Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 27 (2019). Themenschwerpunkt: Strafrecht und Rechtsphilosophie – Zugleich Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka [1 ed.] 9783428558537, 9783428158539

Das Jahrbuch für Recht und Ethik 2019 ist eine Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka, der diese Reihe mitbegründet hat

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German Pages 774 [775] Year 2019

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Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 27 (2019). Themenschwerpunkt: Strafrecht und Rechtsphilosophie – Zugleich Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka [1 ed.]
 9783428558537, 9783428158539

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Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 27 (2019) Herausgegeben von Jan C. Joerden Jan C. Schuhr

Duncker & Humblot  · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 27

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Im Jahre 1993 begründet von B. Sharon Byrd †, Joachim Hruschka † und Jan C. Joerden

Herausgegeben von Jan C. Joerden Jan C. Schuhr

Band 27

Duncker & Humblot  · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 27 (2019) Herausgegeben von Jan C. Joerden Jan C. Schuhr Themenschwerpunkt:

Strafrecht und Rechtsphilosophie Zugleich Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka

Duncker & Humblot  · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Empfohlene Abkürzung: JRE Recommended Abbreviation: JRE Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0944 – 4610

ISBN 978-3-428-15853-9 Print) ISBN 978-3-428-55853-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85853-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Schon im Vorwort zu dem vorangehenden Jahrbuch für Recht und Ethik (2018) musste leider mitgeteilt werden, dass am 10. Dezember 2017 Joachim Hruschka, einer der Mitbegründer des Jahrbuchs für Recht und Ethik und bis zu seinem Tode auch dessen Mitherausgeber, verstorben ist. In der Redaktion ist daraus der Plan erwachsen, das Jahrbuch 2019 als eine Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka zu gestalten. Es ist sehr erfreulich, dass sich eine erhebliche Zahl renommierter Kolleginnen und Kollegen, die sich schon seit geraumer Zeit immer wieder intensiv mit den Schriften Hruschkas aus einer Perspektive kritischer Sympathie auseinandergesetzt haben, bereitgefunden hat, an dieser Gedächtnisschrift mitzuwirken. Dafür danken wir herzlich. Den Beiträgen zu dieser Gedächtnisschrift ist ein Nachruf, der zuerst 2018 in der JuristenZeitung erschienen ist, noch einmal vorangestellt, um auch einem Leser, der nur diesen Jahrbuch-Band zur Hand hat, einen Eindruck von Leben und Werk Joachim Hruschkas zu geben. Gegen Ende des Bandes findet sich zudem ein aktualisiertes Schriftenverzeichnis des Geehrten. Entsprechend den Hauptarbeitsgebieten von Joachim Hruschka haben wir den Themenschwerpunkt dieses Jahrbuch-Bandes unter die Überschrift Strafrecht und Rechtsphilosophie gestellt. Im Teil A. sind dabei die Beiträge versammelt, die sich mit Grundlagen der Praktischen Philosophie und damit auch – zumindest indirekt – mit Grundlagen des Strafrechts befassen. Im Teil B. findet mit den Strukturen der Zurechnung ein Arbeitsschwerpunkt von Joachim Hruschka besondere Hervorhebung, der auch in der internationalen Diskussion eindrucksvoll beachtet wurde. Schließlich umfasst der Teil C. Beiträge, die sich mit den Verbindungen zwischen Strafrecht und Rechtsphilosophie anhand ausgewählter Problembereiche beschäftigen. Es folgt dem noch die im Jahrbuch übliche Rubrik der Rezensionen. Die Anfertigung der Register haben diesmal dankenswerterweise die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Heidelberg, Frau Carina Harksen, Herr Martin Drossos und Herr John Allkemper übernommen. Für die Betreuung der Drucklegung im Verlag Duncker & Humblot danken wir Frau Susanne Werner und Frau Regine Schädlich herzlich. Internet-Seiten, die über die bereits erschienenen Bände des Jahrbuchs für Recht und Ethik informieren, finden sich unter folgender Adresse: https://www.duncker-humblot.de/jre Dort werden auch Bestellinformationen zur Verfügung gestellt. Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Nachruf: Joachim Hruschka (1935-2017) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

A. Philosophische Grundlagen – Philosophical Foundations Heiner Alwart: Hindernisse auf dem Weg zum Recht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Stefan Arnold: Geltung, Diskurs und Rhetorik – Der Geltungsbegriff Joachim Hruschkas im Modus der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Christian Becker: D  ie normativ verweiste Gemeinschaft. Überlegungen zum Schicksal der Ethik im freiheitlichen Rechtsstaat .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Jochen Bung:Rechtsreflexe und reflexives Recht: Wer hat Angst vor Georg Hegel? Eine Rekonstruktion der Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts . . . . . . . 55 Andreas Funke: M  enschenwürde und Haltung. Zur Konkretisierung der Menschenwürde in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz . . . 73 Martin Heuser: Die metaphysische Bestimmung des synthetischen Rechtsbegriffs des intelligiblen Besitzes. Eine Studie zu der verrückten Einheit des § 6 in der Rechtslehre Immanuel Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 David Heyd: A Retrospective Narrative. Rousseau’s Genealogical Method .. . . . . . . . . . . . . 133 Hans-Ulrich Hoche:Wer die Rede von „moralischer Verpflichtung“ durchdacht verwendet, kann nicht umhin, sich auch das Moralprinzip der Universalisierten Goldenen Regel zu eigen zu machen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Jan C. Joerden: D  as logische Sechseck als Hilfsmittel bei der Kant-Interpretation . . . . . . 167 Matthias Kaufmann:Wie gleich sind Personen – und Menschen? Kant über Geschlechter, Rassen und Kolonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Jens Kulenkampff:David Hume – ein Utopist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Bernd Ludwig:Warum musste Kant 1784 die Grundlegung schreiben? Die Erfindung der kritischen Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Thomas Nenon: “Kantian Postulates” in Husserl’s Later Texts at the Limits of Phenomenology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Kenneth R. Westphal: C  osmopolitanism without Commensurability: Why Incommensurable Values are Worthless .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

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Inhaltsverzeichnis – Table of Contents B. Zurechnungsstrukturen – Structures of Imputation

Alexander Aichele: Jenseits jeden vernünftigen Zweifels. Die Herstellung subjektiver Gewissheit in A. G. Baumgartens Theorie der Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Stephan Ast:Über Versuch und Vorsatz und über Fahrlässigkeit – Eine kritische Ana­ lyse von Hruschkas „Strukturen der Zurechnung“ und der Konzeption der imputatio facti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Marcia Baron:Negligence and the Mens Rea Requirement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Luigi Cornacchia: C  ausa libera oder causa finalis? Überlegungen zur Regressverbotslehre Hruschkas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Luís Greco:Fahrlässige Mittäterschaft? Eine Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Urs Kindhäuser:Zur Logik der Zurechnung. Anmerkungen zum Straftatmodell Joachim Hruschkas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Heinz Koriath:Rechtsnorm und Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Juan Pablo Mañalich R.:The Grammar of Imputation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Juan Pablo Montiel: D  ie actio libera in causa als selbstständige Straftat: Eine Radikalisierung der außerordentlichen Zurechnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Ulfrid Neumann:Obliegenheiten und strafrechtliche Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Pablo Sanchez-Ostiz:Warum „gilt hier nicht das nachklassische Schema von ‚Tatbestandsmäßigkeit / Rechtswidrigkeit / Schuld‘“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Benno Zabel: Urteilskraft, Zurechnung und sozialethischer Tadel. Über einen blinden Fleck der Strafrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

C. Rechtsphilosophie und Strafrecht – Legal Philosophy and Criminal Law Susanne Beck: D  ie Bewertung von Strafgesetzen – Struktur, Perspektive, Kriterien . . . . . 507 Christoph Burchard:Künstliche Intelligenz als Ende des Strafrechts? Zur algorithmischen Transformation der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Volker Haas: Das deutsche Strafrecht zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht .. . . . 557 Matthias Jahn / Charlotte Schmitt-Leonardy: Rechtsphilosophische und straftheoretische Begründungselemente der Verständigung im deutschen Strafverfahren . . . . . . . . . . 571 Dorothea Magnus:Rechtsethische Grundüberlegungen zum Wirtschaftsstrafrecht . . . . . . 589 Bettina Noltenius:Rechtsphilosophische Überlegungen zur Begründung des Instituts der Verfolgungsverjährung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Carlos Pérez del Valle:Überlegungen zur Strafe und Vergeltung bei Kant .. . . . . . . . . . . . . . 629

Inhaltsverzeichnis – Table of Contents

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Tobias Rudolph:Wenn Täter und Richter dasselbe wissen, aber unterschiedlicher Meinung sind. Weshalb Irrtümer über Wertungen den Vorsatz nicht berühren .. . . . . . . . . . . . 649 Jesús-María Silva Sánchez:Die drei Gebiete der Strafrechtsdogmatik. Eine kritische Ehrung Joachim Hruschkas .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Jan C. Schuhr: Kategorische Sanktionsnormen, kategorische Verhaltensregeln .. . . . . . . . . 685 Sascha Ziemann / Francisco Acosta: Erschütterungen in Recht und Moral. Das große Erdbeben von Chile, ein Menschenopfer und die interkulturelle Herausforderung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697

Rezensionen – Recensions Paul Gragl, Legal Monism. Law, Philosophy, and Politics (Adis Selimi) . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Michael Köhler, Recht und Gerechtigkeit. Grundzüge einer Rechtsphilosophie der verwirklichten Freiheit (Stefan Schick) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 Hartmut Kreß, Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates (Wolfgang Erich Müller) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Verzeichnis der Schriften von Joachim Hruschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Index of Authors and Editors . . . . . . . . . . . . . 749 Personenverzeichnis / Index of Persons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 Sachverzeichnis / Index of Subjects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 Hinweise für Autoren / Information for Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761

Nachruf* Joachim Hruschka (1935 – 2017) Am 10. 12. 2017 verstarb Joachim Hruschka, emeritierter Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, nach längerer Krankheit in Erlangen. Joachim Hruschka wurde am 10. 12. 1935 in Breslau geboren und wuchs nach der Vertreibung seiner Familie seit dem Ende des Krieges in Marburg auf. Er studierte Rechtswissenschaften, Geschichtswissenschaften und Philosophie zunächst in Marburg, dann in Fribourg und München. Im Jahre 1961 legte Hruschka das Erste und im Jahre 1965 das Zweite Juristische Staatsexamen jeweils in München ab. Er wurde 1964 in München bei Karl Larenz mit einer Dissertation zu dem Thema Die Konstitution des Rechtsfalles. Studien zum Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung (Berlin 1965) promoviert. Im Jahre 1970 habilitierte er sich ebenfalls in München. In seiner Habilitationsschrift setzte Hruschka sich mit Fragen der Juristischen Hermeneutik auseinander; sie wurde unter dem Titel Das Verstehen von Rechtstexten. Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts in München 1972 veröffentlicht. Hruschka erwarb im Zusammenhang damit die venia legendi für Rechtsphilosophie, Juristische Methodenlehre, Strafrecht und Strafprozessrecht. Nachdem er für kurze Zeit als Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig war, erhielt er bereits im Jahre 1971 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Universität Hamburg. 1982 wurde Hruschka auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg berufen und wechselte von Hamburg nach Erlangen. Einen ihn wenig später erreichenden Ruf an die Universität Wien lehnte er demgegenüber ab und wirkte weiter bis zu seiner Emeritierung – und darüber hinaus – an der Universität Erlangen-Nürnberg. Während dieser Zeit übernahm Hruschka zudem Gastprofessuren in Cape Town, Canberra, Jena, Leipzig, Riga und Bloomington. Das wissenschaftliche Werk von Joachim Hruschka spiegelt wohl in den meisten seiner Publikationen eine wechselseitige Durchdringung von Rechtswissenschaften, Geschichtswissenschaften und Philosophie wider, also der Fachgebiete seines Studiums. Er zeigte dabei, dass viele Debatten in der Strafrechtsdogmatik ohne die Kenntnis ihrer rechtshistorischen Dimension und ohne den Hintergrund ihrer oft schon in der Praktischen Philosophie vorgedachten Terminologie schlechterdings * Redaktionell leicht überarbeitete Fassung des zuerst in der JuristenZeitung 73 (2018), 201 f. erschienenen Nachrufs. Für die Nachdruckgenehmigung danke ich dem Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, und dem Redakteur der JZ, Herrn Martin Idler.

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unverständlich sind. Dies machen viele Beiträge Hruschkas zu Themen deutlich, die offenkundig im Überschneidungsbereich von Strafrecht, Rechtsgeschichte und Praktischer Philosophie angesiedelt sind; vgl. z. B.: „Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin“, in: Festschrift für Welzel, 1974, S. 115 ff.; „Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf – Zur Geschichte und Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa“, ZStW 96 (1984), 661 ff.; „Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe: Das Brett des Karneades bei Gentz und bei Kant“, GA 1991, 1 ff. Daneben legte Hruschka immer Wert darauf, dass die Grundfragen an eine Strafrechtsordnung (z. B.: Wie ist der Erlaubnistatbestandsirrtum zu behandeln? Wie lässt sich eine Entschuldigung einschränken, wenn der Täter selbst die Erfüllung der Bedingungen für diese Entschuldigung zu verantworten hat?) nicht an den nationalen Grenzen Halt machen. Vielmehr stellen sich diese Fragen in anderen Ländern ebenso, wie im eigenen Land; nur finden sie im Ausland eventuell andere Antworten, die es kritisch daraufhin zu prüfen gilt, ob sie nicht eventuell besser zur Behandlung der jeweiligen Problematik geeignet sein könnten als die gewohnten „einheimischen“ Regelungen. Hruschka zeigte dies in seinen strafrechtsvergleichenden Publikationen, wie etwa: „Das Strafrecht neu durchdenken! Überlegungen aus Anlaß des Buches von George P. Fletcher, Rethinking Criminal Law“, in: GA 1981, 237 ff.; „Imputation“, in: Eser u. a. (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung: Rechtsvergleichende Perspektiven I, 1987, S. 121 ff. Im Bereich der Rechtsphilosophie setzte Hruschka einen besonderen Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit den Werken Immanuel Kants vor allem zur Praktischen Philosophie. Schon in seiner Hamburger Zeit standen – neben der angelsächsischen analytischen Philosophie – die Kantischen Werke Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Metaphysik der Sitten und Kritik der Praktischen Vernunft im Fokus seiner rechtsphilosophischen Seminare. Dass diese Faszination, die von Kants Werk auf Hruschka ausging, während seines wissenschaftlichen Wirkens nicht nachließ, sondern sogar nach seiner Emeritierung noch verstärkt wurde, machen viele seiner Publikationen deutlich, in denen er unter anderem eindrucksvoll gezeigt hat, dass das Werk Kants in seiner Bedeutung gerade auch für die Grundlagen des Rechts im Allgemeinen und des Strafrechts im Besonderen lange Zeit zu Unrecht unterschätzt wurde; vgl. nur: „Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ“, JZ 1987, 941 ff.; „Die Notwehr im Zusammenhang von Kants Rechtslehre“, ZStW 115 (2003), 201 ff.; „Kants Rechtsphilosophie als Philosophie des subjektiven Rechts“, JZ 2004, 1085 ff.; und dann insbesondere das mit seiner im Jahre 2014 verstorbenen Frau, B. Sharon Byrd, gemeinsam publizierte Buch Kant’s Doctrine of Right, Cambridge 2010, sowie seine zuletzt verfasste größere Arbeit Kant und der Rechtsstaat – und andere Essays zu Kants Rechtslehre und Ethik, München 2015. Inspiriert durch das um Konsistenz und Kohärenz bemühte Denken der Naturrechtslehre einerseits und der analytischen Philosophie andererseits hat Hruschka

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stets auch die logisch-systematische Durchdringung des Strafrechts in den Mittelpunkt seiner Forschung gestellt; vgl. dazu insbesondere: Strukturen der Zurechnung, Berlin 1976; „Zur Logik und Dogmatik von Verurteilungen aufgrund mehrdeutiger Beweisergebnisse im Strafprozeß“, JZ 1970, 637 ff.; „Kann und sollte die Strafrechtswissenschaft systematisch sein?“, JZ 1985, 1 ff.; Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767, Hamburg / Göttingen 1986; Strafrecht nach logisch-analytischer Methode – Systematisch entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allgemeinen Teil, 2. Aufl., Berlin 1988; „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“, Rechtstheorie 22 (1991), 449 ff. Hruschkas Vorlesungen und Seminare atmeten stets den Geist einer „Lehre aus Forschung“. Er hatte als begnadeter akademischer Lehrer die Fähigkeit, seine Hörer zu fesseln und sie mit stets sachlich fundierter, oftmals humorvoller, nicht selten auch selbstironischer Vortragskunst für das Strafrecht und die Rechtsphilosophie zu begeistern. So wurden seine Lehrveranstaltungen wohl für jeden seiner Studierenden zu einem intellektuellen Genuss. Das galt insbesondere auch für seine rechtsphilosophischen Seminare, die in Hamburg und Erlangen eine Institution für diejenigen waren, die sich für einen Blick über den Horizont des juristischen Prüfungsstoffs hinaus interessierten. Zur Freude vieler Erlanger Studierender hat er diese Seminare auch noch lange nach seiner Emeritierung (zusammen mit Jan C. Schuhr, heute Professor in Heidelberg) weitergeführt. Hruschkas Schüler und Studierende werden ihn und seine Seminare und Vorlesungen immer in dankbarer Erinnerung behalten. Jan C. Joerden

A. Philosophische Grundlagen – Philosophical Foundations

Hindernisse auf dem Weg zum Recht Heiner Alwart

I. Der Kampf um Sinn Die juristische Hermeneutik steht vor einem entscheidenden Schritt. Gemeint ist der Abschied von der „Sache Recht“ und die Hinwendung zum „Prozess Recht“. Wenn man die Notwendigkeit dieses Schrittes erst einmal erkannt hat, dann bereitet zumindest das Ob keine großen Kopfschmerzen mehr. Es handelt sich nämlich um die längst überfällige Emanzipation aus der Vormundschaft einer obsolet gewordenen philosophischen Überlieferung. Ein solches Abstreifen des Alten klappt natürlich nur dann, wenn man auch den Mut aufbringt, es zu wollen und zu tun und die Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Vielleicht ist dieser Schritt sogar fundamentaler, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, erzwingt er doch Vergewisserungen über das eigene Selbst und kreative Auseinandersetzungen mit der Umgebung, die gar nicht immer leicht fallen. Friedhofsruhe jedenfalls ist weniger aufregend als ein entschlossener Kampf um neuen Sinn, ein Kampf, für den man die erforderliche Haltung erst einmal aufbringen muss. Ein solcher Kampf richtet sich nämlich nicht primär gegen etwas. Es geht nicht um Aus- oder Abgrenzung oder gar um Vernichtung. Ziel ist vielmehr die Schaffung einer (letztlich wohl utopischen) Einheit, die alles zu integrieren vermag und in der sich alle Gegensätze versöhnt wiederfinden. Die Aufgabe besteht also darin, für etwas zu kämpfen. Der damit vorgezeichnete Weg ermöglicht und erfordert eine unbegrenzte Untersuchung des gesamten Komplexes elementarer Lebensäußerungen der Spezies Mensch, ohne dass nach einer autoritären „Letztbegründung“, und sei sie noch so blass und konstruiert, verlangt würde. Unter den schwierigen Bedingungen unserer Zeit hätte der Homo sapiens die Chance, den für neues Wachstum dringend benötigten Nährboden zu finden. Das gilt für natürliche und kulturelle Wurzeln gleichermaßen. Das Verdorrte würde verbrennen. Eine neue, alles überwölbende Blütezeit könnte ihren Raum finden, wenn es nur gelingt, den Status quo von Grund auf in Frage zu stellen und ihn letztlich zu überwinden. Nicht etwa nur das Sprechen, sondern auch das Handeln – und (unmittelbar vorgelagert und mit Theorie und Praxis verbunden) das auf das Selbstsein bezogene Denken – unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen. Demnach müssen

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Heiner Alwart

Begriffs- und Handlungslehre ein expressives hermeneutisches Vorzeichen teilen.1 Erst in dieser Verbindung, d. h. in der wechselseitigen Durchdringung von Verlautbarung und Bewegung, von Sprechen und Handeln ist Hermeneutik imstande, sich als das zu entwerfen, was sie sein will und sein muss, nämlich eine radikale Wissenschaft des soeben schon skizzierten Kampfes um Sinn. Die Rechtsphilosophie spielt bei dieser existenziell bedeutsamen Kampfansage, die sich mit ubiquitärer Atrophie nicht abfinden mag, eine wichtige Rolle. Das Streben nach sinnvoller Existenz zielt auf ein psychisches und physisches Überleben abseits des Katechismus politisch korrekten Denkens, wie er sich in den öffentlichen Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute nach und nach verfestigt hat. Ein Versuch, diesen Katechismus in seiner Funktion näher zu erläutern und ihn inhaltlich ausführlich zu beschreiben, würde an dieser Stelle zu weit führen 2. Im gegebenen Zusammenhang wichtig aber erscheint der im Folgenden immerhin ein Stück weit begründete Hinweis, dass philosophische, zumal rechtsphilosophische Theoriebildung, die an Postulaten der Korrektheit abprallt oder, was auf dasselbe hinausläuft, sich mit ihnen arrangieren will, anstatt sie herauszufordern, das eigentliche Kerngeschäft total verfehlt. Sie eröffnet keinerlei Perspektiven für grundlegende Veränderungen. Sie lässt alles so nebulös, wie es ist. Ja, sie beweihräuchert es, anstatt den „bösen“ Versuch zu unternehmen, Menschheit und Menschen mitsamt Texten und Kontexten eben nicht in Ruhe zu lassen, sondern sie höchst kritisch zu befragen. Suspekt oder „böse“ ist immer der, der überstimmt wird. Aber dadurch darf man sich nicht beirren lassen, sondern muss darauf vertrauen, dass die Hindernisse überwindbar sind und sich daher das Blatt eines Tages wenden wird. II. Wider das dressierte Denken Der maßgebliche Philosoph einer erstarrten Korrektheit dürfte Jürgen Habermas sein. Seine Geburtsstunde schlug bereits im Sommer 1953, als er als junger Student einen provokanten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unterbringen konnte, der große Resonanz hervorrief.3 Habermas nahm damals Anstoß daran, 1  Heiner Alwart, „Recht und Handlung“, Tübingen: Mohr Siebeck, 1987, S. 166. Der zweite Band einer Sammlung hermeneutischer Essays von Paul Ricoeur trägt den bezeichnenden Titel: „Du texte à l’action“, Paris: Éditions du Seuil, 1986. 2  Weitere Darlegungen dazu finden sich aber im folgenden Abschnitt II, insbesondere in Fn. 13. 3  Vgl. näher dazu Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas, Berlin: Suhrkamp, 2014, S.  87  ff.: Mit diesem Zeitungsartikel habe die Karriere des in der Promotionsphase befindlichen Philosophen als öffentlicher Intellektueller begonnen. In „Orientierung an der Heidegger’schen Fundamentalontologie“ (ibid., S. 67) schrieb Habermas damals an seiner bekanntlich unveröffentlicht gebliebenen Doktorarbeit über die Philosophie Schellings. Interessant ist, dass die in dem erwähnten Zeitungsartikel erhobene Klage gegen Heidegger auf Habermas‘ Anfang 1954 eingereichte Doktorarbeit offenbar „keinerlei Auswirkungen“ hatte (so Roman Yos, Der junge

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dass der durch „Sein und Zeit“4 weltbekannte Martin Heidegger kurz zuvor ein Buch veröffentlicht hatte, wo er von der „inneren Wahrheit und Größe“ der natio­ nalsozialistischen „Bewegung“ sprach. Jenes Buch gibt – bemerkenswerterweise ohne erläuternden Kommentar – eine Vorlesung an der Universität Freiburg i. Br. aus dem Sommersemester 1935 wieder.5 Heute muss sich Habermas seinerseits – und das völlig zu Recht – ganz ähnliche Vorhaltungen von Peter Trawny gefallen lassen. Unter umgekehrtem Vorzeichen fragt Trawny, ob „das corpus von Jürgen Habermas eines der ersten sein wird, in dem schlechthin überhaupt nichts Anstößiges mehr gefunden werden kann“.6 Während es bei der Heidegger-Kritik im Wesentlichen nur (aber immerhin) um die Jahre 1933 – 1935 ging, als der Philosoph sehr nahe an das heute verhasste politische System der damaligen Zeit herangerückt war,7 bewegen sich Habermas und seine Adepten seit Jahrzehnten überaus erfolgreich auf der genauen Gegenspur dressierten Denkens.8 Ausgerechnet unter dem Deckmantel einer vermeintlich „kritischen“ Theorie segnen sie die Gegenwart ab, was ihnen – in Abstoß vom Faschismus zwar, aber ohne ihn auch wirklich loszulassen – Erfolg und Einfluss in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sowie auf dem internationalen Feld eröffnet. Wie sehr dieses – eine fruchtbare geistige Entwicklung behindernde – vergangenheitspolitische Paradigma, das zugleich versteht, sich eine unantastbare moralische Autorität zu verleihen, überall hin ausstrahlt und nicht zuletzt die Öffentlichkeit dominiert, das zeigt beispielhaft die grotesk überzeichnete Hommage, die Habermas von der renommierten Wochenzeitung „Die Zeit“ zu seinem 90. Geburtstag zuteil wurde. „Die Zeit“ schreckte nicht einmal vor der Schlagzeile „Jürgen Habermas, der Weltverbesserer“ zurück.9 Die Implikationen solcher VersuHabermas, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 135). Die Differenz zwischen moralischer Verantwortung und philosophischer Bedeutung Heideggers (vgl. Yos, ibid., S. 139) blieb also zunächst – warum auch immer – völlig unangefochten. Es dürfte noch einige Traumata zu entschlüsseln geben, bevor sich das Denken in Deutschland wieder erneuern kann. 4  Das Werk erschien erstmals im Jahre 1927. 5  Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen: Max Niemeyer, 3. Aufl. 1966, S. 152. 6  Peter Trawny, Irrnisfuge, Berlin: Matthes & Seitz, 2014, S. 88. Trawny wird zustimmend zitiert von Slavoj Žižek, Wie ein Dieb bei Tageslicht, Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2019, S. 12. Ibid. wird Habermas von Žižek als vollendeter Philosoph der (Re)Normalisierung bezeichnet, der daran arbeiten würde, den Kollaps unserer etablierten ethisch-politischen Ordnung zu verhindern. Oder noch pointierter ausgedrückt: Habermas ist der ideologische Anführer der „korrekten“ Ordnungspolitiker im Geiste. 7  Über Heideggers Freiburger Rektorat siehe Manfred Geier, Martin Heidegger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2005, S. 85 ff. 8  Dazu vgl. näher die Hinweise weiter unten in diesem Abschnitt. 9  Vgl. „Die Zeit“, 13. Juni 2019, S. 1. Heribert Prantls Apotheose steht dem in nichts nach. Vgl. nur https://www.blaetter.de / archiv / jahrgaenge/2019/juni / der-philosoph-der-entaengstigung (aufgerufen am 17.06.2019). Die Redaktion der „Blätter für deutsche und internationale

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che, Orientierung zu vermitteln, für die Intellectual History der Bundesrepublik Deutschland und für das, was den Anspruch erhob und immer noch dominant erhebt, auf philosophischem Feld „normale Wissenschaft“ zu sein, sind bisher kaum ansatzweise erfasst worden.10 Auf die Zeitdiagnostiker wartet also noch sehr viel hermeneutische sowie, daraus abgeleitete, normative Arbeit. Schon heute aber wird mancher die Sterbeglocke der Habermas-Epoche nicht überhören können. III. Zur hermeneutischen Kritik an gesinnungsphilosophischen Prätentionen Um eine Hermeneutik des Prozesses Recht nicht missverständlich als Neo-Hermeneutik bezeichnen zu müssen, begreife ich die Hermeneutik der „Sache Recht“, der in der Jurisprudenz Joachim Hruschka verhaftet war, als eine Art Paläo-Hermeneutik.11 Jene Alt-Hermeneutiker wie Hruschka widmen sich in der Tradition der Bibelexegese vor allem der gelehrten Interpretation von klassischen und / oder juristischen Werken.12 Da sie sich vormachen, dass ihnen Sinn und Wahrheit immer schon aus der Ewigkeit entgegenleuchten würden, brauchen sie nicht erst darum zu kämpfen und Provokationen zu riskieren. Lieber begnügen sie sich damit, Texte zu kommentieren, gewisse semantische Gehalte scharfsinnig abzuklopfen und mehr oder weniger abgelebter Bildung einen dünnen Atem einzuhauchen. Insbesondere religiöse Konnotationen erfreuen sich bei ihnen großer Beliebtheit. Als ob die bloße Beherrschung eines flachen Vokabulars schon den Namen „Hermeneutik“ verdienen oder sich gar dazu eignen würde, eine stabile und sinnhafte Lebensform zu begründen. Das auf Sprache und Schrift ausgerichtete Konzept des typischen Alt-Hermeneutikers ist von der Entwicklung einer realistischen, hermeneutischen Handlungslehre abgeschnitten. Solche Philosophen sitzen gerne ungestört im Elfenbeinturm privilegierter Gelehrter, um in vollkommener Ruhe Werke der Altvorderen zu studieren. Sie haben weder eine Ader für akute gesellschaftliche Krisensymptome, noch halten sie es für ihre Pflicht, sich öffentlich einzumischen und Veränderungen vorzuschlagen. Sie verstehen sich nicht als Intellektuelle, deren Aufgabe es wäre, nach äußeren Kriterien korrektes, nach inneren Maßstäben dressiertes Politik“ stellt dem Leser den Verfasser des Glückwunsches zum 90. Geburtstag des Philosophen als „die wohl wichtigste linksliberale Stimme im deutschen Journalismus“ vor. Die „wichtigste“ Stimme ehrt den „bedeutendsten“ Denker. Die Superlative verstärken sich gegenseitig. Mehr spiralförmiger Bullshit geht irgendwann nicht mehr. Das ist dann nur noch lächerlich. 10 Über „Paradigmata“ und „das Wesen normaler Wissenschaft“ siehe den Naturwissenschaftler, Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Aufl. 1976. 11  Joachim Hruschka, „Das Verstehen von Rechtstexten“, München: C. H. Beck, 1972. 12  Neuerdings beispielhaft zur Kant-Exegese: Joachim Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, Freiburg / München: Karl Alber, 2015.

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Denken anzuprangern, und zeigen sich außerstande, den eigenen philosophischen Ansatz nicht nur in einer (zudem falsch verstandenen) Pflege der Tradition zu verankern, sondern ihn auch in einer Stellungnahme zu bedrängenden Konflikten im Hier und Heute zu erproben. Sie negieren demnach das Verdeutlichungspotential, das die Wirklichkeit gehaltvollen Theorien bietet. Auf diese Weise, die Wechselwirkungen zwischen Denken und Sein übersieht oder leugnet, verurteilen hochgebildete Alt-Hermeneutiker sich selbst zur gesellschaftlichen Irrelevanz. Eine solche, ihrerseits im Sinne mitregierender Rahmenbedingungen bloß korrekte Dressur-Haltung scheint oftmals mit festgefügten akademischen Strukturen in Einklang zu stehen. Wie oben bereits angedeutet, war es in Deutschland in den Jahrzehnten nach 1945 – und ist es im Grunde leider bis heute!13 – vor allem das unangefochtene Pathos politischer Vergangenheitsbewältigung, das insbesondere rechtsphilosophischem Bemühen gleichsam einen unwiderlegbaren Heiligenschein verleiht.14 Wer aber meint, dass er in seiner Begriffs- und Theoriebildung deshalb auf einem vielversprechenden Weg sei, weil er gemeinsam mit seinen Leuten von der richtigen Gesinnung erleuchtet werde, der irrt sich in seiner voreiligen Selbstzufriedenheit gewaltig. Das, was sich kurz- oder auch mittelfristig sowohl im Universitätsbetrieb als auch in der breiten Öffentlichkeit durchsetzt, ist nicht unbedingt das, was die Gesellschaft auf Dauer braucht. Gesinnungsphilosophie erscheint nur als ein trauriger Abklatsch dessen, was undressiertes, freies Denken zu leisten vermag.15 Sie stellt sich nicht den entschei13  Manifest werden exemplarische Gerechtigkeitsverluste etwa in den heutigen, nicht enden wollenden „Auschwitz“-Prozessen (der bekannte Signalname lautet: „Oskar Gröning“), wo die Zurechnungslehre verbogen wird, um an sterbenskranken Sündenböcken politisch korrekte Exempel zu statuieren. Als es noch wirklich etwas für sie zu tun gegeben hätte, hielten Justiz und Gesellschaft hingegen jahrzehntelang bewusst still. Vgl. Heiner Alwart, „Strafrechtlicher Expressionismus auf dem Vormarsch“, in: Barton / Eschelbach / Hettinger / Kempf / Krehl / Salditt (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München: Beck, 2018, S. 1029 ff., passim. – Um die Medienöffentlichkeit auf ihre Kosten kommen zu lassen, wurde im Münchener NSU-Zschäpe-Prozess (2013 – 2017) insgesamt zu wenig auf den Schutz (verfassungs-)rechtlicher Substanz geachtet. Vgl. Heiner Alwart, „‚Schreckliches Theater‘ – wann wird im NSU-Prozess endlich der Vorhang fallen?“, Juristenzeitung 2014, S. 1091 ff. – Kritische, vor allem rechtswissenschaftlich fundierte Stellungnahmen, die versuchen, solchen oder ähnlichen bedauerlichen Fehlentwicklungen und den hinter ihnen stehenden Strömungen Widerstand entgegenzusetzen, sind bisher leider die Ausnahme geblieben. Das ist kurzsichtig, weil Einbrüche in die Rechtsstellung von Beschuldigten speziell der rechten Szene letztlich uns allen schaden werden. Was kann ein in dieser Weise selbstwidersprüchlicher Verfassungspatriotismus überhaupt wert sein? Es kann doch nur darauf ankommen, den Rechtsstaat für Freund und Feind realiter vorzuleben, und z. B. nicht darauf, das Grundgesetz massenhaft als Taschenbuch unter die Leute zu bringen. 14 Aufschlussreich äußert sich Jürgen Habermas zur Aufbruchstimmung der Generation, die „nach der moralischen Korruption der deutschen Universität“ ihr Studium im Nachkriegsdeutschland hat aufnehmen können, in: ders., Philosophische Texte, Studienausgabe in fünf Bänden, Band 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, Einleitung, S. 11. Solche Fanfarenstöße sind natürlich nicht nur bei Habermas zu finden. 15  Im Anschluss an seine kommunikationstheoretische Wende versucht Jürgen Habermas, ibid., S. 14, sich wenigstens punktuell von einem „überpolitisierten Begriff der Kritik“ zu dis-

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denden Herausforderungen der Gegenwart, sondern verharrt in der kollektiven Harmonie der „Normalen“ und „Guten“ und in hermeneutischer Inkompetenz. Ihre integrative Kraft ist gering. Anstatt Resonanzfähigkeit unter Beweis zu stellen und zu lernen, grenzt sie aus. Innovative Ansätze werden rücksichtslos marginalisiert. Entgegen vielen anderslautenden Beteuerungen belässt sie die Zeichen der Zeit ohne Deutung. Sie klammert sich an das Geländer dessen, was sie über viele Jahre hinweg mit großem, äußerem Erfolg und ohne sich mit Skrupeln zu quälen, im Wissenschaftsbetrieb in Szene gesetzt hat.16 Gesinnungsphilosophie läuft auf philosophische Gesinnungslosigkeit hinaus. Dem an das Denken zu adressierenden geistigen Anspruch genügt sie nicht. Worin dieser Anspruch besteht, das hat einmal Carl Friedrich von Weizsäcker anlässlich einer Festrede besonders schön herausgestellt: „Philosophie scheint der Versuch zu sein, das Äußerste noch ins Bewußtsein zu bringen, was uns überhaupt bewußt werden kann. Man könnte auch sagen: das Innerste.“17 Heute tendieren die politisch und wissenschaftlich korrekten Philosophen dazu, jeden sanktionieren zu wollen, der es wagt, aus der Reihe zu tanzen. Als Aufpasser und Richter müssen sie sich zwar nicht besonders anstrengen, sie werden aber nicht verhindern können, dass sich das Blatt eines Tages wenden und dass das, was jetzt so scheinbar felsenfest dasteht, gründlicher zerbrechen wird, als es überhaupt je etabliert worden ist.18 Offensichtlich fehlt den Alt-Hermeneutikern gleichsam das zweite Bein der (ihrer Zahl nach zugegebenermaßen noch) sehr wenigen Jung-Hermeneutiker.19 Es genügt nämlich nicht zu erkennen, dass das Sprechen, d. h. der situationsbezogene Akt des Sprechens, eben auch ein Handeln ist. Vielmehr gilt genauso das Umgekehrte: Das motiv- und kompetenzgestützte Handeln muss jeweils in seiner Bedeutung und in diesem Sinne als ein konkretes Sprechen begriffen werden. Sonst würde man es missverstehen. Es ist z. B. ein großer hermeneutischer und moralischer Unterschied, ob jemand von einem Polizisten unter Einsatz von Handschellen verhaftet oder von einem Räuber überfallen und an einen Baum gefesselt wird. Die tanzieren. Das aber dürfte letztlich nicht genügen, den schweren Vorwurf akademischer Gesinnungsphilosophie auszuräumen. 16  Vgl. bereits oben, in und bei Fn. 10. 17  Carl Friedrich von Weizsäcker, „Die Rolle der Tradition in der Philosophie“, in: Hundert Jahre Philosophische Bibliothek 1868 – 1968, Hamburg: Felix Meiner, 1968, S. 42. 18  Damit übernehme ich eine – hier aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissene – Formulierung von Günther Jakobs: vgl. Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin: Walter de Gruyter, 1. Aufl. 1983, Vorwort, S. V. 19  Zu den Jung-Hermeneutikern dürfte vorrangig auch John D. Caputo zu zählen sein: Hermeneutics, Facts and Interpretation in the Age of Information, United Kingdom: Penguin Random House, 2018. In Abgrenzung von der obsoleten Paläo-Hermeneutik argumentiert Caputo dafür, Hermeneutik in Praxis umzusetzen. Er nennt sein Konzept „radikale“, „postmoderne“ oder „dekonstruktivistische Hermeneutik“. Für ihn ist alles eine Frage der Interpretation und Wahrheit bloß eine Art Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Interpretationen. Es komme darauf an, jeweils die beste der unversöhnlich miteinander streitenden Interpretationen herauszufinden (ibid., S. 13).

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sprachlichen Begleitphänomene der betreffenden Gewaltanwendungen erscheinen nicht so wichtig wie das, was unwiderstehlich getan wird. Die Theorie der Handlung tritt so neben die der Sprache. Demnach sind im hermeneutischen Ausgangspunkt beide Grundbegriffe ineinander verschränkt. Das war bereits eingangs erwähnt worden. Diese theoretische Erfassung des ganzen Menschen beruft sich auf den schlichten Versuch, klar und ungeschminkt zu denken, und weder auf die Ausübung einer besonderen moralischen Autorität noch auf die „Bewältigung“ einer schrecklichen Gewalt-Vergangenheit. Nicht von ungefähr betonte Hans Welzel innerhalb seiner jedoch allzu engen, weil vom strafrechtlichen Vorsatzbegriff her gedachten, finalen Handlungslehre, dass Handeln „Sinnausdruck“ sei.20 Nimmt man das mit Blick auf die Rechtstheorie ernst, dann kommen an diesem Punkt vollends Kontingenzen ins Spiel, denen die Konstruktion einer unverfügbaren „Sache Recht“ ohnehin keinerlei Einhalt mehr gebieten kann. Die Auseinandersetzung um existenziellen Sinn, individuell wie kollektiv, der nicht einfach aus ontologischen oder ähnlichen Vorfixierungen abgeleitet werden kann, sondern erst, und zwar unter Umständen durchaus mühsam und das heißt mit einem Höchstmaß an Kreativität, geschaffen werden muss, erscheint damit unweigerlich eröffnet. IV. Die Scheinkonstruktion einer „Sache Recht“ Der vorliegende Band des Jahrbuchs für Recht und Ethik ist zugleich eine Gedächtnisschrift für dessen Mitbegründer und langjährigen Mitherausgeber Joachim Hruschka. Daher muss es erlaubt sein, die Konzentration auf „die Sache“ mit einigen persönlichen Reminiszenzen zu beginnen, zumal sich im Folgenden herausstellen wird, dass das Persönliche hier ohne größere Umwege zum Sachlichen hinführt. Eher könnte es im Gegenteil sogar der Fall sein, dass diese Art der Darstellung einen besonders geeigneten Zugang eröffnet, so dass die innerhalb der Hermeneutik gebotenen Differenzierungen überhaupt erst richtig eingeordnet werden können. Außerdem bietet sich so die Chance eines insgesamt etwas abgekürzten Gedankenganges. Auf juristische Hermeneutik stieß ich zum ersten Mal durch Hruschka selbst. Wenn ich mein Studienbuch der Universität Hamburg aufschlage, dann finde ich im Wintersemester 1972 den Eintrag „Hruschka Joachim Rechtsphilosophie“. Ich 20  Vgl. dazu mit Belegstelle Heiner Alwart, ibid. (Fn. 1), S. 124. Die „finale Handlungslehre“ Welzels ist insofern zu eng, als sie die Handlung nur vom Um-zu-Motiv (Intention) und nicht auch vom Weil-Motiv her zu bestimmen versucht. Das Weil-Motiv kann beispielsweise die Gestalt eines Norm-Motivs annehmen und als solches ein wesentliches Element von Rechtshandlungen sein. Vgl. noch einmal Alwart, ibid., S. 131 ff., 155 ff. (Stichwort: „Motiv-Recht“). – Welzels Finalitätsverständnis ist insofern zu weit, als der an Fahrlässigkeit grenzende, weite Rechtsbegriff des Vorsatzes nicht mit eigentlicher Intentionalität gleichgesetzt werden kann. So bedeutsam die Handlungstheorie für Begriffsbildungen der Strafrechtswissenschaft ist, so wenig darf man sie mit juristischer Dogmatik verwechseln.

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kann mich an die Vorlesung des jungen Professors von zwei Semesterwochenstunden recht gut erinnern. Sie fand in einem fast leeren Hörsaal im Hauptgebäude der Universität in der Edmund-Siemers-Allee statt. Ich dürfte zu den treuesten unter den wenigen Hörern gezählt haben. Die Vorlesung orientierte sich an Erik Wolfs „Das Problem der Naturrechtslehre“.21 Schaut man einmal in das Inhaltsverzeichnis dieses Buches, dann erkennt man sogleich die Absicht seines Autors, des verästelten Stoffs durch Einziehen einer besonderen logischen Struktur Herr zu werden: Welche Möglichkeiten für den Naturrechtsgedanken ergeben sich von unterschiedlichen Begriffen der Natur her, welche von denen des Rechts her? Das mag erklären, warum Hruschka Wolfs Buch als eine Art Leitfaden für seine eigene Vorlesung jedenfalls im Wintersemester 1972 für geeignet hielt.22 Zwar arbeitete ich das Buch vorlesungsbegleitend durch. Und ich erkenne heute noch, dass ich für meine Bleistiftstriche sogar ein Lineal benutzte und darüber hinaus Karteikarten beschrieb! Aber in eine philosophische Stimmung versetzte mich die ziemlich langweilige Lektüre mit Sicherheit nicht. Hruschkas Vortrag hingegen und später dann seine Seminare verliefen ganz anders. Es waren immer anregende Übungen in analytischem Denken, die den engen Rahmen eines „normalen“ Jurastudiums sprengten.23 Das kann ich jedenfalls für die Phase sagen, in der ich über mehrere Semester hinweg Hruschkas Hamburger Lehrveranstaltungen besuchte. Zum letzten Mal dürfte das im Sommersemester 1974 der Fall gewesen sein. Damals schon las ich Hruschkas Habilitationsschrift „Das Verstehen von Rechtstexten, Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts“, die 1972 gerade erschienen war.24 Wenn ich das richtig erinnere, dann fragte ich Professor Hruschka eines Tages, was sein Zugriff auf rechtsphilosophische Problemstellungen, wie ich sie vor allem in seinen Seminaren erlebte, aber z. B. auch in einer Vorlesung, in der er seine Zurechnungslehre erstmals vortrug,25 mit der in seinem Buch dargelegten Hermeneutik zu tun hätte. Hruschka erwiderte etwas überraschend, dass „das“, also der Denkansatz des gerade erschienenen Buches, für ihn abgeschlossen, er gleichsam zu neuen Ufern aufgebrochen sei. Damit könnte es zusammenhängen, dass Hruschka für meine naturgemäß viel später entstandene Habilitationsschrift „Recht und Handlung“26 – da war er schon   Karlsruhe: C. F. Müller, 3. Aufl. 1964.   Über Erik Wolfs Rechtsontologie äußert sich Hruschka, ibid. (Fn. 11), S. 97 f. teilweise kritisch. 23  Vgl. schon Heiner Alwart, „Der Begriff der Freiheit – ein hermeneutischer Vorschlag im strafrechtlichen Kontext“, JRE 13 (2005) = Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, S. 357 ff. (365). 24  Vgl. oben, Fn. 11. 25  Joachim Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin / New York: Walter de Gruyter, 1976. In einer Vorbemerkung zu dieser Broschüre erwähnt Hruschka allerdings lediglich vorangegangene Diskussionen in einem im Sommersemester 1975 gehaltenen rechtsphilosophischen Seminar. 26  Oben, Fn. 1. 21 22

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von Hamburg nach Erlangen gegangen – kein Interesse aufbrachte. Während ich durch die Arbeit an diesem Buch quasi endgültig zu einem (Neo-)Hermeneutiker geworden bin und heute mehr denn je bestrebt bin, auf dem Boden einer vor allem von Ludwig Wittgenstein und Ernst Tugendhat und weniger von Hans-Georg Gadamer inspirierten Hermeneutik eine systematische Rechtsphilosophie zu entwickeln, die ein generatives Neuanfangen einerseits mit einem radikalen Festhalten andererseits zu verbinden sucht,27 verstand sich Hruschka schon Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht mehr als Hermeneutiker. Nicht von ungefähr erschien wenige Jahre vor seinem Tod als sein Vermächtnis eine Essaysammlung zu Kants Rechtslehre und Ethik.28 Auf eine reine Spekulation liefe freilich die These hinaus, dass für Hruschka seine ehemaligen akademischen Referenzgrößen mit der Berufung an die Universität Hamburg immer mehr an Verbindlichkeit verloren hätten, so dass sich damit auch die Hermeneutik für ihn erledigt hätte. Während „Das Verstehen von Rechtstexten“ also schon damals ein paläo-hermeneutischer Abschluss war, ist „Recht und Handlung“ bis heute ein neo-hermeneutischer Anfang. Das sind Gegensätze, die sich nicht miteinander vertragen. Meine von meinem Lehrer Eberhard Schmidhäuser bedingungslos geförderte Habilitationsschrift ist der Versuch, den Begriff des Rechts weder überlieferungstechnisch noch politisch von Erfahrungen z. T. der jüngsten Vergangenheit abhängig zu machen, sondern ihn in die Zukunft kompromisslos weiterzudenken. Das geht nur, wenn man auf „korrekte Wissenschaft“, gewisse Erwartungshorizonte und Interessen universitärer Schulbildung keine Rücksicht nimmt oder nehmen „muss“, wenn einem also das Normalisieren gleichgültig sein darf. Auf die individuelle Bereitschaft, strategische Rücksichtnahmen hintanzustellen und sich die Wissenschaftsfreiheit selbst zu nehmen, kommt es entscheidend an. Diese Hintergründe werden mir freilich erst jetzt klar, da sich zeigt, dass das heute etablierte Rechtsdenken für die Gesellschaft kaum das sein kann, was sie dringend braucht. Überall mangelt es an kritischem Potenzial, aus der sich wenigstens Ansätze zu Kurskorrekturen und zu einer fortschrittlichen Entwicklung des Ganzen ergeben könnten. Auf meinen bereits erwähnten Beitrag zum Freiheitsbegriff, der in der Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift erschienen ist,29 erhielt ich vom Jubilar mit Brief vom 17. 6. 2007 eine gleichermaßen persönliche wie gehaltvolle Antwort. Ich erlaube mir, an dieser Stelle daraus zu zitieren und gewissermaßen in eine Ewigkeit hinein zu antworten. Hruschka will, um meinem Beitrag gerecht zu werden, auch auf dessen „Untertöne“ hören. Er fragt, ob das ein „Pessimismus“ sei, von dem er da lese. Einleitend 27  Eine solche Hermeneutik steht gleichsam vor der Herausforderung, das zu verstehen, was sie selbst erzeugt hat. Man wird also in Zukunft eine Hermeneutik 1. Stufe von einer Hermeneutik 2. Stufe zu unterscheiden haben. 28  Oben, Fn. 12. 29  Oben, Fn. 23.

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betont er einerseits, dass „unsere Freiheit in Zweifel steht“, und andererseits, dass „unser Selbstverständnis auf unserer Freiheit aufbaut“. Sodann fragt Hruschka nach meinen Befürchtungen: ob ich befürchte, „nachdem uns die Ontologie der Freiheit abhandengekommen ist, wir könnten auch noch die Grammatik der Freiheit verlieren“ – ob ich befürchte, „um mit Kant zu reden, ‚die Menschheit‘ könnte sich ‚(gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen vermischt werden‘“. Hruschka betont, dass ihn mein Aufsatz, sollte ich recht haben, nicht so ganz glücklich mache. Interessant ist zunächst, dass Hruschka auf Ontologie bzw. deren Verlust Bezug nimmt. Überträgt man das Problem vom Freiheitsthema auf das Recht, würde sich von daher die Frage stellen, ob ein „Verstehen von Rechtstexten“ ohne die Prämisse einer „Sache Recht“ auszukommen vermag. Hruschka benutzt den Ausdruck „Sache Recht“ zwar stets in Anführungszeichen30 und versucht, sich dadurch von zu direkten ontologischen Anklängen zu distanzieren. Die von ihm schließlich angebotene Konstruktion unterscheidet sich von herkömmlicher Rechtsontologie in Wahrheit jedoch nur marginal. Mit der „hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts“ hat man letztlich ebenso wenig in Händen, als wenn man versuchen würde, die Redeweise von der „Sache Recht“ wortwörtlich zu nehmen. Denn was kann eine „Sache“ wert sein, von der man keine wirkliche Vorstellung hat und auf die sich – etwas überspitzt formuliert – nur bedeutungs- und sinnlose Sätze beziehen lassen?31 Hruschka mag die Theorie des Rechts von dem Glauben an etwas ganz Großes, Transzendentes, das einerseits dem Einfluss menschlichen Handelns überhaupt entzogen ist und diesem Handeln andererseits doch den Rahmen absteckt, nicht zu lösen. Der kleine Mensch soll in letzter Konsequenz ein bescheidenes Licht bleiben, aber zugleich denjenigen gehorchen, die sich anmaßen dürfen (wer darf das heute?), es besser zu wissen. In dieser Perspektive würde „Recht“ ohne die autoritative Absicherung, die in der Annahme einer transpositiven Existenz von „Sachen“ oder auch in der Fiktion von „Vernunft“ im kantischen Sinne32 steckt, zu nichts zerfallen. Eine Denkbemühung ohne Fluchtpunkt außerhalb der Welt der Bemühung erschiene danach unmöglich. Obwohl der „Fluchtpunkt“ willkürlich konstruiert wird und Hruschkas Sach-Hermeneutik auf keine eigentlich inhaltlichen Erträge hinzeigen kann, dürfte manchem Leser einleuchten, dass auf diese Weise zumindest die Idee des privilegierten Zuganges zu höherer Weisheit verteidigt wird. Die Argumentation erinnert an die paradoxe Behauptung, dass Gott deshalb existiere müsse, weil wir Menschen sonst   Ibid. (Fn. 11), S. 56 und passim.   Meine ausführliche, systematische Kritik an der „dialektischen Hermeneutik“ Hruschkas in ihrem philosophiehistorischen Zusammenhang werde ich an dieser Stelle nicht wiederholen. Vgl. dazu Alwart, ibid. (Fn. 1), S. 97 ff. 32  Die „Sache Recht“ verwandelt sich in eine Antenne a priori für das Recht, die angeblich zur Grundausstattung des Menschen gehört, d. h. in die Vernunft Recht. 30 31

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zu große Angst vor dem Tod hätten. Wir wären angeblich nur deshalb imstande, uns mit unserer Sterblichkeit abzufinden, weil wir hoffen würden, nach dem Tode weiter zu existieren und Gott aus der Nähe persönlich zu erleben. Aber es kann natürlich nicht überzeugen, die überirdische Welt eines Lebens nach dem Tod mit der Furcht vor dem Tod zu begründen. Um „Pessimismus“, den Hruschka als Unterton zu hören meint, geht es hier nicht. Was auf dem Spiel steht, ist ein ungebrochenes Streben nach intellektueller Redlichkeit.33 Eine Niederlage im Kampf gegen Selbstkorrumpierung und Erfolgssucht soll nach Möglichkeit vermieden werden. Integrität ist in jeder tieferen Auseinandersetzung mit sich und anderen das höchste Gut. Der Versuch, sich keine Illusionen zu machen, bedeutet nicht, „Pessimist“ zu sein. Philosophie hat nicht die Aufgabe, Wunschdenken durch ausgetüftelte Hilfskonstruktionen zu unterstützen. Die Anstrengung des Begreifens zielt auf Aufklärung und das Fundament unserer Existenz. Hinter dieser Betrachtungsweise steht ein Prinzip, das Albert Camus in Anknüpfung an den antiken Mythos von Sisyphos in das moderne Bewusstsein gehoben hat. Zwar wird der Felsblock niemals den Gipfel übermenschlicher Vollkommenheit erreichen, sondern immer wieder, gleichsam unbarmherzig, zurückrollen. Aber statt zu resignieren, hält Sisyphos durch. „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ Wir dürfen uns Sisyphos, so Camus mit berechtigtem Optimismus, als einen glücklichen Menschen vorstellen.34 Sisyphos kämpft demnach, ohne gegen jemanden zu kämpfen, allenfalls gegen sich selbst. Er ist ein Sinnbild des Versöhntseins mit sich und den anderen. Ob diese Interpretation Camus’ eigenen Intentionen genau entspricht, mag dahingestellt sein. Zwischen dem Glück eines „Naturwesens“ (Kant nach Hruschka) und dem eines Menschen wage ich nicht zu unterscheiden. Sicher jedoch dürfte sein, dass eine Fiktion von „Sachen“ hinter, über, unter oder neben den Wörtern nicht weiterhilft. Eine solche Fiktion ist denkbar ungeeignet, wenn in den hermeneutischen Ruinen der Gegenwart endlich mit den Aufräumarbeiten begonnen werden soll. Sie läuft auf den Versuch einer Fortsetzung des Naturrechtsdenkens mit den Mitteln einer obsoleten Sprachphilosophie hinaus. Dass es gelte, sowohl der „Grammatik der Freiheit“ als auch der „des Rechts“ neues Leben einzuhauchen – in dieser kulturellen Zielsetzung würde ich Hruschka sofort zustimmen.

33  Eindrucksvoll über das Prinzip bzw. die Tugend der intellektuellen Redlichkeit Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, München: Beck, 2003; S. 79 ff.; ders., Anthropologie statt Metaphysik, München: Beck, 2007, S. 7, 85 ff.  34 Vgl. Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Hamburg: Rowohlt, 127.-133. Tausend, 1969, S. 98 ff.

