaus Müller (1609–1806) jeweils systematische Schwerpunktsetzungen, die zum einen ausführlicher Querschnittsthemen (Landwirtschaft, Adel und Stände, Klöster, Gewerbe, Pietismus etc.) behandeln, zum anderen in meist ganz kurzer Form prominente bergische Persönlichkeiten in den Blick nehmen (wobei ein eigener Artikel über den Humanisten Konrad Heresbach, der zwar bei Mettmann geboren ist, aber ansonsten kaum im Bergischen gewirkt hat, nicht ganz einleuchtet). Dabei wird durchaus nicht nur längst Bekanntes reproduziert, sondern werden mitunter auch neue Fragen angegangen – etwa wenn Joachim Oepen fragt, ob es eine bergische Klosterlandschaft gegeben habe (und das schlussendlich verneint). Der Beitrag zu den „Bergischen Sprachräumen“ von Georg Cornelissen, der den Band beschließt, ist spannend und auch für linguistische Laien gut nachvollziehbar geschrieben, geht aber in seinen Betrachtungen nicht vor das späte 19. Jahrhundert zurück und wäre daher streng genommen im zweiten Band besser aufgehoben gewesen. Insgesamt sind alle Beiträge erfreulich jargonfrei geschrieben und jedem interessierten Leser leicht zugänglich. Hier und da wird das noch durch separat gesetzte Sacherläuterungen unterstützt, über deren Notwendigkeit man natürlich im Einzelnen streiten könnte. Das nötige wissenschaftliche Fundament jedenfalls liefert ein teils ausführlicher Endnotenapparat. Insgesamt liegt hier eine moderne, gründlich gearbeitete Landesgeschichte vor, die ihr Publikum sicher nicht verfehlen dürfte. Nur eine wohlfeile Mäkelei, die Rezensenten immer gerne auspacken, wenn sie sonst nichts finden, sei noch gestattet: Gerade ein solcher Band, der sich einen Raum zum Gegenstand nimmt und diesen mit vielen sektoralen Querschnitten durchpflügt, hätte wenigstens ein Orts- und Personenregister verdient. Hiram Kümper

Mannheim

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D ETLEF D ÖRING (H G .): Leipzigs Bedeutung für die Geschichte Sachsens. Politik, Wirtschaft und Kultur in sechs Jahrhunderten (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 7), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014, 507 S., (ISBN 978-3-86583736-3), 62,00 EUR. 18 Autoren versuchen in vier Sektionen, ihre speziellen Leipziger Themen in den Rahmen der höchst komplexen Frage zu stellen, welche B e d e u t u n g der Stadt in einer größeren Region bzw. einem Land zukomme bzw. welches „Gewicht“ die Stadt auf die „Landeswaage“ gebracht habe. Natürlich gibt es hierzu keine allgemein gültigen Bewertungskriterien. Dies liefe auch immer wieder auf eine wenig ertragreiche Debatte über den „Rang“ der jeweiligen Themenkomplexe hinaus. Da es sich aber im Falle Sachsens um ein außerordentlich städtereiches und höchst vielseitig entwickeltes Territorium handelt und Leipzig eine Stadt ist, deren Name zwischen New York und Tokio einen guten Klang besitzt, ist mehr als eine Annäherung an den gewählten Rahmen wohl kaum zu erwarten, selbst wenn man im Buch eine thematische Breite veranschlagt, die die Sektionen Politik, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wissenschaft und Bildung sowie Kunst und Kultur ausweist, sich also auf einige zentrale Bereiche konzentriert und andere von vornherein ausklammert (etwa Verkehr, Sport, Umwelt). Auch der zweieinhalb Tage umfassende Zeitraum der Konferenz der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und des Leipziger Geschichtsvereins im Oktober 2012, dessen Protokoll dieser Band darstellt, setzte hier entsprechende Grenzen. Im Vorfeld der 1 000. Wiederkehr der Ersterwähnung der Stadt (2015), also am Beginn der Schlussphase der Arbeit an einer vierbändigen Stadtgeschichtsdarstellung, hat der anzuzeigende Sammelband indessen seinen Beitrag geleistet. Es wurden durch spezielle Quellenforschungen und aufschlussreiche Fragestellungen neue Erkenntnisse gewonnen und „alte“ Themenbereiche zur Disposition gestellt. Allein: Gibt nicht das angesprochene 1 000-Jahr-Ereignis, dem sich der Band zuordnet – Bürgermeister Andreas Müller nahm in seinem Grußwort direkt darauf Bezug und hob hervor, „die Stadt Leipzig“ sei „stolz, 2015 ihr Jubiläum“ feiern zu können (9) –, bereits zu viel an „strategischen Leitlinien“ für Forschung und Themenwahl vor? Man feiert doch aus bestimmten Gründen, die sich nicht in erster Linie aus Recherchen speisen, die für die Bewertung der Vergangenheit relevant sind oder die sich aus Defiziten der Forschung ableiten, sondern die sich (auch) aus jeweiligen bzw. aktuellen Prestigefragen und politischen „Setzungen“ der Gegenwart erklären. Hier bleibt bei aller Sympathie für Großaufgaben, wie sie sich die Historiker ab und an einmal stellen müssen, wenn sie Breitenwirkung erzielen wollen, eine gewisse Portion Skepsis hinsichtlich der Wertigkeit der Schwerpunkte oder der Marksteine von Realität und Forschung. In der Politik-Sektion bemüht sich zunächst Enno Bünz um „Leipzig als landesherrliche Residenz vom 13. bis 16. Jahrhundert“ (23–48) und konstatiert, dass die Stadt vom 12. bis zum 15. Jahrhundert „zur wichtigsten Stadt im Kurfürstentum Sachsen aufgestiegen“ sei (47). Dass diese Feststellung auch durch Aktivitäten seitens der Elite der eigenen Bürgerschaft gestützt wird, betont der Beitrag von Markus Cottin über den bürgerlichen Leipziger Rittergutsbesitz (49–73; dazu Regesten, mit Thomas Wittig: 74–125). Die Leipziger Universität als kursächsischen Landstand im 16. und 17. Jahrhundert untersucht Philipp Walter (127–156), während Susanne Schötz die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters in den Mittelpunkt ihres Beitrags über die deutsche Frauenbewegung stellt

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und damit Leipzigs besondere Rolle in diesem Bereich betont (157–180). Durch neue Forschungen konnte Siegfried Hoyer das Bild vom Kapp-Putsch in Leipzig korrigieren (181–201). Ohne Differenzierungswillen betrachtet Christian Rau Leipziger Stadtpolitiker der Jahre zwischen 1946 und 1980 (203–231), während Ulrich von Hehl stringent den 16 Hitlerbesuchen in Leipzig nachgeht (233–253). In der zweiten Sektion befragt eingangs Doreen von Oertzen-Becker kritisch die Geschenke-Politik des Leipziger Rates (257–275). Thomas Fuchs analysiert die Leipziger Buchproduktion im Konfessionsstreit am Ende des 16. Jahrhunderts (277–287), und Uwe Schirmer widmet sich der Haushaltspolitik der Messestadt und ihrem Desaster am Beginn des 17. Jahrhunderts (289–314), während Elke Schlenkrich die Leipziger Zunfthandwerker durch ihren Alltag zwischen 1750 und 1850 begleitet (315–325). Manfred Rudersdorf leitet die dritte Sektion mit einem kulturhistorischen Beitrag ein, in dem er die Zusammenhänge von Reformation, Humanismus und Studium auslotet (329–346). „Leipzig als Druckort von Kalendern in der Frühen Neuzeit“ ist der Beitrag von Klaus-Dieter Herbst überschrieben, der die Vielfalt der lokalen Kalenderproduktion beschreibt, wobei er partiell auf einem Forschungsprojekt (2006–2008) fußt, so dass sich eine besondere Fülle neuer Einsichten ergibt (347–398). Thomas Thibault Döring geht den Leipziger Gelehrtenbibliotheken zwischen 1500 und 1750 nach (399–412), während Thomas Stein die Beziehungen zwischen Stadteliten und Mäzenatentum zur Zeit der Weimarer Republik untersucht (413–432). Die vierte Sektion „Kunst und Kultur“ setzt ein mit dem Beitrag von Constance Timm über die Begräbnisse von St. Pauli, einer im Zuge der Reformation an die Universität gefallenen Kirche (435–452). Sie führt damit zugleich in das für die Leipziger Geschichte der neuesten Zeit besonders sensible Thema des Umgangs mit Kirche und Kirchengeschichte ein. Peter Wollny widmet sich den Musikaufführungen auf dem Markt während des 17. und 18. Jahrhunderts (453–461), und Ralf Wehner präsentiert neue Ergebnisse seiner Forschungen zu Felix Mendelssohn Bartholdy, die mit aufschlussreichem Quellenmaterial komplettiert sind (463–491). Ein Personenregister, das für einen Band mit einer solchen Themenfülle besonders wichtig ist, schließt die Publikation ab (495–507). Helmut Bräuer

Leipzig

ROLF H AUPT, K ARSTEN G ÜLDNER , W OLFGANG H ARTIG (H G .), unter Mitarbeit von Annegret Gahr, Hans-Jürgen Curs, Gerhard Thiele: 800 Jahre St. Georg in Leipzig. Vom Hospital des Chorherrenstifts St. Thomas zum medizinisch-sozialen Zentrum (Unternehmensgruppe St. Georg Leipzig). 800 Jahre in Leipzig 1212–2012, 100 Jahre nach Neubau 1913. Ein Lesebuch, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, 576 S., ca. 350 Abb., CD-ROM, (ISBN 978-3-86583-563-5), 14,90 EUR. Die achthundertjährige Existenz einer so wichtigen sozialen Einrichtung wie des Hospitals St. Georg in Leipzig bedarf einer Festschrift – so sehen es nicht allein die Beteiligten an der Erarbeitung der anzuzeigenden Abhandlung, sondern auch viele heutige Bewohner des Leipziger Raumes. Es versteht sich, dass ein solches Vorhaben auch nach einer auffälligen Repräsentativität verlangt. Das demonstrieren zunächst ca. 350 meist farbige Abbildungen, die Einblicke in die archivalische Quellensituation, vor allem aber in das vormalige

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und derzeitige Innenleben des Krankenhauses erlauben. So werden Darstellungen der Teilinstitutionen, der Operationsräume, Krankenstationen, Labore, medizintechnischen Ausrüstung und der Gesamtsituation des Gebäudekomplexes geboten. Zugleich findet sich eine Vielzahl von Porträts bedeutender Ärzte und des übrigen medizinischen Personals, die samt und sonders einen hohen Informationswert haben und zugleich rezipientenwirksam sind. Zum anderen sind einige Bemerkungen zum Text nötig. Trotz der Tatsache, dass es, vor allem im zweiten Teil des Buches, viele Passagen gibt, die nicht ohne fachmedizinisches Vokabular auskommen, und dass insgesamt 96 Autoren beteiligt waren, gelang eine gut lesbare, weitgehend einheitliche und dennoch individuelle Darstellung. Das ist einesteils ein Verdienst der Herausgeber und Bearbeiter, anderenteils aber auch der Autoren der persönlichen Passagen, die mit ihren Beiträgen eine sehr enge Beziehung zu den jeweiligen Themen herstellen. In elf Kapiteln wird „das Georg“ vorgeführt, und es sei schon an dieser Stelle gesagt: Das geschieht informativ, sachlich und überaus engagiert. Eingeleitet wird das Buch mit einem Überblick über die historische Entwicklung bis 1908, der sich weitgehend an älterer Literatur orientiert. Er hat einen vornehmlich institutionengeschichtlichen Zuschnitt und hätte eine Einordnung in den europäischen historischen Forschungskontext durchaus verdient gehabt, um die Stellung des eigenen Hauses besser zu dokumentieren, zumal es seit 2008/2010 ein ambitioniertes österreichisches Projekt gibt, das als Maßstab hätte dienen können. In den Kapiteln 2 bis 4 befassen sich die Autoren mit der Baugeschichte des kommunalen Krankenhauses, dessen Rolle während der beiden Weltkriege und in der Sicht ihrer Jubiläen. In den folgenden beiden Abschnitten werden die Krankenpflege und das Haus prägende Persönlichkeiten vom Mittelalter bis zur Gegenwart skizziert. Kapitel sieben ist mit „Gelebtes St. Georg“ überschrieben und geht unter anderem auf die Ausbildung von Schwestern aus Vietnam und Bangladesch von 1971 bis 1986 ein (305–309). Die folgenden Kapitel behandeln Aus- und Weiterbildung, Bauentwicklung und medizinische Forschung und geben einen komprimierten Überblick über die insgesamt 14 Standorte des Klinikums. Im Kapitel 11 wird der Zustand des Klinikums im 21. Jahrhundert präsentiert – in einer Zusammenschau von Struktur(en), Funktion(en), Genese und Personal der „St. Georg Unternehmensgruppe“, die jährlich 47 000 stationäre und teilstationäre Patienten und 140 000 Ambulante betreut, als GmbH ein Eigenbetrieb der Stadt Leipzig ist und 2009 über ca. 2 500 Stellen, davon 350 im ärztlichen, ca. 900 im Pflegedienst und ca. 430 im medizinisch-technischen Dienst verfügte (413 ff.). Die Darstellung lässt Interdisziplinarität als „Grundprinzip und Qualitätsmerkmal“ hervortreten. Das setzt eine kollegiale Diagnosefindung und Therapiefestlegung voraus. Eine beigefügte CD-ROM enthält u. a. den wissenschaftlichen Belegapparat des Bandes, was den Gebrauch des Buchs nicht erleichtert. Insgesamt bietet die Publikation aber einen soliden Überblick über die Geschichte und die für Außenstehende nicht immer leicht zu erkennenden Strukturen eines medizinischen Großzentrums. Sie trägt zur besseren Überschaubarkeit für Patienten und Bürger der Region dar, beeinflusst aber zugleich auch die innerbetrieblichen Kontakte, weil sie über den Rahmen enger Fachspezifik hinausreicht.

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Für die Weiterführung der „europäischen Spitaldebatte“ kann der Band aufschlussreiche Anregungen und eine reiche Themenpalette bieten. Helmut Bräuer

Leipzig

M ARTINA S CHATTKOWSKY, KONSTANTIN H ERMANN , ROMAN R ABE (H G .), unter Mitarbeit von D. Geißler, F. Metasch, L. Vogel und H. Keller: Dresdner Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014, 207 S., 85 Abb., (ISBN 978-3-86583-908-4), 34,00 EUR. Das Selbstverständnis einer jeden Zeit verlangt nach Biografien – möglichst objektiv und direkt, verschiedentlich auch prestigeorientiert. Biografie vereint Ausschnittwissen und subjektive Wertung. In Sachsen ist das nicht anders, und hier hat – nach Jahrzehnten der Printformen – das Online-Portal „Sächsische Biografie“ des Dresdner Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (ISGV) eine wichtige Aufgabe übernommen. Inzwischen ist dort, wie Martina Schattkowsky im Vorwort ausführt, eine große Informationsmasse zusammengetragen worden, die eine thematisch-sachliche Ordnung – u. a. auch nach Berufsgruppen oder Fachbereichen – erlaubt. An dieser Stelle setzt die vorliegende Publikation ein – sie kehrt gewissermaßen zurück zur alten Printform mit modernen und erweiterten Inhalten. An der Spitze der geplanten Reihe von Themenbänden steht der anzuzeigende über „Dresdner Bibliothekarinnen und Bibliothekare“. Die Wahl hat Gründe: Sachsen verfügt, resultierend aus seiner gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, über ein relativ dichtes Netz von Stadt-, Kirchen-, Schul-, Adels- und institutionell gebundenen Bibliotheken – von vielen ansehnlichen privaten Sammlungen ganz abgesehen. Unter diesem Aspekt ist das Interesse an ihrer Geschichte höchst legitim und der Blick auf die im dortigen Umfeld Beschäftigten mehr als eine Zweckmäßigkeit, zumal von ihnen häufig maßgebliche Innovationen ausgingen. Der Band gliedert sich in mehrere Teile. Zunächst befassen sich Konstantin Hermann und Roman Rabe mit der Geschichte des Dresdner Bibliothekswesens (9–36), indem sie Sektoren der Entwicklung vom Beginn der Frühen Neuzeit bis zur Jahrtausendwende nachzeichnen. Ein erster Einschnitt ergibt sich hier bei den Sammlungen von Kurfürst August, mit dessen Namen sich das 450jährige Bestehen der SLUB 2006 verbinden lässt (10). Im 18. Jahrhundert legten die höfischen Einrichtungen durch Zuerwerb und Repräsentativität besonders zu; zugleich begann ihre Öffnung hin zum Bildungsbürgertum. Aus der Hofbibliothek war im 19. Jahrhundert die Königliche öffentliche Bibliothek geworden. Volks- und Arbeiterbibliotheken sowie „Lesehallenbewegung“ sind weitere Marksteine der Entwicklung und signalisieren neben dem Wachstum der wissenschaftlichtechnischen Sammlungen die enorme Breite des Dresdner Bibliothekswesens. Die Feststellung der Autoren, dass es „keine Periode der kommunalen Dresdner Bibliotheksgeschichte [gebe], die so von Stagnation geprägt war wie die nationalsozialistische“ (24 f.), fasst die Situation prägnant zusammen: Im Zweiten Weltkrieg gingen allein der Sächsischen Landesbibliothek 425 000 Bände verloren. Andere Sammlungen verschwanden gänzlich. Mit dem Jahr 1945 setzten Bestandsrückführungen und Bestandsaufnahmen, Trümmerarbeit, Beschlagnahmungen von Büchern, Wiederaufbau und Neuorientierung ein. Zugleich musste sich der Buchstandort Dresden in die neuen Bezirksstrukturen und die Neugründung von Institutionen einfügen. Das ging nicht ohne Reibungsverluste ab,

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aber „die Landesbibliothek“ blieb auch nach der Auflösung der Länder erhalten. Den Schlussakkord setzen die Autoren – vielleicht ein wenig euphorisch – mit der Skizzierung der Entwicklung nach 1989/90, für die als zentraler Punkt die Fusion von Sächsischer Landes- und TU-Bibliothek zur SLUB (1996) steht. Das außenwirksame Signal dieses Prozesses war der Neubau am Zelleschen Weg. Eine Prosopographie des Dresdner Bibliothekspersonals legt Konstantin Hermann im zweiten Teil des Beitrags vor (37–53). Der Historiker und Fachreferent an der SLUB bezieht sich vorrangig auf den gehobenen wissenschaftlichen Dienst, weil es insbesondere für das 16. bis 18. Jahrhundert keine ausreichende Materialbasis, aber auch keine klare „Fachgrundlage“ im Sinne eines beruflichen Strukturbildes gegeben habe. Der Bibliothekar konnte daher im 16. Jahrhundert zugleich Fürstenerzieher, Schreiber oder Literat sein. Auch das 17. Jahrhundert habe noch kein entsprechendes berufsspezifisches „Wertemuster“ hervorgebracht. Dominant war eher das Fehlen von Berufstraditionen, Ausbildungsmustern und „Heiratskreisen“. Dagegen war der Bibliothekar generell arm. Erst in der Folgezeit trat über die Orientierung der Adelsbibliotheken an fernen Ländern und den universitären Studienbetrieb die Fachkenntnis des Bibliothekars in den Vordergrund. Auch die bürgerliche Oberschicht beginnt als soziale Herkunftsgruppe eine Rolle zu spielen. Der wissenschaftlich produktive Bibliothekar begann das Berufsbild zu dominieren, wofür Johann Christoph Adelung (Grammatisch-kritisches Wörterbuch) eines der markanten Beispiele ist. In der Periode nach 1815 brachte der „Druck der Zwänge“, der von der industriellen Revolution ausging, den technisch gebildeten Bibliothekar hervor, der nicht mehr vordergründig aus den traditionellen sozialen Herkunftsbereichen (Pfarrer, Gelehrte) stammte. Zugleich begann die Anzahl der Fachgelehrten und der an auswärtigen Universitäten Ausgebildeten zu wachsen. Frauen traten ihren dornenreichen Weg in der Beamtenhierarchie an, und politische Strukturen zeichneten sich deutlicher ab. Nach 1945 gibt es wieder die längere Berufsbiografie; zugleich nimmt die Rolle der (Fach-)Schulausbildung für die mittlere Ebene der Bibliothekare an Signifikanz zu. Es sind bemerkenswerte Einsichten, die der Verfasser aus einem kleinen Quellenfonds von Dresdner Berufsbiografien erfasst und zurückhaltend als „Zwischenstand“ kennzeichnet, doch sie stehen auf einem soliden Fundament und bieten eine nützliche Grundlage für die folgenden 126 Einzelbiografien (57–191). Vorgestellt werden – vielfach mit Porträt – u. a. der Bibliothekar und Sprachwissenschaftler Johann Christoph Adelung, die Juristin und Direktorin der TH-Bibliothek Helene Benndorf, der langjährige Direktor der Sächsischen Landesbibliothek Burghard Burgemeister, der Bibliothekar Karl Wilhelm Dassdorf, der Historiker, Archivar und Bibliotheksdirektor Hubert Ermisch, der Historiker und TH-Bibliotheksdirektor Felician Geß, der Altertumswissenschaftler und Philologe Christian Gottlob Heyne, die Schriftstellerin und Bibliothekarin Ilse Korn, der Bibliotheksdirektor Jan Joseph Angelo Pepino sowie der Archäologe und Privatbibliothekar Johann Joachim Wickelmann – jeweils mit kurzer Biografie, knappem Werkverzeichnis und Literaturangaben. Mit einer aussagekräftigen Zeittafel von 1408/82 bis 2014 schließt die Publikation ab. Sie geht mit ihrem historisch-prosopographischen Teil über die „rein“ personenbezogenen

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Sachinformationen des Internet-Portals hinaus und belegt außerdem, dass das Buch auch im „elektronischen Zeitalter“ noch seine Existenzberechtigung besitzt. Helmut Bräuer

Leipzig

J OCHEN E BERT: Domänengüter im Fürstenstaat. Die Landgüter der Landgrafen und Kurfürsten von Hessen (16.–19. Jahrhundert). Bestand – Typen – Funktionen (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 166), Darmstadt/Marburg: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2013, 493 S., 38 Abb., (ISBN 978-3-88443-321-8), 45,00 EUR. Fürstliche Domänengüter sind in den letzten Jahren hauptsächlich im Kontext landwirtschaftlicher Reformen des 18. Jahrhunderts und zur Erschließung sozialer Strukturen sowie (administrativer) Praktiken in der Kommunikation zwischen Herrschaft, Amtsträgern und Untertanen zum Forschungsthema geworden. Die finanzgeschichtliche Perspektive, für die im Gefolge Schumpeters im Zusammenhang mit der Erforschung von Staatsbildungsprozessen Kersten Krüger, gerade für Hessen, die griffige Formulierung des „Übergang[s] vom Domänenstaat zum Steuerstaat“ geprägt hat, ist dagegen in den Hintergrund getreten (Kersten K RÜGER: Finanzstaat Hessen 1500–1567. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat, Marburg 1981). Ausgehend von Krügers These, der Übergang zum Steuerstaat sei bereits im 16. Jahrhundert anzusetzen, stellt Jochen Ebert in seiner für den Druck überarbeiteten Dissertation aus dem Jahre 2010 die Frage, weshalb Fürsten des Heiligen Römischen Reiches, so auch die in seiner Studie in den Blick genommenen hessischen Landgrafen und Kurfürsten, die ganze Frühe Neuzeit hindurch am Domänenbesitz festhielten, ihn sogar ausbauten. Ebert will damit die von ihm konstatierten „Einseitigkeiten“ (4) in der Beurteilung frühneuzeitlicher fürstlicher Finanzpolitik in Frage stellen, die ihm zu sehr auf steuerstaatliche Aspekte fixiert erscheint. Der Betrachtungszeitraum der Studie, hervorgegangen aus dem DFG-Projekt „Die hessische Domäne Frankenhausen vom späten 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts“, beginnt im 16. Jahrhundert, berücksichtigt alle eruierbaren fürstlichen Domänengüter und reicht bis zur Erklärung des Kurfürstentums Hessen zur preußischen Provinz im Jahr 1866, in manchen Teilen der Untersuchung auch bis ins frühe 20. Jahrhundert. Angesichts der umfänglichen, zum Zeitpunkt der Forschungsarbeit des Autors noch wenig erschlossenen Quellenbestände (u. a. Abrechnungen der Rent- und Finanzkammer sowie der Pächter, Pachtverträge, Inventare, Karten, Kataster uvm.) erscheint ein Wechsel zwischen quantitativen und qualitativen Methoden ebenso angemessen wie die Konzentration auf drei Fragekomplexe: die des Domänengüterbestandes, der wirtschaftlichen Struktur sowie der Funktionen und Erträge der Domänengüter. Diese drei Hauptteile sind identisch strukturiert: Auf die Analyseergebnisse der Unterkapitel folgen jeweils Zusammenfassungen, die, am Ende des Hauptteils als „Ergebnisse“ noch einmal gebündelt, schließlich in ein abschließendes Resümee Eingang finden (der damit verbundenen Gefahr der Redundanz entgeht der Verfasser leider nicht immer). Der den Hauptteilen vorgeschaltete „Forschungsbericht“ (10–25) informiert über die finanz- und wirtschaftsgeschichtliche, agrar- und landesgeschichtliche Forschung zu fürstlichem Domanialbesitz, die lange Zeit vorwiegend aus modernisierungsgeschichtlicher Perspektive betrieben wurde. Im ersten Hauptteil erarbeitet der Verfasser erstmals einen umfassenden Überblick zur Entwicklung des Bestands der fürstlichen Domänengüter. Insgesamt wuchs deren

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Zahl, freilich mit meist kriegsbedingten Unterbrechungen bzw. zeitweiser Umkehrung des Trends, zwischen 1585 und 1866 um mehr als das Doppelte (von 56 auf 134). Wenn auch die Ursachen hierfür höchst unterschiedlich waren (z. B. Säkularisation von Klostergütern in der Reformationszeit, Lehensauflösungen, territoriale Zugewinne, gezielte fürstliche Ankäufe), so kann der Verfasser doch einen Ausbau herrscherlicher Präsenz und eine „stärkere Ausrichtung der Domänengüter auf die Bedürfnisse des Hofes und der Zentralverwaltung“ (167) herausarbeiten, besonders eindrücklich anhand der Entstehung einer „Domänenlandschaft“ um die Residenz Kassel. Wie auch in anderen Kapiteln werden die Auswertungen des Quellenmaterials mit einer Reihe von Tabellen, Karten etc. transparent gemacht, die den hohen Rechercheaufwand vor Augen führen. Der zweite Hauptteil untersucht die „wirtschaftliche Struktur“ der Domänengüter, wozu der Verfasser Siedlungslage, Betriebsgrößen und Landnutzungsformen (nach vier Stichjahren für vier Jahrhunderte, von 1585 bis 1913), Abgaben und Dienste sowie das Vorhandensein sog. Pertinenzien (d. h. weiterer Betriebe auf den Domänen wie etwa Mühlen und Brauereien) zählt. Hier wird eine zunehmend auf Ertragssteigerung ausgerichtete Nutzung der Domänengüter deutlich, kann der Verfasser doch Tendenzen der Betriebsflächenvergrößerung und Arrondierung, der Auflösung kleinerer Betriebe, der Monetarisierung von Abgaben sowie der (v. a. von den Pächtern initiierten) Umsetzung von Agrarreformen insbesondere ab dem späten 18. Jahrhundert durch quantitative Auswertungen nachweisen oder zumindest mit Fallbeispielen untermauern. Interessant wäre hier, eine Verbindung zu etwaigen obrigkeitlichen Konzepten der Einkommenssteigerung bzw. ökonomischer Reform (oder zu retardierenden Hemmnissen) herzustellen – ein Bereich, der, wie Ebert selbst angibt, noch zu wenig untersucht ist und in der Einschätzung des Autors auch nicht widerspruchsfrei gestaltet ist. Das Festhalten der Herrscher am Domänenbesitz wird im dritten Hauptteil anhand der Untersuchung der Funktionen der Domänengüter und der aus ihnen erzielten Einnahmen anschaulich. Für die Auseinandersetzung mit der These von der frühen Etablierung des Steuerstaats, die für andere deutsche Territorien, wie der Autor betont, bereits deutlich relativiert wurde, hat dieser Teil der Untersuchung zentrale Bedeutung. Über die offensichtlichen Funktionen der Versorgung des Hofes mit Lebensmitteln und Fourage sowie den Beitrag zur Herrschaftsfinanzierung hinaus dienten Domänengüter auch der Kapitalanlage, der Versorgung von Mitgliedern der Fürstenfamilie bzw. von verdienten Amtsträgern oder auch von Mätressen und unehelichen Nachkommen. Was den Anteil der Domänengüter an den Gesamteinkünften angeht, kann Ebert sehr schlüssig darlegen, dass für Hessen bis ins 19. Jahrhundert Domänengüter durchaus keine „überlebte Form der Herrschaftsfinanzierung“ (357), sondern eine wichtige Einnahmequelle darstellten – zumal die Lokalverwaltung wesentlich durch Domänenabgaben getragen wurde. Die Bezeichnung Hessen-Kassels im 18. und Kurhessens im 19. Jahrhundert als „ausgesprochene Domänenstaaten“ (421) scheint dennoch, nicht zuletzt angesichts der vom Autor betonten problematischen Quellengrundlage für die Erschließung herrschaftlicher Einkünfte und der damit verbundenen Unsicherheit der von ihm vorgenommenen Schätzungen (25 bis 50 % der Gesamteinkünfte zusätzlich zu den in den Kammern aufgezeichneten Einkünften von rund 6 bis 7 %, vgl. 362), etwas zu stark pointiert. Selbstredend kann eine Qualifikationsarbeit nicht alle Themen, die vor dem Hintergrund aktueller Forschungsfragen von Interesse wären, gleichermaßen anschneiden. Im Hinblick

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auf die Rolle der Pächter, des fürstlichen Amtsapparats der Domanialverwaltung und schließlich der fürstlichen Befassung mit Fragen der Gutsverwaltung und ihrer Reform wäre allerdings angesichts der Expertise des Autors zur Quellenlage eine deutlichere Konturierung weitergehender Forschungsfragen wünschenswert gewesen. Schade auch, dass die vielen Abbildungen zeitgenössisch kommentierter Gutsdarstellungen (Grundrisse, Ansichten etc.) offenbar nur zu illustrativen Zwecken integriert wurden. Während zahlreiche exemplarische Untersuchungsfälle in den drei Hauptteilen sehr ausführlich referiert werden, erfährt man leider nur wenig über Quellen mit zentralem Stellenwert für die gesamte Untersuchung. So wüsste der Leser unter dem Stichwort der administrativen Verdichtung und ihrer Praktiken gerne mehr über den „Ökonomische[n] Staat“ (1585), eine mehr als 400 Seiten starke Aufstellung der landgräflichen Verwaltung über sämtliche Besitzungen und Einkünfte, insbesondere über deren Struktur und Entstehungskontext. Gleichwohl belegt Jochen Ebert mit umfangreicher Quellenarbeit eindrücklich, dass der simple Gegensatz „Domänenstaat“ oder „Steuerstaat“ nicht ausreicht, um für die gesamte Frühe Neuzeit die materiellen Grundlagen und damit auch die Kontexte, Intentionen und Praktiken frühneuzeitlicher Herrschaft adäquat zu erfassen. Damit bietet seine Studie Ansatzpunkte für Überlegungen, die über landesgeschichtliche Bezüge weit hinausweisen. Regina Dauser

Augsburg

C HRISTINE F ERTIG: Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874) (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 54), Stuttgart: Lucius & Lucius 2012, 286 S., (ISBN 978-3-8282-0547-5), 56,00 EUR. Die anzuzeigende Publikation ist eine in Münster im Rahmen einer DFG-Forschergruppe zum ländlichen Westfalen entstandene Dissertation aus dem Jahr 2010/11. Sie vergleicht zwei Dörfer miteinander: das ostwestfälische Löhne, nordöstlich von Herford gelegen, und Borgeln in der Soester Börde. Die beiden Dörfer unterschieden sich in ihrer ökonomischen Ausrichtung. Löhne lag inmitten der Leinenregion und war geprägt durch das Heuerlingssystem, also durch unterbäuerliche Schichten, die ihren Lebensunterhalt mit Spinnen und Weben verdienten. Borgeln hingegen konzentrierte sich auf den Agrarsektor und war wegen der fruchtbaren Böden der Hellwegzone und der vorgelagerten Absatzmärkte im Sauerland wohlsituiert, wie an vergleichsweise hohen Löhnen abzulesen ist. In Borgeln und Löhne ist die Quellenlage im Untersuchungszeitraum gut. Kirchenbücher, die im preußischen Westfalen während des 18. Jahrhunderts eingeführten Hypothekenbücher einschließlich der Grundakten und die Unterlagen des um 1830 eingeführten Katasters erlauben Rechenoperationen, die geeignet sind, die These Josef Moosers von der ländlichen Klassengesellschaft auf den Prüfstand zu stellen (Josef M OOSER: Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984). Mooser hatte für die Region, in der Löhne liegt, eine massive soziale Ungleichheit nachgewiesen. Fertig bedient sich der Netzwerk-Theorie: Sie definiert ein soziales Netzwerk „als eine begrenzte Auswahl von Akteuren und den zwischen ihnen bestehenden Relationen“. Die von ihr untersuchten netzwerkrelevanten Beziehungen sind Verwandtschaft, Patenschaften sowie Arbeitsmarktbeziehungen zwischen Bauern und Tagelöhnern. Den empirischen Untersuchungen sind Überlegungen zu den Forschungskonzepten über Familienstrategien,

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Ehe und Heirat sowie intergenerationelle Transfers vorgeschaltet. Fertig setzt sich auch mit Ansätzen zur „Hofidee“ in Westfalen auseinander, die aus der Volkskunde stammen (M. Bringemeier, D. Sauermann). Sie legt deren schwache Fundierung offen und deklariert nicht Normen als Grundlage der Entscheidungsfindung bei der Hofübergabe, sondern die wirtschaftliche Vernunft (35). Der empirische Kern der Arbeit steckt in den Kapiteln 5 bis 7, in denen jeweils Löhne und Borgeln miteinander verglichen werden. Zunächst werden Patenschaften untersucht. Bei Patenbeziehungen in Löhne wurden Menschen der gleichen Generation bevorzugt und bäuerliche und unterbäuerliche Schicht miteinander verbunden. In Borgeln schlossen sich Mittel- und Oberschicht gegenüber den Tagelöhnern stärker ab. Ein ähnlicher Befund stellt sich für die Heiratsbeziehungen ein. In Löhne ist für die Bereitschaft, in kleinere Höfe oder in Heuerlingsfamilien einzuheiraten, möglicherweise der Einfluss des Pietismus verantwortlich zu machen. In Borgeln erfolgte der Austausch zwischen den Generationen mit dem Ergebnis, dass viele nicht-erbende Familienmitglieder ledig blieben. Hinter die daraus abgeleitete These vom alternativen Lebensmodell der „Singles“ in Borgeln (153– 163) möchte der Rezensent aber ein Fragezeichen setzen, weil der Ledigenstatus wohl eher ökonomischen Gegebenheiten als einer bewussten Planung geschuldet war. Die soziale Platzierung wird untersucht anhand des Übergangs der Kinder von der Herkunfts- in die eigene Familie, wobei die theoretischen Annahmen einer Bielefelder Forschergruppe um Jürgen Kocka kritisch hinterfragt werden (Jürgen KOCKA [Hg.]: Familie und soziale Plazierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Opladen 1980). Fertig unterstreicht die aktive Rolle von Familien und ihren Strategien. Sie misst Faktoren familiären Erfolgs an der Größe des Besitzes, gemessen an Veränderungen zwischen den Generationen, sowie an den verfügbaren Verwandtschaftsbeziehungen und der Kinderzahl. Die abschließende Einordnung der Ergebnisse differenziert Moosers Befund: „Das protoindustrielle Ostwestfalen war keine ländliche Klassengesellschaft, sondern vielmehr eine Netzwerkgesellschaft. Die sozialen Schichten waren hier eng miteinander veflochten, über Verwandtschaft, Patenschaften, aber auch das Heuerlingssystem“ (246). Wenn von Klassengesellschaft gesprochen werden kann, dann im nicht-protoindustriell geprägten Borgeln, wo zwischen besitzenden Groß- und Mittelbauern und Tagelöhnern tiefe Gräben verliefen. Allerdings konnten hier junge Menschen als Knechte und Mägde ein Einkommen erzielen und waren nicht an Familieneinkommen gebunden. Fertigs Studie zeigt deutlich auf, dass Fragen nach dem europäischen Heiratsmuster und nach dem Heiratsverhalten „auf der Ebene kleinerer Untersuchungseinheiten und unter Berücksichtigung möglichst vieler Dimensionen nachgegangen“ werden muss (242). Aus Sicht der westfälischen Landesgeschichte liefert sie valide Befunde zur ökonomischen und demographischen Vielfalt innerhalb der Region. Wilfried Reininghaus

Senden (Kr. Coesfeld)

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Mittelalter

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Mittelalter

H ANNO B RAND , S VEN R ABELER , H ARM VON S EGGERN (H G .): Gelebte Normen im urbanen Raum? Zur sozial- und kulturgeschichtlichen Analyse rechtlicher Quellen in Städten des Hanseraums (13. bis 16. Jahrhundert) (= Groninger Hanze Studies 5), Hilversum: Uitgeverij Verloren 2014, 184 S., (ISBN 978-90-8704-096-3), 25,00 EUR. Der Band vereint die für den Druck verschriftlichten Diskussionsbeiträge eines internationalen Kolloquiums, das, von der Kieler Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie dem Hanze Studie Centrum der Rijksuniversiteit Groningen organisiert, am 21. und 22. September 2007 in Kiel stattfand und an welchem niederländische, polnische und deutsche Historiker beteiligt waren. Der Band erscheint mit sieben Jahren Verzögerung leider nicht nur reichlich spät nach dem entsprechenden Kolloquiumstermin. Drei der damaligen Referate mit zumindest vielversprechenden Titeln konnten zusätzlich ärgerlicherweise nicht in dem Band veröffentlicht werden, ohne dass sich dem Leser der Grund hierfür erschlösse. Immerhin gelang den Herausgebern stattdessen der Zugewinn eines neuen Beitrags, was dem Gesamtband inhaltlich gewiss nicht schadete. Es geht um das exemplarisch hinterfragte und rechts-, sozial- und kulturgeschichtlich untersuchte Verhältnis von normativen Quellen und Normsetzungen bzw. Normsetzungsversuchen auf der einen Seite und zeitgleichen Lebensformen, sozialen Praktiken sowie kulturellen Bezügen auf der anderen. Konkret soll dem Wunsch der Herausgeber gemäß auf die Gestaltung normativer Verfahren in der Rechtspraxis der Städte und die Vergegenwärtigung der betreffenden Normen durch Texte, Symbole und Zeichen geachtet sowie die Umsetzung und der Gebrauch von Normen im politischen und sozialen Bereich nachverfolgt und sollen die Form und Funktion normativer Texte in ihren rechtlichen und sozialen Kontexten offengelegt werden. Als Untersuchungsraum dienen Städte im Hanseraum – „von Münster bis Lübeck, von Kampen bis Thorn“ (12) – zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert. Nach einer knappen Einleitung der drei Herausgeber, in der dieselben die genannte Aufgabenstellung des Sammelbandes skizzieren (9–13), eröffnet Roman Czaja den Beitragsreigen mit einem Aufsatz zum sozialen und wirtschaftlichen Leben der preußischen Städte Thorn (Neustadt), Marienburg, Königsberg, Elbing, Kulm und Danzig im Lichte normativer Quellen (15–27). Er kann für seine Beispielfälle eine zunehmende Normierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens im Untersuchungszeitraum festmachen. Als grundsätzliches Ziel städtischer Gesetzgebung erkennt er zudem die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bei gleichzeitiger Interessenswahrung seitens einzelner bestimmender Gruppen. Willkürsammlungen im Besonderen spielten als Element kommunaler Identität eine wichtige Rolle. Paweł A. Jeziorski bringt im Anschluss daran die Strafe der Ausweisung aus der Stadt im Licht der preußischen Verfestungsbücher für den Zeitraum des 14. bis 15. Jahrhunderts zur Sprache (29–44). Das Rechtsinstitut der Verfestung kam offenbar besonders oft in Handwerkerstädten zur Anwendung, wobei dasselbe den Verurteilten die Chance zu Rückkehr und Reintegration bot. Das Kampener Stadtbuch „Digestum Vetus“ als Spiegel städtischer Normierungspolitik steht darauf im Mittelpunkt der Ausführungen von Hanno Brand und Edda Frankot (45–61). Die Autoren vermuten eine Wechselwirkung zwischen Rat und Bevölkerung im Rahmen städtischer Moralpolitik, die sich für Kampen um 1450 zu erkennen gibt. Diese wurde allerdings in