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V. Der Prozess Recht, ein bloßer Entwurf Radikale Hermeneutik35 findet einen ganz anderen Zugang zum Recht als die nur „halbe“36 Paläo-Hermeneutik. Sie sucht nicht nach verborgenen Sachen, orientiert sich nicht primär an der mehr oder weniger statischen Welt von Rechtsnormen, nicht an normativen „Zuständen“, sondern an der Dynamik des Menschenwerks „Recht“. Als solches hat das Recht Prozesscharakter. Es entsteht aus den Handlungen von bestimmten Funktionsträgern, so dass der Handlungsbegriff zwangsläufig zum Schlüsselbegriff der Rechtsphilosophie wird. Was also macht die Akte kompetenter Funktionsträger zu genuinen Rechtshandlungen? Die Antwort auf diese Frage darf nicht durch eine Mystifizierung nunmehr des in Zeit und Raum stattfindenden Prozesses der Generierung von Recht gefunden werden. Die Geschichtlichkeit des Rechts ist nicht das im Hier und Jetzt zur-Sprache-gebracht-Werden oder in-Handlungen / Zwangsgewalt-umgesetzt-Werden eines vermeintlichen Naturrechts. Arthur Kaufmann etwa behauptet eine Polarität (nicht etwa zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse, sondern zwischen:) Naturrecht und positivem Recht. Diese Polarität sei unauflöslich: „wie der Mensch überhaupt erst Mensch ist, wenn Seele und Leib zusammenwirken, so kommt auch reales Recht erst durch das Ineinander und Miteinander von Naturrechtlichkeit und Positivität zustande“.37 Nein! Die historische Wirklichkeit des Rechts ist allein das Ergebnis von konkreten Rechtshandlungen, denen es allerdings gelingen muss, stabile gesellschaftliche, staatliche und überstaatliche Strukturen von einiger Dauer herauszubilden. Das heißt nicht, dass schlechthin alles unter der Flagge des Rechts segeln kann. Vielmehr hat Recht gerade keinen beliebigen Inhalt. Es kommt nämlich darauf an, eine juristische Praxis zu konstituieren, die als demokratisch und gerecht erlebt und diskutiert werden kann.38 Dann können die hermeneutischen Antennen das Recht auch in den nicht selten gewaltsamen Manifestationen des Rechtsstabs wahrnehmen. Das Recht ist eine hermeneutisch gehaltvolle Handlungsordnung, die seine Akteure gleichwohl nur begrenzt steuern kann und die sich daher einer Ethik der Rechtsakte öffnet. Recht vollzieht sich nicht im Schema von Signal und Reflex. Es muss sich daher gegen exzessive Übergriffe insbesondere durch digitale Medien wehren und seinen ureigenen Tiefgang und seine Unabhängigkeit bewahren. Das Recht wird aber nicht nur durch Ungerechtigkeiten und Skandale praktizierter Rechtsungleichheit gefährdet. Es kann auch dadurch auf der Strecke bleiben,   Oben, Fn. 19.   Jene Hermeneutik scheint halbiert, weil sie nur eine Sprach- und keine echte Handlungslehre entwickelt hat; siehe schon oben, Abschnitt I und sodann passim. 37  Arthur Kaufmann, zitiert nach Alwart, oben (Fn. 1), S. 100; zur „Geschichtlichkeit des Rechts“ vgl. ibid., S. 102, ebenfalls mit Belegstellen. 38  Heiner Alwart, „Begriffe des Rechts“, in: Breidbach / Rosa (Hrsg.), Laboratorium Aufklärung, München: Wilhelm Fink, 2010, S. 151 ff. (165). 35 36

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dass es aufhört, eine Lebensform zu spiegeln, d. h. dass es sich von der Identität eines bestimmten Spiels unter Umständen zu weit entfernt hat (z. B. von einem, dem eigenen Anspruch nach, unideologischen „Spiel“ des Verfassungspatriotismus). Gesellschaft und Individuum dürfen erwarten, dass ein Rechtssystem Bedeutungsgehalte widerspiegelt, die zu ihnen passen, die etwas mit ihnen und Kulturen zu tun haben, in die sich einzelne hineingewachsen fühlen und an denen sie sich auch orientieren dürfen. Von daher bildet das Recht sogar noch mehr als Menschenrechte ab, weil Menschenrechte zu zerrinnen drohen, wenn sie nicht durch eine konsequente Rechtsordnung geschützt und durchgesetzt werden. Menschenrechte können sich nicht selbst hervorbringen. Die Ausarbeitung einer systematischen Rechtsphilosophie müsste aber noch viel weiter ausgreifen. Sie müsste z. B. den Klimawandel und die Flüchtlingskrise mit konkreten hermeneutischen und ethischen Fragestellungen verbinden. Und wie kann es etwa gelingen, die conditio humana bei Regulierung der modernen Fortpflanzungsmedizin nicht aus den Augen zu verlieren? Stößt der Liberalismus nicht längst an die Grenzen eines Machbarkeitswahns? Und was würde der Versuch eines Auslebens von Züchtungsphantasien („Kinder für alle“) für das Verständnis und die Gestaltung von „Recht“ bedeuten? Ohne kulturelle Vorstellungen vom Humanen, die über ein rein empirisches Überlebensinteresse der Menschen und der Menschheit hinausgehen, müsste das Rechtsdenken vor den Herausforderungen der Gegenwart in einer Sackgasse stecken bleiben. Der Abschied von der „Sache Recht“ einerseits, die ohnehin immer nur eine ontologische oder z. B. auch eine klassisch-hermeneutische Scheinkonstruktion war, und die Zuwendung zum Prozess Recht andererseits öffnen die Tür zu einer sowohl handlungstheoretisch als auch ethisch fundierten Rechtsphilosophie, die sich auf der Höhe der Probleme unserer Zeit und – was intellektuelle Redlichkeit betrifft – unserer geistigen Möglichkeiten befindet. Auf diesem Wege darf man sich durch die „korrekten“ und jedenfalls tabuträchtigen Reflexe und Affekte der Nachkriegszeit seit 1945 nicht beirren lassen. Die umfassende Fruchtbarkeit des Neuansatzes muss in Zukunft über Entwürfe und erste inhaltliche Analysen hinaus noch umfassend unter Beweis gestellt werden. Während die eine Epoche bereits am Ende ist, steckt die andere noch in den Kinderschuhen. Das führt nicht zuletzt angesichts der rasanten technischen Entwicklung notwendig zu ernsten Problemen. Summary Modern juridical hermeneutics in its last instance does not refer to ominous transcendental things. Rather, it focuses on special competences and facts. However, the enforcement of a realistic approach in Germany faces various obstacles. On the one hand, Habermasism coupled with both, the Kantian concept of reason and the program of coping with the Nazi past, blocks the necessary reorientation. On the other hand, the academic legal philosophy remains on a broad front in the

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prison of a past-oriented mindset. A fruitful philosophical method is thus hindered from all sides. In this way, a catechism of correctness has been established, which even accepts self-contradictions and hinders a prosperous development of state and society. Critical potential to contain the crises of the present and to secure a humanitarian future is missing. The admiration, almost being a personality cult, of Frankfurt’s sanctuary “Jürgen Habermas” distracts from these deficits. In the English-speaking world, the neo-hermeneutics outlined here might probably correspond to the intentions expressed by John D. Caputo (Hermeneutics, 2018). Whereas on the other hand, Joachim Hruschka’s hermeneutics, for which he argued at the beginning of his career, remained attached to the traditional ideas of thinking (“The Understanding of Legal Texts”, 1972). It is generally known that later he turned his back on hermeneutics completely.

Geltung, Diskurs und Rhetorik – Der Geltungsbegriff Joachim Hruschkas im Modus der Anerkennung1 Stefan Arnold

I. Einführung Joachim Hruschkas Das Verstehen von Rechtstexten ist einem Problem gewidmet, das für unser Verständnis rechtlicher Praxis kaum grundlegender sein könnte: Wie können Rechtstexte, also vor allem Gesetze, in der Praxis des Rechts wirksam werden? Wie können also Juristinnen und Juristen Rechtstexte verstehen und anwenden? In seinen Antworten deckt Joachim Hruschka „Sprachverwirrungen“2 auf, allenthalben dringt er auf semantische und begriffliche Klarheit. Das gilt auch für den Begriff der „Geltung“, ohne den wir Hruschka zufolge Rechtstexte überhaupt nicht als Rechts-Texte verstehen können: Ein Text wird eben nur zum Rechts-Text, so Hruschka, wenn er auf die „Sache Recht“ bezogen ist – und dazu gehört, dass er einen Geltungsanspruch erhebt.3 In den folgenden Zeilen wird zunächst nachgezeichnet, was dieser Geltungsanspruch bei Hruschka bedeutet und wie Hruschka Geltung begrifflich konzipiert. Sodann wird untersucht, ob und wie Hruschkas Geltungsbegriff unsere Vorstellung des Rechts als rationale Friedensordnung stabilisieren kann. Dazu wird Hruschkas Geltungsbegriff auf die juristische Praxis zurückgespiegelt. Geltung, so die zentrale These des Beitrags, entsteht in der diskursiven Praxis der Akteure des Rechts. In dieser Praxis, für die Kommunikation über Rechtstexte prägend ist, erkennen sich die Akteure des Rechts wechselseitig als Anerkennende an. Die Rhetorik ist an der Herstellung von Rechtsgeltung in diesem Prozess schon deshalb beteiligt, weil sie die Überzeugungskraft von Rechtsinterpretationen stärkt.

1  Mein Dank gilt Martina Wagner-Egelhaaf für wertvolle Hinweise und Nils Buchholz, Sarah Graubner, Marcus Schnetter und Norman Weitemeier für ihre Korrekturen. 2 Vgl. Joachim Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, München: C.H.Beck, 1972, S. 3. 3  Hruschka, ebd., S. 61.

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II. Zu Hruschkas Konzeption der Rechtsgeltung 1. Zur Etymologie des Wortes „gelten“ Hruschkas Konzeption der Rechtsgeltung nimmt die Bedeutung des Wortes „gelten“ in seiner alltagssprachlichen Verwendung ebenso ernst wie seine Etymologie.4 Hruschka ruft in Erinnerung, dass „gelten“ ursprünglich eine schuldige Leistung bezeichnet, insbesondere eine Gegenleistung oder eine Schadensersatzleistung.5 Er verweist auch auf das bayerische „Vergelt’s Gott!“ als Ausdruck des Dankes,6 das diese Bedeutung bewahrt: Gott wird oder soll das, wofür man dankt, im Jenseits entlohnen. Das Wort „gelten“ drückte spätestens im 19. Jahrhundert auch etwas Werthaltiges aus, ohne dass der Wert aus einer Relation zu einem Gegenstück beurteilt werden würde.7 „Gelten“ wird Rudolf Hildebrand im Grimm’schen Wörterbuch zufolge zu „wert sein“ oder „wert haben“, also zum bildlichen Ausdruck der „wertbestimmung von allerlei anderm, auch sittlich, geistig“.8 Als wertbezogener Begriff wird „Geltung“ seit dem 19. Jahrhundert auch in der Philosophie diskutiert.9 Die Werthaltigkeit dessen, was gilt, wird sprachlich oft mit den Worten „anerkennen“ bzw. „Anerkennung“ zum Ausdruck gebracht. So liegt es bei Geld, wie Hildebrand im Grimm’schen Wörterbuch beobachtet: was als Geld gilt, hat einen „wert den alle anerkennen, mit dem münze durch das land geht“.10 Noch im gegenwärtigen deutschen Privatrecht „gelten“ nur solche Zahlungsmittel als Verkehrsgeld, die im Geschäftsverkehr als Zahlungsmittel anerkannt werden.11 Auch in anderen Verwendungskontexten entsteht die jeweilige Werthaltigkeit aus Anerkennung.12 In diesem Sinne lässt Goethe im Faust II Mephistopheles von Geltung sprechen: „Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr sey nicht wahr,/ Was ihr nicht wägt hat für euch kein Gewicht,/ Was ihr nicht münzt das meynt ihr gelte nicht.“13   Hruschka, ebd., S. 60 – 69.   Hruschka, ebd., S. 61. Siehe auch Rudolf Hildebrand, in: J. Grimm / W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 5 (Vierten Bandes erste Abtheilung, Zweiter Teil), Leipzig: von S. Hirzel, 1897, Sp. 3067. 6  Hruschka (Fn. 2), S. 62 (Fn. 9); so auch Hildebrand (Fn. 5), Sp. 3069. 7  Hruschka (Fn. 2), S. 62. 8  Hildebrand (Fn. 5), Sp. 3077. 9  Im Überblick dazu Heinrich Hülsmann, in: J. Ritter / K. Gründer / G. Gabriel, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe, 2007, Band 3, S. 232 (Lemma „Gelten, Geltung“). In der heutigen philosophischen Diskussion gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungsnuancen, die hier nicht im Einzelnen darzustellen sind. Dazu Lumer, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg: Meiner, 2010, Band 1, S. 811 ff. 10  Hildebrand (Fn. 5), Sp. 3076. 11  S. nur Stefan Arnold, in: Hans-Theodor Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch, Band 3/2, Stuttgart: Kohlhammer, 2014, § 244 BGB Rn. 6. 12  Hildebrand (Fn. 5), Sp. 3078. 4 5

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Die Werthaltigkeit kann sich auch auf Personen beziehen,14 so etwa in Luther’s Übersetzung von Markus 6:4: „Jhesus aber sprach zu jnen / Ein Prophet gilt nirgent weniger / denn im Vaterland /vnd daheim bey den seinen.“15 Gelten wird auch verwendet, um (aus Sprechersicht) falsche Wertzuschreibungen aufzuzeigen. So klagte der Lyriker Johann Christian Günther über die deutsche Dichtkunst: „Vor dem galt deutsche Treu, jetzt gilt nur List und Geld, und künstlicher Betrug und vorteilhafte Tücke.“16 Ähnlich setzt Günther „gelten“ in seinem Gedicht Als er der Phillis einen Ring mit einem Totenkopf überreichte ein: „Erschrick nicht vor dem Liebeszeichen, es träget unser künftig Bild, vor dem nur die allein erbleichen, bey welchen die Vernunft nichts gilt.“17 Die Etymologie des Wortes „gelten“ und seine Verwendung in der Alltagssprache zeigen: In den Worten „gelten“ und „Geltung“ schimmert immer eine Wertung auf. Hier setzt Hruschkas Positivismuskritik an, die in einem nächsten Schritt skizziert und weiterentwickelt wird. 2. Die Abnutzung des Geltungsbegriffs als „Modus der Existenz“ – Hruschkas Positivismuskritik Hildebrand beschrieb im Grimm’schen Wörterbuch eine Abnutzung der Worte „geltend machen“ bzw. „gelten machen“ im allgemeinen Sprachgebrauch: „denn es meint eigentlich etwas zur allgemeinen anerkennung oder wirkung bringen (…) oder in einem streit als thatsache vorbringen. (…) wenn man aber jetzt in einem Streit, einer verhandlung etwas geltend macht, ist meist nur noch gemeint, daß man es geltend zu machen sucht (wie ähnlich das nun beliebte constatiren auch zu einem bloszen behaupten wird, einem versuch als thatsache fest zu stellen).“18

Eine ähnliche Abnutzung sieht Hruschka im Sprachgebrauch des Positivismus,19 der den Geltungsbegriff von seiner Wertbezogenheit löst.20 Kelsens Geltungslehre 13  Johann Wolfgang Goethe, Faust, zweyter Theil, I. Akt, Kaiserliche Pfalz. Saal des Thrones, in: Gaier (Hrsg.), Faust-Dichtungen, Stuttgart: Reclam, 2010, S. 228. 14  Hildebrand (Fn. 5), Sp. 3080. 15  Martin Luther, Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft Deudsch, 1545, Markus 6:4, online verfügbar unter http://www.zeno.org / Literatur / M/Luther,+Martin / Luther-Bibel+1545/ Das+Neue+Testament / Das+Markusevangelium / Markus+6, zuletzt abgerufen am 18. 06. 2019. 16 J. C. Günthers Gedichte, sechste Auflage, Breslau und Leipzig: Johann Ernst Meyer, 1764, S. 862 – Günther bezieht sich hier auf die Dichtkunst, das „Amt der Poesie“. Kritisch dazu August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Johann Christian Günther – ein literarhistorischer Versuch, Breslau 1832, S. 26 ff. 17  Johann Christian Günthers Gedichte, sechste Auflage, Breslau und Leipzig: Johann Ernst Meyer, 1764, S. 223. 18  Hildebrand (Fn. 5), Sp. 3081. 19  Hruschka bezieht sich auf die „juristische“ und die „soziologisch-historische“ Geltungslehre in der Terminologie Gustav Radbruchs, s. Hruschka (Fn. 1), S. 62; vgl. Gustav Radbruch

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erwähnt Hruschka in diesem Teil seiner Schrift nicht ausdrücklich. An ihr lässt sich aber die Entmaterialisierung des Geltungsbegriffs im Rechtspositivismus besonders deutlich veranschaulichen. Kelsen verwendet die Worte „Geltung“ und „gelten“ ganz bewusst wertneutral. In der Reinen Rechtslehre schreibt er: „Mit dem Worte Geltung bezeichnen wir die spezifische Existenz einer Norm.“21

Kelsen lässt keinen Zweifel daran, dass mit „Geltung“ keinerlei Werturteil über den konkreten Inhalt einer Norm verbunden ist: „Eine Rechtsnorm gilt nicht darum, weil sie einen bestimmten Inhalt hat (…), sondern darum, weil sie in einer bestimmten, und zwar in letzter Linie von einer vorausgesetzten Grundnorm bestimmten Weise erzeugt ist. Darum und nur darum gehört sie zu der Rechtsordnung, deren Normen dieser Grundnorm gemäß erzeugt sind. Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“22

Die wohl gerade wegen ihrer Radikalität berühmt gewordene entmaterialisierte Konzeption der Rechtsgeltung ist in Kelsens Begriffswelt stimmig und keineswegs selbstwidersprüchlich. Kelsen macht die wertneutrale Bedeutung explizit, in der er das Wort „Geltung“ verwendet. Wenn Hruschka beklagt, dass der Begriff der Geltung durch den Positivismus „schon längst destruiert“23 ist, lanciert er eine externe Form der Kritik. Sie kann vielleicht helfen zu verstehen, weshalb sich nicht der rechtspositivistische Geltungsbegriff, sondern voraussetzungsvollere Geltungskonzeptionen in der Rechtsprechung der deutschen Gerichte durchgesetzt haben 24 und offene Bekenntnisse zum Rechtspositivismus selten sind.25 Wer das Wort „Geltung“ verwendet, ruft bei Lesern und Zuhörern Assoziationen hervor, die sich allein aus der Verwendung dieses Wortes ergeben. Sie resultieren daraus, dass das Wort „Geltung“ – wie soeben erläutert26 – etymologisch und in der Regel auch alltagssprachlich verwendet wird, um Werturteile zum Ausdruck zu bringen, in denen es um die Anerkennung eines Gegenstands, einer Person oder (Fn. 19), in: Ralf Dreier / Stanley L. Paulson (Hrsg.), Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, Heidelberg, C.F. Müller, 1999, S. 78 ff. (Rechtsphilosophie 1932). 20  Hruschka (Fn. 2), S. 61 – 64. 21  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien: Franz Deuticke, 2. Aufl. 1960, S. 9; vgl. auch Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien: Manz, 1979 (hrsg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter), S. 2: „Wenn man sagt: „eine Norm gilt“, meint man: eine Norm ist vorhanden. Geltung ist die spezifische Existenz der Norm.“. 22  Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 21), S. 200 f. 23  Hruschka (Fn. 2), S. 61. 24  Vgl. etwa BVerfGE 34, 269 („Soraya“); BVerfGE 95, 96 („Mauerschützen“); BGHZ 3, 94 („Katastrophenbefehl“ – Schießbefehl gegen Deserteure am Ende des 2. Weltkriegs). 25  Vgl. nur Fabian Wittreck, Geltung und Anerkennung von Recht, Baden-Baden: Nomos, 2014, S. 32 m. w. N.; s. aber Norbert Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, NJW 1986, 2480. 26  Oben, II.1.

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eines Vorgangs geht. Wir bringen ein anerkennendes Werturteil über Goethe und den Faust zum Ausdruck, wenn wir sagen: „Goethes Faust hat Geltung“; wir zollen Kant und seinen Schriften Respekt, wenn wir davon sprechen, dass „die Geltung Kants für die Rechtsphilosophie ungebrochen“ ist. Von dieser Konnotation des Wortes „Geltung“ können wir uns nie vollständig lösen 27, auch dann nicht, wenn uns jemand – wie Kelsen mit Blick auf die „Geltung einer Norm“ – ausdrücklich sagt, dass er das Wort auf andere Art und Weise zu verwenden gedenkt. Wenn eine fünfjährige Tochter den Vater fragt: „Warum heißt Stuhl Stuhl?“, so mag er erklären: „Jemand hat einen Stuhl einmal Stuhl genannt. Alle anderen machen das seitdem auch.“ Wenn die Tochter dann antwortet: „Für mich heißt Stuhl aber Tisch!“, kann der Vater antworten: „Dann versteht aber keiner mehr, was du meinst, wenn Du Stuhl sagst“.28 Ein ähnliches Problem kauft sich der Rechtspositivismus mit seiner Verwendung des Wortes „Geltung“ ein. Er verletzt verbreitete Vorverständnisse der Begriffe „Geltung“ und „gelten“. Wenn Normen oder einem Rechtssystem „Geltung“ zugeschrieben wird, so können sich selbst rechtstheoretisch informierte Adressaten nur schwer von dem Vorverständnis lösen, dass in dieser Aussage auch ein Werturteil über den jeweiligen Rechtssatz oder das Recht beinhaltet ist. Denn in den Worten „Geltung“ bzw. „gelten“ kommt im herkömmlichen Sprachverständnis eben nicht lediglich eine wertneutrale Klassifikation zum Ausdruck; ein positives Werturteil schwingt immer leise mit. Dem kann man auch nicht dadurch entkommen, dass man explizit darauf hinweist, dass das Wort „Geltung“ als neutraler Begriff gebraucht wird und dass mit der „Geltung einer Norm“ oder der „Geltung des Rechts“ nichts über die moralische, ethische oder politische Werthaltigkeit dieser Norm oder dieses Rechtssystems gesagt werden soll, sondern nur eine neutrale Bezeichnung (bei Kelsen für die spezifische Existenz einer Norm) gegeben wird und das Werturteil über die Norm oder diese Rechtsordnung (etwa als gerecht oder ungerecht) rechtsexternen Sphären (etwa der Moral oder der Politik) überlassen wird.29 Solche Klarstellungen erlauben zwar in sich stimmige Analysen, können aber die für jede kompetente Sprecherin der deutschen Sprache naheliegenden Assoziationen der Wörter „Geltung“ bzw. „gelten“ nie vollständig auslöschen.30 27  Näher zu den Vorverständnissen als Voraussetzung allen Verstehens Hruschka (Fn. 2), S. 46 f. 28  Hruschka erläutert diesen Punkt mit etwas anderer Stoßrichtung anhand des Gesprächs von Alice und Goggelmoggel in Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln in Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, Berlin / New York: De Gruyter, 2. Aufl. 1988, S. XVIII. 29  Vgl. nur H.L.A. Hart, The Concept of Law, 3. Aufl., Oxford: Oxford University Press, 2012, S. 200 – 212; ausführlicher noch H.L.A. Hart, „Positivism and the Separation of Law and Morals“, Harvard Law Review 71:4, 1958, S. 593, eindrucksvoll kritisiert bei Lon L. Fuller, „Positivism and Fidelity to Law: A Reply to Professor Hart“, Harvard Law Review 71:4, 1958, S. 630. Zur Hart-Fuller-Debatte s. nur Leslie Green, Positivism and the Inseparability of Law and Morals, New York University Law Review 83:4, 2008, S. 1035. 30  Hruschka (Fn. 2), S. 64 (Fn. 15).

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3. Der Verbindlichkeits- und Geltungsanspruch des Rechts – die Sache Recht und das Prinzip Recht Hruschka nimmt in seinem Geltungsbegriff die Vorverständnisse ernst, die mit den Begriffen „gelten“ und „Geltung“ einhergehen. So gelangt er zu einem voraussetzungs- und inhaltsreichen Begriff der Rechtsgeltung. Rechtstexte sind Hruschka zufolge auf die extrapositive „Sache Recht“ bezogen.31 Die „Sache Recht“ umfasse allgemeine Strukturen, durch die sich das Recht von anderen Erkenntnisgegenständen unterscheide und von denen „jeder, der sich mit der „Sache Recht“ theoretisch wie praktisch befaßt, schon immer ein mehr oder weniger artikuliertes Vorwissen“ habe.32 Zu diesen Strukturen zählt Hruschka die Konfliktbezogenheit des Rechts,33 seine Eigenheit, Auswege aus diesen Konflikten aufzuzeigen34 und seine Ausrichtung auf zukünftiges menschliches Handeln35. Vor allem aber wohne allen Rechtssätzen ein „Bindungs- oder Verbindlichkeitsanspruch“ inne, der von der faktischen Durchsetzung des Rechtssatzes unabhängig sei.36 Dazu trete ein grundlegender „An-Spruch, der am besten als Geltungsanspruch bezeichnet wird.“37 Jeder Rechtssatz müsse sich „immer auch als wertvolle Vor-Schrift und Objektivation und als wertvoller Maßstab ausgeben, wenn das Ziel des Verbindlichkeitsanspruchs erreicht werden soll – und das ist der Sinn des erhobenen Geltungsanspruchs, der sich mithin auf die Angemessenheit und Gerechtigkeit der vorgeschriebenen Konfliktlösung richtet.“ 38 Das Grundcharakteristikum jedes Rechtssatzes liegt für Hruschka in dem Anspruch, „daß seine Grenzziehungen (…) (im Sinne der Grundbedeutung des Wortes) gültige „Inhaltsangaben“ gerechter Konfliktlösungen sind.“ 39 In diesem Sinne fordert Hruschka später mit Nachdruck als Aufgabe der Rechtswissenschaft ein, unter Rückgriff auf vorpositive Rechtsprinzipien (wie der Goldenen Regel, dem kategorischen Imperativ oder dem Prinzip der Verallgemeinerung40) das Postulat der Widerspruchsfreiheit des Handelns in einem anspruchsvollen, materialen Sinne41 ernst zu nehmen.42

 Vgl. Hruschka (Fn. 2), S. 52 f.   Hruschka (Fn. 2), S. 56. 33  Hruschka (Fn. 2), S. 56 f. 34  Hruschka (Fn. 2), S. 58. 35  Hruschka (Fn. 2), S. 58. 36  Hruschka (Fn. 2), S. 60 f. 37  Hruschka (Fn. 2), S. 61. 38  Hruschka (Fn. 2), S. 64 f. 39  Hruschka (Fn. 2), S. 65. 40  Zur Goldenen Regel und dem Prinzip der Verallgemeinerung in ihrer Bedeutung für Kants Kategorischen Imperativ Hruschka, Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ, JZ 42:20 1987, S. 941 – 951; zur Goldenen Regel siehe auch Hruschka, Die Goldene Regel in der Aufklärung – die Geschichte einer Idee, Jahrbuch für Recht und Ethik 2004, S. 157. 31 32

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Hruschka zufolge schweigt die Hermeneutik über die objektive Existenz der Sache Recht „an sich“.43 Er verhält sich insoweit ontologisch neutral, positioniert sich also – anders als Ballweg annimmt44 – nicht zu der Frage, ob die Sache Recht objektiv existiert und durch Auslegung lediglich erkannt werden kann (oder nicht). Hruschka beschreibt die Sache Recht vielmehr als den Punkt, an dem Rechtstext und Verstehen des Rechtstextes „intersubjektiv koinzidieren“, so dass die Sache Recht als „text- und gedankenjenseitig gedacht werden“ muss.45 Rechts-Texte müssen Hruschka zufolge zudem auch auf das verweisen, was Hruschka das „Prinzip Recht“ nennt – also auf das oberste Prinzip der Angemessenheit und Gerechtigkeit von Konfliktlösungen. In diesem Prinzip – letztlich also der Gerechtigkeit46 – liege der logische und sachliche Grund der Möglichkeit und Verbindlichkeit von Rechtssätzen.47 Hruschka zufolge setzt die Geltung eines Rechtssatzes also voraus, dass er zur extrapositiven Sache Recht und zum Prinzip Recht hingewendet ist – also auf angemessene Konfliktlösungen und auch die Idee der Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Dieser Geltungsbegriff steht im Einklang mit den Assoziationen vom „Guten“, „Wertvollen“, „Gerechten“, die die Etymologie der Worte „Geltung“ und „gelten“ erklärt und die mit der Praxis der Alltagssprache auch außerhalb von Recht und Rechtstheorie übereinstimmen. III. Die Geltung des Rechts im Modus der Anerkennung 1. Hruschkas Geltungsbegriff als Beitrag zur Abwehr des Rechtsnihilismus Hruschkas Geltungsbegriff lässt sich nicht als „richtig“ gegenüber einem „falschen“ Geltungsbegriff etwa bei Kelsen oder Radbruch verteidigen. Er hat aber den Vorzug, das Recht als sozialen Steuerungsmechanismus erklären zu können, der einen Beitrag zum Frieden leisten kann und soll: So kann Hruschkas Geltungs41  Wer etwa grundlos mordet, handelt Hruschka zufolge nicht nur außerhalb der vom positiven Recht gezogenen Grenzen, sondern auch widersprüchlich im vorpositiven Sinne. 42  Hruschka, Vorpositives Recht als Gegenstand und Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 47:9, 1992, S. 429, 436 f. 43  Hruschka (Fn. 2), S. 55. 44  Ottmar Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: K. von Schlieffen (Hrsg.), Ottmar Ballweg, Analytische Rhetorik. Recht, Rhetorik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2009, S. 87 (91). 45  Hruschka (Fn. 2), S. 55. 46  Hruschka räumt ausdrücklich ein, dass das „Prinzip Recht“ auch mit dem Wort „Gerechtigkeit“ (oder „Rechtsidee“ bzw. „Naturrecht“) bezeichnet werden kann, betont aber, dass es auch dann „immer nur bezeichnet, nie erfaßt“ werden könne, vgl. Hruschka (Fn. 2), S. 69. 47  Hruschka (Fn. 2), S. 68 f.

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begriff unsere Vorverständnisse vom Recht als „Sache“, der ein Wert zukommt, stärken und dadurch zur Stabilität unserer Gesellschaft beitragen. Geltendes Recht ist durch Hruschkas Geltungsbegriff definitionsgemäß auf die extrapositive Sache Recht und das Prinzip Recht hingewendet und deshalb etwas Wertvolles, das nicht ohne weiteres als „beliebig“ abgeurteilt und nicht befolgt werden kann. So trägt Hruschkas Geltungsbegriff dazu bei, einen extremen Rechtsrelativismus oder Rechtsnihilismus abzuwehren, der für die Stabilität der Rechtsordnung auf die zwangsweise Durchsetzung ihrer Normen angewiesen ist. Er erleichtert wie ähnliche nicht-positivistische Rechts- bzw. Geltungsbegriffe48 zudem die gesellschaftliche Bewältigung legislativen Unrechts der Vergangenheit.49 Hruschkas Geltungsbegriff ermöglicht schon eine begriffliche Absage an die „Geltung“ von Rechtssätzen, die vorpositives Recht in schwerem Maße verletzen: Solchen Rechtssätzen kommt – mangels ihrer Hinwendung auf die Sache Recht und auf das Prinzip Recht – von vornherein keine Geltung zu. 2. Der rechtliche Diskurs als Weg zur Rationalität und Bestimmbarkeit des Rechts Diese Vorzüge kann Hruschkas Geltungsbegriff allerdings nur entfalten, wenn sich das Recht und seine Geltung als rational und bestimmbar erweisen. Da die Geltung eines Rechtssatzes von seiner Hinwendung auf die Sache Recht und auf das Prinzip Recht abhängt, müssen auch die Sache Recht und das Prinzip Recht rational und bestimmbar sein. Andernfalls führen diese Begriffe zur Ideologieanfälligkeit des Rechts und bergen die Gefahr inhaltlicher Beliebigkeit. Rationalität und Bestimmbarkeit lassen sich nicht durch objektiv ex ante feststehende und hinreichend determinierte konkrete Inhalte von Rechtssätzen erreichen.50 Die Positivität des Rechts, also seine ordnungsgemäße Gesetztheit hilft über Unbestimmtheiten, Mehrdeutigkeiten und Lückenhaftigkeiten nicht hinweg, sobald es um konkrete Inhalte in Einzelfällen geht. Zu diesem Einwand tritt natürlich auch das Problem, dass die Positivität des Rechts ihrerseits nur schwer ohne Rückgriff auf empirische, vorpositive Elemente erklärt werden kann.51 48  Siehe etwa Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg / München: Karl Alber, 3. Aufl. der Studienausgabe, 2011; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992; Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW 1986, 890 – 896; einen instruktiven Überblick bietet etwa Wittreck (Fn. 25). 49  Vgl Fuller gegen Hart (Fn. 29); Hruschka (Fn. 42), S. 429. 50  Zur Rationalität und Bestimmbarkeit des Rechts näher mit Blick auf das Privatrecht schon Arnold, Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie – Gegenseitige Anerkennung und Gerechtigkeit als Schlüssel zur Rationalität des Rechts, in: D. Klippel, M. Loehnig und U. Walter (Hrsg.), Grundlagen und Grundfragen des Bürgerlichen Rechts, Bielefeld: Gieseking, 2016, S. 5, 7 – 11; s. auch mit Blick auf berechtigte Erwartungen (legitimate expectations) Arnold, Legitimate Expectations in the Realm of Law – Mutual Recognition, Justice as a Virtue and the Legitimacy of Expectations, Moral Philosophy and Politics 2017, S. 257, 271 – 272.

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Auch die Inhalte und Grenzen der Sache Recht und des Prinzips Recht stehen nicht ex ante fest, so dass es ein bloßes Erkenntnisproblem wäre, wenn wir sie nicht vollständig erklären können: Um die sachlogischen Strukturen des Rechts und die inhaltlichen Anforderungen der Gerechtigkeit ringen Philosophen, Juristen und Theologen seit Jahrtausenden. Wir mögen darüber einig sein, dass die Nürnberger Rassengesetze nicht auf das Prinzip Recht ausgerichtet waren, aber nicht immer liegen die Dinge so klar. Über die konkreten Anforderungen der Gerechtigkeit kann rationale Uneinigkeit bestehen. Der Weg zur Rationalität des Rechts und seiner Geltung führt daher zur rechtlichen Praxis der Akteure des Rechts (wie Gesetzgeber, Anwältinnen und Richterinnen), also zu Handlungen (vor allem Sprechakten) dieser Akteure, in der intersubjektive Koinzidenz über das Verstehen von Recht hergestellt und Normativität begründet wird.52 Verstehen erhält auch für Hruschka nur in seinem Bezug auf den jeweiligen Verstehensgegenstand – also auf die außersprachlichen, je ausgelegten Sachen als Interpretationsgegenstand – seine „eigene Rationalität“ und kann erst dadurch „in Auslegungen weitergegeben werden“ und „intersubjektiv nachprüfbar“ werden.53 Die hier angelegte Dynamik der Interpretation weist den Weg zur Praxis des rechtlichen Diskurses: Intersubjektive Koinzidenz im Sinne Hruschkas ist auf die diskursive Praxis des gelebten Rechts angewiesen, in der die Weitergabe von Auslegungen täglich erfolgt: Anwaltliche Schriftsätze begründen ebenso wie gerichtliche Urteile spezifische Auslegungen von Rechtstexten und deren Eignung als gerechte Lösung des jeweiligen Konflikts. Oft ist eine Begründung ja gerade deshalb überzeugend, weil sie nicht bloß auf die Existenz einer vermeintlich eindeutigen Norm verweist, sondern erklären kann, weshalb diese Norm zu einer angemessenen Lösung des Falls führt. So kann die Geltung des Rechts (im Sinne Hruschkas) erst durch die diskursive Auseinandersetzung der Akteure des Rechts entstehen, in der sie die Rationalität des Rechts und seine Bestimmbarkeit erzeugen.54 Wenn der rechtliche Diskurs sein Ziel verfehlt, droht Rechtsnihilismus, das Recht kann seine soziale Steuerungsfunktion dann nicht mehr erfüllen. Die Praxis der Akteu51  Dazu etwa Alexy (Fn. 48), S. 107 sowie mit Fokus auf die Verfassungsgeltung Wittreck (Fn. 25), S. 19 ff. 52  Zur Normativität und Rationalität des Rechts noch ohne Bezugnahme auf die Rechtsgeltung schon Arnold, Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie (Fn. 50), S. 5 – 22 sowie Arnold, Legitimate Expectations (Fn. 50), S. 257 – 281. 53  Hruschka (Fn. 1), S. 47 f. Für Hruschka bricht deshalb eine zentrale hermeneutische Grundannahme des Rechtspositivismus in sich zusammen: Die jedenfalls bei Kelsen anvisierte „Reinheit“ des Rechts scheitert schon daran, dass die „Welt des Sollens“ nicht ohne Rückgriff auf die „Welt des Seins“ rational verstanden werden kann. Darin liegt die hermeneutische Transpositivität des positiven Rechts, deren Bedeutung Hruschka durch den Untertitel seiner Habilitationsschrift („Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts“) hervorhebt. 54 Zum Folgenden noch ohne Bezugnahme auf die Rechtsgeltung Arnold, Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie (Fn. 50), S. 5 – 22 sowie Arnold, Legitimate Expectations (Fn. 50), S. 257 – 281.

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re des Rechts, also ihre Rechtsauslegungen und -anwendungen müssen daher als normative Praxis verstanden werden, wenn Rechtsgeltung in ihr hervorgebracht werden soll. Für das Gelingen dieser Praxis spielen Anerkennungsstrukturen eine entscheidende Rolle, die es in einem nächsten Schritt zu erarbeiten gilt. 3. Die Strukturen der Anerkennung im rechtlichen Diskurs Die Etymologie des Wortes „Geltung“ hat vielfältige Verbindungen zum Wort „Anerkennung“ ergeben:55 Geltung kommt Gegenständen oder Personen zu, die als werthaltig anerkannt werden. Anerkennung wiederum ist spätestens seit Hegels Phänomenologie des Geistes56 ein Zentralbegriff vornehmlich der praktischen Philosophie.57 Im Folgenden wird Robert B. Brandoms Konzeption der Anerkennung auf den juristischen Diskurs gewendet und für Hruschkas Geltungsbegriff fruchtbar gemacht.58 a) Die Chain Novel des Rechts in Brandoms normativer Feinstruktur Brandom erklärt die Rationalität des Rechts aus der sozialen und normativen Praxis des rechtlichen Diskurses.59 Er setzt an Ronald Dworkins berühmter Beschreibung des Common Law als Chain Novel an.60 Dworkin vergleicht das Recht   Vgl. oben, II.1.   Hegel entfaltet seinen Anerkennungsbegriff im Kapitel über das Selbstbewusstsein, vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1806), in: E. Moldenhauer / K.M. Michel (Hrsg.), Werke, Band 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp G.W.F., 1996. 57  Im Überblick dazu Mattias Iser, Recognition, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2013, abrufbar unter http://plato.stanford.edu / archives / fall2013/ entries / recognition/, zuletzt abgerufen am 18. 06. 2019. S. auch Axel Honneth, Schwerpunkt Anerkennung: Facetten eines Begriffs, DZPh 2008, S. 875 – 876; Georg W. Bertram, Hegel und die Frage der Intersubjektivität – Die Phänomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Rationalität, DZPh 2008, S. 877 – 898. 58 Zu den Anerkennungsstrukturen im rechtlichen Diskurs noch ohne auf den Geltungsbegriff Bezug zu nehmen schon Arnold, Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie (Fn. 50), S.  5 – 22 sowie Arnold, Legitimate Expectations (Fn. 50), S. 257 – 281. 59  S. insbesondere Robert B. Brandom, Some Pragmatist Themes in Hegel’s Idealism: Negotiation and Administration in Hegel’s Account of the Structure and Content of Conceptual Norms, European Journal of Philosophy 1999, S. 164 – 189; Brandom, Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2009; Brandom, A Hegelian Model of Legal Concept Determination. The Normative Fine Structure of the ­Judge’s Chain Novel, in: G. Hubbs/ D. Lind (Hrsg.), Pragmatism, Law, and Language, London: Routledge, S. 19 – 39; nur angedeutet dagegen in Brandom, Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1994, S. 130. 60  R. Dworkin, A Matter of Principle, Oxford and New York: Oxford University Press, 1985, S. 158 ff.; R. Dworkin, Law’s Empire, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1986, S. 228ff. 55 56

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mit einer Geschichte, die von mehreren Autoren gemeinsam als ewiger Fortsetzungsroman geschrieben wird. Jedes einzelne Urteil ist ein kleines Kapitel einer großen Geschichte, an der schon alle vorangegangenen Urteile als Teilkapitel mitgeschrieben haben und die auch in Zukunft forterzählt werden wird. Darum müsse sich jede Richterin bemühen, ihr Urteil harmonisch in das bestehende Präjudiziensystem einzufügen. So wie jeder Romanautor der bisherigen Entwicklung der Figuren und Geschichten gerecht werden müsse, so sei auch jede Richterin gehalten, die bis jetzt vorliegenden Erzählungsteile der großen Geschichte „Recht“ kohärent fortzuführen – Law as integrity ist Dworkins berühmtes Leitbild der richterlichen Entscheidungsfindung.61 Brandom lässt sich auf Dworkins Idee der Chain Novel ein und ergänzt sie um normative Strukturen wechselseitiger Anerkennung. Anerkennung versteht Brandom als soziale und vor allem auch als normative Struktur.62 Die normative Facette der Anerkennung macht Brandom zufolge die Rationalität des Rechts überhaupt erst möglich;63 gerade wegen ihr lässt sich Brandoms Theorie auch für die Rechtsgeltung fruchtbar machen. Im Kontext rechtlicher Praxis lässt sich Anerkennung mit Brandom als normative Einstellung der Akteure des Rechts verstehen, die sie anderen gegenüber einnehmen, aber auch von ihnen erwarten.64 Jeder Akteur des Rechts erkennt die anderen Akteure des Rechts als ihrerseits anerkennende Akteure an und wird seinerseits von allen anderen in der gleichen Art und Weise anerkannt. Den intersubjektiven Fokus der Anerkennung hat Hruschka für die Achtung des Nebenmenschen als Tugendpflicht betont, die Kant in der Tugendlehre als Parallele zur Unbescholtenheit in der Rechtslehre entwickelt hat.65 Bei Brandom hat Anerkennung zwei Komponenten: Verantwortung und Autorität.66 Das lässt sich anhand einer richterlichen Entscheidung knapp skizzieren. Wenn eine Richterin einen Rechtssatz anwendet, erkennt sie den Urheber dieses Rechtssatzes (sei es der Gesetzgeber, sei es die vorherige Richterin, wenn es um ein Präjudiz geht) in seiner Autorität an.67 Zugleich übernimmt sie in ihrer Ausdeutung des Rechtssatzes Verantwortung für nachfolgende Richterinnen. Sie erhebt den Anspruch, ihrerseits in ihrer Autorität und Verantwortung in Zukunft in glei61  R. Dworkin, Law’s Empire, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1986, S. 225 ff. 62  Robert B. Brandom, Making It Explicit (Fn. 58), S. 275. 63  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), S. 169 ff. 64  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), S. 169 ff. 65  Hruschka, Existimatio: Unbescholtenheit und Achtung vor dem Nebenmenschen bei und in der Kant vorangehenden Naturrechtslehre, Jahrbuch für Recht und Ethik 2000, S. 181. Aus der Unbescholtenheit folgt die strafrechtliche Unschuldsvermutung. 66  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), 169 ff; Brandom, A Hegelian Model (Fn. 58), S. 28 ff. 67  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), 180 f; Brandom, A Hegelian Model (Fn. 58), S. 32 f.

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cher Weise anerkannt zu werden.68 Autorität und Verantwortung sind für Brandom zugleich vergangenheits- und zukunftsbezogen. b) Das Recht als Gegenstand der Anerkennung Gegenstand der Anerkennung ist für Brandom immer auch das Recht selbst.69 Das lässt sich besonders klar anhand des Präjudizienrechts im Common Law veranschaulichen: Hier beziehen sich Richterinnen und Richter oft ausdrücklich auf Präjudizien und deren Begründungen.70 Dabei wird in jeder einzelnen Entscheidung das Recht – im Common Law vornehmlich die einschlägigen Präjudizien – als Autorität anerkannt, und zwar auch insofern, als es neu interpretiert und fortent­wickelt wird.71 Die Bezogenheit der Anerkennung auf das Recht stimmt mit Hruschkas hermeneutischem Ausgangspunkt überein: Verstehen ist für ihn zwingend „Übereinstimmung in etwas“ und nicht rein intersubjektiv, losgelöst von der zu verstehenden Sache möglich.72 Die in der Praxis des Rechts zu verstehende Sache umfasst bei Hruschka aber mehr als nur Rechtsnormen des positiven Rechts. Sie umfasst auch „die Sache Recht“73 und „das Prinzip Recht“74. Auf beides – Sache und Prinzip Recht – müssen sich die von Brandom beschriebenen Anerkennungsstrukturen also beziehen, damit Rechts-Verstehen als Grundvoraussetzung jeder Anerkennung möglich wird. So lässt sich auch mit Hruschkas hermeneutischen Überlegungen begründen, was ich bereits an anderer Stelle75 für die Gerechtigkeit als Tugend gezeigt habe: Brandoms pragmatische Rechtstheorie muss ergänzt werden, damit die Anerkennung in der Praxis des Rechts gelingen kann. Das gilt nicht nur für die Gerechtigkeit als Tugend der Akteure des Rechts,76 sondern auch für die Sache Recht und das Prinzip Recht im Sinne Hruschkas. Die Akteure des Rechts müssen in ihren Rechtsauslegungen daher auch Verantwortung und Autorität für die vorpositiven Strukturen des Rechts und die Idee der Gerechtigkeit übernehmen. Nur dann zeigt 68  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), 180 f; Brandom, A Hegelian Model (Fn. 58), S. 32 f. 69  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), 169 ff.; Brandom, A Hegelian Model (Fn. 58), S. 28 ff. 70 Etwa Brandom, Inference, Expression, and Induction, Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 54, (1988), S. 257 – 285, 280; s. auch Dworkin, Law’s Empire (Fn. 59), S. 228 ff. 71  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), 180 f.; Brandom, A Hegelian Model (Fn. 58), S. 32 f. 72  Hruschka (Fn. 1), S. 47. 73  Dazu oben I. und II.3. 74  Dazu oben II.3. 75  Stefan Arnold, Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie (Fn. 50), S. 18 – 21 sowie Stefan Arnold, Legitimate Expectations (Fn. 50), S. 275 – 278. 76  Dazu ausführlich Stefan Arnold, Legitimate Expectations (Fn. 50), S. 275 – 278.

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sich in der Praxis des rechtlichen Diskurses der Geltungsanspruch von Rechtsnormen. IV. Zur Rhetorik der Rechtsgeltung 1. Verstehen und Begründen Hruschkas Geltungsbegriff 77 ist darauf angewiesen, dass Rechtstexte in der rechtlichen Praxis verstanden werden können, was die „Übereinstimmung zwischen (zwei oder mehreren) Personen“78 als Ziel jedes Verstehens voraussetzt. Diese Übereinstimmung kann nur innerhalb der soeben beschriebenen Anerkennungsstrukturen79 erfolgen. Die Akteure des Rechts müssen dabei die jeweiligen Interpretationsvorschläge der anderen ernst nehmen, sie als potenziell gültige Lösungen von Konfliktsituationen ansehen. Das wiederum hängt entscheidend davon ab, welche Begründungen die Akteure des Rechts für ihre jeweiligen Interpretationsvorschläge geben.80 Durch ihre Begründungen können die Akteure des Rechts Einverständnis mit ihren Interpretationsvorschlägen erreichen und sie als gültige Lösungen von Konfliktsituationen anerkennungsfähig machen, auch wenn sie keinen Anspruch auf „Letztverbindlichkeit“ erheben können.81 So spielen die Akteure des Rechts ein von Begründungen geprägtes normatives Spiel, das Brandom als „game of giving and asking for reasons“ bezeichnet.82 2. Rhetorik als Kunst, Einverständnis zu erzeugen Ein ganz entscheidender Faktor für das Verstehen von Rechtstexten und damit auch die Geltung des Rechts sind also die Begründungen, die Argumente und Rechtfertigungen, die für die jeweiligen Instanziierungen von Rechtstexten, der Sache Recht und dem Prinzip Recht vorgebracht werden. Je stärker, je überzeugender diese vorgebrachten Begründungen, Argumente und Rechtfertigungen sind, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im fortschreitenden Diskurs auf Einverständnis und damit Anerkennung stoßen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Rhetorik – verstanden als Kunst, Einverständnis in etwas zu erzeugen83 – an der Herstellung von Rechtsgeltung beteiligt   S. oben, II.3.   Hruschka (Fn. 1), S. 47. 79  S. oben, III. 80  Brandom, Some Pragmatist Themes (Fn. 58), S. 180. 81  Robert B. Brandom, Making It Explicit (Fn. 58), S. 179 ff. 82  Robert B. Brandom, Making It Explicit (Fn. 58), S. 141 ff. Näher dazu M. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 148 ff.; R. Christensen / M. Sokolowski, Neopragmatismus: Brandom, in: S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2006, S. 239, 244 ff. 77 78

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ist. Beim Verstehen von Rechtstexten geht es immer auch darum, dass eine „Übereinstimmung in etwas“ erzeugt wird.84 Zugleich kann Verstehen – wie Hruschka betont85 – nie als nur auf eine Person isoliertes „rein subjektives“ Verstehen verstanden werden, sondern nur als Verstehen zwischen Personen. Mindestens eine andere Person muss einen Verstehensentwurf nachvollziehen können. Jede Rechtsinterpretation richtet sich an andere Personen mit dem Ziel, dass sie mit dieser Rechtsinterpretation übereinstimmen. Die Rhetorizität juristischer Diskurse – etwa im Streit um die richtige Auslegung einer Norm des StGB – ist daher keineswegs zufällig oder bloßes Beiwerk. Sie ergibt sich auch nicht bloß in dem allgemeinen Sinn, dass im Sinne des rhetorical turn keine sprachliche Äußerung ohne Rhetorik denkbar ist, sondern vielmehr jedem Sprechakt eine ihm eigene Rhetorizität anhaftet.86 Rhetorik erfüllt vielmehr eine wichtige Funktion für den rechtlichen Diskurs als normative Praxis: Sie erleichtert es, in der intersubjektiven Debatte über das Recht und über Rechtstexte Einverständnis zu erreichen. So trägt sie dazu bei, dass die intersubjektive Kommunikation über das Recht gelingen kann. Auch die Überzeugungskraft der Begründungen im juristischen Diskurs hängt von ihrer rhetorischen Verfasstheit ab. 3. Der positivistische Gebrauch des Geltungsbegriffs als rhetorische Verblendung? Die Rhetorik hat als hinterlistige Kunst der Verblendung in Kants Kritik der Urteilskraft eine berühmte Kritik erfahren: „Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig.“87 Hruschka, der für das Verständnis Kants auch in Zusammenarbeit mit seiner Frau B. Sharon Byrd Großes geleistet hat,88 scheint der Rhetorik ebenfalls kritisch gegenüberzustehen. Im Verlauf seiner Positivismuskritik äußert Hruschka   Näher dazu W. Gast, Juristische Rhetorik, Heidelberg: C.F. Müller, 5. Aufl. 2015, S. 16 ff.   Vgl. erneut: Hruschka (Fn. 1), S. 47. 85 Vgl. Hruschka (Fn. 1), S. 49 f. 86 Vgl. nur Martina Wagner-Egelhaaf, Poststrukturalismus, in: Rüdiger Zymner (Hrsg.), Handbuch Literarische Rhetorik, Berlin / Boston: De Gruyter, 2015, S. 333 – 356. 87  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders./Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werke in zehn Bänden, Bd. 8, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1983, § 53. 88  S. nur Joachim Hruschka, Die Notwehr im Zusammenhang von Kants Rechtslehre, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 112 (2000), S. 285 – 300; Joachim Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, ARSP 88 (2002), S. 463 – 480; B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka, The Natural Law Duty to Recognize Private Property Ownership. Kant’s Theory of Property in his Doctrine of Right, University of Toronto Law Jorunal 56 (2006), S. 217 – 282; B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka, Kant’s Doctrine of Right. A Commentary, Cambridge: 83 84

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den Vorwurf rhetorischer Verblendung im Sinne der Rhetorikkritik Kants. Der Vorwurf betrifft die Verwendung des Wortes „Geltung“ unter Eliminierung seiner Wertungsbezogenheit.89 „Freilich gibt es durchaus eine Erklärung für diesen Mangel an sprachlicher Folgerichtigkeit. Die Verwendung des Wortes „Geltung“ statt anderer näher liegender Termini läßt sich ohne weiteres als ein mehr oder weniger bewußter rhetorischer Kunstgriff deuten, der den „faktisch“ oder „juristisch geltenden“ Rechtssätzen und Rechtssystemen eine Weihe verleihen soll, die ihnen kraft der ausdrücklichen Definitionen von „Geltung“ gar nicht zukommt (…) Der unterschwellige Gedanke von der Werthaftigkeit eines Rechtssatzes oder Rechtssystems, dem auf solche Weise „Geltung“ zugesprochen wird, läßt sich eben nicht ausschalten, wenn die damit verbundene Zweideutigkeit nicht sogar – aus welchen Gründen immer – auch beabsichtigt ist.“90 Wenn Hruschka hier von einem rhetorischen Kunstgriff spricht, so hat er ganz im Sinne der Rhetorikkritik Kants einen hinterlistigen Einsatz rhetorischer Mittel zur Verdeckung der eigentlichen Absichten im Blick. Hruschka hat also nicht die „gute“ Rhetorik (bei Kant: Beredtheit und Wohlredenheit) im Blick, die für gelingende Kommunikation über Rechtstexte hilfreich sein kann. Ihm geht es um die „schlechte“ Rhetorik (bei Kant: Rednerkunst / ars oratoria), die den Leser täuscht: Die Leserin, so der Vorwurf Hruschkas, soll durch rhetorische Verblendung zum Glauben verleitet werden, sie habe das vom Autor intendierte Werturteil autonom getroffen. In Wahrheit hat sie der Autor zu diesem Werturteil gebracht, indem er sich der unvermeidbaren, zugleich aber selten bewussten Vorverständnisse91 der Leserin bedient. 4. Einige Differenzierungen zur Rhetorik der Rechtsgeltung Trifft Hruschkas Vorwurf rhetorischer Verblendung zu? Die Antwort hängt von den individuellen Absichten der jeweiligen Autoren ab, von denen es viele geben mag, über die wir aber wenig wissen. Bei Kelsen scheint mir der Vorwurf fern zu liegen: Kelsens reine Rechtslehre „will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien“92, so dass es Kelsen ernst meint, wenn er den Begriff der Geltung von jeglicher Wertung als „gut“, „schlecht“, „gerecht“ oder „ungerecht“ Cambridge University Press, 2010; Joachim Hruschka, Kant und der Rechtsstaat und andere Essays zu Kants Rechtslehre und Ethik, Freiburg / München: Alber, 2015. 89  Bezugspunkt Hruschkas sind die „juristische“ und die „soziologisch-historische“ Geltungslehren, wie sie Gustav Radbruch beschreibt, vgl. Hruschka (Fn. 1), S. 62; Radbruchs Beschreibung dieser Geltungslehren findet sich in Dreier/ Paulson (Hrsg.), Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 19), S. 78 ff. 90  Hruschka (Fn. 1), S. 64 (Fn. 15). 91  Dazu, dass Vorverständnisse für das Verstehen unverzichtbar sind, vgl. Hruschka (Fn. 1), S. 46 f. 92  Kelsen, oben (Fn. 21), S. 1.

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befreit: Solche Wertungen gehören für Kelsen nicht dem Recht an, sondern anderen Sphären wie Politik und Moral.93 Dass Kelsen selbst Unrechts-Ordnungen wie etwa das nationalsozialistische Unrechts-System trotz ihrer rechtsimmanenten „Geltung“ niemals mit einem positiven Werturteil versehen hätte, kann mit Blick auf seinen Lebenslauf und seine politischen Überzeugungen94 kaum zweifelhaft sein. Für den Positivismus Gustav Radbruchs vor dem zweiten Weltkrieg trifft dagegen zu, dass er dem geltenden Recht einen positiven Wert auch dann zuweist, wenn es ungerecht ist, nämlich den Wert der Rechtssicherheit: „Aber wie ungerecht immer das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten möge – es hat sich gezeigt, daß es einen Zweck stets, schon durch sein Dasein, erfüllt, den der Rechtssicherheit. (…) Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt“.95 Diese Wertbezogenheit der Rechtsgeltung bringt Radbruch allerdings ganz unmissverständlich und explizit zum Ausdruck. Er verbirgt sie also nicht etwa bloß hinter der Verwendung des Wortes „Geltung“. Vorwerfen könnte man Radbruch allenfalls, die inhaltsneutrale Werthaltigkeit positiven Rechts rhetorisch unterstützend durch die Verwendung des Wortes „Geltung“ abgesichert zu haben. Aber liegt darin wirklich „schlechte“ Rhetorik im Sinne manipulierender Verblendung? Auch die Rhetorik des Geltungsbegriffs hat eine „positive“ Seite: sie zeigt sich als Kunst, das jeweilige Verständnis der Rechtsgeltung einsichtig und nachvollziehbar darzulegen, um Einverständnis zu erreichen. Das lässt sich, freilich nur in knapper Andeutung, anhand der „Radbruch’schen Formel“ illustrieren, die Radbruchs Geltungsbegriff nach 1945 kennzeichnet. Gustav Radbruch hielt zwar auch nach den Erfahrungen des Dritten Reichs im Ausgangspunkt daran fest, das Recht grundsätzlich gilt, wenn und weil es ordnungsgemäß gesetzt und mit höherrangigem Recht vereinbar ist, erkannte aber Ausnahmen an, von denen die erste Berühmtheit erlangt hat: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“96 93  Deutlich dazu Kelsen, oben (Fn. 21), S. 357 – 362; vgl. auch H.L.A. Hart, The Concept of Law, S.  200 – 212. 94  Zu Kelsens Lebenslauf und seinen politischen Einstellungen etwa Horst Dreier, Rezep­ tion und Rolle der Reinen Rechtslehre, Wien: Manz, 2001. 95  Dreier/ Paulson (Hrsg.), Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 19), S. 84 f. 96  Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (zuerst erschienen in SJZ 1946, S. 105 – 108), abgedruckt in: Dreier/ Paulson (Hrsg.), Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 19), S. 211, 216; ähnlich etwa Alexy, (Fn. 48).

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Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof haben diese Formel trotz ihrer Vagheit wiederholt in grundlegenden Entscheidungen herangezogen.97 Die Richterinnen und Richter scheinen also mit Radbruchs Umschreibung der Rechtsgeltung einverstanden gewesen zu sein, seiner Formulierung scheint hohe Überzeugungskraft innezuwohnen. Das wiederum dürfte auch ihrer rhetorischen Verfasstheit geschuldet sein: Die Radbruch’sche Formel macht plausibel, dass die Geltung positiven Rechts begrenzt werden muss. Dazu trägt die Metapher von dem der Gerechtigkeit weichenden Recht ebenso bei wie das deutliche, aber nicht übertriebene Pathos der Formulierung („so unerträgliches Maß“). Das Wort „Gerechtigkeit“ wird zudem dreimal verwendet, während das Wort „Recht“ nur zweimal auftaucht. So bringt die Radbruch’sche Formel auch rhetorisch den Vorrang der Gerechtigkeit vor dem ungerechten Recht zum Ausdruck. V. Schlussbemerkung Joachim Hruschkas inhaltsreicher Begriff der Rechtsgeltung lässt sich hermeneutisch plausibel begründen und kann einen Beitrag zur Stabilisierung des Rechts als Friedensordnung leisten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Rationalität des Rechts und seine Geltung in der Praxis des juristischen Diskurses entstehen: Die Akteure des Rechts sichern durch ihre Handlungen und Sprechakte in einem immer weiter voranschreitenden Prozess die Rationalität und Geltung des Rechts. Diese normative Praxis ist auf Anerkennungsstrukturen angewiesen, die Brandom in Fortentwicklung von Dworkins chain novel beschrieben hat. Anerkennung ist eine soziale und zugleich normative Einstellung. Ihr Gegenstand ist auch das Recht. Wendet man Brandoms Konzeption von Anerkennung auf Hruschkas Rechtsbegriff an, so muss sie ergänzt werden: Die Anerkennungsstrukturen sind nicht lediglich auf die Rechtsnormen des positiven Rechts bezogen, sondern auch „die Sache Recht“ und „das Prinzip Recht“. Rechtsgeltung im Sinne Hruschkas setzt also voraus, dass die Akteure des Rechts auch Verantwortung und Autorität für die vorpositiven Strukturen des Rechts und die Gerechtigkeit als Rechtsidee übernehmen. Begründungen sind für die vielschichtigen Anerkennungsvorgänge in der Praxis des Rechts von herausragender Bedeutung. Jeder Akteur des Rechts möchte mit seinen Rechtsinterpretationen Einverständnis bei anderen Akteuren des Rechts erzielen. Das führt unvermeidbar zur Rhetorik als Kunst, Einverständnis zu erzielen. Die Rhetorik ist auch für die Geltung des Rechts entscheidend. Rhetorik hat freilich (mindestens) zwei Seiten – sie kann nicht nur Begründungen stark machen, sondern auch zur Verblendung missbraucht werden. Schon um diese beiden Seiten auseinanderzuhalten, versprechen rhetorische Analysen im Kontext der Rechtsgeltung reichen Ertrag.