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der Folgezeit nur sporadisch realisiert. Ulrich Simon charakterisiert sodann das Lübecker Niederstadtbuch über das Jahr 1400 hinaus (63–82). Er macht anhand der Veränderung überlieferter Einträge deutlich, dass das Niederstadtbuch als feststehende Einheit nicht existiert, und fügt seinen Ausführungen zwei Anhänge mit der Liste der Lübecker Ratssekretäre bzw. der Syndiker bis 1600 bei. Die Behandlung von Nachlassangelegenheiten vor dem Lübecker Rat ist Thema des Beitrags von Harm von Seggern, woraus er zugleich eine beeindruckende Quellenkunde des Niederstadtbuchs ableitet (83–100). Ihm zufolge diente es als Gedächtnis des Rats, wobei die problematischen Fälle auf diese Weise erinnert wurden. Formen, Funktionen und Inhalte der Testaments- und Stiftungsbücher in Städten des südwestlichen Ostseeraums im 15. und 16. Jahrhundert thematisiert danach Sven Rabeler (101–117). Erst ab dem 15. Jahrhundert sind für Lübeck, Hamburg und Lüneburg solche Stiftungsbücher überliefert; ihre Zahl steigt für die Folgezeit stark an. Testamentsbücher halfen bei der Administration von Stiftungen. Zwei Anhänge mit einer Liste ausgewählter Testaments- und Stiftungsbücher bzw. einer Gliederung des 1561 angelegten Buches des Vorstehers des Elsaben-Armenhauses in Lübeck sind dem Aufsatz zur Seite gestellt. Kay Peter Jankrift bringt anschließend unter der Überschrift „Die umgekehrte Schüssel“ gelebte Normen im Alltag rheinischer und westfälischer Leprosorien zur Sprache (119–128), worauf Jeroen F. Benders Formen und Funktionen von Vierteln und Nachbarschaften in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten im Osten und Norden der Niederlande anhand der Fälle Zutphen und Groningen untersucht (129–148). Wie sich herausstellt, wiesen die beiden Exempel ganz unterschiedliche Formen bei der Organisation öffentlicher Ordnung auf. Besonders deutlich wird das im Fall der Brunnengemeinden, die nicht nur Nutz- und Interessengemeinschaften darstellten, sondern Nachbarschaften. Um Prodigien und urbanen Raum am Beispiel der Deutung und Bewältigung eines spektakulären Halophänomens über Hamburg im Jahr 1589 geht es schließlich im letzten (hinzugewonnenen) Aufsatz von Björn Aewerdieck (149–181), der um die Transkription des betreffenden gedruckten Flugblatts von 1589 bereichert wurde. Sein Fazit lautet: Das Reformationsjahrhundert war kein Säkulum gehäuft auftretender Unheilszeichen, sondern unzweifelhaft nur ein Jahrhundert gesteigerter prodigialer Empfänglichkeit. Der Band wartet mit einem bunten Strauß an Beiträgen zum Thema auf, das die Historiker bei der Interpretation ihrer (Rechts-)Quellen immer wieder fordert. Insofern ist seine hochgradige Relevanz unzweifelhaft. Nicht nur das inhaltliche Überraschungsmoment, sondern auch die erkennbare Bemühung aller Zuträger um Prägnanz und Kürze machen dem geneigten Leser die Lektüre leicht und gewinnbringend. Indes: Da eigentlich alle Aufsätze der Textgattung des Werkstattberichts zugehörig sind und – vor sieben Jahren – Impulse für weitergehende Forschungen setzen woll(t)en, stößt diesem Leser die starke Verspätung bei der Drucklegung derselben leider doch etwas sauer auf. Und ehrlicher Weise muss gesagt werden, dass manche Impulse nicht nur durch die starke zeitliche Verzögerung mittlerweile verpufft sind, sondern auch deswegen, weil sie Beobachtungen als wahr verkaufen, um deren „Wahrheit“ man doch eigentlich schon längst wusste. Das schmälert verständlicherweise den Lesegenuss und wertet den unbestritten bedeutsamen Beitrag der Mehrheit der insgesamt ordentlich redigierten und teilweise um schwarzweiße Illustrationen ergänzten Aufsätze zur Geschichte gelebter Normen im Hanseraum über Gebühr ab. Oliver Auge

Kiel

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C HRISTINA L INK: Der preußische Getreidehandel im 15. Jahrhundert. Eine Studie zur nordeuropäischen Wirtschaftsgeschichte (= Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte 68), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2014, 386 S., (ISBN 978-3-41222123-2), 49,90 EUR. Moderne Wirtschaftsgeschichte lebt von zwei Paradigmen: Zum einen von der Überprüfung überkommener Mythen oder Vorstellungen und zum anderen von der Kombination moderner ökonomischer Theorien mit historischen Daten. Die hier vorliegende Studie, eine Hamburger Dissertation aus dem Jahr 2011, erfüllt beide Paradigmen in herausragender Weise. In ihrer Arbeit untersucht Christina Link den innerpreußischen Getreidehandel im 15. Jahrhundert. Das Thema ist von Belang, da der Getreideexport Preußens im 16. Jahrhundert als eine der wichtigsten Wirtschaftsleistungen des Landes bekannt und gut untersucht ist (vgl. Milja VAN T IELHOF: The ‚Mother of all Trades‘. The Baltic grain trade in Amsterdam from the late 16th to the early 19th century, Leiden 2002) und die Bedeutung dieses Handelszweiges bisher immer in das 15. Jahrhundert zurückprojiziert wurde. Aussagen wie diejenigen, der Getreidehandel des Deutschen Ordens habe eine seiner wichtigsten Einnahmequellen dargestellt und preußisches Getreide habe im 15. Jahrhundert die holländischen Städte ernährt, finden sich in der Literatur zuhauf – ohne allerdings, dass es hierzu Belege oder eingehende Untersuchungen gegeben hätte. Diesem Mythos setzt die Verfasserin nun harte Fakten entgegen. In umfangreichen Quellenstudien hat Link zahlreiches gedrucktes wie ungedrucktes Material zum Getreidehandel und Getreideexport aus Preußen ausgewertet, darunter die Pfahlkammer- und Pfundgeldbücher, aber auch Mühlenlisten und Zinsregister. Auf diesem Material aufbauend wendet sie sich vor allem zwei Wirtschaftsbereichen zu: dem Export aus Preußen und der Preisentwicklung innerhalb des Landes. Hierbei gelangt die Verfasserin zu wesentlichen, interessanten und vor allem neuen Ergebnissen. In Hinblick auf den Export kann Link so zum einen zeigen, dass die Gesamtmenge des aus Preußen exportierten Getreides keine besondere Relevanz für die Versorgung der flandrischen oder niederländischen Städte gehabt hat (80–82), und zum anderen nachweisen, dass Preußen in einigen Jahren, z. B. um 1460, sogar Getreide importiert hat. Zwar wurde in Normaljahren Getreide aus Preußen, vor allem aus Danzig, exportiert, doch waren die relativen Mengen verglichen mit dem Bedarf andernorts marginal. Ebenso kann gezeigt werden, dass die These, der Orden habe „riesige Mengen an Getreide exportiert“, als unbewiesener Mythos abgetan werden kann. Auch im Hinblick auf die Preisentwicklung bei Getreide in Preußen kommt die Verfasserin nach Auswertung ihres umfangreichen Materials zu (für Preußen) neuen Erkenntnissen. So kann sie zum einen zeigen, dass die jährliche Preisentwicklung nicht von der Ernte und den Lagerbeständen abhängig war, sondern, wie in anderen Ländern auch, von übergeordneten wirtschaftlichen Zyklen beeinflusst wurde. Zum anderen arbeitet sie deutliche Preisverfalls- und Preissteigerungstendenzen im 15. Jahrhundert heraus. Diese Ergebnisse korreliert Link mit den Korrelationskoeffizienten, die für nordeuropäische Märkte von Franzén und Söderberg sowie von Unger herausgearbeitet wurden, und sie kann zeigen, dass der preußische Getreidemarkt im 15. Jahrhundert scheinbar nicht tief in den europäischen Markt integriert war. Zur Verdeutlichung der Ergebnisse sind zahlreiche Diagramme

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in den Text eingefügt sowie die zugrundeliegenden Daten in einem 170seitigen Anhang präsentiert. Christina Links Arbeit gebührt allein schon wegen des Umfanges der ausgewerteten Quellen ein ausgesprochenes Lob. Nur durch eine solche Kärrnerarbeit lassen sich überhaupt solide und tragfähige Ergebnisse erzielen. Allerdings sind auch einige Kritikpunkte anzuführen. Diese Kritik muss bei reinen Äußerlichkeiten beginnen. So sind viele, wenn nicht die meisten der beigefügten Tabellen aufgrund falscher Farbgebung unlesbar, so zum Beispiel die Diagramme 3.6–3.7 oder 3.18–3.40. Die Präsentation leerer Graphiken ist frustrierend. Ebenso erklären sich einige Diagramme, z. B. 2.12, nicht von selbst. Zudem ist die Benutzung der Abkürzung ‚l.‘ für Last und nicht für Liter irritierend, zumal dem Werk ein Abkürzungsverzeichnis fehlt. Auch inhaltlich kann an der einen oder anderen Stelle Kritik geübt werden. Zwar sollte angesichts des umfangreichen präsentierten Materials nicht unbedingt die Einbeziehung zusätzlicher Quellen gefordert werden, doch ist die ausschließliche Konzentration auf preußische Quellen zumindest dann irritierend, wenn es um den Außenhandel nach Westen geht. In diesem Fall wäre ein kurzer Hinweis auf den Getreideimport in Sluis oder an anderen Orten, soweit möglich, hilf- und aufschlussreich gewesen. Auch ist an der Zuweisung von Exporten nach der Größe der exportierenden Schiffe Zweifel angebracht, da z. B. auch kleine Schuten den Warenverkehr von der Ost- in die Nordsee aufrechterhielten. Dieselbe Kritik betrifft auch die Interpretation der Preiskurven in Preußen. Zwar vergleicht Link die Kurve (recht spät) auf Seite 190 mit Ernteausfällen im Land, aber mit nichts anderem und hat auch keine andere Erklärung für die Schwankungen als allgemeine Wirtschaftszyklen. Dabei lässt sie z. B. die Getreideknappheit der Jahre 1409 und 1438/39 in Holland und im Norden (W.S. U NGER: De Hollandsche Graanhandel en Graanhandelspolitiek in de Middeleeuwen, in: De Economist 65/1 [1916], 342 f., 464 f.) oder in Lübeck und den wendischen Städten im Jahr 1481/82 außer Acht, die nur durch Exportlizenzen aus Preußen gelindert werden konnte und die zugleich mit einem erheblichen Preisanstieg in Preußen einherging. An dieser Stelle hätte ein weiterer Horizont der Interpretation gut getan, wie überhaupt die Ergebnisse häufig im Technischen verbleiben. Insgesamt ist die vorliegende Arbeit eine tiefgehende und wahrscheinlich für viele Jahre unübertreffliche Materialsammlung zum preußischen Getreidehandel und zu den Preiskurven. Hier ist eine unverzichtbare Grundlagenarbeit gelungen, die über viele Jahre Bestand haben und zu zahlreichen weiteren Studien Anlass geben wird. Sie reiht sich damit in eine Reihe europäischer Studien auf höchstem Niveau ein. Allerdings gehen viele der wichtigsten Aussagen dieses Werks in der schieren Menge von Zahlen und Daten unter, sind der historische Wert und das historische Ergebnis nicht optimal herausgearbeitet. Das soll allerdings nicht von der Tatsache ablenken, dass die Wissenschaft mit diesem Werk ein wesentliches Stück weitergekommen ist. Carsten Jahnke

Kopenhagen

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Mittelalter

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G ABRIELA S IGNORI: Schuldenwirtschaft. Konsumenten- und Hypothekarkredite im spätmittelalterlichen Basel (= Spätmittelalterstudien 5), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2015, 186 S., (ISBN 978-3-86764-588-1), 29,00 EUR. Die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsgeschichte hat mit den anthropologisch geprägten Studien Laurence Fontaines (L’Économie Morale. Pauvreté, crédit et confiance dans l’Europe préindustrielle, Paris 2008; Le Marché. Histoire et usages d’une conquête sociale, Paris 2014) und David Graebers (Debt: The First 5000 Years. New York 2011) zu den Themen Schulden, Vertrauen und Kredit in den letzten Jahren inspirierende Impulse erhalten. Dabei ging es nicht nur um eine angemessene Anbindung der Vormoderne an aktuelle Fragstellungen zum Thema Geld und Kreditwesen, sondern auch um die vielfältigen sozialen Beziehungen, die Schulden und Geldleihe als Kitt der Gesellschaft herstellen. Die weitgefasste Perspektive der genannten Arbeiten in ihren Fragestellungen, ihren Untersuchungszeiten und -räumen wirkt äußerst anregend. Aber natürlich braucht sie die Ergänzung durch Quellenstudien auf der Mikroebene. Gabriela Signoris Buch ist eine solche Mikrostudie zu „Konsumenten- und Hypothekarkrediten im spätmittelalterlichen Basel“. Die Autorin gibt in vier Kapiteln vornehmlich anhand von Gerichtsbüchern und den darunter fallenden Quellengruppen (Urteilsbücher, Fertigungsbücher, Vergichtbücher/Konfessate, Kundschaften, Frönungen und Verbote, Verrechnungen und Beschreibbüchlein) aus dem 15. Jahrhundert einen Einblick in die vielfältige Kredit- und Schuldenlandschaft der Stadt im ausgehenden Mittelalter. Dabei interessiert Signori vor allem das Verhältnis von „Kredit und Vertrauen“ bzw. von Schriftlichkeit („Buchsystem“) und Vertrauen (vor allem in die Kreditnehmer) bei Kreditgeschäften, welche sie als Gegensätze zu begreifen scheint (18 f. und 137). Unter anderem kritisch anknüpfend an Craig Muldrews Lokalstudie „The Economy of Obligation“ zur englischen Stadt King’s Lynn aus dem Jahr 1998 fragt sie nach der Rolle von Klein- und Kleinstkrediten in der spätmittelalterlichen Stadt – eine Frage, die sie als untererforscht beschreibt. Hierbei rückt sie die ab dem frühen 15. Jahrhundert in großer Zahl schriftlich fixierten Maßnahmen der Stadt Basel gegen säumige Zahler ins Licht. Dazu gehörten der Schuldbann sowie der Sacharrest bzw. die Konfiszierung von Sachgütern, woraus die Autorin auf eine „schlechte Zahlungsmoral“ der Schuldner schließt (19). Im ersten Kapitel mit dem Titel „‚Kredithaie‘ und kleine Fische“ geht es um die Verwaltung der Schulden der „kleinen Leute“ – ein Begriff, den die Autorin aufgrund seines größeren heuristischen Nutzens präferiert gegenüber den „Unterschichten“. In diesem wie auch in den folgenden Kapiteln illustriert sie ihre Befunde anhand einer Vielzahl archivalischer Quellenbeispiele wie den Konfessaten in Vergichtbüchern, also Schuldbekenntnissen vor Gericht, die sie den LeserInnen durch umfangreiche, teils übersetzte Zitate und zum Teil als Faksimiles zugänglich macht. Schuldner und Gläubiger stammten demnach überwiegend aus der Stadt selbst. Zudem, so die Hypothese Signoris, wurden Kredite in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts meist zwischen Verwandten und Angehörigen derselben gewerblichen Gruppe vergeben. Neben Klöstern treten auch Frauen in den Quellen vermehrt (in etwa einem Drittel aller Einträge) als GläubigerInnen sowie als SchuldnerInnen auf. Die Studie zeigt an dieser Stelle, dass bei Zahlungsverzug oft großzügige Regelungen, etwa durch eine Umwandlung in Ratenzahlung, vereinbart wurden.

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Das zweite Kapitel zeichnet anhand von Verbotsbüchern den Weg „vom alten zum neuen Verfahren“ (gemeint sind hiermit die Gerichtsverfahren bei Nichtzahlung) nach und widmet sich den Druckmitteln und Sanktionen, mit denen säumige SchuldnerInnen rechnen mussten: von der Beschlagnahmung (= Frönung und Verbot) und Pfändung von Sachgütern bis hin zur Verbannung bzw. Flucht aus der Stadt. In Gerichtsverfahren wurde demnach vor allem im Interesse der Gläubiger Recht gesprochen. Diese stammten meist aus demselben Milieu wie die Schuldner, wie Signori belegt. Ihnen kamen schließlich auch die Entschädigungszahlungen aus den Zwangsversteigerungen der beschlagnahmten Güter zu. Beim Schuldenmachen forderte die Ehe als wirtschaftliche Einheit und Konsumgemeinschaft, dass Frauen auch für die Schulden ihrer Männer hafteten. Insgesamt konstatiert die Autorin, dass zum Ende des 15. Jahrhunderts nicht nur die Gläubigerlisten in den Gerichtsbüchern immer länger, sondern auch die darin enthaltenen Schuldverzeichnisse immer detaillierter wurden (75). Bei der Interpretation und Kontextualisierung dieser an sich höchst interessanten Befunde bedauert man, dass der Autorin offensichtlich an manchen Stellen die Zeit fehlte für eine ausführliche Synthese bzw. für vergleichende Seitenblicke. Das dritte und strukturierteste Kapitel des Buchs beschäftigt sich mit dem Handel mit Immobilien („Hauswirtschaft“) als „Stützpfeiler des städtischen Wirtschaftsgefüges“ (92). Hier zeichnet Signori den dynamischen und florierenden Häusermarkt der Stadt mit seinem charakteristischen Netz aus engen Verflechtungen liegenschaftsgestützter Kredite und grundherrlicher Anhängigkeiten anhand von Kaufverträgen nach. Hauskäufe waren demnach zugleich häufig mit einem Darlehen verknüpft (immobiliengestützter Darlehensvertrag), das wenig solventen Käufern – meist Ehepaaren – den Kauf erst ermöglichte. Die Käufer eines Hauses mussten folglich nicht nur Darlehen und Zinsen, sondern auch den grundherrschaftlichen Bodenzins, oft an kirchliche Eigentümer, entrichten – für viele eine in der Summe zu große Belastung, die allerdings häufig in eine Umwandlung der Zahlungen in Raten bzw. in eine verlängerte Laufzeit des Kredits mündete. Im Falle zu hoher Altlasten durch Althypotheken führte dies zwar zu einem drastischen Absinken des Kaufpreises, jedoch blieben die Zinszahlungen für die Käufer exorbitant. Im letzten Teil des Buchs skizziert die Autorin die vielfältigen Kreditbeziehungen vierer Baseler Bürger (als Vertreter der so genannten „Reichen“) aus dem 15. Jahrhundert anhand privater Schuld- und Geschäftsbücher. Sie zeigt auf, dass Klein- und Kleinstkredite eine zunehmende Bedeutung im Wirtschaftsgefüge der Stadt hatten, dieses jedoch zugleich zum Ende des Jahrhunderts „immer brüchiger“ wurde. Die vorgestellten Akteure – allesamt Kaufleute – waren integriert in ein vielfältiges Netz aus Vertretern verschiedener sozialer Gruppen, die bei ihnen geringe Summen, häufig unter einem Pfund, aufnahmen. Auch in diesem Kapitel entsteht der Eindruck einer relativ hohen Flexibilität eines auf interpersonellen Beziehungen und Vertrauen und weniger auf Institutionen gegründeten Darlehensgeflechts, in das praktisch alle Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft eingebunden waren. Im Fazit greift Signori nochmals die These Craig Muldrews vom Vertrauen als Grundlage von Kreditbeziehungen vor dem 18. Jahrhundert auf und postuliert, dass die in hoher Zahl überlieferten Gerichtsbücher darauf hindeuten, dass „nicht Vertrauen, sondern Misstrauen, insbesondere bei Geldgeschäften, die zentrale handlungsleitende Kategorie war“ (137). Hier argumentiert sie von der Warte einer aus archivalischem Quellenmaterial zu er-

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Mittelalter

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schließenden lokalen Rechtspraxis aus, die eher diskursorientierte Studien wie diejenigen Fontaines oder Graebers sinnvoll ergänzen können. Ein Anhang mit Schaubildern zu drei Einzelfällen, eine Bibliographie sowie ein Ortsund Personenregister runden diese Fallstudie ab. Tanja Skambraks

Mannheim

J OSEF D OLLE (B EARB .): Das Rechnungs- und Kopialbuch der Kirche St. Jacobi in Göttingen 1416–1603. Einführung und Edition (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 59), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2014, 180 S., (ISBN 978-3-89534-989-8), 24,00 EUR. Wer kennt das nicht – die Schwierigkeiten, erst für ein größeres Projekt Gelder auftreiben und dann über die Verwendung dieser Gelder auf den Pfennig genau eine Abrechnung erstellen zu müssen, die einer Prüfung standhält? Das Projekt: die Errichtung eines Kirchturms zur Vervollständigung, Ergänzung und Erhöhung der Kirche St. Jacobi in Göttingen, die seit 1350 allmählich zu einer großen gotischen Hallenkirche umgebaut worden und seit Ende des 14. Jahrhundert nicht mehr die Burgkapelle einer landesherrlichen Residenz war – auch wenn das Patronatsrecht beim Landesherrn verblieb –, sondern stadtbürgerliche Pfarrkirche mit einer eigenen Kirchenfabrik zur Bauunterhaltung. Die Einnahmequellen der fabrica ecclesiae: Ablassbriefe, private Stiftungen für den Bau, Schenkungen, der Rat der Stadt als Geldgeber und in Göttingen vor allem Leibrenten für Kapital, das aus dem Barvermögen der Kirchenfabrik ausgeliehen wurde, weniger dagegen als an anderen Orten Pacht- und Mieteinnahmen aus Immobilienbesitz. Die Ausgaben während der Errichtung des Turms: in hohem Maße differenzierte Lohnkosten für die diversen Baugewerke und Ausgaben für Werkzeugbeschaffung, wie sie den z. T. sehr detaillierten Arbeitsverträgen mit den verschiedenen Baumeistern zu entnehmen sind, ausgewähltes Baumaterial und Werkzeuge, Lagerung von Baumaterialien, Transportkosten für Steine und Sand, Instandhaltungsmaßnahmen für Gerüste und Hebevorrichtungen, Trinkgelder und Badegelder, Braten zur Fastnacht und Kuchen zu Neujahr. Einen Teil der Baumaterialien konnte der Rat offenbar von nahe gelegenen Steinbrüchen und vom städtischen Ziegelhof beschaffen. Nicht genannt werden Ausgaben für eine Uhr. Anlässlich des Abschlusses der Kirchturmsanierung von St. Jacobi, die zwischen 2009 und 2014 realisiert wurde, zeigt Josef Dolle mit seiner Edition eines zweiteiligen Rechnungs- und Kopialbuches, was die Kirchenprovisoren hier schon im 15. und 16. Jahrhundert geleistet haben, um den baulichen und damit verbundenen finanziellen Herausforderungen zu begegnen und wie sie durch Verschriftlichung von Einnahmen und Ausgaben, wenn auch beileibe nicht im Sinne einer Bilanzierung, die Übersicht behielten. Welche Organisationsleistung ein solches Projekt bis heute erfordert, beschreibt Gemeindepastor Harald Storz in seinem Geleitwort zu diesem Buch in schlichten, aber eindrücklichen Worten: Gerüststellung, Überprüfung des Bauzustandes, Austausch einzelner Steine, Verfugung, konservierende Behandlung der Oberflächen, Erneuerung der Elektrik, Installation einer Blitzschutzanlage, Sanierung der Holzkonstruktion, Neufassung des Fachwerks, Fachwerkausmauerung, Eindeckung, Farbgebung, allgemeine Sicherung der Baustelle, besondere Sicherung der Gerüste und am Ende die Reinigung der Baustelle, um

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nur einige wesentliche Aufgaben zu nennen. Diese wenigen Abschnitte seien durchaus jedem zur Lektüre empfohlen, denn sie verdeutlichen, wie sehr sowohl die Errichtung als auch die Sanierung eines Kirchturms ein logistisches und finanzielles Großprojekt war und ist. Nicht nur im Mittelalter, sondern auch jüngst bedurfte es versierter Handwerker und zahlungskräftiger Sponsoren, deren Engagement in dem hier besprochenen Buch auf der dem Schmutztitel folgenden Seite durch ihre Firmenlogos sichtbar gemacht wird. Was können die beiden komplett edierten Rechnungs- und Kopialbücher aus der Zeit zwischen 1416 und 1603 der Forschung bieten? Arnd Reitemeier verallgemeinert es in seinem Vorwort: Rechnungsbücher erlauben Einblicke in die Verwaltungspraxis, ergänzen die Forschungen zu institutionellen Zusammenhängen, hier zum Niederkirchenwesen, geben Informationen zur Bau- und Architekturgeschichte sowie zur Organisation der Baugewerke und darüber hinaus zur Sozialtopographie und Wirtschaftsgeschichte einer Stadt. Das ist nicht wenig, und Dolle spricht die verschiedenen Aspekte in seiner Einführung an. Kurz und knapp umreißt er die Geschichte von St. Jacobi, erwähnt die Kirchenfabrik und ihre Verwaltung, beschreibt die Handschriften, identifiziert und ordnet die Schreiberhände so weit wie möglich und gibt einen listenförmigen Überblick zum Inhalt. Außerdem widmet er der Rezeption der Schriftstücke durch die Göttinger Chronisten Franciscus Lubecus und Johannes Letzner ein eigenes Kapitel, bevor er umfänglicher auf die Arbeitsverträge der Baumeister und die Finanzierungsformen eingeht. Der Aufbau der Edition erinnert an die Edition von Urkundenbüchern. Die einzelnen Einträge sind zunächst nummeriert; es folgen das Datum, die Nennung der Schreiberhand und der Seite im Original. Ein kurzes Regest schließt sich an, gefolgt vom betreffenden Textabschnitt, wobei die genannten Personen in den Fußnoten erläutert werden. Das Quellen- und Literaturverzeichnis nennt vor allem allgemeine Werke zur Baugeschichte sowie solche, die sich auf die Göttinger Stadtgeschichte beziehen. Vierzehn Seiten umfasst der Index der Orte und der im Rechnungs- und Kopialbuch genannten Männer und Frauen mit einer möglichst genauen sozialen oder familiären Zuordnung und zeigt so die Differenziertheit der städtischen Bevölkerung. Der durchaus umfangreiche Index ausgewählter Sachen und Wörter unterstützt schließlich die Lektüre derjenigen Leser, denen die niederdeutsche Sprache wenig vertraut und das Mittelniederdeutsche erst recht fremd ist. Darüber, wie die Edition von Rechnungsbüchern aussehen sollte, wird derzeit auf Tagungen und in Workshops kritisch und konstruktiv diskutiert. Konsens herrscht darüber, dass Rechnungsbücher Forschenden sowohl inhaltlich als auch in ihrem schriftbildlichen Aufbau verstärkt zur Verfügung gestellt werden sollten, dass aber weder konventionelle Editionen noch reine Digitalisate dafür ausreichen. Tatsächlich hätten bei der vorliegenden Bearbeitung einige Abbildungen dazu beitragen können, buchstäblich zu sehen (und nicht nur zu lesen), welche schriftbildliche Ordnung die Schreiber wählten, ob sie einer einmal gesetzten Routine folgten oder jeweils eigene Systeme des Aufschreibens entwickelten, wie sie einzelne Einträge markierten, Besonderheiten auszeichneten, Absätze voneinander trennten und eine komplette Seite gliederten, wie sicher sie beim Schreiben waren oder wie mit Schreibfehlern umgegangen wurde. Eine Hilfe für weitere Auswertungen wäre wohl auch die tabellarische Präsentation der in der Einführung beschriebenen Ergebnisse gewesen, z. B. eine Erfassung der Stiftungen und Schenkungen nach Kategorien wie Geschlecht oder sozialer bzw. sozialtopographischer Zugehörigkeit, eine Aufstellung

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von ‚Lohnlisten‘ oder eine Erstellung von Materiallisten nach Mengen oder Kosten. Hier eröffnen sich denjenigen, die künftig zur Göttinger Stadtgeschichte arbeiten, noch einige interessante Fragefelder. Zweifellos aber ist es ein großes Verdienst, dass nun ein weiterer transkribierter Text mit den notwendigen editorischen Ergänzungen einer Quellenart zur Verfügung steht, die sowohl pragmatisches Schriftgut par excellence darstellt als auch Untersuchungsmaterial für disziplinübergreifende Themenzusammenhänge bereitstellt, z. B. der Schriftlichkeit, dem Umgang mit Zahlen und Ziffern oder den Übergängen in der Verwendung des Lateinischen und des Deutschen. Da zeigt sich ein Rechnungsbuch dann als etwas ganz Alltägliches und sehr Besonderes gleichermaßen. Gudrun Gleba

Rostock

B ENJAMIN M ÜSEGADES: Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich (= Mittelalter-Forschungen 47), Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2014, 372 S., (ISBN 978-3-7995-4366-8), 45,00 EUR. Dass auch die fürstlichen Höfe des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit wie die von der Forschung intensiv untersuchten Schulen, Universitäten und Klöster bedeutende Orte der Erziehung und Wissensvermittlung waren, fand trotz der Anregungen der Hofund Residenzenforschung bislang kaum Beachtung (vgl. etwa Werner PARAVICINI, Jörg W ETTLAUFER [Hg.]: Erziehung und Bildung bei Hofe, Stuttgart 2002). Der Frage nach den sozialen und kulturellen Prägungen später regierender Fürsten in Kindheit und Jugend durch erzieherische Maßnahmen und Ausbildung galt erst in jüngster Zeit das geschichtswissenschaftliche Interesse. So ist die im Jahr 2013 in Greifswald angenommene und im Folgejahr erschiene Dissertation von Benjamin Müsegades nach der 2012 publizierten Studie Gerrit Deutschländers (Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im ausgehenden Mittelalter [1450–1550]) nunmehr die zweite einschlägige Arbeit, die sich intensiv mit diesen Themen beschäftigt, wobei sich diese beiden Studien konzeptionell und inhaltlich ergänzen. Freilich lassen sich ähnliche Schwerpunkte benennen. So nehmen beide Autoren die Akteure und Praktiken adliger Erziehung im Zeitraum von etwa 1450 bis 1550 in den Blick. Die Bildungsideale, die vor allem in den Fürstenspiegeln beschrieben sind, werden nur am Rande thematisiert. Doch werden oftmals unterschiedliche Akzente gesetzt, die sich in der partiellen Abgrenzung Müsegades’ von der Vorgehensweise und Deutung Deutschländers zeigen. Offensichtlich ist vor allem die unterschiedliche Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand. Die Studie Deutschländers ist durch eine exemplarische Vorgehensweise geprägt und konzentriert sich räumlich eng begrenzt auf die Erziehungspraxis an den Höfen der Anhaltiner, Wettiner und Hohenzollern, die von den Personen getragen wurde, die mit der Ausbildung der jungen Fürsten betraut waren. Die Auswahl der Höfe und fürstlichen Familien bei Müsegades hingegen ist wesentlich breiter angelegt; er hat „auf breitestmöglicher Quellengrundlage ein[en] soziale[n] und regionale[n] Querschnitt durch die Häuser vorgenommen“ (18). Im Zentrum seiner Untersuchung stehen die Habsburger, Hohenzollern, Wittelsbacher, Wettiner und Welfen, ferner die Landgrafen von Hessen, die Markgrafen von Baden, die Herzöge von Pommern-Wolgast, Mecklenburg, Anhalt und Kleve sowie die gefürsteten Grafen von Henneberg-Schleusingen und die Grafen bzw. Herzöge von Württemberg. Die stellenweise fragmentarische Überlieferung führt allerdings dazu, dass der Autor vor

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allem die fürstlichen Familien im Süden und Osten des Reiches betrachtet. Mit Hilfe der Koordinaten „Orte, Protagonisten und Inhalte“ (18) werden Erziehung und Ausbildung der zwischen 1400 und 1526 geborenen und später zur Regierung gelangten oder dafür anfänglich vorgesehenen Fürstensöhne analytisch erfasst. Die Beobachtung von insgesamt 81 Personen wird dabei in personengeschichtlicher Hinsicht eng mit den Hofmeistern und Präzeptoren verknüpft, die als Experten adliger Wissensvermittlung erscheinen, wodurch Müsegades auch auf die Forschungsergebnisse des Göttinger Graduiertenkollegs „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“ Bezug nimmt. Die Analyse von ‚Orten‘, ‚Protagonisten‘ und ‚Inhalten‘ stützt sich zunächst auf die einleitende Präzisierung der Termini ‚Erziehung‘, ‚Ausbildung‘ und ‚Wissen‘ (1–27). Über den Begriff ‚Reichsfürst‘ nähert sich der Autor im nachfolgenden Kapitel („Weltliche und geistliche Söhne – Reichsfürstliche Familienordnungen“, 29–47) der Organisation fürstlicher Familien und umreißt die vielfältigen Rahmenbedingungen, die sich bei der Zuweisung junger Fürsten in den weltlichen oder geistlichen Stand ergaben. Es folgen drei Kapitel, die sich mit den ‚Orten‘ fürstlicher Erziehung befassen. So konnte die Ausbildung beispielsweise am elterlichen Hof erfolgen („Erziehung und Ausbildung am heimischen Hof“, 49–69). Auf der Grundlage von Hofordnungen, Inventaren und Rechnungen kann Müsegades anschaulich den Alltag fürstlicher Kinder skizzieren, ihren Aufenthalt in den Kinderstuben oder Frauenzimmern wie auch ihr personelles Umfeld darstellen. Auch auf die Aufgabe der mobilen Herrschaftsausübung wurde schon im Kindesalter vorbereitet. Die jungen Herren mussten sich Kenntnisse über die wichtigen Orte und Institutionen des Territoriums aneignen, um auf die künftigen Regierungsaufgaben vorbereitet zu sein. Aber Fürstensöhne wurden auch häufig an auswärtige Höfe zur Erziehung gegeben („Aufenthalte an auswärtigen Höfen“, 71–118). Die Wahl des Hofes war dabei durch verschiedene Faktoren bestimmt. Entscheidende Kriterien waren meist der Rang des erziehenden Fürstenhauses, verwandtschaftliche Verbindungen und später auch die konfessionelle Zugehörigkeit. Näher beobachtet werden sodann die Einübung höfischer Verhaltensregeln und standesgemäßer Repräsentation, der Umgang mit den Finanzen und die Knüpfung von Beziehungen zu anderen Adeligen, aber auch die Ausübung diplomatischer Aufgaben. Abschließend nimmt Müsegades die Universitäten als Ausbildungsstätten in den Blick („Fürsten an Universitäten“, 119–131) und fragt nach den Kriterien der Auswahl, dem Repräsentationsverhalten sowie der finanziellen Ausstattung. Mit der weiteren Vertiefung der Untersuchung hinsichtlich der Erzieher und Wissensvermittler („Das personelle Umfeld junger Fürsten“, 133–208) wendet sich Müsegades seinem zweiten Analysefeld zu und konzentriert sich dabei auf die Hofmeister und Präzeptoren, deren Auswahl und Fähigkeiten, ihre Aufgaben und ihre Stellung am Fürstenhof wie auch auf die verschiedenen Karrierewege. Neben diesen beiden für Erziehung und Bildung zentralen Wissensträgern bietet der Autor aber auch Einblicke in andere Personengruppen, die mit der Ausbildung der jungen Fürsten beauftragt waren, wie Fechtmeister, Kapläne oder Edelknaben. Die Betrachtung dieses Personals verknüpft Müsegades geschickt mit dem dritten Teil seiner Arbeit, der sich mit den Wissensinhalten und den Methoden ihrer Vermittlung beschäftigt (209–255). Das in der fürstlichen Ausbildung vermittelte Wissen wird dabei differenziert in ‚Adliges Wissen‘, das die körperliche Erziehung sowie das Wissen über höfische Verhaltensweisen und die Formen der Herrschaftsausübung umfasste, und in ‚Gelehrtes Wissen‘, das vor allem den Erwerb lateinischer und griechischer

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Sprachkenntnisse und bisweilen auch juristisches Wissen betraf. Die Vermittlung weiterer Fremdsprachenkenntnisse, religiösen Wissens und musikalischer Fähigkeiten werden gesondert behandelt. Denn „die einzelnen Korpora sind keinesfalls strikt voneinander getrennt, sondern überschneiden sich in vielfältiger Weise immer wieder“ (251), wie Müsegades betont. Dadurch wurde den jungen Fürsten ein komplexes und vielfältiges Wissen zu Eigen. Dennoch stellt Müsegades fest, dass für den Untersuchungszeitraum vor allem die Vermittlung adeligen Wissens von Bedeutung war, denn „zum Erliegen gekommen scheint nach dem Regierungsantritt in den meisten Fällen die Beschäftigung mit [dem] gelehrten Wissen“ (253). Abgerundet wird die Arbeit durch ein Personen-, Ortsund Sachregister (345–362). Durch den weitgefassten Rahmen der Untersuchung kann Müsegades für die Umbruchsphase des 15. und 16. Jahrhunderts eine weitgehend homogene fürstliche Erziehung und Ausbildung feststellen, die sich nicht wesentlich von der Erziehung und Bildung an anderen europäischen Höfen unterscheidet (264); damit regt er zu weiteren Studien an. Insgesamt ist die Studie aufgrund des reichhaltigen Quellenmaterials und des stringenten Vorgehens ein wertvoller Beitrag sowohl für die Hofforschung als auch für die Wissensgeschichte. Manuel Becker

Kiel

U DO J OBST: Das Franziskanerkloster in Stadthagen. Zwischen Spätmittelalter und Renaissance (1486–1559) (= Schaumburger Beiträge. Quellen und Darstellungen zur Geschichte 2), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2014, 144 S., 56 Abb., (ISBN 978-3-89534-722-1), 14,90 EUR. Im zweiten Band der Schaumburger Beiträge, Quellen und Darstellungen zur Geschichte steht das von den Schaumburger Grafen 1486 gestiftete Franziskanerkloster in Stadthagen im Mittelpunkt. Die reich bebilderte Darstellung zum Minoritenkloster bietet erstmals einen monographischen Überblick über das vergleichsweise kurze Wirken des Ordens in Stadthagen. Nach einem einleitenden Kapitel zur Entstehung und Entwicklung des Franziskanerordens bis ins Spätmittelalter folgt ein Blick auf die Geschichte der Grafen von Holstein-Schaumburg, die als Stifter des Klosters – für den vorliegenden Stiftungshergang ist dies Graf Erich von Holstein-Schaumburg – entscheidenden Einfluss auf das Leben und Wirken des Konvents nahmen. Den Umstand, dass von landesherrlicher Seite bewusst ein der Observanz zugehöriges Franziskanerkloster gegründet wurde, beschreibt Udo Jobst in einem weiteren Kapitel zur Entstehung des Klosters. So erläutert er das Vorgehen des Grafen anhand der Gründungsprivilegien für das beabsichtigte Observantenkloster, die als Suppliken überliefert sind; aber auch der heute nur noch im Chor erhaltene Klosterbau drückte die Intentionen des Stifters aus, eine den strengen Regeln der Observanz entsprechende Architektur zu schaffen. Im Gegensatz zu dem geringen schriftlichen Quellenbestand, der rudimentär überlieferten Architektur sowie der kaum noch greifbaren Ausstattung hat sich vom ursprünglich 150 Exemplare umfassenden Buchbestand der Klosterbibliothek über die Hälfte (85 Bände) erhalten. Unter den Bänden befinden sich auch Werke, die von Stadthagener Mönchen verfasst wurden. Anhand dieses bemerkenswerten Fundus verdeutlicht Jobst den von Beginn an großen Einfluss, den einzelne Konventsmitglieder über Stadthagen hinaus auf den geistigen Diskurs in Fragen

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Rezensionen und Annotationen

der Theologie und der Auseinandersetzung mit der einsetzenden Reformation ausübten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ließ Adolf XIII., der Erzbischof und Kurfürst von Köln war, Stadthagen zu einer Residenzstadt ausbauen, in der auch das Kloster ein geistliches Zentrum bildete. Das Ende des Klosters wurde eingeleitet, als sich der Landesherr Otto IV. durch seine Heirat 1558 und schließlich der städtische Rat den Ideen der Reformation anschlossen. Der Auflösungsprozess zog sich über mehrere Jahre hin. In dieser Zeit blieben einige der Mönche im Kloster, wo es ihnen erlaubt war, die alte Liturgie für sich zu feiern. Bezeichnend ist, dass Otto IV. in dieser Zeit noch Observanten des Klosters zu Hofpredigern ernannte. Erst 1570 zogen die letzten Mönche in das noch bestehende Kloster nach Halberstadt. Es war somit kein Bruch, sondern ein sich langsam gestaltender Vorgang, der auch die Ambivalenz des Landesherrn in der Frage der neuen kirchlichen Orientierung widerspiegelt. Ein besonderes Augenmerk legt der Autor, der sich bereits im Rahmen der Ausstellung „Die Bibliothek des Franziskanerklosters in Stadthagen und die Geisteswelt der Renaissance“ intensiv mit dem überlieferten Bücherbestand beschäftigte, auf die erhaltene Bibliothek. Sie zeigt einen einzigartigen Erhaltungszustand. So sind bei einem Großteil der Bände noch die Signaturen erhalten, wodurch es möglich wird, Einblicke in die Systematik und das Ordnungssystem einer spätmittelalterlichen Klosterbibliothek zu gewinnen. Die teils bewahrten Ketten, an denen die Bücher mit dem Pult verbunden waren, zeugen vom Umgang mit den für den Konvent so kostbaren Stücken: überhaupt erhält man hier durch die Autoren und Titel wichtige Einsichten in die theologisch-geistliche Ausrichtung eines Observantenkonvents zwischen Spätmittelalter und Neuzeit. Das mit Erlaubnis des Landesherrn auf den Ledereinbänden aufgebrachte Wappen der Schaumburger – das Nesselblatt mit den drei Nägeln vom Kreuz Christi – verdeutlicht schließlich eindrücklich die geistige Verbindung des Grafenhauses mit dem Kloster. Hier bietet sich der Forschung, und das zeigt sich mit dieser Darstellung, noch ein lohnenswertes Arbeitsfeld im Bereich des spätmittelalterlichen Buch- und Bibliothekswesen. Eine Genealogie des Jüngeren Hauses Schaumburg, eine Beschreibung von Grabplatten der Schaumburger mit Blick auf das Franziskanerkloster, der Abdruck des bisher unbekannten frühen Gründungsprivilegs von 1484 und schließlich ein Katalog ausgewählter Bände der Bibliothek beschließen die Darstellung zum Franziskanerkloster in Stadthagen. Mit dem Literaturverzeichnis ist dem Leser ein Werkzeug in die Hand gegeben, das es ermöglicht, sich näher mit dem in der Forschung noch unzureichend bearbeiteten Kloster zu beschäftigen. Und hierin liegt auch der besondere Wert dieser redaktionell sorgfältig bearbeiteten Publikation. Trotz der vielfältigen Veröffentlichungen zum Franziskanerorden in unterschiedlichen Disziplinen wie Theologie, Geschichte, Archäologie sowie Bau- und Kunstgeschichte fehlte es an einer Studie zu dieser, wie das vorliegende Buch eindrucksvoll belegt, für die Ordensprovinz wichtigen Niederlassung. Trotz der späten Gründung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nahm der Konvent rasch am kirchenpolitischen Diskurs in einer an Reformideen reichen Zeit teil. Mitglieder des Konvents stiegen zu Leitern der Ordensprovinz auf. Es entstand ein die Stadttopographie nachhaltig mitbestimmender Klosterbau, der seinen Platz auf einem wohl bereits mit der Stadtgründung eingeplanten Areal erhielt. Eingebettet war diese Gründung in einen innerhalb des Hauses Holstein-Schaumburg festzustellenden Kontext weiterer Fundationen von Franziskanerklöstern, wie Hamburg und Kiel (beide gegründet von Adolf IV. um 1230 und

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Frühe Neuzeit

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um 1240). Hier wäre es wünschenswert gewesen, die Parallelen zwischen den Gründungen Adolfs IV. und derjenigen Erichs noch weiter zu vergleichen. Inwieweit sah sich Erich in der Nachfolge und der Tradition von Adolf IV. und förderte somit innerhalb der gräflichen Familie ein historisches Bewusstsein? Die Darstellung belegt erstmals, dass mit dem Bau eines Klosters der Franziskaner in Stadthagen Erich, wie zuvor Adolf in Holstein, im Stammgebiet der Schaumburger ein geistiges Zentrum schuf, das zum einem ganz im Sinne gräflicher Memoria und Seelgerätsstiftungen stand und zum anderen durchaus politisch gedacht war. Auf Basis der hier vom Autor geleisteten Arbeit wird es möglich sein, den in der Forschung immer wieder diskutierten Begriff des Hausklosters unter weiterführenden Fragestellungen, insbesondere der Stiftungstätigkeit nicht nur bei der Memoria, sondern auch im Bereich des Auf- und Ausbaus einer klösterlichen Bibliothek zu untersuchen. In diesem Sinne bietet diese Veröffentlichung eine wichtige Basis, die weitere Studien zum Haus Schaumburg und darüber hinaus zu Formen und Bedingungen spätmittelalterlichen Erinnerns kurz vor der Reformation in wirklich lohnender Weise unterstützen. Katja Hillebrand

Kiel 3. Frühe Neuzeit

P HILIPPE ROGGER , B ENJAMIN H ITZ (H G .): Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich (= Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 49), Berlin: Duncker & Humblot 2014, 269 S., (ISBN 978-3-428-14420-4), 39,90 EUR. Nach den beiden großen Kriegen des letzten Jahrhunderts geriet die unpopulär gewordene Militärgeschichte zeitweilig aus dem Blickfeld der wissenschaftlichen Forschung. Erst in den 1970er Jahren beschäftigten sich sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten wieder mit der Thematik. Einen großen Aufschwung nahm die deutsche Militärgeschichtsforschung in den 1990er Jahren. In jüngerer Zeit dominieren diplomatiegeschichtliche Fragestellungen; sozial-, wirtschafts- sowie kulturgeschichtliche Aspekte zu Alltag und Lebensrealität des einfachen Söldners bilden weitere Schwerpunkte dieses Forschungsfelds. Mit ihnen setzt sich auch die vorliegende Veröffentlichung auseinander. Der Sammelband gibt die Beiträge der gleichnamigen Tagung wieder, die Mitte November 2012 an der Universität Bern stattfand. Die elf Aufsätze beleuchten frühneuzeitliche Söldnerlandschaften und Gewaltmärkte als eine Sonderform von Arbeitsmärkten in historisch-vergleichender Perspektive und wollen auf diese Weise die globale Dimension des Phänomens, das bislang stark von nationalen Narrativen dominiert wurde, stärken. Im Zentrum steht dabei die Frage, warum sich nur ganz bestimmte geographische und politische Räume zu erfolgreichen Rekrutierungsmärkten für Söldner entwickelten. Die Beiträge setzen den Solddienst also in Relation zum politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell strukturierten Raum als einer zentralen Variable historischer Reflexion und entwickeln daraus das Konzept der Söldnerlandschaft(en). Der mehrdimensionale Raumbegriff umfasst Parameter wie Agrarzonen, Verkehr, Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen, aber auch die geopolitische Lage und die Nähe zu Kriegsschauplätzen. All diese Faktoren waren für die Gestaltung der jeweiligen Gewaltmärkte entscheidend. Die Untersuchung erschöpft sich aus diesem Grund nicht in der Produktion ohnehin problematischer Raumdifferenzen,

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Rezensionen und Annotationen

sondern muss verstärkt die Verflechtung der unterschiedlichen Räume einbeziehen. In diesem Zusammenhang ist auch das Verhältnis von Rekrutierungs- und Einsatzgebieten militärischer Arbeitskräfte zu verorten. Die Autoren suchen nicht nur nach den Strukturmerkmalen, die konkrete geographische Regionen zu Söldnerlandschaften werden ließen, sondern auch nach den jeweiligen Gründen, also den Pull- und Push-Faktoren, die Männer in den Solddienst zogen bzw. drückten, so etwa wirtschaftliche Not und Arbeitskräfteüberschuss einerseits, fähige Kriegs- bzw. Söldnerunternehmer, persönliche Netzwerke horizontaler und vertikaler Ausrichtung sowie die Aussicht auf Abenteuer und Beute andererseits. Die Beiträge widerlegen oder relativieren gelegentlich einige dieser traditionellen, teilweise sogar schon zeitgenössischen Einschätzungen, so etwa die des Solddiensts als ‚Überdruckventil‘ für die zu zahlreiche Bevölkerung einer Region (Uwe Tresp für Böhmen und Benjamin Hitz für Luzern). Die herkömmlich genannten Push-Faktoren seien nicht unbedingt gegeben, der Solddienst am Ende des 16. Jahrhunderts „keineswegs ein Unterschichtenphänomen“ (Hitz, 218) gewesen. Wirkliche Motive seien daher eher auf individueller als auf struktureller Ebene zu suchen, denn die Wanderungsentscheidung frühneuzeitlicher Söldner dürfte maßgeblich vom Lebenszyklus des Einzelnen und innerfamiliären Machthierarchien abhängig gewesen sein. Hitz akzentuiert in diesem Zusammenhang die Bedeutung des obrigkeitlich geförderten Söldnermarktes, was sowohl strukturelle als auch persönliche Motive in den Hintergrund treten lasse (221). Der Beitrag von Ludolf Pelizaeus, der der Diskussion um die Motivation für den Kriegsdienst eine weitere Facette hinzufügt, nämlich die der unfreiwillig Eingezogenen, Verurteilten und Gezwungenen, exemplifiziert diese These. Statt Söldnerlandschaften anhand quantitativer Eckdaten zu definieren, schlägt der Tagungsband eine akteurszentrierte Herangehensweise an die Thematik vor. Dadurch rücken zunehmend auch Patronagemärkte und klientelistische Netzwerke ins Blickfeld der Forschung (Beiträge von Heinrich Lang, Benjamin Hitz und Ludolf Pelizaeus). Eine Region zeichnet sich folglich dann als Söldnerlandschaft aus, wenn das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage von verschiedenen Akteuren strukturiert und organisiert wurde. Zu ihnen sind (neben Söldnern) Werber und Militärunternehmer ebenso zu rechnen wie in diesem Geschäft vielfach involvierte Herrschaftsträger. Die Transformation politischer Gebiete zu Söldnerlandschaften war eng mit den Interessen lokaler Eliten verknüpft. Sie partizipierten zudem maßgeblich an den von den Söldnern erbeuteten Gütern (Beitrag von Michael Jucker). Die Frage nach der tatsächlichen Herkunft der Söldner bildet einen weiteren Schwerpunkt des Bandes, der die verschiedenen Beiträge durchzieht (Uwe Tresp, Stefan Aumann/ Holger Th. Gräf, Horst Carl, Marian Füssel, Benjamin Hitz, Stefan Xenakis). Die Globalisierung der europäischen Armeen setzte zwar ethnische Zuschreibungsprozesse und die Ausbildung konkreter Gewaltlabel in Gang; (vermeintliche) Ethnizität wurde zum prestigeträchtigen und lukrativen Markenzeichen. Alle Formationen waren aber spätestens im Einsatzgebiet auf Ergänzung ihrer Mannschaften mittels Rekrutierung (etwa aus der Kriegsregion selbst) angewiesen. Darüber hinaus wurden selbst schon die anfänglichen Werbungen, wie Benjamin Hitz für ‚Schweizer‘ Truppen zeigt, in manchen Fällen nicht unter Schweizern, sondern lediglich „unter eidgenössischem Denkmantel“ (205) vorge-

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nommen. Bezeichnungen fußten somit weniger auf ethnischer Zuschreibung als vielmehr auf charakteristischen Formen der Kriegsführung. Neben der räumlichen müsste die zeitliche Komponente noch systematischer auf die Thematik des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Söldnerwesens angewandt werden. Dafür plädiert auch Michael Sikora in seinem abschließenden kritischen Kommentar. Die Dauer und das Verschwinden von Söldnerlandschaften kommt zwar in einzelnen Beiträgen des Bandes zur Sprache, könnte bei konsequenter Einbeziehung aber das Konzept der Söldnerlandschaften noch gewinnbringender ergänzen. Der nicht optimal redigierte, ansonsten aber rundum gelungene Band stellt in jedem Fall einen beachtlichen Meilenstein in der Entwicklung dieses innovativen Konzeptes dar. Andreas Flurschütz da Cruz

Bamberg

S ILVIO JACOBS: Familie, Stand und Vaterland. Der niedere Adel im frühneuzeitlichen Mecklenburg (= Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns 15), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2014, 374 S., 60 Abb., (ISBN 978-3-41222210-9), 49,90 EUR. Forschungen zur Adelsgeschichte, das zeigt nicht nur der im Folgenden zu besprechende Band, genießen eine unverminderte Konjunktur. Somit erscheint es kaum noch erforderlich, die Hinwendung zu einem solchen Thema aufwändig begründen zu müssen. Gleichwohl bestehen nach wie vor zum Teil gravierende Unterschiede in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der frühneuzeitlichen Adelsgeschichte in den ehemaligen Reichsterritorien. Mecklenburg gehört zweifellos – wenn man das weitgehende Fehlen wissenschaftlich seriöser monographischer Darstellungen als Gradmesser nimmt – dazu. Von daher ist es nur zu begrüßen, dass sich die aus einer Rostocker Dissertation hervorgehende Studie von Silvio Jacobs diesem Desiderat annimmt. Nach einer recht knapp gehaltenen Einführung in den Forschungsstand zur allgemeinen und mecklenburgischen Adelsgeschichte nähert sich der Verfasser in drei großen Kapiteln über die seiner Auffassung nach entscheidenden „Bestimmungsgrößen“ Familie – Stand – Vaterland dem frühneuzeitlichen mecklenburgischen Adel an. Man mag darüber streiten, ob zum Beispiel die Passagen in den Unterkapiteln „Landadel versus Landesherren“ sowie „Landstände und Landtag“ nicht besser im dritten Kapitel („Stand“) statt im nachfolgenden („Vaterland“) platziert gewesen wären. Ebenso würde man Ausführungen über „Verwandtschaft und Freundschaft“ eher in dem der „Familie“ gewidmeten Kapitel vermuten. Dessen ungeachtet handelt es sich bei allen von Silvio Jacobs behandelten Aspekten um wichtige Zugänge zur politischen Partizipation und Lebensweise sowie zum Selbstverständnis der mecklenburgischen Ritterschaft. Familienpolitische Strategien werden ebenso behandelt wie die Karriereoptionen mecklenburgischer Adliger zwischen Rittergut, militärischen und höfischen Diensten, die nach mehreren Kriterien hin vorgeführte innere Differenzierung des Adels, die mannigfachen Wege der Adelsbildung oder die vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten an der Landespolitik. Etwas eingehendere Ausführungen hätte man sich allerdings zu den wirtschaftlichen Grundlagen gewünscht. Lediglich auf drei Seiten (172–174) wird zum Beispiel auf die Folgen des Ausbaus der Gutswirtschaft für die Einkommenssituation der mecklenburgischen Ritterschaft eingegangen. Auch die Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges, der bekanntlich gerade in den mecklenburgischen Herzogtümern zu einer ver-

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Rezensionen und Annotationen

gleichsweise gravierenden Destabilisierung der politischen und sozialen Ordnung führte, finden nur am Rande – vornehmlich vor dem Hintergrund der inneradligen Konflikte – Berücksichtigung. Zu würdigen sind hingegen die mehr als nur illustratives Beiwerk darstellenden Beispiele der materiellen Adelskultur (Epitaphien, Patronatsgestühl, Inschriften u. v. m.). Hervorzuheben gilt es weiterhin, dass des Öfteren (vor allem im Kapitel 3) der Blick über die Grenzen gewagt wurde, so dass die vielfältigen Verflechtungen und Transferbeziehungen des mecklenburgischen Adels zu anderen Adelsgesellschaften im Reich und gelegentlich auch darüber hinaus quellennah und repräsentativ vorgeführt werden können. Etwas problematisch erscheint allerdings die häufig fehlende chronologische Differenzierung. Nicht die Tatsache, sich vorab für einen vornehmlich inhaltlich-strukturellen Gliederungsansatz entschieden zu haben, wird man dem Verfasser zum Vorwurf machen können. Gleichwohl hätte man sich jedoch bei der Behandlung bestimmter Aspekte, etwa der Adelskultur oder der Beschreibung des landesherrlich-landständischen Verhältnisses, gewünscht, stärker die Veränderungen zu benennen. Die Belege werden in den jeweiligen Unterkapiteln teilweise recht wahllos aus den drei frühneuzeitlichen Jahrhunderten gewählt, ohne dass immer auf etwaige Entwicklungen innerhalb dieses Zeitraumes eingegangen wird. So könnte bei manchem Leser der unzutreffende Eindruck eines unwandelbaren Adels-Seins entstehen, was kaum der Intention des Autors entsprechen dürfte. Das Fazit fasst die in den drei Hauptkapiteln zusammengetragenen Einzelbeobachtungen bündig zusammen, bleibt aber dennoch etwas konturenschwach. Man wünscht sich eine stärkere Einbindung in übergeordnete Zusammenhänge, was nicht zuletzt auch deshalb angeraten erscheint, weil die mecklenburgische Ritterschaft Teil einer überregional aufgestellten Adelsgesellschaft war. Profitiert hätten diese Passagen deshalb – wie im Übrigen auch andere Teile der Arbeit – von einem komparativen Zugang. Die Stärken der Studie liegen zweifelsohne in der Aufbereitung und Präsentation einer Vielzahl von Quellenbelegen, auch zu scheinbar entlegenen Facetten der adligen Lebenswelt, und den daraus abgeleiteten Einsichten, die unser Wissen über die mecklenburgische Ritterschaft insgesamt bereichern. Nicht ganz erfüllt sie hingegen die Erwartungen an eine an den großen Linien der deutschen Adelsgeschichte orientierte und auch die Entwicklungen „langer Dauer“ einbeziehende Darstellung der Geschichte des mecklenburgischen Adels. Frank Göse

Potsdam

R EINHARD BAUMANN: Anna von Lodron. Ein adeliges Frauenleben in der Reformationszeit (= Schlern-Schriften 365), Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2015, 144 S., 42 Abb., 3 Tafeln, 3 Ktn., (ISBN 978-3-7030-0846-7), 27,00 EUR. Das reich bebilderte Buch ist als Biographie einer adligen Dame angelegt, deren Name in den Geschichtsbüchern bislang kaum eine Rolle gespielt hat. Der Autor stieß auf sie im Rahmen seiner langjährigen Beschäftigung mit dem bekannten, seit dem 19. Jahrhundert zum „Vater der Landsknechte“ und deutschen Helden stilisierten Georg von Frundsberg (1473–1528): Anna war dessen zweite Gemahlin. Nach kurzer Witwenzeit heiratete

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sie 1533 dann in zweiter Ehe Erasmus Schenk von Limpurg (1502–1553) und verstarb schließlich 1556 in Obersontheim. Gegliedert ist die Darstellung nach chronologischen Aspekten: Baumann beginnt mit Annas Jugend im südlichen Trentino, wobei er hauptsächlich die Rolle der Familie Lodron knapp und prägnant beschreibt. Darauf folgen Ausführungen zu Annas Zeit an der Seite Georg von Frundsbergs; dabei findet ihre Rolle in der Verwaltung der umfangreichen Herrschaften, die sie während der zahlreichen Kriegszüge und Amtsgeschäfte ihres Mannes übernahm, ebenso Erwähnung wie die allmähliche Annäherung der Frundsbergerin an reformatorisches Gedankengut, ihre Aktivitäten im Bauernkrieg ebenso wie ihr Verhältnis zu ihren Stiefsöhnen. In den anschließenden Abschnitten zu Annas Zeit als Schenkin von Limpurg bilden einerseits Ausführungen zur Reformation in Limpurg einen Schwerpunkt – hier kann Baumann ältere Ansichten, nach denen Anna beim alten Bekenntnis geblieben sei und die Reformationsbemühungen ihres eher unentschiedenen Gemahls noch behindert hätte, revidieren. Andererseits widmet der Autor erneut ihrer Rolle bei der Verwaltung der Herrschaften und ihren Bemühungen um die Absicherung ihrer Tochter Siguna von Frundsberg besonderes Augenmerk. Ein abschließender Abschnitt ist mit „Nachwirkungen“ betitelt: Unter dieser Überschrift verweist der Verfasser sowohl auf die Rolle von Annas Kindern und Enkeln in der Region als auch auf den Umstand, dass ihre Person in den letzten Jahrzehnten im Rahmen historischer Stadtfeste in Mindelheim, die Georg von Frundsberg als lokalen „Helden“ darstellen, zunehmende Beachtung gefunden hat. Anna fand als Figur Eingang in Festspiele, Festzüge und Ausstellungen und wurde 2012 sogar mit einem eigenen Denkmal auf der Mindelburg gewürdigt. Vor allem Letzteres dürfte nicht zuletzt einem Umstand geschuldet sein, den auch Baumann als Beweggrund für die Abfassung seines Textes anführt: In den letzten zwanzig Jahren haben adlige Frauen in der historischen Forschung zunehmend Aufmerksamkeit erfahren, und eben nicht nur Fürstinnen und Regentinnen. Zwar spiegelt die vorliegende Studie diesen Umstand insofern kaum wider, als wenig von diesen neuen Forschungen zur Kenntnis genommen wurde, was auch zur Folge hat, dass es kaum Bezüge zu anderen Frauen, kaum Einordnungen der dargestellten Person gibt. Verdienstvoll ist diese Biographie dessen ungeachtet insofern, als es sich um den Versuch einer Darstellung zu einer der zahllosen adligen Damen handelt, für die kein größerer Nachlass, keine Sammlung von Briefen oder ähnlichen Quellen überliefert ist. Über das Wirken der Anna von Lodron berichten nur einzelne Schreiben an Institutionen und Fürsten sowie einzelne Rechtsdokumente wie die beiden Eheverträge, das Testament von 1541, die Verpfändung ihres Schmucks von 1526 zur Deckung eines Darlehens an Frundsberg usw. Dessen ungeachtet gelingt es dem Autor, ihren Lebensweg recht detailliert nachzuzeichnen und zumindest an einigen Punkten auch das eigenständige Wirken der Freifrau als Verwalterin, als Mutter und als Unterstützerin der Reformation nachzuvollziehen. Dabei schreibt er zugleich ein Stück regionaler Geschichte, denn Anna wird als Tochter und als Ehefrau stets in die Familie eingeordnet und so etliches zur Geschichte der Lodron, der Frundsberg und der Schenken von Limpurg in die Darstellung aufgenommen. Bleibt angesichts der eher dürftigen Quellenlage die Person Anna von Lodron selbst auch relativ blass, so skizziert Baumann doch mit seiner Studie ein adliges Frauenleben, das als repräsentativ für viele andere Biographien adliger Frauen des 16. Jahrhunderts gelten kann. Katrin Keller

Wien

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G ÖTZ A DRIANI , A NDREAS S CHMAUDER (H G .): 1514. Macht – Gewalt – Freiheit. Der Vertrag von Tübingen in Zeiten des Umbruchs, Tübingen: Stiftung Kunsthalle 2014, 512 S., 360 Abb., (ISBN 978-3-7995-0550-5), 39,95 EUR. Der Tübinger Vertrag vom 8. Juli 1514 war das Ergebnis von Verhandlungen, die Herzog Ulrich von Württemberg unter Vermittlung von Delegierten des Kaisers und benachbarter Reichsstände mit der als Landschaft organisierten bürgerlichen Elite seines Landes führte. Den Anlass dieser Verhandlungen bildeten eine akute Finanzkrise, die Ulrich bei seinem Regierungsantritt 1503 geerbt, jedoch durch eine die Mittel des Herzogtums übersteigende Repräsentation und Militärpolitik verschärft hatte, sowie der Widerstand des Gemeinen Mannes in Württemberg gegen die Herrschaftsintensivierung, der sich im Sommer 1514 im Aufstand des Armen Konrad Bahn brach. Im Gegenzug für die Verpflichtung, herzogliche Schulden im Umfang von über 900 000 Gulden zu übernehmen, sicherten sich die württembergischen Stände ein Mitspracherecht in zentralen Politikbereichen (Kriegswesen, Landesverteidigung, Veräußerung von Territorialbesitz). Langfristig wichtige Verbesserungen für die Untertanen waren die Zusagen des „freien Zugs“, also des Rechts auf Auswanderung, sowie eines ordentlichen Gerichtsverfahrens in Strafprozessen. Zugleich wurde eine „Empörerordnung“ erlassen, welche die Grundlage für die Niederschlagung des Armen Konrad bildete und eine klare Grenzziehung zwischen der bürgerlichen Elite und den von den Verhandlungen ausgeschlossenen Bauern und unteren Schichten markierte. Aufgrund seines Vertragscharakters schließlich musste der Vertrag von jedem neuen württembergischen Herzog vor der Huldigung der Untertanen bestätigt werden. Dieses für die Herrschaftsgeschichte Württembergs bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein grundlegende und für die Geschichte des Ständewesens in Mitteleuropa bemerkenswerte Dokument stand im Mittelpunkt einer großen Ausstellung, welche die Kunsthalle Tübingen anlässlich der 400. Wiederkehr des Vertragsschlusses veranstaltete. Wie aber lässt sich ein Verfassungsdokument angemessen visualisieren? Von den meisten am Vertragsschluss beteiligten Personen existieren weder Porträts noch aussagekräftige materielle Zeugnisse, die Vertragsverhandlungen haben keinen Niederschlag in Bildmedien gefunden, und selbst Ulrich von Württemberg trat im Vergleich mit den Habsburgern, Wittelsbachern und Wettinern wenig als Kunstmäzen in Erscheinung. Die Macher der Ausstellung und des hier vorzustellenden Katalogs versuchten dieses Problem zu lösen, indem sie das Datum 1514 in den größeren Kontext einer mitteleuropäischen Auf- und Umbruchszeit stellten. Dementsprechend beginnt der Katalog mit zwei umfangreichen Kapiteln über „Die Erforschung der Welt um 1514“ sowie „Die gesellschaftlichen Verhältnisse um 1500“. Vor allem das Erstere spannt einen weiten Bogen von Hartmann Schedels Weltchronik und Sebastian Brants „Narrenschiff“ über Niccolò Machiavelli und Thomas Morus bis zu Leonhart Fuchs’ Kräuterbuch. Gleichsam als Kronzeuge für die Innovationsfähigkeit und künstlerische Meisterschaft der Zeit erscheint Albrecht Dürer, der mit zahlreichen Beispielen seines graphischen Werks vertreten ist. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die visuelle Repräsentation Kaiser Maximilians I., der bekanntlich wie kein anderer Herrscher seiner Zeit die medialen Möglichkeiten der Selbstinszenierung zu nutzen verstand. Mit Dürers „Großem Triumphwagen“, acht Blättern Hans Burgkmairs d. Ä. aus dem „Weiß-Kunig“ und zahlreichen Blättern aus dem grandiosen „Triumphzug Kaiser Maximilians I.“ ist dieses Thema ausgesprochen promi-

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nent vertreten (217–265). Nun lässt sich natürlich gegen Dürer, Burgkmair & Co. wenig sagen, aber die Bezüge zum Tübinger Vertrag wirken doch recht bemüht. Die Feststellung Götz Adrianis, dass der Vertrag und die graphischen Meisterwerke Dürers „gleichzeitig formulierte Symptome der Infragestellung überkommener Konventionen“ seien (269), ist jedenfalls denkbar allgemein. Die Frage, die sich daran anknüpft – nämlich warum die damals in Nürnberg, Augsburg, Innsbruck oder Wittenberg so ausgeprägten künstlerischen Impulse in Stuttgart und Tübingen so wenige Spuren hinterlassen haben – wird im Katalog hingegen nicht beantwortet. Überzeugender fällt die Situierung des Tübinger Vertrags in der württembergischen Landesgeschichte aus. Eine Reihe kurzer Aufsätze informiert prägnant über Protagonisten, Inhalt und Wirkung des Vertrags (Götz Adriani, Andreas Schmauder), die Aufstandsbewegung des Armen Konrad (Andreas Schmauder), den Tübinger Stadtvogt Konrad Breuning als zentralen Repräsentanten der bürgerlichen Elite Württembergs (Sigrid Hirbodian), das Verhältnis Herzog Ulrichs zu Kaiser Maximilian und zum Schwäbischen Bund (Franz Brendle), die habsburgische Herrschaft in Württemberg nach der Vertreibung Ulrichs durch den Bund im Jahre 1519 (Matthias Pfaffenbichler), sowie Ulrichs Restitution im Jahre 1534 und den anschließenden Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens (Franz Brendle). Ausgesprochen informativ ist auch der abschließende Beitrag von Dieter Langewiesche über den Tübinger Vertrag in der württembergischen Verfassungsdiskussion des frühen 19. Jahrhunderts (477–481). Während die sog. Altrechtler um den Tübinger Vertrag eine „Geschichtskonstruktion“ entwarfen, „die altständische korporative Rechte in modernes Verfassungsdenken überführte“ (478), betrachteten Kritiker wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel eben diese altständischen Rechte als Hindernis beim Aufbau eines modernen Verfassungsstaates. Wertvoll sind überdies die Neutranskriptionen des Vertragstexts und der darüber ausgestellten Urkunde. Insgesamt lässt sich dieser Katalog also als hybrides Gebilde beschreiben, das einerseits profund in ein zentrales Thema der württembergischen Landesgeschichte einführt, andererseits eine Leistungsschau der mitteleuropäischen Renaissancekunst um 1500 bietet. Über die Frage, wieviel das eine tatsächlich mit dem anderen zu tun hat, kann man trefflich streiten. Mark Häberlein

Bamberg

J OHANNES H ASSELBECK: Die Folgen des deutschen Bauernkriegs im Hochstift Bamberg (= Bamberger Historische Studien 7; Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 14), Bamberg: Bamberg University Press 2012, 257 S., (ISBN 978-3-929341-35-5), 19,00 EUR. Der Bauernkrieg gehört zu den klassischen ‚Erinnerungsorten‘ der deutschen Geschichte und erfuhr seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Interpretationen. Besonders intensiv wurden u. a. die langfristigen Folgen in der deutschen Geschichtswissenschaft diskutiert, etwa die These einer anschließenden Disziplinierung des Adels oder der Verrechtlichung sozialer Konflikte zwischen Untertanen und ihren Obrigkeiten. Die unmittelbaren, zeitnahen Folgen des Aufstandes in den einzelnen Territorien fanden dagegen vergleichsweise weniger Beachtung. Der Verfasser der vorliegenden Studie hat sich im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Bamberg dieser Aufgabe gestellt und die konkreten Maß-

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nahmen der Obrigkeiten im Hochstift Bamberg nach der Niederschlagung des Aufstandes untersucht. Seine Ergebnisse, die auf einer akribischen, umfangreichen Quellenrecherche beruhen und für den Rahmen einer studentischen Abschlussarbeit zweifelsohne herausstechen, bieten aufschlussreiche Einblicke in das Krisenmanagement des geistlichen Staates im direkten Anschluss an die Jahre 1524/25. Konzeptionell wird dabei zwischen fünf obrigkeitlichen Entscheidungsträgern unterschieden: dem Bischof, dem Domkapitel, dem Adel, dem Schwäbischen Bund sowie dem Hofrat des Hochstifts. So sehr diese analytische Trennung zwischen den Handlungsträgern im Hinblick auf die Herrschaftsstruktur des territorialen Raumes überzeugt, so ist doch die getroffene Differenzierung gegenüber dem hochstiftischen Ratskollegium nicht gänzlich stringent herausgearbeitet. Offen bleibt die Frage nach dem Handlungsspielraum des weltlichen Rates der Hochstiftsregierung bei den getroffenen Maßnahmen, der als Akteur gegenüber den anderen Herrschaftsträgern unterbelichtet bleibt. Sehr gut gelungen ist dagegen der regionale Vergleich, der, wo immer dies anhand der Literatur möglich ist, insbesondere mit dem Herzogtum Württemberg und den benachbarten Hochstiften Würzburg und Eichstätt gezogen wird und dadurch das gewählte Fallbeispiel erhellend kontextualisiert. Dies gilt in verschiedener Hinsicht: zum einen indem das Ausmaß der Bestrafungsaktionen verglichen wird, zum anderen indem die unterschiedlichen Wirkungsweisen der territorialen Zersplitterung verdeutlicht werden. Während z.B. der Würzburger Bischof die Situation dazu nutzte, den Adel unter seine Landesherrschaft zu stellen, unterließ der Bamberger Fürstbischof vergleichbare Versuche zum Ausbau seiner eigenen Machtposition, obwohl hier ebenso die Befugnisse über die Hochgerichtsbarkeit seit dem 15. Jahrhundert zwischen dem Hochstift und den Rittern heftig umstritten waren. Insgesamt standen zwei Ziele auf Seiten der Obrigkeiten im Vordergrund: die Bestrafung der aufständischen Untertanen und die Kompensation der entstandenen Schäden. Der Bestrafungsprozess wird nach den verschiedenen Strafarten, die dem frühneuzeitlichen Staat zur Verfügung standen, detailliert dokumentiert. Als rechtliche Grundlage wurde dazu in Bamberg in erster Linie auf die Landfriedensgesetzgebung unter Berufung auf die Hochgerichtsbarkeit zurückgegriffen. Im Vertrag von Forchheim vom 3. Juli 1525 fand man erstaunlich rasch, fast unmittelbar nach dem Abrücken der Truppen des Schwäbischen Bundes, eine tragfähige Vereinbarung über das weitere Vorgehen hinsichtlich der Strafkompetenz (wobei der Adel die Nichtbeteiligung an Strafen aus dem Bereich der Hochgerichtsbarkeit hinnahm), der Entschädigung der Ritterschaft für ihre zerstörten Burgen und Güter sowie der Kompensationsleistungen an das Domkapitel und den Bischof. An allererster Stelle stand die Restituierung der Verfassungsordnung, die durch den Huldigungsritt des Bischofs Weigand von Redwitz im Sommer 1525 erfolgte. Mit der erneuten Huldigung wurde der Übergang vom Zustand des Aufstandes zurück in die alte, als rechtmäßig gedeutete Beziehung zwischen Herrschaft und Untertanen vollzogen. Dabei wurden nicht nur neue Huldigungsurkunden ausgestellt, sondern auch nach den Anführern gefahndet, Verhöre durchgeführt und vereinzelt Hinrichtungen vollzogen. Komplexer gestaltete sich die Umsetzung der geforderten Kompensationsleistungen, die insbesondere zum Wiederaufbau der zerstörten Adelssitze verwendet werden sollten. Hier zeigen sich sehr deutlich die Grenzen der Funktionsfähigkeit territorialer Besteuerungsversuche im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Akribisch und sehr erhellend werden hier vom Verfasser die verschiedenen Abgabenformen und Konzepte zwischen vermögensorien-

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tierten und personengebundenen Ansätzen erläutert, wobei die Entschädigungszahlungen vom Schuldmaß der einzelnen Untertanen abhängig gemacht werden sollten, was einen kaum befriedigend zu lösenden umfangreichen Untersuchungsprozess in der Bevölkerung voraussetzte. In einem abschließenden Resümee werden die Motive der Obrigkeiten nochmals in einer regional vergleichenden Darlegung gebündelt und in den bisherigen Forschungskontext gestellt: Weniger der Wunsch nach Rache an den Anführern stand im Vordergrund als vielmehr die Leistung von Schadensgeldern und damit die materielle Kompensation. Insgesamt wird für das Hochstift Bamberg eher eine moderate Vorgehensweise beobachtet, die sich z. B. in einer deutlich geringeren Zahl an Hinrichtungen als in anderen Territorien ermessen lässt. Diese Befunde regen zu weiteren regionalen und lokalen Fallanalysen an! Sabine Ullmann

Eichstätt

JAN M ARTIN L IES (H G .): Dokumente zu den politischen Beziehungen Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg, 1528–1541 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 46/13), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2014, 214 S., (ISBN 978-3-942225-26-7), 28,00 EUR. Jan Martin Lies lässt seiner 2013 publizierten Dissertation „Zwischen Krieg und Frieden. Die politischen Beziehungen Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg 1534–1541“ (vgl. die Rezension von Axel Gotthard in: sehepunkte 15 [2015], Nr. 1 [15.01.2015], URL: http://www.sehepunkte.de/2015/01/24181.html) einen schmalen Quellenband folgen, in dem er 23 Quellen präsentiert, die die „Wandlungen landgräflicher Politik im Verhältnis zu den Habsburgern vor dem Hintergrund der vielfältigen und sich verändernden Problemstellungen im Reich während des angesprochenen Zeitraums“ (28) nachvollziehbar machen sollen. Im Vorwort wird als Auswahlkriterium namhaft gemacht, dass es sich um „wichtige Dokumente“ handle, die der „Forschung bisher gänzlich unbekannt waren oder wenig rezipiert worden sind.“ Eine Aussage, der man zweifellos zustimmen kann, die aber als Begründung der Quellenauswahl wenig tragfähig ist, gilt sie doch sicherlich für mehr als 90 Prozent der auf uns gekommenen Quellen des ausgehenden vierten und beginnenden fünften Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts. Dass es sich um die „aussagekräftigsten“ Quellen handle (28), ist daher mehr eine Setzung denn eine verifizierbare Behauptung. Eine kurze Einleitung (9–27) ist bestrebt, das präsentierte Quellenmaterial in seinem historischen Kontext zu verorten. In knappen Strichen zeichnet Lies die hessische Reichspolitik in ihren Grundzügen nach. Dabei nimmt er nicht immer den aktuellen Forschungsstand zur Kenntnis, etwa zu den in den 1530er Jahren sehr differenzierten Formen gesamtprotestantischer Interessenwahrung im Reich (vgl. z. B. Christopher O CKER: Church Robbers and Reformers in Germany 1525–1547: Confiscation and Religious Purpose in the Holy Roman Empire, Leiden u. a. 2006). Die Quellen selbst werden, jeweils eingeleitet durch ein Kopfregest, im Volltext kritisch ediert und mit einem Sachkommentar versehen. Sechs Themenbereichen, die durchschnittlich in drei bis vier Aktenstücken vorgestellt werden, ordnet Lies die von ihm herausgegebenen Quellen zu: (1) Dokumente, die die „zunehmend aggressive antihabsburgische Politik des Landgrafen zwischen 1528 und 1534“ veranschaulichen sollen; (2) Quellen zum württembergischen Feldzug Hessens, der

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in die Restitution Herzog Ulrichs mündete (1534); (3) Dokumente, die, wie wenig präzise formuliert wird, „in einzigartiger Weise die Verwobenheit juristischer Fragen mit den politischen Angelegenheiten im Reich und der Religionsfrage“ (28) verdeutlichen, d. h. Dokumente, die die Interaktion mit Reichsvizekanzler Held auf dem Schmalkaldener Tag des Jahres 1537, der freilich weit mehr als nur ein Tag der schmalkaldischen Bündner war (Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530–1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002, 240 f.), beleuchten und dessen dann tatsächlich ausschließlich auf der Ebene der schmalkaldischen Bündner angesiedelte Konsequenzen, die beginnende Militarisierung des Bundes, dokumentieren; (4) Quellen, die der „Verdeutlichung der angespannten Lage“ (29) im Reich der ausgehenden 1530er Jahre belegen sollen, de facto freilich, denn hierfür steht die Entsendung von Johann Naves durch Königin Maria 1538, mehr erste Bemühungen, diese Spannungen abzubauen, illustrieren; sowie (5) und (6) Quellen, die die forcierte politische Annäherung Philipps an die Habsburger im Vorfeld des Rückkehr Kaiser Karls V. ins Reich (1541) erhellen. Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Zwar ist die Edition handwerklich sauber gearbeitet und jede Quellenedition, die mehr Licht in das am schlechtesten erforschte Dezennium der Reformationsgeschichte des Reiches wirft, ist zu begrüßen; die vorliegende aber leidet darunter, dass die Kriterien, die der Quellenauswahl zugrunde liegen, unklar bleiben. Um nur ein Beispiel zu geben: Die für die hessische Reichsreligionspolitik zentralen Verhandlungen in Schweinfurt und Nürnberg 1532 finden leider keine Beachtung, wiewohl nicht zuletzt sie es waren, die für das Verständnis der hessischen Württembergpolitik unerlässlich sind. Gabriele Haug-Moritz

Graz

M ARK H ÄBERLEIN , M AGDALENA BAYREUTHER: Agent und Ambassador. Der Kaufmann Anton Meuting als Vermittler zwischen Bayern und Spanien im Zeitalter Philipps II. (= Documenta Augustana 23), Augsburg: Wißner-Verlag 2013, 256 S., (ISBN 978-389639-921-2), 20,00 EUR. Um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist eine große Freude, dass dem Augsburger Anton Meuting endlich eine Monographie gewidmet wurde. Denn dieser rührige und vielfältig tätige schwäbische Kaufmann hinterließ seine Spuren in vielen Archiven Europas und war es wirklich wert, einmal näher untersucht zu werden. Vielen Kennerinnen und Kennern des 16. Jahrhunderts ist der Held der vorliegenden Darstellung allerdings unter dem von ihm selbst verwendeten Namen Anthonio Meiting bekannt. Das sieht man selbst im vorliegenden Buch, in dem einer seiner eigenhändigen Briefe abgebildet ist (145). Die etwas schnoddrige Erklärung, der Protagonist der Studie werde so genannt, weil der Rest der Augsburger Kaufmannsfamilie in der Literatur unter dem Namen Meuting eingeführt ist (12, Anm. 8), befriedigt nicht wirklich. Denn der im vorliegenden Buch Dargestellte ist in der Literatur mehrheitlich als Meiting etabliert. Möglicherweise haben die Autorin und der Autor die Schreibung ohnedies erst spät geändert, denn gleich im ersten Absatz der Einleitung (9) heißt er noch Meiting, und das ist kein Direktzitat! Doch um die Verwirrung nicht noch zu vergrößern, wird auch in der vorliegenden Besprechung (unter Protest) die mehrheitlich im Buch vorkommende Namensform Meuting verwendet.