97  BVerfGE 34, 269 („Soraya“); BVerfGE 95, 96 („Mauerschützen“); BGHZ 3, 94 („Katastrophenbefehl“ – Schießbefehl gegen Deserteure am Ende des 2. Weltkriegs).

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Summary This article argues that Geltung (validity) emerges within the normative discursive practice of the players of the law – a practice that is shaped by structures of mutual recognition and full of rhetorical elements. To establish this thesis, the article draws on Joachim Hruschka’s contentful conception of Geltung. Hruschka rightly emphasises that the terms Geltung and gelten (validity and being valid) bear a normative connotation and point to the recognition of a person or thing as valuable. In contrast to positivist conceptions of Geltung (as is demonstrated for Hans Kelsen’s Reine Rechtslehre), Hruschka’s conception of Geltung reflects that normative connotation, since in his view Geltung necessarily extends to the idea of justice. Such normative conceptions of Geltung, it is argued, are potentially superior to dematerialized conceptions of Geltung. Yet they depend on the rationality and determinacy of law and the idea of justice. In this vein, the article suggests a supplement to Hruschka’s conception of Geltung: Robert Brandom’s theory of mutual recognition as a normative social structure can explain how the players of the law shape its rationality and normativity. The game of giving and asking for reasons plays a crucial role for mutual recognition to succeed. Thus, rhetoric is indispensable for the emergence of Geltung in the normative practice of the law.

Die normativ verweiste Gemeinschaft Überlegungen zum Schicksal der Ethik im freiheitlichen Rechtsstaat Christian Becker e

I. Einleitung Das positivistische Recht des modernen Verfassungsstaates trifft seine Entscheidungen ausschließlich nach rechtlichen, nicht nach ethisch-moralischen Kriterien.1 Das ist Ausdruck einer nachmetaphysischen Begründung rechtlicher Herrschaft, die ohne eine höhere, eine absolut letzte (religiöse, naturrechtliche oder moralische) Legitimation auskommt.2 Ob ein Verhalten erlaubt oder verboten ist, richtet sich allein nach juridischen Maßstäben. Für darüber hinausgehende ethisch-moralische Verpflichtungen gibt es im freiheitlichen Staat keinen Diskurs – jedenfalls keinen, dem sich Politik, Recht und Bürger nicht jederzeit entziehen könnten. Das moderne Recht scheint ohne Anfang, ohne Ursprung, als würde es sich selbst schöpfen und sich zugleich in sich selbst erschöpfen; wie der Dr. Bucephalus in Franz Kafkas kurzer Erzählung3 braucht das Recht niemanden mehr, der ihm den Weg weist.4 Nun ist die Trennung von Recht und Moral ohne Frage in vielerlei Hinsicht eine der bedeutendsten Errungenschaften des modernen Verfassungsstaates.5 Und doch 1  Vgl. zu den unterschiedlichen Spielarten des Rechtspositivismus Walter Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus, Baden-Baden, Nomos, 2016; zum Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus (mit einem luzide begründeten Plädoyer für den Letzteren) Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg / München, Karl Alber 4. Aufl. 2005, S. 13 – 136. 2  Theoriegeschichtlich lässt sich das Ende objektivistisch-metaphysischer Herrschaftskonstrukte mit dem Aufkommen des Kontraktualismus verbinden, siehe hierzu Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt, WBG, 1994, S. 17. 3  Franz Kafka, Der neue Advokat, in: Roland Reuß / Peter Staengle (Hrsg.), Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke, Typoskripte, Oxforder Oktavhefte 1 & 2. Faksimile-Edition, Frankfurt a.M., Stroemfeld, 2006, Oktavheft 2, S. 107 – 115. 4  Für eine rechtstheoretische Rekonstruktion des nachmetaphysischen Rechts anhand von Kafkas Werk siehe Christian Becker / Amadou Korbinian Sow, Eppur si muove. Inkommensurabilitätsstrukturen im Recht und im Werk von Franz Kafka, in Günther Ortmann / Marianne Schuller (Hrsg.), Kafka Organisation, Recht und Schrift, Weilerswist, Velbrück, 2019, S. 235 –  259. 5  Das lässt sich exemplarisch etwa an der Geschichte des Sexualstrafrechts zeigen, die jedenfalls im Grundsatz eine eindeutige Entwicklung weg vom strafrechtlichen Schutz der gesellschaftlichen Sexualmoral und hin zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung abbildet,

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haben Regressionstendenzen in der jüngeren Vergangenheit die Frage aufkommen lassen, ob es so etwas wie ein Motivationsdefizit im Zentrum der freiheitlichen Ordnung gibt,6 das sie zur leichten Beute macht für Ideologien, deren motivationale Kraft ebenso groß zu sein scheint wie ihre Missachtung für die Prinzipien des modernen Rechts- und Verfassungsdenkens7. Und in der Tat könnte die konsequente Verabschiedung der Idee eines absoluten und nicht relativierbaren Guten dazu geführt haben, dass der freiheitliche Staat normativ verwaist, also normativ entleert wird, weil er ausschließlich das Recht als verbindlichen Handlungsmaßstab vorgibt, dessen Verbindlichkeit aber nicht auf Werte oder eine innere Motivation des Rechtsunterworfenen gegründet ist, sondern bestenfalls auf eine Kombination aus rationaler Logik und Zwangsbefugnis.8 Die Anerkennung einer über das Recht hinausgehenden ethischen Normativität kann der freiheitliche Staat dagegen nicht einfordern. Doch wäre es voreilig, würde aus dieser selbst gewählten Unfähigkeit zur Durchsetzung ethischer Vorstellungen darauf geschlossen, dass der freiheitliche Rechtsstaat eine ethisch-moralisch indifferente Institution, dass er also tatsächlich normativ verwaist wäre. Ich werde hier stattdessen die These vertreten, dass es eine ursprüngliche Normativität, eine Ethik des freiheitlichen Staates gibt, die nicht durch eine rein juridische Normativität ersetzt, sondern gewissermaßen in das Recht hineinverwiesen wird. Weil sich das Recht dann aber unmittelbar nach diesem sozusagen ethisch induzierten Geburtsakt von der Ethik trennen muss, und weil zudem Politik und Gesellschaft (bzw. der Einzelne) ebenfalls keiner Ethik verpflichtet sind, kommt es zu einem permanenten Aufschieben, einer ständigen Weiterverweisung der Idee des Guten. Ethische Normativität ist im Recht des freiheitlichen Staates (sowie in seinen anderen Institutionen) also vorhanden, sie ist präsent, aber diese Präsenz ist eine Form der Abwesenheit, des permanenten Aufund Verschiebens. Der freiheitliche Staat ist ethisch verwaist durch permanente Verweisung, er ist normativ verweist,9 seine Institutionen und Funktionsmechavgl. hierzu im Überblick Joachim Renzikowski, in: Wolfgang Joecks / Klaus Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 3, München, C.H. Beck, 3. Aufl. 2017, Vor § 174 Rn. 2 – 6. Bei der Einordnung dieser Entwicklung als „Errungenschaft“ ist natürlich ein bestimmter Begriff dessen, was als eine solche Errungenschaft gelten kann, kurzerhand unterstellt. 6  Vgl. hierzu Simon Critchley, Infinitely Demanding Ethics of Commitment, Politics of Resistance, London New York, Verso, 2012, S. 6 – 8. 7  Vgl. zuletzt die Analyse solcher Entwicklungen bei Cornelia Koppetsch, Die Gesellschaft des Zorns Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld, Transcript, 2019. 8  Die Trennung von Recht und Moral und die begriffliche Verknüpfung des Rechts mit der Zwangsbefugnis ist im heutigen Diskurs untrennbar mit den Lehren Immanuel Kants verbunden, auch wenn bei ihm nach Auffassung zumindest eines ausgewiesenen Kant-Experten das Verhältnis von Rechts- und Moralphilosophie letztlich „zwielichtig“ bleibt, siehe für diese Einschätzung Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Sozialphilosophie, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2. Aufl. 2016, S. 115. 9  Das ist erkennbar eine Referenz auf das Konzept der différance bei Derrida, siehe Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien, Passagen, 1988, S. 31 – 56; eine instruktive Dar-

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nismen beruhen auf einer ethischen Prämisse, die in keiner dieser Institutionen wirksam adressiert werden kann. In einer Abwandlung des sog. „BöckenfördeDik­t ums“: Der freiheitliche Staat lebt von und gründet sich auf Voraussetzungen, die er und denen er sich selbst immer wieder entziehen muss. Damit ist das Problem umkreist, dem ich mich im Folgenden zu nähern versuche. Meine Überlegungen gliedern sich dabei in vier Schritte. Zunächst skizziere ich eine gewissermaßen starke ethische Prämisse, die auf der Idee einer zuneigenden Sorge um den Anderen aufbaut.10 Im zweiten Schritt werde ich zeigen, wie eine solche Ethik durch das Recht des freiheitlichen Staates gleichsam vervollständigt wird, in welcher Weise also Ethik und Recht zusammenhängen. Obwohl demnach das moderne Recht seiner Logik nach nicht ethisch indifferent ist, gebiert es – wie ich im dritten Schritt darstellen werde – aus derselben Logik heraus die Welt des institutionellen Rechts, das nach dem Akt seiner Selbstermächtigung von seinem ethischen Ursprung getrennt ist und getrennt bleiben muss. Doch ist der freiheitliche Staat in seiner geschichtlichen Wirklichkeit nicht dabei stehen geblieben, die seiner Idee zu Grunde liegende Ethik durch permanenten Verweis in einer Form der abwesenden, aber zumindest doch latenten Präsenz zu halten. Im vierten Teil werde ich vielmehr eine ursprüngliche Verdrängung des Anderen andeuten, die mit dem Aufstieg eines vor allem ökonomisch konzipierten Individuums einhergeht und die damit korrespondiert, dass freiheitlich verfasste Staaten seit jeher außerhalb ihrer Grenzen schreckliches Leid über Andere gebracht haben, ohne darin eine grundsätzliche Entwertung ihrer Prinzipien zu erkennen. Am Ende des Beitrags bleibt die Hoffnung, dass die (Wieder-)Entdeckung des ethischen Ursprungs des freiheitlichen Staates geeignet sein könnte, seine motivationale Kraft zu erhöhen. II. Zugewandte Sorge um den Anderen: Das ethische Fundament des freiheitlichen Staates Meine Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei einer Vorstellung des Ethischen, die in einem gewissen Sinne als phänomenologisch bezeichnet werden kann.11 Das Ethische ist danach etwas, das uns widerfährt, uns heimsucht, ohne stellung von Derridas Philosophie der différance, in der „kein Subjekt, keine Substanz, keine Präsenz […] am Werk“ ist und in der die Sprache „sich immer schon selbst in uneinholbaren Verweisen überbietet“, findet sich bei Klaus Birnstiel, Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus, Paderborn, Wilhelm Fink, 2016, S. 116 – 144 (zitierte Formulierungen auf S. 136 und S. 140). 10  Die zentrale Stellung des Anderen für die Ethik übernehme ich (grundsätzlich, nicht in allen Einzelheiten) vor allem von Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit Versuch über die Exteriorität, München, Karl Alber, 5. Aufl. 2014. 11  Und zwar im Sinne einer phänomenologischen Ethik vom Anderen her, siehe dazu Bernhard Waldenfels, Einführung: Ethik vom Anderen her, in: Bernhard Waldenfels / Iris Därmann

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dass wir es vollständig erklären oder verstehen könnten.12 Die Grundlage der ethischen Beziehung ist die zugewandte Sorge um den Anderen, die dem Selbst in einer Konfrontation mit dem (sei es auch nur vorgestellten) Leid des Anderen widerfährt.13 Die unwillkürlich empfundene Sorge davor, dass einem geliebten Menschen Leid widerfahren könnte, führt uns unsere ethische Zuneigung gegenüber dem Anderen vor Augen; so erfahren wir, dass unser eigenes Wohl mit dem Wohl des Anderen verknüpft ist. Idealtypisch lässt sich sicher die Mutter-Kind-Beziehung als Beispiel einer solchen emotional zugewandten Sorge anführen,14 wobei damit nicht gesagt werden soll, dass bestimmte Arten von Beziehungen – oder Beziehungen innerhalb bestimmter (z. B. familiärer) Strukturen  – privilegierte Beispiele für diese Art ethischer Beziehung sind. Es geht allein um die grundsätzliche Erfahrung, dass wir durch reales oder vorgestelltes Leid eines Anderen (unserer Kinder, Eltern, Partner, Freunde usw., aber auch eines Fremden) ethisch angesprochen werden und im buchstäblichen Angesicht solchen Leids den emo­ tionalen Wunsch verspüren, dieses Leid zu lindern. Ein Verhalten ließe sich darauf aufbauend ethisch nennen, wenn es von einer solchen zugewandten Sorge um den Anderen bestimmt ist.15 Simon Critchley zeigt in einer Zusammenschau von Levinas und Lacan, wie der Andere als das Ding, der Nebenmensch16 erfasst werden kann, als etwas mir (Hrsg.), Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, Paderborn, Wilhelm Fink, 1998, S. 7 – 11. 12  Luzide hierzu Simon Critchley (Fn.  6) S.  14 – 26; Bernhard Waldenfels, Erfahrung, die zur Sprache drängt, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2019, S. 29 – 39, der das Fremde in der Phänomenologie und das Unbewusste in der Psychoanalyse als zwei Kategorien ausweist, die sich der für die Wissenschaften des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts prägenden Dichotomie von Verstehen und Erklären entziehen; auch bei Levinas ist die ethische Beziehung nicht vollständig intelligibel, vgl. hierzu Simon Critchley, The Problem with Levinas, Oxford, Oxford University Press, 2015, S. 23; als Teil einer ereignishaften Begegnung wird das Ethische dargestellt bei Alain Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien, Turia + Kant, 2003, S. 61 – 70; vgl. zum erlebnisartigen Charakter des Ethischen schließlich auch Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1989, S. 9 – 19. 13 Zur Sorge um „die Witwe, den Waisen und den Fremden“ siehe Emmanuel Lévinas (Fn. 10) S. 103 – 107. 14  Zur Bedeutung des Mutter-Kind-Verhältnisses bei der Konstitution von Sozialität siehe Iris Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München, Wilhelm Fink, 2005, S. 218 – 225; daran anknüpfend Bernhard Waldenfels (Fn. 12) S. 126; siehe auch Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 10. Aufl. 2018, S. 34, der im Anschluss an Hegel betont, dass sich die Subjekte im Verhältnis von Eltern und Kindern reziprok als liebende, emotional bedürftige Wesen anerkennen, wobei die Erziehung dann jedoch die Aufhebung dieser Gemeinsamkeit zum Ziel habe. 15  Die ethische Erfahrung ist nicht intentional, sie widerfährt dem Subjekt, das dann freilich aufgrund dieser Erfahrungen zu intentionalem Verhalten motiviert werden kann, so Bernhard Waldenfels (Fn. 12) S. 50 – 51. 16  Die Primärquelle zum Begriff des Nebenmenschen findet sich in Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a.M., Fischer, 1987, S. 426.

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gegenüber in ganz grundsätzlicher Hinsicht Fremdes und Äußeres – und gerade durch diese radikale Fremdheit wird der Andere die Bedingung für die Konstitution des ethischen Subjekts, das sich erst und nur in seiner Beziehung zu diesem absolut Anderen findet.17 Diese untrennbare Verknüpfung des Anderen mit dem Selbst durchbricht die Dichotomie von Egoismus und Altruismus, weil das Selbst und sein Wohl immer schon mit dem Wohl eines Anderen gekoppelt sind, über den das Selbst nicht verfügt.18 In der Beziehung zum Anderen wird der Kreislauf des Narzissmus durchbrochen, weil die Zuneigung gegenüber dem Anderen nicht lediglich auf dem Umdirigieren eines ursprünglich rein selbstbezogenen Wunsches beruht.19 Erst in der vorbehaltlosen Anerkennung der absoluten Andersheit des Anderen kann es uns in einer Art Spiegelung20 gelingen, uns selbst als Wesen zu betrachten, deren Anspruch der vorbehaltlosen Anerkennung würdig ist.21 Bei Levinas heißt es dazu: „Das absolut andere ist der Andere. Er bildet keine Mehrzahl mit mir. Die Gemeinsamkeit, in der ich ‚Du‘ oder ‚Wir‘ sage, ist nicht ein Plural von ‚Ich‘. … Über ihn [den Anderen / Fremden] vermag mein Vermögen nichts. Eine wesentliche Seite an ihm entkommt meinem Zugriff, selbst wenn ich über ihn verfüge. Er ist nicht ganz an meinem Ort. Aber ich, der ich mit dem Fremden keinen gemeinsamen Begriff habe, ich bin, wie er, ohne genus. Wir sind der Selbe und der Andere.“22 17  Simon Critchley (Fn. 6) S. 56 – 69; vgl. zu das Ding als dem absolut Anderen des Subjekts Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII, Weinheim Berlin, Quadriga, 1996, S. 66 – 67; zur ursprünglichen Fremdheit siehe Bernhard Waldenfels (Fn. 12) S. 62 – 111; eindringlich für den Charakter des Unbewussten als ursprünglich fremd aus psychoanalytischer Sicht Jean Laplanche, Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, Frankfurt a.M., Fischer, 1996, S. 7 – 44. 18 In diesem Sinne verstehe ich auch Bernhard Waldenfels (Fn. 12) S. 95  – 108; luzide auch – in der Auseinandersetzung mit Kant – Ino Augsberg, „Das moralische Gefühl in mir“, Zu Kants Konzeption menschlicher Freiheit und Würde als Auto-Heteronomie, JZ 2013, S. 533 – 539, hier S. 537: „Der moralische Akt verweist auf die Nichtidentität des Selbst mit sich selbst“. 19  Diesen Gedanken greife ich auf von Judith Butler, Gefährdetes Leben Politische Essays, Frankfurt a.M., 5. Aufl. 2017, S. 164; Jean Laplanche zeigt, dass die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen nicht durch die Ökonomie des Narzissmus zu erklären ist, weshalb uns dieses Phänomen womöglich einen Fingerzeig darauf liefert, dass mit dem Narzissmus das letzte Wort nicht gesprochen ist, siehe Jean Laplanche (Fn. 17) S. 128 – 130. 20  Diese Begrifflichkeit findet sich (mit Bezugnahme auf Lacan) bei Alain Badiou (Fn. 12) S. 36, der freilich darauf hinweist, dass die Psychoanalyse mit diesem Phänomen auch Narzissmus und Aggressivität verknüpft, was – wie Badiou ebenfalls feststellt – „ganz weit von dem entfernt [ist], was uns Levinas überliefern will“ (ebd.). 21  Die Idee der Reziprozität steht im Zentrum der von Axel Honneth entwickelten Theorie der Anerkennung, siehe Axel Honneth (Fn. 14) S. 63 – 74 sowie S. 277 – 278 und passim, wobei Honneth drei unterschiedliche Stufen bzw. Formen der Anerkennung unterscheidet (Liebe, Recht, soziale Wertschätzung); zum Verhältnis der Anerkennungstheorie zu Honneths späterem Werk siehe Anita Horn, Anerkennung und Freiheit Subjekttheoretische Grundlagen einer Theorie demokratischer Sittlichkeit, ARSP 2018, S. 16 – 40. 22  Emmanuel Lévinas (Fn. 10) S. 44.

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Wenn aber die Konstitution des Subjekts durch den Anspruch eines absolut Anderen induziert wird, verliert das ethische Subjekt seine Autonomie.23 Der Andere kann durch das Subjekt niemals vollständig vereinnahmt, niemals vollständig begriffen werden.24 Die Sorge um ihn wird empfunden, sie steht nicht zu meiner Disposition.25 Dieses absolute Anders-Sein des Anderen, die Tatsache, dass er mir gegenüber äußerlich ist und jenseits meines Vermögens steht, ist sogar die Bedingung der Möglichkeit meiner ethischen Zuneigung, speist sich meine Sorge um den Anderen doch nicht zuletzt daraus, dass ich unter Umständen nichts vermag, um ihm zu helfen, um sein Wohlergehen zu sichern.26 Am Ursprung ethischer Subjektivität steht danach nicht das Bedürfnis nach der Anerkennung des Subjekts als Subjekt, sondern die Notwendigkeit der Existenz eines absolut Anderen.27 Letztlich ist diese Ethik getragen von einer hoffnungsvollen und optimistischen Anthropologie, sie ließe sich zum Ausgangspunkt einer insbesondere gegenüber Hobbes28 grundsätzlich abweichenden Theorieszene machen.29 Wenn die ursprüngliche ethische Erfahrung in der Sorge um einen geliebten Anderen besteht, einer Sorge, die nicht rational gerechtfertigt, sondern emotional empfunden wird, dann können wir in ethischem Handeln den Einklang mit unserem emotionalen Begehren erreichen.30 Das mag höchst spekulativ oder gar eine apodiktische Behauptung sein, was aber für den Hobbes’schen Kampf Aller gegen Aller letztlich nicht weniger zutrifft. 31 Auch sollen hier nicht sämtliche Ambivalenzen, Konflikte   Eindringlich hierzu Simon Critchley (Fn. 6) S. 32 – 68.   Emmanuel Lévinas (Fn. 10) S. 35 – 45. 25  Zur wechselvollen Geschichte des Verhältnisses von Moralphilosophie und Emotionen siehe den Überblick bei Carla Bagnoli, Introduction, in: Carla Bagnoli (Hrsg.), Morality and the Emotions, Oxford, Oxford University Press, 2011, S. 1 – 36. 26  Der Gedanke ist angeregt durch Judith Butler (Fn. 19 ), S. 7 – 8, die dort freilich den Anderen auch als Quelle von Gefahren und nicht – wie hier – als von Gefahren bedroht betrachtet. 27  Man mag nun lange darüber spekulieren (sic!), ob Levinas damit die Hegelsche Dialektik durchbricht oder von ihr wieder eingefangen wird (in ihr gefangen bleibt), vgl. dazu knapp Simon Critchley (Fn. 12) S. 13 – 14. 28  Vgl. zum Naturzustand bei Hobbes die vorzügliche Darstellung bei Wolfgang Kersting (Fn. 2) S. 64 – 81. 29  Zum Begriff der Theorieszene siehe Iris Därmann, Theorieszenen. Transformationsanalysen zum bellizistisch-agonalen Imaginären bei Platon, Thomas Hobbes, Charles Darwin und Sigmund Freud, in: Alice Pechriggl / Anna Schober, Hegemonie und die Kraft der Bilder, Köln, Halem, 2013, S.  44 – 68. Därmann selbst entwickelt eine gegenüber den bellizistischen Varianten von Platon, Hobbes, Darwin und Freud alternative Theorieszene, in der menschliche Sozialität ihren Ursprung in der Gabe der Nahrung durch die Mutter an das Kind findet, vgl. Iris Därmann (Fn. 14) S. 218 – 225; siehe zu alldem auch Günther Ortmann / Marianne Schuller, Theoriefik­ tionen, Literarische Fiktionen, in: Günther Ortmann / Marianne Schuller (Fn. 4), S. 52 – 54. 30  Auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung des Begehrens in der Ethik weist (im Anschluss an Lacan) hin László Tengelyi, Gesetz und Begehren in der Ethik von Levinas, in: Bernhard Waldenfels / Iris Därmann (Fn. 11), S. 165 – 175, hier S. 171 – 172. 31  Die hier vorgelegte Sichtweise bietet zumindest Ansätze für einen Abgleich mit psychoanalytischen Befunden, vgl. etwa die ausf. Nachw. dazu, dass intersubjektive Liebeserfahrun23 24

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und Abgründe bestritten werden, die das menschliche Begehren und sein Verhältnis zu Ethik und Moral mit sich bringt. Aber es lässt sich doch eine Welt denken, in der wir im Verzicht auf Gewalt und in der Anerkennung unserer Zuneigung zum Anderen zu einem tragfähigen Selbstbild und zu einer tragfähigen Konzeption unserer Gemeinschaft gelangen. Ich denke, dass das Recht des freiheitlichen Staates seiner Idee nach ein Geburtshelfer einer solchen Welt sein kann, dass diese (hier freilich nur angedeutete) Theorieszene auf ein rechtliches Element angewiesen ist.32 Die Überlegungen, auf denen diese Einschätzung beruht, werde ich im folgenden Abschnitt darstellen. III. Die ethische Sorge um den Anderen und das Recht Während Recht nach der klassischen Formulierung bei Kant dazu dient, das Maß der Freiheit zu bestimmen, das jeder Bürger in seiner durch Willkür gestifteten Sphäre für sich in Anspruch nehmen kann,33 muss ein Recht, das sich auf eine Ethik der zugewandten Sorge um den Anderen gründet, den Primat der Verantwortung gegenüber der Freiheit34 berücksichtigen. Ein solches Recht muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die Freiheit des autonomen Subjekts nicht durch den Anspruch des Anderen begrenzt, sondern vielmehr erst gestiftet wird.35 Während sich also in der modernen politischen Philosophie die Legitimation rechtlicher Herrschaft aus der freien Entscheidung des sich selbst genügenden Individuums speist, das sich mit seinesgleichen zu einem Gesellschaftsvertrag zusammenfindet,36 ergibt sich eine grundsätzlich andere Ausgangslage, wenn die ethische Sorge um den Anderen der Freiheit vorausgeht, weil das freie Individuum erst im Antlitz des Anderen zu sich selbst als Selbst findet. gen die psychische Voraussetzung aller weiteren Entwicklungen bilden, bei Axel Honneth (Fn. 14) S. 172 – 173 m. Fn. 35; auch Sigmund Freud bezeichnete die Liebe (neben der Lebensnot) als „die große Erzieherin“, durch die der Mensch „dazu bewogen wird, auf die Gebote der Not zu achten und sich die Strafen für deren Übertretung zu ersparen“, Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band X, Frankfurt a.M., Fischer, 1991, S. 364 – 365; ferner zum Bedürfnis nach unbedingter Liebe als dem Ursprung aller Objektbeziehungen Bernhard Waldenfels (Fn. 12) S. 68. 32  Damit positioniere ich mich erneut gegen die Vorstellung, das moderne Recht sei ein strukturelles Hindernis für Sozialität, vgl. bereits Christian Becker / Amadou Korbinian Sow (Fn. 4) S. 249 – 259. Insofern gilt vielmehr: An den Inhalten sollt ihr es erkennen. 33  Im Wortlaut: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“, siehe Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadt, WBG, 2011, Bd. IV, S. 337. 34  Hierzu – in der Auseinandersetzung mit Levinas – Simon Critchley (Fn. 6) S. 57: „responsibility precedes freedeom“. 35  Emmanuel Lévinas (Fn. 10) S. 292 – 293. 36  Zur allgemeinen Struktur gesellschaftsvertraglicher Theorien siehe die luzide Darstellung bei Wolfgang Kersting (Fn. 2) S. 19 – 58.

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Freilich taucht dann zuallererst die Frage auf, wozu es überhaupt des Rechts bedarf in einer Theorieszene, in der sich die Menschen gleichsam von sich aus in zugewandter Sorge zueinander begegnen. Nach der hier zu Grunde gelegten Vorstellung ergibt sich die Notwendigkeit des Rechts insofern daraus, dass das Ethische in seiner Realisierung immer unvollständig bleiben muss. Der ethische Anspruch des Anderen ist seiner Natur nach unerfüllbar und überfordernd (eine Über-Forderung), er kennt weder Maß noch Reziprozität.37 Die Welt der ethischen Beziehungen ist damit in höchstem Maße fragil, das Selbst droht auf Dauer unter der Belastung zu zerbrechen, die seine Abhängigkeit von einem absolut unverfügbaren und zugleich grenzenlos fordernden Anderen bedeutet.38 Und selbst wenn wir womöglich in unserem engsten persönlichen Lebensbereich bereit sind, das Wagnis einer solchen strukturell überfordernden Beziehung einzugehen, durchkreuzt doch der Dritte die binäre Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen, indem er ebenfalls seinen Anspruch als Anderer geltend macht.39 In dieser Situation der Überforderung durch die ethische Über-Forderung des Anderen, die durch das Hinzukommen des Dritten noch multipliziert wird, muss das Recht dem in seiner Fragilität gefährdeten Subjekt zur Hilfe kommen. Es muss das Geflecht der Ansprüche, die vom Anderen und auch vom Dritten angemeldet werden, in eine lebenspraktisch zu bewältigende Sozialität überführen, in der ethische Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Anderen überhaupt erst möglich werden.40 Zwar muss das Recht an dieser Ordnung der Anspruchsverhältnisse zwischen dem Selbst, dem Anderen und dem Dritten scheitern, da diese sich als Über-Forderungen gegen geordnete Verhältnisse stemmen. Doch konstituiert sich das Recht in gewisser Weise gerade in diesem und durch dieses Scheitern,41 in einem fortlaufenden Bemühen darum, den Ansprüchen aller Anderen gerecht zu werden, obwohl schon die Anerkennung jedes einzelnen Anspruchs das Zugeständnis erfordert, diesem nicht gerecht werden zu können. Die einzige Möglichkeit, den Anspruch des Anderen wenn nicht zu erfüllen, so doch bedingungslos anzuerkennen, besteht demnach darin, es immer wieder zu versuchen und immer wieder zu scheitern.42 Hier zeigt sich ein wesentlicher Grund dafür, dass das Recht  Hierzu Simon Critchley (Fn. 6) S. 49 – 63.  Nach Simon Critchley (Fn. 6) S. 77 – 82 lässt sich die potenzielle Tragik der ethischen Überforderung durch Humor abwenden. 39  Zum komplizierten Verhältnis zwischen dem Anderen und dem Dritten (und damit auch zwischen Ethik und Politik) bei Levinas siehe Roberto Bernasconi, in: Bernhard Waldenfels / Iris Därmann (Fn. 11) S. 87 – 110. 40  Zu Recht als struktureller Grundbedingung von Sozialität bereits Christian Becker / Amadou Korbinian Sow (Fn. 4) S. 248 – 251. 41  Die Idee einer Konstitution durch Scheitern stammt von Jacqueline Rose, Sexualität im Feld der Anschauung, Wien, Turia + Kant, 1996, S. 94 – 95, die mit Blick auf das Individuum in der endlosen Wiederholung des Scheiterns einen „Widerstand gegen Identität“ erblickt. 42  Simon Critchley (Fn. 6) S. 55 zitiert Samuel Beckett wie folgt: „Try again. Fail again. Fail better.“ 37 38

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des freiheitlichen Staates seinen eigenen ethischen Ursprung endlos vor sich herschieben muss. Würde das Recht behaupten, eine dem Anspruch des Anderen absolut gerecht werdende (eine ethisch richtige) Entscheidung getroffen zu haben, läge schon darin eine Missachtung dieses Anspruchs. Die Dinge müssen im Recht immer verhandelbar bleiben.43 Für den Einzelnen ist das fortlaufende Scheitern am Anspruch des Anderen im Wissen um die Notwendigkeit dieses Scheiterns der Ausdruck von Anerkennung (oder Liebe). Weil er aber die Last eines solchen ständig wiederholten Scheiterns allenfalls in intimsten Beziehungen auf sich nehmen kann und will,44 bietet das Recht eine Struktur, die dem Anderen auch jenseits dieses Nahbereichs das Gehörtwerden mit seinem Anspruch garantiert, wobei freilich die Ausdehnung der Reichweite mit einem Verlust an Intensität erkauft wird. Das Recht erkennt den Einzelnen als der physischen Integrität und der ethischen Anerkennung würdig an, kann letztere aber selbstverständlich nicht selbst herbeiführen. Es schafft aber doch geschützte Räume (nicht nur in physischer Hinsicht, sondern auch mit Blick auf Möglichkeiten zur idiosynkratischen Lebensgestaltung), in denen der Andere als Anderer existieren kann, was letztlich bedeutet, dass auch das Selbst – vermittelt durch den Anspruch des Anderen – als Selbst existieren kann.45 IV. Die uneingeschränkte Herrschaft des Rechts und die Loslösung von der Ethik Weil demnach aber das Recht den Anderen mit seinem Anspruch schon anerkennen musss, bevor das Subjekt überhaupt auf die Bühne treten kann, stellt sich das Problem des ohnehin latent von Zirkularität bedrohten Anfangs, des 43  Christian Becker / Amadou Korbinian Sow (Fn. 4) S. 242  – 243; lesenswert zur Unterscheidung von unveränderbaren (absoluten) und demokratischen Rechtsordnungen Cornelia Vismann, Das Schöne am Recht: Erweitert um die Trauerreden von Friedrich Kittler und von Werner Hamacher, Leipzig, Merve, 2011, S. 7 – 40. 44  Wie natürlich insgesamt betont werden muss, dass der hier vorgestellte Ethikbegriff nicht bedeutet, dass eine Pflicht zur zugewandten Sorge um den Anderen besteht, dass der Einzelne sich dem Anderen zuwenden soll. Die Pointe meiner Überlegungen ist vielmehr, dass die ethische Erfahrung sich der Kategorie eines Sollens entzieht, vgl. in diesem Sinne auch László Tengelyi (Fn. 30) S. 168. 45  Hier scheint es einen grundlegenden Unterschied zwischen meinen Überlegungen und der Anerkennungstheorie von Axel Honneth zu geben, der das Recht als eine gegenüber der Liebe völlig andere Stufe der Anerkennung ansieht (vgl. Axel Honneth [Fn. 14] S. 174: Unterschiede „in so gut wie allen entscheidenden Hinsichten“), während meine Überlegung eher dahin geht, dass das Recht ein Leben als ethisches (als liebendes) Wesen ermöglichen soll, indem es physische Integrität und personale Freiheit garantiert. In der Sache stimme ich aber mit den bei Honneth aufgestellten Forderungen nach sozialer Teilhabe durchaus überein, vgl. ebd. S. 186 –  197; siehe auch Dana Schmalz, Social freedom in a global world: Axel Honneth’s and Seyla Benhabib’s reconsiderations of a Hegelian perspective on justice, Constellations 26 (2019), S. 301 – 317, hier S. 305.

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Ursprungs der rechtlich verfassten Herrschaft in verschärfter Form46 – und löst sich damit gleichzeitig in gewisser Weise auf.47 Weil es vor dem Recht weder ein autonomes Individuum noch eine zur Volksouveränität gebündelte Gemeinschaft der Individuen geben kann, sondern nur einen absolut unerreichbaren Anderen, muss die Herrschaft des Rechts (rule of law) in einem Akt der Selbstbegründung entstehen. Das Recht geht als der eigentliche Souverän des freiheitlichen Staates der Staatsgewalt voraus, die es zugleich konstituiert und kontrolliert, weshalb es unter der Herrschaft des Rechts niemals eine unbegrenzte Staatsgewalt geben kann.48 Über die uneingeschränkte Befugnis zur letzten Entscheidung (Souveränität) verfügt nur das Recht, das sich kraft dieser Souveränität fortlaufend selbst kontrolliert. Es ist die Unterwerfung unter diese einzigartige Form einer ebenso vorausgesetzten wie voraussetzungslosen, sich zugleich aber selbst beschränkenden Herrschaft, die die Unverfügbarkeit des Anderen – und damit die durch den Anderen gestiftete Freiheit des Selbst – garantiert. Damit wird Recht, nicht Freiheit zum Grundbegriff des freiheitlichen Staates, der vor allem Rechts-Staat ist.49 Das bedeutet freilich auch, dass die juridischen Entscheidungsprozesse ebenso logisch wie institutionell verselbständigt werden müssen.50 Sobald das Recht einmal als Souverän der ethisch begründeten Gemeinschaft (des Rechts-Staates) in die Welt getreten ist, kann nur noch nach rechtlichen Maßstäben und in rechtlichen Verfahren darüber entschieden werden, was Recht ist. Das Recht gründet sich demnach auf eine ethische Prämisse, von der es sich im Akt der (Selbst-)Begründung unmittelbar emanzipieren muss. Die ethisch fundierte Idee der Herrschaft des Rechts gebiert die institutionelle Welt des Rechts, in der ethische Erwägungen keine Rolle spielen, sofern sie sich nicht als juridische Gründe formulieren lassen.51 Insbesondere wird diese institutionelle Welt des Rechts strukturiert

46  Näher zu den dabei auftretenden Problemen Albrecht Koschorke, Zur Logik kultureller Gründungserzählungen, Zeitschrift für Ideengeschichte 2007, S. 5 – 12. 47  Die lakonische „Lösung“ für das Problem des Anfangs rechtlicher Herrschaft findet sich in Kelsens Theorie der Grundnorm: Die Grundnorm kann nicht gesetzt, sie muss vorausgesetzt sein, da ihre Setzung eine höhere Autorität erfordern würde, die es nicht gegeben kann, da die Grundnorm ja die höchste Norm ist, vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 2. Auflage 1960, herausgegeben und eingeleitet von Matthias Jestaedt, Tübingen, Mohr Siebeck, 2017, S. 348. Dasselbe gilt für die hier proklamierte Souveränität des Rechts. Sie muss vorausgesetzt sein, sie muss sich selbst voraussetzen. 48  Vgl. zur umfassenden Verrechtlichung staatlicher Gewalt als dem Sinn moderner Verfassungen mit der Folge, dass keine Gewalt über dem Recht stehen darf Dieter Grimm, Souveränität: Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin, Berlin University Press, 2009, S.  70 – 72. 49  Überzeugend wird dieser Gedanke ausgeführt in der Auseinandersetzung mit der verbreiteten Kritik an der „Verrechtlichung“ des Privatrechts durch Diskriminierungsverbote bei Gabriele Britz, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Band 64, Berlin, De Gruyter, 2005, S. 357 – 402, hier S. 371 – 375. 50  Die Strukturen einer in dieser Weise abgeschlossenen Rechtsordnung hat Kelsen in bestechender Klarheit beschrieben.

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durch Verfahrens- und Zuständigkeitsregeln, die vorgeben, wann eine Entscheidung endgültig ist.52 Eine solche Entscheidung bindet und verpflichtet die Rechtsunterworfenen selbst dann, wenn sie sich als ethisch fehlerhaft erweisen ließe.53 Damit sind wir bei der zu Beginn dieses Beitrags behaupteten ethischen Legitimation des normativ verweisten Rechts angelangt, die an dieser Stelle kurz zu rekonstruieren ist. Das Wesen des Ethischen haben wir in einer emotional empfundenen zugewandten Sorge gegenüber einem absolut Anderen gefunden. Dieser absolut Andere wird zur Entstehungsbedingung eines nicht autonomen (ethischen) Subjekts, das sich mit einer unerfüllbaren ethischen Über-Forderung konfrontiert sieht, die durch das Hinzutreten des Dritten weiter multipliziert wird. Um für diese fragile Welt des Ethischen ein festes Fundament zu errichten – also aus einem ethisch induzierten Grund –, muss das Recht sich selbst zum absoluten Souverän erheben, es muss sich sowohl logisch als auch institutionell abschließen, weil nur so die Beziehungen zwischen dem Anderen, dem Selbst und dem Dritten in einer Weise geordnet werden können, die letztlich jedem die potenzielle Anerkennung als Anderer ermöglicht. Das sich in dieser Weise selbst legitimierende Recht ist seiner Idee (oder auch: seinem Begriff) nach nicht ethisch indifferent, es ist nicht normativ verwaist. Es ist vielmehr – sehr vereinfacht gesagt – auf die Verringerung von Leid und auf die Schaffung von Räumen personaler Freiheit verpflichtet, in denen der Andere als absolut Anderer zur Geltung kommen kann. Es schiebt lediglich die absolute, die letzte (ethische) Entscheidung unendlich auf und es muss dies schon deshalb tun, weil es die Forderung nach einer ethisch endgültigen Entscheidung nie erfüllen könnte. V. Das Individuum und die Verdrängung des Anderen Doch ist der freiheitliche Staat in seiner geschichtlichen Realität nicht dabei geblieben, die durch den Anspruch des Anderen bestimmte Ethik in seinen Institutionen in einem Zustand der zwar unerreichbaren, aber doch latenten Präsenz zu halten. Je mehr das moderne Individuum vor allem als rationaler Akteur in einer ökonomisch geprägten Welt in Erscheinung trat, musste vielmehr der Ande51  In der argumentativen Praxis des Rechts (jedenfalls des kontinentaleuropäischen Rechtsdiskurses) bilden insbesondere positivierte Grundrechte das Einfallstor für ethisch aufgeladene Erwägungen. Grundrechte (und Staatsprinzipien) haben insoweit einen eigentümlichen geltungstheoretischen Status, sie sind geltendes positives Recht, beziehen ihre Legitimation aber nicht ausschließlich aus dieser für sich genommen historisch kontingenten Positivierung, das Recht ist insoweit transpositivistisch. 52  Das Spannungsverhältnis zwischen institutionellen und substanziellen Elementen im freiheitlichen Staat betont (im Anschluss an Seyla Benhabib) Dana Schmalz (Fn. 45), S. 309. 53  Auf den Punkt gebracht durch den Titel des Aufsatzes von Kenneth Einar Himma, Final Authority to bind with Moral Mistakes: On the explanatory Potential of Inclusive Legal Positivism, Law and Philosophy 24 (2005), S. 1 – 45.

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re aus der Konstitution des Subjekts verdrängt werden.54 Die grundsätzliche und ursprüngliche Angewiesenheit auf den Anderen steht einer ökonomisch dominierten Konzeption des Individuums im Weg. Der Einzelne muss vielmehr sich selbst genügen können, ohne von einem unberechenbaren Fremden in seinem Innersten abhängig, ihm ausgeliefert zu sein. Heute kommt verstärkend das Bedürfnis nach Selbstoptimierung hinzu, das sich nicht damit verträgt, dass wir im Zentrum unseres Selbst getrieben und geprägt sind von etwas Fremdem, das uns jederzeit in unvorhersehbarer Weise widerfahren kann. Um den gesellschaftlich wirkmächtig formulierten Anforderungen der ökonomischen Rationalität gerecht werden zu können, muss das Fremde daher verdrängt werden, mag es noch so offensichtlich präsent sein in unserem Leben, ob nun in Form von Schmerzen, Leidenschaft, Ablenkungen unserer Aufmerksamkeit, Vergessen, Lachen, Weinen oder sonstigen emotionalen Reaktionen.55 Heute bricht der verdrängte Andere sich möglicherweise auch in der immer stärker verbreiteten Nutzung sozialer Medien Bahn, bei der Erlebnisse und Ereignisse nicht mehr primär für sich stattfinden, sondern vor allem als potenzieller Gegenstand von Reaktionen des digitalen Umfelds, also auf der Suche nach Antwort durch den Anderen.56 Diese Verdrängung des Anderen auf der Mikroebene des Einzelnen Subjekts korrespondiert auf der Makroebene mit dem Leid, das der freiheitliche Staat über diejenigen gebracht hat, die er an dem Schutz des von ihm begründeten und als universell reklamierten Rechts nie teilhaben ließ. Schon in der Frühzeit des Kapitalismus kam es zu einer „Zweiteilung der Welt“ durch die „Fähigkeit reicher und mächtiger Europäer, ihre Welt in eine ‚innere‘ und eine ‚äußere‘ zu teilen, wobei „[d]ie ‚innere Welt‘ […] auf den Gesetzen, Institutionen und Regeln des Heimatlandes [beruhte]“, während „[d]ie ‚äußere Welt‘ […] gekennzeichnet [war] von imperialer Herrschaft, ungestrafter Enteignung riesiger Gebiete und unzähliger Menschen, von der Dezimierung einheimischer Völker, die ihrer Rohstoffe beraubt wurden, der Sklaverei und der Kontrolle breiter Landstriche durch private 54  Im Ansatz womöglich mit ähnlicher Stoßrichtung Axel Honneth (Fn. 14) S. 314 – 317, der den von ihm ausgemachten Kampf um Anerkennung als das Revoltieren des Ich gegen die Unverfügbarkeit des Anderen bezeichnet und hierin einen antisozialen Impuls sieht, dessen Vereinbarkeit mit einer moralischen Anerkennungstheorie problematisch sei. 55  Vgl. hierzu Bernhard Waldenfels (Fn. 12) S. 35: „Der Leib ist immer nur mehr oder weniger unser eigener, wie sich schmerzlich zeigt, wenn er uns in der Müdigkeit oder der Altersschwäche seine Dienste versagt […] So beginnt die Fremdheit am eigenen Leib, und die Fremdheit der Anderen hat ihr Pendant in der Fremdheit meiner Selbst“. 56  Der Umgang mit sozialen Medien könnte aus psychoanalytischer Sicht auf eine Form der Kompromissbildung zurückgehen, bei der das Verdrängte in einer Weise wiederkehrt, die zugleich das Unbewusste und die Abwehr zu befriedigen vermag, vgl. hierzu Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1971, S. 255 – 256. Denn eine Plattform wie Instagram scheint geradezu eine Spielwiese narzisstischer Individuen zu sein, die sich gleichzeitig ausschließlich von der Reaktion des Anderen abhängig machen.

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Kapitaleigner: Kaufleute und Siedler, Plantagenbesitzer und Sklaventreiber“.57 Bis heute ist „die europäische ‚Wertegemeinschaft‘ unvollständig beschrieben, ohne die Bereitschaft einzubeziehen, viele Menschen lieber sterben zu lassen, als mehr Geld für ihre Rettung auszugeben“.58 Diese Entrechtung zahlloser Anderer durch die Mechanismen moderner kapitalistischer Ordnungen können wir – so lautet meine These – nur deshalb ohne Schäden für unser Selbstverständnis verarbeiten, weil wir unsere ethische Verantwortung für den Anderen durch die Inthronisation unseres autonomen Selbst, durch eine Art von narzisstischer Schließung verdrängt haben. So gelangt die Tatsache nicht ins (individuelle bzw. kollektive) Bewusstsein, dass die fortlaufende Miss­ achtung der Universalität des Anderen unmittelbar auf den Kern unseres Selbst zurückschlägt, indem sie dessen Grundlegung durch den Anspruch des Anderen vereitelt. Die Anerkennung des Anderen (als Bedingung der Konstitution meines Selbst) bedeutet notwendig die Anerkennung aller Anderen.59 Heute führt die moderne Kommunikationswelt mehr denn je dazu, dass der verdrängte Andere ins Bewusstsein zurückdrängt.60  Das hat Marshall McLuhan bereits frühzeitig erkannt, als er über einen von ihm sog. „Wahrnehmungsschock“ schrieb: „In einer elektronischen Informationsumwelt können Minoritäten nicht mehr ausgegrenzt – ignoriert – werden. Zu viele Menschen wissen zu viel voneinander. Unsere neue Umwelt zwingt uns zu Engagement und Teilnahme. Heute nehmen wir, ob wir wollen oder nicht, Anteil am Leben aller anderen und sind füreinander verantwortlich.“61 Und dennoch entsteht angesichts unserer derzeitigen Debatten über das nicht mehr auszublendende Leid der vielen Anderen der Eindruck, dass wir uns immer heftiger gegen die äußeren Repräsentanzen des verdrängten Anderen richten. Das betrifft nicht nur die hiermit offensichtlich angesprochene Migrationsdebatte, sondern auch die Missachtung gegenüber anderen Lebensformen oder anderen sexuellen Identitäten. Diese werden als Gefahr für unser Selbst eingestuft, das aber 57  Sven Beckert, King Cotton, Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München, C.H. Beck, 2014, S. 51. 58  Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2015, S. 358. 59 Deutlich insoweit Emmanuel Lévinas (Fn. 10) S. 307  – 311; vgl. auch Dana Schmalz (Fn. 45) S. 311 – 312 m. w. N.; zur Kritik einer nur scheinbaren Anerkennung des Anderen, die dort endet, wo dieser sich als wirklich anders erweist siehe Alain Badiou (Fn. 12) S. 39 – 40; zu Kants berühmter Passage über das Weltbürgerrecht in der Friedensschrift schreibt im Zusammenhang mit den jüngsten Debatten über Migration Rainer Keil, Philantropie und Weltbürgerrecht angesichts existenzieller Bedrohung: Flüchtlingsschutz als Tugendpflicht, Rechtspflicht und Menschenrecht bei Kant, in: Joachim Hruschka / Jan C. Joerden (Hrsg.) Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 25 (2017), Duncker & Humblot, Berlin, 2017, S. 75 – 102. 60 Knapp zum Phänomen der Wiederkehr des Verdrängten in der Psychoanalyse Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis (Fn. 56) S. 631 – 632. 61  Marshall McLuhan / Quentin Fiore, Das Medium ist die Massage, Stuttgart, Klett-Cotta, 2011, S. 24.

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seinen eigenen Anspruch in Wahrheit erst im Wege der Spiegelung des Anderen zu erkennen vermag. Ein Einwand hiergegen könnte nun lauten: Selbst wenn diese Verdrängung des Anderen stattgefunden haben sollte, war sie offensichtlich erfolgreich und wir sind inzwischen zu einem stabilen Selbstbild gelangt, das den Anderen überflüssig gemacht hat. Daran sind jedoch durchgreifende Zweifel begründet. Wann immer wir eine Konzeption unserer Identität zu Grunde legen, die nicht von der universellen Anerkennung jedes Anderen ausgeht, müssen wir uns nolens volens eingestehen, dass die von uns ausgeschlossenen Anderen ebenfalls keinen Grund haben, unsere Personalität anzuerkennen. Solange irgendwo der Naturzustand herrscht, ist der bloß sektorale Rechtszustand theoretisch wertlos;62 sein praktischer „Wert“ hängt davon ab, wie weit wir entfernt sind von jenen Orten, an denen der Naturzustand weiterhin besteht. Nun können wir uns eventuell noch mit Blick auf uns selbst einreden, dass wir eine Welt auszuhalten vermögen, in der wir uns auf wechselseitige Achtung des Rechts nicht verlassen können, weil diejenigen, die von den Vorteilen des Rechtszustands ausgeschlossen werden, ihrerseits keinem Recht verpflichtet sind. Doch ganz gewiss wollen wir nicht, dass der Andere, um den wir uns sorgen, dass ein geliebter Mensch einer solchen Welt des „Naturzustands“ ausgesetzt wird. Denn wie stark und autonom wir uns auch immer selbst fühlen mögen, wir wissen, dass wir nicht immer und jederzeit für den Anderen sorgen können, weil wir keine Macht über ihn haben. Hier ließe sich womöglich auch der Hobbes’schen Theorie eine völlig neue Pointe verleihen. Der Naturzustand muss nicht überwunden werden, weil wir uns um uns selbst sorgen, sondern weil wir uns um den Anderen sorgen, für den wir alleine niemals vollständig sorgen können. Und nur dann, wenn das Recht für alle Anderen Sorge trägt, können wir darauf vertrauen, dass kein Dritter sich des uns nahestehenden Anderen mit Gewalt bemächtigt. VI. Schluss So können wir zum Schluss dieses Beitrags nun sehen, weshalb das Recht des freiheitlichen Staates heute doch normativ verwaist, weshalb ihm die Ethik tatsächlich abhandenkommt. Wir haben sowohl die Ethik als auch das Recht von einem sich selbst genügenden Individuum aus konstruiert und die für unser Selbst konstitutive Funktion des Anderen verdrängt. Wir ignorieren die Tatsache, „daß das Selbst für sich allein nicht überleben kann, in seinem eigenen In-der-Welt-sein keinen Sinn finden kann“63.  Hierzu Wolfgang Kersting (Fn. 2) S. 212 – 216.   Diese Formulierung von Levinas ist (als deutsche Übersetzung) zitiert bei Judith Butler (Fn. 19) S. 157; in der von Levinas autorisierten englischen Übersetzung des Gesprächs mit Richard Kearney lautet die Formulierung im Zusammenhang (mit einer erkennbaren Referenz auf Heidegger): „My ethical relation of love for the other stems from the fact that the self can62 63

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Womöglich können wir aber die Verdrängung des Anderen überwinden und lernen, dass wir Einklang mit uns selbst nur außerhalb von uns selbst finden, dass das, was uns im innersten anzutreiben scheint, in Wahrheit von außen zu uns kommt und dann in rätselhafter Weise unsere innerste Leerstelle zumindest für einen Moment zu füllen vermag. Vielleicht können wir erkennen, dass die Herrschaft des Rechts uns die besten Bedingungen für das Gelingen eines solchen im-Anderenzu-uns-selbst-Finden bietet, weil die so gestiftete Ordnung nicht nur den Schutz vor Gewalt gewährleistet, sondern auch die Andersheit des Anderen ermöglicht, in der allein wir uns selbst erblicken können. Und eventuell können wir schließlich begreifen, dass unser zu-uns-selbst-Finden-im-Anderen nur gelingen kann, wenn der Andere ein universeller Anderer ist, wenn wir jeden Anderen für einen von unseresgleichen und uns als einen von seinesgleichen nehmen. Auf diese Weise könnten wir erfahren, dass das scheinbar mit so wenig motivationaler Kraft ausgestattete Recht des freiheitlichen Staates in seinem Kern von jenem „eigentlichen Guten“ affiziert ist, „wonach jede Menschenseele strebt und dessentwegen sie alle Anstrengungen unternimmt“.64 Summary Within legal positivism, there is no room for explicit ethical reasoning in legal decisions. Still, this article argues that legal positivism itself rests on an ethical premise. It is the affectionate concern about the other that constitutes the free subject to the effect that ethics precedes freedom. As modern positivistic law has no higher source than itself, it can guarantee that the other is subject to no other rule than the rule of law. By guaranteeing the other, positive law also guarantees the self that depends on the other. In light of this framework, ethics always remains latent in legal positivism, although they can never be addressed directly as part of institutional legal decision-making. But as this article will argue there has been a long period of repressing the other due to a primarily economic understanding of the free subject. This leads to positive law being completely emptied of its ethical origin. The acknowledgement of the other must be put in place of this emptiness.

not survive by itself alone, cannot find meaning within its own being-in-the-world, within the ontology of sameness.“, siehe Richard Cohen (Hrsg.), Face to Face with Levinas, Albany, SUNY, 1986, S. 24. 64  Platon, Der Staat 505 e, Sämtliche Werke, Band II, Heidelberg, Lambert Schneider, 8. Aufl. 1982, S. 239.

Rechtsreflexe und reflexives Recht: Wer hat Angst vor Georg Hegel?1 Eine Rekonstruktion der Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts Jochen Bung Bei einem Reflex handelt es sich um eine gleichförmige und nicht bewusst gesteuerte, automatisiert ablaufende Reaktion auf einen bestimmten Reiz. Reflexe kommen häufig und in verschiedenen Zusammenhängen vor. Betrachten wir die Wirkung einer rechtlichen Fragestellung auf eine Person, die diese Frage in einer vertrauten Weise bearbeiten muss, eine Studentin der Rechtswissenschaft. Sie dreht das Aufgabenblatt um und liest: A erschießt B. Wie hat sich A strafbar gemacht? Beim Lesen werden Lichtreize in den Photorezeptoren der Retina in elektrische Impulse umgewandelt, die an das Gehirn der Studentin weitergeleitet und dort dekodiert werden. Die Studentin schreibt, unwillkürlich, ohne das bewusst entschieden zu haben: A könnte strafbar sein wegen Totschlags. Er müsste einen anderen Menschen getötet haben. B, ein Mensch, ist tot. Der Schuss des A kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Tod des B entfiele. Mithin war der Schuss kausal für den Tod des B. Das wusste A auch, und er wollte auch den Tod des B. Da dem Sachverhalt keine Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe zu entnehmen sind, hat sich A wegen Totschlags strafbar gemacht. Sie hat das hingeschrieben, ohne nachzudenken. Ihre Sitznachbarin im Prüfungsraum hat dasselbe geschrieben, ohne nachzudenken. Alle im Raum haben dasselbe, ohne nachzudenken, hingeschrieben und diejenigen, die die Arbeiten korrigieren, werden das Hingeschriebene, ohne nachzudenken, mit einem Häkchen versehen. Solche gleichförmigen automatisierten Abläufe könnte man unter den Begriff des reflexhaften Rechts befassen. Solche Reflexe sind nicht angeboren, sondern erlernt. Ihre Anteile am gesamten Recht sind kaum zu überschätzen. 1  Elemente des Beitrags habe ich im Rahmen eines kleinen Symposions Ende 2016 an der Universität Luzern Zur Lage der Grundlagenforschung im Recht zur Diskussion gestellt. Der Beitrag versteht sich als Anregung zu einer Neuaneignung der Rechtsphilosophie Hegels jenseits reflexhafter Abwehr oder unkritischer Identifikation, vor allem auch der unreflektierten Reproduktion von Interpretationsstereotypen. In der Zerlegung solcher Stereotype hat Joachim Hruschka Großes geleistet, exemplarisch etwa seine Dekonstruktion des Etiketts vom Vergeltungstheoretiker Kant. Nur solche erneuernden Lesarten führen in der juristischen Grundlagendiskussion weiter, weswegen ich diesen Beitrag über einen anderen, gerade in der Strafrechtswissenschaft häufig schablonenhaft rezipierten Autor des deutschen Idealismus (im Übrigen noch weniger Vergeltungstheoretiker als Kant) sehr gerne Joachim Hruschka widme.