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Um dessen Person und seine Verbindungen sowohl zum Münchner als auch zum spanischen Hof besser kontextualisieren zu können, wird im ersten Hauptabschnitt des Buches allgemein auf die Augsburger Kaufleute in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eingegangen, auf ihre Beziehungen zu Spanien und zu den Herzögen von Bayern sowie auf die Kontakte zwischen Bayern und der spanischen Monarchie. Der zweite Hauptabschnitt beschreibt die Person Meutings bis 1556. Der dritte widmet sich schließlich seinen Aktivitäten zwischen Süddeutschland und der Iberischen Halbinsel. Genau berichtet werden seine Tätigkeiten als Kaufmann, als Vermittler von Gütern aus Spanien, aber auch als zweimaliger Botschafter des bayerischen Herzogs am Hof Philipps II. Schließlich werden in einem etwas kürzeren Abschnitt Meutings Vermittlertätigkeiten charakterisiert. Das Buch, das im Wesentlichen chronologisch aufgebaut ist, bietet eine wahre Fundgrube an Details zu allen Formen des Kontakts zwischen Bayern und Spanien während der Regierungszeit Philipps II. Störend bei der Lektüre sind allerdings die zahlreichen frühneuhochdeutschen Direktzitate im Fließtext. Erst recht gilt dies für spanische Textpassagen. Denn nicht alle Leserinnen und Leser werden der spanischen Sprache mächtig sein, sodass ihnen leicht Informationen vorenthalten werden können. Hier wäre es wohl besser gewesen, im Fließtext die Inhalte resümierend darzustellen und wichtige Direktzitate in den Fußnoten zu bringen. Neben der Form der Darstellung sind an die Autorin und den Autor auch die folgenden inhaltlichen Kritikpunkte zu adressieren: Da besteht zum Beispiel ein Problem mit den spanischen Personennamen. So hatte Francisco Hurtado de Mendoza, der zeitweise als spanischer Botschafter am Kaiserhof wirkte, den Titel eines Conde de Monteagudo. Im Buch wird er dagegen mit verschiedenen Titeln bedacht. Da kann er Herzog sein (126, Anm. 381), was er eindeutig nicht war, da wird er aber auch korrekt als Graf bezeichnet (139, Anm. 416), oder, was noch korrekter ist, als Conde (150), wie ihn der Rezensent in seinen Arbeiten tituliert, auf die der Text an dieser Stelle zurückgreift. Solche Dinge müssten spätestens beim Erstellen des Registers auffallen. Andere Fehler mögen auf Flüchtigkeiten zurückzuführen sein. So muss es Antonio Pérez heißen, nicht Perez (183). An anderen Stellen werden spanische Akzente durchaus korrekt gesetzt, so bei Pedro de Fajardo, Marqués de los Vélez. Allerdings war dieser zwischen 1572 und 1574 nicht Botschafter am Kaiserhof (198), sondern „nur“ Sonderbotschafter – Botschafter war Monteagudo –, und versuchte die längste Zeit in Polen die Wahl Heinrichs von Valois zum König zu verhindern. Im diplomatischen Dienst Philipps II. tätig war auch Juan de Borja, nicht Borjas (133 etc.). Nicht ganz verständlich ist, warum bei der Korrespondenz von Hans Khevenhüller, dem langjährigen kaiserlichen Botschafter in Spanien, nur seine kopial überlieferten Briefe aus dem Oberösterreichischen Landesarchiv in Linz verwendet wurden. Die Originale im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Staatenabteilungen, Spanien, Diplomatische Korrespondenz, Kartons 7 bis 12) sind hier viel vertrauenswürdiger und es verstecken sich dort weitere Informationen über Meuting. Daneben gibt es Ungenauigkeiten oder Fehler, die nicht nachvollziehbar sind. Dazu einige Beispiele: So war das Herzogtum Bayern wohl kaum der „westliche“ Nachbar der Reichsstadt Augsburg (31). Neusohl/Banská Bystrica lag im 16. Jahrhundert eindeutig in Oberungarn. Die Stadt damals als „slowakisch“ zu bezeichnen (22), ist ahistorisch. Und

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1519 von einer Kaiserwahl Karls V. zu sprechen (20), erscheint dem Rezensenten etwas verwegen. Die Kritikpunkte wurden in der Hoffnung formuliert, dass das Buch eine baldige Neuauflage erleben wird. Denn Anton Meuting war einer der wirklich wichtigen Vermittler zwischen der iberischen Welt und jener des Heiligen Römischen Reichs. Allen am Buch Beteiligten muss daher ausdrücklich gedankt werden, dass sie zur Klärung der Bedeutung dieser Persönlichkeit wesentlich beigetragen haben. Friedrich Edelmayer

Wien

T HOMAS K IRCHNER: Katholiken, Lutheraner und Reformierte in Aachen 1555–1618. Konfessionskulturen im Zusammenspiel (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 83), Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 507 S., (ISBN 978-3-16-153634-2), 94,00 EUR. Im Mittelpunkt der zu besprechenden Abhandlung, einer an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen eingereichten Dissertationsschrift, die von Christine Roll betreut wurde, stehen jene im frühneuzeitlichen Aachen lebenden Menschen, die sich zu einer der drei großen Konfessionskirchen im Reich bekannten. Die begriffliche Dreiteilung in Katholiken, Lutheraner und Reformierte fand allerdings, was nicht erstaunen kann, in den Quellen keine Entsprechung. Im politischen Diskurs war lediglich von den Anhängern der „Alten Katholischen Religion“ einerseits und der „Religion der Confessio Augustana“ (448) andererseits die Rede. Dies macht eine der grundlegenden Schwierigkeiten deutlich, die mit der Untersuchung der religiösen Verhältnisse in dieser Zeit, nicht nur in Aachen, verbunden sind. Die Akteure sahen sich mit Blick auf den im Augsburger Religionsfrieden verankerten Schutz lediglich zweier Konfessionen im Reich veranlasst, dissimulatorische Formeln zu verwenden und, was ihr Bekenntnis betraf, sich auf Uneindeutigkeit als kommunikative Praxis zu verlegen. Es gab sie aber in Aachen, wie in der Arbeit plausibel ausgeführt wird, dennoch: jene drei im Titel genannten Konfessionen. Für diese sieht Thomas Kirchner wiederum einen Entwicklungsprozess als konstitutiv an, den er, so die Kernthese des Buches, als „interaktive Konfessionalisierung“ bezeichnet. Damit greift er einen von Heinrich Richard Schmidt im Hinblick auf das Zusammenwirken von Obrigkeit und Untertanen in die Forschungsdiskussion eingebrachten Begriff auf, verwendet ihn jedoch neu, indem er von einer Interaktion zwischen den Mitgliedern der drei Konfessionen ausgeht, die das multikonfessionelle Zusammenleben in der Reichsstadt gesichert habe. Im weitgehenden gegenseitigen Einvernehmen, dass „unnötige Konflikte“ (452) zu vermeiden seien, habe sich der kirchliche Abgrenzungsprozess vollzogen. Diese These bewertet die Situation in Aachen, in Abgrenzung zu älteren Forschungen, in denen eher die gegenseitige Konfrontation im Vordergrund gestanden hat, neu. Sie ist denn auch angesichts der politischen Konflikte, in denen religiöse Aspekte zum Tragen kamen, gewagt: 1560 wurden Nichtkatholiken vom Rat ausgeschlossen; erst 1574 wurden Mitglieder der Confessio Augustana zugelassen. 1581 kam es zu einer Spaltung des Rates, nachdem eine protestantische Mehrheit die Macht ergriffen hatte, um von nun an die Geschicke der Stadt zu bestimmen, während ein katholisches „Exilregiment“, das vom Herzogtum Jülich aus agierte, gegensteuerte. 1598 wurde der mehrheitlich protestantische Rat wiederum im Rahmen einer von Kaiser Rudolf II. forcierten Reichsexekution ent-

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machtet und durch ein katholisches Gremium ersetzt, das während eines Bürgeraufstands 1611/12 weichen musste, bevor eine erneute Restitution des Katholizismus im Jahre 1614 mit Hilfe spanischer Truppen erfolgte. Kirchner kann immerhin auf die für die Konfessionsbildung wichtige politische Phase von den 1570er Jahren bis 1598 hinweisen, um zumindest für diesen Zeitraum eine überkonfessionelle Ratspolitik zu konstatieren. Darüber hinaus habe religionspolitische Zurückhaltung aller Konfessionsgruppen den Grundstock für das friedliche Zusammenleben abgegeben. Wir erfahren, dass bedeutende Institutionen des städtischen Gemeinschaftslebens wie die Gaffeln für alle Konfessionsgruppen offen blieben. Darüber hinaus werden wir, merkwürdigerweise etwas beiläufig, im Zusammenhang mit den Grenzen obrigkeitlicher Religionspolitik auf den wichtigen Punkt hingewiesen, dass die Lutheraner und die Reformierten darauf verzichteten, sich katholischer Kirchenräume zu bemächtigen und in eher bescheidenen Gebäuden ihre Gottesdienste feierten (267–270). In diesem Zusammenhang ist zugleich zu bemerken, dass das Buch insgesamt unübersichtlich aufgebaut ist. Zudem erschweren die Neigung des Autors zu kompliziertem Satzbau wie auch viel zu viele Tipp- und Satzzeichenfehler dem Leser den Zugang. Deutlich wird aber, dass die politischen Akteure in Aachen, die von äußeren Mächten unter hohen Druck gesetzt wurden, Spielräume suchten und fanden, um über Jahrzehnte ein gemeinsames Leben in Mehrkonfessionalität zu ermöglichen. Damit liegt die Arbeit im Trend neuerer Forschungen, die die Fähigkeiten der Menschen, auf lokaler Ebene Wege zu einem friedlichen Alltag zu finden, hervorgehoben haben. Leider fehlt eine vergleichende Auseinandersetzung mit neueren amerikanischen Forschungen zu diesem Thema, insbesondere mit der Arbeit von Jesse Spohnholtz über die von Aachen nicht weit entfernte gemischtkonfessionelle Stadt Wesel im 16. Jahrhundert, in der auch ausführlich auf die Rolle der Täufer und auf ein Leben zwischen den Konfessionen eingegangen wird. Ob der von Kirchner eingeführte Begriff einer „interaktiven Konfessionalisierung“ Bestand haben wird, bleibt angesichts der Vieldeutigkeit des Begriffes „Interaktion“ dahingestellt. Es ist der Arbeit, die auf großer Quellenkenntnis basiert, jedenfalls zu wünschen, dass sie innerhalb eines wichtigen Forschungsfeldes, das man mit „Multikonfessionalität im Alltag“ überschreiben könnte, gebührend zur Kenntnis genommen wird. Ralf-Peter Fuchs

Duisburg-Essen

U LRICH P FISTER: Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert (= Religion und Politik 1), Würzburg: Ergon Verlag 2012, 543 S., (ISBN 978-3-89913-838-2), 78,00 EUR. In dieser umfangreichen Untersuchung, die eigene Archivstudien mit der regionalgeschichtlichen Sekundärliteratur zusammenführt, erprobt Ulrich Pfister das Konfessionalisierungskonzept an einem Gebiet mit schwach ausgeprägter Staatlichkeit. Der Untersuchungsraum setzte sich in der Frühen Neuzeit aus drei Bünden – dem Gotteshausbund, dem Oberen Bund und dem Zehngerichtenbund – zusammen, die seit 1512 auch über die südlichen Untertanenlande Cleven, Veltlin und Bormio herrschten. In diesem dezentralen Zusammenschluss von Gerichtsgemeinden gelang es den Bünden im Zuge der Ilanzer Artikel von 1524/26, die Gerichtsbarkeit des Bischofs von Chur zurückzudrängen und dessen Einkünfte erheblich zu beschneiden. In der Folgezeit war die Entwicklung durch

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weitgehende Mitspracherechte der Gemeinden bei der Pfarrerwahl und der Verwaltung des Kirchenguts sowie eine „für das 16. Jahrhundert seltene Institutionalisierung der freien Glaubenswahl“ (444) geprägt. Die Brauchbarkeit des Konfessionalisierungskonzepts erweist sich Pfister zufolge darin, dass sich die parallele Ausformung der reformierten und der katholischen Konfessionen hier in einem gemischtkonfessionellen Gebiet studieren lässt. Hingegen zeige das Beispiel Graubündens, dass der Konfessionalisierungsprozess keineswegs mit einem Zuwachs an Staatlichkeit verbunden sein musste; ungleich stärkeres Gewicht misst er der steigenden Bedeutung der Verkündigung von Glaubenslehren und damit verbunden dem Konflikt um die richtige Auslegung des Glaubens bei. Im Anschluss an ein grundlegendes Kapitel über „Institutionelle Rahmenbedingungen und kirchliche Geographie“ (2.) legt Pfister zunächst die Entstehung einer evangelischen Bewegung und einer reformierten Kirche in Graubünden dar (3.). Während die Ilanzer Artikel die Basis für eine „vorkonfessionelle, stark individualistisch geprägte Gemeindekirche“ schufen (84), bildeten Auseinandersetzungen mit den heterodoxen Anschauungen italienischer Glaubensflüchtlinge einen „zentralen Angelpunkt“ bei der Ausformung der reformierten Orthodoxie (119). Insgesamt vollzog sich die reformierte Konfessionalisierung in einem langwierigen Prozess, der im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts einsetzte und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreichte. Ähnliches gilt für die im 4. Kapitel untersuchte katholische Reform, die angesichts der Schwächung des Bistums Chur durch die Ilanzer Artikel erst spät einsetzte und schwach ausgeprägt blieb (138). Wesentliche Impulse kamen hier von außen: Der Mailänder Bischof Carlo Borromeo visitierte Teile Graubündens in den 1580er Jahren, die päpstlichen Nuntien erreichten in den 1620er Jahren die Anerkennung der geistlichen Gerichtsbarkeit durch die katholische Bevölkerung, und der Kapuzinerorden spielte eine zentrale Rolle in der Seelsorge. Mit der Formierung eines Corpus Catholicum auf den Bundestagen stabilisierte sich um 1640 auch die Position des Churer Bischofs. Das anschließende Kapitel (5.) beschreibt die Entwicklung des Klerus als Geschichte einer (partiellen) Professionalisierung. Während sowohl bei katholischen als auch bei reformierten Geistlichen eine „Tendenz zur Monopolisierung geistlicher Funktionen“ (220) feststellbar ist, führte die relativ ungünstige Einkommenssituation dazu, dass der Klerus vielerorts nicht über den „Status eines nicht-agrarischen ländlichen Nebengewerbes“ hinauskam (224). In dieser Situation hatten die Kapuziner den Vorteil, „Ressourcen von außen in arme Bergpfarreien zu lenken, selbst mit einer bescheidenen Pfrund auszukommen und damit auf der Basis eines geringen Einsatzes seitens der Gemeinden zu einer Intensivierung des religiösen Lebens beizutragen“ (252). Das folgende Kapitel über die Glaubenspraxis (6.) untersucht zunächst die auf die Kontrolle von Jugend, Ehe und Sexualität fokussierte reformierte Kirchenzucht, wobei manche Aussagen auf einer sehr schmalen Datenbasis beruhen (zehn Fälle in Ilanz 1629– 1633, 267 f.). Seit den 1730er Jahren sei ein „Zerfall der reformierten Kirchenzucht“ zu konstatieren (279). Die Untersuchung der katholischen Barockfrömmigkeit akzentuiert die Ausgestaltung der Kirchen zu ästhetisch anspruchsvollen Distinktions- und Kommunikationsräumen im Sinne der Trienter Konzilsbeschlüsse, die Funktion der Bruderschaften als „ein vom Kirchenvolk autonom vorgetragenes Element posttridentinischer Frömmigkeit“ (304) sowie den lokalen, dezentralen Charakter von Wallfahrten und Prozessionen. Eigene Abschnitte sind der Entwicklung einer konfessionell geprägten Schriftkultur und des

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Bildungswesens sowie den in Graubünden sehr zahlreichen Hexenprozessen gewidmet. Letztere betrachtet Pfister als „Inversion des konfessionellen Glaubenswissens“ (358), lässt jedoch auch andere Erklärungsansätze anklingen (Instrumentalisierung der Blutgerichtsbarkeit durch die lokale Bevölkerung, mangelnde soziale Kohäsion, agonale Konfliktkultur). Ein weiteres Kapitel (7.) beleuchtet die Konflikte zwischen den Konfessionen, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielten: Während es auf der Ebene des kommunalen Alltags immer wieder zu konfliktträchtigen Konversionen, Kindesentführungen, dem Ausschluss konfessioneller Minderheiten vom Bürgerrecht sowie Streitigkeiten um die Nutzung von Friedhöfen, die Abhaltung von Prozessionen und die Anerkennung des Gregorianischen Kalenders kam, entwickelten einige lokale Konflikte erhebliche Sprengkraft und entluden sich mitunter in Gewaltausbrüchen. In einer eingehenden Analyse erklärt Pfister die Konfliktanfälligkeit Graubündener Gemeinden mit der Mehrstufigkeit lokaler und regionaler Korporationen, wobei auf den verschiedenen Ebenen unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse bestehen konnten (evangelische Minderheiten in einzelnen Gemeinden, aber protestantische Mehrheit auf den Bundestagen). Außerdem spaltete die Abhängigkeit Graubündens vom Solddienst die lokalen und regionalen Eliten in antagonistische Faktionen, so dass auswärtige Einflüsse und Interventionen die Auseinandersetzungen innerhalb der Drei Bünde verschärfen konnten. Während die Konflikte bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein vorkonfessionellen Charakter hatten und sich eher um die Kontrolle des Hochstifts Chur und der südlichen Untertanenlande drehten, vollzog sich zwischen 1600 und 1640 eine Konfessionalisierung der Bündner Politik, deren Sprengkraft auch deshalb hoch war, weil Verfahren der Konfliktlösung wie die getrennte Abstimmung über religionspolitische Fragen auf Bundestagen (itio in partes) oder die Anrufung eidgenössischer Schiedsgerichte erst entwickelt werden mussten. Zur Entspannung trug im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert neben einer „Containment-Strategie der auswärtigen Mächte“ (432), insbesondere Spaniens und Tirols, und der „Trennung konfessioneller Milieus in jeweils eigenen Pfarrgemeinden“ (437) auch eine mit der Rezeption westeuropäischer Souveränitätslehren einhergehende Entkonfessionalisierung der Politik bei. Ein Ausblick auf die Entwicklung im 18. Jahrhundert (8.) konstatiert vor allem auf reformierter Seite Veränderungen, die mit der Rezeption pietistischen, herrnhutischen und aufklärerischen Gedankenguts in Verbindung standen. Insgesamt hat Ulrich Pfister eine differenzierte und ertragreiche Untersuchung vorgelegt, die sowohl die Tragfähigkeit des Konfessionalisierungskonzepts für Regionen mit schwach ausgebildeter Staatlichkeit erweist als auch Anregungen für weitere Studien über gemischtkonfessionelle Gemeinden und Regionen liefert. Kleinere redaktionelle Mängel wie die Verschreibung von Autorennamen (Gerhard „Oesterreich“, 21) und Ortsnamen („Altöttingen“, 75), Wiederholungen („dass die verbreitete Auflösung [. . . ] verbreitet vorkam“, 225) und unvollständige Sätze (357) trüben den positiven Gesamteindruck nur marginal. Mark Häberlein

Bamberg

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E LIZABETH H ARDING: Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstadt (= Wolfenbütteler Forschungen 139), Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014, 388 S., 17 Abb., (ISBN 978-3-447-10286-5), 74,00 EUR. Das Buch legt die Ergebnisse eines Teilbereichs des Forschungsprojekts der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel zur Geschichte der Universität Helmstedt (1576–1810) dar und behandelt die Professorenschaft unter vier Aspekten: wirtschaftliche Lage (33–79); Haus(halt), Wohnen, Arbeiten (81–164); Ehe, Ehelosigkeit, Ordnung der Sexualität (165– 266); repräsentative Darstellungen von Familie und Amt in Fest- und Memorialkultur (267–321). Neben der Praxis werden stets die zeitgenössischen Diskurse zu diesen Themenbereichen referiert, dies freilich überwiegend auf allgemeiner Ebene, nur gelegentlich mit konkreten Helmstedter Bezügen. Aufgrund des reichhaltigen Materials zu der lutherischen Universität bringt Elizabeth Harding zu all diesen Themen wichtige Erträge, die die Forschung zu den frühneuzeitlichen Hochschulen vorantreiben und abrunden. Nur einige seien hier genannt. Zum Einkommen der Professoren wird deutlich, dass die Auszahlung der Gehälter im 16. und 17. Jahrhundert regelmäßig hinter den Berufungszusagen zurückblieb (65 ff.). Umso wichtiger waren andere Einkünfte wie Hörer- und Promotionsgelder oder Gewinne aus Zimmervermietung und ‚Tischhalten‘ für Studenten. Zeitpunkt und Höhe der Gehaltszahlungen sei „Verhandlungssache“ gewesen (67); allerdings werden Verlauf und Ergebnis solcher Verhandlungen nicht konkret dargestellt. Offenbar gestatten die Helmstedter Quellen (36 f.) auch nicht, die Höhe, Streuung und Entwicklung der zugesagten oder gezahlten Gehälter systematisch zu beschreiben. Im zweiten Kapitel zeigt die Verfasserin, wie die Professorenhaushalte sich nach und nach aus der Produktion von Nahrungsmitteln und Bekleidung zurückzogen und zu Konsumenten wurden, die ihren Bedarf zunehmend auf lokalen oder überregionalen Märkten deckten. Interessant sind die Bilder und Grundrisse von Professorenhäusern. Ärgerlich ist allerdings, dass die Interpretation gelegentlich im Widerspruch zu der Abbildung steht (93/98 – Abb. 3/4). Die innere Gliederung der Wohnung interessiert vor allem im Zusammenhang mit Gadi Algazis These, dass sich die Gelehrten – auch diejenigen, die im Gefolge der Reformation eine Familie hatten – in ihrer Studierstube vom häuslichen Leben abgeschlossen hätten (85 ff.). Allerdings gibt es für Helmstedt kaum Informationen über die genaue Lage des Arbeitszimmers im Hause. Über den Bildungsstand der Professorenfrauen und -töchter kann Harding interessante Informationen aus Leichenpredigten entnehmen; ob und wie sie an der „Wissensproduktion“ des Gelehrten beteiligt waren, bleibt jedoch im Dunkeln (142 ff.). Zur Eheschließung („Eheschluss“) werden Tabellen zum durchschnittlichen Heiratsalter (wohl bei der Erstehe), zur Dauer der Witwerschaft – beides nur für die Männer – sowie Listen der unverheiratet gebliebenen Professoren präsentiert (332 ff.). Dass es in der Frühzeit der Helmstedter Universität einige „Hagestolze“ gab, erklärt Harding mit einem Nachwirken mittelalterlicher Traditionen. Dass im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts Ehelosigkeit nicht mehr vorkam, interpretiert sie als Durchsetzung des lutherischen „Eheideals“. Im 18. Jahrhundert hingegen standen den Gelehrten verschiedene Lebenswege offen, mit oder ohne Ehe. Bemerkenswert erscheint, dass die Universität in der früheren Phase nichts gegen die Heirat von Studenten einzuwenden hatte (170 ff.); allerdings war

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damals die Grenze zwischen Studierenden und Lehrenden unscharf, weil die Studenten der höheren Fakultäten nicht selten in der philosophischen Fakultät unterrichteten. Nur eine kleine Zahl von Konflikten wird besprochen. Ob die Quellen nicht mehr hergeben oder ob die Akten des Universitätsgerichts (188 f.) – wie die überlieferten Briefwechsel der Professoren (32) – nur sporadisch benutzt wurden, bleibt offen. Die behandelten Fälle zeigen anschaulich, wie die beteiligten Personen und Institutionen mit den Normen und Leitbildern umgingen. So entließ die Universität 1728 einen Professor, weil er eine von ihm geschwängerte Magd geheiratet hatte. Während er sich auf die nach der Reformation verbreitete Vorstellung berief, durch die Ehe die zuvor begangene Sünde zu heilen, akzeptierte die Hochschule diese Idee nicht mehr, sondern verwarf die soziale Ungleichheit der Ehe mit der Unterstellung von „Liederlichkeit“ gegen die Braut und ihre Familie (223 ff., vgl. 201, 210 f.). Gelegentlich mag eine Fallinterpretation nicht zwingend erscheinen. Im frühen 17. Jahrhundert wurde ein verheirateter Professor wegen eines Verhältnisses zu seiner Magd aus dem Amt gedrängt; hundert Jahre später stellte der Landesherr einen verehelichten Hochschullehrer wegen seines Standes vom Vorwurf der Vergewaltigung und Schwängerung einer 16-jährigen Magd frei. Die Verfasserin sieht die gegensätzliche Behandlung der beiden Fälle als Zeichen eines historischen Wandels, der Unterordnung des „protestantischen Eheideals“ unter Standesrücksichten (216–220). Doch könnte der unterschiedliche Ausgang auch dem Umstand geschuldet sein, dass im ersten Fall die Ehefrau, unterstützt von ihren angesehenen Verwandten, gegen den ehebrechenden Gatten klagte, im späteren Fall hingegen die Mutter des geschwängerten Mädchens, eine verwitwete Knopfmacherin. Harding übernimmt den vielfach bewährten Begriff der „protestantischen Familienuniversität“. Sie untersucht jedoch nicht systematisch, wie oft in Helmstedt Professuren an Verwandte oder Verschwägerte weitergegeben wurden oder welche Berufe Väter und Schwiegerväter der Professoren ausübten. Vielmehr liegt ihr an „einer kulturgeschichtlichen Erweiterung“ des Konzepts (325): Sie interessiert sich dafür, wie Ehe und Familie der Gelehrten in Zeremonien und Medien präsentiert wurden. Sowohl in Feiern und Ritualen als auch in Leichenpredigten und Grabmalen findet sie eine Tendenz zur „Entkoppelung von Familie und Universität“ (305): Waren „Heirat und Familie“ in der Frühzeit der Helmstedter Universität „wichtige Bestandteile der Standesrepräsentation“, wurden sie im 18. Jahrhundert bis zu einem gewissen Grad, aber nicht vollständig als privat von dem öffentlichen Amt des Professors getrennt (320 f., 326). Dieser Befund passt zu dem Gesamtergebnis, dass „Ehe, Familie und Haushalt“ zunächst „fundamental für die Standeskonstituierung der Universitätsprofessoren“ an der lutherischen Hochschule waren, dass sich diese Verbindung jedoch im Laufe der Jahrhunderte lockerte (12, 323 ff.). Durchweg beweist Harding eine sehr gute Kenntnis der Forschungsliteratur; sie nutzt diese immer wieder zur Klärung der Fragestellungen und zur Einordnung der Ergebnisse. Leider zeigen sich dabei bisweilen Wiederholungen und Redundanzen, so dass solche allgemeinen Ausführungen manchmal die konkreten Helmstedter Befunde überwuchern. Die Lektüre wird hier und da erschwert durch sprachlich-stilistische Schwächen, besonders durch die Vorliebe der Autorin für umständlich-abstrakte Termini: Das „neue Interesse des akademischen Kontextes an Praktiken der ‚Erholung‘“ meint schlicht, dass die Professoren im 18. Jahrhundert Badereisen unternahmen und einen geselligen Club gründeten (133). Der Anmerkungsapparat ist dadurch aufgebläht, dass alle zitierten Schriften bei der ersten

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Erwähnung mit vollständigen bibliographischen Informationen angeführt werden, obwohl dieselben Daten im ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis (338–381) ebenfalls erscheinen. Ermüdend wirkt, dass zu allen Personen (selbst Martin Luther) bei jeder Erwähnung die Lebensdaten genannt werden, statt dass sie einmal in dem nützlichen Personenregister (383–388) aufscheinen. Diese formalen Mühseligkeiten sind wohl eher der Reihe als der Autorin anzulasten. Jürgen Schlumbohm

Göttingen

H ANS -U LRICH M USOLFF , S TEPHANIE H ELLEKAMPS (H G .): Lehrer an westfälischen Gymnasien in der frühen Neuzeit. Neue Studien zu Schule und Unterricht 1600–1750 (= Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte 19), Münster: Aschendorff-Verlag 2014, 334 S., (ISBN 978-3-40215059-7), 44,00 EUR. Der Sammelband publiziert die Ergebnisse des DFG-Projekts Lehrerberuf und Säkularisierungskrisen. Quantitative und qualitative Analysen schulgeschichtlicher Quellen aus Westfalen 1600–1750, das von 2008 bis 2011 am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angesiedelt war. Wer die früheren Veröffentlichungen zur Bildungsgeschichte kennt, an denen Musolff und Hellekamps beteiligt waren, dem wird an ihrem neuesten Buch einiges bekannt vorkommen. Allerdings gibt es auch Innovationen und im Detail durchaus erstaunliche neue Erkenntnisse zu finden. Zu den Innovationen gehört die aus fünf Beiträgen bestehende erste Sektion des Buches. Im 2009 beim selben Verlag erschienenen Vorgängerband (Hans-Ulrich M USOLFF, Stephanie H ELLEKAMPS, [H G.]: Zwischen Schulhumanismus und Frühaufklärung. Zum Unterricht an westfälischen Gymnasien, Münster 2009) hatte man sich vor allem auf den Logik- und Physikunterricht konzentriert. Nun folgt konsequenterweise ein weiteres Unterrichtsfach: Die Reformierte Theologie im Unterricht. Wie beim Vorgänger steht auch dieses Mal die Rezeption und Ausbreitung heterodoxer bzw. umstrittener philosophischer und theologischer Lehren wie des Cartesianismus und des Sozinianismus im Vordergrund. Dass diese erste Sektion inhaltlich nicht ganz zum Titel des Buches passen will, schadet der Qualität der Einzelbeiträge kaum. Mit Stephanie Bermges und Kai-Ole Eberhardt konnten zweifellos zwei Kenner des frühneuzeitlichen theologischen Diskurses gewonnen werden. Den Auftakt liefert Bermges’ Aufsatz „Zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie. Der Steinfurter Theologieunterricht des Conradus Vorstius“. Der Theologieprofessor Vorstius (1569–1622) konnte sich zu Lebzeiten nie ganz vom Verdacht der Häresie befreien (17). Trotzdem wurde er von seinen Landesherren weiterhin protegiert (19), woraus sich die spannende Frage ergibt, ob Vorstius – unter dem Schutz der weltlichen Autorität – seine ‚häretischen‘ Positionen auch an Schulkinder weiterzugeben vermochte. Diese Frage kann Bermges positiv beantworten (49), womit ihr eine gut fundierte Studie über die noch zu wenig erforschten Diffusionswege heterodoxer Theorien – besonders des Sozinianismus, dem Vorstius nahestand – gelungen ist. Es folgen vier Beiträge von Kai-Ole Eberhardt über den Theologieunterricht in Hamm. Der Autor zeichnet ein insgesamt sehr heterogenes Bild: Deutlich wird, dass das Gymnasium in Hamm trotz aller Treue zur Dordrechter Orthodoxie keinesfalls eine reine Indok-

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trinierungsinstitution darstellte, sondern phasenweise durchaus auch zu einer Schaubühne kontroverser akademisch-theologischer Debatten avancierte. In seinem ersten Beitrag „Der sozialhistorische und wissenschaftsgeschichtliche Kontext des theologischen Unterrichts am Gymnasium Hammonense“ kann Eberhardt zeigen, wie – teilweise sogar zur gleichen Zeit – Cartesianer (die von vielen nach wie vor als Häretiker eingestuft wurden) und Anticartesianer am Gymnasium lehrten (71). Besonders interessant ist auch, dass es in Hamm, genau wie in Steinfurt, die weltliche Landeshoheit – hier in Person des „Großen Kurfürsten“ – war, die schützend die Hand über Vertreter von Heterodoxien hielt, zu Toleranz aufrief und die „Lehrfreiheit“ verteidigte (72). Mit seinem zweiten Beitrag steigt Eberhardt dann tiefer in die „Rekonstruktion zentraler Inhalte des Theologieunterrichts am Gymnasium Hammonense 1656–1703“ ein. Anhand von 123 zwischen 1656 und 1703 dort gehaltenen Disputationen rekonstruiert er detailreich die Zusammensetzung des Theologieunterrichts zu jener Zeit, wobei er feststellt, dass vornehmlich die Teilbereiche Exegese, Soteriologie, Ethik, Prolegomena und Christologie zum Kurrikulum gehörten. Eberhardts dritter Beitrag, „Der Theologieunterricht des Adrian Pauli“, bestätigt im Anschluss die These von einer relativ offenen und wechselhaften Ausrichtung des Unterrichts. Denn der Anticartesianer Adrian Pauli (1633–1684) kam als Nachfolger des Cartesianers Anton Perizonius (1626–1672) ins Amt des Theologieprofessors in Hamm. Aber auch er vertrat die tradierten Positionen der Orthodoxie nicht ohne sie zu hinterfragen. Als Anhänger des Coccejanismus setzte sich Pauli für eine Interpretation der Bibel aus sich selbst heraus ein (127). Dagegen lehnte er eine „Unterordnung von Theologie und Offenbarung unter Philosophie und Vernunft“, in der er die eigentliche Bedrohung durch den Cartesianismus erblickte, rundheraus ab (126). Eberhardt gelingt hier eine sehr differenzierte Darstellung der Prozesse der Aushandlung theologischer Streitpunkte wie etwa der Sabbatfrage (134) zwischen den konkurrierenden theologischen Lagern. Die Tatsache, dass derart brisante Debatten auf der Ebene unterhalb der Universitäten ausgetragen wurden, wirft ein neues, stärker schattiertes Licht auf die in der Forschung oft als Mittel zu Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung verschrienen Gymnasien der Frühen Neuzeit. Aber neben den genannten Kontroversen sind auch Kontinuitäten zu verzeichnen. Im letzten Beitrag rundet Eberhardt seine insgesamt rund 150 Seiten lange Darstellung des Theologieunterrichts in Hamm mit einer Analyse von Inhalt und Benutzungsweise des am stärksten verbreiteten theologischen Lehrbuchs der Zeit ab. Zumindest bis 1686 (180) war das Collegium Theologicum, Sive Systema Breve Vniversae Theologiae des Samuel Maresius (1599–1673) vor allem wegen seiner didaktisch-praktischen Anlage (197) bei Cartesianern, Anticartesianern und Coccejanern beliebt. Mit dem Inhalt der Unterrichtsgrundlage zeigten sich einige Lehrer jedoch weniger einverstanden: „Man zögerte nicht, den Ausführungen des Maresius zu widersprechen, so dass ein lebendiger Diskurs [. . . ] entfaltet worden sein dürfte“ (180). Allein schon mit der Expertise von Stephanie Bermges und Kai-Ole Eberhardt hätte sich ein hervorragendes Buch über die Distribution von Wissen und/oder die Diffusion heterodoxer Theorien in der Frühen Neuzeit machen lassen. Dazu wäre allerdings eine gemeinsame methodische Reflexion von Herausgebern und Autoren über die historischen Bedingungen des Theologieunterrichts unabdingbar gewesen. Stattdessen hat sich die Redaktion des Bandes bemüht, in jeden Beitrag das Paradigma von der „Professionalisierung

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der Lehrer“ einzuflechten, um den Bezug zu der von den Herausgebern verfassten dritten Sektion des Buches, „Der Beruf des Lehrers“, und besonders zu Musolffs und Hellekamps Beitrag „Die Professionalisierung der Lehrer 1600–1749“, herzustellen. Dies wirkt auf den Leser meist überraschend und ziemlich unvermittelt. Das Professionalisierungsparadigma, das die Herausgeber schon mehrmals zur Grundlage ihrer Forschungen gemacht haben, führen Musolff und Hellekamps auf vorangegangene Forschungsarbeiten Alwin Hanschmidts und Karl-Ernst Jeismanns zurück, die die Zeit um bzw. ab 1800 behandeln – eine Zeit, in der der Lehrberuf bereits ein relativ hohes Maß an Normierung und Standardisierung erreicht hatte. Die Herausgeber versuchen nun, dieses Paradigma auf das 17. Jahrhundert zu übertragen, was jedoch nicht ganz reibungslos möglich ist. Zu den Hauptkriterien, die eine „Professionalisierung“ indizieren, zählen sie Haupt- und Vollberuflichkeit. Daraus ergibt sich bei der Anwendung auf die Verhältnisse der Frühen Neuzeit ein Problem: Zu dieser Zeit war das Karriereziel der Lehrer in der Regel das geistliche Amt, manchmal auch eine Professur oder ein weltliches Hofamt. Das „Lehramt“ umfasste das Schulmeisterdasein und den Pfarrberuf; Lehrer und Pfarrer waren Stufen auf derselben Karriereleiter. Wenn nun ein Lehrer sein Karriereziel erreicht, die Schule also verlässt, dann erscheint er in der Statistik als unprofessionell oder, in der Terminologie der Herausgeber, als Indikator einer „Professionalisierungskrise“. Wenn er dagegen aus irgendwelchen Gründen gezwungen war, im schulischen Lehramt zu verharren, erscheint der Lehrer als „professionell“. Dabei wären die verschiedensten Erklärungen für sein Bleiben denkbar: Er könnte unter Häresieverdacht gestanden, nicht über die nötigen Fähigkeiten für eine Beförderung verfügt, keine effektiven persönlichen Netzwerke unterhalten haben oder zu niedrigen Standes gewesen sein. Vielleicht hatten auch die jeweiligen Stadträte oder Landesherren finanzielle oder sonstige Anreize geschaffen, um besonders hervorragende Gelehrte am Weggang zu hindern. Diese Möglichkeiten sind zwar nicht leicht zu überprüfen, aber ihre Reflexion hätte die statistischen Auswertungen sicherlich aufgewertet. In der vorliegenden Form jedenfalls stellt die Professionalisierungsthese einen Anachronismus dar. Die spezifischen Verhältnisse der Frühen Neuzeit und die biographischen Hintergründe der Lehrer werden nicht ausreichend beleuchtet, wodurch es dem Leser oft schwer fällt, den statistischen Jargon zu durchschauen, um den Prozentsätzen, Phasengliederungen und Diagrammen einen tieferen Sinn zuzuordnen. In Prinzip haben Musolff und Hellekamps jedoch Recht, wenn sie vereinzelte Professionalisierungstendenzen schon in der Frühen Neuzeit ausmachen wollen. Den glaubwürdigsten Indikator in diesem Zusammenhang bildet die didaktische Ausbildung der Lehrer, und hier konnten die Herausgeber den Quellen doch noch eine ziemlich spektakuläre Erkenntnis entlocken. Es waren nämlich ausgerechnet die katholischen Mitglieder des Jesuitenordens im Gymnasium Paulinum in Münster, die als erste eine unterrichtspraktische Ausbildung erhielten: In sogenannten „Repetentenkursen“ wurden sie bereits seit Beginn des 17. Jahrhunderts auf ihre Unterrichtstätigkeit vorbereitet (243–247). Mit diesem Ergebnis wecken Musolff und Hellekamps berechtigte Zweifel an der These der Vorreiterrolle der Protestanten in Sachen Lehrerbildung. Ähnliche Bedenken wie der Beitrag zur Professionalisierung ruft der letzte Aufsatz des Bandes, „Westfälische Disputationen als Quellen für Veränderungen des Sozialprestiges von Lehrern“, hervor. Hier wird versucht, die komplexe und in der Frühen Neuzeit meist nach ungeschriebenen Regeln performativ ausgehandelte soziale Ordnung auf

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quantitativem Wege in ein numerisches Rangsystem umzurechnen, um herauszufinden, welches „Sozialprestige“ die Lehrer genossen. Dazu erhielten die Widmungsempfänger von 1 096 westfälischen Disputationen Noten von 1 bis 6; durch einen komplizierten Schlüssel wurden sodann Stand und Beruf verrechnet. Die darauf folgende statistische Auswertung kulminiert in Sätzen wie „Die Lehrer konnten in den Widmungen Soester Disputationen ihren anfänglichen sechsten Rang (3,8; N=5) nur ein Quartal lang verbessern (1625–1649: 4. Rang; 2,0; aber N=2)“ (261). Auch hier hätte man sich gewünscht, dass diese Zahlen an die konkreten Phänomene rückgebunden worden wären. Denn gerade in der Frühen Neuzeit hing der Lehrberuf noch viel stärker von singulären Faktoren ab, von Spezifika der jeweiligen Biographie sowie der territorialen und konfessionellen Umgebung. Ein relativ standardisiertes Umfeld, wie es für statistische Untersuchungen notwendig ist, konnte die Schullandschaft des 17. Jahrhunderts – im Gegensatz zu der des 19. und 20. Jahrhunderts – nicht wirklich bieten. Die Stärke des Bandes liegt zweifellos in der tiefschürfenden empirischen Quellenarbeit. In den Einzelbeiträgen überzeugt vor allem die Kombination von empirischer Bildungsgeschichte und fundiertem theologisch-theoretischen Fachwissen, wie es Bermges und Eberhardt an den Tag legen. Die Schwäche des Buches hingegen liegt im Defizit an methodischer Reflexion, im Fehlen einer Klammer, die die Zusammengehörigkeit der Beiträge plausibel machen würde. Beim Lesen der Aufsätze stößt man auf faszinierende Quellenbestände, spannende Ergebnisse wie die Diffusion ‚häretischer‘ Theologie und kontroverser Philosophie im Unterricht, widersprüchliche Lebensgeschichten von Pädagogen sowie handschriftlich annotierte Exemplare von Lehrbüchern, die tief in die tatsächliche Unterrichtspraxis blicken lassen. Auch wurde nachgewiesen, dass der Unterricht an den Gymnasien keine reine Indoktrinationsveranstaltung im Sinne bestimmter kirchlicher oder weltlicher Ordnungsmächte gewesen ist, sondern durchaus auch ein Nährboden für Rationalismus und Zweifel, Kontroverse und Toleranz sein konnte. Aus all diesen Erkenntnissen hätten die Herausgeber im Vorwort und in der Darstellung der Ergebnisse noch mehr (geistiges) Kapital schlagen können. Auch hätte es dem Band gut getan, die großen Substantive wie „Säkularisierung“ und „Professionalisierung“ skeptisch zu hinterfragen, die historischen Hintergründe stärker mit einzubeziehen und ein wenig an der Quantifizierbarkeit von allem und jedem zu zweifeln. Jens Nagel

Erfurt/Gotha

M AGDALENA BAYREUTHER: Pferde und Fürsten. Repräsentative Reitkunst und Pferdehaltung an fränkischen Höfen (1600–1800) (= Stadt und Region in der Vormoderne 1), Würzburg: Ergon Verlag 2014, 536 S., Abb., (ISBN 978-3-95650-047-3), 48,00 EUR. Magdalena Bayreuther hat sich mit ihrer Dissertation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg das Ziel gesetzt, die „Funktion des Pferdes innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu erhellen“. Die Quellen zu vier fränkischen Fürstenhöfen des 17. und 18. Jahrhunderts werden ausgewertet und in größere Zusammenhänge gestellt: den beiden weltlichen Höfen von Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Bayreuth sowie den beiden geistlichen Höfen der Fürstbischöfe von Bamberg und Würzburg. Im Mittelpunkt steht die Reitkunst jener Zeit; gestreift werden das Fahren mit Kutschen und die Pferdehaltung ganz allgemein.

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Selten genug sind größere wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Pferd in der Geschichte, obwohl dieses Haus- und Nutztier den Menschen seit Tausenden von Jahren begleitet. Umso dankbarer nimmt man dieses über 500 Seiten umfassende Buch zu Hand, das in großzügiger Weise von der Anja Beran Stiftung und anderen Institutionen unterstützt wurde. Wie für eine Dissertation üblich, weist es einen umfassenden Anmerkungsapparat auf, aber auch einige Abbildungen von erhaltenen Objekten und Gebäuden sowie Grafiken. Dies ist nicht selbstverständlich für eine historische Fachpublikation. Allzu oft kommen solche Arbeiten etwas trocken daher und verzichten auf Bildmaterial, obwohl dieses auch als Quellenmaterial zu verstehen ist. Schließlich wollen auch Historikerinnen und Historiker einmal ihre Berufung zum Beruf machen. Dafür ist die allgemein verständliche Vermittlung von Inhalten wichtig, sei es in der Schule oder im Museum. Dort sind heute Bilder ebenso wichtig wie der Text. Magdalena Bayreuther, eine aktive Reiterin, versteht es, die Quellen zum Sprechen zu bringen. Dabei kommen der theoretische Unterbau und der Forschungskontext nicht zu kurz. In allen Kapiteln wird ausführlich ihr methodischer Ansatz thematisiert. Das Buch ist klar in fünf Abschnitte gegliedert. In der Einleitung werden die Fragestellung, der Forschungskontext, die Quellen und die Methodik erläutert. Es folgen die Abschnitte „Das Pferd als Statussymbol“, „Ökonomische und kulturell-soziale Grundlagen“, „Equiner Diskurs und symbolische Kommunikation“ sowie zum Schluss eine Analyse zum Pferd in der höfischen Gesellschaft und Auswertungen zum fürstlichen Lebensstil. Im einführenden Kapitel „Geschichte des Pferdes in der Frühen Neuzeit“ kommt die Forschungssituation zum Thema Pferd als eher stiefmütterliches Thema der Geschichtswissenschaft mit gehörigem Nachholbedarf zur Sprache. In anderen Fachdisziplinen wie der Tiermedizin, der Biologie, der Agrarwissenschaft, der Architektur, der Archäologie und der Anthropologie ist die Forschungssituation zu diesem Thema besser. Auch hängt Deutschland in der Forschung zum Pferd in der Kulturgeschichte noch wesentlich Frankreich hinterher, wo in jüngerer Zeit verschiedene Anthologien dazu erschienen. Dies ist umso erstaunlicher, als deutsche Länder in der Neuzeit Wesentliches in den Domänen Pferdezucht, Pferdehaltung und Reitkunst geleistet haben. Der erste Teil der Dissertation beginnt mit den aufwändigen Marstallgebäuden und geht über zu den fürstlichen Pferden. Dank erhaltener Inventare kann nachgewiesen werden, wie die Pferde darin eingestallt waren. Die geordnete Unterbringung spiegelt die damalige Wertehierarchie der Tiere in fürstliche Reitpferde, die gleichzeitig auch als Zuchthengste dienten, Schulpferde sowie Hofreit- und Gespannpferde. Weitere wichtige Quellen sind die erhaltenen Stallordnungen. Das aufschlussreiche Kapitel zum Reitzubehör thematisiert unter anderem die seit dem 17. Jahrhundert aufkommende Modeerscheinung, Sättel und Zaumzeuge im osmanischen Stil als Beutestücke der Türkenkriege zu sammeln; prachtvolles türkisches Material wurde in fürstlichen Rüst- und Sattelkammern so hoch eingeschätzt, dass solches Reitzubehör auch von heimischen Handwerkern angefertigt wurde. Das edle Reitpferd diente nicht nur dem Kriegsdienst, sondern auch der „Parade, prächtigen Aufzügen und öffentlichen Schauspielen“. Schulpferde wurden in speziell angelegten, gedeckten Reitbahnen trainiert und vorgeführt; diese waren im 17. Jahrhundert noch aus Holz gebaut, seit dem 18. Jahrhundert dann weitgehend aus Stein. Die Reitkunst

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wird von Bayreuther im Kontext der fürstlichen Tugenden beschrieben, als Ausdruck der Selbstbeherrschung des Reiters sowie als zur Schau gestellte Beherrschung und Übertreffung der Natur durch den Fürsten. Diese Botschaft drücken auch entsprechende Reiterstatuen von Regierenden auf steigenden Pferden aus, die die militärische und herrschaftliche Potenz der Dargestellten zum Ausdruck bringen. Ende des 18. Jahrhunderts kam nach englischem Vorbild das Campagnereiten auf englischen Vollblütern auf und verdrängte die klassische Reitkunst als „höfische Distinktionspraxis“, auch weil zeitlich parallel die Reitakademien für reiche Bürgerliche geöffnet wurden. Was blieb, waren der reitende Fürst im höfischen Zeremoniell sowie das Fahren in reich verzierten Kutschen mit edlen Gespannen, für Fürsten meist mit dem Sechserzug. Ein besonderer Brauch bei Begräbnissen war das Mitführen zu Fuß von Trauerpferden, wie sie auf Abbildungen von Leichenprozessionen festgehalten wurden. Sie wurden zu Demonstrationen herrschaftlicher Ansprüche des alten und des neuen Landesherren. Im zweiten Teil der Arbeit wird aufgrund akribisch ausgewerteter Primärquellen der enorme Kostenanteil der „Luxusware Pferd“ an der gesamten Hofkultur thematisiert. Im Würzburger Marstall erreichte diese ein Sechstel des Gesamtetats des fürstlichen Hofstaates und gut drei Prozent der Gesamtausgaben des Staates! Über einheimische Händler wurden im 18. Jahrhundert zunehmend teure englische Vollblüter als Leibpferde beschafft. Zur Ausbildung eines umfassend gebildeten Menschen gehörte seit der Frühen Neuzeit die Reitausbildung, auch im Hinblick auf den Kriegsdienst zu Pferd. Dazu gehörte das Erlernen der akademischen Reitkunst in der Reitbahn bereits in jungen Jahren. Hinzu kam die Reitausbildung auf der Bildungsreise, vor allem an Reitakademien wie denen in Paris. Zunehmend wurde eine Reitausbildung seit dem 18. Jahrhundert auch an deutschen Universitäten möglich. Biographien eines Bildungsreisenden und eines Reitlehrers sowie der Werdegang des viel gereisten Stallmeisters Georg Simon Winter von Adlersflügel aus Ansbach, der vor allem als Autor von hippologischen Werken bekannt wurde, werden exemplarisch ausgeführt. Detailliert geht Bayreuther auf die Herkunft der Pferde am Ansbacher Hof im späteren 17. Jahrhundert ein. Die Leibreitpferde des Fürsten waren vor allem Geschenke bis hinauf zum Kaiserhof; die Schulpferde hingegen stammten ebenso aus der eigenen Zucht wie manche Kutschpferde oder wurden im Handel erworben. Besonders die jüdischen Pferdehändler verfügten über ein weit verzweigtes Netzwerk. Bayreuther verfolgt die an europäischen Höfen weit verbreitete und wohl kalkulierte Sitte, wertvolle Pferde als Gabe und Gegengabe einzusetzen, eingehend und mit konkreten Beispielen. Auf diese Weise kamen gute Züchtungen in nördliche Länder, etwa aus Mantua oder Spanien. Mit den Pferden kam nicht selten entsprechendes Sattelzeug mit. Teilweise wurden auch ganze Kutschenzüge samt Geschirren und Karosse verschenkt. Im dritten Teil geht Bayreuther in ihrem „equinen Diskurs“ auf die Reitlehrbücher des 18. Jahrhunderts in fürstlichen Bibliotheken ein, gefolgt vom Thema „Pferde und Kutschen als fürstliche Leihgaben“. Mit ihren Ausführungen zum Marstall von Schloss Weißenstein in Pommersfelden als „symbolische Kommunikation“ geht sie verdienstvoll und gut bebildert auf die dortige Architektur, die Inneneinrichtung und den Skulpturenschmuck ein.

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Die letzten 25 Seiten nehmen den „Analyseteil“ ein mit dem Ziel einer „zusammenhängenden Untersuchung von materiellen Lebensbedingungen, habitueller Praxis und Fachwissen am Fürstenhof“, wie sie durch das Pferd als Statussymbol beeinflusst wurde. Zu den „Distinktionsbemühungen“ der Oberschicht gehörten eine wachsende Anzahl an Pferden im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre Unterbringung in architektonisch repräsentativ gestalteten Marställen, die Verwendung von wertvollem Reitzubehör und ihre Zurschaustellung in reich ausgestatteten Sattelkammern. Dazu kamen die Durchführung von Karussellen sowie die ästhetisierte Reitkunst mit besonderen Pferden und die Verwendung von auffälligen Gespannen vor dem Wagen. All dies bedurfte gehöriger Investitionen für Anschaffung und Unterhalt. In der Schlussbemerkung wird noch einmal betont, dass das Pferd nicht nur als Nutz- und Transportmedium gebraucht wurde, sondern vor allem „als elitäres Statussymbol mit ausdifferenziertem Zeichencharakter“. Magdalena Bayreuther hat mit ihrem sorgfältig edierten Band ein Zeichen gesetzt und die historische Forschung im Bereich Pferd und Fürst der Neuzeit vorwärts gebracht. Es ist zu hoffen, dass auf diesem Niveau weitere Grundlagenwerke über andere geographische Räume folgen. Andres Furger

Oltingue

T ERESA S CHRÖDER -S TAPPER: Fürstäbtissinnen. Frühneuzeitliche Stiftsherrschaften zwischen Verwandtschaft, Lokalgewalten und Reichsverband (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2015, 632 S., 7 farb. Abb., (ISBN 978-3-412-22485-1), 79,90 EUR. Von verschiedenen Richtungen und anhand unterschiedlicher Untersuchungsobjekte befasst sich die neuere (längst nicht nur kultur-)historische Forschung seit einiger Zeit in ertragreicher Weise mit der Frage politischer Handlungsspielräume, so auch Teresa Schröder-Stapper in ihrem Buch zu den Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der Fürstäbtissinnen von Herford, Quedlinburg und Essen zwischen 1648 und 1802/03. SchröderStappers Opus wurde im Sommersemester 2013 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen und 2015 publiziert. Die Verfasserin versucht an ihrem anspruchsvollen, da gleich drei sehr verschiedene hochadelige Damenstifte repräsentierenden Untersuchungsobjekt Adels-, Stiftsund Geschlechter- sowie Verflechtungsgeschichte zu verbinden. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Versuch ist ihr weitgehend gelungen, was Respekt verdient! Nach kurzem Vorwort (IXf.) und Einleitung, in der der Forschungsstand zu den gerade genannten Forschungszweigen skizziert und, darauf basierend, die eigene Fragestellung entwickelt wird (1–21), wendet sich die Verfasserin im zweiten, gewissermaßen den Hauptteil vorbereitenden Kapitel zunächst dem Verhältnis von „Stift und Äbtissin“ zu (23–50). Dabei versucht sie sich zunächst anhand mehrerer Begriffspaare – Geistlich oder weltlich? Adelig oder nicht adelig? Mittel- oder unmittelbar? Land- oder reichsständisch? – an einer Stiftsdefinition, bevor sie in einem zweiten Schritt auf die Fürstäbtissin, ihre Wahl, die Rolle der Coadjutorie und die Bedeutung der Wahlkapitulation zu sprechen kommt. Im nächsten, den Hauptteil eigentlich eröffnenden Kapitel schaut Schröder-Stapper unter den Stichworten „Geben“, „Nehmen“ sowie „Wiedergeben“ auf die Funktion und Bedeutung der Verwandtschaft bei der Aufnahme einer jungen Adeligen in ein Damenstift und für ihr

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Leben darin sowie die Möglichkeiten und Grenzen einer Besetzungs- und Familienpolitik (51–159). Im anschließenden Kapitel, dem umfänglichsten des ganzen Buchs, stehen die auf die Fürstäbtissinnen einwirkenden Lokalgewalten, vor allem das Stiftskapitel, die städtische Umgebung, der weltliche Schutzherr und der eigene Regierungs- und Verwaltungsapparat im Mittelpunkt der Betrachtung, diesmal unter den Stichworten „Verhandeln“, „Regieren“, „Repräsentieren“ (161–386). Um „Partizipieren“ auf dem Immerwährenden Reichstag zu Regensburg und in den Reichskreisen, „Prozessieren“ beim Reichskammergericht in Wetzlar und vor dem Reichshofrat zu Wien und „Protegieren“ des Kaisers, etwa im Fall der sog. Ersten Bitte, geht es sodann im letzten Hauptkapitel der Dissertation, das den Blick auf das Verhältnis zum Reich und seinem Oberhaupt richtet (387–503). Ein kurzes, prägnantes Resümee beschließt den darstellenden Teil (505–517). Für einen schnellen Überblick hilfreich ist die anschließend abgedruckte Liste der Äbtissinnen und Coadjutorinnen der Stifte Essen, Herford und Quedlinburg seit 1650 (519–530), auch wenn sich die hier ablesbaren Informationen auf die wesentlichsten biographisch-genealogischen Daten beschränken. Es folgen die obligatorischen Abbildungsund Abkürzungsverzeichnisse (531–535) sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis (537–614). So beeindruckend sein Umfang auf den ersten Blick ist, verwundert doch das weitgehende Fehlen zentraler Titel zur Erforschung männlicher Dom- und Stiftskapitel, die wichtige Hinweise auch für die Betrachtung der Damenstifte gegeben hätten (ein Muss wäre z. B. die Arbeit von Gerhard Fouquet zum Speyerer Domkapitel wegen ihrer Betonung von Verwandtschaft, Freundschaft, Patronage und Klientelismus). Ärgerlich sind die vielen Flüchtigkeitsfehler, die die Auflistung der Literatur enthält: Die Zeitschrift lautet eben „Frühmittelalterliche Studien“ und nicht (nur) „Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster“ (548), der Autor heißt Hartmut Boockmann und nicht Bockmann (553), der bekannte Titel von Otto Brunner beginnt mit „Das“ (!) ‚Ganze Haus‘ (555), die Monographie von Cordula Nolte zu „Familie, Hof und Herrschaft“ ist in der – von Schröder-Stapper übersehenen – wissenschaftlichen Reihe der Mittelalterforschungen erschienen usw. Angesichts der vielen vermeidbaren Fauxpas im Literaturverzeichnis überrascht fast die erfreulich ordentliche Ausführung des Personenund Ortsregisters (615–632). Teresa Schröder-Stapper gelingt es, die Fürstäbtissinnen der von ihr behandelten drei hochadeligen Damenstifte anschaulich und umfassend als politische Akteurinnen im Spannungsfeld ihrer Handlungsspielräume – sie selbst spricht unspezifisch von „Möglichkeiten und Grenzen“ (505) – herauszuarbeiten. Dabei bietet sie einen vertieften Einblick in die jeweils unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Konfliktlagen, was allein schon lesensund wissenswert erscheint. Im Kontext ihrer drei spezifischen Koordinaten der Verwandtschaft, Lokalgewalten und Beziehungen zum Reich kann sie zudem eine stattliche Reihe interessanter Beobachtungen anstellen, die die weitere Forschung nachhaltig befruchten dürften. Dazu zählt z. B. die vermeintliche Funktion der Stifte als Versorgungsstätten, die die Verfasserin in Frage stellt, weil die Höhe der Versorgung im Regelfall gar nicht zum standesgemäßen finanziellen Auskommen ausreichte. Die bislang vielfach isoliert betrachteten Auseinandersetzungen gerade mit den weltlichen Schutzherren ordnet sie stimmig in den Prozess strukturellen Wandels hin zur Ausbildung moderner Staatlichkeit ein, der im Lauf der frühen Neuzeit allgemein erkennbar wird. Die schon aus anderen Zusammenhängen herausgearbeitete Ambivalenz enger Beziehungen zu Kaiser und

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Reichsverband überzeugt auch als Erklärungsmodell für die hochadeligen Damenstifte. Zu guter Letzt klingt ihre Charakterisierung des Instituts der Damenstifte als Kuriosum oder gar monstrum wie eine vielversprechende Diskussionsgrundlage (515). Ob dabei aber, wie Schröder-Stapper am Schluss unterstreicht, ihre Schlussfolgerung, dass „das situative Ineinandergreifen unterschiedlicher Interessen und handlungsleitender Abhängigkeiten für die formelle Existenzsicherung der Stifte“ sorgte, „obwohl diese längst nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen und mitunter völlig abgewirtschaftet waren“ (516), tatsächlich ein Gegensatz zu Barbara Stollberg-Rilingers Deutung des Alten Reichs als „organisierte Heuchelei“ bedeutet und ob überhaupt ihre Beurteilung der Stifte und des Stiftsdaseins als zeitlich überholt und ruinös zutrifft, ist nicht nur angesichts der nach wie vor blühenden Existenz adeligen Stifts- und Klosterlebens in unseren Tagen ein sicher noch zu diskutierender Punkt. Bei alledem bleibt es das Verdienst der Verfasserin, das Thema der Damenstifte und ihrer Fürstäbtissinnen in den Fokus gerückt und endlich überzeugend und weiterführend mit neuen Forschungsansätzen verbunden zu haben. Oliver Auge

Kiel

G ERHARD S EIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg in Zeiten des politischen Niedergangs. Augsburger und Nürnberger Unternehmer in den Jahren zwischen 1648 und 1806, 2 Bände (= Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens 42), Augsburg: Wißner-Verlag 2014, 1152 S., 530 Abb., 55 Stammtafeln, (ISBN 978-3-89639-989-2), 69,00 EUR. Angesichts der herausragenden Bedeutung der beiden Reichsstädte Augsburg und Nürnberg im 16. Jahrhundert hat die Geschichtsschreibung erstaunlicherweise der nachfolgenden Epoche zwischen dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges und der Einverleibung der beiden Reichsstädte nach Bayern 1806 bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das gilt insbesondere für Nürnberg. Gerhard Seibolds umfang- und detailreiche Untersuchung über die Augsburger und Nürnberger Wirtschaftseliten schließt hier eine wichtige Lücke. In einer ausführlichen Analyse der Entwicklung führender Wirtschaftsunternehmen der beiden Städte und der sozialen und familiären Netzwerke ihrer Inhaber weist er nach, dass der politische Niedergang der beiden Städte keineswegs von einem entsprechenden wirtschaftlichen Rückgang begleitet war. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Der Autor beginnt im ersten Teil mit einem vergleichenden Überblick über die politische und gesellschaftliche Entwicklung der beiden Städte sowie ihrer wirtschaftlichen Strukturen in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert. Er macht dabei deutliche Unterschiede zwischen Augsburg und Nürnberg fest. Die schwäbische Stadt erholte sich nicht allein eher von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges, sondern auch nachhaltiger als Nürnberg. Zu den wesentlichen Gründen für die unterschiedliche Entwicklung der beiden Städte zählt der Autor u. a. eine in gewissen Grenzen größere Offenheit der politischen Strukturen der Stadt, bedingt durch die eingeschränkten Selbstrekrutierungsmöglichkeiten der politischen Elite, eine langfristig größere Offenheit gegenüber fremden Kaufleuten sowie eine höhere Bereitschaft, in neue Gewerbezweige wie die Seidenindustrie zu investieren. Demgegenüber sieht er im rigiden Ausschluss der Wirtschaftsbürger von politischen Ämtern in Nürnberg eine wesentliche Ursache für die im Vergleich zu Augsburg geringere Wirtschaftsleistung. Unzufriedenheit über die mangelnde Teilhabe an der Politik führte aber in beiden Städten

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im 18. Jahrhundert zu wachsenden Konflikten mit der Kaufmannschaft, dabei waren diese Städte aufgrund ihrer wachsenden Verschuldung auf Kredite aus der Kaufmannschaft angewiesen. Auf die Darstellung der kaufmännischen Organisationsstrukturen beider Städte folgt ein ausführlicher Abschnitt über die wichtigsten Handels- und Gewerbezweige. Sie unterschieden sich nach Darlegung des Autors nicht grundsätzlich, wohl aber wiesen sie unterschiedliche Schwerpunkte auf. In beiden Städten hatte das Textilgewerbe einen zentralen Anteil am Wirtschaftsgeschehen. In Augsburg hatten der Handel mit Goldund Silberschmiedeerzeugnissen sowie der Buchdruck ein deutlich stärkeres Gewicht, in Nürnberg dagegen der Vertrieb von Kleineisenwaren und Spezereien. Der zweite Teil ist der umfangreichste und zugleich der Schwerpunkt von Seibolds Arbeit. Er untersucht die Entwicklung von insgesamt 59 überregionalen Handelsunternehmen, 39 Augsburger und 20 Nürnberger Handelshäusern, die sich über mindestens zwei, zum Teil sogar vier Generationen verfolgen lassen. Der Darstellung der zahlreichen Familienunternehmen liegt eine ausgesprochen intensive Recherchetätigkeit zugrunde, da die Quellenlage für den Untersuchungszeitraum in beiden Städten keineswegs so günstig ist wie für das 16. Jahrhundert. Aufgrund der unterschiedlichen Überlieferungsdichte und Quellenlage in den beiden Städten werden ganz verschiedene Quellengattungen hinzugezogen. Neben den Augsburger Steuerbüchern und den Geschäftsbüchern des Nürnberger Banco Publico hat Seibold zahlreiche städtische, kirchliche und gerichtliche Akten sowie Familiennachlässe in öffentlichen und privaten Archiven ausgewertet. Auf der Basis dieser Quellen entsteht ein kleinteiliges und facettenreiches Bild von Einzelunternehmen mit wechselnden Gesellschaftern, unterschiedlichen Warensortimenten und geographischen Ausrichtungen sowie von Aufstiegs- und Niedergangsprozessen. Sie lassen die Schwierigkeiten und Risiken kaufmännischen und gewerblichen Handelns in einem Zeitalter, das durch zahlreiche Kriege sowie wechselnde Konjunkturen und Krisen geprägt war, sichtbar werden. An der traditionellen Ausrichtung der Unternehmen hat sich im 18. Jahrhundert wenig geändert: Ein Handelsschwerpunkt blieb Italien und hier insbesondere Venedig. Neben den großen Messestädten Frankfurt a. M., Leipzig und Bozen unterhielten die Augsburger Bankiers intensive Finanzbeziehungen nach Österreich. Neben dem schon von Mark Häberlein und Michaela Schmölz-Häberlein untersuchten Augsburger Handelshaus der Obwexer macht Seibold bei einigen weiteren Familienunternehmen, wie der Nürnberger Firma Förster & Günther, außergewöhnlich ausgedehnte Handelsbeziehungen fest. Nürnberger Unternehmen weisen dabei eine etwas stärkere Orientierung auf die nordwesteuropäischen Handels- und Finanzzentren Amsterdam und London auf. Gleichwohl betrachtet der Autor den Augsburger und Nürnberger Handel mit London, dem aufsteigenden Handels- und Finanzzentrum der damaligen Welt, als unbedeutend. Im dritten Teil folgt ein ausführliches Resümee der Forschungsergebnisse, in dem Seibold die zahlreichen Mosaiksteine kaufmännischen und gewerblichen Handelns von Augsburger und Nürnberger Unternehmen, die er im zweiten Teil zusammengetragen hat, bündelt. Zum einen stellt er die charakteristischen Grundzüge der Unternehmen, u. a. die Struktur der Unternehmen, Nachfolgeprobleme, ihre Lebensdauer und geographische Ausrichtung heraus. Zum anderen verdeutlicht er die wesentlichen Merkmale der familiären Netzwerke und der privaten Lebensführung sowie die Aufstiegschancen in das Patriziat.

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Besondere Aufmerksamkeit schenkt er in diesem Abschnitt dem teilweise ausgedehnten Mäzenatentum, von dem die beiden Städte noch heute zehren. Der erste Band schließt mit einem ausführlichen statistischen Anhang über das Vermögen ausgewählter Augsburger Kaufleute, den Banco-Umsätzen und Geldanlagen Nürnberger Kaufleute, Umfang und Größe des Grundbesitzes und Dauer der wirtschaftlichen Tätigkeit der Unternehmen in beiden Städten. Sehr begrüßenswert ist das ausführliche Register im zweiten Band. Er enthält darüber hinaus Stammtafeln von 55 Familien und umfangreiches Bildmaterial. Bezogen auf die allgemein verbreitete Auffassung eines generellen Niedergangs der beiden Städte seit dem Dreißigjährigen Krieg vermag der Verfasser durch seine material- und faktenreiche Darstellung nicht nur ein differenziertes Bild der Entwicklung zu entwerfen, sondern auch mit der überkommenen Vorstellung eines gleichzeitigen wirtschaftlichen Niedergangs zu brechen. Angesichts der Fülle an Informationen und angesprochenen Aspekte ist die Untersuchung eine Fundgrube für Familienforscher und bietet für weitere Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der beiden Städte zahlreiche Anregungen. Margrit Schulte Beerbühl

Düsseldorf

H ERMANN Z EITLHOFER: Besitzwechsel und sozialer Wandel. Lebensläufe und sozioökonomische Entwicklungen im südlichen Böhmerwald, 1640–1840 (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 36), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2014, 374 S., (ISBN 978-3-205-79565-0), 59,90 EUR. Bisher war es eher selten, dass sich ein ausländischer Historiker der demografischen Problematik Böhmens der frühen Neuzeit widmet, obwohl andere Themen der frühneuzeitlichen böhmischen Geschichte auch in entfernteren Ländern Beachtung finden (H. Louthan, A. Catalano u. a.). Hermann Zeitlhofer legt in seiner grundlegend überarbeiteten Dissertation, die eines der Ergebnisse des Projekts „Soziale Strukturen in Böhmen“ ist, eine Analyse der Praktiken bei der Besitzübergabe im Kirchsprengel Kapliˇcky/Kapellen vor, der im Beobachtungszeitraum zum Kloster Vyšší Brod/Hohenfurth gehörte. Anzumerken ist, dass wir heute das Dorf Kapliˇcky, das früher von einer deutschsprachigen Bevölkerung besiedelt war und bereits im 13. Jahrhundert gegründet wurde, auf der Landkarte umsonst suchen würden – in den Archiven jedoch sind Materialien überkommen, vor allem Grundbücher (aber z. B. auch im Jahre 1850 durch den dortigen Pfarrer verfasste Familienkataster), die es dem Autor ermöglichten, ein plastisches Bild der damaligen Lebensverhältnisse in Südböhmen zu zeichnen und eine beispielhafte Lokalstudie mit deutlich mikrohistorischem Akzent vorzulegen. Bei der Konzeption der Leitfragen und dem Überblick über die Literatur stellt Zeitlhofer fest, dass das von ihm ausgewählte Thema lange Zeit wenig berücksichtigt wurde. Dies ist sicher eine zutreffende Feststellung auch für die tschechische Historiografie, weil diese bis zum Jahre 1989 vom Konzept des Klassenkampfs und danach wiederum von der Erforschung des Adels dominiert wurde. In den letzten Jahren hat sich die Situation aber deutlich gewandelt; in den Vordergrund tritt nun gemeinsam mit den Städten auch die ländliche Region, die von den Historikern und Historikerinnen (u. a. Himl, Grulich, ˇ Cechura, Velková, Matlas, Dibelka) aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht wird. Der

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Autor hat sich eine Analyse der lokalen Praktiken bei der Besitzübergabe zum Ziel gesetzt, ebenso eine Analyse der Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung; daneben versucht er auf eine Reihe weiterer Teilfragen zu antworten, z. B. ob die Altersversorgung ein Tausch für die Besitznachfolge war. Zeitlich hebt der Autor den Zeitraum 1640–1840 hervor, doch treffen wir in der Arbeit auch auf Überschreitungen dieses Rahmens in beiden Richtungen. Das erste erwähnte Datum fällt noch in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, dessen angebliche Rolle einer Entwicklungspause und demografischen Krise Zeitlhofer anzweifelt; andererseits beobachtet auch er im Kirchsprengel Kapliˇcky eine hohe Mortalität in den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts und nach dem Krieg eine sehr junge Gesellschaft mit einem Zweidrittelanteil von Bewohnern unter dreißig Jahren. Die Frage ist also, ob man pauschal konstatieren kann (40), dass die Rekatholisierung hier schon bis 1630 eine völlig abgeschlossene Angelegenheit war. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt indessen im 18. Jahrhundert, für welches zusammenhängende Quellen zur Verfügung stehen. Die Arbeit mit diesen Quellen ist ein Vorzug dieser Studie; die statistischen Untersuchungen sind sehr sorgfältig, und Zeitlhofer befasst sich hier eingehend mit der demografischen Problematik (einschließlich der Rekonstruktion von Familien), besonders im Zusammenhang mit der Agrarproduktion und dem Anstieg der Lebenserwartung. Er bezieht auch die handwerkliche und agrarische Produktion, das Anwachsen der Zahl der Tagelöhner, die Randgruppen („Zigeuner“ und deren Verfolgung) und die Mobilität der Landbevölkerung mit ein. Hier kommt er zum gleichen Schluss wie tschechische Forscher, nämlich dass von einer fehlenden Mobilität auf dem Lande vor 1781 nicht die Rede sein kann, auch wenn es nach diesem Datum zu einem starken Anwachsen der saisonalen Arbeitsmigration kommt. Den Kern des Buches stellt seine zweite, etwas kürzere Hälfte dar, in der sich Zeitlhofer den Praktiken des Besitzwechsels widmet. Hier überwogen Verkäufe, was nicht damit zusammenhing, ob es sich um die eigenen Kinder handelte; wichtig war vielmehr die Unteilbarkeit des Grundbesitzes. Dadurch blieb die Anzahl der Bauern im betreffenden Zeitraum mehr oder weniger stabil. Der Autor überprüft auch die Dauer des Grundbesitzes pro Besitzer – während es sich in der ersten Phase um ca. 20 Jahre handelte, waren es im 18. Jahrhundert schon ca. 27 Jahre; Abweichungen konnten aber natürlich deutlich sein. Er untersucht jedoch primär die Verwandtschaft zwischen den alten und neuen Besitzern. Der Sohn als Nachfolger hatte stets eine vorrangige Position; die Präferenz für Söhne verdoppelte sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf mehr als siebzig Prozent, so dass es angebracht ist, hier von Familienstrategien zu sprechen mit dem Ziel, den männlichen Nachkommen die Nachfolge am Grundbesitz zu sichern, idealerweise bei Wahrung der Gleichheit der Kinder, von denen jedes den gleichen Anteil erhalten sollte. In den Hintergrund treten dabei die Töchter (resp. die Schwiegertöchter), ebenso wie verwitwete Frauen, deren Möglichkeiten der Autor ebenfalls detailliert verfolgt. Eines der Kapitel befasst sich auch mit den Eheschließungen und überprüft die Gültigkeit des Paradigmas, dass es sich in ihrem Falle um ein soziales Privileg der Hausbesitzer handelt, wobei Zeitlhofer die Barriere eher bei den Gemeinden als bei der Obrigkeit sieht, deren ˇ Rolle momentan auch der tschechische Historiker Jaroslav Cechura in seinen Studien relativiert. Die Ehe war auch Personen zugänglich, die an das Eigentum eines Hauses nicht heranreichten. Der Gesindedienst indessen hatte für das Heiratsalter natürlich Bedeutung. In einem weiteren Kapitel untersucht der Autor das Altenteil und seine soziale Rolle, und

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für den Beginn des 18. Jahrhunderts stellt er eine wachsende Anzahl von Altenteilen fest. Hier ist interessant, dass auch schon dreißigjährige Hausherrn ins Altenteil gehen konnten, während andere ihre Wirtschaft bis zum Tode selbst führten. Das Altenteil hatte auch hier die wichtige Funktion, die Bindung an ein konkretes Haus zu schaffen und damit ein Abrutschen in die Nichsesshaftigkeit zu verhindern. Zeitlhofer demonstriert einen sehr soliden Überblick über die Forschung, der ihm Vergleiche mit anderen Lokalitäten in Böhmen, Mähren, Österreich und den deutschen Ländern ermöglicht. Von den tschechischen Publikationen kennt er vor allem die Arbeiten, die im Ausland publiziert wurden, so dass er relativ gut z. B. mit der Friedländer Region vertraut ist. Das ist einer der kleinen Steine des Anstoßes des rezensierten Buches. Denn ebenso wie die deutsche Geschichtsschreibung, etwa Jürgen Schlumbohm (Belm) oder Hans Medick (Laichingen), hat der tschechische Historiker Josef Petráˇn mit seiner „Geschichte von Oubˇenice“ eine musterhafte mikrohistorische Studie für ein frühneuzeitliches Dorf in Mittelböhmen vorgelegt. Nur blieb diese Arbeit völlig unbeachtet. Im letzten Jahrzehnt ist gut ein Dutzend grundlegender Titel zu ähnlichen Problemen erschienen, die aber bisher keine Übersetzung ins Deutsche oder Englische erfuhren (P. Matlas, V. Kucrová, R. Doušek usw.). Für den tschechischen Spezialisten bleibt diese Arbeit somit eher eine weitere lokale Fallstudie, die in vielen Punkten zu Erkenntnissen gelangt, die ˇ bereits vor ihm schon andere formulierten (z. B. J. Cechura zur Rolle der Obrigkeit bei den ländlichen Eheschließungen oder Autoren, die die Berní rula/Steuerrollen und Untertanenverzeichnisse nach Konfessionszugehörigkeit analysieren). Eine gründlichere Revision würden auch die tschechischen Namen und Bezeichnungen verdienen, z.B. Hvˇesta (Hvˇezda, 33), Mlynska (Mlýnská, 95) oder Domašlyce (Domažlice, 109). In der tschechischen Historiografie ist auch eine Wiederholung des bereits Gesagten nicht üblich (vgl. z. B. die identischen Äußerungen auf 120 und 121 „[. . . ] nur geringe Flächen innehatten“). Für problematisch halte ich ebenfalls, über das Theresianische Kataster aus dem Jahre 1713 zu sprechen (121), denn das erste Theresianische Kataster wurde erst in den Jahren 1747/48 vollendet und 1713 ist das Datum der darin verwendeten Erklärungen. Trotz der angeführten Vorbehalte, die vor allem durch Sprachbarrieren verursacht werden (woran die bisher nur minimale Publikation der tschechischen Historiografie in weltweiten Sprachen einen erheblichen Anteil der Schuld trägt), bewerte ich die Studie Zeitlhofers als einen sehr gelungenen Beitrag zur frühneuzeitlichen Demografie und zum alltäglichen Leben in böhmischen Dörfern, im konkreten Fall in einer deutschsprachigen Gegend in der Grenzregion. Solche Studien gibt es bisher nicht viele, und im Hinblick auf die eher sinkende Anzahl deutschsprachiger tschechischer Historiker ist von dieser Seite aus in Zukunft auf keine deutliche Besserung zu hoffen, blieben doch z. B. im Erzgebirge jahrzehntelang selbst grundlegende Quellen von überregionaler Bedeutung ungenutzt. Hinter dem Buch steckt solide archivalische Forschung und gewissenhafte Arbeit mit neuesten historischen Methoden. Schade nur, dass zur Buchausstattung keine weiteren Beilagen hinzukamen, wie Karten (besonders eine Indikationsskizze des Stabilen Katasters!) und Illustrationen, die dem Leser das längst vergangene Dorf auch visuell näher gebracht hätten. Jan Kilián