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Schon deshalb wäre es falsch, reflexhaftes Recht gering zu schätzen, es wegen seiner Gedankenlosigkeit zu verurteilen. Die Gedankenlosigkeit gehört elementar zur Praxis des Rechts. Wer nicht aufhören kann zu denken, muss etwas anderes machen. Im Recht muss man sich Techniken aneignen, die das Denken unterbinden. Dafür werden eine Unmenge fertiger Formulierungen und Schemata bereitgestellt, vorgefertigte, vom Denken abgeschnittene Rückstände des Denkens. Die Realität des rechtswissenschaftlichen Studiums besteht zu einem guten Teil aus der Internalisierung solcher Formen, es stellt eine klassische Abrichtung dar. Einen Fall auf diese Weise zu lösen ist natürlich nicht das ganze Recht. Das Wahre ist das Ganze.2 Und daher gibt es unglückliches Bewusstsein, das unter der Abrichtung leidet: Das kann doch nicht wahr sein. Das kann doch nicht alles sein. Und so ist es auch. Das Recht ist besinnungsloser Ablauf, Automatismus, Reflex, aber auch etwas, das in besonderer Weise das Denken herausfordert, das in jener Form des Denkens vielleicht eine besondere Berechtigung hat, die als die reine Form des Denkens angesprochen werden kann: Reflexion – reflexives Recht. Den Übergang vom reflexhaften zum reflexiven Recht kann man mit oder ohne Rechtsphilosophie unternehmen.3 Für die Möglichkeit von Reflexion im Recht ist sie keine notwendige Bedingung. Sie kann aber in bestimmte Weisen des Denkens einüben, die beim Übergang zum reflexiven Recht helfen. Wie bei der Philosophie im Allgemeinen geht es auch bei der Philosophie des Rechts weniger um die Aneignung von Informationen über einen bestimmten Gegenstand, sondern um eine veränderte Einstellung zu demselben. Niemand, scheint mir, hat dies eindrucksvoller dargestellt als Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts: Die Rechtsphilosophie erzeugt keine neuen Informationen über das Recht, sie ermöglicht, dass man sich zum Recht in ein anderes, in ein umfassenderes, ein „ganzheitliches“ Verhältnis setzt. Eine Neuaneignung der Rechtsphilosophie Hegels lohnt sich schon deswegen, weil über die Schrift und ihren Verfasser eine Menge Vorurteile existieren, die dazu führen, dass die Texte aus Scheu oder Aversion gar nicht mehr gelesen werden oder nur noch von denen gelesen werden, die zwar die Vorurteile gegen Hegel nicht teilen, aber auf andere Weise befangen sind. Hegel zu lesen lohnt sich aber ganz besonders jenseits von Aversion oder Apotheose und mit diesem Beitrag möchte ich zu einer neuen und unbefangenen Lektüre dieses klassischen Textes anregen, indem ich – sozusagen – die Grundlinien der Grundlinien rekonstruiere, im Wege einer Rekonstruktion der Gedanken und Beobachtungen, die Hegel in der Vorrede und der Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts exponiert und entwickelt.4 2  Hegel, Phänomenologie des Geistes, text- u. seitengleich mit Bd. 3 der von E. Moldenhauer und K. M. Michel herausgegebenen Werkausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 24. 3  Bung, „Fünf Grundprobleme des heutigen Strafrechts“, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2016, S. 340 ff. 4  Ein umfassende Kommentierung des gesamten Werkes ist abrufbar auf der Webseite des Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtsphilosophie: https://www.jura.uni-hamburg.de / die-fakultaet / professuren / straf-r-3/working-paper.html.

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I. Hegel lesen5 Schon beim Einstieg in die Lektüre merkt man, dass es sich bei den Grundlinien um ein Buch besonderer Art handelt. Der Text ist nach fortlaufenden Paragraphen geordnet, ohne dass hierbei ein striktes Ordnungsprinzip erkennbar wäre. Der Charakter des Vorlesungskommentars ist offenkundig, es gibt der Schrift etwas Frisches, Unfertiges, verstärkt durch die Anmerkungen, die skizzenhaft, elliptisch und in dieser Form – für Außenstehende – zuweilen auch erratisch oder enigmatisch sind. Das einzige erkennbare Strukturprinzip ist die Dreigliedrigkeit, die von Hegel selbst so bezeichnete „Triplizität“, deren Erkenntniswert Hegel allerdings selbst am Ende seiner umfangreichen Darstellung über die Wissenschaft der Logik relativiert.6 Die Grundstruktur dessen, was Hegel als „spekulative Methode“ in der Wissenschaft der Logik entfaltet (sowie in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes programmatisch skizziert) ist, maximal schematisiert, die, dass Unmittelbares in Vermittlung übergeht und darin eine Aufhebung der Differenz zwischen beidem stattfindet: „die Einheit […] des Unmittelbaren und des Vermittelten“7 – oder, wie es an anderer Stelle – noch verdichteter – heißt: „Unmittelbarkeit als Vermittlung“8. Die Erfassung dieser „spekulativen“ Einheit als Triplizität ist für Hegel aber „nur die oberflächliche, äußerliche Seite der Weise des Erkennens“9. Insofern ist das Buch, in dem das Dreierschema bis ins Äußerste getrieben wird, eben die Wissenschaft der Logik, zwar garantiert kein oberflächliches, aber doch womöglich Hegels „äußerlichstes“ Buch. In der Vorrede der Grundlinien sagt Hegel, dass diese Logik vorausgesetzt ist: „[Die] spekulative Erkenntnisweise [ist] hier vorausgesetzt […]; in diesem Grundriss ist nur hier und da eine Erläuterung über Fortgang und Methode hinzugefügt worden.“10 Das bedeutet jedoch nicht, dass man zuerst die Wissenschaft der Logik lesen muss, bevor man sich den Grundlinien zuwendet. Eine solche Vorstellung widerspräche ganz der richtigen Auffassung vom Denken, für das es keinen bestimmten Anfang gibt, sondern das – gleichgültig wo – irgendwo anfängt, weil es nun einfach einmal irgendwo anfangen muss.11

5  Vgl. zu diesem Unternehmen schon Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974, S. 84 ff. 6  Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werkausgabe Bd. 6, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 564; zur „Triplizität“ als einem „leblosen Schema“ s. auch Hegel, Phänomenologie des Geistes (Fn. 2), S. 48. 7  Hegel, Wissenschaft der Logik II (Fn. 6), S. 564. 8  Hegel, Wissenschaft der Logik II (Fn. 6), S. 565. 9  Hegel, Wissenschaft der Logik II (Fn. 6), S. 564. 10  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [im Folgenden GPhR], Werkausgabe Bd. 7, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 12 (Vorrede). 11  Zur Frage des Anfangs s. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werkausgabe Bd. 5, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 72: „Es bedarf […]

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Über die Philosophie Hegels kursieren viele Gerüchte und man trifft, in stärkerem Maße als es bei anderen Autorinnen und Autoren der Fall ist, auf verfestigte aversive Einstellungen. Zuweilen auch auf Angst oder Scheu.12 Hegel gilt als besonders schwer zu lesen, aber man muss einfach ein Buch in die Hand nehmen und anfangen, man muss sich dem Rhythmus der eigenwilligen Sprache anpassen, man darf nicht gleich verstehen, Aussagen festnageln und Argumente identifizieren wollen.13 Dann wird man feststellen, dass Hegels Texte unausgesetzte Variationen sind, nicht enden wollende Konfigurationen und Rekonfigurationen von allen nur denkbaren Formen und Inhalten. Hegel gilt als unverständlich oder gar unsinnig, aber auch hier gilt: Man darf nicht sofort verstehen wollen. Verstehen ist ein Prozess, was man sofort versteht, hat man in Wirklichkeit gar nicht verstanden, sondern in der Eitelkeit des unmittelbaren Zugriffs unterliegt man lediglich der Selbsttäuschung des Verstehens. Man muss, soweit einem das gelingt, dem instrumentellen Zugang zu den Texten entsagen. Es geht nicht darum, dass man einzelne Aussagen identifiziert, die man dann widerlegen oder bestätigen kann.14 Wenn der Ausdruck nicht so abgeschmackt wäre, könnte man sagen, die Darstellungen haben meditativen Charakter, Adorno spricht vom „Charakter des Schwebenden“15. Ihre redundanten Anteile sind erheblich. Sie erzeugen einen eigenen Raum. Sie erschließen sich nur dann, wenn man sich, zunächst jedenfalls, zurücknimmt und die sprachlichen Gebilde aus sich selbst heraus entwickeln lässt. Der meditative Charakter der Texte wird, das muss man sagen, hin und wieder durch die Überheblichkeit ihres Verfassers gestört. Immer einmal wieder kommen Bemerkungen vor, die zeigen, dass der Verfasser von sich selbst die höchste Meinung hat. Die anderen liegen daneben, selbst Kant. In diesen Invektiven liegt aber Hegel selbst oft daneben. Er verstößt gegen seine eigene Maxime der unbefangenen und zurückhaltenden Beobachtung16, wenn er anderen Fehler oder, wie häufig, Verkürzungen vorhält. Zuweilen sind die Einwände dabei schlicht unzutreffend. So behauptet Hegel etwa, bei Rousseau bleibe die Form des Allgemeinen, die auch jene des Rechts in der Form des Gesetzes ist, abstrakt17 – unter Verkennung oder keiner […] Vorbereitungen, um in die Philosophie hineinzukommen, noch anderweitiger Reflexionen oder Anknüpfungspunkte“. 12  Zur „Angst, sich zu blamieren“, Adorno, Drei Studien zu Hegel (Fn. 5), S. 84. 13  Adorno bemerkt zutreffend, dass die Form der Texte mit Hegels Auffassung übereinstimmt, „das Wahre sei in keiner einzelnen These, keiner beschränkt positiven Aussage zu greifen“, Drei Studien zu Hegel (Fn. 5), S. 86. Die spekulative Methode ist wesentlich selbst eine Kritik der Restriktion von Wissen auf „fixierte, tote Sätze“, Hegel, Phänomenologie des Geistes (Fn. 2), S. 44. 14  Hegel selbst sagt: „Es ist […] nicht schwer einzusehen, dass die Manier, einen Satz aufzustellen, Gründe für ihn anzuführen und den entgegengesetzten durch Gründe ebenso zu widerlegen, nicht die Form ist, in der die Wahrheit auftreten kann.“, Phänomenologie des Geistes (Fn. 2), S. 47. 15  Adorno, Drei Studien zu Hegel (Fn. 5), S. 86. 16  Vgl. GPhR, S. 30 (§ 2). 17  GPhR, S. 80 f. (§ 29).

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Ausblendung des Umstands, dass es kaum eine gelungenere Variation des spekulativen Grundverhältnisses gibt als Rousseaus Triplizität von Einzelwille, Gesamtwille und Gemeinwille, aus welcher hervorgeht, dass die volonté générale, das Gesetz, das alle angehende konkrete Allgemeine ist. Wenn man Hegel mit Gewinn lesen möchte, tut man gut daran, seine Selbststilisierungen zu übergehen. Außerdem darf man ihn nicht zu ernst und zu wörtlich nehmen. Nicht auf den Wortlaut kommt es an, sondern auf den wiederkehrenden Rhythmus der begrifflichen Verschiebungen. Man muss, habe ich gesagt, die Wissenschaft der Logik nicht voraussetzen, um sich mit den Grundlinien der Philosophie des Rechts beschäftigen zu können. Was besonders, anders an diesem Text ist, was ihn tatsächlich zu einer Rechtsphilosophie anderer und eigener Art macht, wird, wie sein Verfasser selbst bemerkt, „von selbst auffallen“18. Außerdem, so der Autor weiter, gehe es in der Rechtsphilosophie im Grunde um Altbekanntes, so dass der Zugang des „unbefangenen Gemütes“ den herkömmlichen Spielarten der intellektuellen Annäherung überlegen ist.19 Wenn es um Recht und Staat geht, gibt es viele Meinungen, fast jeder hat eine, und derjenige bleibt auf halber Strecke stehen, der versucht zu ermitteln, welche die Richtige ist. Gegen diesen Ansatz ist die berühmte Bemerkung gerichtet, dass, was vernünftig wirklich und was wirklich vernünftig ist.20 In diesen Satz sollte man nicht zu viel hineininterpretieren. Bei Hegel finden sich immer wieder solche Sätze. Es handelt sich hierbei nicht um abschließende Stellungnahmen, sondern um Momentaufnahmen, Atempausen des Denkens. Dass das Wirkliche das Vernünftige ist, soll heißen, dass die Rechtsphilosophie auf einem höheren Niveau der Reflexion jenes unbefangene Bewusstsein wiedererlangt, welches Recht und Staat als Realitäten anerkennt, ohne sich durch beständiges Besserwissen und Mitredenwollen über die eigene Bedeutsamkeit hinwegzutäuschen. Was Hegel damit vermitteln möchte, ist keine konservative politische Botschaft. Er richtet sich, psychologisch feinsinnig, gegen den Narzissmus der Selbstdarstellung und Selbstüberhebung in politischen Tagesfragen, er empfiehlt eine Befreiung aus der „Kleinlichkeit“ und dem „Hass“, der diesem Geltungsdrang zugrunde liegt.21 Indem für Hegel der konkrete Staat eine Gestalt des Volksgeistes ist, in dieser Form aber auf die entwickeltere Wahrheit des Weltgeistes bezogen ist22, gibt es keinen Grund, seine Rechtsphilosophie für eine Apotheose des Staates zu halten, auch wenn es Stellen gibt, die man, herausgelöst, auf diese Weise lesen kann.23   GPhR, S. 12 (Vorrede).   GPhR, S. 14 (Vorrede). 20  GPhR, S. 24 (Vorrede). 21  GPhR, S. 26 (Vorrede). 22  GPhR, S. 503 (§ 340). 23  Vgl. GPhR, S. 27 (Vorrede): „Wie es ein berühmtes Wort geworden ist, dass eine halbe Philosophie von Gott abführe […], die wahre Philosophie aber zu Gott führe, so ist es dasselbe mit dem Staate.“ Das ist nicht als Apotheose des Staates zu lesen, sondern beschreibt strukturell 18 19

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Wenn Hegel als Aufgabe der Rechtsphilosophie angibt, „den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“24 geht es nicht um die Rechtfertigung einer konkreten historischen Formation, einer bestimmten Erscheinung des Staates25, sondern darum, das Vernünftige am Staat zu erfassen oder, wie es Hegel an einer Stelle ausdrückt, „die Architektonik seiner Vernünftigkeit“26. Architektonik, nicht Architektur, nicht eine bestimmte Erscheinungsform des Staates ist Gegenstand der Rechtsphilosophie, sondern der Gedanke, dass es über den Menschen einen „gebildeten Bau“27, ein gegliedertes, funktional ausdifferenziertes transpersonales Gebilde zur Organisation und Regelung interpersonaler Beziehungen, insbesondere zur Herstellung eines Ausgleichs zwischen abstraktem Recht und konkretem Wohl, der Verwirklichung von „Wohl als Recht“28, geben muss. Wie der gebildete Bau gebildet ist und wie das Wohl als Recht verwirklicht wird, unterliegt vielfältigen Bedingungen und Besonderheiten, so dass es weder einfache Rezepte noch eindeutige Lösungen gibt, schon gar nicht vermittelt durch Philosophie. In Sachen, die sie nichts angehen, mischt sich Philosophie nicht ein.29

das Phänomen, dass im naiven Glauben etwas enthalten ist, zu dem man verändert zurückkehren kann, nachdem man die Unbefangenheit verloren hat. 24  GPhR, S. 26 (Vorrede), im Original kursiv. 25  GPhR, S. 399 f. (§ 258): „Welches […] der historische Ursprung des Staates […] sei oder gewesen sei […], geht die Idee des Staates selbst nichts an […]. Die philosophische Betrachtung hat es nur mit dem […] gedachten Begriffe zu tun.“ 26  GPhR, S. 19 (Vorrede). 27  GPhR, S. 19 (Vorrede). 28  GPhR, S. 382 (§ 230). 29  GPhR, S. 25 (Vorrede). Dass es in der Rechtsphilosophie um die Vernünftigkeit von Staatlichkeit, nicht um die Vernunft dieser oder jener Staatserscheinung geht, wird in der Rezeption der klassischen rechts- und staatsphilosophischen Literatur meistens verkannt. Zufälligkeiten werden hervorgekehrt und mit dem verwechselt, worauf es eigentlich ankommt. Biographische und historische Besonderheiten werden verwendet, um den Gedanken zu erklären: Hobbes hat den Bürgerkrieg erlebt, deswegen hatte er ein negatives Menschenbild und war für absolute Herrschaft und gegen Gewaltenteilung. Solche Weisheiten führen beim Textverständnis nicht weiter, man bringt sich um das Wesentliche der Texte, um die notwendige Einsicht, dass der Souverän nicht vollständig an die Gesetze gebunden ist und dass sich seine Regierung über ein differenziertes System von Staatsfunktionen vermittelt, die sich institutionell mehr oder weniger aufteilen können, aber immer auch zusammenwirken müssen. Bei Hegel können wir lernen, dass moderne Verfassungen niemals nur einem Prinzip folgen, sondern „monarchische“, „aristokratische“ und „demokratische“ Funktionselemente notwendig integrieren. Immer sind die klassischen Texte besser und reicher als die vermeintlichen Weisheiten, die man ihnen entnimmt. Die in der Strafrechtswissenschaft hartnäckig verbreitete Vorstellung, Hegel sei Vergeltungstheoretiker, geht über die komplexe Darstellung hinweg und übersieht, dass nach Hegel auch der Verbrecher nicht nur sein Recht, sondern auch sein Wohl finden muss.

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II. Die spekulative Methode und der Gegenstand der Rechtsphilosophie Recht ist etwas, das sich häufig nicht reflexiv vollzieht: Blinde, rein instrumentelle Rechtsarbeit. In Max Webers Begriff des bürokratischen Handelns ist das erfasst und zugleich in seiner immanenten Rationalität bestimmt.30 Adorno hat am instrumentellen Recht erbitterte Kritik geübt und dabei den Fehler gemacht, das instrumentelle Recht für das ganze Recht zu nehmen.31 Recht war niemals nur in­ strumentell rational und sein Charakter hat sich seit Adornos Rechtskritik auch noch spürbar gewandelt. Es ist kaum zu übersehen, dass sich die nicht-konditionalen und nicht-subsumtiven Anteile an der Gesamtheit der Rechtsoperationen erheblich erweitert haben. Im Strafprozessrecht, um nur ein Beispiel zu nennen, gibt es kaum noch eine maßgebliche Entscheidung ohne Rekurs auf das Fair-trial-Prinzip. Im gesamten Recht greift man ins Prinzipielle aus, greift vor allem auf Menschrechte zu, bevor man zur einfachrechtlich definierten Ausgangsfrage zurückkommt. Das ist reflexives Recht. Freilich können auch diese Reflexionsüberschüsse dem reflexhaften Recht anverwandelt werden. Fair trial oder Menschenrechte können genauso in besinnungslosen vorgestanzten Formen transportiert werden wie die Condicio-Formel der Kausalität. Und das ist grundsätzlich etwas Gutes, denn in solchen Formen oder Formeln gerinnen die ätherischen Gebilde zu einer eigentümlichen Stofflichkeit, werden echte und unverrückbare Entitäten des Rechts. Das Recht braucht keine Rechtsphilosophie, damit ihm erstmals irgendwie zur Reflexivität verholfen wird. Indem es sich selbst unterscheidet in einfaches und höherrangiges Recht ist das Recht schon selbst reflexiv und die Philosophie des Rechts muss diese natürliche oder immanente Reflexivität des Rechts lediglich reflektieren. Ihre Aufgabe besteht darin, in den Worten Hegels, „der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen“32. Indem sie sich gegen die „bloßen Begriffe“ wendet33 und die Methode einer aufs Wesentliche gerichteten Beobachtung der Sachen selbst entfaltet, ließe sich Hegels Rechtsphilosophie genauso gut als Rechtssoziologie ansprechen. Je länger ich mich damit befasse, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass Hegels Konzeption von Rechtsphilosophie im Grunde rechtssoziologisch ist.34 30  Zur bürokratischen Organisation und zur Rechtsbürokratisierung Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen: Mohr, 1980, S. 561 ff. 31  Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, S. 303 ff. 32  GPhR, S. 30 (§ 2). Zur methodischen Bedeutung des „reinen Zusehens“ s. auch Hegel, Phänomenologie des Geistes (Fn. 2), S. 77. Hier gibt es im Übrigen eine auffällige Verwandtschaft mit Wittgenstein: „Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 298 f. (Nr. 109). Noch prägnanter – und bekannter: „[D]enk nicht, sondern schau!“ ebd., S. 277 (Nr. 66). 33  GPhR, S. 29 (Anm. zu § 1). 34  Dafür spricht nicht nur seine methodische Maxime des reinen Zusehens, sondern auch sein Denken in Institutionen, Funktionen und Strukturen, ganz allgemein das Bewusstsein der

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Aber das „unendliche Material und seine Regulierung [ist] nicht Gegenstand der Philosophie“35, sondern der Rechtspolitik und der Rechtsgeschichte. Von beiden Zugangsweisen, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik eingeschlossen, grenzt Hegel die Rechtsphilosophie ab. Indem ihre Aufgabe darin besteht, die vernünftige Architektonik des Staates sehen zu lassen, muss sie, so Hegel, „am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu [w]ollen“36. Diese Enthaltsamkeit gegenüber Verbesserungsvorschlägen darf nicht als Affirmativität missverstanden werden. Indem die Eule der Minerva erst mit dem Einbruch der Dämmerung losfliegt37, wartet sie ab, bis sich die grellen Farben des Tages zurückgenommen haben, um im Schattenriss der Gestalten deren Wesentliches leichter zu erkennen. In der Philosophie des Rechts geht es darum, das Wesentliche am Recht zu erfassen. Der Blick für das Wesentliche geht durch die Erscheinungen hindurch und ihnen auf den Grund38. Die Vielfalt und den Wandel der Erscheinungen aufzuzeichnen ist die Aufgabe von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, die für Hegel „außer dem Verhältnis mit der philosophischen Betrachtung [stehen]“39. Bereits dies zeigt, dass Hegels berühmter Satz über das Verhältnis des Wirklichen und des Vernünftigen selbstverständlich nicht so zu lesen ist, dass das gerade Wirkliche jeweils auch das Vernünftige ist. Damit würden der Gegenstand der Rechtsgeschichte und der Rechtsphilosophie zusammenfallen. Jedoch: „[E]ine Rechtsbestimmung kann sich aus den Umständen und vorhandenen Rechtsinstitutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein.“40 Der Gegenstand der Rechtsgeschichte kann also unvernünftig oder vernünftig sein, der Gegenstand der Rechtsphilosophie muss aber jene Form der Allgemeinheit haben, die das Notwendige an diesem Gegenstand sehen lässt, das, was prinzipiell nicht so oder anders sein kann.41 Indem Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte derart unterschiedlich auf den Gegenstand des Rechts bezogen sind, können sie „insofern eine gleichgültige Stellung nebeneinander behalten“42. Bei dieser friedlichen Koexistenz bleibt es aber vielfach nicht, weil der Anspruch auf Rechtsgelehrtheit, so jedenfalls Hegels Beobachtung, Bedeutung materieller Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft („System der Bedürfnisse“) wie ganz besonders die Abschnitte über den Übergang vom Rechtsstaat zum Sozialstaat, von der Form des Rechts zu den besonderen Anforderungen des Wohls, belegen, vgl. GPhR, S. 338 ff. (§§ 181 ff.). 35  GPhR, S. 25 (Vorrede). 36  GPhR, S. 26 (Vorrede). 37  GPhR, S. 28 (Vorrede). 38  Zur Ambiguität dieses Begriffs s. GPhR, S. 43 f. (Anm. zu § 3 und Anm. zur Anm. zu § 3). 39  GPhR, S. 35 (§ 3), Kursivierungen im Original weggelassen. 40 GPhR, S. 36 (§ 3). Zum Verhältnis von Recht und Unrecht bei der Sklaverei siehe S. 122 ff. (§ 57). 41  Das begrenzte philosophische Interesse am rein positiven Recht begründet Hegel damit, dass es sich nicht vernünftig begründen lässt, GPhR, S. 366 (§ 214). 42  GPhR, S. 37 (§ 3).

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oftmals da verortet wird, wo es auf die äußeren Umstände und nicht auf die innere Vernünftigkeit ankommt. Diese Form der Gelehrtheit sei in „historischen Detail[s] eingeengt“43, die denen, die der Sache wirklich auf den Grund gehen wollten, „sehr überflüssig“44 erscheine. Diese Art der Gelehrtheit ärgert Hegel: „[D]er Hochmut zu meinen, bei der gelehrten Kenntnis habe man schon für sich die vernünftige Erkenntnis – rächt sich dann auch; – es geht nicht, es gibt Stellen, wo es auf Gedanken ankommt; – man kann sich nicht erwehren auch auf das Allgemeine zu kommen.“45 Dass Hegel damit die gesamte Rechtsgeschichte diskreditieren wollte, ist kaum anzunehmen, seine Kritik bezieht auf ein bestimmtes Stereotyp der selbstgenügsamen, sich in unübersehbaren Einzelheiten verlierenden Rechtshistorie, die gar nicht mehr in der Lage ist anzugeben, warum und aus welchem Gesichtspunkt ihr Gegenstand von allgemeinem Interesse sein soll. Wenn Hegel davon spricht, dass es notwendig ist, auf das Allgemeine zu kommen, so meint er nicht das abstrakte Allgemeine, Allgemeines in der Gestalt von Gattungs- oder Oberbegriffen, sondern das konkrete Allgemeine: „[D]as Konkrete und Wahre (und alles Wahre ist konkret) ist die Allgemeinheit, welche zum Gegensatze das Besondere hat, das aber durch seine Reflexion in sich mit dem Allgemeinen ausgeglichen ist.“46 Das Besondere ist nicht im Allgemeinen enthalten wie in einem Behälter, sondern beide stehen in einem Reflexionsverhältnis. Ein historisches Phänomen ist dann bedeutsam, wenn es nicht nur Exemplar einer historischen Kategorie, sondern auch für uns alle und für uns heute von Interesse ist. Dass wir alle an etwas interessiert sind, ist nämlich die Verwirklichung jener konkreten Allgemeinheit, um die es im spekulativen Denken wesentlich geht. III. Der freie Wille und das konkrete Allgemeine als verwirklichte Freiheit Für das spekulative Denken gibt es keine Methodenlehre, die Wissenschaft der Logik jedenfalls stellt keine solche dar. Der Sinn der spekulativen Methode entfaltet sich am Gegenstand selbst. Spekulativ denken bedeutet im Wesentlichen, dass man in unbefangener Weise47, nicht in gelehrter Selbstbezogenheit verharrend, sondern indem man sich auf seine natürliche Einsicht verlässt48, versucht, den notwendigen   GPhR, S. 44 (Anm. zur Anm. zu § 3).   GPhR, S. 44 (Anm. zur Anm. zu § 3). 45  GPhR, S. 45 (Anm. zur Anm. zu § 3). 46  GPhR, S. 55 (§ 7). 47  Dass das Wirkliche das Vernünftige ist und das Vernünftige das Wirkliche, ist für Hegel die Überzeugung „jedes unbefangene[n] Bewusstseins“, GPhR, S. 25 (Vorrede). 48  Zum Teil wird angenommen, Hegel sei gegen den gesunden Menschenverstand eingestellt gewesen, was zum Stereotyp der philosophischen Anmaßung passt. Die Annahme ist aber falsch, denn Hegel erläutert die spekulative Figur des konkreten Allgemeinen unter Bezug auf den gesunden Menschenverstand. In seiner Kommentierung notiert er: „[W]as ist spekulativ? 43 44

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Zusammenhang zwischen den einzelnen Erscheinungen zu erkennen und dadurch als sich entwickelndes Ganzes49 zu erfassen – wobei es wichtig ist, die Entwicklung des Ganzen im Wesentlichen nicht als zeitliche Sukzession, sondern als immanente Notwendigkeit einer verdichtenden Beschreibung zu begreifen. Die Reihenfolge der Beschreibung enthält keine Theorie über die Genese der Phänomene, sie bedeutet kein Vorher oder Nachher. Man kann, in Umkehrung der Darstellungsfolge der Grundlinien, auch mit dem Staat anfangen und zum Vertrag hin abstrahieren.50 Dass Hegel mit der Materialisierung der Rechtsperson im Eigentum und ihrer Verschränkung mit anderen Rechtspersonen im Vertrag beginnt und dann über die für das Synallagma dysfunktionalen Mentalreservationen und Eigeninteressen zu jener durch die (aktiv auf Übervorteilung und Betrug, reaktiv auf Rache gerichteten) Einzelinteressen hindurch gehenden und über ihnen stehenden Organisationsform übergeht, für die der Name des Staates (als Index eines anderen Status) steht, folgt nur der Logik der verdichtenden Beschreibung. Staat als transkontraktuale Regelungsform ist immer schon auch im Vertrag anwesend: in der Notwendigkeit der unparteiischen Entscheidung und der Entprivatisierung des Sozialkonflikts. Und umgekehrt liegt der Vertrag als formale Reziprozität immer schon der Verfassung des modernen Staates zugrunde, als das, was garantiert, dass die Vertragsparteien über ihr Eigeninteresse hinaus auch etwas gemeinsam wollen und sich um dieses Gemeinsamen willen als Freie und Gleiche anerkennen.51 Dass man wesentliche Zusammenhänge sieht und dabei versucht, das Ganze im Blick zu behalten – damit ist Hegels spekulative Methode im Kern umschrieben und man könnte ihr ganz natürlich und unbefangen folgen, wenn Hegel natürlicher geschrieben hätte, was er aber bekanntlich nicht getan hat. Durch die eigenwillige Sprache droht hermeneutische Verkrampfung, schlimmer noch, der Eindruck von Unsinn52. Selbst Adorno bemerkt: „Im Bereich großer Philosophie ist Hegel wohl der einzige, bei dem man buchstäblich zuweilen nicht weiß und nicht bündig entscheiden kann, wovon überhaupt geredet wird, und bei dem selbst die Möglichkeit solcher Entscheidung nicht verbrieft ist.“53 Es verwundert also nicht, wenn einige für sich entscheiden, die Finger von Hegel zu lassen. Wenn man sich aber mit seinen Texten sinnvoll beschäftigen möchte, ist es wichtig, Übersetzungsleistungen zu erbringen.54 Nicht nur ist es ein Gebot der Selbstachtung, dass man Eigentüm– Das Konkrete, Anschauung, gesunder Menschenverstand […] – Philosophie zum gesunden Menschenverstand zurück“, GPhR, S. 56 (Anm. zu § 7). Gegen die bloße Reflexion erneuert spekulatives Denken die Wahrheit des gesunden Menschenverstandes. 49  Zur Notwendigkeit des Ganzen s. etwa GPhR, S. 48 (§ 4). 50  Vgl. GPhR, S. 397 f. (§ 256). 51  Vgl. zum Vertrag als Anerkennungs- und Vernunftform, GPhR, S. 152 ff. (§§ 71, 72). 52  Zum Vorwurf der Sinnleere Adorno, Drei Studien zu Hegel (Fn. 5), S. 89. 53  Adorno, Drei Studien zu Hegel (Fn. 5), S. 84. 54  Exemplarisch etwa Taylor, Hegel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983. Bei der erforderlichen Übersetzungsleistung geht es vor allem auch um systematische Vernachlässigung der redundanten Anteile der Darstellung, die bei Hegel erheblich sind.

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lichkeiten des Sprachgebrauchs nicht imitiert, es ist vor allem eine Bedingung, Gedanken allgemein und für alle zugänglich zu machen. Spekulativem Denken lässt sich eine Struktur entnehmen, die man ohne weiteres auf drei Begriffe bringen könnte: Unmittelbarkeit, Vermittlung, Aufhebung55. Damit ist aber noch nicht viel gewonnen und noch nicht viel gesagt. Die Aussagekraft des spekulativen Denkens entfaltet sich subtiler, in der Durchführung am Material selbst. In den Grundlinien führt Hegel nach einer Abgrenzung der Rechtsphilosophie von Rechtspolitik, Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte (Vorrede und §§ 1 – 3) in den Gegenstand der Rechtsphilosophie über den Begriff des freien Willens ein (§ 4). Der Wille ist notwendig frei, was jede herkömmliche Diskussion darüber, ob es den freien Willen gibt, übersieht. Indem ich überhaupt vom Willen spreche, gehe ich von der Freiheit aus, freier Wille ist ein Pleonasmus, was allerdings nur aus dem institutionellen Ganzen hervorgehen kann. In unseren institutionellen Arrangements, in der gesamten sozialen Welt, ist die Annahme des Willens derart ursprünglich angelegt, dass schon die Rede von einer „unvermeidlichen Unterstellung“ irreführend wäre. Aus der Darstellung, der Beschreibung der sozialen Welt geht die Realität des Willens hervor und aus ihr geht die Freiheit hervor. Deswegen hat Hegel völlig Recht, wenn er bemerkt, dass „[w]enn man […] nur vom freien Willen […] spricht […] eben damit […] nicht vom freien Willen [spricht]“56. Diese treffende Kritik entzieht dem herkömmlichen Streit um die Willensfreiheit den Boden. Der Streit ist buchstäblich gegenstandslos. Aus dem Begriff des Willens entfaltet Hegel in der Einleitung die zentrale Figur spekulativen Denkens, nämlich die des konkreten Allgemeinen (§§  5 – 7). Dabei ist nichts vorausgesetzt, wie Hegel selbst hervorhebt, als was im „Selbstbewusstsein eines jeden“57 anzutreffen ist. Dieser Hinweis ist wichtig, weil gerade die Einleitungsparagraphen in eigenwilliger Sprache verfasst sind und so auf den ersten Blick den Eindruck erwecken könnten, es gehe um reine Abstraktion und gänzlich erfahrungsferne Überlegungen. Indem Hegel mit dem Willen beginnt, kommt gleichsam ganz von alleine Bewegung in die Sache, weil der Wille eine dynamische Wirklichkeit hat, nichts ist, was in sich verharren kann. Deswegen hält Hegel den Willen – in § 5 – nur für einen Moment pro forma fest, als etwas, das „das Element der reinen Unbestimmtheit [enthält] oder der reinen Reflexion des Ich in sich“58. Es bringt nicht viel, diese Wendung aufzuschlüsseln, man hat in der reinen Unbestimmtheit nicht viel, an dem man sich festhalten kann, um weiteres herauszufinden. Der Begriff der Unbestimmtheit ist unbestimmt. Das einzige, was man tun kann, ist, ihn zu variieren oder zu veranschaulichen. Eine wichtige Variation des Gedankens der Unbestimmtheit des Willens ist die Schrankenlosigkeit, eine wichtige Veranschaulichung der Selbstmord. Der ursprüngliche Wille ist un  Zu dieser abstrakten Struktur Hegel, Wissenschaft der Logik II (Fn. 6), S. 561 ff.   GPhR, S. 74 (§ 22). 57  GPhR, S. 49 (§ 4). 58  GPhR, S. 49 (§ 5), Hervorhebungen im Original weggelassen. 55 56

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begrenzt, aber eine grenzenlose Macht ist er nur gegen sich selbst, was sich in der Möglichkeit zeigt, sich selbst auszulöschen: Identität von Sein und Nichts. In dieser Möglichkeit erweist sich der Wille lediglich als „negative Freiheit“, als „Furie des Zerstörens“.59 Die positive Freiheit ergibt sich daraus, dass der Wille sich nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu anderem oder anderen in ein Verhältnis setzen kann. Ich will etwas ist also das eine, das andere ist Was willst Du? Das Ich, schreibt Hegel, unterscheidet, bestimmt und setzt.60 „Ich will nicht nur, sondern ich will Etwas“61. Und zwar nicht nur einfach und irgendwie Etwas, sondern „Etwas – als das Meinige bestimmt.“62 Mit dieser Bestimmung ist zugleich auch die Dimension des Deinigen eröffnet, ohne die ich nichts als Meines unterscheiden, bestimmen oder setzen kann. Dieses Unterscheiden, Bestimmen oder Setzen ist notwendig ein Beschränken. Ich kann nicht alles wollen, wenn ich alles will, komme ich wieder in die Situation des ungebändigten Selbstbezugs und ich verliere am Ende alles, auch mich selbst. Wenn ich etwas haben will, kann ich es nur in beschränkter oder abgegrenzter Form haben, in der Form des Unterschiedes zwischen Mein und Dein. „Beschränken“, kommentiert Hegel, „man gebe seine Freiheit auf – steige herab von seiner Höhe […] – Die Frage ist, worin die Schranken liegen“63. Bezieht man den Unterschied des Meinigen und Deinigen auf die Personen, die dahinter stehen, ist klar, worin die Schranke liegt: in der zweiten Person, dem Du.64 Die Beschränkung ist zugleich der wesentliche Schritt zur nicht bloß negativen, selbstzerstörerischen, sondern zur wahren Freiheit. Hobbes hat demonstriert, wie die ursprüngliche ungebändigte Freiheit zugleich völlige Unfreiheit, ein erbärmliches Leben ist. Sein „Right to Everything“ ist Hegels „Furie des Zerstörens“65: Wenn sich die vielen Einzelwillen weigern, sich zu bestimmen und sich zueinander in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen, stoßen sie ständig aneinander, greifen ständig aufeinander über, es kommt zum Krieg aller gegen alle, und es leuchtet ein, dass es vernünftig ist, sich in Abstimmung mit den anderen zu bescheiden, so dass Meines grundsätzlich in eben der Form und eben dem Umfang eingerichtet wird, in dem auch Deines eingerichtet wird. In dieser Reziprozität entsteht ein transpersonales, aber eben gleichwohl konkretes Allgemeines, das unser gemeinsames Interesse an diesem Status ist, konkrete Freiheit, in deren Bewusstsein der Gegensatz von Ich und Du aufgehoben ist, ohne dass beide verloren gegangen wären: Wir.66 Dass wir daran interessiert sind, diesen Zustand zu erhalten, ist unsere Freiheit. Sie gründet   GPhR, S. 50 (§ 5).   GPhR, S. 52 (§ 6). 61  GPhR, S. 53 (Anm. zu § 6). 62  GPhR, S. 53 (Anm. zu § 6). 63  GPhR, S. 53 (Anm. zu § 6). 64  GPhR, S. 61 (Anm. zu § 10): „[Z]um Bes[chränken] gehören zwei“. 65  GPhR, S. 50 (§ 5). 66  Zur Struktur des interpersonell konkreten Allgemeinen Honneth, Das Ich im Wir, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012. 59 60

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in dem wechselseitigen einvernehmlichen Sich-Zurücknehmen, das gerade keinen Verlust von Freiheit, sondern einen Gewinn echter Freiheit bedeutet. Erst wenn die Spielräume des Willens horizontal koordiniert und vertikal stabilisiert sind, entsteht ein System verwirklichter Freiheit, ein solcher Status, wenn man so will, in Hegels Worten, der Staat.67 Hegel kritisiert in diesem Zusammenhang die berühmte Formel Kants, wonach das Recht die Konkordanz der individuellen Freiheitssphären durch ein allgemeines Gesetz garantiere, als einseitig und äußerlich und er führt sie auf Rousseau zurück.68 Diese Kritik der Gesellschaftsvertragstheorie, die im Vorwurf der „Seichtigkeit“69 gipfelt, ist unverständlich. Nicht erst bei Rousseau, sondern schon bei den Vorläufern ist es evident, dass es natürlich der Einzelwille als „immanent Vernünftiges“70 ist, das ihn über sich selbst hinaustreibt und das System der verwirklichten Freiheit hervorbringen lässt. Wie Hegel auf den Gedanken kommen kann, erst er selbst habe entdeckt, dass in dem Vorgang immanente Vernunft am Wirken ist, ist unerfindlich und gehört zu den schwächeren Partien seiner Rechtsphilosophie. Gegen seine Selbstdarstellung ist festzuhalten, dass Hegel in die gesellschaftsvertragstheoretische Tradition gehört, die er freilich in wesentlichen Hinsichten, vor allem im Hinblick auf die materiellen Reproduktionsbedingungen von Gesellschaft, erweitert und vertieft. IV. Die spekulative Struktur des Rechts Die spekulative Struktur des Willens beschreibt nichts Außergewöhnliches, sie beschreibt im Wesentlichen, wie die Verwirklichung von Freiheit eine Herstellung und Verwandlung von Reziprozität bedeutet: Ich und Du, wir machen gemeinsame Sache, vereinfacht gesagt. In der Einleitung der Grundlinien findet sich eine Variation der spekulativen Bewegung des Willens, die durch die Begriffe der Triebe, der Willkür und des (wahren) Willens markiert werden (§§ 8 ff.). Die Überlegung setzt hier so ein: „Ich finde mich so und so bestimmt; – habe diese Triebe – […] wie das Tier“71. Hegel abstrahiert in diesem ersten Schritt zunächst von der immanenten 67  Wichtig ist auch zu sehen, dass die Transformation des interpersonalen Verhältnisses keine unterschiedslose Identifikation mit der Gemeinschaft oder dem Staat bedeutet, so wie die aliénation totale bei Rousseau nicht bedeutet, dass die volonté particuliere komplett absorbiert würde. Sie bedeutet, wie Rousseau hervorhebt, dass es, wenn Freiheit konkret sein soll, irgendeinen Punkt geben muss, in dem alle übereinstimmen, denn „wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben.“, Vom Gesellschaftsvertrag, übers. u. hrsg. v. H. Brockard, Stuttgart: Reclam, 1977, 2. Buch, Kap. I, S. 55. Im Verfassungsstaat betrifft dies die unterschiedslose Verbindlichkeit des Rechts für alle und die Gleichheit vor dem Gesetz. 68  GPhR, S. 80 f. (§ 29). 69  GPhR, S. 81 (§ 29). 70  GPhR, S. 81 (§ 29). 71  GPhR, S. 62 (Anm. zu § 11).

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Vernunft des Triebes, um sie dann wirkungsvoller ins Spiel bringen zu können, so dass er insoweit eben genau jene Form der Darstellung wählt, die auch die Klassiker der Gesellschaftsvertragstheorie vor ihm gewählt haben.72 Die Triebe geraten in eine abstrakte widersprüchliche Form der Freiheit, wenn sie gewillkürt werden: „Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als der Widerspruch.“73 Ich will dies und das, also nehme ich es mir usf. Dieses Reich der Willkür ist eine Kampfzone, permanentes Aufeinanderprallen konfligierender und einander widerstrebender Triebinteressen. Deswegen muss die äußerliche Freiheit, wonach man tut, was man will (und damit letztlich sich und anderen schadet), in eine höhere Form der Freiheit überführt werden, in der die Triebe zurückgenommen und zum Ausgleich gebracht sind. Diesen Zustand benennt Hegel nun ausdrücklich als Rechtszustand. Über die landläufige Forderung, dass die Triebe „gereinigt“ werden müssen, sagt Hegel: „Das Wahrhafte dieser unbestimmten Forderung ist, dass die Triebe als das vernünftige System der Willensbildung seien; sie so aus dem Begriff zu fassen, ist der Inhalt der Wissenschaft des Rechts.“74 Für die Rechtsphilosophie, der es auf das Wesentliche im Recht ankommt, ist es gleichgültig, ob man die Triebe als etwas Gutes oder etwas Schlechtes anspricht, im übertragenen Sinne trifft beides in gewisser Weise und im gleichen Umfang zu. Ob der Mensch gut oder böse ist, die beliebte Frage nach dem „Menschenbild“, ist überhaupt keine philosophische Überlegung, sondern stellt allenfalls eine Vorform des Gedankens dar.75 Es ist gleichgültig, ob man von den Trieben als etwas Unvernünftigem oder als immanent Vernünftigem ausgeht, entscheidend ist, dass die Triebe notwendig über sich hinaustreiben und ein System des Ausgleichs und der Moderation anstreben, das System des Rechts als Ausdruck der verwirklichten und entwickelten Freiheit. Für das Verständnis dieses Systems ist es wichtig zu sehen, dass eine strikte Trennung von positivem und natürlichem Recht unergiebig und nicht sinnvoll ist. Auch diesen Punkt hat Hegel nicht als erster erfasst, wir finden schon in älteren Texten den Gedanken der Übereinstimmung, Überschneidung oder wechselseitigen Verweisung von positivem und natürlichem Recht.76 Hegel hebt hervor, dass es irrig wäre, einen Gegensatz zwischen natürlichem und positivem Recht zu konstruieren, wie es dann später zum Teil unter Verkennung der reflexiven Struktur des 72  Hobbes beschreibt genau diese erste Stufe des Triebhaften, bei der es, wie auch Hegel feststellt (vgl. ebd., S. 62, Anm. zu § 11) nicht nur um animalische Triebe geht, sondern auch um sublimierte Formen wie Mitleid, Ehre, Ruhm (vgl. Leviathan, 1. Teil, Kap. VI). 73  GPhR, S. 66 (§ 15). 74  GPhR, S. 70 (§ 19). 75  So völlig zutreffend Hegel, GPhR, S. 69 (§ 18), wonach „[d]as Entscheidende für die eine oder die andere Behauptung […] gleichfalls die subjektive Willkür [ist]“. 76  S. etwa Hobbes: „The Law of Nature, and the Civill Law, contain each other, and are of equall extent”, Leviathan (Norton Critical Edition), hrsg. v. R. E. Flatman u. D. Johnston, New York, London 1997, S. 134 (2. Teil, Kap. XXVI).

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Rechts geschehen ist. Er schreibt: „Dass das Naturrecht oder das philosophische Recht vom positiven verschieden ist, dies darein zu verkehren, dass sie einander entgegengesetzt und widerstreitend sind, wäre ein großes Missverständnis“77. Man kann allerdings sagen, dass Hegel die Überblendung von formalem und außerformalem Recht radikal wie kaum ein anderer durchführt. Er schreibt nämlich: „Wenn vom Gegensatze der Moralität, der Sittlichkeit gegen das Recht gesprochen wird, so ist unter dem Rechte nur das erste formelle der abstrakten Persönlichkeit verstanden. Die Moralität, die Sittlichkeit, das Staatsinteresse ist jedes ein eigentümliches Recht, weil jede dieser Gestalten Bestimmung und Dasein der Freiheit ist. In Kollision können sie nur kommen, insofern sie auf gleicher Linie stehen, Rechte zu sein“78. Das Besondere Hegels liegt darin, dass der „Staat“, als autorisierter Rechtssetzer herkömmlich in seiner Funktion als Generator des positiven Rechts betrachtet, nunmehr als das Dritte der spekulativen Bewegung auftritt, die über das äußerliche Formalrecht und bestimmte Formen der Verinnerlichung oder inneren Einstellung (bei denen es im Übrigen eher um Kriminalität als um Moralität geht79) zu einem Zustand konkret verbindlicher Normativität führt, für den Hegel auf den Ausdruck der „Sittlichkeit“ zurückgreift80 und der durch den wirklichkeitshaltigen institutionellen Status des „Staates“ garantiert wird. Offenkundig bedeutet „Staat“ hier mehr als lediglich eine autorisierte Normsetzungsinstanz, als welcher ihn der Staatswillenspositivismus begreift. Der Begriff steht für die institutionelle und soziale Gesamtheit einer Gesellschaft, so dass sich gerade im Begriff des Staates als des Dritten in der spekulativen Verwirklichung des Rechts die rechtssoziologische Seite der Hegelschen Rechtsphilosophie offenbart. Man muss sich also vom herkömmlichen staatsorganisationsrechtlichen Begriff des Staates lösen und einen soziologischen Staatsbegriff verwenden, um zu verstehen, warum der Staat bei Hegel diese umfassende Bedeutung hat. Schon gar nicht darf man herkömmliche staatskritische Vorstellungen mit dieser Bestimmung des Staates verwechseln. Es steht außer Frage, dass der Staat nicht nur Freiheit garantieren, sondern (in besonders effektiver Weise sogar) Freiheit auch vernichten kann81; hier geht es aber zunächst nur um die Überlegung, dass Freiheit lediglich in organisierter und strukturierter Form verwirklicht werden kann. Inwieweit diese strukturierte Form mit der politischen und historischen Form des Nationalstaats konvergiert, ist eine Frage, die im Kontext der Hegelschen   GPhR, S. 35 (§ 3).   GPhR, S. 83 (§ 30). 79  In GPhR, § 140 entwickelt Hegel eine erstaunlich moderne Theorie der Moralumkehr, die das sozialpsychologische Konzept der Referenzrahmenverschiebung oder die Kriminologie der Neutralisierungstechniken vorwegnimmt. 80  Zur Terminologie GPhR, S. 88 (§ 33). 81  Der Staat muss sogar Freiheit vernichten, um dafür zu sorgen, dass das Wohl zu seinem Recht kommt (vgl. GPhR, § 230). 77 78

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Rechtsphilosophie nicht vollständig beantwortet werden kann. Der Text endet mit befremdlichen Geschichtsspekulationen über den Wechsel der „welthistorischen Reiche“82, bei denen man im ersten Moment befürchten mag, dass sie einer Verengung der Wahrnehmung auf kulturelle Stereotype Vorschub leisten könnten. Formal dürften diese Passagen, dürfte bereits der Begriff des „Reiches“ jedoch offenlegen, dass weltgeschichtliche Formen von Staatlichkeit für die Philosophie des objektiven Geistes eine Gestalt konkretisierter Freiheit darstellen und dass es – bislang jedenfalls – keine Gestalt gibt, in der die Geschichte ein für alle Mal untergegangen wäre.83 An den historischen Erscheinungsformen des Staates ist die Philosophie des Rechts aber nicht interessiert, wie Hegel klar stellt84 und daher sind alle Stellungnahmen uninteressant, die in den Grundlinien eine Legitimation der konstitutionellen Monarchie, vielleicht noch in der Gestalt des preußischen Systems, erblicken. Hegel erkennt die Notwendigkeit einer Konstitutionalisierung von Staatlichkeit, das ist das Wesentliche. Alle direkten oder indirekten Referenzen auf historische Regierungssysteme sind demgegenüber kontingent. Liest man Hegels Ausführungen über Wirtschaftsregulierung, Beamtenstaat und die Gubernativmacht lässt sich das heute völlig angemessen auf ein transstaatliches Gebilde wie die Europäische Union anwenden. Die geschichtlichen Erscheinungen des Staates sind für Hegel Manifestationen der „Volksgeister“, deren Recht an der entwickelteren Wahrheit des Weltgeistes ausgerichtet ist.85 Im konzeptuellen Rahmen dieser Philosophie liegt, dass der Staat oder das völkerrechtliche System der Staaten in Anerkennungskämpfen über sich hinaustreiben muss.86 Gegen Kants Idee des ewigen Friedens findet sich bei Hegel kein Einwand, sondern nur die Feststellung, dass sie die aus gegenwärtiger Perspektive unwahrscheinliche Konstellation der „Einstimmung der Staaten“87 voraussetzt. Die Geschichtsspekulation der Grundlinien greift nicht der Spenglerschen vor, ausdrücklich grenzt sich Hegel von fatalistischen Vorstellungen einer ewigen Wiederkehr des Gleichen ab und artikuliert seine Hoffnung auf eine der Herausbildung höherer moralischer Stufen im individuellen Bildungsprozess analoge Gattungsentwicklung: Menschheitsgeschichte als Bildungsgeschichte.88 Das bestehende System der Staaten kann die Vernunft aber nicht absehbar verwirklichen, deswegen kann es hier nur Diplomatie, nur Klugheit statt Vernunft geben.89 Ungeachtet der strukturellen Vernünftigkeit des Staates sind nach Hegel die konkreten Erschei  GPhR, S. 509 (§ 349).   Zum Anfang der Geschichte GPhR, S. 507 (§ 349). 84  GPhR, S. 399 f. (§ 258). 85  GPhR, S. 503 (§ 340). 86  Zu den Kämpfen um Anerkennung GPhR, S. 508 (§ 351). Allgemein zur völkerrechtlichen Anerkennung GPhR, S. 498 f. (§ 331). 87  GPhR, S. 500 (§ 333). 88  Vgl. GPhR, S. 504 (§ 343). 89  GPhR, S. 501 f. (§§ 336, 337). 82 83

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nungsformen dieser Form zur Verwirklichung der Vernunft nur bedingt geeignet.90 Wegen dieses Stachels im Fleisch des Staates muss man hegelianisch auch noch den Staat als Reflexionsform denken und notwendigerweise Recht immer auch als Koordinationsmechanismus zwischen den Staaten und über deren Erscheinungsform hinaus als Weltrecht denken. Summary There is no doubt that Hegelʾs Elements of the Philosophy of Right belong to the most influential contributions to the philosophy of law. However, there is a widespread reservation against the text at the same time. Hegel is considered difficult to read and partly incomprehensible. Those who go into the matter get involved into a kind of bipolar discourse: you are either one of the followers or the haters, to put it in familiar terms. This is a sign that something is wrong. It shows that fresh approaches are required, beyond sterile interpretative stereotypes and traditional readings, and the present text would like to contribute to this. It tries to show that one need not be afraid of Hegel if one approaches him without too much historical-philological qualms and gets rid of the persistent error of hermeneutic originalism. To get along with Hegel it is necessary to avoid sticking to individual sen­tences, but open up to the development of the whole texture. This texture should not be taken as representing a temporal succession, but as a condensing description. The description starts with the notions of abstract entities and norms like “I”, property and freedom and shows what is necessarily and reasonably connected with them, thus developing a complete and universal panorama of our fundamentally intersubjective world. This world arises from the authorizing and obligatory mutual relation of me to you and you to me and the resulting common and general interest in the maintenance of a transformative status, which can be referred to as “the state”.

90 Vgl. schon GPhR, S. 42 f. (Anm. zu § 3). Die Unvernunft im Staatenverhältnis findet vollständig Ausdruck in dem Umstand, dass dieses Verhältnis ein „höchst bewegte[s] Spiel […] der Leidenschaften, Interessen, Zwecke [ist] – ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbstständigkeit des Staats, der Zufälligkeit ausgesetzt wird“, GPhR, S. 503 (§ 340).

Menschenwürde und Haltung Zur Konkretisierung der Menschenwürde in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz Andreas Funke

I. Problemstellung Vor einigen Jahren wurde mit höchster Intensität um die Frage gerungen, ob der Staat in bestimmten Situationen Menschen töten darf, um andere Menschen zu retten. Im Mittelpunkt der Debatte standen die Rettungsfolter und die Abwehr terroristischer Angriffe, deren großes Gewalt- und Vernichtungspotential praktisch kaum beherrschbar ist. Die Diskussion um terroristische Angriffe konzentrierte sich, die Anschläge vom 11. September 2001 vor Augen, auf die staatliche Befugnis, im Fall von Flugzeugentführungen militärische Mittel gegen das Flugzeug einzusetzen. Welcher Status sollte den unbeteiligten Passagieren und der Crew zukommen? Der deutsche Gesetzgeber schuf im Jahr 2005 im Luftsicherheitsgesetz eine Befugnisnorm, die im Falle eines schweren Unglücksfalles erlauben sollte, Waffen gegen ein entführtes Flugzeug einzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Norm in einer aufsehenerregenden Entscheidung vom 15. Februar 2006 für verfassungswidrig.1 Zum einen sprach es der Bundeswehr die Kompetenz ab, zur Gefahrenabwehr militärische Mittel einzusetzen.2 Zum anderen, und dies war der in der Sache entscheidende Grund, verstieß die Abschussbefugnis nach Auffassung des Gerichts gegen die Menschenwürde der entführten Passagiere. Damit verletzte das Gesetz Art. 1 Abs. 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“). In der Literatur stieß die Entscheidung auf Zustimmung wie auch auf Ablehnung,3 wobei nicht zuletzt die Art und Weise der Interpretation des Menschenwür  BVerfGE 115, 118.   Zur Frage, ob insofern das geschriebene Verfassungsrecht durch ein Notrecht des Staates überwunden werden kann, siehe Andreas Funke, „Die Verfassung im Staatsnotstand. Insbesondere zum geltungstheoretischen Argument für ein ungeschriebenes Notrecht des Staates im Ausnahmezustand“, in: Cornel Zwierlein (Hrsg.), Sicherheit und Krise. Interdisziplinäre Beiträge der Forschungstage 2009 und 2010 des Jungen Kollegs der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Paderborn u. a. 2012, S. 141 – 161. 3 Zustimmung: Christian Starck, in:  Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 7. Aufl., München 2018, Art. 1 Rn. 78; Wolfram 1 2

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desatzes Bedenken hervorrief. Ihr gehen die folgenden Überlegungen nach. Die zentrale Frage soll noch einmal gestellt werden: Verletzt der Staat die Menschenwürde der entführten Passagiere, wenn ein Amtsträger das Flugzeug abschießt, in dem sie sich befinden? II. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts Gegenstand der Entscheidung des BVerfG war § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes: „Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“ Das Gericht sieht in der Einwirkung einen Eingriff in das Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Da dieses Grundrecht unter Gesetzesvorbehalt steht, ist zu prüfen, ob das Luftsicherheitsgesetz als grundrechtsbeschränkendes Gesetz seinerseits weiteren verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt. Insofern kommt es auch auf Art. 1 Abs. 1 GG als Maßstab an. Mit dieser Vorgehensweise erübrigte sich für das Gericht eine Stellungnahme zu der umstrittenen Frage, ob Art. 1 Abs. 1 GG selbst ein Grundrecht ist. Den ersten Schritt zur Lösung des Problems geht das Gericht, indem es die sogenannte Objektformel aufgreift, die es schon früh in seine Rechtsprechung integriert hatte. „Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen.“4 Die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde, so heißt es nun einmal mehr, schließe es „generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen“.5 Dies geschehe aber, wenn von der im Luftsicherheitsgesetz enthaltenen Abschussermächtigung Gebrauch gemacht werde. Sicherlich seien es zunächst die Täter, die die Passagiere als Objekt nutzen. Aber bei diesem Umstand könne die Betrachtung nicht stehen bleiben. Es folgt die zentrale Begründung, die es verdient, im vollen Wortlaut wiedergegeben zu werden: „Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze andeHöfling, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl., München 2018, Art. 1 Rn. 22; Wolf-Rüdiger Schenke, „Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG“, Neue Juristische Wochenschrift 2006, S. 736 (738); Mathias Hong, „‘Es gilt, die Dinge zu konkretisieren‘. Die Grundrechte als positiv-rechtliche Interpretation des Menschenwürdebegriffs“, Philosophisches Jahrbuch 124 (2017), S. 192 (211); zuvor schon Wolfram Höfling / Steffen Augsberg, „Luftsicherheit, Grundrechtsregime und Ausnahmezustand“, Juristenzeitung 2005, S. 1080 (1080); Jens Kersten, „Die Tötung von Unbeteiligten. Zum verfassungsrechtlichen Grundkonflikt des § 14 Absatz III LuftSiG“, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2005, S. 661 (662 f.). Nachweise zur Kritik in Fn. 11 – 15. 4 BVerfGE 27, 1 (6). Instruktiv zur Tragfähigkeit der Objektformel Christoph Enders, in:  Karl Heinrich Friauf / Wolfram Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Berlin, Stand 4/2018, Art. 1 Rn. 38 ff. 5  BVerfGE 115, 118 (153).