Pilsen

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M ICHAELA S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN: Kleinstadtgesellschaft(en). Weibliche und männliche Lebenswelten im Emmendingen des 18. Jahrhunderts (= Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 220), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 405 S., 2 Abb., 3 Tab., (ISBN 978-3-515-10239-1), 60,00 EUR. In ihrer quellennahen Untersuchung frühneuzeitlicher „Kleinstadtgesellschaft(en)“ richtet Michaela Schmölz-Häberlein ihren Blick auf den Alltag der Menschen, die während des 18. Jahrhunderts in der südbadischen Amtsstadt Emmendingen lebten. Konsequent geht sie dabei den weiblichen Lebenswelten nach, in die sie mit zehn biographischen Miniaturen Emmendinger Frauen einführt. Im biographischen Zusammenhang wird so zunächst dargelegt, was die nachfolgenden Kapitel der Studie näher erörtern: wie sich Frauen und Männer bzw. Familien in der kleinstädtischen Hierarchie positionierten, welchen Zugang sie zu Bildung und zu ökonomischen Ressourcen besaßen, welchen Raum sie innerhalb der Stadt für sich beanspruchen konnten und welche Konflikte ihr tagtägliches Miteinander produzierte. Mit Emmendingen hat sich Schmölz-Häberlein einem städtischen Gemeinwesen zugewandt, das im Gegensatz zu den von der Forschung bevorzugten größeren frühneuzeitlichen Städten sehr bescheidene Ausmaße annahm. Gerade einmal 90 Bürger zählte die Stadt im Jahr 1753, die Gesamtbevölkerung überschritt die Zahl von 1 000 erst um die Wende zum 19. Jahrhundert. Mit 896 Bewohnern im Jahr 1769 war Emmendingen also nur unwesentlich größer als das lothringische Steinbiedersdorf, das von Claudia Ulbrich in ihrer maßgeblichen mikrohistorischen Studie zu Geschlecht und Herrschaft untersucht worden ist, an welche Schmölz-Häberlein anknüpft. Die überschaubare Größe der Stadt bot Schmölz-Häberlein die Chance, die Emmendinger Einwohnerschaft in einer prosopographischen Datenbank zu verzeichnen und ihre Untersuchung auf der Grundlage von rund 8 000 verzeichneten Personen durchzuführen. Schmölz-Häberlein entwickelt ihre Erzählung aus dieser Fülle von Einzelfällen, zu denen nur vereinzelt eine dichtere Überlieferung vorliegt. Daraus resultiert zwar eine gewisse Sperrigkeit der Darstellung, doch wird dies durch die reichhaltigen Einsichten in die kleinstädtischen Lebenswelten aufgewogen. Das lutherische Emmendingen war im 18. Jahrhundert eine prosperierende Amtsstadt, deren wohlhabende Mittelschicht überwiegend dem Handwerk angehörte. Frauen trugen, wie Schmölz-Häberlein immer wieder deutlich macht, zu dieser Prosperität durch vielfältige ökonomische Aktivitäten bei. In Auseinandersetzung mit Sheilagh Ogilvies Untersuchungen zum württembergischen Wildberg plädiert die Autorin deshalb für eine „‚optimistischere‘ Sicht weiblicher Arbeitsmöglichkeiten und Erwerbschancen“ (200). Eine systematische Exklusion, Marginalisierung und Diskriminierung lasse sich auf der Grundlage des Emmendinger Quellenmaterials nicht bestätigen. Zudem leitet SchmölzHäberlein aus ihren Untersuchungen ab, dass Bedeutung und Akzeptanz „unabhängiger, ökonomisch aktiver“ Frauen im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunahmen – dass also keine Verdrängung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt stattfand, sondern eher eine verstärkte Integration zu verzeichnen ist. Überdies bestätigt das Emmendinger Beispiel auch jüngere Forschungsergebnisse, die das frühneuzeitliche Kreditwesen als ein ökonomisches Handlungsfeld von Frauen ausweisen. Ebenso zeigt sich in den von Schmölz-Häberlein vorgestellten Beispielen die fortdauernde Relevanz des ehelichen Arbeitspaares. Auch in Emmendingen stellten Frauen ihre

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Arbeitskraft und ihr Vermögen im Rahmen der gemeinsamen ehelichen Geschäftsführung zur Verfügung; die den Betrieb fortführenden Witwen waren fest in die städtische Ökonomie eingebunden. Im Fall der Krämerin Anna Maria Nägelin kann Schmölz-Häberlein sogar eines der wenigen erhaltenen Zeugnisse weiblicher Buchführung nachweisen. Dynamisch stellte sich die Kleinstadt auch hinsichtlich ihrer regionalen und überregionalen Verflechtung dar. Emmendingen war über Gesellenwanderung und Universitätsstudium, über Ein- und Auswanderung nicht nur in die oberrheinische Wirtschaftsregion eingebunden, sondern auch mit Ausbildungs- und Arbeitsorten wie Tübingen, Jena und Halle, Frankfurt, Nürnberg oder Baltimore verknüpft. Schmölz-Häberleins Ausführungen zeigen allerdings deutlich, dass der Radius von Frauen wesentlich begrenzter war als jener von Männern. Während Frauen den Ort überwiegend aufgrund von Heiraten oder Gesindediensten wechselten, waren es vor allem junge Männer, welche über die Zentralorte der Oberrheinregion hinauskamen – sieht man einmal von dem spektakulären Fall der Witwe Weiß ab, die sich 1729 in Tübingen immatrikulierte. Junge Männer besaßen auch innerhalb der Stadt eine andere Präsenz als junge Frauen. Schmölz-Häberlein rekonstruiert nicht nur den verhältnismäßig hohen Anteil an Bürgersöhnen, welche die Lateinschule besuchen konnten. Sie spürt auch eine jugendliche Clique auf, die durch ihre nächtlichen Aktivitäten immer wieder die städtische Obrigkeit auf den Plan rief. Nachgezeichnet werden zudem die ebenfalls nächtens ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen den Handwerksburschen und den in landesherrlichen Diensten stehenden Küfergesellen des herrschaftlichen Weinkellers, welche den aus Universitätsstädten bekannten Konflikten weitgehend glichen. Ebenso wie die nächtlichen Gassen waren Ratsstube und Wirtshaus für Männer leichter zugänglich als für Frauen, doch grundsätzlich verschlossen waren diese Räume der weiblichen Bevölkerung nicht. Auch fanden Frauen nicht nur im Haus einen privilegierten Raum vor: Schmölz-Häberlein weist nach, dass die Emmendinger Frauen mit dem Marktplatz eng verbunden waren, denn ihnen oblag im Rahmen ihrer kommunalen Pflichten dessen Reinigung. Zur Sakristei der Kirche bestand ebenfalls eine besondere Beziehung, denn dort wählten die Bürgersfrauen die Hebamme, bis die Wahl 1779 ins Rathaus verlegt wurde. Es entspricht dem geschlechtergeschichtlichen state of the art, dass Schmölz-Häberlein in ihrer Studie Geschlecht als eine von mehreren Kategorien untersucht. Analysiert werden also auch ständische, ökonomische, konfessionelle bzw. religiöse Unterschiede. Insbesondere bezieht Schmölz-Häberlein die jüdische Minderheit in ihre Analyse ein und zeigt auf, wie sich deren Angehörige in das kleinstädtische Leben einfügten und in den zentralen Räumen der Stadt bemerkenswert präsent waren: Jüdische und christliche Männer besuchten gemeinsam das Wirtshaus; das Rathaus stand im ausgehenden 18. Jahrhundert jüdischen Familien für Tanzveranstaltungen zur Verfügung. Möglicherweise betrieb die jüdische Gemeinde auch das von der Stadt aufgegebene Badehaus als Mikwe weiter. Die detailreichen Ausführungen regen zu weiterführenden Fragen an. So scheint in der Studie mehrfach auf, wie das Kleinstädtische durch die Entwicklungen des 18. Jahrhunderts herausgefordert wurde. Zugleich intensivierte sich die obrigkeitliche Normierung in vielen Bereichen. War dies die Folge einer gemeinschaftlichen Bemühung zur Wiederherstellung guter Ordnung oder kamen hier Ideen zum Tragen, die Amtsleute wie Goethes Schwager Johann Georg Schlosser in die Stadt brachten und die mit den hergebrachten

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kleinstädtischen Wertvorstellungen keineswegs deckungsgleich waren? Gerade aus geschlechtergeschichtlicher Sicht wäre es auch von Interesse, mehr über die Mechanismen kleinstädtischer Herrschaft zu erfahren. Die prosopographische Erschließung der Stadtbevölkerung böte die Chance, „die“ Obrigkeit als ein mit der gesamten Stadtbevölkerung verwobenes Personengeflecht zu analysieren und dabei auch den Einflussmöglichkeiten von Frauen nachzugehen. Bei den beschriebenen Verstößen gegen die gute Ordnung wäre es spannend zu erfahren, von wem und unter welchen Umständen das Delikt angezeigt, untersucht und schließlich beurteilt wurde. Schmölz-Häberleins Panorama kleinstädtischer Lebenswelten bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für vergleichende und übergreifende Untersuchungen. Nicht zuletzt das dem Buch beigegebene sorgfältige Register fordert dazu auf, die vielen Einzelbeobachtungen aufzugreifen und für weitere Forschungen nutzbar zu machen. Julia A. Schmidt-Funke

Jena

K ATHARINA H OFMANN -P OLSTER: Der Hof in der Messestadt. Zur Inszenierungspraxis des Dresdner Hofes auf den Leipziger Messen (1694–1756) (= Beiträge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte 126), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 438 S., 7 Abb., (ISBN 978-3-515-10885-0), 66,00 EUR. Es ist stets eine Freude, eine historische Studie zu lesen, die auf einer breiten Quellenbasis verfasst wurde und in der die Mühen zahlloser Archiv- und Bibliotheksbesuche in einem ansprechenden, gut gegliederten Text präsentiert sind. Die 2013 an der Universität Leipzig als Dissertation angenommene und 2014 mit geringfügigen Überarbeitungen publizierte Studie von Katharina Hofmann-Polster ist hierfür ein lesenswertes Beispiel. Sie beschäftigt sich mit den Besuchen der beiden sächsisch-polnischen Kurfürsten-Könige Friedrich August I., dem Starken, und Friedrich August II. auf den Leipziger Messen während des nach ihnen benannten ‚Augusteischen Zeitalters‘ (1694–1756). Ziel der Arbeit ist die genaue Untersuchung der damit einhergehenden Zeremoniell- und Festpraxis sowie der Interaktionen zwischen der Messestadt Leipzig und der Residenzstadt Dresden. Der Fokus liegt auf der Erfassung konkreter Inszenierungsformen und -strategien sowohl des Hofes als auch der Stadt und der dabei oftmals auftretenden Kluft zwischen theoretischem Anspruch und wirklicher Umsetzung. Die Autorin folgt damit dem seit dem ‚performative turn‘ aufgekommenen Interesse der neueren Hofforschung an symbolischer Kommunikation und erweitert den innerhöfischen Blick um die Beziehungen zwischen Hof und Stadt. Die Vielseitigkeit solcher Beziehungen fand spätestens mit einer Tagung der Residenzen-Kommission im Jahre 2004 (Werner PARAVICINI [Hg.]: Der Hof und die Stadt. Konfrontation, Koexistenz und Integration in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Ostfildern 2006) wissenschaftliche Aufmerksamkeit und hat ihren Reiz in der Betrachtung zweier unterschiedlicher Instanzen, die gleichermaßen in Konkurrenz wie in gegenseitiger Abhängigkeit und Symbiose zueinander standen. Hofmann-Polster konzentriert sich dabei auf die herrscherliche Inszenierung außerhalb der Residenzstadt. Dabei überrascht der bisher dürftige Forschungsstand zu den Messebesuchen der Wettiner im 18. Jahrhundert (30 f.), reisten die Potentaten doch auffallend häufig und regelmäßig zu den Leipziger Messen (Übersicht 312–352).

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Die an sich bereits spannungsreiche Beziehung zwischen Stadt und Hof wird umso interessanter, wenn es sich mit Leipzig um eine Stadt handelt, deren Rat, Kaufleute und Universitätsangehörige bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts in frühaufklärerischen Kontexten agierten. Hofmann-Polster zeigt den Widerspruch zwischen städtischem Selbstbewusstsein und der Verankerung in ständischen Hierarchien auf. So regt es heute zum Schmunzeln an, wenn eine dem Herrscherlob dienende nächtliche Illumination der Stadt von einzelnen Handwerkern dazu genutzt wurde, in ihren Fenstern mittels „Leuchtreklame“ ihre Waren anzupreisen (266). Andererseits konnte sich die Frage, ob sich die Vertreter der Universität oder des Stadtrats auf die ‚bessere‘ rechte Seite am Eingang des kurfürstlichen Quartiers stellten, zu einem sich bis kurz vor die Ankunft des Herrschers hinziehenden innerstädtischen Hierarchiedisput auswachsen (252, 254). Oftmals lief auch nicht immer alles nach dem zwischen Stadt- und Hofinstanzen ausgehandelten und bis ins Detail geplanten Zeremoniell ab, wenn beispielsweise in der großen Zuschauermenge beim öffentlichen Tafeln des Kurprinzen ein Theologiestudent den Diebstahl seiner Geldbörse mit 60 Gulden Inhalt bemerkte, ihn lauthals den Umstehenden mitteilte und einen Tumult auslöste (152 f.). In den gedruckten Festbeschreibungen der höfischen Messebesuche tauchen derartige Anekdoten natürlich nicht auf, anders in erhaltenen Augenzeugenberichten von Zuschauern der öffentlichen Tafeln, die „eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Gesehenen“ bieten (150–152). Eine besonders harmonische Seite von höfisch-städtischer Symbiose andererseits zeigen die Bildungsprogramme für die kurfürstlichen Prinzen, die etwa Unterricht von bedeutenden Leipziger Professoren erhielten und sich private bürgerliche Sammlungen, wie das Naturalienkabinett der Apothekerfamilie Linck oder die Kunstsammlung von Johann Zacharias Richter, ansahen (198–206). Eine Quintessenz der Arbeit ist sicherlich die Widerlegung des in der bisherigen Forschung vertretenen Postulats, dass die Besuche des Dresdner Hofes in Leipzig ohne oder mit sehr wenig Protokoll und Zeremoniell abliefen und von den Kurfürsten-Königen als Erholung abseits der Hofetikette verstanden wurden (13, 303). Insbesondere unter August dem Starken wurden kommunale Instanzen und die städtische Öffentlichkeit bei Empfängen oder den erwähnten öffentlichen Tafeln „zur Darstellung absolutistischen Machtanspruchs“ in die herrscherliche Inszenierung eingebunden (298). Unter Friedrich August II. kann die Autorin einen veränderten Schwerpunkt der Inszenierungspraxis nachweisen. Er entzog sich der städtisch-öffentlichen Sphäre immer mehr, indem er etwa nicht mehr persönlich zur Begrüßung der Vertreter der Stadt und der Universität anwesend war sondern etwa seine Geburtstage im exklusiven Adelskreis im 40 Kilometer entfernten Jagdschloss Hubertusburg feierte (101). Als zentrales Ergebnis postuliert die Autorin eine „strategisch angelegte, kasusgebundene Inszenierungspraxis“ des Dresdner Hofes zu zwar nicht allen Messebesuchen in Leipzig, aber doch zu besonderen Anlässen wie Geburtstagsoder Huldigungsfeierlichkeiten (300). Hofmann-Polsters Ausführungen sind klar strukturiert. Die Dissertation enthält neben einer Einleitung fünf Kapitel und einen umfangreichen Anhang. Im ersten Kapitel gibt die Autorin grundlegende Informationen zum Dresdner Hof während der sächsisch-polnischen Union sowie zu Leipzig und seinem wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung durch die prosperierenden Messen. Anschließend werden im zweiten Kapitel die organisatorischen und finanziellen Aspekte des Aufenthalts eines großen Hofstaats in der Messestadt thematisiert – inklusive daraus erwachsender Konflikte. Das dritte Kapitel erfasst die

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zeremonielle Praxis des Hofes bei den Leipziger Messebesuchen. Hier werden nach einer theoretischen Einführung zu zeremoniellen Anlässen der fürstlichen Repräsentation die nach einem genauen und größtenteils über die Jahre gleichbleibenden Zeremoniell verlaufenden Anreisen, Empfänge, Audienzen und Mahlzeiten der Kurfürsten-Könige beschrieben. Kapitel vier illustriert die Unterhaltungsprogramme für den Hof, die aus panegyrischer Gelegenheitslyrik (u. a. von Gottsched), Theater-, Opern- und Musikaufführungen (u. a. von Bach) sowie Universitäts-, Bibliotheks- und Sammlungsbesuchen bestanden. Das fünfte Kapitel analysiert exemplarisch mehrere Messebesuche von August dem Starken und Friedrich August II. und nimmt je nach Quellenüberlieferung verschiedene Aspekte wie Zeremoniell oder Festprogramme in den Fokus. Nicht unerwähnt bleiben sollte die Zusammensetzung des Quellenkorpus, das es der Autorin ermöglicht, ein differenziertes Bild herrscherlicher und städtischer Inszenierungspraktiken zu zeichnen. Ausgewertet wurden höfische Akten wie handschriftliche Reisedokumente (Promemoria zur Reise, Speise-, Fourier- und Quartierlisten, Speise- und Sitzordnungen, Zeremonialberichte, Hofsekretärkorrespondenz), handschriftliche Hofund Messejournale sowie gedruckte Hof- und Staatskalender, ferner außerhöfische Berichterstattung in (Stadt-)Chroniken, Zeitungen und Zeitschriften und schließlich Medaillen und Schaumünzen sowie die einschlägige Zeremonialliteratur (v. a. Julius Bernhard von Rohr). Besonders wertvoll ist in dieser Hinsicht auch der umfangreiche Quellenanhang, in dem ausgewählte Dokumente präsentiert werden. Neben der bereits erwähnten Übersicht der Messeaufenthalte von Friedrich August I. und Friedrich August II. findet sich unter anderem eine bibliografische Zusammenstellung der Carmina für Mitglieder der königlichen Familie im Rahmen ihrer Messebesuche. Ein archivalisches Schmankerl ist das Speiseverzeichnis zur Ostermesse 1745, das die verschiedenen Tafeln und die ihnen hierarchisch zugewiesenen Speisen und Getränke aufzählt. Ein ausführliches Quellenund Literaturverzeichnis, ein knappes Verzeichnis der ausgewählten Karten, Abbildungen, Diagramme und Tabellen sowie ein immer noch nicht selbstverständliches Personen- und Ortsregister runden den benutzerfreundlichen Anhang vorbildlich ab. Einzig die Anzahl der im Analyseteil behandelten Messebesuche der beiden KurfürstenKönige hätte reduziert werden können. Die insgesamt neun ausgewählten Fallbeispiele greifen häufig ähnliche inhaltliche Aspekte wie Festtafeln und Festprogramme auf, wobei sie sich teilweise in Aufzählungen von Namen und Hierarchien verlieren. Die nur inhaltlich zusammenfassenden Resümees am Ende jedes Fallbeispiels stören dabei den Lesefluss. Doch der überaus positive Gesamteindruck wird hiervon nicht berührt. Katharina Hofmann-Polster legt mit ihrer Dissertation eine fundierte Regionalstudie vor, die durch Zusammenstellung und Betrachtung der Leipziger Messebesuche der sächsischpolnischen Kurfürsten-Könige in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen wertvollen Beitrag zu einem wenig erforschten Teilgebiet der Hofforschung leistet – der fürstlichen Inszenierungspraxis außerhalb von Residenzorten. Magdalena Bayreuther

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H OLGER Z AUNSTÖCK , A NDREAS G ESTRICH , T HOMAS M ÜLLER -BAHLKE (H G .): London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert (= Hallesche Forschungen 39), Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2014, VIII, 182 S., 2 Abb., (ISBN 978-3-447-10259-9), 34,00 EUR. Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung vor, die vom 10. bis 11. März 2011 an den Franckeschen Stiftungen stattfand und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Institut in London durchgeführt wurde. Die im Titel benannte Kommunikationsgeschichte, so wird es von Holger Zaunstöck in den einleitenden Bemerkungen ausgeführt, erstreckt sich insbesondere auf die Funktion Londons als zentrale Schaltstelle für Missionsangelegenheiten sowie auf die Einbindung der Metropole in ein internationales pietistisches Netzwerk. Es wird daher eine offene Herangehensweise an die Kommunikationsgeschichte gewählt, in der Pietismus letztlich selbst als eine Form der Kommunikation verstanden wird, um die Kontakte zwischen Halle und London in einer möglichst großen Bandbreite fassen zu können. Auf diese Art soll auch ein Beitrag zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Pietismus geleistet werden. Die Hallische Correspondentz und die Privilegirten Hallischen Zeitungen werden sodann beispielhaft als bedeutende Quellen für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hervorgehoben, aus der sich ein großes Interesse Halles an den religiösen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen in England herauslesen lässt. London wird als Ziel einer von Halle initiierten Imagepolitik beschrieben, im Rahmen derer die Charity-School-Bewegung in England sowohl als ein identitätsstiftender Bezugspunkt für die Glauchaschen Anstalten als auch als konkurrierendes Modell angesehen wurde. Die auf die Einleitung folgenden neun Beiträge des Bandes umfassen ca. 150 Seiten und werden durch ein Namens- und Ortsregister abgerundet. Andreas Gestrich befasst sich mit den Einflüssen des Pietismus auf die deutsch-britischen Beziehungen um 1700. Der dem Pietismus eigene überkonfessionelle Impetus, seine Nützlichkeit für die landesfremden Potentaten sowie sein Interesse an wissenschaftlichen Themen verschafften Pietisten diese Geltung, die nach dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts aber mehr und mehr zu erodieren begann. Jan van de Kamp beleuchtet die Vorgeschichte der im Band besprochenen Zeitperiode und geht auf die theologischen und religiösen Austauschprozesse zwischen England und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert ein, wobei vorrangig die puritanischen Einflüsse auf Deutschland und insbesondere auf August Hermann Francke in den Blick genommen werden. Alexander Schunkas Aufsatz über Heinrich Wilhelm Ludolf charakterisiert den Erfurter Gelehrtensohn als wichtigsten Initiator der Englandbeziehungen Halles und als weltläufigen „christlichen Wanderer“, der sein von weiten Reisen geprägtes Leben damit verbrachte, Kontakte zu gleichgesinnten, an seiner Idee einer Universalkirche aller wahren Gläubigen interessierten Christen zu knüpfen, wobei er, etwa als Mitglied der Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) in London, als kultureller Vermittler wirken konnte. Im Aufsatz von Michael Schaich geht es um die multikonfessionelle Topografie Londons um 1700, mit der sich die Pietisten der Hofkapelle im St. JamesPalast und der Savoyer St. Marien-Kirche als Handlungsraum arrangieren mussten. In dieser pluralistischen Gemengelage entstanden Möglichkeiten zur Bildung von Allianzen wie auch Konkurrenzsituationen, was insbesondere bei den limitierten Erlaubnissen zu Spendenerhebungen zu Tage trat.

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Im einzigen englischsprachigen Beitrag des Bandes zeigt Kelly J. Whitmer die Verbindungen Halles zur Royal Society auf und erläutert, inwiefern diese als Vorbild eines eigenen Forums für naturwissenschaftliche Experimente in Halle verstanden wurde. Dieser locus publicus sollte zur Vereinigung von angewandtem und theoretischem Wissen beitragen. Juliane Jacobi fragt nach den wechselseitigen Einflüssen der durch die SPCK initiierten Charity-School-Bewegung und den Schulanstalten des Halleschen Waisenhauses. Dafür werden die Akteure in den Blick genommen, die Halle bzw. London im Auftrag der jeweils anderen Seite um 1700 besuchten und so eine eigene bildungspolitische Dynamik entwickelten. Christina Jetter-Staib stellt als Extrakt ihrer Dissertation Friedrich Michael Ziegenhagen, Hofprediger in London und zentrale Bezugsfigur für Halle in der Mitte des 18. Jahrhunderts, vor. Als Vermittler der Halleschen Missionsunternehmungen in der SPCK war er auch selbst um das Wohl und die Vorbereitung der Missionare bemüht, die auf ihrem Weg nach Indien in London haltmachten, und unterstützte die salzburgischen Migranten. Über einen ausgesprochen glücklichen Fund im Archiv der Franckeschen Stiftungen kann Jürgen Gröschl berichten. Durch gezielte Recherchen in der Korrespondenz Halles mit London aus den 1790er Jahren gelang es, einen Teil des Nachlasses Ziegenhagens zu identifizieren, der überwiegend Predigten und theologische Schriften umfasst. Der Beitrag von Alexander Pyrges betrachtet abschließend die Verbindung zwischen den beiden Städten unter einem ganz anderen Blickwinkel. Am Beispiel des Kolonialprojekts Ebenezer in Georgia zeigt er aus der Netzwerkperspektive, dass Kommunikation nicht nur durch das Handeln einzelner Akteure, sondern auch durch die Musterhaftigkeit von Beziehungsformen beschrieben werden kann. Grenzüberschreitungen werden in ihren verschiedenen Formen als alltägliche und notwendige Prozesse erkannt, wie es z. B. im kontinuierlichen Austausch zur Organisation des Post- und Finanzwesens zum Ausdruck kommt. Dem in der Einleitung formulierten Anspruch, sich der Kommunikationsgeschichte zwischen Halle und London aus einer Vielzahl von Perspektiven heraus nähern zu wollen, werden die lesenswerten Beiträge durchweg gerecht. Trotz seines eher geringen Umfanges kann der Sammelband somit wichtige Anregungen für die Erforschung von Netzwerken und kulturellen Austauschprozessen bieten sowie den Forschungsstand zu den Halle-London-Beziehungen grundlegend erneuern. Anzumerken ist allerdings, dass die gewonnenen Erkenntnisse kaum über die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinausgehen. Sechs der neun Beiträge befassen sich mit der Vorgeschichte bzw. mit den Anfangsjahren der Beziehungen, während die übrigen drei Aufsätze vor allem um die Mitte des Jahrhunderts angesiedelt sind. Lediglich Jürgen Gröschl geht kurz auf die späte Korrespondenz zwischen Halle und London ein. Johann Christian Christoph Uebele wird zwar einleitend als Forschungsdesiderat benannt; weitere wichtige Namen für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wie Samuel Theodor Albinus, Johann Gustav Burgmann, Sebastian Andreas Fabricius oder Friedrich Wilhelm Pasche finden im Band hingegen, wenn überhaupt, nur punktuell Erwähnung. Dieser Mangel ist unter anderem durch die Fokussierung der Forschung auf die Anfangsjahre der Glauchaschen Anstalten verknüpft; seine Behebung muss noch stärker in Angriff genommen werden. Markus Berger

Halle an der Saale

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C HRISTINA G ERSTENMAYER: Spitzbuben und Erzbösewichter. Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation (= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 27), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2013, 386 S., 10 Abb., 2 Tab., (ISBN 978-3-86764-403-7), 44,00 EUR. Dem „Phänomen Räuberbande“ im 18. Jahrhundert widmet sich Christina Gerstenmayer in ihrer 2013 veröffentlichten Dissertation über „Spitzbuben und Erzbösewichter“ im Kurfürstentum Sachsen. Sie folgt mit dieser Arbeit einer ganzen Reihe von Historikern und Historikerinnen, die sich während der letzten rund 30 Jahre mit der Raubkriminalität in der Frühen Neuzeit und ihren teilweise zu legendenhaftem (Un-)Ruhm gelangten Protagonisten beschäftigt haben. Doch sie betritt Neuland, wobei sie gleich zwei Forschungslücken miteinander verknüpft: 1. die übergreifende Betrachtung aller zu bestimmten Räuberbanden existenten „Repräsentationen“ – d. h. Quellen, die den zeitgenössischen „Räuberbandendiskurs“ nicht nur wiedergeben, sondern selbst zu seiner Entstehung beitrugen – von den faktensammelnden Gerichtsakten bis hin zur Fiktion des Romans; und 2. den Bezug auf ein durch seine Herrschaftsgrenzen bezeichnetes Gebiet. Ihre „zentrale Frage“ lautet: Wie setzte sich der Räuberbandendiskurs in Kursachsen im Untersuchungszeitraum zusammen, welche Repräsentationen trugen dazu bei und wie – wenn überhaupt – wirkten Strafverfolgung und Mediendarstellungen wechselseitig aufeinander? Der Hauptteil der Untersuchung zerfällt in fünf thematische Abschnitte, von denen der erste (29–48) einen Einblick in die territorialpolitischen, sozioökonomischen, medienlandschaftlichen und administrativ-verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen des Vorgehens gegen Räuberbanden gibt. Der zweite (49–108) beschäftigt sich mit dem Themenkreis der „guten Policey“ und stellt die Gesetzesgrundlagen, ihre Entwicklung und ihre Anwendung vor. Dabei richtet sich das Augenmerk insbesondere auf die Erscheinungsfrequenz der Mandate und Generale zum Vorgehen gegen Räuber, Diebe, Einbrecher usw. „als Indiz dafür [. . . ], dass Devianz und Räuberbanden von obrigkeitlicher Seite durch die Repräsentationen in den Mandaten des 18. Jahrhunderts verstärkt als öffentliches Problem dargestellt wurden“, und auf die Entwicklung der Strafpraxis, die unter anderem durch die Einführung der Radbrechung als Strafe für den bandenmäßigen Raub und Maßnahmen zur Prozessbeschleunigung gekennzeichnet war. Zudem geht die Autorin auf Probleme bei der Durchführung der Verfolgungsmaßnahmen, die in Kursachsen erschienenen Gaunerlisten und die Mechanismen, die zur Aufnahme des gerichtlichen Verfahrens führten, ein. Abschnitt 3 (109–180) befasst sich hauptsächlich mit den Banden selbst. Gefragt wird nach ihrer Zusammensetzung, die sich als von familiären Zusammenhängen geprägt erweist, nach den sozialen Wurzeln und kriminellen Werdegängen der zu ihnen zählenden Individuen sowie nach dem übergreifenden kriminellen Profil, d. h. nach Arten, Orten und Ausführungsweisen ihrer Taten. Die Quellengrundlage hierfür bilden die Prozessakten aus den Verfahren gegen insgesamt rund 200 Personen, die zwischen 1685 und 1803 als mutmaßliche Mitglieder oder Anführer einer der 42 Räuberbanden, die in dieser Zeit in Kursachsen aktenkundig wurden, vor Gericht standen. Ein weiterer Unterpunkt geht auf die Bedeutung von Wirtshäusern für das kriminelle Milieu ein. Der vierte Abschnitt (181–260) richtet den Blick auf das Prozessgeschehen. Betrachtet werden die Personen, die neben den Verdächtigen oder Angeklagten noch darin involviert waren – angefangen bei den Zeugen, zu denen auch gerichtlich bestellte Experten gezählt werden, über die mit der Ausarbeitung von Verteidigungsschriften beauftragten Advokaten

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bzw. die mit der Abfassung von Gnadengesuchen betrauten professionellen Schreiber bis hin zu Gerichtsknechten, Kerkerwachen und Scharfrichtern –, und die standpunktbedingt der Urteilsfindung oder der Schuldfreisprechung dienenden Argumentationen aller Beteiligten. Vorgestellt werden auch die verschiedenen zeitgenössischen Positionen, die die Folter als Instrument der Wahrheitsfindung befürworteten oder ablehnten. Der fünfte Abschnitt (261–328) schließlich wendet sich den Räuberbildern zu, wie sie von den gedruckten Publikumsmedien gezeichnet wurden. Dabei reicht die Bandbreite dieser Medien von Flugschriften, Zeitungsartikeln und „Actenmäßigen Berichten“ – denen allen, wie die Autorin hervorhebt, die zeitliche Nähe zum wiedergegebenen Geschehen gemeinsam ist – über die sogenannten „Spitzbubengespräche“, die an den seit der Antike bekannten Typus der „Totengespräche“ angelehnt waren und zu Prominenz gelangte hingerichtete Räuber im Dialog über ihre Fälle und über allgemeine gesellschaftskritische Fragen reflektieren ließen, bis hin zu den Erläuterungen einschlägiger Begriffe zur Raubkriminalität in zeitgenössischen Lexika, zu gedruckten Predigten und zu bildlichen Darstellungen, die wiederum in verschiedenen der genannten Gattungen begleitend zu finden sind. Bezüglich ihrer zentralen Ausgangsfrage kommt die Autorin zu dem Schluss, dass das Phänomen der Bedrohung Kursachsens durch Räuberbanden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein vornehmlich von landesherrlicher Seite bewusst überzeichnetes und vor allem zur Demonstration und Stärkung der kurfürstlichen Macht instrumentalisiertes war. In der Realität erreichte die von Banden ausgehende Kriminalität das in den Mandaten beschworene Ausmaß nach Gerstenmayers Aussage nicht. In der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums habe die „Konstruktion innerer Feindbilder“ ihre vormalige Bedeutung verloren. Das Verständnis herrschaftlicher Legitimation gründete nun zunehmend – womöglich unter dem Einfluss der Aufklärung – auf dem Ideal des gerechten und gnädigen Landesfürsten, der in Person Friedrich Augusts III. 1770 die Folter abschaffte und der Verhängung der Todesstrafe vermehrt die Verurteilung zum Freiheitsentzug vorzog. Diese Tendenzen ließen sich auch in den medialen Repräsentationen nachvollziehen. Während darin anfangs noch abschreckende Räuberbilder vermittelt wurden, vollzog sich später ein Wandel zu biografisch interessierten oder gar idealisierenden Darstellungen. Darüber hinaus bietet die Untersuchung interessante Einzel- oder Nebenergebnisse, so z. B. die Feststellung, dass der Begriff „Gauner“ in den kursächsischen Quellen keine Verwendung fand oder dass die Landesregierung in legislativen Fragen eine starke Position gegenüber dem Kurfürsten als „juristischem Laien“ besaß. Dankenswert ist Gerstenmayers Entdeckung der originalen Verhör- und Folterprotokolle aus dem Prozess gegen Lips Tullian und sein Bandenumfeld, deren Existenz Uwe Danker 1988 in seiner bekannten Dissertation über „Räuberbanden im Alten Reich um 1700“ verneint hatte. Ein Kritikpunkt ergibt sich daraus, dass der Leser mehrfach auf Textpassagen stößt, die in einem sachlich unpassenden Darstellungszusammenhang zu finden sind. Dies gilt beispielsweise für die Betrachtung der zeitlichen und räumlichen Verteilung der Strafprozesse, die zur Verabschiedung neuer Gesetzeserlasse in Beziehung gesetzt wird und somit Auskunft über die Wirkung der Normsetzung auf die Justizpraxis geben soll, was thematisch unter Abschnitt 2 einzuordnen wäre, jedoch bei den „Taten und Tätern“ (109 ff.) abgehandelt wird. Ebenso gehören die Bemerkungen zur Rolle lokaler Beamter bei der Beurteilung, ob ein Indiz zur Festnahme ausreichte oder nicht (189), eher zum Spektrum

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der „Wege in den Strafprozess“ (103 ff.) als zur Betrachtung der „Prozessteilnehmer“. Wünschenswert wäre zudem eine breitere Darstellung der einzelnen als Bandenzugehörige angeklagten Personen mit ihren Lebensumständen und den von ihnen verübten Taten gewesen, um den realen Hintergrund, vor dem der Räuberdiskurs geführt wurde, auch für den Leser sichtbar zu machen. Dessen ungeachtet stellt Christina Gerstenmayers Werk mit seinem eigenständigen und neue Wege weisenden Ansatz eine Bereicherung der einschlägigen Literatur dar. Silja Foshag

Kehl am Rhein 4.

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S TEFAN F EUCHT (H G .): 1810 – Die vergessene Zäsur. Neue Grenzen in der Region Bodensee-Oberschwaben (= Südseite. Kultur und Geschichte des Bodenseekreises 1; Oberschwaben – Ansichten und Aussichten 6), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2013, 172 S., (ISBN 978-3-86764-357-3), 24,99 EUR. Frankreichs erneuter Sieg über Österreich im Fünften Koalitionskrieg bzw. der Friede von Schönbrunn (14.10.1809) hatten Napoleon die Möglichkeit gegeben, die ‚Flurbereinigung‘ im deutschen Südwesten fortzusetzen und den Rheinbundstaaten zur Arrondierung ihrer Gebiete zu verhelfen. In den Pariser Verträgen vom Mai bzw. Oktober 1810 einigte sich das Königreich Württemberg mit dem Königreich Bayern bzw. dem Großherzogtum Baden auf einen umfangreichen Gebietstausch und die Ziehung neuer Staatsgrenzen. Insbesondere Land und Leute in Oberschwaben – einschließlich Ulms und des nördlichen Bodenseeraums – waren von den Veränderungen betroffen. Nicht allein der Verlauf von Landes- und vielfach auch Gemeindegrenzen im deutschen Südwesten geht im Wesentlichen bis heute auf die Pariser Verträge zurück; die territoriale Neuordnung und Stabilisierung brachte auch tiefgreifende und langfristige Veränderungen auf regionaler und lokaler Ebene mit sich. Dennoch scheint die Bedeutung dieser „Zäsur“ im historischen Gedächtnis nicht angemessen verankert zu sein. Das zumindest legt der Titel eines Sammelbandes mit acht Aufsätzen nahe, die aus einer Tagung des Bodenseekreises, des ‚Spectrum Kultur‘ in Tettnang und der Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur im November 2010 hervorgegangen sind. Stefan Feucht, Leiter des Kreiskulturamtes Bodenseekreis, gibt damit zugleich den ersten Band der neuen Reihe „Südseite“ eines Landkreises heraus, der die historische Regionalforschung seit langem besonders fördert. Das Thema eignet sich in besonderer Weise als Auftakt zur Publikationsreihe, denn zur „Südseite“ wurde das Gebiet nördlich des Bodensees überhaupt erst durch die territorialen Veränderungen der napoleonischen Ära und ihre Langzeitfolgen: Erst jetzt erreichten Baden, Württemberg und Bayern im Süden den See, und erst jetzt wurden hier deren neue Staatsgrenzen gezogen. Zugleich begann sich der Bodenseeraum in vielfacher Hinsicht immer stärker nach Norden, zu den Kapitalen der neuen Staaten hin, zu orientieren. Überkommene Verbindungen nach Süden, nach Vorarlberg und in die Schweiz, traten dagegen in ihrer Bedeutung zurück. In seiner Einleitung skizziert Stefan Feucht, welche Veränderungen mit dem „Modernisierungsschub“ (11) der napoleonischen Zeit verbunden waren. Gerade im deutschen Südwesten mit seiner charakteristischen politischen Kleinräumigkeit und über Jahrhun-

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derte gewachsenen kulturellen Diversifikation mussten Umbrüche und Reformen, die auf Territorialisierung und vereinheitlichende Rationalisierung abzielten, eine „allgemeine Überforderung der Bevölkerung“ zur Folge haben (13). Wurde angesichts der Fülle des Neuen und der existentiellen Bedrohungen die Zäsur des Jahres 1810 überhaupt wahrgenommen? In der landesgeschichtlichen Forschung jedenfalls – markiert durch Landesausstellungen in Baden-Württemberg 2003 und 2006 mit entsprechend gewichtigen Begleitpublikationen – fanden Säkularisation und Mediatisierung sowie die Erhebung Württembergs zum Königreich weit größeres Interesse, auch wenn 2010 auf lokaler Ebene – in den ehemaligen Reichs-, dann bayerischen und schließlich württembergischen Städten Ulm, Leutkirch, Ravensburg und Buchhorn/Friedrichshafen – an die 200 Jahre zurückliegenden Ereignisse und deren Konsequenzen in einer Wanderausstellung erinnert wurde. Wie verhielt es sich im Horizont der Zeitgenossen? Die Autoren gehen dieser Ausgangsfrage des Tagungsbandes nach und fragen darüber hinaus nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in historischer Langzeitperspektive. Thematisch eröffnet wird der Band durch einen Beitrag von Ute Planert, die – wie bereits in ihrer Habilitationsschrift – der Auffassung widerspricht, die Vorstellung von ‚nationaler‘ Befreiung kennzeichne über alle Schichten und Regionen hinweg die Motivation der deutschen Bevölkerung in der Zeit der Kriege gegen Napoleon. Stattdessen sieht sie einen „Pragmatismus des Alltags“ (37) als beherrschend an und unterstreicht „die Bedeutung des Bezugspunktes Region über die politischen Umbrüche hinweg“ (22). Es ist dabei sicher plausibel anzunehmen, den Betroffenen seien letztlich die Belastungen durch die Heere der Allianz ebenso verhasst gewesen wie jene durch napoleonische Truppen. All dies spräche eher dafür, dass den Zeitgenossen im Südwesten der Zäsurcharakter des Jahres 1810 tatsächlich (vorerst) nicht zum Bewusstsein kam. Dass es ihnen allerdings deswegen gleichgültig gewesen wäre, wie und von wem sie regiert würden – das lässt sich, zumindest aus dem zugrunde gelegten Quellenmaterial, nicht schlussfolgern. Besonders einschneidende Folgen ergaben sich für das zuletzt bayerische Ulm aus der 1810 vorgenommenen neuen Grenzziehung bzw. dem Übergang an Württemberg. Es verlor seine Zentralitätsfunktion als Hauptstadt des bayerischen Oberdonaukreises und sank herab auf den Status einer württembergischen Oberamtsstadt: Behörden und Beamte zogen fort, Kaufkraft und Prestige nahmen ab. Als noch gravierender aber erwies sich die zum Teil geradezu schikanöse Behinderung des Ulmer Handels mit dem traditionellen Hinterland, dem ökonomischen Einzugsgebiet und Absatzmarkt im Osten der Stadt. Erst mit dem Regierungsantritt König Wilhelms (1816) sollten sich die Rahmenbedingungen für die Stadt entscheidend verbessern und die ökonomisch erfolgreiche Neuorientierung einsetzen. Auf welch geringe Akzeptanz infolgedessen die neue württembergische Herrschaft in der Ulmer Bevölkerung zunächst stieß, kann Ingrun Steck vor diesem Hintergrund anhand von Tagebüchern und privaten Chroniken deutlich herausarbeiten. In Ulm wurde 1810 demnach allgemein als die Zäsur empfunden, die das Jahr für die Stadt auch tatsächlich markierte. Mit zunehmender Integration in den neuen württembergischen Staat allerdings schwand die Erinnerung an die bayerische Zeit offenbar recht rasch. Länger dagegen – das betont Simon Palaoro in seinem Beitrag – waren erheblich ältere, reichsstädtische Traditionen wirksam. Gerade für Ulm lässt sich eine Kontinuitätslinie vom ‚alteuropäischen‘ republikanischen Selbstverständnis bis zur Einrichtung der ‚Bürgerausschüsse‘ durch die vergleichsweise liberale württembergische Verfassung von 1817

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ziehen. Im sogenannten zweiten Bürgerprozess der Jahre 1794 bis 1802 hatten die Ulmer Zunftbürger bereits eine institutionelle Vertretung gegenüber dem Magistrat gefordert. Sie orientierten sich dabei politiktheoretisch am Modell der aristotelischen Mischverfassung und beriefen sich zugleich auf die Tradition der Reichsstadt vor dem Eingriff Karls V. in die Stadtverfassung (1548). Maßstab für das Handeln der Bürger sollte nach wie vor das bonum commune sein; unter patria und Vaterland verstanden die Ulmer weiterhin ihre Stadt. Insofern relativiert Palaoro die Zäsurwirkung von 1810: Zumindest in den ersten Jahren danach war „nicht der Staat die Identität stiftende politische Einheit, sondern weiterhin die Kommune“ (51). Nicht zuletzt für das Gebiet des heutigen Landkreises Ravensburg machten die territorialen Veränderungen eine Neuorganisation der Verwaltungsstrukturen erforderlich, die einerseits den bereits seit 1806 neu-württembergischen Ländern angeglichen wurden, andererseits den Besonderheiten im ‚Oberland‘ – etwa der relativ geringeren Bevölkerungsdichte und der Vereinödung – Rechnung tragen mussten. Ulrich Kees zeigt, wie dabei im einzelnen – von der Auswahl der Amtssitze bis hin zur Rekrutierung des Behördenpersonals – vorgegangen wurde, so dass Ende Oktober 1810 in einem ‚Organisationsmanifest‘ der Kreis Altdorf (das heutige Weingarten) als ‚Landvogtei am Bodensee‘ mit sechs Oberämtern eingerichtet werden konnte. Auf die in der Folgezeit bis 1826 eingerichteten Ober- oder Distrikts- sowie Unterschultheißereien geht bis heute vielfach die Gemeindeeinteilung in Oberschwaben zurück. Nicht nur zwischen Bayern und Württemberg kam es zum Tausch bzw. zur Abgabe von Land und Leuten. An das Großherzogtum Baden musste König Friedrich – neben anderem – nach längerem Widerstand die vormals vorderösterreichische Landgrafschaft Nellenburg (nördlich von Stockach über Aach bis in den Hegau nach Singen und Radolfzell) am nordwestlichen Bodenseeufer abtreten. Wolfgang Hug zeigt die Hintergründe dieses Gebietsschachers auf und beschreibt den Übergang an Baden als gelungene Integrationsgeschichte. Pikanterweise bedient er sich dabei jener Stereotypen des badischen Selbstverständnisses – „Es gehört zur Mentalität der Menschen im Land, sowohl liberal zu sein als auch moderat“ (103) –, die wohl im Wesentlichen erst infolge der inneren Abgrenzung nach Gründung des Südweststaates 1952 Teil eines verbreiteten Geschichtsbildes wurden. Ging für Ulm mit dem Übergang von Bayern an Württemberg zunächst eine Deklassierung in mehreren Bereichen einher, so zählt die ehemalige kleine Reichsstadt Buchhorn zu den größten Gewinnern der Arrondierungen von 1810. Jürgen Oellers beschreibt, wie das seit 1811 nach dem König umbenannte Friedrichshafen planmäßig aus der Zusammenlegung verschiedener Siedlungen (Buchhorn und Hofen mit vormaligem Kloster bzw. Schloss und umliegender Dorfsiedlung) entstand und durch den Ausbau seines Hafens sowie insbesondere durch eine Reihe wirtschaftlicher Peuplierungsanreize zum rasch wachsenden württembergischen Vorort am See wurde. Abschließend illustriert Elmar L. Kuhn am Beispiel der ehemaligen Grafschaft Montfort-Tettnang, was der mehrfache Wechsel politischer Herrschaft – 1780 ging die Reichsgrafschaft an Österreich, 1805 an Bayern, 1810 dann an Württemberg – für Verwaltungsstruktur, Beamtenschaft, Finanzen und Gemeinden, für Rechtspflege, Landwirtschaft, Gewerbe und Verkehr jeweils bedeutete, um eine „letztlich positive Bilanz“ zu ziehen (157). Die Zäsuren von 1806 und 1810 hätten einerseits für ganz Oberschwaben ein Plus

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an Rechtssicherheit, politischen Partizipationsmöglichkeiten, agrarischem Wohlstand, Freiheit in Handel und Gewerbe sowie an Bildung mit sich gebracht, andererseits aber auch die Region zur ‚Provinz‘ abgewertet, deren Bewohner wegen ihres katholischen Glaubens zudem manche Zurücksetzung und Diskriminierung erfahren mussten. Orts- und Personenregister runden den ansprechend bebilderten und schön aufgemachten Band ab. Stefan Feucht ist mit ihm ein überzeugender Auftakt der Reihe „Südseite“ gelungen. Dietmar Schiersner

Weingarten

A NDREAS H EDWIG (H G .): Die Brüder Grimm in Marburg (= Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 25), Marburg: Hessisches Staatsarchiv 2013, 313 S., 141 Abb., (ISBN 978-3-88964-210-3), 29,00 EUR. Ein Band, der sich mit den Brüdern Grimm auf zwei sehr bekannte Autoren und Wissenschaftler sowie ihren Studienort bezieht, mag in einer Publikationsreihe wie den ‚Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg‘, die sich sonst mit Themen wie Adelsarchiven oder überregionaler Eisenbahngeschichte beschäftigt, zunächst befremdlich wirken. Dass sich das abwechslungsreich gestaltete, unter der Federführung von Andreas Hedwig herausgegebene Werk trotzdem mit den Zielen der Reihe vereinbaren lässt, liegt daran, dass ein Teil des Bandes den Katalog umfasst, den Klara Deecke und Clemens Joos zu einer im Staatsarchiv vom 1.12.2011 bis 28.09.2012 zugänglichen Ausstellung mit dem Titel „Die Brüder Grimm in Hessen. Leben und Werk im Spiegel historischer Dokumente“, konzipiert vom 45. Wissenschaftlichen Kurs der Archivschule, gestalteten. Darauf abzielend, mit Exponaten aus Staats- und Universitätsarchiv wie dem Familiennachlass Grimm Fachwissenschaftler zur Auseinandersetzung mit dem Quellenmaterial anzuregen, dieses aber auch einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, stand diese im Zeichen dreier Grimm-Jubiläen: So jährte sich 2012 die Erscheinung des bekanntesten Werkes der Brüder, der Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen, zum 200. Mal; 2013 beging man die 150. Todestage Jacob Grimms sowie des Malerbruders Ludwig. In diesem Kontext entfaltete Nordhessen eine Vielzahl kultureller Aktivitäten. Ein begeistert aufgenommener Festvortrag des renommierten Berliner Germanisten Steffen Martus eröffnete die Veranstaltung, woraufhin seine Worte nicht nur einen prominenten Platz im Themenband fanden, sondern auch dazu inspirierten, eine zum Themenjahr passende wissenschaftliche Tagung zu organisieren. In enger Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft der Philipps-Universität, dem Marburger Haus der Romantik, dem Stadt- sowie dem Staatsarchiv fand Mitte 2012 eine Tagung statt, deren Vorträge Aufnahme in den vorgestellten Band fanden. Dabei gelang es den Veranstaltern, eine Vielzahl von Beiträgern aus verschiedenen Fachdisziplinen zu gewinnen, die sehr differente Themenaspekte aufgreifen, die jedoch ihr gemeinsames Interesse am Bezug der Grimms und ihrer KHM zur Universitätsstadt und ihrer unmittelbaren Umgebung eint. Der nach Themenschwerpunkten gegliederte Textreigen beginnt mit Martus’ Vortrag, der auf Auszügen seiner wissenschaftlich fundierten Grimm-Biographie basiert. Detailliert dokumentiert dieser, wie die Jurastudenten in Marburg u. a. durch Savigny Zugang zum Kreis und Gedankengut der Romantiker fanden und mit ihrer Märchensammlung eines der faustischen Projekte begannen, das sie lebenslänglich begleitete. Marita Metz-Becker

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führt auf den Spuren der Brüder durch die Marburger Oberstadt, wobei klar wird, wie wichtig die prosperierende Universität für die Stadt schon damals war. So lockte diese zu Jacobs und Wilhelms Studienzeiten mit renommierten Wissenschaftlern wie Jung-Stilling, Baldinger, Creuzer und Savigny viele Studenten aus dem Kreise der Romantiker wie die Brentanos, Caroline von Günderode und andere mehr, über deren enge wissenschaftliche, freundschaftliche und verwandtschaftliche Bande Metz-Becker ebenso referiert wie über die bevorzugten Aufenthaltsorte des romantischen Zirkels. Stephan Bialas-Pophanken kann unter dem Titel „Wo wohnten die Brüder Grimm in Marburg?“ neue Forschungsergebnisse präsentieren: Nach genauer Analyse des grimmschen Briefwechsels beweist er, dass die Wohnverhältnisse der Brüder in Marburg offenbar andere waren, als in der „dürftig[en] und teilweise widersprüchlich[en]“ (46) Forschungsliteratur zum Thema bisher angenommen, da die beiden nicht in der Barfüßerstraße, sondern in der Wendelgasse logierten. Als Gesellschaftswissenschaftler legt Siegfried Becker seinen Fokus auf die Figuren und Beiträger der KHM in und um Marburg. So gilt seine Aufmerksamkeit den von den Grimms als „die Flemming“, die „ehemalige Zimmermännin“ und „eine alte Frau in Marburg“ bezeichneten Beiträgerinnen, wobei es ihm zwar nicht gelingt, die Identität der letzteren endgültig zu klären, wohl aber den Kreis der in Frage kommenden Personen stark einzugrenzen. Im Gegensatz zur Vorgehensweise der Brüder, gesammelte Märchentexte zu dekontextualisieren (man findet bei ihnen nur die Angabe „aus Hessen“, nicht aber „aus Marburg“), die sich mit dem Bestreben deckt, „die Fragmente eines nationalen Mythensystems“ (75) für die bürgerliche Nachwelt zu bewahren, bemüht man sich heute oft intensiv um konkrete Lokalisierung der Märchenfiguren wie -handlungen, wobei das erhellende Beispiel zu Frieder und Katerlieschen (KHM 59) bzw. Hansens Trine/Die kluge Else (KHM 34) beweist, dass dieses Bestreben meist eher auf Projektionswünschen als auf realen Bezügen beruht, da viele sich durch in der europäischen Narration populäre Topoi erklären lassen. Klara Deecke widmet ihren Beitrag der grimmschen Nachlasspolitik, indem sie offenlegt, wie die Brüder durch gezielte Verwahrung und Kommentierung zunächst als ihre eigenen Archivare fungieren und so das Bild ihrer Vita für Öffentlichkeit und Nachwelt maßgeblich mitbestimmen, bevor Sohn und Neffe Herman ab 1863 als „sehr aktiver Nachlassverwalter“ (101) in Erscheinung tritt. Schenkungen und Zersplitterungen durch Erbstreitigkeiten prägen die Entwicklung des Grimm-Nachlasses, sodass der sog. Bestand 340, bestehend aus Briefen, Handexemplaren, Manuskripten etc., erst 1954 im Staatsarchiv seine endgültige Heimat fand und in den 1980er Jahren in (Teil-)Nachlässe von mehr als zehn Familienmitgliedern gegliedert wurde. Erfreulicherweise sind seit 2009 alle Findmittelinformationen in der Hessischen Archivdatenbank HADIS online für die Recherche verfügbar; auch ist eine zeitnahe, die Grimm-Forschung sicher beflügelnde Digitalisierung der Originalquellen geplant. Als Kulturwissenschaftler nimmt Gerd Sollner einen völlig anderen Aspekt auf, indem er, mit Verweis darauf, dass in den KHM mit die häufigste Konfliktsituation der Nahrungsmangel ist, den Bogen zu „einem der Schätze des Marburger Staatsarchivs“ (115) schlägt: der umfangreichen Rezeptsammlung Dortchen und Auguste Grimms, die in sog. Allerhandsbüchlein und auf Rezeptzetteln erhalten sind. Versehen mit Herkunftskommentar und Datum erschließen diese nicht nur Fragen der Kulinaristik und bieten Ansätze zur „Lebensstil-, Gender- und Medienforschung und der Ethnografie des 19. Jahrhunderts“

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(125), sondern beleuchten auch das engmaschige Netzwerk des Bildungsbürger- und Beamtentums in Kassel, der Gelehrten-Gemeinschaft in Göttingen oder des Kreises der Berliner Salonbürger, in das die Grimms eingebunden waren. Ludwig Rinn nimmt sich dagegen eines kunsthistorischen Themas an: Otto Ubbelohdes Opus magnum, dem er neun Schaffensjahre widmete, den Illustrationen der 100. Jubiläumsausgabe der KHM. Der durch viele erhellende Bildbeispiele ergänzte Beitrag reflektiert die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Märchenstoff und der Formensprache seiner Zeit, dem Jugendstil, und dokumentiert eingängig, wie die zunächst farbigen, später zur Betonung der typischen Märchendichotomien nur noch schwarz-weiß gestalteten Federzeichnungen, bei dem Versuch, „die ‚surreale‘ Welt der Märchen durch einen Landschaftsausschnitt [Hessens] [. . . ] zu vermitteln“ (146), eine nicht intendierte Projektion Marburgs und seiner Umgebung als Märchenland der Grimms erschufen. Den Reigen der Beiträge schließt die Kuratorin Christina Schlag mit ihrer Präsentation einer multisensorischen Ausstellung des Museums für Kunst- und Kulturgeschichte, die im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts von Studierenden der Kultur- und Religionswissenschaften mit Unterstützung des Fachdiensts für Kultur gestaltet wurde. Die fünf Module sind der Frage gewidmet, was die KHM und ihre Illustrationen über das Alltagsleben auf dem Land im 19. Jahrhundert aussagen: So wird die Bedeutung des Waldes im Märchen als „mythisch mystischer Ort, bedrohlich und freundlich zugleich“ im Kontrast zu seiner realen Bedeutung als „Ressourcen- und Lebensmittellieferant [. . . ]“ (159) herausgearbeitet und damit aufgezeigt, dass die Darstellungen idyllischen Landlebens sich damals zwar in Kunst und Literatur großer Beliebtheit erfreuten, aber in dieser Form nur in der Vorstellungswelt ihrer Schöpfer existierten. Der Band endet mit dem Katalog zur Ausstellung „Die Brüder Grimm in Hessen“. Eine umfassende Einleitung und informative Begleittexte zu sämtlichen Exponaten begleiten fachwissenschaftlich vorgebildete Leser wie auch interessierte Laien entlang der sieben Stationen, die die Grimms als Wissenschaftler und Privatpersonen präsentieren: So sind die ersten Stationen der Herkunft, Kindheit und Jugend der Brüder gewidmet, die folgenden beleuchten die Studienzeit in Marburg wie die Wissenschaftskarriere in Kassel und Göttingen, während die Stationen 5 und 6 die politische Karriere Jacobs und das Nachleben der Brüder etwas knapper in Augenschein nehmen, bevor der Katalog mit Blick auf das Werk abschließt. Der Band eignet sich nicht nur für Besucher, die ihr Wissen vertiefen wollen, sondern auch für diejenigen, die nicht die Option hatten, den Veranstaltungen beizuwohnen, und appelliert an eine interdisziplinäre Forschungsgemeinschaft, die umfangreichen Quellen des Marburger Staatsarchivs für eigene Forschungsprojekte zu nutzen. Jessica Dümler

Landau

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H ANS P ETER M ÜLLER: Carl Mayer (1819–1889) – ein württembergischer Gegner Bismarcks. 1848er, Exilant, demokratischer Parteiführer und Parlamentarier (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 200), Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2014, 145 S., 8 Abb., (ISBN 978-317-026338-3), 15,00 EUR. Eine Biographie des Politikers und Publizisten Carl Mayer stellte lange ein Desiderat der Forschung dar. Ein Grund für die fehlende historiographische Auseinandersetzung mit dem Leben des württembergischen Demokraten ergab sich aus der schwierigen Quellenlage. Der Nachlass Mayers ließ eine angemessene biographische Würdigung nicht zu. Hans Peter Müller hat dieses Problem nun gelöst, indem er den „Beobachter“, das publizistische Organ der Deutschen Volkspartei, einer ausführlichen Lektüre unterzog und so die Quellengrundlage maßgeblich erweitern konnte. Entstanden ist dabei eine gut lesbare, konzise Biographie des politischen Wirkens Carl Mayers, der 1848 zum ersten Mal in Erscheinung trat, die Politik Württembergs aber über die Revolution hinaus geprägt hat. Für den knapp 30-jährigen Mayer stellte die Revolution ein prägendes Ereignis dar, das ihn in den Augen Mancher zur „gefährlichste[n] Persönlichkeit der [. . . ] schwäbischen Demokraten“ (46) machte. In vielen Aspekten gleicht Mayers Biographie dem Schicksal anderer „Achtundvierziger“. Nach dem Scheitern des Paulskirchenparlaments kam es im Frühjahr 1849 zu einer Radikalisierung seiner politischen Forderungen, die in der Reaktionszeit zu Verfolgung und Exil führten. Bereits im Juli 1849 war ein Steckbrief auf ihn ausgestellt worden. Nach seiner Flucht in die Schweiz wurde er 1852 in Abwesenheit zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Doch Hans Peter Müller betont, dass die Revolution nur eine Etappe in der Biographie des württembergischen Politikers darstellte. Daher finden sich in gleicher Gewichtung Kapitel zum Schweizer Exil, der Zeit nach Mayers Rückkehr nach Württemberg 1863, seinem Kampf gegen eine „Verpreußung“ Deutschlands am Ende der 1860er Jahre sowie dem politischen Wirken Mayers im Deutschen Reich. Müller wendet sich dezidiert gegen die These Hartwig Brandts, der Mayer als einen „Unzeitgemäßen des Kaiserreichs“ charakterisiert hatte. Statt Anachronismus sieht er in Mayer nach 1850 vor allem einen Demokraten, der sich gegen die „Fürstenherrschaft“ im Deutschen Bund wehrte, sich als Gegner Bismarcks verstand und im Föderalismus ein Mittel gegen die Vorherrschaft Preußens sah. Die biographische Perspektive ermöglicht es dem Autor, ein nuanciertes Bild des politischen Wirkens Mayers zu zeichnen. Dort, wo die Forschung Rückzug und Resignation erkennt, findet Müller immer wieder Hinweise auf politisches Engagement. Bereits im Berner Exil wurde das Haus Mayers zur Anlaufstelle für politische Freunde. Die Weltausstellung von 1851 in London wollte er zur Agitation zugunsten der demokratischen Bewegung nutzen. Für einen „Revolutionär im Wartestand“ (38) erwiesen sich die 1850er Jahre jedoch als große Herausforderung. Mayers Verurteilung 1852 verstärkte die Tendenz, sich von konkreten auf grundsätzliche politische Positionen zurückzuziehen. Allerdings kehrte er der Politik nie ganz den Rücken. Obgleich sich immer wieder Momente finden, in denen er sich um eine Karriere in Wirtschaft oder Handel bemühte, ermöglichte ihm eine Erbschaft die notwendige finanzielle Unabhängigkeit, um sich seiner politischen Leidenschaft hinzugeben.

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Allerdings trifft die Umschreibung „Politiker“ nur in Teilen das eigentliche Wirken Mayers. Als Autor und Redakteur des „Beobachters“ – eine Position, die er 1864 übernahm –, arbeitete er publizistisch. Auch versteht Müller ihn nicht als klassischen Parlamentarier. Vielmehr diente ihm die Kammer „als eine Art Agitationsbühne“ (81), in der er seine politischen Positionen einem Publikum präsentieren konnte. Die regionale Perspektive erweist sich als besonders hilfreich, um die vielen Facetten der Persönlichkeit herauszuarbeiten. Nach einer Amnestie kehrte Mayer 1863 nach Württemberg zurück, ohne von seinen demokratischen Grundsätzen abzuweichen. Die Spaltung des liberalen und des demokratischen Flügels der Opposition im württembergischen Landtag ging wesentlich auf sein Wirken zurück. Teil seines Engagements für die Landespolitik war auch seine Gegnerschaft gegenüber Preußen, das die führende Rolle in der deutschen Politik eingenommen hatte. So erklärt sich das Engagement Mayers für einen Südbund und eine großdeutsche Nation ganz wesentlich aus seinen Vorbehalten gegenüber Bismarck. Den „preußischen Rachefeldzug“ von 1866 verurteilte er öffentlich. Die Haltung des württembergischen Monarchen gegenüber dem deutsch-deutschen Krieg kritisierte er ebenso deutlich, was ihm eine Anklage wegen Regierungsbeleidigung eintrug. Gerade Mayers Wirken während der Reichsgründungszeit demonstriert, wie föderale Überzeugungen seit den 1860er Jahren komplementär zu einer Kritik der preußischen Dominanz verstanden werden sollten. Hier liefert die Biographie des Württembergers ein Beispiel für ähnliche Entwicklungen in anderen Lebensläufen. Müller gelingt es, das Exemplarische mit dem Besonderen zu verbinden und Geschichte mit analytischem Blick zu erzählen. Dabei führt er auch einzelne Anekdoten an. Der Verurteilung Mayers wegen Majestätsbeleidigung folgte 1869 die Einladung zu einem Galadiner des Königs von Württemberg. Allerdings wurde dem politischen Häftling statt einer Amnestie nur eine zweitägige Haftunterbrechung gewährt, was diesen zu dem Kommentar verleitete „man müsse kein Republikaner sein, um unter solchen Umständen der königlichen Tafel fernzubleiben“ (84). Trotz Mayers Kritik an der preußischen Politik änderte sich seine Haltung gegenüber dem Kaiserreich nach 1870. Im Anschluss an den Absturz der Volkspartei trat er zunächst von seinen Ämtern zurück. Wesentlicher scheint indessen, dass Mayer ein preußisch geführtes Reich nicht mehr grundsätzlich in Frage stellte, was ihn aber nicht davon abhielt, Verfassung und Gesetzgebung zu kritisieren. Auch ein solcher Wechsel von einer fundamentalen hin zu einer systemimmanenten Opposition lässt ihn als Person seiner Zeit erscheinen. 1876 kehrte er als Landtagsabgeordneter in die württembergische Kammer zurück. Auf nationaler Ebene erhielt seine Wahl in den Reichstag 1881 Aufmerksamkeit. In einem heftig und nicht immer sauber geführten Wahlkampf setzte er sich gegen den Fürsten von Hohenlohe-Langenburg durch. 1887 verlor er sein Mandat, was nicht zuletzt der vehementen Agitation der Reichsregierung geschuldet war, die das Szenario eines erneuten Krieges mit Frankreich und eine damit zusammenhängende Verschwörung der Reichsfeinde entwarf. Müller schildert seinen Protagonisten als Landespolitiker, der sich in der nationalen Politik engagierte. Diese Interpretation erklärt sich auch aus der Mitglieder- und Wählerstruktur der Deutschen Volkspartei, die in erster Linie in Süddeutschland zu finden war. Innerhalb der DVP stellte Mayer eine Führungspersönlichkeit dar, die zunehmend in Opposition zu Leopold Sonnemann, dem Frankfurter Kopf der Partei, trat. Während

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Müller das parlamentarische Engagement Mayers nutzt, um sein politisches Profil zu beschreiben, verwendet er die parteiinterne Auseinandersetzung, um ihn als „bürgerlichen Politiker“ (138) zu skizzieren. Ein Kritikpunkt sei an dieser Stelle angeführt. Mayers Verurteilung der Sozialistengesetze, seinen Vorbehalten gegenüber indirekten Steuern und der Verschärfung der Strafgewalt gegen Abgeordnete stellt der Autor eine Fixierung auf individuelle Freiheitsrechte und bürgerliche Grundsätze gegenüber. Müllers abschließender These, dass seinem Protagonisten die sozialen Forderungen der Arbeiterbewegung „kein zentrales Anliegen“ (138) gewesen seien und Mayers politisches Glaubensbekenntnis im Wesentlichen auf Grundsätze der Revolutionszeit zurückgehe, schwächen das von ihm zuvor entworfene Bild. Hatte der Autor zunächst mit großer Überzeugungskraft zugunsten einer Biographie argumentiert, die das politische Wirken Mayers über die Revolution hinaus ernst nimmt und sich gegen die Vorstellung einer unzeitgemäßen Haltung ausspricht, so erscheint Mayer im abschließenden Fazit doch als „Altachtundvierziger“. Hier wären weitere Ausführungen hilfreich. Doch dieser Vorbehalt trübt das positive Gesamtbild nicht. Hans Peter Müller ist eine Biographie gelungen, die das politische Denken Carl Mayers im Kontext von dessen fast vierzigjähriger Karriere anschaulich beschreibt und den Lebensweg eines Gegners der Reaktion und Bismarcks überzeugend nachzeichnet. Die Forschung wird davon profitieren. Torsten Riotte

Frankfurt am Main

J OHANNES B RACHT: Geldlose Zeiten und überfüllte Kassen. Sparen, Leihen und Vererben in der ländlichen Gesellschaft Westfalens (1830–1866) (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 55), Stuttgart: Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft 2013, 496 S., (ISBN 978-3-8282-0578-9), 68,00 EUR. Mit seiner Dissertation über das wirtschaftliche Handeln von westfälischen Bauern und Tagelöhnern betritt Johannes Bracht innovatives Neuland. Entstanden ist die Mikrostudie im Kontext eines von Ulrich Pfister geleiteten DFG-Projekts „Beziehungen und Ressourcenflüsse in der ländlichen Gesellschaft: Soziale Netzwerke in Westfalen im 19. Jahrhundert“. Ein Forscher allein wäre auch nicht in der Lage gewesen, die Aufnahme der im Projekt erhobenen beeindruckenden Datenmengen zu leisten. Nach den Arbeiten von Georg Fertig zum ländlichen Bodenmarkt (2007) und Christine Fertig zu Familien und Netzwerkbildung im ländlichen Westfalen (2012) liegt nun die dritte Studie dieses äußerst ertragreichen Forschungsprojekts vor. Fokussiert werden in allen drei Studien drei völlig unterschiedlich strukturierte Dörfer Westfalens: zunächst Borgeln mit wohlhabenden Bauern, eine der Kornkammern des Ruhrgebiets, gelegen in der Nähe von Soest, einer Stadt mit einer recht frühen Sparkassengründung. Weiterhin wird das deutlich ärmere Löhne in den Blick genommen. Es ist geprägt von Tagelöhnern, die der Untergang proto-industrieller Garnspinnerei in der Region schwer traf. Viele wanderten hier im 19. Jahrhundert aus. Drittens wird die Kirchengemeinde Oberkirchen im Sauerland untersucht, wo Vermögen vor allem mit der Holzwirtschaft zu machen waren. Dieses beschränkte sich aber auf wenige größere Grundbesitzer; auch hier überwogen die armen Gemeindemitglieder. Somit wurden drei sehr verschiedene Agrarlandschaften verglichen, und so unterschiedlich fallen dann auch die Ergebnisse aus. Im Zentrum der Dissertation steht die Frage, ob

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die Bauern und Tagelöhner im Laufe des Untersuchungszeitraums im Zuge bzw. nach der Ablösung der Grundlasten finanzielle Spielräume gewannen und ob sie diese auch marktwirtschaftlich strategisch nutzen konnten. Bracht intendiert zudem, individuelle Entscheidungen nachvollziehbar zu machen. Die Studie beruht auf einer beeindruckenden Quellenbasis. So wurden nicht nur Katasterquerschnitte für die Jahre 1829/30/33 und 1866, Hypothekenbücher, Kirchenbücher und Grundakten ausgewertet, sondern auch die Journale der Sparkasse Soest. Es gelingt auf diese Weise erstmals, sowohl profunde Aussagen zum Bodenmarkt als auch zum Kreditmarkt für ganze Dörfer zu bieten. Eingeordnet wurden die Ergebnisse aufgrund einer exzellenten Literaturauswahl in den Rahmen der europäischen Agrar-und Kreditgeschichte. Bracht kann zeigen, dass vor allem die Getreidebauern in Borgeln vom stetig steigenden Getreidepreis profitierten und ihnen die Ablösungen gelangen. Die Naturalerträge für Weizen stiegen von 1830 bis 1866 um bis zu 100 % und der Preis des Bodens stieg um das Dreifache, ebenso wie das bäuerliche Vermögen. Ein Bodenmarkt entstand dennoch oder gerade deshalb nicht. Keiner verkaufte Land, weil es sichere Gewinne abwarf, und der Gemeinderat von Borgeln kontrollierte bzw. verweigerte den Zuzug von Interessenten von außerhalb. Besaßen die Eltern nur Mobiliar, so verfügten die Kinder schon über Häuser und die Enkel waren stolze Hofbesitzer. Auch die Spareinlagen der Borgeler stiegen im Untersuchungszeitraum um das Zehnfache. Alles in allem zeigt Bracht, dass sich die Borgeler Bauern von den Belastungen der Ablösungen sehr schnell erholen konnten. Dieser Reichtum führte aber auch dazu, dass das Dorf im Reichtum regelrecht „erstarrte“. Ob die reicheren Bauern und Grundherren (Eisenbahn-)Aktien besaßen, kann wegen der benutzten Quellengruppen nicht beantwortet werden. Auch der Hinweis, in diesem Kontext einmal die Verdienstmöglichkeiten der Grundherren mit den von ihnen gegründeten Rentenbanken, welche die Ablösungen erleichtern sollten, zu analysieren, ist wertvoll. Kredite wurden hier – zumindest auf der Ebene des Hypothekarkredits – nicht unter Verwandten vergeben, anders als im Linksrheinischen, wo hohe Kredite nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt innerhalb der Familie üblich waren. Die sehr früh gegründete Sparkasse in Soest vergab bereitwillig Kredite, und überhaupt flossen wie anderswo in Europa auch Kredite von der Stadt aufs Land. Die überwiegende Mehrzahl wurde aber nicht durch Hypotheken abgesichert und von den Behörden registriert. Eine diesbezügliche tiefergehende Analyse der 28 untersuchten Nachlassinventare hätte hier zumindest für einige Fälle detaillierte Auskunft geben können. Interessant ist der Befund, dass trotz der bestehenden Sparkasse weiterhin unvermindert Kredite von Kaufleuten und anderen Privatiers vergeben wurden. Über die Herkunft und Profession der Gläubiger (188) hätte man gerne mehr gewusst. Wer waren die Adligen und Grundbesitzer, welche immerhin 20 % der Hypothekarkredite vergaben? In welchem Verhältnis standen sie zu ihren Schuldnern? Auch die Rolle der Notare bleibt unklar. Sie dürften gewiss als Broker gewirkt haben. Wer in der Lage war zu sparen, investierte das Gesparte wiederum in Grund und Boden. Für Borgeln kann keine soziale Funktion des Kredits innerhalb der Familie oder unter Nachbarn nachgewiesen werden, aber auch andernorts gewährte man Kredite in erster Linie aus ökonomischen Gründen; die Bildung sozialer Konsolidierungen war sekundär. Alles in allem waren die Kreditmärkte stark lokal gebunden, was wiederum vorliegende

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Forschungsergebnisse für Frankreich (Gilles Postel-Vinay) oder den linksrheinischen Raum bestätigt. Bracht kann weiterhin überzeugend nachweisen, dass von einem Kreditmangel keine Rede sein. Die Frage, ob es eine Interdependenz zwischen Kredit- und Bodenmarkt gegeben habe, ist zu verneinen, schlicht weil der Bodenmarkt so schwach ausgebildet war. Alles in allem liegt hier eine methodisch und theoretisch anspruchsvolle Studie vor, die aufgrund akribischer Quellenstudien und umsichtiger, kluger Auswertungen unser Wissen über Finanztransaktionen, Bodenbesitz und Agrarkonjunktur in Westfalen im 19. Jahrhundert erheblich bereichert. Gabriele B. Clemens

Saarbrücken

A NNA S CHIENER: Die städtische Sparkasse Amberg im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Oberpfalz (= Regensburger Beiträge zur Regionalgeschichte 14), Regensburg: Edition Vulpes 2012, 434 S., (ISBN 978-3-939112-69-3), 32,00 EUR. Diese als Dissertation im Fach Landesgeschichte entstandene Analyse tangiert – durchaus typisch für den Betrachtungsgegenstand – auch die Disziplinen Wirtschafts-, Banken-, Kultur- und Politikgeschichte. Somit nimmt die Verfasserin einen breiten Blickwinkel ein und lässt sich dabei von der Chronologie der Unternehmensgeschichte leiten. Die Arbeit bestätigt auch die aus der bisherigen Forschung geklärten Eckpfeiler der bayerischen Sparkassengeschichte, liefert aber als Ergänzung dazu die Besonderheiten des Platzes Amberg. Die knappe Beschreibung der grundsätzlichen Sparkassenidee und erster Sparkassengründungen sowie der Schlaglichter auf die Geschichte Ambergs liefern die Rahmenbedingungen. Schön herausgearbeitet wurde, dass für die Gründung der Sparkasse Amberg weniger die örtliche Politik oder Privatpersonen verantwortlich zeichneten, sondern die Initiative des bayerischen Staats, insbesondere die Regierung des Regenkreises ausschlaggebend war. Dahinter steht der Gedanke der Staatsfinanzierung (Staatsschuldentilgungskasse), der bei Sparkassengründungen in der Regel ein mindestens ebenso wichtiges Motiv darstellte wie die Förderung des Spargedankens und der Kapitalbildung weniger wohlhabender Bevölkerungsschichten. Somit wird das gesammelte Anlagekapital nicht nur dem regionalen Kreditverkehr (Pfandhäuser), sondern auch einem größeren, landesweiten Zusammenhang zugeleitet. Auch die Sparkasse Amberg ließ sich zunächst von der relativ guten und scheinbar sicheren Verzinsung und Kapitalanlage bei der Staatsschuldentilgungskasse blenden, was letztendlich zur Schließung auch dieser Sparkasse führte. Nach der Neugründung war auch die Sparkasse Amberg gezwungen, im Aktivgeschäft zu diversifizieren; trotz der engen Bindung an den Stadtmagistrat kam es sehr bald zu hypothekarisch gesicherten Kreditvergaben an Privatpersonen. Nach der Reorganisation wurde eine konservativ geprägte Geschäftspolitik fortgesetzt. Schön herausgearbeitet wird das Spannungsfeld zwischen Rentabilität und Sicherheit, in dem auch die Sparkasse Amberg agieren musste. Die Frage der Anlageform stand wie bei anderen Sparkassen auch hier im Zentrum – im Spannungsfeld zwischen staatlichem Einfluss und betrieblicher Notwendigkeit.