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rer. Die Ausweglosigkeit und Unentrinnbarkeit, welche die Lage der als Opfer betroffenen Flugzeuginsassen kennzeichnen, bestehen auch gegenüber denen, die den Abschuss des Luftfahrzeugs anordnen und durchführen. Flugzeugbesatzung und -passagiere können diesem Handeln des Staates auf Grund der von ihnen in keiner Weise beherrschbaren Gegebenheiten nicht ausweichen, sondern sind ihm wehr- und hilflos ausgeliefert mit der Folge, dass sie zusammen mit dem Luftfahrzeug gezielt abgeschossen und infolgedessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet werden. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“6

Damit steht für das Gericht fest, dass die gesetzliche Befugnisnorm gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstößt. Nachdem das Gericht bereits zu diesem Ergebnis gelangt ist, schiebt es im Fortgang der Urteilsbegründung eine Auseinandersetzung mit einigen denkbaren und im Verfahren tatsächlich vorgebrachten Einwänden hinterher. Unter anderem ist dies die Überlegung, dass die unbeteiligten Passagiere ohnehin dem Tod geweiht seien. Das menschliche Leben genieße, so das Gericht, gleichen rechtlichen Schutz unabhängig davon, wie lange die physische Existenz des Einzelnen dauere. Ein zweiter Einwand verweist auf eine unter gewissen Umständen bestehende Pflicht des Einzelnen, sein Leben aufzuopfern. Diesen Einwand weist das Gericht nicht generell zurück. Es mögen vielleicht Situationen gravierender Gefahren denkbar sein, in denen eine solche Pflicht greife. Aber das Luftsicherheitsgesetz betreffe solche Situationen nicht. Abschließend weist das Gericht darauf hin, dass dann, wenn sich eine staatliche Abschussmaßnahme allein gegen die Terroristen richte, ein Verstoß gegen die Menschenwürde nicht anzunehmen sei. Es entspreche der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines Handelns zugerechnet würden. III. Die Anwendung der Objektformel Die Ausführungen des BVerfG stehen und fallen damit, ob die Menschenwürde unter Rückgriff auf die „Objektformel“ konkretisiert werden kann und was es genau heißt, dass der Staat den Einzelnen nicht als Objekt behandeln darf. Die Objektformel wird gemeinhin auf die praktische Philosophie Immanuel Kants zurückgeführt.7 Freilich sind die Zusammenhänge komplex: Würde ist für Kant eine Eigenschaft, die der Menschheit als solcher zukommt und die zunächst einmal zu den Bedingungen zählt, unter denen sittliche Pflichten überhaupt denkbar sind.8   BVerfGE 115, 118 (154).   Pars pro toto Starck (Fn. 3), Art. 1 Rn. 17. 8 Ausführlich: Dietmar v. d. Pfordten, „Zur Würde des Menschen bei Kant“, Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 501 ff. 6 7

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Im Mittelpunkt dieser Bedingungen steht der kategorische Imperativ. Kant gibt ihm bei der Explikation und Analyse verschiedene Formulierungen, u. a. mit einer handlungsanleitenden Funktion: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“9 Von hier kann in der Tat eine Linie von Kants praktischer Philosophie zur Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG gezogen werden.10 Aber ist das Ergebnis, das das BVerfG in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz gewinnt, auf der Grundlage einer kantischen Position zwingend? An dieser Frage scheiden sich die Geister.11 Die kritischen Auffassungen lassen sich in zwei Gruppen aufteilen. Die Vertreter der ersten Gruppe gehen davon aus, dass der Abschuss eines entführten Flugzeuges zwar die staatliche Pflicht zur Achtung der Menschenwürde der Passagiere verletzt, dass dies aber wegen der damit verbundenen Erfüllung der Pflicht zum Schutz der Würde (sowie des Lebens) der Menschen am Boden gerechtfertigt sein kann.12 Dieser „Kollisionsansatz“ folgt also noch ein Stück dem Weg, den das BVerfG bei der Konkretisierung der Objektformel einschlägt. Der Schwerpunkt liegt auf einem gegenläufigen Prinzip. Es steht hier letztlich „Würde gegen Würde“. Hingegen verneinen die Vertreter der anderen Gruppe sogar das Vorliegen eines Würdeverstoßes. Dabei lassen sich wiederum zwei Ansätze unterscheiden. Der eine Ansatz konkretisiert die Objektformel anhand von Kausalitätsüberlegungen. Er verneint einen Würdeverstoß deshalb, weil die an Bord befindlichen Passagiere im Falle eines Abschusses nicht als Mittel behandelt werden.13 Denn, so das entscheidende Argument, es lässt sich keine Kausalbeziehung zwischen ihrer Tötung und dem verfolgten Zweck aufstellen. Die Tötung der Passagiere ist nicht Mittel 9  Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe, Bd. IV, Berlin 1968, S. 429. 10 Zum Zusammenhang des kategorischen Imperativs mit der Menschenwürde Joachim Hruschka, „Die Würde des Menschen bei Kant“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 88 (2002), S. 463 (477). 11  Verneinend, aber nur mit knappen Erwägungen: Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl., Paderborn 2007, S. 97; Matthias Herdegen, in: Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz, München, Stand: Nov. 2018, Art. 1 Rn. 96; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I: Art.  1 – 19, 3. Aufl., Tübingen 2013, Art. 1 Rn. 135. Zustimmung zum BVerfG: siehe Fn. 3. 12  Rolf Gröschner, Weil Wir frei sein wollen. Geschichten vom Geist republikanischer Freiheit, Tübingen 2016, S. 171; Josef Isensee, in:  Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Grundrechte in Deutschland, Bd. 4: Einzelgrundrechte I, Heidelberg 2011, § 87 Rn. 107; Christian Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur ‚bedingt abwehrbereit‘?“, Juristenzeitung 2007, S. 209 (217). 13  Reinhard Merkel, „§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?“, Juristenzeitung 2007, S. 373 (380); daran anknüpfend Ralf Müller-Terpitz, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7: Freiheitsrechte, 3. Aufl., Heidelberg / Hamburg 2009, § 147 Rn. 62.

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zur Erreichung eines staatlichen Zwecks, der Rettung der am Boden befindlichen Menschen. Die Tötung der Passagiere kann hinweggedacht werden, ohne dass der angestrebte Erfolg, die Rettung der am Boden befindlichen Menschen, entfiele. Sie ist also nur eine Nebenfolge der staatlichen Handlung. Damit scheidet eine Würdeverletzung entweder definitiv aus14 oder sie liegt aus anderen Gründen – auf die noch einzugehen ist, siehe unter V. – vor. Der andere kritische Ansatz zielt darauf ab, ganz allgemein die Natur von Rechten zu klären und ihre Kollisionen zu strukturieren. Dabei wird vorgeschlagen, Abwägungen von Rechten „deontologischen Beschränkungen“ zu unterwerfen.15 Den Ausgangspunkt bilden die vieldiskutierten Trolley-Fälle, die in ethischen Überlegungen helfen können, Argumente und Positionen zu explizieren und zu präzisieren. Gemeinhin wird dabei ein wichtiger Unterschied darin gesehen, ob eine Person lediglich einer an sich möglichen Rettungsmaßnahme entgegensteht und deshalb geopfert wird oder ob die Person erst benutzt werden muss, um eine Rettung zu ermöglichen. Wer nur als „Verhinderer“ geschädigt werde, werde nicht in seiner Würde beeinträchtigt, wohl aber der „Ermöglicher“. Ein Zug nähert sich einer Weiche und droht, in einen Wagen zu stoßen, in dem sich viele Menschen befinden; an der Weiche steht jemand, der die Weiche umstellen könnte, so dass eine Person getötet werden würde, die sich auf dem anderen Gleis befindet. Die Person ist „Verhinderer“ in diesem Sinne. Unzulässig sei es hingegen, eine Person, die neben dem Gleis steht, als „Ermöglicher“ auf das Gleis zu stoßen, damit der Zug gestoppt wird. Diese Unterscheidungen sollen, so die Theorie der deontologischen Beschränkung in einem zweiten gedanklichen Schritt, auf die Situation des von Terroristen entführten Flugzeuges übertragen werden können. Die Passagiere seien nur „Verhinderer“. Sie würden nicht dazu herangezogen, den Abschuss des Flugzeuges und damit die Rettung der am Boden befindlichen Menschen zu ermöglichen. „Deontologisch“ ist diese Vorgehensweise allerdings nur in einem ganz bestimmten Sinne. Gemeinhin gilt eine ethische Theorie als deontologisch, wenn sie pflichtenorientiert vorgeht. Dies ist bei der Theorie der deontologischen Beschränkung eigentlich nicht der Fall. Der Begriff gewinnt seinen Sinn hier vielmehr daraus, dass die Betrachtung der Folgen einer Handlung nicht abschließend darüber entscheiden soll, ob die Handlung gut oder schlecht ist. Insofern bezieht dieser Ansatz Distanz zu „konsequentialistischen“ Positionen, die allein die Folgen von Handlungen in den Blick nehmen. Die „deontologische Beschränkung“ greift als weiterer Baustein einer umfassenden, komplexen ethischen Würdigung.  So Müller-Terpitz (Fn. 13), § 147 Rn. 62.   Mattias Kumm, „Political Liberalism and the Structure of Rights. On the Place and Limits of the Proportionality Requirement“, in: George Pavlakos (Hrsg.), Law, Rights and Discourse. The Legal Philosophy of Robert Alexy, Oxford 2007, S. 131 ff. Eine Analyse der Figur der „deontologischen Beschränkung“, auch mit Blick auf die Anwendung im Luftsicherheitsgesetz-Fall, bei Kai Möller, „The Right to Life Between Absolute and Proportional Protection“, in: Simon Bronitt / Miriama Gani / Saskia Hufnagel (Hrsg.), Shooting to Kill. Socio-Legal Perspectives on the Use of Lethal Force, Oxford 2012, S. 47 ff. 14 15

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IV. Die handlungsleitende Haltung Offenbar lädt die Objektformel zu divergenten Interpretationen ein. Sie bedarf weiterer Klärung. Erforderlich ist ein genauerer Blick auf Kants praktische Philosophie. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stellt Kant die folgenorientierte und die pflichtenorientierte Sicht moralphilosophischer Fragen scharf gegenüber. Seinen Ausgangspunkt bildet die Frage, nach welchen Richtlinien jemand handelt. Entscheidend ist dabei die Maxime, die der Handlung zugrunde liegt. Die Maxime ist das „subjektive Prinzip des Wollens“, im Gegensatz zum Gesetz als dem objektiven Prinzip, das nach der Vernunft Maxime sein sollte.16 An die Maxime knüpft der kategorische Imperativ an. Er ist ein Kriterium für die Moralität von Handlungen und dient nicht der Genese von Moralität als solcher. Der bereits erwähnte Schritt (unter III.) vom kategorischen Imperativ zur Achtung der Menschenwürde ergibt sich wohl schon analytisch aus dem kategorischen Imperativ; dieser Frage wird hier nicht weiter nachgegangen. Wichtiger als der Gehalt des kategorischen Imperativs ist im vorliegenden Zusammenhang seine Funktion. Er dient nicht dazu, das Ziel einer Handlung (etwa Wohlergehen) zu beurteilen, sondern die hinter ihr stehende Maxime. In den Fokus der moralphilosophischen Betrachtung rückt damit, in den Worten Ronald Dworkins, die anleitende Haltung („attitude as a guide“), von der eine Handlung getragen ist.17 Von der Rolle dieser Haltung hängt alles Weitere ab. Schon was überhaupt als eine Handlung gelten kann, ist keineswegs selbstverständlich. Akt, Intention, Ziel, Gegenstand – dies alles sind Momente eines bestimmten Geschehens, die in ihrer Gesamtheit in Betracht gezogen werden müssen, um eine Handlung zu erfassen. Die Maxime einer Handlung, so diese denn identifiziert ist, lässt sich nicht an äußeren Gegebenheiten ablesen. Maximen sind Konstrukte unserer moralischen Sprache. Ihre Formung und ihre Beurteilung anhand bestimmter Kriterien erfordert komplexe gedankliche Operationen. Ob eine Handlung moralischen Anforderungen entspricht, bedarf eines – in der Terminologie Dworkins – interpretativen Tests. Die Frage kann dann etwa lauten: Welche Handlungen zeigen unter welchen Umständen fehlenden Respekt für die objektive und gleiche Bedeutung des menschlichen Lebens?18 Mit einer solchen Vorgehensweise ist nicht eine subjektive Wertentscheidung verbunden, sondern eine normative Beurteilung, die in ein kohärentes Begründungsmuster eingefügt werden können muss. Erst der Rückgriff auf die handlungsleitende Haltung verleiht der Objektformel ihren Stand. Sie muss so verstanden werden, dass sie „über die konkrete   Kant (Fn. 9), S. 400.   Ronald Dworkin, Justice for Hedgehogs, Cambridge, Mass. 2011, S. 273. Mit der Konzeption von Menschenwürde als Haltung (Eva Weber-Guskar, Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde, Münster 2016) hat dies nichts zu tun. 18  Dworkin (Fn. 17), S. 274. 16 17

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Behandlung als bloßes Mittel hinaus ein prinzipielles Moment einschließt, ein Moment der Infragestellung, Abwertung und Missachtung als Subjekt und Person“19 – das außerordentlich schwierig zu erfassen und zu beschreiben ist. Kants Philosophie weist allerdings in diesem Zusammenhang eine gewisse Leerstelle auf: Dass ein interpretatives Urteil erforderlich ist, um Maximen beschreiben und beurteilen zu können, wurde von Kant selbst nicht sonderlich deutlich herausgestellt. In der Theoriearchitektur wäre hierfür an sich wohl die Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1790 zuständig. Die Spezifizierung moralischer Grundsätze spielt darin aber keine explizite Rolle, sondern der Geschmack und die Naturbetrachtung. Für Kant gibt es in praktischen Fragen keine Urteile, sondern nur Willen und Vernunft.20 Seine Interpreten versuchen, diese Lücke mittels einer Theorie der reflektierenden Urteilskraft zu füllen, die eine hermeneutische Komponente hat.21 Diese Überlegungen sprechen dafür, dass die Unterscheidung eines kantischen – deontologischen – Ansatzes von konsequentialistischen Ansätzen erst unter Rückgriff auf das Element der Urteilskraft ihren eigentlichen Sinn gewinnt. Das interpretative Urteil, ob eine Maxime prinzipiengemäß ist oder nicht, kommt zwar ohne eine Abwägung der Folgen der Handlung nicht aus, bleibt aber auch nicht dabei stehen. Je danach, auf welchem sozialen Feld sich die moralphilosophische Beurteilung bewegt, lassen sich für die Urteilsbildung weitere Kriterien entwickeln. So hat Dworkin für die Begründung von Hilfspflichten eine argumentative Struktur vorgeschlagen, die sich an bestimmten Faktoren orientiert:22 dem Ausmaß des Schadens, den jemand erleidet, dem Aufwand, den ein Handeln zur Schadensbegrenzung beim Handelnden erzeugt, und der persönlichen Nähe zwischen diesen beiden Personen. Kalküle dieser Art entscheiden aber nicht unmittelbar über die Rechtmäßigkeit eines bestimmten Verhaltens. Sie produzieren nicht mechanisch ein bestimmtes Ergebnis. Vielmehr dienen sie dazu, die maßgeblichen moralischen Richtlinien zu identifizieren und zu konkretisieren. Dabei gilt es, Lösungsvorschläge miteinander in Übereinstimmung zu bringen und Systeme von Lösungen zu entwickeln.23 Konsequentialisten behandeln hingegen Abwägungen in gewissem Sin19  Bernhard Schlink, „Das Opfer des Lebens“ (2005), in: ders., Erkundungen zu Geschichte, Moral, Recht und Glauben, Zürich 2015, S. 121 (128). 20  Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München 1985, S. 21, 83. 21 Vgl. Rudolf A. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Paderborn 1997, der eine Theorie reflektierender – im Gegensatz zu systematischer – Interpretation entwickelt. Sie operiert nicht auf der Grundlage feststehender rationaler Regeln, sondern geht vor „auf der Grundlage revidierbarer und unbestimmter Leitlinien“; die Interpretation ist „hermeneutisch, weil die Teile eines gegebenen Ganzen dazu benutzt werden, unser anfängliches Verständnis von ihm anzureichern und zu spezifizieren“ (S. 18 f.). 22  Dworkin (Fn. 17), S. 466 ff. 23  Zur immer weiter ausgreifen Bildung konsistenter Systeme als Element rationaler Begründung Joachim Hruschka, „‘Abwägende‘ Vernunft? – Ein Gegenvorschlag“, Ethik und Sozialwissenschaften 4 (1993), S. 612 (613). „Urteilskraft“ ist für Hruschka allerdings derjenige

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ne als Naturvorgänge, als reale Gewichtungen. Normen werden damit eigentlich denaturiert.24 Vor diesem Hintergrund zeigen sich die Schwächen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Das Gericht fragt gar nicht – interpretativ-erschließend – welche handlungsleitende Haltung dem staatlich angeordneten Abschuss eines entführten Flugzeugs zugrunde liegt. Die Urteilsbegründung beschränkt sich auf eine fast schon naturalistische Beschreibung der Situation des Abschusses. Letztlich argumentiert das Gericht folgenorientiert. Genauer: Gewiss kann an die von Kant begründete Wendung angeknüpft werden, dass kraft des kategorischen Imperativ niemand bloß als Mittel behandelt werden darf. In dem Fall der Flugzeugentführung sind es zunächst die Terroristen, die die Passagiere als Mittel benutzen. Die Terroristen nehmen den Passagieren die Möglichkeit zu eigenverantwortlichem Handeln. Sie reduzieren die Passagiere auf Objekte ihres Handelns. Das hat dann, anders als das BVerfG annimmt, eine entscheidende Konsequenz für die Beurteilung eines staatlichen Abschusses. Wer das Flugzeug in einer solchen Situation abschießt, bringt damit gar nicht mehr eine bestimmte „Behandlung“ den Passagieren gegenüber zum Ausdruck. Der Abschuss richtet sich nicht gegen die Passagiere, sondern gegen die Terroristen. Ganz richtig sagt das Gericht, dass die Terroristen für die Konsequenzen ihres Tuns einstehen müssen. Für die Passagiere gilt das nicht, weil sie nichts tun und nichts tun können. Das Gericht knüpft an den Umstand an, dass die entführten Passagiere zu Objekten gemacht wurden und damit in einem gewissen Sinne Objekte sind. Daraus soll folgen, dass die Passagiere, wird das Flugzeug abgeschossen, als Objekte behandelt werden. Das ist ein Fehlschluss. Der Abschuss ist eine weitere Handlung eigener Qualität, die den Passagieren gegenüber aber keine Herabwürdigung zum Ausdruck bringt. Genau auf diesen Aspekt haben – mit abweichender Akzentuierung – auch die beiden erwähnten Ansätze der fehlenden Kausalität und der deontologischen Beschränkung hingewiesen. Ihre Argumente gewinnen an Kraft, wenn sie in den Kontext einer interpretativen Beurteilung gestellt werden. Betrachtet man die Dinge so, verletzt der Abschuss des entführten Flugzeuges nicht die Menschenwürde der Passagiere. Ob er hingegen das Recht der Passagiere auf Leben – Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – verletzt, ist damit noch nicht entschieden und soll hier nicht vertieft werden.

Bereich irrationalen subjektiven Entscheidens, der übrig bleibt, wenn die Problemlösungskapazitäten des systematischen Vorgehens erschöpft sind (ebd., S. 614). 24  Ganz in diesem Sinne hat Jürgen Habermas dem Abwägungsdenken des Bundesverfassungsgerichts und der begleitenden Theoretisierung (insbesondere in der Abwägungslehre Robert Alexys) vorgehalten, sie würde den Sinn der deontologischen Betrachtung verkennen und Werte bzw. Rechte dem ökonomischen Kalkül unterwerfen, vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1997, S. 309 ff.

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V. Pflichten Zum Teil wird in der Diskussion um das staatliche Handeln in den Entführungsfällen versucht, die Frage einer Würdeverletzung mit der Frage zu verknüpfen, ob die Passagiere die Pflicht haben, ihre Tötung hinzunehmen. Doch spielt der Pflichtgedanke dabei eine ganz unterschiedliche Rolle. Nach der einen Auffassung sind die entführten Passagiere eines Flugzeugs zur Duldung ihrer Tötung verpflichtet, so dass als Konsequenz ein Würdeverstoß ausscheidet. Der Rechtsgrund der Pflichten hat dabei verschiedene Ansatzpunkte. Es kann sich um solidarische Pflichten handeln, die innerhalb einer in situ entstehenden Gemeinschaft von Opfern und zu Rettenden angesiedelt sind, in der die Opfer ihre Tötung gemäß dem kategorischen Imperativ wollen können.25 Oder es greift die solidarische Einstandspflicht aller für alle, die daraus resultiere, dass alle gleichermaßen am Rechtszustand teilhaben.26 Die andere Auffassung gelangt in einer pflichtenorientierten Perspektive gerade zum entgegengesetzten Ergebnis. Die Passagiere seien nicht verpflichtet, Rettungsmaßnahmen zu dulden. Denn von den Passagieren selbst gehe kein Angriff aus, der dazu berechtigen und sogar verpflichten würde, gegen sie vorzugehen.27 Im Ergebnis liegt damit, wenn das entführte Flugzeug abgeschossen wird, ein Würdeverstoß vor. Als Prämisse dient die Verletzung der Menschenwürde im Gedankengang allerdings nicht. Meines Erachtens kann eine Duldungspflicht der Passagiere weder kategorisch verneint werden, noch lässt sie sich gänzlich unabhängig vom Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Würdeverstoßes bejahen. Ohne gesetzliche Befugnis ist der Abschuss eines entführten Flugzeugs dem Staat untersagt.28 Aus dieser Befugnis folgt dann aber auch, diese Annahme erscheint mir am überzeugendsten, die Pflicht der Passagiere, den Abschuss des Flugzeugs zu dulden.29 Freilich ist erforderlich, dass im Einzelfall alle gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind und dass auch epistemische Unsicherheiten ausgeschlossen sind. Diese Unsicherheiten dürfen nicht völlig ausgeblendet werden: Die Anwendung der gesetzlichen Befugnis setzt 25  Schlink (Fn. 19), S. 135 ff. (der allerdings für den Luftsicherheitsgesetz-Fall einschränkend andeutet, dass die Ungewissheit der konkreten Situation der Annahme einer Pflicht entgegenstehen kann). 26  Enders (Fn. 4), Art. 1 Rn. 94. 27  Merkel (Fn. 13), S. 380. 28  Sofern nicht auf ein ungeschriebenes Staatsnotrecht zurückgegriffen wird, siehe Fn. 2. 29  Voraussetzung ist dabei, dass gesetzliche Rechte und Pflichten nicht nur „Scheinrechte“ und „Scheinpflichten“ sind, so aber die starken Annahmen bei Hruschka (Fn. 10), S. 478 Fn. 95. Im Rahmen eines deontologischen Ansatzes wäre alternativ vorstellbar, die Begründung einer Erlaubnis neben die Begründung einer Pflicht zu stellen, dazu Larry Alexander / Michael Moore, „Deontological Ethics“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2016 Edition), Edward N. Zalta (ed.), https://plato.stanford.edu/archives/win2016/entries/ethics-​ deontological/ (letzter Abruf: 25. 7. 2019), unter 2.

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eine hinreichende Gewissheit über die jeweilige Situation voraus, weshalb die Befugnis praktisch nur höchst selten genutzt werden könnte. Verfassungsgemäß ist die gesetzliche Befugnis u. a. nur dann, wenn sie nicht gegen die Menschenwürde verstößt. Insofern besteht ein Zusammenhang zwischen Duldungspflicht und Menschenwürdegarantie. Nur wenn die Passagiere zur Duldung des Abschusses verpflichtet sind, können sie sich im Übrigen nicht mit Notwehrmaßnahmen gegen den Abschuss zur Wehr setzen. Dass demgegenüber nur Angreifern eine Pflicht zur Duldung von abwehrenden Maßnahmen auferlegt sein soll, so dass die entführten Passagiere keine Duldungspflicht treffen würde, ist schon deshalb fraglich, weil im Notstand auch Unbeteiligte in Anspruch genommen werden dürfen. Insofern erscheint es zunächst naheliegend, eine Duldungspflicht auf jene allgemeine solidarische Einstandspflicht zu stützen, die hinter den Regelungen zum allgemeinen polizeilichen oder strafrechtlichen Notstand steht. Aber im Kontext von so einschneidenden Maßnahmen wie der unmittelbaren Tötung unbeteiligter, entführter Menschen ist dies kein durchschlagender Gedanke. Dass der Staat kraft seiner Staatlichkeit vom Einzelnen verlangen kann, sein Leben zu opfern,30 ist in gleichem Maße unplausibel. Eine gewisse Tragfähigkeit hat insofern allenfalls die erwähnte Annahme einer spontan entstehenden Gemeinschaft von Opfern und zu rettenden Menschen. Denn mit einer derartigen Argumentation wird, wenn auch eher formal, noch ein Bezug zur Autonomie der Opfer hergestellt. VI. Moral und Recht Im Vorstehenden wurde die Auslegung des Verfassungsrechtssatzes des Art. 1 Abs. 1 GG ganz selbstverständlich mit moralphilosophischen Erwägungen verknüpft. Ist dies überhaupt zulässig? Kant hat positives Recht und Vernunftrecht unterschieden: Das Vernunftrecht bietet zwar die Grundlage für eine mögliche positive Gesetzgebung,31 aber es stellt gleichwohl eine ganz andere Art der Betrachtung des Handelns dar. Dieses Arrangement lässt wohl immer noch zwei Interpretationen zu: Ein großer Strang der rechtsphilosophischen Diskussion geht davon aus, dass positives Recht und „überpositives“ Recht getrennt sind, und fragt, ob bzw. inwiefern beide miteinander verbunden sind.32 Die Positionen des Rechtspositivismus und des Naturrechts beantworten diese Frage unterschiedlich, aber ohne die Art der Konzeptualisierung in Zweifel zu ziehen.33 Demgegenüber geht   Depenheuer (Fn. 11), S. 75 ff.   Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, S. 229. 32 Klassisch: Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg 1992. 33 Näher Andreas Funke, „Abschied von der Positivismus / Nicht-Positivismus-Schablone? Zugleich: hermeneutische Potentiale in der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs“, in: Martin Borowski (Hrsg.), Modern German Nonpositivism, i. E. 30 31

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der andere Strang der rechtsphilosophischen Diskussion davon aus, dass positives Recht und Vernunftrecht nicht von vorneherein getrennt sind, so dass es besonderer Erklärung und Rechtfertigung bedarf, moralische Erwägungen im Recht nicht anzustellen.34 In diesem Sinne kann beispielsweise die Tötung von Staatsangehörigen, die das eigene Land verlassen wollen, als ein Unrecht angesehen werden, weil sie die vorpositiv bestehende Ausreisefreiheit verletzt.35 Das Recht existiert nicht in zwei Welten, sondern in einer; es ist eine soziale Praxis, in der Akte der Setzung, Anwendung und Befolgung von Recht immer schon untrennbar mit Rechtsideen verwoben sind. Bei der Garantie der Menschenwürde zeigt sich nun in besonderem Maße, dass die Frage nach einer Verbindung von positivem Recht und Vernunftrecht keinen Sinn hat. Den einschlägigen Beratungen im Parlamentarischen Rat wird bescheinigt, „einander Ausschließendes“ versucht zu haben: nämlich mit der Positivierung von Menschenwürde und Menschenrechten staatliche Herrschaft naturrechtlich zu fundieren – aber eben durch Positivierung.36 Selbstwidersprüche sind unter allen Umständen unzulässig.37 Und doch findet sich ein solcher Widerspruch direkt am Anfang des Grundgesetzes. Die Aufforderung, bei jeder heutigen Annäherung an die Verfassungsgarantie der Menschenwürde „die Geltungsansprüche des positiven und des überpositiven Rechts zu unterscheiden“,38 muss hier wohl ins Leere gehen. Jede einzelne Aussage zur Interpretation der Norm belegt, dass eine Grenze zwischen „positiv“ und „vorpositiv“ nicht scharf gezogen werden kann. Der argumentative Haushalt speist sich kaum aus dem, was mit der Norm „gesetzt“ wurde, sondern stellt die praktische Rechtfertigung, die durch die Norm aufgegeben ist, in den Vordergrund. Für die Beurteilung der in das Luftsicherheitsgesetz aufgenommenen Abschussbefugnis hat das eine wichtige Konsequenz. In den Fällen tragischer Pflichtenkollisionen ist es eine verbreitete Strategie, das rechtlich geforderte Handeln davon zu unterscheiden, was der Einzelne ethisch verantworten könne.39 Der Einzelne müsse im Zweifel zum Märtyrer werden. Wenn also das geltende Recht den Abschuss des entführten Flugzeugs untersagt, könne gleichwohl noch die Heldentat desjenigen   Dworkin (Fn. 17), S. 400 ff.   Joachim Hruschka, „Die Todesschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht“, Juristenzeitung 1992, S. 665 (667). 36  Eberhard Denninger, in:  ders./Wolfgang Hoffmann-Riem / Hans-Peter Schneider / Ekkehard Stein (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz, Neuwied, Stand August 2002, Art. 1 Abs. 2, 3 Rn. 3. 37  Joachim Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode. Systematisch entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allgemeinen Teil, 2. Aufl., Berlin u. a. 1988, S. 434. 38  Isensee (Fn. 12), § 87 Rn. 7. 39 Etwa Ralf Poscher, „Menschenwürde als Tabu. Die verdeckte Rationalität eines absoluten Rechtsverbots der Folter“, in: Gerhard Beestermöller / Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht?, München 2006, S. 75 (85 f.); auch noch Funke (Fn. 2), S. 154. 34 35

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Piloten, der ein Militärflugzeug steuert und das entführte Flugzeug abzuschießen vermag, die Rettung bringen. Meines Erachtens ist dies eine problematische Lösung, weil sie die rechtliche und die moralische Beurteilung auseinanderreißen muss. Natürlich decken sich die moralische und die rechtliche Beurteilung nie vollständig. Keineswegs gilt alles, was moralisch gefordert ist, auch rechtlich. Aber auf der Ebene einer abstrakten Divergenz von Recht und Moral setzt diese Strategie der „ethischen Individualisierung“ gar nicht an. Sie konzipiert – vermutlich von einem tiefen Relativismus geprägt – das individuelle ethische Urteil von vorneherein so, dass es gar nicht beansprucht, gleichwertig neben einem rechtlichen Urteil zu stehen. Konflikte wären damit von vorneherein ausgeschlossen. Damit verkennt diese Auffassung den Sinn eines jeden ethischen Urteils. Wer eine Aussage über die praktische Richtigkeit einer Handlung trifft, beansprucht damit, dass sie überhaupt gut ist oder nicht. Insofern ist es nötig, die normative Betrachtung als eine einheitliche zu konzipieren.40 Dies trifft jedenfalls auf die Garantie der Menschenwürde zu, die sich, wie gesehen, schon der Frage entzieht, ob sie einen „positiven“ oder „vor-positiven“ Charakter hat. Sie ist einfach eine praktische Notwendigkeit. Summary The article deals with the question how the constitutional guarantee of human dignity, as provided for in Article 1 of the German Basic Law (Grundgesetz), can be applied in legal cases. In particular, it discusses the spectacular decision of the German Federal Constitutional Court in the Aviation Security Act case. In this decision, which dates from 2006, the court declared a provision void which established the legal license to shoot down a hijacked airplane under certain circumstances: the license would be incompatible with Article 1 of the Basic Law. The article seeks to demonstrate that the assessment of the problems involved requires a thorough analysis of the action at stake and of the attitude from which the action is carried. The classical view that nobody should be treated as an object – the principle to which the Federal Constitutional Court mainly referred – does not necessarily mean that the shooting down of an aircraft violates the human dignity of the passengers. This thesis is explained and defended in the article. In particular, the point of a deontological approaches in ethics is discussed.

40  „Einheit des normativen Sollens“: Julian Nida-Rümelin, „Eine realistische und kohärentistische Theorie von Moral und Recht“, in: Gralf-Peter Calliess / Lorenz Kähler (Hrsg.), Theorien im Recht – Theorien über das Recht. Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie (IVR) im September 2016 in Bremen, Stuttgart / Baden-Baden 2018, S. 21 (22).

Die metaphysische Bestimmung des synthetischen Rechtsbegriffs des intelligiblen Besitzes Eine Studie zu der verrückten Einheit des § 6 in der Rechtslehre Immanuel Kants Martin Heuser Von einem philosophischen Text versteht sein von ihm adressiertes Publikum zwangsläufig und allenfalls nur so viel, wie es von seiner internen Begründungsstruktur Kenntnis hat. Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Arbeit die Begründungsstruktur und begriffliche Verfassung des ersten Hauptstücks (§§ 1 – 9) der natürlichen Privatrechtslehre Immanuel Kants, um sich auf diese Weise ein Verständnis des bereits hinsichtlich seiner Textform bekanntlich seit einiger Zeit sehr umstrittenen § 6 zu verschaffen, der von der Deduktion des „Begriffs“ des intelligiblen Besitzes handelt. Im Rahmen dieses Verständnisversuchs wird sich die originale Textgestalt des Deduktionsparagraphen mit seinen insgesamt zehn Absätzen jedenfalls dem Inhalt sowie der sprachlichen Gestalt nach durchaus nicht als korrupt, sondern als in sich konsistent erzeigen, sodass für etwaige editorische Eingriffe in die originale Textgestalt insofern von vorneherein keinerlei Bedürfnis mehr verbleibt. I. Ein falscher Texteinschub im richtigen Text? § 6 der Rechtslehre Immanuel Kants von 17971 besteht in sich gegliedert aus zehn Absätzen.2 Von diesen erscheinen die Abs. 6 – 10 durch eine Einrückung drucktechnisch abgesetzt von den als Haupttext erkennbaren Abs. 1 – 5. Auf diese Weise aber gehört nun jedenfalls auch der finale gedankliche Schritt der in der Überschrift des Paragraphen angekündigten „Deduction des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (possessio noumenon)“3 im zehnten 1  Die Werke Immanuel Kants werden im Folgenden unter Angabe von Band, Seite und ggf. Zeile / n nach der Akademieausgabe (= AA): Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900 ff. zitiert, wobei die von den Kant-Stu­ dien vorgegebenen Siglen verwendet werden. Die „Kritik der reinen Vernunft“ wird abgekürzt auch nur nach ihrer ersten bzw. zweiten Auflage (A / B) zitiert; §§ ohne weitere Kennzeichnung sind solche der Rechtslehre von 1797. Die in den Werken Kants im Sperrdruck gesetzten Passagen sind in den wörtlich wiedergegebenen Zitaten im Kursivdruck gesetzt. 2  MSRL, AA  VI: 249.27 – 252.30. 3  MSRL, AA  VI: 249.27 – 29.

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Absatz nicht mehr länger zum Haupttext. Dieses drucktechnische Versehen hat in der Folge zu erheblichen und bis heute nicht befriedigend gelösten Schwierigkeiten in der Kantrezeption geführt: 1929 fühlte sich mit G. Buchda erstmals ein Interpret der Rechtslehre öffentlich in seinem Verständnis des Deduktionsgedankens gestört, denn während sich die angekündigte Deduktion in den letzten beiden Absätzen finde, schöben sich die Abs. 4 – 8 „unvermittelt und störend“ in den Gedankengang ein, „sodaß sie dort nicht am rechten Platze sein können“.4 Nach dieser Ansicht sollen der neunte und zehnte Absatz mit der in den Abs. 4 – 8 behandelten Thematik des ersten Boden­ erwerbs „nicht den geringsten Zusammenhang“5 haben. Vielmehr verbinde die Partikel „nämlich“6 im neunten Absatz diesen mit dem dritten Absatz, während die dazwischenliegenden Absätze ausgesondert wohl an das Ende des § 9 zu stellen seien.7 Dass Kant diesen inhaltlichen „Fehler“ vielleicht schon selbst habe bemerken müssen, stelle „keine Schwierigkeit“ dar, denn „Kant war alt, und wir wissen nicht, ob er seine Rechtslehre nach ihrem Erscheinen noch einer Durchsicht unterzog, […]“.8 – Auf das drucktechnisch gegebene Problem der Einrückung der Abs. 6 – 10 ging Buchda in seinen Überlegungen dagegen nicht ein. Scheinbar in Unkenntnis dieser Überlegungen erneuerte F. Tenbruck zwanzig Jahre später in einem fünfseitigen Aufsatz, gestützt auf seine ihm offenbar gewordenen Verständnisschwierigkeiten, diese buchdasche These von einem falschen Texteinschub in den Absätzen 4 – 8, denn § 6 vereinige „einige Absätze von disparatem Inhalt mittels verblüffender Übergänge […], ohne daß es dem Leser gelingen wollte, diese Teile zum Ganzen eines Arguments zusammenzubinden“9. Vielmehr seien die Übergänge zwischen dem dritten und vierten sowie zwischen dem achten und neunten Absatz „sinnlos“, da sich insbesondere die Partikel „nämlich“ im neunten Absatz nicht auf den im achten Absatz angeführten Grundsatz des natürlichen Rechts beziehen könne, weil dieser, als ein analytischer Satz, nicht der im neunten Absatz thematisierte synthetische praktische Grundsatz sei: „Mithin wäre auch der Versuch, die textmäßig nicht gegebene Verbindung der Abs. 8 und 9 durch sachliche Interpretation herstellen zu wollen, ganz widersinnig.“10 Der Texteinschub der Abs. 4 – 8 gehöre somit jedenfalls als ein „Fremdkörper“11 nicht zum Gedankengang des § 6, wobei sich die richtigerweise aufzuhebende drucktechnische 4  Buchda, Das Privatrecht Immanuel Kants, Jena: Frommannsche Buchdruckerei, 1929, S. 36. 5  Ebd., S. 36. 6  MSRL, AA VI: 251.37. 7  Buchda (Fn. 4), S. 36 f. 8  Ebd., S. 37. 9  Tenbruck, „Über eine notwendige Textkorrektur in Kants ‚Metaphysik der Sitten‘“, in: Archiv für Philosophie 3 (1949), S. 216. 10  Ebd., S. 216 (217). 11  Ebd., S. 216 (217 ff.).

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Einrückung der Abs. 9 – 10 durch den falsch angeknüpften Texteinschub mitsamt seiner in ihm mit dem sechsten Absatz beginnenden Einrückung erklären lasse. In der Folge und bis in die heutige Gegenwart hinein wurde die These vom falschen Texteinschub in den Abs. 4 – 8 des § 6 als gesicherter Bestand der Kantphilologie sowie -forschung allgemein akzeptiert12 und nicht nochmals auf ihre argumentativ abgesicherte Schlüssigkeit hin überprüft. Vielmehr bemerkte man nur, dass sich der neunte Absatz – nach gedanklicher Aufhebung der dazwischenliegenden Absätze – vermittels der Partikel „nämlich“ tatsächlich nicht ohne weiteres so recht an den dritten Absatz anschließen lässt, sodass R. Brandt13 die Vermutung einer Lücke äußerte. Eben diese vermutete Lücke gedachte sodann bekanntlich sein Schüler B. Ludwig14 in seiner Edition der Rechtslehre15 durch die Versetzung des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft des § 216 nach § 6 zu schließen, denn: Der im dritten Absatz des Deduktionsparagraphen erwähnte synthetische „Satz“ a priori, dessen Möglichkeit zu zeigen dort als eine „Aufgabe für die Vernunft“ angekündigt werde, sei das im zehnten Absatz zum Zwecke der Begriffsdeduktion zitierte „Postulat“, und mithin der im neunten Absatz vermittels der besagten Partikel angeknüpfte praktische „Grundsatz“, der aber im gesamten § 6 – entgegen der als Aufgabe ausgemachten Ankündigung im dritten Absatz – nicht begründet werde, sodass § 2 richtigerweise seinen Platz in eben jener nach Tilgung des falschen Texteinschubes verbleibenden Lücke haben müsse. Spätestens jedoch diese für einen noch unbefangenen Leser der kantischen Rechtslehre etwas spekulativ anmutenden Erwägungen über das ‚richtige‘ Arrangement der Paragraphenanordnung in der metaphysischen Rechtslehre hätten eigentlich Anlass zu einer bislang versäumten Überprüfung der These von einem falschen Texteinschub geben müssen. Denn es sollte doch nicht verwundern, dass sich verschiedene Absätze eines zumindest im Originaldruck einheitlich erscheinenden Paragraphen sprachlich und gedanklich nicht objektiv im Verständnis zusammenfügen lassen, wenn einige inmitten von ihnen – möglicherweise ja bloß irrig – als nichtig vorgestellt werden. Mit der Skizze der zu § 6 bestehenden Interpretationslage fällt also in die Augen, dass die nächstgelegene Erklärung im Hin12  Brandt, „‚Das Wort sie sollen lassen stahn‘“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990), S. 351 (363 – 365); Ludwig (Hrsg.), Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Hamburg: Meiner, 3. Aufl. 2009 [zwischenzeitlich auch 4. Aufl. 2018], S. XXVIII; Parma, „‚Es war einmal eine Metaphysik der Sitten‘“, in: Kant-Studien 91 (2000), Sonderheft, S. 42 – 65. 13  Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart-Bad Cannstatt: FrommannHolzboog, 1974, S. 185, 207 Fn. 20, 217 Fn. 46; siehe ferner auch Mautner, „Kant’s Metaphysics of Morals: a Note on the Text“, in: Kant-Studien 72 (1981), S. 356 – 359. 14  Ludwig, „Der Platz des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft innerhalb der Paragraphen 1 – 6 der kantischen Rechtslehre“, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin / New York: De Gruyter, 1982, S. 218 – 232; ders., Kants Rechtslehre, Hamburg: Meiner, 1988, S. 60 – 65. 15  Ludwig (Fn. 12), S. XXXI – XXXV. 16  MSRL, AA  VI: 246.03 – 247.08.

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blick auf bestehende und einstweilig auch zuzugestehender Verständnisschwierigkeiten bisher offensichtlich noch nicht erwogen wurde:17 Es könnte sich doch, nämlich nach gedanklicher Aufhebung lediglich der wohl falschen drucktechnischen Einrückung der letzten fünf Absätze, gleichsam einfach ein einheitlicher Gedanke im Verständnis der zehn Absätze des Deduktionsparagraphen einstellen, der etwa nach einer sukzessiven gedanklichen Entwicklung des vernunftbegrifflich bedingten Besitzproblems (Abs. 4 – 9) schließlich in die angekündigte Deduktion selbst (Abs. 10) einmündet. – Aufschluss über die damit aufgeworfene Fragestellung vermag letztlich allerdings nur eine valide Gesamtinterpretation des ersten Hauptstücks (§§ 1 – 9) der natürlichen Privatrechtslehre zu geben, die sich zunächst über die begriffliche Grundverfassung dieses Textabschnitts Klarheit verschafft, um sodann die Aufgabe der mit § 6 geleisteten Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes näher zu bestimmen, sodass überhaupt erst erkennbar wird, in welcher methodologischen Weise der verdächtig gewordene Deduktionsparagraph diese Aufgabe bewerkstelligen muss (und letztlich auch bewerkstelligt). Mit dieser Vorgehensweise dürften schließlich auch die beiden maßgeblichen Argumente gegen die innere Einheit des § 6 ausgeräumt werden, nämlich zum einen die These Buchdas, nach der die in den Abs. 4 – 8 eingeführte Problematik des ursprünglichen Bodenerwerbs nicht in den Deduktionszusammenhang gehört, und zum anderen die diesbezüglich flankierende Behauptung Tenbrucks, dass der im neunten Absatz erwähnte „praktische Grundsatz“ nicht der im achten Absatz erwähnte „Grundsatz des natürlichen Rechts“ sein könne, nämlich „der Satz: wohl dem, der im Besitz ist (beati possidentes)!“, da dieser ein analytischer und jener ein synthetischer Grundsatz sei. Denn insbesondere die Behauptung Tenbrucks ist durch eine philologisch und philosophisch nicht haltbare Identifizierung des „praktischen Grundsatzes“ im neunten Absatz mit dem „synthetischen Satz“ im dritten Absatz erkauft, wenn der bruchlose Zusammenhang beider Absätze behauptet werden soll.18 Genau dieser abstrahierenden Rückführung eines realen einzelnen synthetischen Rechtssatzes a priori auf einen allgemeinen praktischen Grundsatz im regressiven Aufstieg der begrifflichen Bedingungsreihe, und zwar zum Zwecke der alsdann erst möglichen Deduktion des im praktischen Grundsatz stets schon real bestimmenden Begriffs des intelligiblen Besitzes, dienen aber die Abs. 4 – 8, 17 Selbst Tuschling, „Das ‚rechtliche Postulat der praktischen Vernunft‘: seine Stellung und Bedeutung in Kants Rechtslehre“, in: Oberer / Seel (Hrsg.), Kant, Analysen – Probleme – Kritik, Würzburg: Könighausen und Neumann, 1988, S. 273 – 292 geht in seiner Kritik an Ludwig (oben Fn. 14) implizit ohne weiteres wohl von einem falschen Texteinschub aus. 18  Damit ist allerdings nicht gesagt, dass der „Grundsatz des natürlichen Rechts“ im achten Absatz ein „analytischer Grundsatz“ ist, wie Tenbruck dies wohl unter Gleichsetzung dieses vermeintlich „analytischen Grundsatzes“ mit dem im zweiten Absatz erwähnten „analytischen Satz“ behauptet. Überhaupt dürfte die Rede von einem „analytischen Grundsatz“ auch insoweit an einer Ungereimtheit leiden, als mit dem Begriff des Grundsatzes regelmäßig der Anfang, d. h. ein Prinzip innerhalb einer Erkenntnis bezeichnet ist, und der in dieser Bedeutung genommen eben darum nicht analytisch sein kann (siehe dazu Log, AA IX: 110 [§§ 34, 35], 112 [§ 38] sowie KrV, B 16).

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die hier zum Zwecke des Nachweises der objektiven Realität des zu deduzierenden Begriffs an das metaphysische Besitzbegründungsproblem im einzelnen synthetischen Rechtssatz vom ursprünglichen Bodenerwerb anknüpfen. Damit dürfte der hier gewagte Versuch, „die textmäßig nicht gegebene Verbindung der Abs. 8 und 9 durch sachliche Interpretation herstellen zu wollen“, doch nicht von vorneherein ganz so „widersinnig“ erscheinen, wie man es dem Verdikt Tenbrucks19 bisher offenbar unter unbemerkter Inkaufnahme einiger philologischer und philosophischer Ungenauigkeiten gerne zugestanden hat. Allerdings setzt der Nachvollzug dieses Gedankens die mitdenkende Einlassung auf ein im Folgenden näher bestimmtes Verständnis von der praktischen Philosophie Immanuel Kants voraus, die nach der hier praktizierten Lesart von der Freiheitskausalität reiner praktischer Begriffe in ihrem synthetischen Zusammenhang handelt: II. § 6 im begrifflichen Gefüge des ersten Hauptstücks der natürlichen Privatrechtslehre Wenn es in § 6 ausweislich seiner Überschrift um die Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes zu tun ist, dann stellt sich unweigerlich die Frage nach dem begrifflichen Zusammenhang des ersten Hauptstücks der natürlichen Privatrechtslehre (§§ 1 – 9), darin diese Begriffsdeduktion ihren Ort hat. Damit ist allerdings zugleich auf das Erkenntnisprojekt einer Metaphysik der Sitten übergeleitet, denn eine „Metaphysik“ enthält für Kant überhaupt „ein System der Erkenntniß a priori aus bloßen Begriffen“,20 und eine praktische Metaphysik enthält dementsprechend spezifisch ein System der Erkenntnis a priori aus reinen praktischen Begriffen. Ein reiner Begriff (d. h. ein reiner Verstandes- bzw. Vernunftbegriff), wie z. B. der Besitz- bzw. Habensbegriff, ist aber wohl nur dann praktisch (und damit mehr als bloße Einbildung), wenn er objektive Realität hat und er seinen Begriffsgegenstand unter ihm dementsprechend begrifflich real bestimmt. Folglich wäre der in § 6 zu deduzierende Begriff praktisch, wenn durch ihn kausal ein intelligibler Besitz im einzelnen Fall als sein Gegenstand unter ihm begrifflich real bestimmt würde. Die Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes hätte dies dann im Ausgang von einem einzelnen synthetischen Rechtssatz (z. B. dem es ursprünglichen Bodenerwerbs in § 6 Abs. 4) unter dem darin bereits praktischen Begriff des intelligiblen Besitzes zu zeigen, sodass der im analytischen Regress (§ 6 Abs. 4 – 9) hinsichtlich seiner praktischen Wirksamkeit analytisch verdeutlichte Begriff des intelligiblen Besitzes letztlich aus der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit, nämlich dem Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes (§ 2 Abs. 1), als praktisch erkannt werden müsste (§ 6 Abs. 10). Eine Metaphysik des Rechts wäre demnach nichts anderes als das aus einem metaphysischen Anfangsgrundsatz

  Oben Fn. 10.   MS, AA  VI: 216.28 – 34.

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des Rechts (§ 2) in sich schlüssig entwickelte System reiner praktischer (d. h. freiheitskausal bestimmender) Vernunftbegriffe vom Recht. 1. Rechtsmetaphysik als das System einer praktischen Erkenntnis a priori aus reinen praktischen Begriffen Soll der an sich reine Besitz- oder Habensbegriff für sich rechtlich bestimmt vorgestellt werden, dann resultiert gedanklich der sich aus dem Rechts- und dem Habensbegriff synthetisch zusammensetzende Begriff des reinen Rechtsbesitzes, d. h. der Begriff des intelligiblen Besitzes. Allerdings stellt dieser besonders zusammengesetzte reine Rechtsbegriff vom Besitz zunächst nur ein reines Gedankending vor, von dem völlig unklar ist, ob es auch praktische Realität in seinen mit ihm möglichen Begriffsgegenständen hat. a) Der allgemeine Begriff des Rechts der Menschen als Bedingung einer metaphysischen Rechtserkenntnis Bevor nun eine Begriffsdeduktion den Nachweis der praktischen Realität dieses Begriffs zu besorgen vermag (§ 6), bedarf es zunächst einmal intellektueller Klarheit sowie Deutlichkeit über den in diesem reinen Besitzbegriff bestimmend vorgestellten Rechtsbegriff. Deshalb beginnt die Rechtslehre, die ein System der Erkenntnis aus reinen praktischen Begriffen des Rechts entwickeln will, auch nicht gleich mit dem besonderen Rechtsbegriff vom äußeren Besitz (= Mein und Dein) (§ 1), sondern in der Einleitung zur Rechtslehre mit dem allgemeinen Begriff des Rechts der Menschen (§ B Abs. 3)21. aa) D  er Freiheitsbegriff als praktische Realbedingung des allgemeinen Begriffs des Rechts Soll dieser allgemeine Begriff des Rechts der Menschen aber die besonderen Begriffe des Rechts unter ihm (z. B. den Begriff des reinen Rechtsbesitzes, des äußeren Rechtsbesitzes, der ursprünglichen Erwerbung eines äußeren Besitzes, des Sachenrechts, des Staates etc.) praktisch real bestimmen, dann muss in ihm seinerseits wiederum der positive Begriff der Freiheit (des Willens) der KpV praktisch, d. h. kausal bestimmend sein. Dieser im reinen Verstande einer Kausalität positive Begriff der Freiheit als Spontanität bestimmt sich aber seinerseits selbst real durch die grundgesetzlich in ihm und durch ihn vorgestellte Bestimmung eines allgemeinen Willens als der gesetzlich real bestimmenden Form eines freien Willens.22   MSRL, AA  VI: 230.24 – 26.   Siehe dazu besonders die §§ 5 – 8 KpV, AA V: 28 ff.; erläuternd zum Freiheitsbegriff der zweiten Kritik auch Verf., „‚Man kann das Bewusstsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen‘“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 26 (2018), S. 343 ff. 21 22

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In der gesetzlichen Selbstvorstellung(stätigkeit) der Form eines allgemeinen Willens begreift sich der freie Wille mithin als frei bestimmt, sodass das moralische Grundgesetz „ratio cognoscendi“ (Idealgrund) der Freiheit des Willens und diese wiederum „ratio essendi“ (Realgrund) des moralischen Gesetzes ist.23 Der allgemeine Wille ist darum an und für sich selbst überhaupt gar nichts anderes als der reine praktische Begriff des freien Willens, und der grundgesetzliche Freiheitsbegriff des Willens der KpV ist folglich stets schon mit einem grundgesetzlichen Rechtsbegriff überhaupt bestimmend verbunden, nämlich dem allgemeinen Willen in der Form von Gesetzen. Der Rechtsbegriff der Menschen (§ B Abs. 3) steht damit unter dem „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“24. Weil nun dieses Grundgesetz jedoch nicht nur für unheilige und damit menschliche, sondern auch für heilige und damit übermenschliche Willenssubjekte Gültigkeit beansprucht, vermittelt sich die Bestimmung des praktischen Freiheitsbegriffs erst durch das für Menschen spezifisch gültige „Sittengesetz“25 in den allgemeinen Begriff des Rechts der Menschen (§ B Abs. 3) darunter.26 Demnach ist also weder das Sittengesetz mit dem Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft schon ohne weiteres vollkommen identisch,27 noch lässt sich eine solche Identität von dem Begriff des Rechts der Menschen unter dem Sittengesetz und dem Begriff des Rechts der Menschheit unter dem Grundgesetz behaupten.28 Erst durch das Sittengesetz stellt sich dem menschlichen Willkürwesen also die praktische Handlungsregel des kategorischen Imperativs mit dem darin liegenden Pflichtbegriff für innere und äußere Handlungen als praktisch nötigend vor,29 sodass sich der allgemeine Begriff des Rechts der Menschen (§ B Abs. 3) aus dem sittengesetzlichen Pflichtbegriff des kategorischen Imperativs (analytisch) entwickeln lässt, weil er synthetisch bereits darin zur Einheit des Bewusstseins verbunden ist.30 Eben darum knüpft § B Abs. 2 die Entwicklung des allgemeinen Begriffs des Rechts der Menschen zu einem deutlichen Bewusstsein auch an den der Verbindlichkeit, worauf sich das Recht in seinem moralischen Begriff korrespondierend bezieht.31

  KpV, AA  V: 04.28 – 36.   KpV, AA  V: 30.36 – 39. 25  KpV, AA  V: 31.35 – 37. 26  MS, AA  VI: 226.01 – 03. 27  Siehe dazu § 7 KpV, AA V: 30 – 33; erläuternd Verf. (Fn. 22). 28  Siehe dazu MSRL, AA  VI: 236.24 – 30, 237.29 – 32, 239.23 – 240. 29  KpV, AA  V: 31.35 – 33.05. 30  MSRL, AA VI: 239.16 – 21: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.“ 31  MSRL, AA  VI: 230.07 – 08. 23 24

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bb) Der allgemeine Begriff des Rechts als praktische Realbedingung in besonderen Rechtsbegriffen Durch die praktische Bestimmung des Begriffs des Rechts der Menschen (§ B Abs. 3) vermittelt sich die reale Bestimmung eines allgemeinen Willens, d. h. die des praktischen Freiheitsbegriffs schließlich in die besonderen und nur durch ihn als solche real denkbaren Rechtsbegriffe unter ihm. Insoweit sich diese besonderen praktischen Rechtsbegriffe in ihrer begrifflichen Realität lediglich durch den allgemeinen Rechtsbegriff, und mithin unabhängig von der positiven Setzung durch einen willkürlichen Gesetzgeber im äußeren Verhältnis der Menschen zueinander als solche bestimmen, spricht Kant von einer Metaphysik des Rechts, die in den §§ 1 – 62 seiner Rechtslehre mit einem systematischen Grundanspruch aus einem System von Anfangsgrundsätzen entwickelt wird, während die dabei nur gestreiften nicht mehr rein metaphysischen Gehalte lediglich in den Anmerkungen zu finden sind (z. B. den Anm. A. – E. zum Staatsrecht).32 – Die im Folgenden für die Zwecke der hier verfolgten Untersuchung notwendig werdende Erläuterung dieses rein begrifflich bestimmten Systems einer Metaphysik des Rechts ist mit einem Hinweis zur philosophischen Aufgabe und Methode nach Kant zu verbinden: b) Extensive und intensive Verdeutlichung des allgemeinen Begriffs des Rechts der Menschen Für Kant besteht die Aufgabe der Philosophie nämlich in der Deutlichmachung von – dem Verstand durch die reine Vernunft a priori – gegebenen Begriffen, denn: „Der Philosoph macht nur gegebene Begriffe deutlich.“33 Dabei ist allerdings zwischen der „extensiven“ sowie der „intensiven“ Deutlichkeit eines Begriffs (z. B. des Rechtsbegriffs) zu unterscheiden: Während die extensive Deutlichkeit eines Begriffs auf die Deutlichkeit der in einem ganzen Begriff nacheinander koordinierten Merkmale ausgeht, geht die intensive auf die Deutlichkeit der begrifflich einander subordinierten Merkmale.34 Die extensive Deutlichkeit betrifft demnach die aggregierten Merkmale eines Begriffs(inhalts), die als unmittelbares Merkmal des Begriffsgegenstandes vorgestellt werden, während die intensive Deutlichkeit die Merkmale eines Begriffs betrifft, die unter ihm in einer Reihe von Begriffsmerkmalen nur vermittelst eines anderen Merkmals an dem Begriffsgegenstand vorgestellt werden können.35 Die intensive Deutlichkeit eines Begriffs setzt somit vernunftschlüssige Verknüpfung der einander subordinierten Begriffe in der Sphäre eines ganzen Begriffs voraus, weil andernfalls keine begriffliche Vermittlung denkbar ist.

  Vorrede-MSRL, AA VI: 205 f.   Log, AA  IX: 64.15 – 16. 34  Log, AA  IX: 62.33 – 37. 35  Log, AA  IX: 59.08 – 13. 32 33

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Da diese Reihe im Ausgang von einem höchsten Begriff nach unten hin jedoch ins Unendliche geht, weil es zwar eine höchste Gattung, jedoch keine unterste Spezies gibt,36 lässt sich eine vollständige intensive Deutlichkeit von einem Begriff allerdings regelmäßig nicht bewirken, denn dies würde die vollständige Analysis der unendlich vielen einander subordinierten Begriffe voraussetzen.37 Eine Ausnahme von dieser besonders für empirische Begriffe gültigen Regel dürfte jedoch dort gelten, wo der intensiv zu verdeutlichende Begriff eine Sphäre begrifflicher Bestimmung hat, darin er sich nur durch sich selbst bestimmt, sodass eine vollständige intensive Deutlichkeit dort möglich ist, wo der Begriff nicht durch einen empirischen Gegenstand, sondern bloß durch das Subjekt des Begriffs zur Verdeutlichung gegeben wird, d. h. insbesondere bei a priori dem Verstand durch die reine Vernunft gegebenen Begriffen (Ideen).38 Denn wenn ein a priori gegebener Begriff (wie der des Rechts) die Reihe der unter ihm infolge seiner eigenen Bestimmung einander subordinierten Begriffe zugleich auch subordiniert in sich selbst als seiner Vernunftidee für sich selbst voraussetzt, dann lassen sich die in ihm subordinierten Begriffe in der Entwicklung dieser Vernunftidee des Begriffs unter ihm vollständig aus dem Begriff heraus und in ihrem begrifflich schlüssigen Zusammenhang synthetisch entwickeln,39 weil sie sich darin subordiniert bereits verwickelt vorausgesetzt finden. Die intensive Deutlichkeit von Begriffen, „da sie nothwendig zur Gründlichkeit und Bündigkeit des Erkenntnisses dient, ist darum hauptsächlich Sache der Philosophie und wird insbesondre in metaphysischen Untersuchungen am höchsten getrieben“40. In einer Metaphysik des Rechts ist folglich eine Beförderung der intensiven Deutlichkeit des Rechtsbegriffs, d. h. eine synthetische Entwicklung der Rechtsidee zu erwarten, wobei diese intensive Verdeutlichung die extensive Deutlichkeit des Rechtsbegriffs bereits für sich selbst notwendig voraussetzt, weil andernfalls undeutlich wäre, welcher Begriff da intensiv verdeutlicht werden soll: aa) E  xtensive Deutlichkeit des Begriffs des Rechts der Menschen (§ B Abs. 2) Ist der ganze Begriff von einem Ding (z. B. der des Rechts) synthetisch bereits vollständig (hier: a priori) gegeben, dann lassen sich die in ihm zum Begriffsinhalt koordiniert enthaltenen Merkmalsvorstellungen unmittelbar, d. h. ohne weitere begriffliche (vernunftschlüssige) Vermittlung durch logische Analyse sukzessiv deutlich machen. Da diese Analyse zum Zwecke der extensiven Deutlichkeit des Begriffs jedoch nur untersucht, welche Merkmalsvorstellungen unmittelbar in diesem gegebenen Begriff bereits enthalten sind, kommt sie über bloß analytische Verstandesurteile nicht hinaus, sodass der Inhalt der mit dem Begriff gegebenen   Log, AA IX: 59.17 – 21, 96 ff.   Log, AA IX: 59.22 – 25. 38  Log, AA  IX: 63.01 – 05. 39  Vgl. dazu auch Log, AA IX: 92.24 – 30. 40  Log, AA  IX: 59.25 – 28. 36 37

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Erkenntnis dadurch nicht schon synthetisch vermehrt wird. Durch die analytischen Verstandesurteile erfährt diese mit dem Begriff gegebene Erkenntnis vielmehr lediglich eine logische Umformung, sodass sie von anderen Erkenntnissen bzw. Begriffen besser unterschieden werden kann, womit eben die Deutlichkeit des gegebenen Begriffs extensiv zunimmt.41 Methodologisch spricht man bei diesem Verfahren, die Deutlichkeit eines gegebenen Begriffs verstandesschlüssig zu vergrößern, von einer „Exposition“ des gegebenen Begriffsinhalts.42 Die Vollständigkeit der analytischen Exposition der mit dem Begriff inhaltlich gegebenen Merkmalsvorstellungen kann im Falle eines dem Verstand a priori durch die Vernunft zur Verdeutlichung gegebenen Begriffs dadurch gewährleistet werden, dass der gegebene Begriff in der Exposition systematisch durch alle vier Titel der logischen Funktionen des Verstandes in ihrer analytischen Reihenfolge (Modalität / Relation / Qualität / Quantität)43 geführt wird. Auf diese Weise verfährt beispielsweise schon die Exposition der Begriffe von Raum und Zeit in der Transzendentalen Analytik;44 und nicht anders verfährt Kant in § B Abs. 2 mit Blick auf den a priori durch die reine praktische Vernunft dem Verstand zur Analysis bereits vollständig synthetisch gegebenen Begriff des Rechts der Menschen (§ B Abs. 3), wie er im Begriff der sittengesetzlichen Pflicht eines kategorischen Imperativs analytisch enthalten ist.45 Der allgemeine Begriff des Rechts der Menschen enthält somit der Modalität (1) nach die praktische Notwendigkeit des sittengesetzlichen Pflichtbegriffs in sich. Eben darum knüpft die Exposition des Rechtsbegriffs ihr Vorgehen in § B Abs. 2 systematisch zunächst an den „Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d. i. der moralische Begriff desselben)“46, denn der Pflichtbegriff enthält die praktische Notwendigkeit eines freien Willens in sich. – Der Relation (2) nach enthält der Rechtsbegriff in sich das Verhältnis der Gemeinschaft der menschlichen Rechtssubjekte zueinander, d. h. „nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“47. Er ist insofern identisch mit dem Freiheitsbegriff der praktischen Gemeinschaftskategorie, nach der der freie Wille in der Relation „[w]echselseitig einer Person auf den Zustand der anderen [Person]“48 steht. – Der Qualität (3) nach enthält der Rechtsbegriff in dieser seiner Relation nicht das Verhältnis der Willkür der einen Person auf den Wunsch einer anderen Person, sondern in seiner Realität   Siehe dazu u. a. Log, AA IX: 33 ff., 63 ff., 114 ff.   Log, AA IX: 139 ff. (besonders die §§ 98, 105). 43  Siehe KrV, A 70/B 95 bzw. A 80/B 106. 44  Siehe dazu KrV A 22 ff./B 37 ff. (§ 2) sowie A 30 ff./B 46 ff. (§ 4). 45  Siehe schon zuvor unter II. 1. a) aa). 46  MSRL, AA  VI: 230.07 – 08. 47  MSRL, AA  VI: 230.09 – 11. 48  KpV, AA  V: 66.28 – 29. 41 42

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die Relation der Willkür des einen zur Willkür des anderen in sich.49 – Schließlich ist dieses Gemeinschaftsverhältnis der Willkürsubjekte im Rechtsbegriff seiner Quantität (4) nach nicht durch die Materie der Willkür, sondern durch die gesetzliche Form der Willkür nach einem allgemeinen Willen, d. h. durch den praktischen Begriff der Freiheit bestimmt.50 Ist aber der allgemeine Wille in einem Gesetz der Freiheit als reiner praktischer Begriff der Freiheit das bestimmende Moment im Rechtsbegriff, dann bestimmt sich der Rechtsbegriff durch diesen allgemeinen Willen in Gesetzen innerlich selbst fort, sodass das Recht nach seinem in § B Abs. 3 analytisch definierten Realbegriff51 „der Inbegriff“ der gesetzlichen „Bedingungen“ ist, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.52 Mit dieser analytisch gewonnen Realdefinition ist zugleich ein allgemeines sowie hinreichendes begriffliches Kriterium (§ C Abs. 1), d. h. ein metaphysisches Prinzip bzw. Postulat (§ C Abs. 4) allen Rechts benannt, das im Rahmen der intensiven Verdeutlichung des Rechtsbegriffs als Rechtsidee (§§ 1 – 62) als rechtsbegrifflich spezifisch bestimmendes Moment in den besonderen Rechtsbegriffen fungiert:53 bb) Intensive Deutlichkeit des Begriffs des Rechts der Menschen (§§ 1 – 62) Erst diese rein rechtsbegriffliche Bestimmung besonderer Rechtsbegriffe (§§ 1 – 62) in der rein rechtsbegrifflichen Bestimmungssphäre des allgemeinen Begriffs des Rechts der Menschen (§ B Abs. 3) zur intensiven Verdeutlichung des Rechtsbegriffs bewirkt nun mit der darin liegenden praktischen Erkenntnis der Rechtsidee in ihrem inneren synthetischen Begriffszusammenhang überhaupt eine philosophische Erkenntnis des Rechts, die hier – wie es ihr eigentümlich ist – das Besondere synthetisch im Allgemeinen betrachtet und somit unter dem allgemeinen Begriff des Rechts (§ B Abs. 3) rein begrifflich (a priori) zu Synthesen in besonderen Begriffen des Rechts (§§ 1 – 62) gelangt.54 Zum Verständnis des synthetischen Rechtsdenkens im Hauptteil der Rechtslehre kommt es nun aber noch maßgeblich darauf an, zu sehen, wie sich der Begriff des Rechts in der synthetischen Entwicklung seiner Idee aus sich selbst heraus rein rechtsbegrifflich bestimmt:

  MSRL, AA  VI: 230.11 – 15.   MSRL, AA  VI: 230.15 – 23. 51  Siehe methodologisch Log, AA IX: 142 ff. (§§ 104, 106). 52  MSRL, AA  VI: 230.24 – 26. 53  MSRL, AA  VI: 230.27 – 231.21. 54  Zur philosophischen Erkenntnis siehe KrV, A 714/B 742. 49 50

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(1) Die immanente Entwicklung der Rechtsidee Dazu ist zu erinnern, dass der Rechtsbegriff des § B Abs. 3 an sich nichts anderes als die praktische Kategorie der Gemeinschaft freier menschlicher Rechtsubjekte in ihrem äußeren Verhältnis zueinander ist. Der Rechtsbegriff enthält somit – erstens – ein Moment des notwendigen Gegensatzes der freien Rechtssubjekte in sich, d. h. den unter ihm nach der Rechtsidee im äußeren Verhältnis gesetzlich zunächst noch nicht vereinigten und darum natürlichen Zustand der Menschen zueinander. Dieses erste Moment der Rechtsidee findet seine rein rechtsbegriffliche Bestimmung im natürlichen Privatrecht (§§ 1 – 42), das somit wiederum in seiner rechtsbegrifflichen Bestimmung rein rechtsbegrifflich schon auf einen gesetzlich vereinigten Zustand der Menschen im öffentlichen Recht („pro-visorisch“) hinausblickt (§§ 8, 9, 15, 42, 44), weil der allgemeine Begriff des Rechts mit seiner praktischen Bestimmung eben eine gesetzliche Bestimmung dieses Verhältnisses wirklich für die gesetzesunterworfenen Rechtssubjekte vorsieht. Der Rechtsbegriff enthält damit als praktische Gemeinschaftskategorie sodann – zweitens – zugleich das Moment der notwendigen Einheit der freien Rechtssubjekte in Gemeinschaft in sich, d. h. den unter ihm nach der Rechtsidee im äußeren Verhältnis gesetzlich vereinigten und darum rechtlichen Zustand der Menschen zueinander. Dieses zweite Moment der Rechtsidee findet seine rein rechtsbegriffliche Bestimmung dementsprechend im natürlichen öffentlichen Recht (§§ 43 – 62), das somit in seiner rein rechtsbegrifflichen Bestimmung rein rechtsbegrifflich bereits einen rechtsgesetzlich bestimmten Übergang aus dem natürlichen in den rechtlichen Zustand voraussetzt, weil der allgemeine Begriff des Rechts mit seiner praktischen Bestimmung eine gesetzliche Bestimmung auch des besonderen Rechtsbegriffs dieser Übergangstätigkeit der Rechtssubjekte (im ursprünglichen Vertrag) für sich voraussetzt (vgl. § 47 S. 3). Dieser Übergang dürfte nicht zuletzt rein rechtsbegrifflich in dem Begriff der öffentlichen Gerechtigkeit (§ 41 Abs. 1) aufgehoben sein. Damit ist immanent die Totalität der Rechtsidee (§§ 1 – 62) unter dem allgemeinen Begriff des Rechts (§ B Abs. 3) bezeichnet, die vom zunächst gemeinschaftlich noch nicht rechtsgesetzlich vereinigten Zustand der Rechtssubjekte zu ihrem gemeinschaftlich allseitig rechtsgesetzlich vereinigten Zustand im ewigen Frieden reicht. Die begriffliche Entwicklung der Rechtsidee in der Totalität55 der praktischen Gemeinschaftskategorie eines freien Willens nimmt somit ihren Ausgang von dem rechtsgesetzlich immanenten Auseinandertreten der einzelnen menschlichen Rechtssubjekte unter dem Begriff des Rechts im natürlichen Zustand und läuft über ihre allseitige rechtsgesetzliche Vereinigung in weltweiter Rechtsgemeinschaft unter diesem Begriff zuletzt durch den Beschluss zum ewigen Frieden auch wieder in diese praktische Kategorie der Gemeinschaft eines freien Willens zurück.   Zum Begriff der Totalität siehe Log, AA IX: 59.13 – 14.

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Weil das rechtsgesetzlich notwendige Auseinandertreten der einzelnen menschlichen Rechtssubjekte mit der Relation im Rechtsbegriff jedoch nur in ihrem äußeren Weltverhältnis denkbar ist, dieses äußere Weltverhältnis der Rechtssubjekte wegen des damit metaphysisch anhebenden Rechtsproblems aber notwendig eine rechtsbegrifflich zu bestimmende Verbindung (d. h. Synthesis) des Rechtssubjekts mit einem ihm äußeren Rechtsobjekt voraussetzt, die von diesem Rechtssubjekt vermittelst seines Rechtsbegriffs wiederum statisch in dem (abgeleiteten) reinen Verstandesbegriff des Besitzes / Habens eines äußeren Gegenstandes gedacht werden kann, und mithin auf den besonderen synthetischen Rechtsbegriff vom (intelligiblen) Besitz führt, läuft die rechtsbegrifflich immanente Entwicklung der Rechtsidee unter dem Rechtsbegriff von dem reinen Verstandesbegriff des Habens und durch weitere begriffliche Vermittlungsschritte (dazu sogleich) zum Schluss über den reinen Verstandesbegriff der Gemeinschaft in die praktische Gemeinschaftskategorie des Rechtsbegriffs auch wieder zurück. Die Totalität des Rechtsbegriffs reicht somit in seiner rechtsbegrifflich synthetischen Entwicklung vom rechtsbegrifflich synthetisch bestimmten Haben eines äußeren Gegenstandes ohne rechtsgesetzliche Gemeinschaft im natürlichen Zustand bis zum rechtsbegrifflich synthetisch bestimmten Haben eines äußeren Gegenstandes in allseitig rechtsgesetzlicher (Welt-)Gemeinschaft eines freien Willens. Aus diesem rechtsbegrifflich immanenten Gedanken resultiert schließlich die bruchlose innere Architektonik des Hauptteils der Rechtslehre, der hiernach in zwei Teile zerfällt, die wiederum – ebenso begrifflich notwendig – drei Hauptstücke und je einen Übergang nach der 1,  2,  3/4 -Matrix synthetischen Denkens (Quantität / Qualität / Relation / Modalität)56 in sich schließen: (2) Die verstandesbegriffliche Grundverfassung des Hauptteils der Rechtslehre Aus dem vorstehenden Gedanken ergibt sich, warum sich das erste Hauptstück (§§ 1 – 9) der natürlichen Privatrechtslehre unter dem allgemeinen Rechtsbegriff mit dem reinen Verstandesbegriff des Habens57 eines einzelnen menschlichen Willens- und daher Rechtssubjekts in synthetischer Relation auf einen äußeren Gegenstand darunter befasst.58 Im reinen Verstandesbegriff des Habens ist jedoch   Siehe KrV, A 70/B 95 bzw. A 80/B 106.   Die rein verstandesbegriffliche Qualität der zur Verstandeskategorie der Kausalität abgeleitet gehörigen Prädikabilie des Habens ist ausdrücklich erwähnt in § 7 der RL, AA VI: 253.04 – 15, wo es um die Anwendung des Vernunftbegriffs des Rechts vermittelst eines reinen Verstandesbegriffs auf sinnliche Verhältnisse in Raum und Zeit zu tun ist. In den VARL, AA XXIII: 325.11 – 12 heißt es darum: „[…] der Besitz nach einem reinen Verstandesbegriffe gedacht […] ist die zehnte Categorie des Aristoteles, habere; im critischen System aber eine Prädicabile der Categorie der Ursache“. Vgl. dazu KrV, A 81 f./B 107 f. einerseits und Funke, „Habe und Haben“, in: Ritter / Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie III, Basel: Schwabe, 1974, Sp. 981 andererseits. 58  MSRL, AA VI: 245 ff.: „Von der Art etwas Äußeres als das Seine zu haben.“ 56 57

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der reine Verstandesbegriff der Handlung innerlich vorausgesetzt, denn ohne die dynamische Verknüpfung einer Handlung könnte die statische Verknüpfung des Habens begrifflich nicht gedacht werden.59 Das zweite Hauptstück (§§ 10 – 35) der natürlichen Privatrechtslehre handelt darum rechtsbegrifflich von der zum äußeren Rechtsbesitz rechtsbegrifflich notwendig dazugehörigen Erwerbshandlung: „Von der Art etwas Äußeres zu erwerben.“60 Weil im reinen Verstandesbegriff der Handlung aber wiederum der reine Verstandesbegriff der Kraft innerlich vorausgesetzt ist, da der dynamisch durch (Erwerbs-)Handlung in seiner Statik bewirkte Zustand des Habens andernfalls nicht (rechtsbegrifflich) effektiv denkbar wäre,61 behandelt das dritte Hauptstück (§§ 36 – 40) der natürlichen Privatrechtslehre rechtsbegrifflich das Problem der Rechtskraft im natürlichen Zustand: „Von der subjectiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit.“62 So wie der reine Begriff der Kraft in sich aber den reinen Begriff der Substanz für sich selbst voraussetzt,63 so setzt die Rechtskraft des handelnd erworbenen Besitzes im äußeren Verhältnis im einzelnen Fall einen rechtsgesetzlich substanziellen, nicht einen bloß akzidentiellen Rechtswillen für sich voraus, der dann allerdings nicht in der Person des einzelnen Privatrechtssubjekts, sondern lediglich in der Person eines insofern allseits übergeordneten Staatsrechtssubjekts gedacht werden kann. Eben darum geht aus der bis hierher synthetisch entwickelten Rechtsidee im natürlichen Privatrecht (§§ 1 – 40) das rechtsbegrifflich entwickelte Bewusstsein für die an und für sich selbst bestehende praktische Notwendigkeit eines öffentlichen Rechts hervor (§§ 41 – 42), da alles Privatrecht im natürlichen Zustand, mit der ausgewiesenen begrifflichen Verfassung des ersten Teils der Rechtslehre, nur in der rechtsbegrifflichen Hinsicht auf das öffentliche Recht schon provisorisch-rechtlich synthetisch bestimmt gedacht werden konnte.64 Die rechtsbegriffliche Fortentwicklung der Rechtsidee im öffentlichen Recht knüpft an diese begriffliche Reihe reiner Verstandesbegriffe (Haben – Handlung – Kraft – Substanz) im rechtsgesetzlichen Vernunftbezug nahtlos an. Mit dem reinen Begriff der Substanz handelt das erste Hauptstück des öffentlichen Rechts (§§ 43 – 52) mit dem Staatsrecht nämlich von der inneren rechtsgesetzlichen Bestimmungshandlung der rechtsgesetzlichen Willenssubstanz des Staates an und für sich selbst. Da diese Willenssubstanz in ihrem äußeren Handlungsverhältnis jedoch wirksam in Relation zu seinesgleichen tritt, handelt das zweite Hauptstück des öffentlichen Rechts (§§ 53 – 61) mit dem Völkerrecht von der äußeren und 59 Zur Kausalitätsprädikabilie der Handlung im begrifflichen Voraussetzungszusammenhang des Verstandes siehe KrV, A 81 f./B 107 f. sowie A 204/B 249. 60  MSRL, AA VI: 258 ff. 61  Zur Kausalitätsprädikabilie der Kraft siehe KrV, A 81 f./B 107 f. sowie A 204/B 249. 62  MSRL, AA VI: 296 ff., besonders 303.09 – 25. 63  Zur Substanzkategorie siehe KrV, A 80 ff./B 106 ff. sowie A 204/B 249. 64  MSRL, AA VI: 305 ff.: „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt.“

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rechtsgesetzlich zu bestimmenden Kausalität dieser Willenssubstanz. Schließlich ist dieses kausale Verhältnis der staatlichen Willenssubstanzen rechtsgesetzlich bestimmt nur in Gemeinschaft aller staatsrechtlich vereinigten Rechtssubjekte denkbar, sodass das dritte Hauptstück (§ 62) vom Völkerstaatsrecht (Weltbürgerrecht) handelt,65 bevor sich hieraus über den Beschluss zum ewigen Frieden der Übergang zurück in die praktische Kategorie der Gemeinschaft ergibt und sich die rechtsbegrifflich-synthetische Entwicklung der Rechtsidee unter dem allgemeinen Rechtsbegriff in seiner Totalität somit immanent aus sich selbst heraus notwendig in sich selbst abschließt. Durch ihre rein verstandesbegriffliche Verknüpfung unter dem allgemeinen Rechtsbegriff stehen die insgesamt sechs Hauptstücke des Hauptteils der Rechtslehre somit in der begrifflichen Voraussetzungsrelation von „Haben – Handlung – Kraft / Substanz – Kausalität – Gemeinschaft“, wobei jede vorausgehende Stufe der begrifflichen Gesamtentwicklung die jeweils nachfolgende Stufe für ihre eigene vollständig rechtsbegriffliche Bestimmung begrifflich in sich selbst voraussetzt, und umgekehrt jede nachfolgende Stufe der Entwicklung die jeweils vorausgehende Stufe begrifflich bewahrend in sich aufhebt. 2. Das rechtsbegriffliche Gefüge des ersten Hauptstücks der natürlichen Privatrechtslehre in den §§ 1 – 6 Da der in § 6 hinsichtlich seiner objektiven Realität in einzelnen synthetischen Rechtssätzen a priori zu deduzierende Begriff des intelligiblen Besitzes im ersten Hauptstück der Privatrechtslehre eingeführt wird, das von der rechtsbegrifflich-synthetischen Bestimmung des reinen Verstandesbegriffs des Habens im rechtsbegrifflichen Zusammenhang der Rechtsidee handelt, ist nunmehr das rechtsbegriffliche Gefüge dieses ersten Hauptstücks zu erörtern, und zwar in der Form, in der es sich immanent aus der in ihm vorzunehmenden begrifflichen Entwicklung ergibt. Wie bereits gesehen, ist in der synthetischen Entwicklung der Rechtsidee die rechtsbegrifflich bestimmte Synthese des Rechtssubjekts mit einem Rechtsobjekt außer ihm zu leisten. Diese Synthese von Rechtssubjekt und äußerem Rechtsobjekt im besonderen Rechtsbegriff eines äußeren Habens / Besitzes setzt aber begrifflich die Synthese von Rechts- und Habens-/Besitzbegriff für sich selbst voraus, sodass sich der reine Rechtsbegriff des Habens / Besitzes (Mein und Dein), d.  h. der Begriff des intelligiblen Besitzes als erstes begriffliches Problem im synthetischen Rechtsdenken der Rechtsidee unter dem allgemeinen Begriff des Rechts der Menschen (§ B Abs. 3) vorstellt (§ 1 Abs. 1). Denn die erste Stufe der Einteilung des Rechtsbegriffs folgt mit der vorgestellten begrifflichen Anlage der Rechtsidee durch den Begriff des Habens.

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  MSRL, AA  VI: 352.06 – 25.

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a) Die logische Grundeinteilung des Rechtsbegriffs durch den Begriff des Habens / Besitzes aa) D  ichotomie der Einteilung des Rechtsbegriffs als Ausgangspunkt Wie jede logische Begriffsbestimmung nimmt also auch die rein rechtsbegriffliche Begriffsbestimmung des Haben-/Besitzbegriffs ihren Ausgang von einem disjunktiven Urteil,66 das die Sphäre des gegebenen Begriffs nach dem Satz des Widerspruchs so einteilt, dass die Teile der Sphäre einander in dem Ganzen (des gegebenen Begriffs) oder zu einem Ganzen (eines Begriffs) als Ergänzungen wechselseitig bestimmen (Dichotomie).67 Die somit einander nicht einseitig subordinierten, sondern wechselseitig ausschließenden Glieder eines gegebenen Begriffs sind in seiner Sphäre logisch mithin als A oder nicht A bestimmt, sodass sich hier die folgende logische Grundeinteilung des Rechtsbegriffs ergibt:

Reiner praktischer Vernunftbegriff (= VB) des Rechts Reiner Verstandesbegriff des Habens eines Gegenstandes

Reiner Verstandesbegriff des Nichthabens eines Gegenstandes

Abbildung 1: Logische (dichotomische) Grundeinteilung des Rechtsbegriffs nach dem reinen Begriff des Habens

Beide Glieder der Einteilung stellen so verschiedene Urteile als in der Gemeinschaft einer begrifflichen Sphäre stehend vor, und das disjunktive Urteil bringt jedes in ihm enthaltene Urteil nur durch die Einschränkung des anderen mit Blick auf die ganze Sphäre des gegebenen Begriffs hervor.68 Der eigentümliche Charakter eines disjunktiven Urteils besteht mithin darin, dass die Glieder der Disjunktion zunächst einmal nur problematische Urteile einer begrifflichen Möglichkeit sind, „von denen nichts anders gedacht wird, als daß sie, wie Theile der Sphäre einer Erkenntniß, jedes des andern Ergänzung zum Ganzen (complementum ad totum), zusammengenommen, der Sphäre des ersten gleich seien.“69 Darum ist mit dieser bloß logischen Einteilung des Rechtsbegriffs durch den reinen Begriff des Habens gänzlich unklar, ob dem Rechtsbegriff des Besitzes, d. h. dem Begriff des intelligiblen Besitzes objektive praktische Realität eignet:

  Siehe KrV, A 576 f./B 604 f.   KrV, B 112; Log, AA IX: 106 f. (§§ 27 – 28). 68  Log, AA IX: 106 f. (§ 28). 69  Log, AA IX: 107.10 – 17 (§ 29). 66 67

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Reiner praktischer Vernunftbegriff (= VB) des Rechts Reiner Verstandesbegriff des Habens eines Gegenstandes VB des rein rechtlichen Habens eines Gegenstandes (= int. Besitz)

Reiner Verstandesbegriff des Nichthabens eines Gegenstandes

?

Abbildung 2: Problematische Bestimmung des Rechtsbegriffs in seiner (dichotomischen) Grundeinteilung (1. Synthesis)

Denn wenn sich die objektive Realität des Rechtsbegriffs – wie es theoretisch möglich ist – in die Sphäre vom „Nichthaben eines Gegenstandes“ vermitteln würde, dann wäre dem Willenssubjekt des Rechtsbegriffs der Besitz eines Gegenstandes rechtsbegrifflich bestimmt unmöglich, d. h. verboten, sodass dem einzelnen menschlichen Rechtssubjekt auch ein äußeres praktisches Weltverhältnis unter dem Rechtsbegriff unmöglich wäre. Vermittelte sich die objektive Realität des Rechtsbegriffs dagegen in die Sphäre vom „Haben eines Gegenstandes“, dann wäre dem Willenssubjekt des Rechtsbegriffs der Besitz eines Gegenstandes hingegen rechtsbegrifflich bestimmt möglich, d. h. nicht absolut verboten, sondern – ganz im Gegenteil – erlaubt. bb) Von der Dichotomie zur Trichotomie der Einteilung des Rechtsbegriffs Da der Rechtsbegriff in der vorstehenden Einteilung jedoch selbst jedenfalls objektive praktische Realität hat, denn sonst wäre er ein unpraktischer Begriff, muss auch in einem der beiden eingeteilten problematischen Urteile die Wahrheit des Rechtsbegriffs gelegen sein und dieses eine notwendig noch zu bestimmende problematische Urteil insofern für sich auch assertorisch gelten, „weil außer ihnen die Sphäre der Erkenntniß unter den gegebenen Bedingungen nichts mehr befaßt und eine der andern entgegengesetzt ist, folglich weder außer ihnen etwas anders, noch auch unter ihnen mehr als Eines wahr sein kann“70. In disjunktiven Urteilen wird somit das, was als Glied unter dem eingeteilten Begriff enthalten ist, als enthalten unter einem der Glieder der Einteilung betrachtet, denn was in der Sphäre eines gegebenen Begriffs enthalten ist, das ist auch unter einem der Teile dieser Sphäre enthalten.71 – Nun kann die praktische Geltung des Rechtsbegriffs in einem der beiden problematischen Urteile aber nicht aus der bloß logischen Einteilung des Rechtsbegriffs nach dem reinen Verstandesbegriff des Habens entnommen wer  Log, AA IX: 107.17 – 22 (§ 29).   Log, AA IX: 107 f. (§ 29).

70 71

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den, denn die logische Einteilung nach einem reinen Verstandesbegriff enthält für sich nicht mehr als diese bloß logische Einteilung. Bevor sogleich auf dieses Problem der logischen bzw. metaphysischen Bestimmung des (praktischen) Begriffs eingegangen werden kann, ist hier allerdings noch Folgendes zu bemerken: In der bis hierher bloß problematischen Einteilung des Rechtsbegriffs zweiter Stufe (Abb. 2) wäre dem problematischen rechtlichen Haben eines Gegenstandes (= intelligibler Besitz) das ebenso problematische nicht-rechtliche und daher bloß äußere oder empirische Haben eines Gegenstandes (= empirischer Besitz) – als theoretisch ebenso denkmöglich – entgegenzusetzen: Reiner praktischer Vernunftbegriff (= VB) des Rechts Reiner Verstandesbegriff des Habens eines Gegenstandes VB des rein rechtlichen Habens eines Gegenstandes (= int. Besitz)

?

Reiner Verstandesbegriff des Nichthabens eines Gegenstandes VB des nicht-rechtlichen (bloß äußeren) Habens eines Gegenstandes (= emp. Besitz)

Abbildung 3: Problematische Fortbestimmung des Rechtsbegriffs in seiner (dichotomischen) Grundeinteilung

Demnach ergibt sich durch die dichotomische Einteilung des Rechtsbegriffs vermittelst des reinen Verstandesbegriffs des Habens auf einer zweiten Stufe die dichotomische Entgegensetzung von intelligiblem und empirischem Besitz eines Gegenstandes, wenn sich die rechtsbegriffliche Bestimmung in die Sphäre vom „Haben eines Gegenstandes“ vermitteln sollte. Dabei handelt es sich um die beiden verständig denkbaren „Arten“, sich auf einen äußeren Gegenstand zu beziehen,72 wobei die §§ 1 – 9 alleine die rechtliche Art des Habens entwickeln, da das erste Hauptstück der natürlichen Privatrechtslehre bekanntlich handelt: „Von der Art etwas Äußeres als das Seine zu haben.“73 Dieser begriffliche Widerspruch – der unter dem Vernunftbegriff des Rechts eine notwendige Antinomie74 in sich schließt – wäre sodann aber in der Sphäre des intelligiblen Besitzes synthetisch in einer einzigen vernünftigen Begriffseinheit des Rechts aufgehoben vorstellbar, wenn darunter mit der praktischen Bestimmung des Rechtsbegriffs synthetisch das „rechtliche Haben eines äußeren Gegenstandes“ (= äußerer Rechtsbesitz) rechtsbe72  Zum logischen (d. h. begrifflichen) Verhältnis von Gattung (hier: Haben) und Art siehe Log, AA IX: 96 f. (§ 10). 73  MSRL, AA VI: 245.07; Auflösung erfährt die Thematik schließlich in MSRL, AA VI: 253.37 – 254.03. 74  Siehe dazu dann RL, AA VI: 254.33 – 255.13 (§ 7).

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grifflich bestimmt vorzustellen wäre, denn dann wären die beiden entgegensetzten Glieder der Einteilung zweiter Stufe in einem dritten Begriff der einzigen Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben, auf dritter Stufe synthetisch vereinigt (Trichotomie):75 Reiner praktischer Vernunftbegriff (= VB) des Rechts Reiner Verstandesbegriff des Habens eines Gegenstandes VB des rein rechtlichen Habens eines Gegenstandes (= int. Besitz) VB des rein rechtlichen Habens eines äußeren Gegenstandes (= äußerer Rechtsbesitz)

?

?

Reiner Verstandesbegriff des Nichthabens eines Gegenstandes VB des nicht-rechtlichen (bloß äußeren) Habens eines Gegenstandes (= emp. Besitz)

VB des nicht-rechtlichen (bloß empirischen) Habens eines äußeren Gegenstandes (= absolute Herrenlosigkeit äußerer Gegenstände)

Abbildung 4: Problematische Fortbestimmung des Rechtsbegriffs zur Trichotomie des Habens (2. Synthesis)

Auf dieser Einteilung des Rechtsbegriffs durch den reinen Verstandesbegriff des Habens beruht nun § 1.76 Denn zunächst enthält dieser Paragraph in seinem 75  Siehe zur trichotomischen Einteilung, die eine synthetische Begriffserkenntnis (a priori) ermöglicht, Log, AA IX: 147 f. (§ 113): „[…] die Eintheilung aus dem Princip der Synthesis a priori [hat] Trichotomie, nämlich: 1) den Begriff als die Bedingung, 2) das Bedingte, und 3) die Ableitung des letztern aus dem erstern.“ – Allerdings dürfte dieser logische bzw. methodologische Zusammenhang begrifflichen Denkens in der rechtsphilosophischen Kantforschung weitgehend unbekannt sein (wie schon Fulda, „Zur Systematik des Privatrechts in Kants Metaphysik der Sitten“, in: Hüning / Tuschling (Hrsg.): Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, Berlin: Duncker / Humblot, 1998, S. 141 [142] konstatiert hat), ebenso wie er bereits der zeitgenössischen Kantrezeption in einigen Teilen unbekannt gewesen zu sein scheint: „Man hat es bedenklich gefunden, daß meine Eintheilungen in der reinen Philosophie fast immer drei­ theilig ausfallen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Soll eine Eintheilung a priori geschehen, so wird sie entweder analytisch sein nach dem Satze des Widerspruchs; und da ist sie jederzeit zweitheilig (quodlibet ens est aut A aut non A). Oder sie ist synthetisch; und wenn sie in diesem Falle aus Begriffen a priori (nicht wie in der Mathematik aus der a priori dem Begriffe correspondirenden Anschauung) soll geführt werden, so muß nach demjenigen, was zu der synthetischen Einheit überhaupt erforderlich ist, nämlich 1) Bedingung, 2) ein Bedingtes, 3) der Begriff, der aus der Vereinigung des Bedingten mit seiner Bedingung entspringt, die Eintheilung nothwendig Trichotomie sein.“ (KU, AA V: 197.18 – 27). – Interessant dürfte in diesem Zusammenhang übrigens vielleicht zu bemerken sein, dass es sogar Hegel, „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I“, in: Moldenhauer / Michel (Hrsg.): Hegel Werke in 20 Bänden VIII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 382 (Zusatz zu § 230) einem Kant zum Verdienst angerechnet hat, auf das Prinzip der Trichotomie in der Sphäre des Geistes aufmerksam gemacht zu haben.

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ersten Absatz eine Nominaldefinition77 des rechtlichen Mein und Dein überhaupt (d. h. des intelligiblen Besitzes). Sodann wird diese Nominaldefinition im zweiten Absatz auf einen äußeren Gegenstand bezogen, sodass ersichtlich wird, dass ein äußerer Rechtsbesitz nicht ohne einen intelligiblen Besitz denkbar ist, mit der Folge, dass jetzt erstmals die Entgegensetzung von empirischem und intelligiblem Besitz eines äußeren Gegenstandes bewusst wird. Schließlich erläutert der dritte Absatz die logische Möglichkeit, sowohl einen empirischen als auch einen intelligiblen Besitz im Begriff des Habens eines äußeren Gegenstandes zu denken, sodass ein intelligibler Besitz im Begriff des Habens eines äußeren Gegenstandes jedenfalls möglich ist. Ob der Begriff des intelligiblen Besitzes aber über diese bloß logische Denkmöglichkeit auch tatsächlich objektive – praktische – Realität hat, ist damit noch nicht gesagt. Hierüber müssen erst die §§ 2 – 6 weitere Aufklärung bringen. b) Die metaphysisch-synthetische Bestimmung der Grundeinteilung durch das Postulat des § 2 Eine solche Aufklärung, die zuletzt in einer Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes (§ 6) bestehen muss, setzt eine positive Bestimmung des Rechtsbegriffs, d. h. eine positive praktische Bestimmung des Begriffs des intelligiblen Besitzes durch den Rechtsbegriff für sich selbst voraus. Um den Gang und mithin auch die Textgestalt einer solchen Deduktion zu verstehen, ist es nun zunächst einmal notwendig zu sehen, wie ein Begriff infolge einer vorherigen dichotomischen Einteilung überhaupt logisch positiv bestimmt werden kann, sodass damit auch ersichtlich wird, wie sich ein Begriff metaphysisch zu bestimmen vermag. aa) D  ie logische Bestimmung eines Begriffs durch disjunktiven Vernunftschluss Die logische Bestimmung eines Begriffs beruht positiv auf einem (disjunktiven) Vernunftschluss, der das disjunktive Urteil der logischen Einteilung eines gegebenen Begriffs (hier: die des Rechtsbegriffs) im Obersatz führt („das Recht ist entweder Haben oder Nichthaben eines Gegenstandes“), und bei dem der Untersatz diese Sphäre des gegebenen und eingeteilten Begriffs jedenfalls mittelbar bis auf einen Teil der Einteilung einschränkt, sodass der Schlusssatz den gegebenen Begriff durch diesen einen Teil notwendig bestimmt.78 Es wird somit von der Wahrheit eines Gliedes der Disjunktion der Einteilung auf die Falschheit aller übrigen Glieder, oder von der Falschheit aller Glieder, außer einem, auf die Wahrheit des einen Gliedes geschlossen; zwischen den Gliedern der Disjunktion findet nämlich – wie   MSRL, AA VI: 245 f.   Zur Nominaldefinition im Gegensatz zur Realdefinition siehe Log, AA IX: 143 f. (§ 106). 78  KrV, A 576 f./B 604 f. (= AA III: 388.21 – 25); Log, AA IX: 120 ff. (§§ 56 – 61, 77 – 78). 76 77

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gesehen – Dichotomie statt.79 Wenn dabei der Untersatz die Sphäre des Begriffs auf nur ein Glied der logischen Einteilung einschränkt, dann ist mit diesem Untersatz vorausgesetzt, dass es kein drittes gleichrangiges Glied in der Sphäre des gegebenen Begriffs gibt. Das Prinzip der disjunktiven Vernunftschlüsse ist somit der „Grundsatz des ausschließenden Dritten“80. bb) Das Postulat des § 2 Abs. 1 als Untersatz im disjunktiven Vernunftschluss Der durch den reinen Verstandesbegriff des Habens eingeteilte Rechtsbegriff kann folglich nur positiv bestimmt werden, wenn es einen Rechtssatz gibt, der die in das „Haben“ bzw. „Nichthaben eines Gegenstandes“ eingeteilte Sphäre des Rechtsbegriffs rein rechtsbegrifflich notwendig auf die Sphäre vom „Haben eines Gegenstandes“ einschränkt, und mithin den darunter sodann denkbaren Begriff des intelligiblen Besitzes auf diese Weise synthetisch-praktisch bestimmt. Ein solcher die Sphäre des Rechtsbegriffs rein (rechts-)begrifflich (d. h. metaphysisch) bestimmender und synthetisch wirkender Rechtssatz wäre mithin als ein metaphysischer Anfangsgrundsatz in der metaphysischen Rechtserkenntnis der oben eingeteilten Begriffsreihe des Habens eines Gegenstandes unter dem Rechtsbegriff anzusehen, und müsste einem Rechtssubjekt unter seinem allgemeinen Rechtsbegriff im Hinblick auf seinen praktischen Satz eben darum ohne weitere begriffliche Vermittlung stets schon unmittelbar gewiss sein, sodass in logischer Hinsicht von einem nicht weiter beweisbaren Prinzip (lat. principium = Anfang, Beginn, Ursprung, Grundsatz) zu sprechen wäre.81 Die durch ihn in ihrer objektiven Realität erkennbare und hier in dieser Untersuchung oben bereits zum Voraus als Problem vorgestellte Reihe rechtsbegrifflicher Bestimmung in der Trichotomie des Habens (Abb. 4), die schließlich erst in den §§ 2 ff. Schritt für Schritt rechtsbegrifflich bestimmt entwickelt wird, würde als rein rechtsbegrifflich bestimmte Vernunfterkenntnis eine praktische Erkenntnis „aus Principien (ex principiis)“82 sein. An dieser Stelle führt § 2 ein „Rechtliches Postulat der praktischen Vernunft“ in den Gedanken ein, das da lautet: „Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objectiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig.“ (MSRL, AA VI: 246.03 – 08).

Demnach postuliert der praktische Satz des § 2 die rechtliche Möglichkeit (d. h. Erlaubnis) des Besitzes eines äußeren Gegenstandes, d. h. die objektive Realität   Log, AA IX: 129 f. (§ 77).   Log, AA IX: 130 (§ 78). 81  Log, AA IX: 110 (§§ 33, 34). 82  Log, AA  IX: 22.05 – 07. 79 80

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des Begriffs eines äußeren Rechtsbesitzes, wie er in den §§ 3 – 5 methodologisch zu extensiver Deutlichkeit zu entwickeln ist. Umgekehrt soll die Herrenlosigkeit äußerer Gegenstände rechtswidrig und mithin rechtlich unmöglich sein, sodass sich mit dem Postulat des § 2 Abs. 1 die Sphäre des durch den reinen Verstandesbegriff des Habens dichotomisch eingeteilten Rechtsbegriffs im disjunktiven Vernunftschluss notwendig auf das „Haben eines Gegenstandes“ praktisch einschränkt, weil der mit dem Postulat objektiv reale Begriff des äußeren Rechtsbesitzes – dort seinerseits theoretisch im Gegensatz zum Begriff der absoluten Herrenlosigkeit äußerer Gegenstände – in der Reihe des „Habens eines Gegenstandes“ steht. Mit dem Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes (§ 2) hebt demnach eine metaphysische Begriffserkenntnis des durch den reinen Verstandesbegriff des Habens eingeteilten Rechtsbegriffs als einem praktischen Begriff an, dadurch sich der Rechtsbegriff selbst intensiv verdeutlicht. Bevor allerdings die intensive Verdeutlichung des so eingeteilten Rechtsbegriffs in den §§ 3 – 6 nachvollzogen werden kann, bedarf es hier einer Betrachtung der unmittelbaren Gewissheit des praktischen Satzes des Postulats selbst:83 cc) D  ie unmittelbare Gewissheit des Postulats der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes Während § 2 Abs. 2 eine analytische Verdeutlichung des praktischen Satzes des Postulats des § 2 Abs. 1 zu größerer extensiver Deutlichkeit desselben in sich enthält, die aus dem Begriff eines „Gegenstandes meiner (freien) Willkür“ geführt wird, enthält § 2 Abs. 3 mit dem sog. „Erlaubnisgesetz“ einen praktischen Satz, der in der logischen Verfassung des Postulats des § 2 Abs. 1 bereits in notwendiger Weise mitgesetzt ist, sodass dieser die intensive Deutlichkeit des praktischen Satzes des Postulats vergrößert. (1) Extensive Verdeutlichung des praktischen Satzes des Postulats (§ 2 Abs. 2) Als ein unmittelbar gewisser Grundsatz ist das Postulat des § 2 Abs. 1 keines Beweises fähig und bedürftig. Dementsprechend enthält § 2 Abs. 284 auch weder eine Begründung, noch einen Beweis für diesen Satz. Vielmehr soll dort lediglich eine extensive Verdeutlichung des praktischen Satzes des Postulats, und zwar durch gedankliche Konfrontierung mit seinem Gegenteil geleistet werden. 83  Gewiss leistet § 2 nämlich, vor der Exposition (§ 4) und Realdefinition (§ 5) des hinsichtlich seiner objektiven Realität mit ihm postulierten Begriffs vom äußeren Mein und Dein mitsamt der begrifflichen Realbedingung eines intelligiblen Besitzes, nicht unmittelbar schon „den Nachweis, daß der Begriffs (sic!) eines intelligiblen Besitzes nicht leer ist“, wie dies jedoch Friedrich, Eigentum und Staatsbegründung in Kants Metaphysik der Sitten, Berlin / New York: De Gruyter, 2004, S. 101 annimmt, und dem sich (a.a.O., S. 118 ff.) eben darum auch die eigenständige Bedeutung der Deduktion in § 6 nicht zu erschließen vermag. 84  RL, AA  VI: 246.09 – 35.

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In diesem Sinne steckt bereits im Begriff eines „Gegenstandes meiner Willkür“, dass ich als Rechtssubjekt mit einem solchen Gegenstand rechtlich überhaupt erlaubterweise verfahren können muss, da der Gegenstand ansonsten kein Gegenstand meiner unter dem Rechtsgesetz freien Willkür wäre. Da aber ein absolutes Verbot der Herrschaftsbegründung, respektive ein absolutes Gebot der Herrenlosigkeit äußerer Gegenstände nicht im allgemeinen Rechtsgesetz (§ C Abs. 4) des allgemeinen Rechtsbegriffs (§ B Abs. 3) gesetzt ist, kann es praktisch auch kein solches Ver- bzw. Gebot geben. Dementsprechend ist ein Gegenstand meiner unter dem allgemeinen Rechtsgesetz freien Willkür ein solcher, den ich rechtlich zu gebrauchen in meiner Macht habe. Im Begriff eines Gegenstandes meiner Willkür stecken mithin analytisch die rechtliche Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes und mithin auch die eines äußeren Weltverhältnisses des menschlichen Rechtssubjekts. Wäre es anders, so dürfte das menschliche Rechtssubjekt von Rechts wegen schon nicht auf dem Erdboden leben. Da es sich so jedoch nicht verhalten kann und in der Tat natürlich auch nicht verhält, entspringt mit dem Postulat des § 2 Abs. 1 das metaphysische Ursprungs- und Rechtsproblem des ersten Welt- bzw. Bodenzugriffs, das in der synthetischen Entwicklung der Rechtsidee einer rechtsbegrifflichen Auflösung zugeführt werden muss (§ 6 Abs. 4 – 10, § 7 Abs. 2 und 8 S. 2 a.E., § 10, §§ 11 – 17). Mit dieser rechtsbegrifflichen Auflösung des metaphysischen Ursprungsproblems allen äußeren Rechts der Menschen steht § 2 Abs. 3 in einem engen Zusammenhang, wobei dieser dritte Absatz auch eine bislang wohl weitgehend noch nicht als solche erkannte Bedeutung für die Deduktion des § 6 besitzt, wie aber erst (unter III.) noch gezeigt werden muss: (2) Intensive Verdeutlichung des praktischen Satzes des Postulats (§ 2 Abs. 3) Um den dritten Absatz von § 2 in seiner Bedeutung für die begriffliche Entwicklung der Privatrechtslehre richtig aufzufassen, ist es erforderlich, sich die logische Struktur eines Postulats klar zu machen. Denn ein Postulat ist eine besondere Form eines Grundsatzes: „Ein Postulat ist ein praktischer, unmittelbar gewisser Satz oder ein Grundsatz, der eine mögliche Handlung bestimmt, bei welcher vorausgesetzt wird, daß die Art sie auszuführen, unmittelbar gewiß sei.“ (Log, AA IX: 112.03 – 05, § 38).

Wenn § 2 Abs. 1 für die äußeren Handlungen der dem Rechtsbegriff und -gesetz unterworfenen menschlichen Rechtssubjekte praktisch bestimmt, dass der Besitz äußerer Gegenstände rechtlich möglich und mithin erlaubt ist, dann ist dabei von dieser rechtlichen Möglichkeit des äußeren Rechtbesitzes innerlich zugleich vorausgesetzt, dass auch die dazugehörige Rechtsbesitzerwerbshandlung rechtlich ebenso praktisch möglich ist. Andernfalls wäre das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft nämlich letztlich doch gar kein praktisches, sondern ein äußerst unpraktisches Postulat.

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In der Totalität des Rechtsbegriffs, darin es um die umfassend rechtsbegrifflich aufzulösende Synthesis von Rechtssubjekt und äußerem Rechtsobjekt zu tun ist, muss demnach mit dem Postulat des § 2 ein ursprünglicher und mithin auch ein erster Erwerb eines äußeren Gegenstandes erlaubt sein, da andernfalls gar kein äußerer Gegenstandsbesitz rechtlich möglich wäre, weil dann alle äußeren Gegenstände mangels einer rechtlich möglichen Erwerbshandlung wiederum absolut herrenlos bleiben müssten. In diesem Sinne heißt es in § 2 Abs. 3: „Man kann dieses Postulat ein Erlaubnißgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugniß giebt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten: nämlich allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben.“85 Unter dem Begriff des äußeren Rechtsbesitzes, als einem Einteilungsglied der dritten Stufe der Einteilung des Rechtsbegriffs nach dem reinen Verstandesbegriff des Habens, muss demnach auch der äußere Rechtsbesitz aus einer ursprünglichen sowie ersten Besitzerwerbshandlung praktisch möglich und mithin in seinem reinen praktischen Begriff objektiv real sein, weil mit dem Postulat des § 2 Abs. 1 zugleich die rechtliche Möglichkeit einer ersten Erwerbshandlung praktisch bestimmt ist (§ 2 Abs. 3), die den Begriff des äußeren Rechtsbesitzes nach ihrem eigenen Vernunftbegriff (der ursprünglichen Erwerbshandlung) innerlich mit dem Rechtsbegriff zwischen der ersten und der dritten Stufe der Einteilung desselben nach dem reinen Verstandesbegriff des Habens synthetisch verbindet. Also nicht nur mit Blick auf den reinen Verstandesbegriff des Habens, sondern auch mit Blick auf den reinen Verstandesbegriff des Handelns wirkt das Postulat des § 2 synthetisch verbindend, d. h. als metaphysischer Anfangsgrundsatz (siehe Abb. 5). Wollte man nunmehr die objektive – praktische – Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes mit begrifflich-methodologischer Notwendigkeit nachweisen (§ 6), dann müsste der eine synthetische Rechtssatz a priori des äußeren Rechtsbesitzes aus dem ursprünglichen Erwerb unter dem Begriff des äußeren Rechtsbesitzes angeknüpft (§ 6 Abs. 4) und sodann regressiv auf den reinen praktischen Begriff vom intelligiblen Besitz darüber zurückgeführt werden (§ 6 Abs. 5 – 9), bevor der praktische Begriff des intelligiblen Besitzes als höchster Rechtsbegriff des Besitzes seinerseits progressiv aus der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit, nämlich dem Postulat des § 2 Abs. 1, und zwar als bereits darin praktisch bestimmend, erkannt werden könnte (§ 6 Abs. 10); – weil es lediglich einen einzigen einzelnen synthetischen Rechtssatz des äußeren Rechtsbesitzes a priori gibt, dessen objektive Realität mit dem Erlaubnisgesetz des Postulats (§ 2 Abs. 3) unmittelbar gewiss ist. Ohne diese unmittelbare Gewissheit eines bestimmten einzelnen synthetischen Rechtssatzes a priori wäre eben darum gar kein Nachweis der objektiven Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes möglich, denn woher wollte man   MSRL, AA  VI: 247.01 – 06.

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Reiner praktischer Vernunftbegriff (= VB) des Rechts Reiner Verstandesbegriff des Habens eines Gegenstandes VB des rein rechtlichen Habens eines Gegenstandes (= int. Besitz) VB des rein rechtlichen Habens eines äußeren Gegenstandes (= äußerer Rechtsbesitz)

Reiner Verstandesbegriff des Nichthabens eines Gegenstandes VB des nicht-rechtlichen (bloß äußeren) Habens eines Gegenstandes (= emp. Besitz)

VB des nicht-rechtlichen (bloß empirischen) Habens eines äußeren Gegenstandes (= absolute Herrenlosigkeit äußerer Gegenstände)

Rechtliches Haben eines zuerst handelnd in Besitz genommenen äußeren Gegenstandes (= äußerer Rechtsbesitz aus ursprünglichem Erwerb)

Abbildung 5: Die Bestimmung von Postulat & Erlaubnisgesetz in der Reihe des durch den Begriff des Habens eingeteilten Rechtsbegriffs

denn wissen, dass ihm irgendwo praktische Wirklichkeit in äußeren Verhältnissen der Menschen tatsächlich zukommt? Allerdings würde diese methodologisch so bezeichnete Vorgehensweise zunächst eine Verdeutlichung des mit dem Postulat des § 2 Abs. 1 unmittelbar gewiss objektiv praktischen Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes voraussetzen, da ein einzelner synthetischer Rechtssatz des äußeren Rechtsbesitzes wohl nur durch seine allgemeine Vorstellung, d. h. durch seinen Begriff als solcher rechtlich bestimmt denkbar ist. Eben darum enthalten die §§ 3 – 5 eine methodologische Entwicklung des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes zu seiner extensiven sowie des Rechtsbegriffs intensiven Deutlichkeit. dd) A  nalyse und Realdefinition des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes in den §§ 4 – 5 Die objektive Realität des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes ist mit der in § 2 Abs. 1 postulierten rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes schon jetzt unmittelbar gewiss, denn die reale rechtliche Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes liegt in nichts anderem als in seinem Realbegriff, denn dieser ist als praktischer Begriff Realbedingung des Begriffsgegenstandes, d. h. des äußeren Rechtsbesitzes. Folglich kann der Gedanke der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes, d. h. der Nachweis seiner objektiven Realität im jetzigen Gedankenstadium (§§ 1 – 2) nur im Ausgang vom Begriff des äußeren Rechtsbesitzes entwickelt werden. Darum leiten die §§ 3 – 5 auf die Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes in § 6 hin, indem sie eine begriffliche Entwicklung des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes (= äußeres Mein und Dein) betreiben. Zu diesem Zweck knüpft

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§ 386 gedanklich zunächst die in § 1 Abs. 1 bereits eingeführte Nominaldefinition des Rechtsbesitzes überhaupt an, um sodann zu schließen, dass auch im besonderen Falle eines äußeren Rechtsbesitzes der (rechtliche) Besitz – gemäß § 1 Abs. 1 S. 2 – die maßgebliche Bedingung für den (rechtlichen) Gebrauch der Sache ist, sodass der tatsächliche Gebrauch der Sache durch eine andere Person mich selbst als Besitzer lädieren würde, woran nominal erkennbar wäre, dass die Sache rechtlich von mir, und nicht von der anderen Person besessen wird, obgleich diese in ihrem mich lädierenden Zugriff eine tatsächliche Sachherrschaft (empirischen Besitz) ausübt. – Demnach kann der empirische Besitz im tatsächlichen Gebrauch der Sache nicht der den äußeren Rechtsbesitz begründende Gebrauch und Besitz sein, sodass im Begriff des äußeren Rechtsbesitzes der Begriff eines intelligiblen Besitzes anzutreffen sein muss (§§ 1, 3). Nun kann sich die begriffliche Entwicklung des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes allerdings nicht mit einer bloßen Nominaldefinition begnügen, denn der Begriff des äußeren Rechtsbesitzes ist ein reiner praktischer Begriff, sodass seine Realdefinition zu bestimmen ist, die das diesen Begriff innerlich real bestimmende Moment ausdrücklich als solches setzt (dazu § 5). Allerdings setzt diese methodologische Bestimmung der Realdefinition eine verstandesanalytische Exposition des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes zu größerer extensiver Deutlichkeit dieses Begriffs voraus, da andernfalls durchaus undeutlich wäre, was da realdefiniert werden soll. Aus diesem Grund findet sich in § 4 eine „Exposition des Begriffs vom äußeren Mein und Dein“87. Im Rahmen dieser Exposition des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes wird deutlich, dass in allen drei möglichen Arten des äußeren Rechtsbesitzes, die wiederum im zweiten Hauptstück der natürlichen Privatrechtslehre (§§ 10 ff.) durch den reinen praktischen Begriff ihrer metaphysisch bestimmten Erwerbshandlung rechtsbegrifflich zu bestimmen sind, der intelligible Besitz gedacht wird. Mit dem Wissen der §§ 1, 3 ist deshalb nunmehr im Anschluss an diese Exposition des Begriffs auch klar, dass der intelligible Besitz die Realbedingung im Begriff des äußeren Rechtsbesitzes ist. Demnach wird die bloße Nominaldefinition des äußeren Rechtsbesitzes (§ 5 Abs. 1 S. 1) jetzt zur Realdefinition fortentwickelt (§ 5 Abs. 1 S. 2), indem eben der intelligible Besitz als Realbedingung gesetzt wird: „Die Sacherklärung dieses Begriffs aber, d. i. die, welche auch zur Deduction desselben (der Erkenntniß der Möglichkeit des Gegenstandes) zureicht, lautet nun so: Das äußere Meine ist dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin.“88 86  Ludwig, Kants Rechtslehre (Fn. 14), S. 65 hat diesen Paragraphen in seiner Vorstellung des kantischen Werks umstandslos getilgt. 87  MSRL, AA VI: 247.17 – 248.29. – Zur Methode verstandesanalytischer Exposition eines Begriffsinhalts siehe bereits die Ausführungen oben unter II. 1. b), die hier natürlich entsprechend gelten. 88  MSRL, AA  VI: 249.03 – 07.