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Die Beschreibung der Geschäftsentwicklung wird in fünf, auch von der Sparkassengeschichte allgemein vorgegebenen Zeitabschnitten gegliedert dargestellt: 1825 bis 1840, 1840 bis 1848, 1849 bis 1869, 1870 bis 1885 und 1886 bis 1905. Die Ausführungen werden jeweils mit ausführlichem Zahlenmaterial zum Aktiv- und Passivgeschäft untermauert und mit umfangreichen Originalzitaten belegt. Im Bereich der Mittelverwendung spielt neben der üblichen Anlage bei staatlichen Instanzen (insbesondere Staatspapiere und Kommunalkredit) die langfristige Kreditvergabe (Realkredit) an Privatpersonen, auch Unternehmer, eine Rolle. In der zweiten Hälfte, insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts partizipierte die Sparkasse Amberg angesichts des Spannungsfeldes zwischen Gewährträger und vorgesetzter Behörde und angesichts der Finanzierungsmöglichkeiten, welche die Stadt Amberg zu bieten hatte, sehr verhalten am allgemeinen Aufschwung des Banken- und Sparkassenwesens. Positiv fällt auf, dass die Arbeit die Entwicklung der Sparkasse Amberg in ihren wesentlichen betrieblichen Eckpfeilern systematisch vor dem Hintergrund vergleichbarer bayerischer Sparkassen und dem (bayerischen) Bankensektor darstellt und beurteilt. Dies gilt auch für die ausführlich beschriebene Auseinandersetzung mit der durch das Verhalten der Staatsschuldentilgungskasse geschaffenen schwierigen Situation. Schiener behält stets die Haltung des Amberger Stadtmagistrats im Zeitablauf ebenso im Blick wie die Sozialstruktur der Einleger und gelegentlich auch des Personals. Originell sind die als Exkurse bezeichneten Ausflüge in noch wenig beforschte lokale Institutionen, die mit der Sparkasse zumindest zeitweise in Geschäftsbeziehung standen (Leihhäuser, Maximilians-Rettungsanstalt, Errichtung des Gaswerks), was die Einbettung der Sparkasse in den regionalen Zusammenhang unterstreicht. Wesentliche neue Erkenntnisse der Grundzüge der Bayerischen Sparkassengeschichte kann die vorliegende Arbeit zwar nicht liefern, jedoch interessante Einblicke in spezielle Details und regionale Besonderheiten. Die flüssig geschriebene Arbeit steht auf einer sehr soliden Literatur- und Quellenbasis. Die in allen relevanten Archiven recherchierten Quellen werden sorgfältig und systematisch ausgewertet und in die bereits bekannte Sparkassengeschichte eingeordnet. Somit ist die Geschichte der Sparkasse Amberg ein weiteres Mosaikstück auf dem Gebiet der bayerischen Sparkassengeschichte, welches dazu beiträgt, die Gesamtsicht weiter zu verdichten. Ein lesenswertes Buch. Margarete Wagner-Braun

Bamberg

B ERND R EICHELT: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland/Moselle 1900– 1952. Eine transnationale Geschichte politischer Inszenierung und sportlicher Emanzipation (= Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees 11), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 421 S., 7 Abb., (ISBN 978-3-515-10893-5), 66,00 EUR. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Geschichte des Fußballsports, die sich nicht vorrangig mit Personen, Wettbewerben, Vereinen oder Verbänden, sondern mit strukturellen Zusammenhängen befassen, sind selten. Deshalb verdient die hier anzuzeigende Dissertation besondere Beachtung. Sie stellt keinen geringeren Anspruch, als die Geschichte des runden Leders in einer ganzen Region – und dies über den Zeitraum von einem halben Jahrhundert – darzustellen. Bernd Reichelt grenzt das Feld der Untersuchung geografisch ein auf den deutsch-französischen Grenzraum des Saarlands und der Moselle, zeitlich

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auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Fokus steht der bürgerliche Fußball. Die konfessionellen Sportverbände und die den Linksparteien nahe stehenden Organisationen sowie das Deutsche Turnen werden nur am Rand gestreift. Reichelt liefert eine eminent politische Geschichte des Fußballspiels. Schließlich war der Raum Saarland-Moselle durch die deutsch-französischen Kriege im Untersuchungszeitraum von nicht weniger als drei Grenzverschiebungen betroffen. Dies bedingte eine intensive Politisierung des Kulturlebens einer Region, in der auch der Sport von der Politik heftig umworben wurde. Das Werk ist, eingerahmt von einer Einführung und einer Schlussbetrachtung, in drei große Teile gegliedert. Der erste Teil analysiert die Formierung des Fußballsports bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, der zweite die beiden Jahrzehnte vom Ende des Ersten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, in denen die Vereine an der Saar und in der Moselle getrennte Wege gingen, während der dritte Teil die Jahre 1940 bis 1952 unter dem Stichwort „Fußball als Grenzgänger“ abhandelt. Vorzüglich erschlossen wird das Werk durch einen Anhang, der ein Personenregister sowie Kurzbiografien der wichtigsten behandelten Akteure umfasst. Schon ein oberflächlicher Blick in das Quellen- und Literaturverzeichnis zeigt, dass der Verfasser sein Thema auf einer so immens breiten Basis archivalischer Recherchen erarbeitet hat, dass dieses Werk eher die Anforderungen einer Habilitationsschrift als einer Doktorarbeit erfüllt. Der Untertitel markiert den systematischen Rahmen, in dem der Verfasser das Spiel mit dem runden Leder zwischen „politischer Inszenierung und sportlicher Emanzipation“ betrachtet. Im Anschluss an Sven Güldenpfennigs Forderung, in der Historiografie dem „Eigensinn“ des Sports als autonomem Kulturgut gerecht zu werden, rekonstruiert Reichelt das Fußballspiel „als eigenständiges kulturelles Sinnsystem“, das in Wechselwirkung mit seinem „organisatorisch-sozialen Kontext“ (14) steht, der über das Geschehen auf dem Platz hinaus die Anhängerschaften der Vereine, die Vermarktung des Spiels durch die Funktionäre und dessen politische Indienstnahme umfasst. Reichelt zeichnet das zutiefst ambivalente Bild einer Fußballkultur, die zwischen den Polen Vergemeinschaftung und Individualisierung, Vaterlandsliebe und Vereinsegoismus, Kosmopolitismus und Heimatverbundenheit, politischer Pädagogik und Kommerzialisierung ausgespannt ist. Er schildert die Ursprünge des Spiels in Schülergruppierungen, die von der Begeisterung anglophiler Pädagogen angesteckt worden waren, sowie in den Spielabteilungen der deutsch-völkischen Turnvereine (73), die das Aufkommen der aus Großbritannien kommenden, mit ihnen konkurrierenden Sportbewegung unterbinden, zumindest aber unter ihre Kontrolle bekommen wollten. Doch konnte die Turnbewegung die Emanzipation einer selbstbezogenen Fußballkultur (83), die vor allem sportlichen Erfolg und das wirtschaftliche Fortkommen der Vereine im Blick hatte, nicht verhindern. Dies schloss eine affirmative Haltung zum Staat keineswegs aus, sondern erwies sich vielmehr als ein Schlüssel zum Erfolg. Die Fußballclubs boten sich den Behörden als Agenturen der Sozialdisziplinierung an, die im Rahmen der staatlichen Jugendpflege und wehrpolitisch gewünschten Körperertüchtigung gemeinnützige Aufgaben wahrnahmen. Diese Staatsnähe wurde von den Behörden belohnt durch Steuerfreistellungen, Subventionen und eine aktive kommunale Sportpolitik, die mit dem Bau von Turnhallen, Spielplätzen und Stadien am Entstehen einer für die Fußballclubs unverzichtbaren Infrastruktur mitwirkten. Opportunistischer Pragmatismus war das Leitprinzip der bürgerlichen Fußballclubs. Sie nutzen die Möglich-

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keiten, die der paramilitärische Jungdeutschlandbund (Saargebiet) und die „Préparation Militaire“ (Moselle) boten, ließen die Behörden mit ihren militärpädagogischen Zielsetzungen jedoch weitgehend ins Leere laufen. So gab sich Borussia Neunkirchen in den 1920er Jahren zwar deutsch-patriotisch, agierte jedoch primär vereinsegoistisch, indem der Verein zahlreiche ausländische Spieler und Trainer verpflichtete und gute Kontakte zum französischen Sport und der Regierungskommission pflegte, um lukrative internationale Spiele gegen prominente Profimannschaften abschließen zu können (167f.). Und eben deshalb galten die Borussen den deutschen Behörden als politisch unzuverlässig. Die „Französisierung“ (189) der deutschen Fußballvereine verlief in der Moselle nach dem Ersten Weltkrieg vollkommen problemlos, denn die Clubs profitierten von der Anpassung an die neuen politischen Rahmenbedingungen. Sie vollzogen innerhalb weniger Wochen eine radikale politische Kehrtwende, indem sie das Bekenntnis zum deutschen Kaiser gegen das zur französischen Republik austauschten. Reichelt arbeitet an diesen und anderen Beispielen überzeugend heraus, dass „Vereinspragmatismus als Grundprinzip“ (143–146) das Verhalten der Fußballfunktionäre leitete, wenn es darum ging, „ihren Sport barrierefrei ausüben zu können“ (188). Obwohl „die Klubs keine Eigenwelt“ im Sinn rigoroser Abschottung bildeten, spiegelten sie jenen „Eigensinn des Fußballsports“ als „autonomes kulturelles Feld“, der immer „dann sehr patriotisch“ werden konnte, „wenn es darum ging, Subventionen einzufordern“ (184 f., vgl. 358). Eindringlich schildert Reichelt, wie die unterschiedlichsten Versuche der Politik, den Fußball für nicht-sportliche Ziele zu instrumentalisieren, am Eigensinn des Sports gescheitert sind: die französische Sportpolitik an der Saar nach 1918 (275), die Konstruktion einer westmärkischen Regionalidentität in der NS-Zeit (310 f.), die Eingliederung des Saarfußballs in die Wettbewerbe des französischen Professionalfußballs (335f.) oder der Aufbau einer exklusiv saarländischen „Nation“ (356). Andere Handlungsfelder, auf denen sich die Verbands- und Vereinsfunktionäre tatsächlich vor den Karren wechselnder politischer Interessen spannen ließen, erklärt Reichelt ebenfalls mit dem Prinzip Vereinsegoismus. Damit wirft er beispielsweise neues Licht auf die bereitwillige Vereinnahmung des Sports während der Kampagne für die Rückgliederung der Saar in das Deutsche Reich im Jahr 1935. Unabhängig von den ideologischen Präferenzen der Funktionäre stand die Saarkampagne nämlich auch im Interesse des Sports (221–235), der Isolierung und wirtschaftliche Schwächung zu verhindern bestrebt war. Genau derselben Logik folgten die Sachwalter des Fußballsports im Saarland als französischem Protektorat. So scheute sich der „deutsch-nationale“ Hermann Neuberger nicht, 1949 die Eingliederung des saarländischen Fußballs in den französischen Profisport zu forcieren, um alsbald auf die dazu vollkommen konträre Karte der Überführung in den bundesrepublikanischen Oberligabetrieb zu setzen (333, 336, 345). In beiden Phasen der von ihm verfolgten Sportpolitik war Neuberger als Funktionär des Saarländischen Fußballbundes und des 1. FC Saarbrücken von dem Interesse geleitet, sportlich und ökonomisch das Optimum für die Saarvereine herauszuschlagen. Über Reichelts Untersuchungszeitraum hinaus sei an dieser Stelle vermerkt: Jahrzehnte später war Neuberger als DFB-Präsident bereit, bei der Bewerbung für die FußballEuropameisterschaft 1988 die deutschlandpolitischen Interessen der Bundesregierung zu „verraten“, indem er Berlin als Austragungsort opferte, um die Stimmen des Ostblocks zu

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gewinnen und sich mit diesem Schachzug gegen die Konkurrenz erfolgreich durchzusetzen. Dafür handelte er sich die harsche Kritik von Bundeskanzler Helmut Kohl ein. Abgesehen von Nils Havemanns quellengesättigten Werken über den DFB in der Zeit des Nationalsozialismus (2005) und die Geschichte der Bundesliga (2013) gibt es bislang kein weiteres sporthistorisches Werk, das so fundiert, quellennah, detailreich und sachlich wohlbegründet herausarbeitet, wodurch sich das spezifisch sportpolitische Handeln der Vereine und Verbände des organisierten Fußballs auszeichnet. Es dient primär der strukturellen Professionalisierung des Sports, der Optimierung der Attraktivität und Qualität des Spiels und der lukrativen Vermarktung der Sportveranstaltungen. Der „Gleichschaltung“ mit von außen kommenden politischen Zielen ist immer nur dann nachhaltiger Erfolg beschieden, wenn dies zugleich auch den Eigeninteressen des Sports und der Weiterentwicklung der Fußballclubs dient, für die das „performative sportliche Geschehen auf dem Platz“ (359) im Zentrum aller Anstrengungen steht. Dieses Resümee mag banal wirken, doch in Anbetracht einer nach wie vor stark von kurzschlüssiger Ideologiekritik geprägten deutschen Sporthistoriografie und -publizistik (236) liegt gerade darin die Bedeutung dieses Werks für die künftige historische Forschung zum Fußballsport in Deutschland. Markwart Herzog

Irsee

J ULIA O BERST: Das proletarische Milieu in Röthenbach an der Pegnitz von 1928 bis 1933 (= Bamberger Historische Studien 11), Bamberg: Bamberg University Press 2013, 233 S., (ISBN 978-3-86309-148-4), 17,50 EUR. Mittelfranken war in der späten Weimarer Republik eine Hochburg der Hitler-Bewegung. Wie und wo diese bei den Wahlen Spitzenwerte erzielte und eine sensationelle Organisationsdichte erreichte, hat Rainer Hambrecht vor fast 40 Jahren in seiner Pionierstudie „Der Aufstieg der NSDAP in Mittel- und Oberfranken 1925 bis 1933“ detailliert dargestellt. Doch es gab Ausnahmen von dieser Tendenz; besonders auffallend entzog sich das östlich von Nürnberg gelegene Röthenbach dem braunen Sog. Bis zum Ende Weimars votierte mehr als die Hälfte der Wähler für die Arbeiterparteien SPD und KPD, während die NSDAP nicht einmal ein Drittel der Stimmen erhielt, weniger als halb so viele wie in der Region. Und noch nach dem Beginn von Hitlers Herrschaft gab es offenen Massenprotest gegen sie. Solch anhaltend starke Abwehr war sichtlich nur möglich, weil die vorherrschende linke Gesinnung in der Lokalgesellschaft lebensweltlich vorgegeben, das heißt in einem breiten und stabilen proletarischen Milieu verankert war. Mit dem Erklärungsmodell des Milieus, das heißt einer Koinzidenz ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Faktoren, die für Einstellungen und Verhalten bestimmende Konsistenz gewinnt, geht die von Andreas Dornheim angeregte und betreute Bamberger Magisterarbeit dem Fall Röthenbach auf den Grund. Das geschieht auf einer breiten Quellenbasis – staatliche, kommunale und private Akten, regionale und lokale Presse –, auf der Höhe der Forschung zur Weimarer Republik, zu ihren Wahlen sowie zum Arbeitermilieu und, wie die Diskussion des Milieu-Konzepts in der Einleitung zeigt, methodensicher. Zunächst beschreibt die Verfasserin konzise die besondere Struktur des bereits 1859 von der Eisenbahn erreichten Röthenbach durch eine „punktuelle, monoindustrielle In-

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dustrialisierung“: Um 1900 wuchs es durch eine Nürnberger Fabrik für Kohlen- und Grafitelektroden rapide von knapp 400 auf 5 000 Einwohner, wodurch der lutherische Ort zu einem vorwiegend katholischen – fast zwei Drittel der Bevölkerung – wurde. Die Firma prosperierte bis zum Ersten Weltkrieg und bot durch soziale Einrichtungen der bei ihr beschäftigten Mehrheit eine hinreichende Binnenversorgung; dies ermöglichte die Entfaltung einer eigenständigen lokalen Lebenswelt und isolierte diese neben dem abweichenden Wirtschafts- und Sozialtyp zusätzlich vom Umland. Die Fabrik schrumpfte jedoch in den 1920er Jahren und ging in der Weltwirtschaftskrise so zurück, dass 1932 – ein anderer potenter Arbeitgeber fehlte – sehr viele Röthenbacher erwerbslos waren und über die Hälfte der Einwohner von öffentlicher Unterstützung lebte. Das wiederum brachte die Gemeinde in höchste Finanznot, die sie völlig von der Hilfe des Landes abhängig machte. Im Kontext dieser dramatischen Entwicklung, die sich in den Wahlen von 1928 bis 1933 direkt niederschlug, werden die Elemente des Milieus mit ihrer Kohäsionswirkung dargestellt und wird ihr Beitrag zur Abwehr der NS-Bewegung analysiert. Bei den Wahlen zum Reichstag und zum Landtag holte während der gesamten Weimarer Republik die Linke die meisten Stimmen, vor der aufgrund der katholischen Einwohnermehrheit starken Bayerischen Volkspartei. Dabei verdrängte allerdings 1930 die KPD die SPD spektakulär vom ersten Platz – Ausdruck der Radikalisierung der Arbeiterschaft in der Weltwirtschaftskrise. Dass hingegen in der Gemeinde, wo Politik alltagsnah geschieht, nach längerer Herrschaft einer Vereinigung der bürgerlichen Rechten mit der BVP 1928 die SPD bestimmend wurde und die KPD keinen entscheidenden Einfluss gewann, lag zum einen an der Person des auch von der BVP mitgewählten neuen Bürgermeisters, der, als langjähriger Gemeindebeamter allseits geachtet, keinen wirklichen Konkurrenten hatte. Zum andern gründete die politische Vormacht der Sozialdemokraten darin, dass strukturell hauptsächlich sie durch die Stärke und Aktivität der ihr nahen gesellschaftlichen Organisationen die Linke darstellten und damit im Ort dominierten. Die nach hohen Wahlerfolgen 1910 gegründete Ortsgruppe der SPD, die in den 1920er Jahren vor allem durch ihr Engagement für Wohnungsbau und Arbeitslosenbelange Resonanz behielt und seit 1925 mit dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, ab 1931 mit der Eisernen Front lebhaft für die Republik mobilisieren konnte, hatte zwar in den Gewerkschaften nur schwache Partner. Denn diese litten unter der Übermacht des einzigen großen Arbeitgebers und der hohen Arbeitslosigkeit. Doch ein Netz von Arbeitervereinen, mit denen die SPD personell eng verbunden war und die sich ihrerseits durch zahlreiche Doppelmitgliedschaften verflochten, gab ihr die breite Milieubasis. Der bereits 1898 gegründete Konsumverein, die in der Massenbewegung des Arbeitersports in den 1920er Jahren aufgeblühten mitgliederstarken Sportvereine (Turn- und Sportverein, AthletenClub, Rad- und Kraftfahrer-Bund, Naturfreunde), Gesangvereine, die mit ihren Auftritten vielen Veranstaltungen Unterhaltungsglanz gaben, sowie der Arbeiter-Samariter-Bund und die Arbeiterwohlfahrt verwirklichten mit ihren Aktivitäten, Feiern und öffentlichen Darbietungen eine eigene, weltanschaulich fundierte und sozial vom Bürgertum selbstbewusst abgegrenzte Lebenswelt. Sogar der unpolitische Gartenbauverein Flora repräsentierte mit seinen attraktiven Blumenumzügen die Arbeiterschaft. Wichtig war stets der enge Kontakt zu den Arbeitervereinen, zu Arbeiterkultur und Sozialdemokratie in Nürnberg und

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Fürth; von dort kamen Redner, mannigfache Unterstützung, aber auch ein viel breiteres Warenangebot im Konsum. Wie die SPD besaßen diese Vorfeldorganisationen erhebliche „Konstanz, Tradition und Organisationsstärke“; dadurch banden sie insgesamt einen Großteil der Einwohner dauerhaft an eine gemäßigt sozialistische Gesinnung. In dieses „Geflecht“ konnte die KPD, trotz ihrer durch akute Not möglichen Wahlerfolge, mit der von Moskau diktierten Abspaltungsstrategie im Kampf gegen die „Sozialfaschisten“ der SPD wenig eindringen. Ihre in erbittertem Konflikt aufgebauten Parallelorganisationen blieben schwach, nicht zuletzt wegen mangelnder personeller Kontinuität. Deshalb erreichte auch die starke Fraktion im Gemeinderat mit ihrer aggressiven Agitation wenig Konkretes. Wirksamer wurde die Rote Hilfe, die vor allem für die Unterstützung politischer Gefangener sammelte. Breiter binden konnte die KPD nur Frauen, besonders Arbeiterinnen, die zunehmend anstatt der Männer eingestellt wurden und das zu miserablen Bedingungen, sowie erwerbslose Jugendliche, die sich als verlorene Generation fühlten. Beide hofften auf die KPD, weil sie durch einen radikalen Politikwechsel rasche Besserung versprach. Eine überproportionale Rolle spielten Kommunisten in der Freidenkerbewegung und bei Kirchenaustritten, wo das proletarische Milieu zur ‚Gegenkirche‘ werden konnte. Die große Mehrheit aber blieb in ihrer jeweiligen Kirche, ja nicht wenige Sozialdemokraten praktizierten auch deren Religion. Schließlich fällt noch ein besonderer Blick auf das Gewicht der Frauen im Milieu – auch wenn sie keine Führungsaufgaben erhielten – und auf die hohe Bedeutung einer eigenen Festkultur für seine „Konstitution und Stabilisierung“. Das dichte proletarische Milieu verhinderte zusammen mit dem gleichfalls starken katholischen Milieu bis zum Ende Weimars, dass die Nationalsozialisten ihrem in den kleineren Städten und Dörfern dieser Region spektakulären Erfolg in Röthenbach auch nur halbwegs nahekamen; noch im November 1932 errangen sie nur 25 Prozent, die KPD knapp 34, die SPD gut 21, die BVP 16. Selbst als Hitler an die Macht gekommen war und die SA drohende Umzüge hielt, demonstrierte die Linke mehrmals gegen ihn – und zwar nun, in akuter Gefahr, Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam. Zur größten Kundgebung Ende Februar 1933 kamen rund 3 000 Personen und damit etwa die Hälfte der Einwohner. Doch der rasch einsetzende Terror, der zuerst die KPD und bald auch die Sozialdemokraten mit ihrem populären Bürgermeister ausschaltete, brachte Röthenbach bis zum Juni in NS-Hand. Das organisierte Milieu war zerschlagen; mental konnte es zwar verdrängt, aber nicht ausgelöscht werden. Die Verfasserin beschreibt den Fall Röthenbach so gründlich und umsichtig, dass sein besonderer Verlauf überzeugend erklärt und die strukturelle Bedingtheit der ungewöhnlichen Ereignisse durch das sehr fruchtbar angewandte Milieu-Modell aufgedeckt wird. Tabellen und eine aufwendig erstellte Prosopographie aller genannten Personen mit Lebensdaten, Beruf, Wohnung und Funktionen konkretisieren die Untersuchung präzise. Zwar könnte sprachlich manches glatter sein, stören zudem unnötig wertende Formulierungen wie „Hetze“, „diffamieren“, „beschimpfen“, hätten einige vergleichende Blicke in zunächst deutschnational, dann nationalsozialistisch dominierte Nachbarorte das Bild des Sonderwegs noch geschärft. Zudem wäre der Versuch, auch einen für das proletarische Milieu typischen Habitus zu finden, reizvoll gewesen. Schließlich fehlen leider Register. Aber solche Kritik beeinträchtigt die Leistung und den bemerkenswerten Forschungsertrag einer Studie wenig, die das übliche Niveau einer Magisterarbeit deutlich übertrifft. Es ist

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sehr dankenswert, dass diese wichtige Differenzierung der gängigen Vorstellung von der politischen Kultur Frankens in der Weimarer Republik publiziert wurde. Sie zeigt, was mit vorzüglichen Studienabschlussarbeiten, die unveröffentlicht bleiben, an Erkenntnissen verloren geht. Werner K. Blessing

Erlangen

P ETRA S CHEIDT: Karriere im Stillstand? Der Demokratische Frauenbund Deutschlands im Spiegel seiner Kaderarbeit und der Kaderstrukturen seines hauptamtlichen Funktionärskorps, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, 435 S., CD-ROM, (ISBN 978-3-515-10083-0), 58,00 EUR. Ungefähr 95 % der Erwachsenen in der DDR waren 1989 Mitglieder einer Massenorganisation. Die Massenorganisationen hatten unterschiedliche Themenschwerpunkte und Rekrutierungsstrategien. Es war fast obligatorisch für die Beschäftigten, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund beizutreten, während eine Mitgliedschaft bei der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft mit keinem ähnlichen Zwang verbunden war. Trotz ihrer Unterschiede erfüllten die Massenorganisationen vergleichbare Funktionen im DDRAlltag. Sie fungierten als Bindeglieder zwischen der Sozialistischen Einheitspartei (SED) und der Bevölkerung. Ihre Aufgabe bestand weniger in einer tatsächlichen Interessenvertretung ihrer Mitglieder als in der Legitimationssicherung für das Regime durch die Verteilung von „knappen Gütern“ wie Ferienplätzen oder Reisemöglichkeiten. Die sechs Massenorganisationen, die in der Volkskammer vertreten waren, hatten die zusätzliche Funktion, dass ihre Abgeordneten, die in der Regel auch SED-Mitglieder waren, die absolute Mehrheit der SED gegenüber den Blockparteien sicherten. Die Massenorganisationen waren also ein integraler Teil der Herrschaftsstruktur der DDR. In ihrer gründlich recherchierten Studie untersucht Petra Scheidt eine der größten Massenorganisationen der DDR, den Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD). „Passenderweise“ am internationalen Frauentag, am 8. März 1947, gegründet, war der DFD der erste nationale Frauenverband in der deutschen Geschichte, der „auf Betreiben einer sozialistischen Partei“ gegründet wurde (38). Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik arbeiteten Frauenausschüsse der SPD und KPD als Teil der Parteien. Im Gegensatz dazu sollte der DFD mindestens nominell, aber keineswegs in der Praxis von der SED unabhängig funktionieren. Anhand von Archivquellen aus dem Bundesarchiv Berlin, dem Sächsischen Hauptstaatsarchiv und dem Landesarchiv Schwerin gelingt es Petra Scheidt, ein komplexes und nuanciertes Bild der Entwicklung des DFD zu zeichnen. Scheidts Hauptaugenmerk gilt dem DFD als Karrieremöglichkeit. Auf drei unterschiedlichen Ebenen (Bundesvorstand, Landes- bzw. Bezirksapparaten, Kreisapparaten) untersucht sie die Laufbahnen der Funktionärinnen, um die Rolle des DFD innerhalb der Machtgefüge der DDR darzustellen. Auf jeder organisatorischen Ebene zeichnet Scheidt die Karrieremuster der Funktionärinnen jeweils in einem organisationsspezifischen, einem politischen und schließlich einem personenspezifischen Bezugsrahmen nach. Aus dem Zusammenspiel dieser drei Kriterien setzt Scheidt eine komplexe Analyse der Karrierewege der Funktionärinnen des DFD zwischen 1947 und 1989 zusammen. Das Buch besteht aus zwei chronologisch strukturierten Hauptteilen. Im ersten Teil untersucht Scheidt die wichtigsten Weichenstellungen der Kaderarbeit im DFD von der

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Gründung bis zur Auflösung des Frauenverbundes. Scheidt zeigt überzeugend, dass historische Zäsuren wie der Aufstand vom 17. Juni 1953 oder Erich Honeckers Amtsantritt geringe bis keine Auswirkungen auf die Rekrutierung und Organisation des DFD hatten. Die tatsächlichen Weichenstellungen der Kaderarbeit wurden in kaderpolitischen Beschlüssen 1959 bzw. 1965 vorgenommen. Diese Beschlüsse entstanden im Rahmen der Kaderpolitik der SED. Insbesondere die kaderpolitischen Richtlinien von 1965, die bis zum Zerfall der DDR das Qualifikationsprofil der Funktionäre bestimmten, können als Umsetzung des Beschlusses vom VI. Parteitag der SED 1963 über den Aufbau eines „umfassenden Sozialismus“ verstanden werden. Während in den Gründertagen die ideologische Ausbildung der Funktionärinnen im Sinne der SED nicht immer eingefordert werden konnte, wurde dieses Kriterium in den folgenden Jahren immer effektiver kontrolliert. Vor allem wurde der Besuch der Parteischule allmählich obligatorisch und zur unabdingbaren Voraussetzung einer Position beim DFD. Ziel der kaderpolitischen Beschlüsse war es, die ideologische Zuverlässigkeit der DFDFunktionäre zu sichern. Besonders unmittelbar nach der Gründung des DFD beklagte die SED die Mängel der ideologischen Ausbildung der Funktionäre. In der Praxis manifestierte sich das, was die SED als unzureichende politische Bildung bezeichnete, in unterschiedlichsten Formen. Es konnte einfach bedeuten, dass einige Funktionärinnen ihre Rolle als ‚Transmissionsriemen‘ zwischen der SED und der Bevölkerung nicht wahrnahmen, bis hin zu Versuchen anderer Funktionärinnen, Drohungen bei der Rekrutierung neuer Mitglieder anzuwenden. Die Kaderbeschlüsse formalisierten das Qualifikationsprofil, und mit der zunehmend sozialistischen Sozialisierung der neuen Generationen wurde der DFD immer homogener. Die Kaderpolitik des DFD wurde direkt von der SED kontrolliert, was dynamische Reaktionen auf die historischen Zäsuren der DDR weder vorsah noch zuließ. Als einzige Ausnahme ist die Etablierung der Bezirke 1952 zu erwähnen, die neue Stellen im DFD schuf und zwar die Voraussetzungen der Mitgliedschaft nicht änderte, aber auf jeden Fall eine neue Dynamik in den DFD brachte. Dabei blieben Kaderstellen lange unbesetzt – ein Problem, das der DFD bis 1989 nicht lösen konnte. Die vakanten Stellen verhinderten zunehmend die Mobilität zwischen den unterschiedlichen organisatorischen Ebenen und zeugten gleichzeitig davon, dass der DFD immer mehr an Anziehungskraft verlor. Im zweiten Teil des Buches zeichnet die Autorin präzise die Entwicklungslinien der Verkrustung des DFD auf den unterschiedlichen Organisationsebenen nach. Während die Frauen, die in den Gründerjahren eine Mitgliedschaft beim DFD eindeutig als Aufstiegschance genutzt hatten und gelegentlich auch ohne wirkliche berufliche Ausbildung fast ausschließlich auf der Basis ihrer politischen Loyalität bis in die Führungsebene aufsteigen konnten, gelang in den späteren Jahrzehnten sogar besser ausgebildeten und politisch geschulten Funktionärinnen immer seltener eine ähnliche Laufbahn. Wie Scheidt richtig bemerkt, war der Aufstieg ein komplexes Thema: Während die oberen Organisationsebenen den Funktionärinnen erhebliche Vorteile boten (Reisemöglichkeiten, Prämien, Auszeichnungen usw.), wurde auch die Arbeit auf den unteren Ebenen des DFD mit einem beträchtlichen Gehalt, Zusatzversicherungen und anderen Vergünstigungen belohnt: „In der Folge genossen die hauptamtlichen Funktionärinnen des DFD die Privilegien, welche politischen Funktionären in der DDR zur Verfügung standen, ohne nennenswerten Einfluss auf die Entscheidungen der politischen Führung ausüben zu können“ – und man

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könnte ergänzen, vielleicht auch ohne an der politischen Verantwortung teilhaben zu wollen (362). Obwohl die Neurekrutierungen besonders auf den unteren Organisationsebenen theoretisch noch Bewegung in die tatsächliche Arbeit des DFD hätten bringen können, verlor dieser trotz der hohen Mitgliederzahlen zunehmend an Relevanz. In der Hierarchie der ostdeutschen Massenorganisationen stand der DFD im Vergleich zur FDJ oder der Volkssolidarität relativ weit unten und wurde sogar in den eigenen Reihen oft mit einiger Herablassung behandelt. Bezeichnenderweise beschrieben die führenden Funktionärinnen ihren eigenen Verband als „Kaffeekränzchen“ (375). Besonders die unteren Ebenen der SED hielten die politische Wirkung der Kreis- und Bezirksgruppen des DFD für gering und taxierten ihren „Stellenwert im Machtgefüge dementsprechend niedrig“ (375). Es ist bezeichnend für die zwiespältige Stellung des DFD, dass er in den frühen 1950er Jahren noch in den Betrieben agieren durfte, ihm dieser Wirkungskreis ab Mitte der 1960er Jahre jedoch untersagt wurde. Dadurch verlor der DFD immer mehr Kontakt zur Lebenswelt jener Frauen, die er eigentlich vertreten sollte. Obwohl es explizit nicht das Ziel des Buches ist, die Aktivitäten des DFD zu analysieren, wäre ein etwas tieferer Einblick in dessen tatsächliche Arbeit gleichwohl hilfreich gewesen, um die Besonderheiten des Qualifikationsprofils und der Karrierewege der Kader darzustellen. Die wenigen Fallbeispiele in den Teilkapiteln zeigen das Potential der Quellen. Ganz zu Recht betont die Autorin den Stellenwert der politischen Loyalität als Qualifikationskriterium für eine Position beim DFD, aber erst spät im Buch wird dem Leser an Beispielen veranschaulicht, wie politische Loyalität demonstriert bzw. gemessen wurde (261). Insgesamt leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur Historiographie der DDR. Die Geschichte des DFD veranschaulicht, was Stefan Wolle als „Aufbruch in die Stagnation“ (2005) oder Mary Fulbrook als „normalisation of rule“ (2009) beschreibt. Es ist ein besonderes Verdienst der Autorin, dass sie ihre Recherche nicht nur auf den Vorstand fokussiert, sondern konsequent alle Organisationsebenen in ihre Arbeit mit gleichem Gewicht einbezieht. Die Struktur des Buches ermöglicht eine schnelle Orientierung und lädt zu Vergleichen mit anderen Massenorganisationen ein. Zudem bieten die auf einer CD-ROM zur Verfügung gestellten statistischen Daten reiches Material zum Weiterdenken der Geschichte der Massenorganisationen in der DDR. Helena Tóth

Bamberg

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Autorenverzeichnis Oliver Auge

Professur für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und früher Neuzeit, Historisches Seminar, Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel

Cornelia Aust

Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Abteilung für Universalgeschichte, Alte Universitätsstraße 19, 55116 Mainz

Christian Chandon

Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Am Kranen 10, 96045 Bamberg

Gerhard Fouquet

Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Historisches Seminar, Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel

Mark Häberlein

Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Universität Bamberg, Fischstraße 5–7, 96045 Bamberg

Christian Hagen

Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Historisches Seminar, Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel

Lina Hörl

Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, 80539 München

Jan Kilián

U Stare skoly 167, Teplice, 415 01, Tschechische Republik

Nina Kühnle

Abteilung für Mittelalterliche Geschichte, Historisches Institut, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln

Sven Rabeler

Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Historisches Seminar, Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel

Gabriel Zeilinger

Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Historisches Seminar, Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel

Markus A. Denzel / Mark Häberlein (Hg.)

Annales Mercaturae Jahrbuch für internationale Handelsgeschichte Yearbook for the History of International Trade and Commerce

band 2 (2016) die herausgeber Prof. Dr. Markus A. Denzel ist seit 2002 Ordinarius für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Leipzig. Mark Häberlein ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte an der Universität Bamberg.

Das Jahrbuch Annales Mercaturae bietet ein internationales Forum für handelsgeschichtliche Forschungen. Der Begriff des Handels wird dabei bewusst weit gefasst und schließt neben klassischen wirtschaftsgeschichtlichen Themen auch herrschafts-, rechts-, sozial- und kommunikationsgeschichtliche Fragestellungen und Methoden mit ein. Die fünf Beiträge dieses Bandes, die um einen Tagungsbericht ergänzt werden, bieten sowohl Synthesen und Problemaufrisse der neueren Forschung als auch empirische Arbeiten. Das Spektrum reicht von einer Bestandsaufnahme der Beschreibungs- und Analysemöglichkeiten vorindustrieller Märkte über Studien zu transalpinen Handels- und Finanzgeschäften in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, zur Entwicklung des Hamburger Seehandels und zur Entstehung der ersten Versicherungen im unteren Donauraum bis hin zu einer Darstellung des neapolitanischen Bankenwesens in der Zeit der italienischen Einigung.

aus dem inhalt

2016 153 Seiten mit 5 Abbildungen, 6 Grafiken und 16 Tabellen 978-3-515-11471-4 kart. 978-3-515-11473-8 e-book

c. jeggle: Soziale Interaktion, wirtschaftliche Koordination und materielle Kultur auf vorindustriellen Märkten | h. lang: Transalpine Transferbeziehungen zwischen süddeutschen und Florentiner Handelsgesellschaften während des Dreißigjährigen Krieges | m. a. denzel: Hamburg als Zentrum des mitteleuropäischen Handels mit Übersee vom späten 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts | d. m. kontogeorgis: Marine Insurance Companies in the Lower Danube during the Third Quarter of the 19th Century | p. avallone: The Neapolitan Credit Model. The Banking System in Preunification Southern Italy | u. kypta: Tagungsbericht der Jahrestagung des Arbeitskreises für spätmittelalterliche Wirtschaftsgeschichte 2015 „Kredit im Mittelalter“

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Wolfgang König

Das Kondom Zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis in die Gegenwart

Vierteljahrschrift für sozialund Wirtschaftsgeschichte – beiheft 237 der autor Wolfgang König ist Professor für Technikgeschichte (a.D.) an der Technischen Universität Berlin und Mitglied von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. Für seine Arbeiten zur Technikund Konsumgeschichte wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

Seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitete sich das neue nahtlose Gummikondom in der deutschen Gesellschaft. Wolfgang König legt nun erstmals eine wissenschaftliche Monografie über das Kondom vor – einem Gegenstand, der nicht nur dem Schutz vor Geschlechtskrankheiten und der Geburtenregelung diente, sondern im höchsten Maße einer moralischen Wertung unterlag. König untersucht die Entwicklung und Interpretation des Kondoms als materielles Mittel und als symbolischen Ausdruck des Sexualverhaltens in vier politischen Systemen: dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik. In der offiziösen Moral des Kaiserreichs galt das Kondom noch als Verkörperung der Unzucht. Seit der Zwischenkriegszeit wurde es mehr und mehr in das Sexualleben integriert. Erst in der Nachkriegszeit jedoch wandelte es sich zu einem akzeptierten Alltagsgegenstand, befördert von Liberalisierungen der Sexualmoral und des Sexualstrafrechts sowie der Bekämpfung von Aids. Die Studie umfasst verschiedene Aspekte des Kondoms zwischen Technik und Gesellschaft – von gummitechnischen Verbesserungen, Werbekampagnen und Vertriebswegen bis hin zu moralischen Positionen sowie rechtlichen Regelungen.

aus dem inhalt

2016 233 Seiten 978-3-515-11334-2 kart. 978-3-515-11336-6 e-book

Das Kondom als Mittel und Symbol der „Unzucht“ (von den Anfängen bis 1927) | Zunehmende Verbreitung des Kondoms und wachsende gesellschaftliche Akzeptanz (1927–1970) | Die Alltäglichkeit des Kondoms (seit 1970) | Zusammenfassung: Das Kondom zwischen Technik und Gesellschaft | Archive und Sammlungen | Register

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Michael Kißener

Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens

HistoriscHe Mitteilungen – BeiHeft 90 der autor Michael Kißener ist Professor für Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Er forscht und publiziert zur Geschichte des Nationalsozialismus, zur Justizgeschichte und zur regionalen Zeitgeschichte.

Die Erforschung der deutschen Großindustrie in der Zeit des Nationalsozialismus hat in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wenig ist demgegenüber bislang über die Rolle klein- und mittelständischer Familienunternehmer zwischen 1933 und 1945, zumal im chemisch-pharmazeutischen Bereich, bekannt. In diese Forschungslücke stößt Michael Kißener mit seinem Band über das bekannte, weltweit tätige Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, dessen Geschichte in den Jahren 1933–1945 hier erstmals umfassend dargestellt wird. In sechs Einzelstudien, die zentrale Themen wie „Zwangsarbeit“ oder den NS-Alltag im Werk, aber auch die „Bewältigung“ der Diktatur nach 1945 aufgreifen, zeichnet der Autor ein anschauliches und differenziertes Bild der Handlungsoptionen mittelständischer Familienunternehmer unter den Bedingungen einer modernen totalitären Diktatur. Zugleich analysiert er regionale Einflussfaktoren auf die Unternehmensentwicklung und bestimmt in einem Vergleich den Standort des innovativen Pharma- und Säurenherstellers in der Geschichte der deutschen Unternehmen in der Zeit des Nationalsozialismus.

292 Seiten mit 14 Fotos, 2 Abbildungen sowie 7 Farb- und 6 s/w-Tabellen € 42,– 978-3-515-11008-2 kart. 978-3-515-11021-1 e-Book

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Die Bandbreite der Beiträge in dieser Ausgabe des „Jahrbuchs für Regionalgeschichte“ erstreckt sich von der mittelalterlichen Urbanisierung bis zu jüdischen Unternehmern im deutsch-polnischen Grenzraum um 1800. Eine Kieler Forschergruppe um Oliver Auge und Gerhard Fouquet präsentiert zentrale Ergebnisse eines DFG-Projekts, welches das Verhältnis von Herrschaft und Gemeinde im Territorium der Welfen, in Württemberg, Tirol und dem Oberelsass vergleichend untersuchte. Christian Chandon stellt Quellenwert und Auswertungsmöglichkeiten seriell überlieferter städtischer Rechnungen am Beispiel der Bamberger

Stadtwochenstubenrechnungen des späten Mittelalters vor. Jan Kilián untersucht ein Selbstzeugnis aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, das Gedenkbuch des Graupener Gerbers Michael Stüeler, im Hinblick auf dessen Aussagen zum Themenkomplex Krankheit, Tod und Begräbnis. Die Migration von Böhmen nach Bamberg im langen 18. Jahrhundert zeichnen Mark Häberlein und Lina Hörl sowohl quantitativ als auch exemplarisch nach. Cornelia Aust verdeutlicht am Beispiel von Itzig Jacob alias Izaak Flatau die Chancen und Risiken, mit denen jüdische Kaufleute und Bankiers in der Zeit der polnischen Teilungen konfrontiert waren.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11513-1

ISSN 1860-8248