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Diese Realdefinition des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes enthält zugleich die Deduktion des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes, weil der reine Begriff des äußeren Rechtsbesitzes hiermit einesteils regressiv aus der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit, nämlich dem intelligiblen Besitz erkannt wird, und damit zugleich anderenteils progressiv auch klar ist, dass durch ihn (d. h. den Begriff des äußeren Rechtsbesitzes) ein äußerer Rechtsbesitz real möglich ist. Die hier in § 5 Abs. 1 S. 2 angesprochene Deduktion des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes durch seine Realdefinition ist also keineswegs zu verwechseln mit der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes in § 6.89 – Gleichwohl besteht ein begrifflicher Zusammenhang zwischen beiden Begriffen. Denn da der in seiner objektiven Realität mit dem Postulat des § 2 Abs. 1 bereits jetzt unmittelbar gewisse Begriff des äußeren Rechtsbesitzes den intelligiblen Besitz für sich selbst voraussetzt, „muß zu Folge des § 4 ein intelligibler Besitz (possessio noumenon) als möglich vorausgesetzt werden , wenn es ein äußeres Mein oder Dein geben soll“90. Die reale Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes aber besteht in nichts anderem als seiner allgemeinen Vorstellung, d. h. im Begriff des intelligiblen Besitzes. Eben darum wird jetzt die „Deduction des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (possessio noumenon)“91 notwendig: III. Die Einheit der Deduktion des § 6 Abs. 1 – 10 Denn wenn der Begriff des äußeren Rechtsbesitzes nach § 2 Abs. 1 objektiv real ist, dann muss auch der Begriff seiner Realbedingung in ihm, d. h. der Begriff des intelligiblen Besitzes objektiv real sein. Allerdings muss der Begriff des intelligiblen Besitzes zu seiner Deduktion in seiner objektiven Realität aus der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit praktisch erkannt werden, sodass der der bloß regres89  Dieser Verwechslung dürfte jedoch Ludwig, Kants Rechtslehre (Fn. 14), S. 109 unterliegen, wenn er in der hier vorgetragenen Lesart eine „sinnlose Lesart“ ausgemacht haben will. 90  MSRL, AA VI: 249.11 – 13. – Mit diesem Satz ist keineswegs die von Ludwig, Kants Rechtslehre (Fn. 14), S. 61 f., 108 ff., 114 als Deduktion des § 6 angesehene „Ableitung des intelligiblen Besitzes“ bereits „fertig“, denn der in § 5 Abs. 1 S. 4 vorausgesetzte „intelligible Besitz“ ist nicht der in § 6 zu deduzierende „Begriff“ des intelligiblen Besitzes, sodass Ludwigs Tadel der Textgestalt an dieser Stelle schlicht auf einer Verwechslung von Begriff (des intelligiblen Besitzes) und Begriffsgegenstand (= intelligibler Besitz) beruht. So spricht er einmal von der Deduktion des intelligiblen Besitzes (S. 61 f. oder 114) und ein anderes Mal von der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes (S. 108 ff.). Die von ihm auf die Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes in § 6 bezogene Textversetzungshypothese (siehe schon oben Fn. 14) erscheint somit philologisch in zweifelhaftem Licht, denn wenn der intelligible Besitz in § 6 nicht deduziert werden soll, dann darf man sich nicht wundern, dass die tatsächlich geleistete Deduktion mit einem gleichwohl in diesem Sinne an sie herangetragenen Erwartungshorizont nicht sehr befriedigend ausfällt. Da es in einer Metaphysik (des Rechts) allerdings um eine praktische Erkenntnis aus reinen Begriffen zu tun ist, dürfte es kein Zufall sein, dass Kant die Deduktion auf den Begriff des intelligiblen Besitzes, und nicht den bloßen Begriffsgegenstand (den intelligiblen Besitz) bezieht. 91  MSRL, AA  VI: 249.28 – 29.

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sive Schluss auf seine objektive Realität aus der bis jetzt gewissen objektiven Realität des ihm subordinierten Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes nicht hinreicht, denn die Bedingung der Möglichkeit des Begriffs des intelligiblen Besitzes ist jedenfalls nicht der ihm subordinierte Begriff des äußeren Rechtsbesitzes. Wenn der Begriff des intelligiblen Besitzes allerdings der höchste reine praktische Rechtsbegriff in der Reihe der durch Synthesis des Rechtsbegriffs mit dem reinen Verstandesbegriffs des Habens einander subordinierten Begriffe ist, dann kann seine Deduktion auch nicht einfach – wie hingegen noch die des § 5 Abs. 1 S. 2 – durch seine Realdefinition bewirkt werden, denn dies setzte einen Rekurs auf eine höhere ihn innerlich synthetisch bestimmende Begriffseinheit voraus, die es mit der Zweiheit von Rechts- und Habensbegriff in seiner Synthesis als solche so nicht gibt. Der höchste reine Rechtsbegriff in einer solchen Reihe muss darum, eben weil er die ganze ihm subordinierte Reihe der Begriffe praktisch real bestimmen soll, hinsichtlich seiner objektiven praktischen Realität im Ausgang von einem realen synthetischen Rechtssatz des äußeren Rechtsbesitzes unter ihm, und durch die ihn als praktisch identifizierende Zurückführung auf die praktische Bedingung der Möglichkeit des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes unter ihm, d. h. durch schlüssige Identifizierung mit dem Postulat des § 2 Abs. 1 deduziert werden. Denn die Bedingung der Möglichkeit des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes unter dem Begriff des intelligiblen Besitzes ist das Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein in § 2 Abs. 1 gewesen, sodass die Deduktion in ihrem höchsten Punkt zuletzt auch nur durch dieses Postulat geleistet werden kann (§ 6 Abs. 10). Allerdings kann der Nachweis der objektiven Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes in diesem Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes nicht einfach mit diesem Postulat anheben (vgl. § 6 Abs. 10), weil damit zwar die Reihe der einander unter dem Begriff des intelligiblen Besitzes subordinierten Begriffe in ihrer progressiven Richtung hin zur objektiven Realität in Begriffsgegenständen bestimmt sein würde, dabei allerdings völlig unklar bliebe, auf welche Weise der Begriff des intelligiblen Besitzes durch den Begriff des äußeren Rechtsbesitzes in Gegenständen des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes, d. h. in einzelnen synthetischen Rechtssätzen a priori des äußeren Rechtsbesitzes unter ihrem Begriff objektive praktische Realität haben sollte, sodass die objektive Realität des in dieser Hinsicht zu deduzierenden Begriffs des intelligiblen Besitzes letztlich doch unerwiesen bleiben müsste. Also nur – und dies ist maßgeblich für das zutreffende Verständnis von § 6 in seiner Einheit – wenn die objektive Realität eines bestimmten einzelnen synthetischen Rechtssatzes vom äußeren Rechtsbesitz a priori unter dem reinen praktischen Begriff des äußeren Rechtsbesitzes bereits mit dem Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes (§ 2 Abs. 1) in seiner objektiven Realität gleichsam unmittelbar gewiss ist, kann die Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes hinsichtlich seiner eigenen objektiven Realität vollständig gelingen, weil dann regressiv zunächst eine Zurückführung dieses einzelnen synthetischen

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Rechtssatzes vom äußeren Rechtsbesitz auf den Begriff des intelligiblen Besitzes möglich ist, sodass damit der höchste gedankliche Punkt des Nachweises der objektiven Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes erst gedanklich bruchlos erreicht wird. – Nun enthält das Postulat des § 2 Abs. 1 – wie bereits gesehen – nach seiner logischen Verfassung in Abs. 3 zugleich aber auch die unmittelbare Gewissheit in sich, dass die erste / ursprüngliche Erwerbshandlung hinsichtlich eines äußeren Gegenstandes überhaupt rechtlich möglich sein muss, da andernfalls gar kein äußerer Rechtsbesitz real möglich wäre, was dem Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes widerspräche. Eben darum ist der einzelne synthetische Rechtssatz des äußeren Rechtsbesitzes aus der ersten / ursprünglichen Erwerbshandlung in seiner objektiven Realität ebenso unmittelbar gewiss, sodass dieser als Ausgangspunkt der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes dienen kann und muss:

Verstandesbegriff des Habens/Besitzes Begriff des intelligiblen Besitzes Begriff des äußeren Rechtsbesitzes

Begriff des äußeren Rechtsbesitzes aus erstem/ursprünglichem Erwerb

§ 2 Abs. 3

§ 2 Abs. 1

Vernunftbegriff des Rechts

Abbildung 6: Durch § 2 verfasste begriffliche Ausgangslage der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes

Mithin nur auf diese zuvor nach der Methode synthetischer Erkenntnis aus reinen Begriffen entwickelte Weise lässt sich der in § 6 nachzuweisenden objektiven Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes ein recht robustes Fundament verschaffen, da diese Deduktion andernfalls intellektuell gänzlich in der Luft hängen bleiben müsste, sodass nunmehr auch die Grundlage für ein angemessenes Verständnis der in § 6 insgesamt zu leistenden Deduktion gelegt ist: 1. Einheit und Differenz von synthetischem Rechtsbegriff und synthetischem Rechtssatz (§ 6 Abs. 1 – 3) Mit der durch das Postulat des § 2 Abs. 1 unmittelbar gewissen praktischen Realität des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes war zunächst die Frage aufgekommen: „wie ist ein äußeres Mein und Dein möglich?“92. Durch die Exposition des in § 3 angeknüpften Nominalbegriffs des äußeren Rechtsbesitzes in § 4 war sodann deutlich geworden, dass ein äußerer Rechtsbesitz nur durch den intelligiblen Besitz   MSRL, AA VI: 249.30.

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in ihm real möglich ist, sodass damit der Realbegriff des äußeren Rechtsbesitzes feststand (§ 5 Abs. 1 S. 2). – Dies führte aber wiederum zu der Frage: „wie ist ein bloß rechtlicher (intelligibler) Besitz möglich?“93. Da die Möglichkeit eines Gegenstandes jedoch in seinem Begriff gelegen ist, hängt die reale Möglichkeit des intelligiblen Besitzes von seinem Realbegriff ab, sodass damit die Frage nach der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes erreicht wurde (§ 6). – Nun enthält der Begriff des intelligiblen Besitzes in sich einen synthetischen Rechtssatz, nämlich den Rechtssatz aus der Synthese des Vernunftbegriffs des Rechts mit dem reinen Verstandesbegriff des Habens, sodass sich mit seiner Deduktion aus der Bedingung seiner Möglichkeit jetzt in § 6 die Frage stellt: „wie ist ein synthetischer Rechtssatz a priori möglich?“94 a) Synthetischer Rechtssatz in und unter dem Begriff des intelligiblen Besitzes Damit (§ 6 Abs. 1) ist die im Verlaufe des § 6 aufzulösende Fragestellung präzise bestimmt, denn mit dem Nachweis der objektiven praktischen Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes aus der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit ist zugleich gezeigt, wie der allgemeine synthetische Rechtssatz a priori im reinen praktischen Begriff des intelligiblen Besitzes möglich ist. Allerdings setzt die objektive praktische Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes die Realität eines einzelnen synthetischen Rechtssatzes a priori auch außerhalb von sich selbst voraus, nämlich unter sich, und zwar unter dem durch ihn real möglichen Begriff des äußeren Rechtsbesitzes, da die objektive – praktische – Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes in wirklichen Begriffsfolgen andernfalls unklar bliebe (s.o.). Folglich muss die Deduktion des § 6 diesen mit dem Erlaubnisgesetz des § 2 Abs. 3 in seiner objektiven Realität unmittelbar gewissen einzelnen synthetischen Rechtssatz a priori zunächst auf die allgemeine Bedingung seiner Möglichkeit, nämlich den allgemeinen synthetischen Rechtssatz im Begriff des intelligiblen Besitzes zurückführen, bevor dieser allgemeine dann gemeinsam mit jenem einzelnen synthetischen Rechtssatz aus der Bedingung der Möglichkeit des Begriffs des intelligiblen Besitzes als objektiv praktisch erkannt werden kann, sodass zugleich gezeigt ist, wie ein synthetischer Rechtssatz (in sowie unter dem Begriff des intelligiblen Besitzes) a priori möglich ist. – In diesem Sinne sind diese beiden synthetischen Rechtssätze in ihrer begrifflichen Einheit mit dem Begriff des intelligiblen Besitzes zugleich als allgemeiner und einzelner synthetischer Rechtssatz gedanklich voneinander zu unterscheiden, weil der Gedanke der Deduktion andernfalls unverständlich sein dürfte.

  MSRL, AA  VI: 249.31 – 32.   MSRL, AA  VI: 249.32 – 33.

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b) Die Einteilung aller Rechtssätze und die „Aufgabe für die Vernunft“ Nach dieser Vergewisserung der im Folgenden zu leistenden Aufgabe enthalten die Abs. 2 – 3 eine dichotomische Einteilung aller Rechtssätze in analytische und synthetische Rechtssätze. Ist ein äußerer Gegenstand mit dem ihn besitzenden Rechtssubjekt nur empirisch verbunden, dann ist er mit diesem im empirischen Besitz nicht schon rechtlich verbunden, sodass der Zugriff auf diese empirische Verbindung von Rechtssubjekt und äußerem Rechtsobjekt durch ein anderes Rechtssubjekt lediglich eine Läsion der dem empirisch besitzenden Rechtssubjekt angeborenen Freiheit als Unabhängigkeit von der Nötigung durch fremde Willkür95 (d. h. Körperverletzung) sein kann.96 In diesem Sinne ist der das Rechtsverhältnis der Rechtssubjekte zueinander bestimmende Rechtssatz jeweils nur analytisch mit der Freiheit dieser Rechtssubjekte verbunden; zwischen diesen beiden Rechtssubjekten besteht in Ansehung des äußeren Gegenstandes nämlich in ihrem äußeren Verhältnis zueinander noch kein sie gemeinschaftlich synthetisch verbindendes rechtliches Band. Ein solches die am Rechtsverhältnis beteiligten Rechtssubjekte in ihrem äußeren Verhältnis, und zwar in Ansehung eines Gegenstandes außer ihnen, gemeinschaftlich synthetisch verbindendes Band besteht dagegen beim rechtlichen Besitz, durch den ein Rechtsubjekt rechtlich mit dem anderen Rechtssubjekt in Ansehung des äußeren Gegenstandes verbunden ist. Ein synthetischer Rechtssatz des Besitzes erstreckt die Freiheit also positiv über die Sphäre der eigenen Person in die Sphäre anderer Personen und dadurch zugleich auch auf einen Gegenstand außer der eigenen bzw. der anderen Person. In diesem Sinne geht der synthetische „Satz von der Möglichkeit des Besitzes einer Sache außer mir“97, d. h. der allgemeine Rechtssatz im Begriff des äußeren Rechtsbesitzes, „mithin die Voraussetzung der Möglichkeit einer possessio noumenon“98 im Begriff des intelligiblen Besitzes (als der Realbedingung des äußeren Rechtsbesitzes), über den empirischen Besitz hinaus, und ist damit eben darum als „synthetisch“99 anzusehen, weil er nach Absonderung aller empirischen Bedingungen im Besitzbegriff einen rein rechtlichen Besitz eines äußeren Gegenstandes durch ein Rechtssubjekt bestimmt. Demnach „kann es zur Aufgabe für die Vernunft dienen, zu zeigen, wie ein solcher sich über den Begriff des empirischen Besitzes erweiternde Satz a priori möglich sei“100. Folglich ist es die Aufgabe der Deduktion, im Rahmen des Nachweises der objektiven Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes zugleich zu     97  98  99 

MSRL, AA  VI: 237.29 – 32. MSRL, AA  VI: 249.34 – 250.08. MSRL, AA  VI: 250.09 – 10. MSRL, AA  VI: 250.11 – 12. MSRL, AA VI: 250.14. 100  MSRL, AA  VI: 250.15 – 17. 95 96

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zeigen, wie der allgemeine synthetische Rechtssatz a priori im „Begriffe des äußeren Mein und Dein“ (d. h. im Begriff des äußeren Rechtsbesitzes) durch den Begriff des intelligiblen Besitzes im Einzelnen möglich ist.101 Das aber bedeutet nichts anderes als oben bereits zuvor herausgearbeitet wurde, nämlich, dass die objektive – praktische – Realität des synthetischen Satzes a priori im Begriff des intelligiblen Besitzes methodologisch nur im Ausgang von einem einzelnen synthetischen Satz des äußeren Besitzes a priori unter dem Begriff des intelligiblen Besitzes nachgewiesen werden kann: 2. Die Anknüpfung eines bestimmten einzelnen objektiv realen synthetischen Rechtssatzes a priori (§ 6 Abs. 4) Eben diesen einzelnen synthetischen Rechtssatz des äußeren Rechtsbesitzes, dessen objektive Realität mit dem Erlaubnisgesetz zur ersten / ursprünglichen Erwerbung eines Gegenstandes überhaupt in § 2 Abs. 3 unmittelbar gewiss ist, knüpft nunmehr § 6 Abs. 4 zur regressiven Hinführung zu der eigentlichen Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes (in § 6 Abs. 10) an: „Auf solche Weise ist z. B. die Besitzung eines absonderlichen Bodens ein Act der Privatwillkür, ohne doch eigenmächtig zu sein.“102 Denn der rechtliche Besitz eines bestimmten Teils des Erdbodens als einem dem Rechtssubjekt äußerem Gegenstand durch ein sol101  Es ist daher andererseits – wie gegen den Editionsanspruch Ludwigs, Kants Rechtslehre (Fn. 14), S. 61 f., 64 ausdrücklich bemerkt werden muss – an dieser Stelle keine „Aufgabe für die Vernunft“, zu zeigen, wie das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft des § 2 Abs. 1 als Grundsatz a priori möglich ist. – Zwar könnte man zunächst meinen, dass der „Satz von der Möglichkeit des Besitzes einer Sache außer mir“ zu Beginn von § 6 Abs. 3 der allgemeine Grundsatz des Postulats der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein in § 2 Abs. 1 ist. Allerdings müsste in der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes (§ 6) dann ausgerechnet die Möglichkeit desjenigen synthetischen Grundsatzes erwiesen werden (§ 2), der zur Deduktion des (allgemeinen synthetischen Satzes des) Begriffs des intelligiblen Besitzes als metaphysischer Anfangsgrundsatz herangezogen werden muss, weil er eine unmittelbare Gewissheit in sich schließt, aus der heraus die objektive Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes im Einzelnen praktisch erkennbar ist. Nun ist der praktische Grundsatz eines Postulats, das als logischer und metaphysischer Anfangsgrundsatz in einer Reihe begrifflich-praktischer Erkenntnis fungiert, aber überhaupt nicht weiter erweislich, sondern unmittelbar gewiss, weil er andernfalls kein Grundsatz (d. h. Prinzip oder Anfang) wäre (siehe Log, AA IX: 110 ff. §§ 33, 34, 38), sodass dieser von Ludwig in § 6 Abs. 3 hergestellte begriffliche Bezug keinen vernünftigen Sinn ergibt, ganz abgesehen davon, dass die begriffliche Entwicklung bis hierin (§§ 1 – 6 Abs. 3) nicht möglich gewesen wäre, wenn das Postulat in seiner Funktion nicht schon an der Stelle des § 2 gestanden hätte: Wie käme man sonst auf die Idee, den Begriff des äußeren Rechtsbesitzes hinsichtlich seines Realbegriffs begrifflich zu entwickeln (§§ 3 – 5), wenn seine objektive Realität nicht bereits mit § 2 Abs. 1 unmittelbar gewiss wäre? Ohne das Postulat des § 2 Abs. 1 fehlte es schlechterdings am notwendig bestimmenden Untersatz im disjunktiven Vernunftschluss der begrifflichen Bestimmung der dichotomischen Einteilung des Rechtsbegriffs nach dem reinen Verstandesbegriff des Habens. Eine begriffliche Entwicklung der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben, wäre ohne das Postulat an der Stelle von § 2 also jedenfalls in methodologisch geordneter Weise nicht denkbar und somit wissenschaftlich wertlos. 102  MSRL, AA  VI: 250.18 – 19.

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ches einzelnes Rechtssubjekt setzt ursprünglich einen ersten Erwerb des Bodens gedanklich überhaupt einmal voraus, da andernfalls überhaupt gar kein äußerer Rechtsbesitz unter dem Begriff des äußeren Rechtsbesitzes real möglich ist. Zu diesem ersten Erwerb eines gewissen Gegenstandes ermächtigt aber das mit dem Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes (§ 2 Abs. 1) unmittelbar zugleich gesetzte Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft (§ 2 Abs. 3). Da also nur auf diese von § 6 Abs. 4 mit guten Grund praktizierte Weise die objektive praktische Realität des zu deduzierenden Begriffs des intelligiblen Besitzes im regressiv-abstrahierenden Auf- sowie im progressiv-determinierenden Abstieg der begrifflichen Reihe des durch reinen Verstandesbegriff des Habens eingeteilten Rechtsbegriffs vollständig erwiesen werden kann (s.o.), handelt es sich weder beim Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft in § 2 Abs. 3, noch bei der Einführung des Gedankens der ursprünglichen Erwerbung des Bodens in § 6 Abs. 4 um einen (unzulässigen) gedanklichen Vorgriff auf ein spezifisches Thema erst des zweiten Hauptstücks der natürlichen Privatrechtslehre (§§ 10, 11 – 17).103 Vielmehr setzt die dort in § 17 Abs. 2 „auf analytische Art“104 zu leistende „Deduction des Begriffs der ursprünglichen Erwerbung“105 die hier in § 6 Abs. 10, und zwar nach vorherigem analytischen Regress (§ 6 Abs. 4 – 9), auf synthetische Art zu leistende Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes bereits für sich selbst voraus.106 Was also in Unkenntnis der philosophischen Methode synthetischer Erkenntnis aus reinen praktischen Begriffen a priori (Trichotomie) zunächst gewiss wie ein willkürlicher Themenwechsel erscheinen mag, erweist sich dagegen in Kenntnis dieser Methode Kants als conditio sine qua non des Nachweises der objektiven Realität des in § 6 zu deduzierenden Begriffs des intelligiblen Besitzes.107 Man muss sich der Mühe des Selbst- oder wenigstens des Mitdenkens in Begriffen somit zum Verständnis der Deduktion schon einer Weile lang unterziehen, denn der betagte Autor dieser späten metaphysischen Systemschrift nimmt seinen (modernen) Leser mit der von ihm hierin vorgelegten Textgestalt gewiss nicht an die Hand.108 Jedenfalls muss an diesem Punkt das Argument Buchdas für die Korruption der Textgestalt 103  So aber mit Blick auf das Erlaubnisgesetz des § 2 Abs. 3 ausdrücklich Hartmann, „Der Platz des rechtlichen Postulats in der Besitzlehre“, in: Brandt / Stark (Hrsg.), Autographen, Dokumente und Berichte, Hamburg: Meiner 1994, S. 109 (117 Fn. 34) oder Rühl, Kants Deduk­ tion des Rechts als intelligibler Besitz, Paderborn: Mentis, 2010, S. 79 f.; mit Blick auf die Abs. 4 – 8 von § 6 folgt dies im Übrigen bereits aus der These eines falschen Texteinschubes. 104  MSRL, AA  VI: 255.13 – 21. 105  MSRL, AA VI: 268.02. 106  Siehe dazu auch noch unten unter IV. 1. 107  Von einem ‚sinnlosen‘ oder ‚ganz widersinnigen Übergang‘ zwischen dem dritten und dem vierten Absatz, wie Tenbruck (Fn. 9), S. 216 (217) ihn seinerzeit entdeckt zu haben glaubte, kann also nicht ernstlich die Rede sein. 108 Zum schriftstellerischen Selbstverständnis Kants in seinen metaphysischen Schriften, darin er nach eigener Auskunft nicht „für Lehrlinge“ schreibt, bereits Prol, AA IV: 255 (und sind wir Leser Kants im ‚postmetaphysischen Zeitalter‘ nicht alle zunächst einmal nur ‚Lehrlinge‘ der Metaphysik?); im Übrigen auch den auf die Rechtslehre von 1797 bezogenen Brief

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des § 6 als widerlegt gelten, nach der die in den Abs. 4 – 8 behandelte Problematik des ersten / ursprünglichen Bodenerwerbs dort gewiss nicht hingehören soll.109 3. Die abstrahierende Rückführung dieses einzelnen Satzes auf seinen allgemeinen praktischen Grundsatz (§ 6 Abs. 8) Unternimmt man dieses Selbst- oder Mitdenken in reinen Begriffen, dann ist hingegen auch leicht zu bemerken, dass der in § 6 Abs. 4 rein begrifflich als Rechtstitel für den äußeren Rechtsbesitz aus dem ersten / ursprünglichen Erwerb des Erdbodens angeführte „angeborne[] Gemeinbesitze des Erdbodens und dem diesem a priori entsprechenden allgemeinen Willen eines erlaubten Privatbesitzes auf demselben“110 die in § 6 Abs. 6 aufgeführte „ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens und hiemit auch der Sachen auf demselben“111 ist. Dieser Rechtstitel für den äußeren Rechtsbesitz aus der ersten / ursprünglichen Erwerbung des Bodens, wie er mit dem Erlaubnisgesetz des § 2 Abs. 3 in seiner objektiven Realität unmittelbar gewiss ist, wird in § 6 Abs. 6 sodann angesprochen als eine „Idee, welche objective (rechtlich praktische) Realität hat“112. Der äußere Rechtsbesitz aus der ersten / ursprünglichen Erwerbung des Bodens hat demnach einen Rechtstitel für sich, der in einer praktischen Idee, d. h. in einem reinen praktischen Vernunftbegriff besteht, der seinerseits nur durch das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft zu einem ersten Besitzerwerb in § 2 Abs. 3 in seiner objektiven Realität unmittelbar gewiss ist. Nichts anderes stellt darum auch § 6 Abs. 8 ausdrücklich fest: „Die erste Besitznehmung hat also einen Rechtsgrund (titulus possessionis) für sich, welcher der ursprünglich gemeinsame Besitz ist, und der Satz: wohl dem, der im Besitz ist (beati possidentes)! weil Niemand verbunden ist, seinen Besitz zu beurkunden, ist ein Grundsatz des natürlichen Rechts, der die erste Besitznehmung als einen rechtlichen Grund zur Erwerbung aufstellt, auf den sich jeder erste Besitzer fußen kann.“113 Der in § 6 Abs. 8 als „Grundsatz des natürlichen Rechts“ angesprochene Grundsatz ist demnach – und hierin besteht die wesentliche Einsicht für die Beurteilung der Textgestalt des Deduktionsparagraphen – nichts anderes als das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft zur ersten Besitznehmung (§ 2 Abs. 3), d. h. er ist ein praktischer Grundsatz des natürlichen Rechts.114 Damit aber ist zugleich die an Schütz vom 10. 07. 1797, AA XII: 181.23 – 28 an der Stelle, wo es um eine Trichotomie innerhalb des zweiten Hauptstücks der Privatrechtslehre zu tun ist. 109  Oben Fn. 5. 110  MSRL, AA  VI: 250.19 – 27. 111  MSRL, AA  VI: 251.01 – 02. 112  MSRL, AA  VI: 251.01 – 03. 113  MSRL, AA  VI: 251.30 – 36. 114 Bemerkenswerterweise kommt das Wort „Grundsatz“ im Privatrecht (§§ 1  – 42) ausdrücklich nur in § 2 Abs. 3 mit Blick auf das Erlaubnisgesetz sowie in § 6 Abs. 8 und 9 mit

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Behauptung Tenbrucks für die Korruption der originalen Textgestalt des § 6 widerlegt, der da meinte, der in § 6 Abs. 9 so genannte „praktische“ Grundsatz könne nicht der in § 6 Abs. 8 so bezeichnete „Grundsatz des natürlichen Rechts“ sein, da dieser ein analytischer (Grund-)Satz im Sinne von § 6 Abs. 2 sei und jener ein synthetischer (Grund-)Satz sein müsse.115 Denn weder in § 6 Abs. 2 noch in § 6 Abs. 3 ist mit der dortigen Erwähnung eines analytischen bzw. synthetischen „Satzes“ des Besitzes die Rede von einem praktischen „Grundsatz“. Steigt man also die Reihe rechtsbegrifflicher Bestimmung im Ausgang von einem einzelnen synthetischen Rechtssatz des äußeren Rechtsbesitzes (§ 6 Abs. 4) regressiv auf (§ 6 Abs. 4 – 8), so wird deutlich, dass mit dem Erlaubnisgesetz des § 2 Abs. 3 zwischen den Begriffen des äußeren Rechtsbesitzes und des intelligiblen Besitzes die Begriffe der ursprünglichen Erwerbshandlung116 sowie der ursprünglichen Gemeinschaft des Erdbodens117 praktisch bestimmend sein müssen: Vernunftbegriff des Rechts

Begriff des intelligiblen Besitzes Begriff der ursprünglichen Gemeinschaft des Erdbodens Begriff der ursprünglichen Erwerbshandlung Begriff des äußeren Rechtsbesitzes

§ 2 Abs. 3

§ 2 Abs. 1

Verstandesbegriff des Habens/Besitzes

Begriff des äußeren Rechtsbesitzes aus erstem/ursprünglichem Erwerb

Abbildung 7: Die begrifflich fortentwickelte Lage der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes in § 6 Abs. 8

Damit wird in § 6 Abs. 8 also die Schnittstelle erreicht, darin das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft zur ersten / ursprünglichen Besitzerwerbung (§ 2 Abs. 3) und das Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes (§ 2 Abs. 1) begrifflich in der Einheit ihres praktischen Grundsatzes ineinander übergehen. Allerdings ist damit der in § 6 zu deduzierende Begriff des intelligiblen Besitzes im regressiven Aufstieg der einander subordinierten vernunftbegriffliBlick auf den Grundsatz des natürlichen Rechts vor, der jedoch das Erlaubnisgesetz ist. Dahinter steht eine genaue begriffliche Bestimmung des gesamten § 2: Der praktische Satz des § 2 Abs. 1 ist nämlich nicht nur ein Grundsatz, sondern eine besondere Form eines solchen, nämlich ein Postulat, wohingegen der praktische Satz des Erlaubnisgesetzes selbst kein Postulat, sondern nur ein Grundsatz ist. Vgl. dazu Log, AA IX: 110 (§ 34) und 112 (§ 38). 115  Oben Fn. 10. 116  Siehe dazu im Folgenden dann MSRL, AA VI: 258 f. (§ 10), 263 ff. (§§ 14 – 17). 117  Siehe dazu im Folgenden dann MSRL, AA VI: 262 (§ 13).

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chen Rechtsbedingungen des in § 6 Abs. 4 angeknüpften einzelnen synthetischen Rechtssatzes a priori noch nicht erreicht. Dies leistet erst § 6 Abs. 9: 4. Die objektive Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes in diesem allgemeinen praktischen Grundsatz (§ 6 Abs. 9) Der in § 6 Abs. 8 bezeichnete „Grundsatz des natürlichen Rechts“ ist mit dem Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft (§ 2 Abs. 3) zweifelsfrei ein praktischer Grundsatz. Es stellt sich demnach die Frage, wie dieser Grundsatz in der Reihe der einander subordinierten reinen praktischen Rechtsbegriffe synthetisch-praktisch zu wirken vermag. a) Die synthetisch-praktische Wirkung des Grundsatzes im Begriff des intelligiblen Besitzes Kant beantwortet sich diese regressiv weiter aufsteigende Frage nach der synthetischen Wirkung eines praktischen Grundsatzes in § 6 Abs. 9 in einem Vergleich mit den theoretischen Grundsätzen, wie sie von ihm in der KrV zum Zwecke einer theoretischen Erkenntnis von Naturgegenständen bestimmt wurden: Im theoretischen Begriffsgebrauch ist durch reine Begriffe von einem Gegenstand überhaupt (z. B. Substanz, Kausalität, Gemeinschaft) ein Gegenstand nämlich zwar völlig unbestimmt denkbar, jedoch noch nicht auch schon wirklich bestimmt erkennbar. Dementsprechend muss zur theoretischen Gegenstandserkenntnis eine Anschauung von dem zu erkennenden Gegenstand, der dem Erkenntnisvermögen insofern ein fremder Gegenstand ist, synthetisch noch hinzukommen. Die theoretischen (synthetischen) Grundsätze des Verstandes, die eine solche wirkliche Gegenstandserkenntnis ermöglichen, bedürfen damit eines anschaulichen Bezuges zu möglichen Gegenständen, der in ihnen durch die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit a priori ermöglicht wird.118 Dementsprechend notiert Kant in § 6 Abs. 9: „In einem theoretischen Grundsatze a priori müßte nämlich (zu Folge der Kritik der reinen Vernunft) dem gegebenen Begriff eine Anschauung a priori untergelegt, mithin etwas zu dem Begriffe vom Besitz des Gegenstandes hinzugethan werden; […].“119 Dagegen ist der praktische Gebrauch reiner Begriffe (z. B. Haben, Handlung, Kraft, Substanz, Kausalität, Gemeinschaft etc.) nicht auf einen dem Begriffssubjekt fremden Gegenstand, sondern auf einen dem Begriffssubjekt ureigenen Selbststand, nämlich seinen Willen (die praktische Vernunft) gerichtet, sodass es auf mögliche sinnliche Bedingungen in den Anschauungsformen von Raum und Zeit zur praktischen Erkenntnis eines freien Willens in reinen Begriffen (d. h. prakti  Siehe KrV, A 130 ff./B 169 ff.   MSRL, AA  VI: 251.37 – 252.03.

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schen Ideen) nicht ankommt. Vielmehr ist eine synthetisch-praktische Erkenntnis des freien Willens in reinen Begriffen nur wirklich bestimmt denkbar, wenn unter diesen reinen Begriffen durch sie und ihre metaphysische Bestimmung von allen sinnlichen Bedingungen der durch sie praktisch – nicht theoretisch – bestimmten Begriffsgegenstände abstrahiert wird. Darum notiert Kant im Fortgang des oben zitierten Satzes von § 6 Abs. 9: „[…]; allein in diesem praktischen wird umgekehrt verfahren, und alle Bedingungen der Anschauung, welche den empirischen Besitz begründen, müssen weggeschafft (von ihnen abgesehen) werden, um den Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus zu erweitern und sagen zu können: ein jeder äußere Gegenstand der Willkür kann zu dem rechtlich Meinen gezählt werden, den ich (und auch nur so fern ich ihn) in meiner Gewalt habe, ohne im Besitz desselben zu sein.“120 Die praktische Wirkung des in § 6 Abs. 8 angeführten praktischen Grundsatzes des natürlichen Rechts, der nichts anderes als das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft (§ 2 Abs. 3) ist, besteht demnach in einer Abstraktion von allen sinnlichen Bedingungen in bzw. unter der begrifflichen Reihe des durch den reinen Verstandesbegriff des Habens eingeteilten Rechtsbegriffs, wodurch die praktische Synthesis in den darin einander subordinierten reinen Rechtsbegriffen erst in ihrer Reinheit begrifflich bestimmt denkmöglich ist. Das Absehen von sinnlichen Bedingungen unter bzw. in Begriffen (hier: dem Begriff des ersten Erwerbs eines äußeren Rechtsbesitzes) ist aber logisch nichts anderes als eine Abstraktion von sinnlichen Vorstellungsmerkmalen in Begriffen,121 dadurch ein konkreter Gebrauch von den reinen Begriffen dieser Reihe in ihrer progressiven Bestimmung praktisch ist.122 Da durch dieses Absehen von sinnlichen Bedingungen in empirischen Besitzverhältnissen bei gleichzeitig konkretem Gebrauch der begrifflichen Reihe des Rechtsbesitzes ein intelligibler Besitz im Begriff des Habens eines Gegenstandes begriffen wird,123 ist diese Abstraktion bzw. Konkretion in einem praktischen Grundsatz letztlich nichts anderes als die praktische Wirkung und metaphysische Determination des Begriffs des intelligiblen Besitzes,124 womit dieser Begriff nunmehr schließ  MSRL, AA  VI: 252.03 – 10.   Log, AA IX: 99 (§ 15). 122  Log, AA IX: 99 f. (§ 16). 123  Durch den in § 6 Abs. 8 benannten Grundsatz des natürlichen Rechts wird im Begriff des äußeren Rechtsbesitzes aus der ersten / ursprünglichen Erwerbung eines Gegenstandes gerade von der maßgeblichen sinnlichen Bedingung, d. h. der Priorität dieser ersten Erwerbshandlung in einer Zeit abstrahiert, dadurch dieser einseitige Zugriff durch ein einzelnes Willkürsubjekt mit dem allgemeinen Willen in reinen Rechtsbegriffen vereinbar vorstellbar ist. 124  Die Abstraktion von sinnlichen Bedingungen in einem praktischen Grundsatz ist übrigens kein formalistischer Selbstzweck. Denn die reine praktische Vernunft fordert in der mit ihr möglichen praktischen Bestimmung ihrer reinen praktischen Begriffe keine „Formalität“, sondern die Rechtsgesetzlichkeit der durch diese reinen Begriffe praktisch bestimmten äußeren Handlungen. Vgl. dagegen aber beispielsweise Brandt, „Das Erlaubnisgesetz“, in: ders. (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin / New York: De Gruyter, 1982, S. 233 (256, 258), der da meint, durch das Postulat (§ 2 Abs. 2 S. 3) gebiete die praktische Vernunft kategorisch, „von 120 121

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lich auch (in § 6 Abs. 10) endgültig zur Deduktion aus dem Postulat des § 2 Abs. 1 ansteht. § 6 Abs. 9 bringt also die praktische Wirkung (d. h. Kausalität) des Begriffs des intelligiblen Besitzes analytisch auf seinen zu deduzierenden Begriff. b) Die bruchlose Anknüpfung des neunten Absatzes an den achten Absatz Nach dieser Bestimmung des regressiven Teils der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes nach der philosophischen Methode trichotomischer Begriffserkenntnis findet in der originalen Textgestalt des Übergangs vom achten zum neunten Absatz des § 6 keinerlei Korruption statt. Vermittelst der Partikel „nämlich“125 im neunten Absatz wird nämlich nichts anderes als der gesamte achte Absatz angeknüpft: Denn gemäß diesem achten Absatz ist der „bloße physische Besitz (die Inhabung) des Bodens […] schon ein Recht in einer Sache, obzwar freilich noch nicht hinreichend, ihn als das Meine anzusehen“126. Allerdings ist der bloß physische Besitz nicht als rohe sinnliche Faktizität aus sich selbst heraus, sondern lediglich durch den Grundsatz des natürlichen Rechts über ihm bereits als Recht in einer Sache begreiflich, weil dieser praktische Grundsatz von allen physischen Bestimmungen dieses Besitzes im Begriff des ursprünglichen Erwerbs (z. B. der zeitlichen Priorität) abstrahiert, sodass der entsprechende Besitz unter dem Rechtsbegriff im Begriff des ursprünglichen Erwerbs eines Bodens bloß noch rechtlich (nicht: empirisch) bestimmt vorgestellt wird. Genau diese praktische Bestimmung des praktischen Grundsatzes des natürlichen Rechts erläutert jedoch § 6 Abs. 9 (s. o.), der folglich inhaltlich und sprachlich bruchlos an § 6 Abs. 8 anknüpft. Wollte man dagegen nach Aussonderung der Abs. 4 – 8 mit Buchda / Tenbruck127 und ihren modernen Nachfolgern einen bruchlosen Zusammenhang zwischen dem dritten sowie neunten Absatz erkennen, dann müsste der im dritten Absatz genannte „synthetische Rechtssatz“, dessen Möglichkeit im Rahmen der Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes zugleich gezeigt werden soll, als „praktischer Grundsatz“ im Sinne des neunten Absatzes, oder gar als das praktische Postulat des § 2 Abs. 1 im Sinne des zehnten Absatzes von § 6 identifiziert werden.128 Der synthetische Rechtssatz wäre damit als solcher möglich, weil er durch sich selbst – nämlich als zugleich praktischer Grundsatz – von allen sinnlichen Bedingungen der physischen Relation des Gegenstandes der Habe abzusehen“, d. h. es fordere „kategorisch das Formalismusprinzip“. Wäre dem aber tatsächlich so, dann wäre das Postulat rein auf eine theoretische Denkhandlung (die Abstraktion), nicht praktisch auf eine äußere Rechtshandlung gerichtet. Das kann nicht sein, denn die Denkhandlung in Begriffen ist nur Mittel zum Zweck praktischer Bestimmung äußerer Handlungen, sodass sie selbst nicht kategorisch in einem Rechtsgrundsatz geboten werden kann. 125  MSRL, AA VI: 251.37. 126  MSRL, AA  VI: 251.23 – 25. 127  Oben Fn. 7 und 9. 128  Vgl. für letzteres oben Fn. 14.

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abstrahierte. Dieser Teil der nach Aussonderung des verdächtig gewordenen Texteinschubes noch verbleibenden Deduktion (Abs. 3/9) liefe dann mehr oder weniger auf die Tautologie hinaus, der synthetische Rechtssatz a priori sei ein synthetischer Rechtssatz a priori, weil er infolge der ihm begrifflich eignenden Abstraktion von allen sinnlichen Bedingungen (= a priori) ein synthetischer Rechtssatz sei. In der Tat beruht aber der erstmals von Buchda behauptete bruchlose Zusammenhang des dritten Absatzes mit dem neunten jedenfalls implizit auf einer philologisch sowie philosophisch schwerlich haltbaren Identifizierung des synthetischen „Satzes“ im dritten mit dem praktischen „Grundsatz“ im neunten Absatz, für die nach hier vertretener Lesart nicht das geringste Bedürfnis besteht.129 5. Die Deduktion des Begriffs des intelligiblen Besitzes aus der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit (§ 6 Abs. 10) Nachdem der einzelne synthetische Rechtssatz a priori des äußeren Rechtsbesitzes aus der ersten / ursprünglichen Erwerbung (§ 6 Abs. 4) unter dem Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft (§ 2 Abs. 3) in sich die synthetisch-praktische Wirkung des Begriffs des intelligiblen Besitzes aufweist (§ 6 Abs. 9), kann der Begriff nunmehr alleine noch aus dem Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes (§ 2 Abs. 1) heraus deduziert werden, denn über den Begriff des intelligiblen Besitzes ist das Erlaubnisgesetz des § 2 Abs. 3 im regressiven Aufstieg der begrifflichen Reihe des nach dem Habensbegriff eingeteilten Rechtsbegriffs mit dem Postulat des § 2 Abs. 1 verbunden (Abb. 6/7), sodass sowohl im Erlaubnisgesetz als auch im Postulat der reine Rechtsbegriff des Besitzes praktisch sein muss. Das Postulat wäre dann Erkenntnis- oder Idealgrund des reinen praktischen Begriffs des intelligiblen Besitzes und dieser wäre Seins- oder Realgrund des Postulats der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes in § 2 Abs. 1; mithin wäre der Begriff des intelligiblen Besitzes hinsichtlich seiner objektiven Realität aus der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit heraus im praktischen Begriffsgebrauch eines freien Willens deduziert. – Dass das Postulat des § 2 Abs. 1 der Idealgrund der objektiven praktischen Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes sein muss, liegt mit dieser Begründung aber einfach daran, dass es im Untersatz des disjunktiven Vernunftschlusses der begrifflich-schlüssigen Bestimmung des nach dem Habensbegriff eingeteilten Rechtsbegriffs steht,130 womit es Erkenntnisgrund für die im Begriff des intelligiblen Besitzes praktische Synthesis der beiden Glieder des eingeteilten Begriffs (Abb. 1) im Obersatz dieses Schlusses ist. 129  Möglicherweise hat auch Tenbruck dies nach Publikation seiner These des falschen Texteinschubes bemerkt, denn so wäre es erklärlich, dass er die dort (Fn. 9), S. 216 (220) in einer Ankündigung sich vorbehaltene „Erörterung der sachlichen Konsequenzen dieser Konjektur“ diskret nicht mehr hat öffentlich erscheinen lassen. 130  Siehe dazu ausführlich oben unter II. 2. b).

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a) Die kantische Bestimmung des Deduktionsgegenstandes in § 6 Abs. 10 Soll das Vorstehende anhand der originalen und sehr verdichtet erscheinenden Textgestalt (des § 6 Abs. 10 S. 1 – 3) belegt werden, dann ist zunächst der im Eingangssatz der Deduktion erwähnte Deduktionsgegenstand zu analysieren. Genannt wird dort als dieser nämlich die „die Möglichkeit eines solchen Besitzes, mithin die Deduction des Begriffs eines nicht-empirischen Besitzes“131. Demnach ist es in der Deduktion um die Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes zu tun. Da die Möglichkeit eines Dinges in seinem Begriff, und die reale Möglichkeit eines Dinges entsprechend in seinem Realbegriff liegt, ist es in der Deduktion damit um die objektive praktische Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes zu tun.132 Am Ende der Deduktion muss also nicht bloß die logische Möglichkeit des intelligiblen Besitzes durch Verweis auf die logische Bedingung des Begriffs des intelligiblen Besitzes (das Postulat des § 2 Abs. 1) nachgewiesen sein, sondern vielmehr auch gezeigt worden sein, wie der zu deduzierende Begriff im Ausgang von dieser für sich zunächst bloß logischen Voraussetzung seiner Bedingung tatsächlich objektiv praktisch ist. Der erste Schritt findet sich in § 6 Abs. 10 S. 1, der zweite – entscheidende – Schritt findet sich sodann in § 6 Abs. 10 S. 2 – 3: b) Das in seiner unmittelbaren Gewissheit vorausgesetzte Postulat als Erkenntnisgrund § 6 Abs. 10 S. 1 macht die logische Voraussetzung des praktischen Satzes des Postulats der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes (§ 2 Abs. 1) explizit und weist auf den im Realbegriff des äußeren Rechtsbesitzes (§ 5 Abs. 1 S. 2) als Realbedingung durch Exposition (§ 4) nachgewiesenen intelligiblen Besitz hin, dessen Begriff hier in seiner objektiven Realität aus eben diesem Postulat erwiesen werden soll: Der Nachweis der objektiven Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes „gründet sich auf dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft: „daß es Rechtspflicht sei, gegen Andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemanden werden könne“, zugleich mit der Exposition des letzteren Begriffs, welcher das äußere Seine nur auf einen nicht-physischen Besitz gründet, verbunden“133. – Das Postulat (§ 2 Abs. 1) in seiner bisherigen Begriffsentwicklung (§§ 4, 5) ist also Idealgrund für die jetzt zu erweisende objektive Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes. Denn mit dem Postulat ist bereits die objektive Realität des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes unmittelbar gewiss,   MSRL, AA  VI: 252.11 – 12.  Nach Ludwig, Kants Rechtslehre (Fn. 14), S. 73, 120 betrifft die Deduktion dagegen nicht die objektive Realität des Begriffs, sondern nur die seines Gegenstandes, die des intelligiblen Besitzes. Dazu passt es, dass er (oben Fn. 90) mitunter auch nicht den Begriff, sondern den intelligiblen Besitz selbst als Deduktionsgegenstand anspricht, was jedoch der Überschrift des § 6 widerspricht. 133  MSRL, AA  VI: 252.11 – 17. 131 132

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sodass sich aus dieser unmittelbaren Gewissheit auch auf die objektive Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes schließen lassen können muss, eben weil der intelligible Besitz Realbedingung des äußeren Rechtsbesitzes ist. Allerdings ist die objektive Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes – ohne diesen hier bloß schon zum Voraus angedeuteten Schluss – noch nicht mit der Bewusstmachung seiner bloß logischen Voraussetzung als Bedingung seiner Möglichkeit geleistet, denn das Postulat ist kein bloß logischer, sondern ein metaphysischer Grundsatz, sodass das Verhältnis von Postulat und Begriff des intelligiblen Besitzes durch eben einen solchen Schluss zusätzlich erst noch in seiner objektiven (d. h. begrifflichen oder metaphysischen) Realität eingesehen werden muss:134 c) Der Rückschluss auf die objektive praktische Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes Die schlüssige Einsicht in die objektive Realität dieses Verhältnisses wird jetzt wiederum durch zwei Schritte bewirkt. Zunächst (1) weist § 6 Abs. 10 S. 2 nämlich darauf hin, dass die Möglichkeit des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes bzw. des darin real bedingend vorgestellten intelligiblen Besitzes nicht für sich selbst, d. h. aus dem bloßen Begriff des intelligiblen Besitzes erwiesen werden kann, sondern in der Voraussetzung des Postulats der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes als der Bedingung seiner (d. h. des Begriffs des intelligiblen Besitzes) eigenen Möglichkeit bedingt ist (s.o.), und mithin unmittelbar aus dem Postulat folgt.135 – Wenn der mit dem Postulat folglich mögliche Begriff des intelligiblen Besitzes aber auch objektiv real sein soll, dann muss er durch das Postulat selbst objektiv praktisch sein, und eben hierauf rekurriert (2) der die Deduktion beschließende Gedanke in § 6 Abs. 10 S. 3: Denn da das Postulat in der unmittelbaren Gewissheit der objektiven Realität des Begriffs des äußeren Rechtsbesitzes selbst objektiv real, d. h. als Rechtsbegriff praktisch notwendig bestimmend ist, muss auch der Begriff des intelligiblen Besitzes objektiv real, d. h. praktisch notwendig bestimmend sein, weil er in dem ihm subordinierten Begriff des äußeren Rechtsbesitzes (der mit dem Postulat in seiner objektiven praktischen Realität unmittelbar gewiss ist) mit dem intelligiblen Besitz als Realbedingung bestimmend vorausgesetzt ist. Demnach hat – so muss hier vernünftigerweise geschlossen werden – der Begriff des intelligiblen Besitzes bereits im Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes objektive praktische Realität, und ist mithin Seinsoder Realgrund des Postulats der rechtlichen Möglichkeit eines äußeren Rechtsbesitzes: „Denn wenn es nothwendig ist, nach jenem Rechtsgrundsatz zu handeln,

134  Nach Auffassung Kerstings, Wohlgeordnete Freiheit, Paderborn: Mentis, 3. Aufl. 2007, S. 198 beschränkt sich die Deduktion allerdings bereits in Gänze auf diesen ersten Schritt. Jedoch steht er auch selbst bereits auf dem verkürzten methodologischen Standpunkt, die „Gültigkeit des Begriffs des intelligiblen Besitzes“ könne „nur logisch erschlossen werden“. 135  MSRL, AA  VI: 252.17 – 21.

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so muß auch die intelligibele Bedingung (eines bloß rechtlichen Besitzes) möglich sein.“136 6. Beurteilung der Textgestalt des § 6 und bestehender Verständnisschwierigkeiten Damit ist das Deduktionsziel, der Nachweis der objektiven praktischen Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes erreicht, wobei sich die Gedankenführung des § 6 im Verlaufe seiner zehn Absätze als in sich schlüssig erwiesen hat, insbesondere, weil die den modernen Kantstudien wohl in Unkenntnis137 der philosophischen Methode synthetischer Begriffserkenntnis zwischenzeitlich unverständlich gewordenen Abs. 4 – 8 unentbehrliche Vermittlungsschritte zum vollständigen Nachweis der objektiven Realität des Begriffs des intelligiblen Besitzes darstellen, und zwar im regressiven Aufstieg und progressiven Abstieg der begrifflichen ­Reihe des nach dem reinen Verstandesbegriff des Habens eingeteilten Rechtsbegriffs. Ohne den vorherigen regressiven Aufstieg (Abs. 4 – 9) stünde die progressive Deduktion des Begriffs (Abs. 10) nämlich auf dem Kopf.138 Dass sich eben darum auch der neunte Absatz inhaltlich sowie philologisch bruchlos an den achten, und nicht an den dritten Absatz anfügt, mitunter weil der im dritten Absatz angesprochene „Satz“ kein „Grundsatz“ im Sinne des neunten Absatzes ist, wurde bereits zuvor hinreichend dargetan. Demnach wird allerdings auch die für Ludwigs Editionsansprüche139 an die Rechtslehre maßgebliche These einer zwischen diesen Absätzen bestehenden und anderweitig zu schließenden „Lücke“ gänzlich gegenstandslos; das Postulat des § 2 gehört als metaphysischer Anfangsgrundsatz in der praktischen Erkenntnis einer begrifflichen Reihe nämlich nicht erst in die Deduktion des höchsten synthetisch-praktischen Begriffs dieser Reihe. Die originale Textgestalt des § 6 leidet folglich allenfalls an der Einrückung der Abs. 6 – 10, deren Ursache sich heute kaum noch verlässlich klären lassen dürfte. 136  MSRL, AA VI: 252.21 – 24. – Wenn das Postulat ratio cognoscendi des Begriffs des intelligiblen Besitzes, und der Begriff des intelligiblen Besitzes ratio essendi des Postulates ist, dann verhält es sich in dieser begrifflich-praktischen Bestimmung wie auch beim Freiheitsbegriff der reinen praktischen Vernunft, denn nach diesem ist das moralische Gesetz ratio cognoscendi des Begriffs der Freiheit und dieser ratio essendi des moralischen Gesetzes. Möglicherweise darum enthält § 6 Abs. 10 S. 4 (MSRL, AA VI: 252.24 – 30) abschließend einen Hinweis auf eben diesen Freiheitsbegriff der KpV (AA V: 04.28 – 36, 29.24 – 31.34). 137  Siehe dazu schon oben Fn. 75. 138  Deshalb fällt auch die Beurteilung dieser Deduktion selbst in der affirmativ argumentierenden Sekundärliteratur durchaus ambivalent aus. So hat Fulda, „Kants Begriff eines intelligiblen Besitzes und seine Deduktion“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 103 (113 ff.) in seiner Interpretation der nach Aussonderung der Abs. 4 – 8 verbliebenen Teile des § 6, darin er gleichwohl die von Kant »am sorgfältigsten ausgeführte« Deduktion der Rechtslehre erblickt, zu Protokoll gegeben, er müsse Kant in § 6 Abs. 10 S. 1 mit dem darin im zweiten Halbsatz enthaltenen Verweis auf die Exposition des Begriffs vom äußeren Mein und Dein ‚Unsinn‘ unterstellen, wollte er ihn hierin ernstlich beim Wort nehmen. 139  Siehe oben Fn. 14.

Die metaphysische Bestimmung des synthetischen Rechtsbegriffs

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IV. Der Begriff des intelligiblen Besitzes im praktischen Gebrauch (§§ 7 – 9) Nachdem die objektive synthetisch-praktische Realität des reinen praktischen Vernunftbegriffs des intelligiblen Besitzes in seiner Deduktion nachgewiesen wurde, ist es gerechtfertigt, fortan einen praktisch bestimmenden (progressiven) Gebrauch von ihm in der begrifflichen Reihe des durch den reinen Verstandesbegriff des Habens eingeteilten Rechtsbegriffs zu machen. 1. Metaphysisch determinierender Gebrauch des Begriffs des intelligiblen Besitzes (§ 7) Aus diesem Grund handelt § 7 von der „Anwendung des Princips der Möglichkeit des äußeren Mein und Dein auf Gegenstände der Erfahrung“140, d. h. vom synthetisch-praktisch bestimmenden Gebrauch des Begriffs des intelligiblen Besitzes in der Reihe der unter ihm schlüssig subordinierten und im weiteren Verlauf der Rechtslehre nach innen hin noch weiter intensiv zu verdeutlichenden Besitzbegriffe. Da sich dabei durch den Begriff des intelligiblen Besitzes allerdings die synthetisch-praktische Bestimmung des Rechts- bzw. Freiheitsbegriffs in die Besitzbegriffe und -verhältnisse darunter vermittelt, wird durch den Begriff des intelligiblen Besitzes ein allgemeiner Wille als gesetzlich bestimmend gedacht, sodass durch den Begriff des intelligiblen Besitzes eine „allgemeingeltende[] Gesetzgebung“141 im Hinblick auf die durch ihn rechtlich zu bestimmenden Rechtsverhältnisse der einzelnen Rechtssubjekte praktisch wirklich ist (§ 7 Abs. 1 S. 6). Vernunftbegriff des Rechts Verstandesbegriff des Habens/Besitzes Begriff des intelligiblen Besitzes Begriff des äußeren Rechtsbesitzes Besitzgegenstände der Erfahrungswirklichkeit

synthetisch-praktische Wirkung einer „allgemeingeltenden Gesetzgebung“

Abbildung 8: Der Begriff des intelligiblen Besitzes als „allgemeingeltende Gesetzgebung“ im praktischen Gebrauch (§ 7 Abs. 1 S. 6)

Ist auf diese Weise ein praktisch bestimmender Gebrauch des Begriffs des intelligiblen Besitzes aber möglich, dann muss durch seine Bestimmung beispielsweise auch der zwischen ihm und dem Begriff des äußeren Rechtsbesitzes stehende   MSRL, AA  VI: 252.32 – 33.   MSRL, AA  VI: 253.27 – 36.

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Begriff der ursprünglichen Erwerbung eines Bodens (vgl. § 6 Abs. 4 – 8) bestimmt sein, sodass die objektive praktische Realität dieses letzteren in der Deduktion des § 17 Abs. 2 wiederum dadurch nachgewiesen werden kann, dass die Realität eines intelligiblen Besitzes analytisch in dem synthetischen Satz des Rechtsfolgebegriffs eines ursprünglichen Erwerbs entwickelt wird. Denn damit ist der hinsichtlich seiner objektiven Realität bereits deduzierte Begriff des intelligiblen Besitzes darin praktisch, sodass auch der unter ihm stehende Begriff des ursprünglichen Erwerbs objektiv real sein muss. Deshalb kündigt § 7 Abs. 8 S. 2 eben eine solche Vorgehensweise auch bereits zum Voraus an: „Aber die Möglichkeit eines intelligibelen Besitzes, mithin auch des äußeren Mein und Dein läßt sich nicht einsehen, sondern muß aus dem Postulat der praktischen Vernunft gefolgert werden, wobei es noch besonders merkwürdig ist: daß diese […] sich durch bloße, vom Gesetz der Freiheit berechtigte Weglassung empirischer Bedingungen erweitere und so synthetische Rechtssätze a priori aufstellen kann, deren Beweis (wie bald gezeigt werden soll) nachher in praktischer Rücksicht auf analytische Art geführt werden kann.“142 2. Der metaphysisch determinierte Begriff des provisorisch-rechtlichen Besitzes im natürlichen Zustand (§§ 8, 9) Bevor es so weit ist, bedarf es allerdings zuvor noch einer Vermittlung zwischen dem Begriff des intelligiblen Besitzes und dem ihm subordinierten Begriff des äußeren Rechtsbesitzes bereits im ersten Hauptstück der natürlichen Privatrechtslehre (§ 8). Denn wenn sich durch den Begriff des intelligiblen Besitzes begrifflich eine ‚allgemeingeltende Gesetzgebung‘ (§ 7 Abs. 1 S. 6) in die begriffliche Reihe der Besitzbegriffe und mithin in empirische Besitzverhältnisse vermitteln soll, dann muss noch über dem Begriff des äußeren Rechtsbesitzes der Begriff einer wirklichen Gesetzgebung in äußeren Besitzverhältnissen praktisch bestimmend sein. Der Begriff einer wirklichen Gesetzgebung in äußeren Besitzverhältnissen ist aber der Begriff des bürgerlichen Zustandes der einzelnen Rechtssubjekte in ihrem äußeren Verhältnis, weil dieser Zustand durch eine gemeinsame Verfassung dieser einzelnen Rechtssubjekte zu einem staatlichen Gemeinwesen gebildet wird, das durch einen wirklich gesetzgebenden Allgemeinwillen bestimmt wird. Dementsprechend ist der reine praktische Begriff eines bürgerlichen Zustandes praktische Realbedingung im Begriff des äußeren Rechtsbesitzes, sodass § 8 Abs. 1 S. 7 gilt: „Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben.“143 142  MSRL, AA VI: 255.13 – 21. – In Kenntnis dieses Zusammenhangs dürfte auch der erste Abschnitt des zweiten Hauptstücks der Privatrechtslehre (§§ 10, 11 – 17) mitsamt der Deduk­ tion des Begriffs der ursprünglichen Erwerbung in § 17 ohne editorische Eingriffe in die Textstruktur aus sich selbst heraus verständlich sein. Siehe dagegen aber Ludwig, Kants Rechts­lehre (Fn. 14), S. 65 ff.; kritisch zu diesem Verf., „Die metaphysische Bestimmung des synthetischen Begriffs der ursprünglichen Erwerbung“, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2019, i. E. 143  MSRL, AA  VI: 256.12 – 13.

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Da im natürlichen Zustand, der ja lediglich eine bloße Vernunftidee in der begrifflich synthetisch zu entwickelnden Totalität des Rechtsbegriffs als praktischer Gemeinschaftskategorie, mithin an und für sich auch kein existentes Datum in einer Zeit ist, aber gerade noch keine wirkliche Gesetzgebung im äußeren Verhältnis gedacht wird, kann es darin auch noch kein wirkliches äußeres Mein und Dein geben. Andernfalls müsste ein einzelnes Rechtssubjekt alle anderen Rechtssubjekte mit Blick auf einen äußeren Gegenstand schon ganz für sich selbst alleine effektiv verpflichten können, sodass sich eine solchermaßen vermeinte Autonomie dieses einzelnen Rechtssubjekts im äußeren Verhältnis als blanke Heteronomie für alle anderen Rechtssubjekte darstellen würde.144 Gewiss müsste eine solche „Freiheitsberaubung, zu der wir nie einstimmten“145, im Begriff des provisorisch-rechtlichen Besitzes (§ 9 Abs. 1 S. 4) gedacht werden, wenn hierunter ein zeitlich vor einem wirklichen Staat bereits als „Provisorium“ empirisch existenter Privatrechtsbesitz im Naturzustand zu verstehen wäre. Denn dann schaffte das „provisorische Recht […] die prinzipielle Möglichkeit, den Staat aus seiner Rechtsschöpfungsrolle zu drängen und ihn mit einem Vor-Recht der Menschen zu konfrontieren“146. Indessen entspricht diese moderne – empirische – Auffassung des Adjektivs „provisorisch“ im zeitlichen Sinne von „vorläufig“ jedoch nicht dem in § 8 Abs. 1 S. 7 zum Ausdruck kommenden Verständnis Kants hinsichtlich des Verhältnisses von äußerem Privatrechtsbesitz und wirklicher Staatlichkeit, sodass er in § 9 Abs. 1 S. 4 wohl viel eher einen – metaphysischen – Gebrauch von diesem Adjektiv gemacht haben wird, der alleine dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt im Sinne von „pro-videre“ (vor-sehen) entspricht.147 Damit aber steht der empirische (Boden-)Besitz eines einzelnen Rechtssubjekts in dem bis hierher rein rechtsbegrifflich (d. h. metaphysisch) bestimmten natürlichen Zustand bereits begrifflich „im Hinblick“ (d. h. pro-visorisch)148 auf einen wirklichen bürgerlichen Zustand, 144  „Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun würde.“ (MSRL, AA VI: 256.05 – 08). 145  Brandt (Fn. 124), S. 233 (261). 146  So ebd., S. 233 (249). 147 Auf den Bedeutungswandel des Adjektivs „provisorisch“ hin zum heute überwiegend bestimmenden Merkmal „vorläufig“, und zwar zum ausgehenden 18. Jh., weisen Kluge / Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin / Bosten: De Gruyter, 25. Aufl. 2011, S. 728 hin; vertiefend Schulz / Basler, Deutsches Fremdwörterbuch II, Berlin: De Gruyter, 1942, S. 713 – 717. Lexikographischen Eingang in die deutsche Sprache fand das Adjektiv auch erst im Jahr 1801 (!), nämlich in: Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke I, Braunschweig: Schulbuchhandlung, 1801, S. 556. Das heute geläufige Substantiv „Provisorium“ wird sogar erst im Jahr 1838 – in einer Nebenbedeutung – erstmals lexikographisch verzeichnet: Heyse, Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch II, Hannover: Hahn, 8. Aufl. 1838, S. 304 –  305. Bei dieser Sachlage wäre es möglicherweise erklärungsbedürftig, warum Kant in seiner Rechtslehre 1797 bereits einen durchaus modernen Wortgebrauch von dem Adjektiv provisorisch im Sinne von „Provisorium“ gemacht haben sollte. 148  Siehe darum nur in diesem Sinne auch § 15 Abs. 3 S. 3 (MSRL, AA VI: 264.23 – 27).

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eben weil der im natürlichen Zustand schon denkbare metaphysische Begriff des äußeren Rechtsbesitzes (§ 5 Abs. 1 S. 2) nur durch den reinen praktischen Begriff eines bürgerlichen Zustandes über ihm praktisch bestimmt denkbar ist:149 „Mit einem Worte: die Art, etwas Äußeres als das Seine im Naturzustande zu haben, ist ein physischer Besitz, der die rechtliche Präsumtion für sich hat, ihn durch Vereinigung mit dem Willen Aller in einer öffentlichen Gesetzgebung zu einem rechtlichen zu machen, und gilt in der Erwartung comparativ für einen rechtlichen.“150 Dagegen hat bereits H. Stephani (1761 – 1850) in seiner eigentumstheoretischen Interpretation der Rechtslehre Kants sehr eindrucksvoll gezeigt, dass sich die darin verwendete Begrifflichkeit von „provisorischem“ und „peremtorischem“ Besitz mitsamt dem Begriff des Staates aufhebt, wenn man ein wirkliches Eigentumsrecht bereits im natürlichen Zustand ansetzt, weil an diesem Eigentumsrecht dann substanziell nur noch wenig „Provisorisches“ zu finden ist, da es auf den Staat nicht substanziell angewiesen zu sein scheint.151 Hält man sich dagegen an die von Kant gebrauchten Begrifflichkeiten, so nimmt sich die begriffliche Reihe der Rechtsbegriffe vom Besitz zum Ende des ersten Hauptstücks wie folgt aus:

Vernunftbegriff des Rechts Verstandesbegriff des Habens/Besitzes Begriff des intelligiblen Besitzes Begriff einer machthabenden allgemeinen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustand (§ 8 Abs. 1 S. 7) Begriff des äußeren Rechtsbesitzes Besitzgegenstände der Erfahrungswirklichkeit

= provisorisch-rechtlicher Besitz im rein begrifflichen Hinblick (d. h. provisorisch) auf einen wirklichen bürgerlichen Zustand (§ 9 Abs. 1 S. 4) bereits in der Idee des natürlichen Zustandes.

Abbildung 9: Der Begriff des intelligiblen Besitzes als „allgemeingeltende Gesetzgebung“ (§ 7 Abs. 1 S. 6) im natürlichen Zustand (§§ 8, 9)

149  Für ein Verständnis in diesem Sinne siehe etwa bereits Mellin, Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie II/1, Jena / Leipzig: Frommann, 1799, S. 407 (438); ferner die anonyme Rezension in: Tübingische gelehrte Anzeigen 1797, S. 305 (316); für die Gegenwart nunmehr auch Verf., „Der metaphysische Begriff des provisorisch-rechtlichen Besitzes“, in: Rechtsphilosophie – Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 2018, S. 240 ff. 150  MSRL, AA  VI: 257.14 – 19. 151  Stephani, Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, Erlangen: Palm, 1797, S. 75 ff.

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3. Ausblick: Die metaphysische Bestimmung des Begriffs des intelligiblen Besitzes im Verhältnis von Besitz und Staat Lässt sich der äußere Rechtsbesitz der Privatrechtssubjekte unter dem Begriff des äußeren Rechtsbesitzes rechtlich bestimmt nur durch die praktisch notwendige Bestimmung des Begriffs des Staates bürgerlicher Verfassung über ihm denken (§ 8 Abs. 1 S. 7), dann ist die praktisch notwendige Bestimmung eines Staatsrechtssubjekts rein begrifflich in jedem äußeren Privatrechtsbesitz real vorausgesetzt. Der Besitz ist folglich real nicht ohne den Staat denkbar. – Damit aber lässt sich die praktische Notwendigkeit des Staates bürgerlicher Verfassung, die mit dem Postulat des öffentlichen Rechts in § 42 Abs. 1 unmittelbar gewiss ist, nicht aus dem Privatrechtsbesitz (Eigentum) im natürlichen Zustand mittelbar ableiten, wie uns dies hingegen eine eigentumstheoretische (lockesianisierende) Interpretation152 glauben machen möchte, sodass der Staat bürgerlicher Verfassung eigentlich zu einer bloß individualistischen Eigentümergesellschaft degradiert sein würde. Mit dem hier nach dem „Prinzip der Synthesis a priori“ (Trichotomie) herausgearbeiteten Begriffsverständnis des ersten Hauptstücks der Privatrechtslehre wird also nicht nur die Deduktion des § 6 in ihrer Text gewordenen gedanklichen Einheit begreiflich, sondern vielmehr dreht sich – nicht zufällig – auch das bis dato privatrechtlich fundiert geglaubte Verhältnis von Besitz und Staat um genau 180 Grad. Die vorgelegte Untersuchung gibt somit zuletzt vielleicht auch Anlass, nochmals eingehend zu überdenken, ob man mit der Interpretations- und Editionsmaxime, „Die Philosophen haben die Rechtslehre nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an sie zu verändern“153, das gegenwärtige Kantverständnis wirklich in einem positiven Sinne zu befördern vermag, oder ob nicht vielmehr die dieser Maxime gemäß gewagte Rekonstruktion zwangsläufig zu einer Dekonstruktion des zu erschließenden Gedankens führen muss. Denn mit den Überlegungen der hier vorgetragenen Untersuchung drängt sich der Eindruck auf, dass die metaphysische Rechtslehre Kants auf einer begrifflichen Tiefendimension beruht, die man beispielsweise für § 6 mitunter noch nicht einmal geahnt zu haben scheint. Summary The intended readers of a philosophical text are naturally limited in their understanding of it by their knowledge of the text’s inner structure of reasoning. It is therefore that this paper will specifically examine the reasoning and conceptual constitution of the First Part (§§ 1 – 9) of Kant’s Doctrine of Private Right. This 152  Siehe dafür unter vielen andern nur Kersting (Fn. 134), S. 177 ff., 253 ff.; Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, Freiburg / München: Alber, 1984, S. 162 ff.; Ludwig, Kants Rechtslehre (Fn. 14), passim. 153  Ludwig, Kants Rechtslehre (Fn. 14), S. 1.

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will be done in order to gain a better understanding of the heavily debated § 6, which concerns itself with the deduction of the “notion” of intelligible possession. Contrary to popular belief, the following analysis will aim to prove that the original appearance and structure of the ten paragraphs of this clause are, in fact, self-consistent and do not require editorial interference.

A Retrospective Narrative Rousseau’s Genealogical Method David Heyd*

In one of the two mottos for his masterpiece study of the genealogy of truth Bernard Williams quotes Nietzsche, the alleged father of the genealogical method:1 Lack of historical sense is the hereditary defect of philosophers … So what is needed from now on is historical philosophizing and with it the virtue of modesty.2

Nietzsche was a great admirer of Jean-Jacques Rousseau and a careful reader of his writings. He was very sharp in the way he distinguished between Rousseau and his fellow philosophers of the enlightenment (particularly Voltaire, but also Kant). However, he either failed to notice, or more probably was reluctant to acknowledge, Rousseau’s innovative contribution to the idea of genealogy, usually considered to be Nietzsche’s invention. Equally surprising is that in his original book on genealogy, directly inspired by Nietzsche, and despite a fairly detailed discussion of Rousseau in the context of sincerity and authenticity, Williams does not mention Rousseau as a precursor of the genealogical method. Most of the large number of commentaries on Rousseau, on the one hand, and the extensive writing on genealogy, on the other, ignore Rousseau’s use of genealogy, particularly in the Second Discourse but also in the Essay on the Origin of Languages and to a lesser extent in some of his other writings. However there are some notable exceptions, particularly in the past two decades, which have highlighted Rousseau’s importance in the genealogy of the idea of genealogy.3 In a serious sense he is the very first genealogist.4 Although Rousseau does not use the *  I wish to thank Charles Griswold for his many helpful comments on an earlier version of this article. 1  Bernard Williams, Truth and Truthfulness: An Essay in Genealogy, Princeton: Princeton University Press, 2002, front page. 2  Friedrich Nietzsche, Human, All Too Human, section 2. 3  See, in particular, the pioneering article by Frederick Neuhouser, “The Critical Function of Genealogy in the Thought of J-J. Rousseau”, The Review of Politics, 2012, pp. 371 – 387, and Charles Griswold, “Genealogical Narrative and Self-Knowledge in Rousseau’s ‘Discourse on the Origin and Foundations of Inequality among Men’”, History of European Ideas, 2016, pp.  276 – 301. 4  David Hume is sometimes mentioned as employing a genealogical method, particularly in his account of the origins of justice and private property. But although Hume’s ideas on

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term in his main writings, it does appear twice in marginal texts.5 But the idea of genealogy as a philosophical method is developed in detail in Rousseau’s Second Discourse more than a century before Nietzsche’s Genealogy of Morals. Rousseau was both innovative and subtle in his use of this method in a way which merits close examination. The plan of this article is to investigate the uniqueness of the genealogical method, particularly in contrast to theory, on the one hand, and to history, on the other; then to examine the way Rousseau puts it to use for his own philosophical and critical purposes; and finally to consider it as a form of subversion of the enlightenment project. I. What is Genealogy? One way to characterize the genealogical method is to contrast it with the much more common method in philosophy, namely theoretical thinking. Theory is essentially a-temporal, employing abstract concepts and principles. Genealogy looks at reality through a temporal lens. Theory is concerned with how things are, while genealogy asks how we got to where we are. Theory, both philosophical and scientific, aims at explaining natural phenomena or justifying epistemological, moral or political norms and institutions in terms of general concepts and laws. Genealogies, in contradistinction, are narratives – descriptions of processes or stories of the development of successive events leading up to what is to be explained. Theory is essentially a conceptual construction; genealogy is a historical re-construction. The two approaches are not only competing as alternative methods for investigating epistemological, moral and political subjects, but regard each other with a measure of disdain. Theory looks down at temporal explanations as being merely “genetic” and accordingly as lacking real general explanatory value (that science and philosophy aspire to have), let alone any justificatory power. Genealogy condescendingly views “theory” not only as useless abstraction but as devoid of critical awareness of being itself the product of historical circumstances. But then the question arises, how can the genealogist himself be free from the same accusation of being the creation of her own genealogical story? Some argue that genealogists  these matters gradually developed from the 1750’s (which is the period of Rousseau’s early works), they manifest only a thin concept of genealogy. Hume speaks of “the poetical fiction of the golden age” which is analogical to “the philosophical fiction of the state of nature”, but does not tell a story of the successive stages of the evolution of humanity from the original state to the present. Explaining the origin of justice as an artificial construction aimed at promoting utility and the public interest is not a fully-fledged genealogy. See Hume, Inquiry concerning the Principles of Morals, section III, part 1; Treatise on Human Nature, book III, part II, section 2. Hume’s approach will be contrasted with Rousseau’s genealogy later in this article. 5  J-J. Rousseau, Letter to Beaumont, Letters Written from the Mountain, and Related Writings, Lebanon: Dartmouth University Press, 2013, p. 28; J-J. Rousseau, “Observations”, in: V. Gourevitch (ed.), The “Discourses” and Other Early Political Writings, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, p. 45. I owe these two references to Griswold’s scholarly work cited in fn. 2.

A Retrospective Narrative

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can achieve that critical distance from the genealogical process itself due to their rebellious character, being outsiders who do not abide by social norms and academic conventions.6 Rousseau, Nietzsche and Foucault illustrate this typically outsider’s point of view. But as Charles Griswold has argued, the act of bootstrapping required by such distancing of one’s own philosophy from the genealogical process can be achieved only by some “leap”, which Rousseau himself in his Confessions describes so dramatically in the moment of his Pauline “revelation” on the road to Vincennes – a revelation which led to the recognition of humanity’s decline and the articulation of that recognition in his first and second discourses.7 Genealogy, unlike theory, is a kind of narrative. But Rousseau, like the later genealogists Nietzsche and Foucault, is at pains to distinguish the genealogical narrative from the strictly empirical study of history: The Inquiries … ought not be taken for historical truths, but only for hypothetical and conditional reasonings; better suited to elucidate the Nature of things than to show their genuine origin (132).8

Rousseau admits that the events he describes in his genealogy of the inequality in human society might not have happened or rather could have happened in “several ways” (159). In that sense they are “conjectures” (or in Williams’s terms, “imaginary”). To use Rousseau’s wording, “it is up to history, if available, to provide the facts that connect them; about how, in the absence of history, it is up to Philosophy to ascertain similar facts that might connect them” (160). Genealogy is drawn in much broader strokes than history. It does not study the evolution of family law in a particular tribe or the development of property law in a particular society, but rather aims at explaining the evolution of these practices and institutions in their general form, that form which is common to all their historical manifestations in human societies. Had we had a full history of humanity at hand, the task of the philosopher would have been easier, consisting only of generalization of the actual evolution of the particular events (“facts” in Rousseau’s terms). But in the “absence” of such a full complete history, the philosopher is expected to fill the factual gaps by providing hypothetical facts (“that might connect the actual facts”). This filling up requires imagination. However, it does not mean that genealogy lacks historical validity, since the generalized account of the development of human soci6  A. MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopedia, Genealogy, and Tradition, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1990, p. 35. MacIntyre emphasizes the anti-academic character of genealogy and the fact that genealogists typically do not belong to the university world. 7  Griswold, “Genealogical Narrative”, pp. 288 – 291. Only through such a sudden experience can one achieve self-knowledge unimpeded by the delusionary forces at work in the evolution of mankind. 8  J-J. Rousseau, Discourse on the Origin and Foundations of Inequality among Men, in: Victor Gourevitch (ed.), The “Discourses” and Other Early Political Writings, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, pp. 111- 222. This work is referred to in this article as The Second Discourse, with page numbers in the body of the text.

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eties is grounded in the abundant evidence of hard historical facts. But, as has been noted, it is natural that the generalized kind of history offered by the genealogist tends to dramatize some key events and historical transitions, is inclined to nostalgia and to the sense of tragedy, and uses hyperbolic – often violent – language.9 On the other hand, genealogy is not a theoretical model and in that respect should be carefully distinguished from state-of-nature accounts popular among political philosophers from Hobbes and Locke to Rawls and Dworkin. It is not an abstract model constructed on the basis of a set of a presumed list of essential properties of human beings, such as power, rationality, egoism, natural rights or the sense of fairness. Genealogy is an open research project of the contingent evolution of human beings and in that sense is more similar to history. Although, as we shall see, it inevitably makes some assumptions about human nature, Rousseau does not draw the exact borderline between the natural and the artificial. Unlike later genealogists, Rousseau makes use of the concept of “state of nature”, but its role in the philosophical account is different from that in standard state-of-nature models: it is not an artificial abstraction or a thought experiment, but rather a hypothetical (idealized) temporal starting point in the development of humanity. Unlike Rawls’ “original position”, which has no historical reality, the starting point of a genealogical explanation must be backed by historical facts, even if not subject to the strict validation criteria of the empirical study of history. In that respect the term “original” better fits Rousseau’s genealogy than Rawls’ theory. Genealogies can have differential historical depths. Nietzsche’s famous genealogy addresses the rise of Judeo-Christian morality and covers the time span of two and a half millennia. Foucault applies the genealogical method to the much shorter span of two or three centuries, studying particular social institutions like the prison, the mental hospital and the clinic. Rousseau is more ambitious, aiming to explain the development of human civilization as a whole (no wonder Claude Lévi-Strauss has called him “the father of anthropology”) and the way social inequality has developed from the very early stages of human history. Darwin, who has definitely inspired genealogies from Nietzsche onwards, takes the whole history of organic life as the object of his “genealogical” account. Although these four examples demonstrate varying degrees of historicity (Nietzsche and Foucault being more constrained by historical facts), they share the same logical structure which Rousseau was the first to articulate and which we should now turn to analyze in more detail.

9  Martin Saar, “Genealogy and Subjectivity”, European Journal of Philosophy, 2002, pp. 238 – 9. For genealogy as “speculation” rather than fiction, see Robert Guay, “Genealogy and Irony”, Journal of Nietzsche Studies, 2011, pp. 26 – 49.

A Retrospective Narrative

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II. The Narrative’s Direction Being temporal in nature, genealogy is not a theory in the scientific or in the standard philosophical sense. It tells a story, and in that it is similar to a history. Furthermore, like history and in contrast to state-of-nature theory, its aim is merely explanation rather than justification. It assumes that the temporal sequence of events is not predictable but that a retrospective study of the sequence can provide it with meaning. Genealogy resembles psychoanalysis. Both deal with human life which cannot be told prospectively but may be given a retrospective account.10 So both history and genealogy are kinds of “narratives”, but, as we have already noted, Rousseau distinguishes between the two – the former being the account of the actual series of events in the past, while the latter being partly a hypothetical story (a job for philosophers!). But I want to suggest a further distinctive feature of genealogy by examining the narrative’s direction. The term “narrative” (or indeed “story”) is borrowed from the domain of fiction. In a novel a story is built from start to finish. Literary value is embedded in some overall coherence of the plot. Like an architecturally designed building, a good story is closed in the sense of a certain inevitability leading from the beginning to the very end (even if this inevitability can often be traced by the reader only once she finishes reading the story). Anna Karenina or Oedipus Rex could not have a different ending without losing aesthetic value or becoming a different work of art. Hamlet is a human being with free choice, but as the character in the fictitious play, he could not but have acted as he actually did, since had he acted otherwise the play would have lost its point and meaning. In that sense the play, unlike real human life or the history of a society, is “closed”. The author’s task is accordingly that of construction. Writing a novel is a planned activity. But genealogy works exactly in the opposite direction. Rather than taking a certain starting point and building a series of events with the idea of the end point in mind, it takes the present as its starting point and works its way back to some actual or hypothetical starting point. Its principle is that of re-tracing as in the search for the location of an animal which left tracks all the way to where we are.11 The crucial assumption is that in actual human affairs (in contrast to fiction), from any starting point further development may take different courses. There is no inevitability in human history (or indeed in the life of an individual). There are no 10  For the analogy to individual life, see David Heyd and Franklin Miller, “Life Plans: Do They Give Meaning to Our Lives”, Monist, 2010, pp. 17 – 37. As against the idea of a life plan, my view is that human life, exactly like the history of a nation or of humanity, can be given sense only retrospectively. We do not actually lead our lives as if they were literary works. The metaphor of autonomy as the capacity to write one’s life story is misleading. I can “write my life” only as an (auto) biography, that is to say, in retrospect. 11  See Second Discourse, p. 186: “In thus discovering and retracing the forgotten and lost paths that must have led man from the Natural state to the Civil state …” (my italics). Since we know what the civil state is like but have no direct knowledge of the state of nature, the only way we may learn about the pathway from the former to the latter is by tracking it backwards.

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a priori constraints on the way the series of events will actually unfold. Genealogy tells a story which is open, or in philosophical terms – contingent. We will see that this contingency is crucial for the emancipatory power of genealogy, since although it shows us why we have reached our current (miserable) state, it also conveys the message that things could have been otherwise and that the future course of history can, at least in principle, be changed.12 In the physical sciences, from the given condition in some state of the world together with the laws of nature we can derive a prediction of future states of the world. Not so in human history according to the genealogist. This explains why the genealogical story can be created only by looking backwards, from our current position, uncovering the particular development which actually brought us to the present. Only then can the re-constructed genealogical narrative be told as if it was a history. This explains the difference between history in the academic sense of the study of the past and genealogy. History is constrained by strict criteria of historical evidence and is not meant to explain the present (for most of it studies a series of events starting in the past and also ending in the past). Rousseau is not only the precursor of the genealogical method. He also anticipates in some striking manner the Darwinian evolutionary model developed only a century later. Consider this quotation from the Essay on the Origin of Languages: This is why northern people are so sturdy; it is not initially the climate that made them so, but it suffered only those who were so, and it is not surprising that the children keep their fathers’ good constitution.13

Natural selection has no inherent direction. It is partly decided by random circumstances which cannot or could not be predicted. Hence, the evolution of a species can be explained only by looking backwards. Particular features or properties of a species can be explained only after their development by showing how they contributed to the survival of the species but not as a necessary development from a prior stage in that development. Rousseau explicitly argues that some social virtues and other faculties “that natural man had received in potentiality, could never develop by themselves, that in order to do so, they needed the fortuitous concatenation of several foreign causes which might never have arisen and without which he would eternally have remained in his primitive condition” (159). These “fortuitous causes” cannot be easily tracked (as is the case in mutations in biological evolution), but Rousseau illustrates their crucial role in the genealogical 12  This point is persuasively argued by Neuhouser, who both in his article quoted above and in the “Coda” to his recent book on Rousseau provides an answer to the question how a (descriptive) genealogy can serve also as a (normative) critique: although the degeneration of humanity is “most likely”, it is not inevitable; social inequality is not “a given” and our bad choices are “corrigible”. Frederick Neuhouser, Rousseau’s Critique of Inequality: Reconstructing the Second Discourse, Cambridge: Cambridge University Press, 2014), pp. 208 – 212. 13  J.-J. Rousseau, Essay on the Origin of Languages, in: V. Gourevitch (ed.), The “Discourses” and Other Early Political Writings Cambridge: Cambridge University Press, 1997, p. 279.

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story by the cases of the serendipitous discovery of fire (lightning) and that of iron (volcanic eruptions). Furthermore, Rousseau is already aware of the potential scientific benefit of studying the biological evolution of “man”, that is to say, the human species, but explains that he wishes to avoid attempting such a longer-term genealogy since, to quote him, “comparative Anatomy has as yet made too little progress, the observations of Naturalists are as yet too uncertain to permit establishing the basis of a solid argument on such foundations” (134). Rousseau articulates the principle of the survival of the fittest: The Children, since they come into the world with their Fathers’ excellent constitution and strengthen it by the same activities that produced it, thus acquire all the vigor of which the human species is capable. Nature deals with them precisely as the Law of Sparta did with the Children of Citizens: It makes those who have a good constitution strong and robust, and causes all the others to perish (135).

Although the direction of the social and political evolution of humanity is contingent and open to alternative directions, the study of this development, which goes in the reverse direction (from the present backwards) must have some direction if it wishes to provide us with some insight about what we really are. The evolutionary process is contingent, but its investigation must be guided by a principle. For Rousseau this principle is nature, in contrast to artifice. Genealogy is an “undertaking to disentangle what is original from what is artificial in man’s present Nature, and to know accurately a state which no longer exists, which perhaps never did exist, which probably never will exist” (125).14 In that Rousseau wishes explicitly to associate himself with Aristotle, who also aims at discovering human nature in its pure rather than corrupted form. The motto on the title page of the Second Discourse, taken from Aristotle Politics (1254a), says: “What is natural has to be investigated not in beings that are depraved, but in those that are good according to nature”. But Rousseau turns Aristotle on his head, since the natural is not the final end but rather lies in the origins, and corruption is not natural but artificial (that is to say, connected with human institutions and invention).15 The genealogical reversal

14  This naturalistic principle of genealogy is explicitly operative in Rousseau’s theory of the evolution of languages and music. “Since speech is the first social institution, it owes its form to natural causes alone”, says Rousseau in the opening paragraph of his Essay on the Origin of Languages (p. 248 in Gourevitch’s edition quoted in fn. 13). These have to do with the unique human need of expressing and conveying emotions. But then, language evolves in different manners and directions due to natural but typically contingent circumstances (climate, natural catastrophes, etc.). Compare Rousseau’s genealogical approach to the nature of language (and music) to Chomskian theory of language: facing the huge variety and heterogeneity of actual known human languages, the Chomskian theorist looks for the universal, deep underlying structure inherent in the human mind (or even brain), while the genealogist rejects any such hypothesis in favour of a temporal evolutionary process guided by random factors. 15  Rousseau, like Nietzsche, rejects the Aristotelian idea that the human being is zoon politikon. For both of them, man is not by nature a political animal and their genealogies expose

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means that the good is not something to which we should look for in the future but rather something which we should search for in the past. Animals are the key to the understanding of the pure form of human nature before humans having acquired the features of (artificial) civilization. In The Second Discourse Rousseau first peels off the most recent and more culturally determined institutions and practices and gradually works his way back to the more fundamental features of human life in society roughly in that order: arts and sciences, luxuries, commodities, trade, cooperation, private property, contracts, language, agriculture, permanent dwelling, cooking, hunting, the creation of stable families – all the way back to the golden age of l’homme sauvage.16 The metaphysical assumption to which Rousseau, like some of his eighteenth-century contemporaries, adheres is the continuity of the animal and the human world – an assumption not accepted by either the Cartesian or the Kantian world view.17 As Bernard Williams has emphasized, genealogy is conceptually associated with naturalism, which many philosophers of the enlightenment strongly rejected. III. Genealogy as the Subversion of Enlightenment Ideals The principle of nature moves us from the purely methodological characterization of genealogy to its use as a normative standard. For Rousseau it is the only method which can give us real insight into what we (currently) are, that is to say, understand ourselves. For in his view there is a paradox in the very idea of progress from the primitive to the civilized state: the farther we move from the original state, “the more we deprive ourselves of the means of acquiring the most important knowledge of all” (124), which of course is self-knowledge. For language, science, and reason in general provide us with tools by which we delude ourselves of being able to understand our own nature: they enable us to form only an image of the kind of beings we wish to be rather than of what we actually are. By that they are masking rather than revealing human nature. Rousseau articulates the paradox in a sharp way: “in a sense it is by dint of studying man that we have made it impossible for us to know him” (124). Genealogy is offered as the remedy for this deep trap of self-delusion. Like in psychoanalysis, the very process of re-tracing the past serves to lay bare – layer by layer, stage by stage – the real forces which actually formed the pitfalls of the politicization of human life. See Keith Ansell-Pearson, Nietzsche Contra Rousseau, Cambridge: Cambridge University Press, 1991, p.119. 16  Rousseau refers to his task as that of reconstruction. He borrows from Plato’s Republic the example of imagining the original look of an old sculpture (of the sea-god Glaucus) which has been exposed for a long time to the harsh elements – disfigured and partly broken. Second Discourse, p. 124. 17  In an illuminating chapter Robert Wokler argue that Rousseau not only may be considered the father of anthropology but that he was among the first to raise the hypothesis that the apes are the origin of the human savage. R. Wokler, Rousseau, the Age of Enlightenment and Their Legacies, Princeton: Princeton University Press, 2012, chapter 1.

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our social culture and identity. Unlike the freedom to form a complimentary but unreal image of ourselves which we enjoy when we construct an abstract theory of humanity, genealogy forces us to face the often more painful fact that we are the product of irrational beliefs, evil motives and pure chance. Theories – be they philosophical, psychological or sociological – are rational constructions that conceal the motives of their creators. Understanding the way reason and language (as well as other fundamental capacities and social institutions) were actually formed avoids the biases of wishful thinking. Since naturalism is the test of the genealogical method and the principle of its application, it is sharply distinguished from what we call “history”. Rousseau passionately appeals to his readers in the beginning of the Exordium of the Second Discourse: O man … listen; Here is your history such as I believed I read it, not in the Books by your kind, who are liars, but in Nature, which never lies (133).

History written by men in terms of human conceptions and ideals is more similar to fictional narrative distorted by human interests and political purpose. Both theory and fiction belong to the realm of the artificial. So does history of the scientific-academic kind. Genealogy, although deploying the tools of reason and imagination, is the closest we can get to an unprejudiced conception of human nature. It does not construct an a priori view of what is essential to humanity but rather captures it by retracing its origins through methodical uncovering of the essential core behind the external artifice. So Rousseau’s genealogy is not just a methodological proposal. It aims at addressing normative questions in political philosophy whose two best-known articulations in Rousseau are: “how come man is born free but is everywhere in chains?” and “how come we are all born equal but inequality is endemic in all human societies?”. The way the questions are put casts a shadow on the spirit of eighteenth-century enlightenment philosophy. This, again, has to do with the direction of movement between the past and present poles. Genealogy proves to be not merely a methodological turn of direction of the traditional historical narrative but also an evaluative reversal of the nature of human development. In contrast to the deep belief in human progress, Rousseau’s genealogy exposes a consistent and continuous process of corruption, degeneration and regress. In the First Discourse, written a few years earlier than the Second Discourse, Rousseau focuses on the arts and sciences, or on what we may refer to as the civilizing process of human history, as the deep cause of human moral corruption and of the loss of the authentic way of life.18 Abstract thought, self-awareness (in the sense of self-love – amour propre), representation (in both theatre and politics),19 and the bourgeois culture of man18  J.-J. Rousseau, Discourse on the Sciences and Arts, in: Victor Gourevitch (ed.), The Discourses and Other Early Political Writings, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, pp.  1 – 28.

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ners – are all manifestations of that debasing process. Add to that the degeneration of the emotive power of old Southern languages to the phonetically and semantically hard character of Northern languages and the decline of melody into harmony in eighteenth-century music (particularly of the French school of Rameau) and we get a clear picture of the regressive nature of human history according to Rousseau.20 Rousseau himself is aware of the revolutionary nature of his genealogical method with its normative implications and his role as an anticipator of later developments in philosophy. In the “Preface” to the First Discourse he declares that he does not care to please the readers who are “subjugated by the opinions of their century, their Country, their society”, and that he wishes to write for readers beyond his century!21 This fittingly describes the outsider’s position from which, as we mentioned, the genealogist hopes to be able to speak without the risk of falling victim to his own analysis. When used for the reversal of the very idea of human progress, genealogy turns in Rousseau’s hands into a venomous act of provocation against his fellow philosophers of the enlightenment, like Voltaire, Diderot and Hume (and, later, Kant): How humiliating for humanity such reflections are! How greatly mortified our pride must be by them! What! probity the daughter of ignorance? Science and virtue incompatible?22

It seems that the narrative’s direction is closely associated with the trust or mistrust one has in the role of reason in explaining human behavior. Psychologists tend to look for the individual’s motives in their attempt to understand their clients’ choices, whereas economists look for the reasons people give (or at least should give) to their choices. In his genealogy Rousseau tries to understand why human beings did what we did rather than why they should have wanted to do it. This is a typically backward looking approach. It is looking for the human motives which stand behind the transition from one stage to another and to the creation of new practices or institutions in humanity’s evolution. It is not a story told as a rational progression of phases in a continuous planned development from early to later ­stages, based on reasons, forethought and ideals. Rousseau’s project, like Nietz­ sche’s, is that of debunking, or in Rousseau’s own language, “one will not find that human knowledge has an origin that corresponds to the idea one likes to conceive regarding it”.23 To illustrate this contrast consider first Hume’s declaration of his research project about justice: 19 See David Heyd, “Between Representation and Impersonation: Rousseau on Theatre and Politics”, in: A. Ben-Tov / Y. Deutsch / T. Herzig, (eds.), Knowledge and Religion in Early Modern Europe, Leiden: Brill, 2013, pp. 181 – 204. 20  See again, Essay on the Origin of Languages, chapters 10, 13 and 14. 21  First Discourse, p. 4. 22  Ibid., p. 14. 23  Ibid., p. 16.

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That public utility is the sole origin of Justice, and that reflections on the beneficial consequences of this virtue are the sole foundation of its merit, this proposition, being more curious and important will better deserve our examination and inquiry.24

The project is vindicatory in nature. It attempts to demonstrate the rationality of justice and the way people equipped with the power of reason probably adopted it through rational reflection. The ultimate reason for constructing just institutions and rules of private property is the public good, the overall happiness in society. Now compare that with Rousseau (just two years earlier, in 1750): Astronomy was born of superstition; Eloquence of ambition, hatred, flattery, lying; Geometry of greed; Physics of vain curiosity; all of them, even Ethics, of human pride.25

Rather than telling the story of intelligent and rationally motivated people trying to find solutions to navigation problems in astronomical investigation, Rousseau links the study of the stars to superstition. Or take the most dramatic point in Rousseau’s genealogical reconstruction, that of the invention of property. For Locke, property is a natural right; for Hobbes, it is a necessary means of survival; for Kant it is a political manifestation of the categorical imperative; for Hume it is a way to realize the public good; for Rawls it is an expression of justice as fairness. And for Rousseau? He argues that the first person to say this is mine was the true founder of civil society, but that he was an impostor, and that he is responsible for the crimes, wars, murders, miseries and horrors that the human race has suffered ever since. Property is the original sin which arose out of amour propre, out of base motive, rather than from a rational consideration, true consent, or good will. As many scholars have pointed out, while theory-oriented philosophers (Hobbes, Locke, Hegel and Rawls) are driven by the motivation to justify the political order in which they live, the genealogists (Rousseau, Nietzsche, the Frankfurt School and Foucault) are associated with the critical stance regarding the present.26 In distinction from Nietzsche and Foucault, the main driving force in Rousseau’s genealogy is not power but vice (although in the later stages, after greed has made some individuals rich, they seize power so as to secure their property).27 Exposing 24  David Hume, An Inquiry concerning the Principles of Morals, section III, “Of Justice”, part 1 (pp. 14 – 15). 25  First Discourse, p. 16. 26  Neuhouser points to the relation between genealogy and critique expressed by the question addressed to the writers in the competition for which Rousseau wrote The Second Discourse: what is the origin of inequality and whether it can be justified. Neuhouser, “The Critical Function of Genealogy”, p. 383. Although I have argued above that the aim of genealogy is explanation (of social practices and institutions) rather than their justification, this does not mean that the genealogical method itself lacks normative power. Neuhouser is right in highlighting the crucial role the method serves in criticizing (rather than justifying) the current social order. 27  Accordingly, for Nietzsche morality is responsible for the decline in civilization, whereas for Rousseau the civilizing process in human history is responsible for the moral decline. For Nietzsche egalitarianism is the harmful moral principle which has gradually undermined

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the “real” motives behind the seemingly rational and progressive development of humanity is for Rousseau a necessary means for true self-understanding and also for applying some remedial measures to the maladies of the present – mainly in politics and education. Although we cannot regain the original freedom of l’homme sauvage and the perfect natural equality of human beings before their degeneration, we can rationally construct political conditions of civil freedom and social equality, as Rousseau offers to do in the Social Contract. Although we cannot completely avoid living in society, we can at least train the individual to avoid some of the pitfalls of convention, herd mentality, and the constant search for honour and social recognition through meticulous education as outlined in Émile Kant’s philosophy of history can be taken as the prototype of the enlightenment idea of progress which Rousseau (years earlier) was at pains to undermine with the aid of his genealogy. Opposing naturalism, Kant looks for a rational non-contingent explanation of the history of humanity. Consequently he cannot adopt any temporal “narrative”, which by its nature could always be otherwise. His “idea of history” is a teleological “guiding thread” without which human history would look as lacking any rhyme and rhythm, that is to say, just a “planless conglomeration of human actions”.28 Ideas, according to Kant, are “concepts of reason”, which cannot be given any empirical support, though they serve as an indispensable regulatory guide to all attempts to systematize empirical knowledge. Despite individual action which is free and not subject to natural laws, the history of the human race as a whole demonstrates “regular movement” which is “steady and progressive”. But what is Kant’s methodological assumption behind this ambitious project of studying and even promoting this idea of history? Here there is an interesting analogy between Kant and Rousseau. For Rousseau, genealogy is the tool for unveiling the genuine motives behind what we falsely believe to be signs of human progress. For Kant, the philosophical study of history is the exposure of “the secret plan of nature”, which is “gradually lifting our race from the lower levels of animality to the highest level of humanity”.29 If Rousseau’s view of history connotes some kind of what may be described as conspiracy against happiness and virtue, Kant believes in some hidden beneficent force, which he himself refers to as Providence, a force which can be understood as the “positive” mirror-image of conspiracy. So although Kant the manifestation of true human spiritual power, while for Rousseau, it is exactly the other way round – amour propre and socialization gave rise to the immoral and unnatural situation of exploitation and enslavement. For Nietzsche true freedom can only find expression in the elite few; for Rousseau it can be realized only under conditions of political equality. But both Rousseau and Nietzsche resort to conspiracy theory: for Rousseau the shrewd invention by the rich of the idea of justice and property laws “easily seduced” the poor to give up their natural freedom (Second Discourse, p. 173); for Nietzsche the multitude of the weak instilled in the naturally strong people the idea of moral conscience, leading them to lose their naturally deserved superiority (Genealogy of Morals, second essay). 28  Immanuel Kant, “Idea for a Universal History from a Cosmopolitan Point of View”, in: Lewis White Beck (ed.), Kant on History, Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1957, p. 24. 29  Ibid., p. 20.

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does not wish to deny all contingency from human history, he is committed to an ultimate law-like development of the human capacities which will ultimately move humanity towards a more rational civic order. The gradual rationalization of nature and human nature is for Kant an a priori demand of reason.30 Furthermore, Kant believes that the conflict between nature and culture, which seemed irresolvable to Rousseau, can be resolved according to Rousseau himself, if we only read him correctly: once just political institutions are established and rational methods of education are introduced, human history would lead to the full realization of human nature through culture.31 Ultimately, the course of history “is not decline from good to evil, but rather a gradual development from the worse to the better”. Nature supports culture and freedom in the fulfilment of man’s vocation.32 However, it is not clear whether Kant is justified in his claim for the correct reading of Rousseau. In order to examine Kant’s claim it would be helpful to compare the idea of “sociability”, which plays opposite roles in Kant’s and Rousseau’s accounts. Social interaction for Rousseau is the source of the decline from the life of the noble savage in the golden age. It gives rise to the most pernicious of all sentiments – self-love, amour propre, which creates rivalry, strife, violence and the loss of natural love and satisfaction.33 But for Kant, although sociability is “unsocial”, namely creates –as in Rousseau – “antagonism”, competition and self-conceit, it is a necessary means for the realization of human capacities, and “in the end, the cause of the lawful order among men”.34 Nature does not want human beings to remain satisfied in their animal contentment (amour de soi), so highly valued by Rousseau. For Kant, humans have a special role in the world, namely to invest it with reason. They are not merely natural creatures. And they are not continuous with animals. 30  Nevertheless, one should note Kant’s attraction to a genealogical account, at least as “a permissible exercise of the imagination guided by reason and undertaken for the sake of relaxation and mental health”. Immanuel Kant, “Conjectural Beginning of Human History”, in Lewis White Beck, ed., Kant on History, Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1957, p. 53. 31  Ibid., pp.  60 – 61. 32  Ibid., p. 68. 33  Neuhouser (“The Critical Function of Genealogy”, p. 383) proposes that amour propre should not be regarded as bad in itself but bad only due to its consequences, and by that highlights the difference between that sentiment and Nietzsche’s ressentiment (which is intrinsically bad). Neuhouser’s interpretation seems to be right in the social context, since self-love does not always lead to inequality; but we should remember that amour propre is in itself an obstacle to authenticity or self-transparency, since the individual relates to herself only through the mediation of the other, which is bad in Rousseau’s eyes independently of social institutions. 34  “Idea”, p. 15. In his illuminating discussion of this idea, Yirmiyahu Yovel uses the term “the cunning of nature” (in associative contrast to Hegel’s concept of the cunning of reason). See Y. Yovel, Kant on History, Princeton: Princeton University Press, 1980. Both Rousseau and Kant detect a gap between the way human individuals understand their actions and the real hidden force which makes them act as they do.

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Commentators often tend to overstate the similarity between Kant and Rousseau on the nature of history because they emphasize the Rousseauian source of Kant’s concepts of unsocial sociability and the self-perfectibility of human beings.35 But the crucial source of difference between the two philosophers lies in the metaphysics of nature. Kant believed that nature is purposive and that its ultimate end is humanity; Rousseau does not share this teleological view of nature, even as a regulative idea of reason, and since nature has no goal and history has no ultimate direction genealogy is the method for both describing and criticizing the present state of human society. So in the enlightenment’s direction of progress, the more we distance ourselves from nature, the better we are. Being civilized and “refined” is for Kant a morally superior stage than that of the savage. Rousseau, like Nietzsche, is committed to the opposite view: cultural refinement in all its aspects (manners and good taste, as well as arts and science) is the symptom of moral corruption and decline in vigor. Voltaire, in his life style as well as in his writings, epitomizes this degenerative process. So does the French political system. Both Rousseau and Kant rely on reason as the principle on which politics should be founded (“the general will” on the one hand and “public reason” on the other). But while for Kant political freedom and justice are part of the ideal human existence, for Rousseau they are only the optimal response to humanity’s state of decline. The life of reason under the political regime of the general will is the closest we can get to the lost freedom of the original state of nature, a state we cannot and do not want to regain. Government based on the social contract is both rational and free but not in itself an expression of a trajectory of progress. In the same way, the diligent education of Émil is not aimed at coming of age (as is Kant’s ideal in “What is Enlightenment”) but rather at preserving some of the important features of his childhood, mainly innocence. Although humanity’s development is partly governed by contingent natural circumstances and by human free choice, the genealogical study unveils an almost law-like regularity of degeneration which can be projected into the future. Towards the end of the Second Discourse Rousseau outlines the extremely bleak trajectory of the future development of humanity: growing oppression, violence, civil war, disunity and corruption. The trajectory sounds so inevitable that it becomes close to the historical determinism of Rousseau’s enlightenment rivals: the moral history of humanity which started in the pure state of nature is most probably bound to end in a Hobbesian state of nature in which equality will be reinstated in its most brutal form of homo hominis lupus est (185 – 6).

35  Allen Wood has written extensively on Kant’s conception of history but does not refer to the genealogical method as an expression of Rousseau’s denial of the progressivist conception of history. See, for instance, Allen Wood, “Kant’s Fourth Proposition: The Unsocial Sociability of Human Nature”, in: A. Rorty / J. Schmidt, (eds.), Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim: A Critical Guide, Cambridge: Cambridge University Press, 2009, pp. 117ff.

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The only hope to avoid this gloomy prospect of humanity is in learning the lesson from its genealogy. The Master and Slave state of inequality, says Rousseau, is the last stage “until new revolutions either dissolve the Government entirely, or bring it closer to legitimate institution” (182, italics are mine). Only by the awareness of the guises and masks which concealed the real forces that created the current state of inequality is there a chance – even though only slight – of preventing their continued operation. Rousseau was far from Marx’s belief in the inevitability of such a revolution, which would establish “a legitimate institution”, but his philosophy leaves the option open. It is not clear whether Rousseau tries to predict what will happen in the future or only presumes that once the details of the genealogy of the past are “laid bare” we would see the further degeneration into despotism and slavery, and hence be able to act to avoid them (184). All the doomsday descriptions of the future state of society are formulated by Rousseau in the conditional mood of “one would see” (“on verrait”), rather than in the unconditional future mood (of “one will see”). So it remains open in the final pages of the discourse whether Rousseau wishes to convey a warning or make a prediction. Mere awareness does not necessarily yield action and hence cannot serve as a cause for optimism. Never­ theless, genealogy, even if it does not prove to be a political liberating force, is valuable in itself in exposing truth. It might lead to the political project of founding society on the principles of the Social Contract, but even if it doesn’t, it will remain an integral part of Rousseau’s ceaseless quest for self-understanding, transparency and authenticity. IV. Conclusion Genealogy, in contrast to theory, tells a story. In that respect it closely connotes fiction – a novel or a piece of drama. But as we have shown, the crucial difference between Rousseau’s philosophical narrative and a literary story lies in the direction of the study of the unfolding events. This difference is hidden by the way of presentation of the narrative which in both cases is progressive, that is to say following the relevant development from the earlier to the later set of events. But this manner of presentation is misleading. For in genealogy, the act of retracing is the active investigation by the philosopher and is typically “backward looking”. The starting point is the present state of the world or of society, and the movement takes us step by step back to the past. It does not track the order of the building of a mound by successive societies living in the same location but rather uncovers the archeological site of the present by removing layer by layer, going back from the latest to the earliest. Only after this investigative process is completed can the “story” of the site be told in the “historical”, prospective order or in the way the life story of a fictional character is narrated – from the earliest stage to the latest. Genealogy is, therefore a narrative which can be told only in retrospect. This is a major difference which highlights the nature of genealogy. In fiction, it looks as if the future of the protagonists is open (like in the real life of individuals

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and societies). But it is not. The end point of the story is a foregone conclusion. It is inevitable. It could not have been otherwise. Only the beginning of the story is arbitrary, not determined by any prior conditions. All the rest is determined by the aesthetically organized world of the artist’s imagination. In genealogy, it is the other way round. The starting point is necessary, in Rousseau’s case “natural”, in some essential way to what human beings are. But the end of the story, or rather history, is completely contingent and determined by random factors and free will. The logic of human history is much looser than the aesthetic and psychological logic of a good novel. The term “genealogy” originates from the semantic field of family trees and this linguistic association is extremely productive in explaining the genealogical method in philosophy. Victor Gourevitch quotes a passage from a minor essay left by the young Rousseau, which for our purposes strikingly sums it all: … [W]hen inquiring into a family’s genealogy, one traces it backward from the present, relation by relation, ancestor by ancestor, to its origin; that is the Analytic way. After which a table is drawn up, with the one who has been discovered to be the founder of the house as its head, [and] moving forward generation by generation right up to the present, that is synthesis.36

Drawing a family tree has become a very popular project in our culture. We look as far back as evidence allows us in search of some imaginary founder of our family. This ancestor is related to us by necessity, i.e. no one else could be our ancestor (had any of our ancestors up the line been a different person, we would not have existed). But we are by no means his necessary descendants. He could have an endless number of alternative descendants. Exactly as Rousseau does in the Second Discourse, we build the genealogical tree by going backwards, but then we tell the family story forwards. Yet, despite their contingency, the prospectively told family stories are often interesting and endowed with a strong explanatory power in understanding who and what we are. This is the strong case for the genealogical method, which Rousseau was the first to notice. Zusammenfassung Nur sehr wenige Autoren haben bisher ausdrücklich den genealogischen Charakter der von Rousseau, insbesondere in seinem Zweiten Diskurs, verwendeten Methode erwähnt. Der vorliegende Artikel untersucht die Besonderheit dieser Methode im Unterschied zu Theoriebildung, Geschichtsschreibung und Fiktion und zeigt, dass ihr spezifisches Merkmal die Richtung des Narrativs ist, auf dem sie beruht. Die rückwärts-schauende Eigenschaft der Genealogie wird dann verbunden 36  Victor Gourevitch, “Rousseau’s Pure State of Nature”, Interpretation, 1988, p. 37. The quote is taken from “Ideé de la méthode dans la composition d’un livre”, in: J.-J. Rousseau, Oeuvres complètes, II, pp. 1244 f.

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mit Rousseaus normativer Diagnose der Geschichte des Menschen als regressiv, was von der Art und Weise verdeutlicht wird, in der die Genealogie die typischen Konzepte der Aufklärung von Geschichte als ein Fortschrittsgeschehen (wie bei Hume und Kant) unterminiert.

Wer die Rede von „moralischer Verpflichtung“ durchdacht verwendet, kann nicht umhin, sich auch das Moralprinzip der Universalisierten Goldenen Regel zu eigen zu machen Hans-Ulrich Hoche

I. Eine unerhörte Behauptung, ein dankbares Gedenken und ein Appell Die folgenden Ausführungen enthalten, von Abschnitt IX abgesehen, nur wenig, was nicht bereits in meinen weit verstreuten Publikationen zur Metaethik im Allgemeinen und zur Analytizität der Universalisierten Goldenen Regel im Besonderen zu finden wäre. Diese Publikationen erstrecken sich jedoch über eine Zeitspanne von etwa vier Jahrzehnten, und so musste ihr Inhalt naturgemäß immer wieder präzisiert und auch korrigiert werden. Es würde daher eigentlich an der Zeit sein, sie nun in eine einheitliche und in sich widerspruchsfreie Form zu gießen. Mein langjähriger Koautor Michael Knoop und ich hatten das auch tatsächlich als nächstes gemeinsames Projekt ins Auge gefasst. Doch unglücklicherweise ist er, wiewohl fast dreieinhalb Jahrzehnte jünger als ich, vor ein paar Monaten nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Die nötige Energie und Zeit, das Vorhaben nun alleine, ohne seine von immenser Sachkenntnis und Akribie getragene Unterstützung vor allem bei Fragen der formalen Logik, zu realisieren, dürfte mir angesichts meines sehr weit fortgeschrittenen Alters aber kaum noch beschieden sein. Daher wähle ich die hier vorliegende Form eines konzis zusammenfassenden und alle entscheidenden Zusammenhänge erläuternden Rückblicks auf meine metaethische Lebensarbeit, der vielleicht geeignet ist, interessierten Lesern als Motivation, Leitfaden und Verständnishilfe bei der Lektüre meiner teils allein, teils zusammen mit Michael Knoop erarbeiteten einschlägigen Publikationen zu dienen. Dass es aber einige solcher Leser gibt, das sollte angesichts der im Titel aufgestellten und für viele sicherlich ganz unerwarteten, ja befremdlichen Behauptung keine allzu vermessene Hoffnung sein. Besagt diese These doch indirekt auch, dass jeder, der die Universalisierte Goldene Regel kennt und sie trotzdem nicht als seinen moralischen Kompass benutzt, das Prädikat „ich bin (nach den von mir vertretenen normativen Maßstäben) moralisch verpflichtet, das und das zu tun“ entweder bloß gedankenlos einherredend (und somit ein sprachlich-begriffliches Erbe mit gewaltigem kulturellen Potential verschleudernd) in den Mund nimmt oder aber, als ein Amoralist, überhaupt nur für eine leere Worthülse hält. Jene Behauptung ist aller-

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dings so unerhört, dass man wohl nur die Wahl hat, den Autor ungeprüft als einen überheblichen Spinner abzutun (und davon gibt es in der Philosophie in der Tat allzu viele) oder jedoch zu versuchen, ihre Begründung im Detail zur Kenntnis zu nehmen und womöglich in der weniger rezeptiven als vielmehr produktiven Einstellung eines sachorientierten kollegialen Miteinanders zu verbessern und stetig fortzuentwickeln. 1 II. Metaethik und normative Ethik (Moral). Die begriffliche Analyse der Aussageform „ich bin moralisch verpflichtet, das und das zu tun“ Die seit einiger Zeit so genannte Metaethik hat es mit allem und nur dem zu tun, was der in meinen Augen methodologisch geradezu bahnbrechende englische Moralphilosoph Richard M. Hare (siehe bes. 1952; 1963; 1981) die Logik der Sprache der Moral nennt − nämlich mit der logischen oder begrifflichen Analyse von moralsprachlichen Prädikaten und Aussagen. Was mich betrifft, so habe ich mich vor allem auf die logische Analyse der folgenden Aussageform beschränkt: „ich bin (nach den von mir vertretenen normativen Maßstäben) moralisch dazu verpflichtet, das und das zu tun“. Ich will zunächst also gar nicht wissen, wozu ich von Fall zu Fall unter den und den Umständen moralisch verpflichtet bin. Denn das würde ja schon die normativ-ethische oder moralische Fragestellung sein, die sich allgemeingültig, also rein philosophisch, nach meiner Überzeugung gar nicht beantworten läßt. Vielmehr will ich zunächst bloß wissen, was es schlicht und einfach bedeutet − oder: was wir eigentlich genau sagen wollen −, wenn wir von uns selber oder (allerdings mit gravierenden Einschränkungen: vgl. Hoche 2001: VII – IX) von anderen behaupten, man sei unter den und den Bedingungen moralisch verpflichtet, das und das zu tun. Es zeigt sich dann freilich zugleich, dass uns die Antwort auf diese rein metaethische Frage in Verbindung mit unseren ganz persönlichen Wollensprinzipien – deren wir uns aufgrund unserer emotionalen Reaktionen auf wirklich erlebte, literarisch präsentierte oder anderweitig verfremdete Vorfälle, die wir missbilligen, bewusst werden können (s. unten Abschnitt VII) – auch befähigt, auf die normativ-ethische oder moralische Frage, wozu wir jeweils 1  Ich widme diesen Aufsatz dem Andenken meines langjährigen Schülers, Koautors und Freundes Michael Knoop (23. November 1966 bis 21. Mai 2019), der mich in den letzten Jahren besonders in formallogischer Hinsicht mit bewundernswerter Sachkunde und Sorgfalt unterstützt hat und vor seiner Erkrankung auch noch Gelegenheit fand, die im Folgenden hin und wieder verwendeten glaubens- und wollenslogischen Formeln gründlich durchzusehen. Für all das bin ich ihm von Herzen dankbar. – Weiterhin möchte ich den beiden in den letzten Jahren ebenfalls verstorbenen Herausgebern des Jahrbuchs für Recht und Ethik, Herrn Prof. Dr. Joachim Hruschka (10. Dezember 1935 bis 10. Dezember 2017) und Frau Prof. Dr. B. Sharon Byrd (28. April 1947 bis 4. März 2014), aber auch dem jetzigen Alleinherausgeber, Herrn Prof. Dr. Jan C. Joerden, ganz herzlich dafür danken, dass sie vielen meiner (mir) wichtigsten Aufsätze zur Handlungstheorie, zur Metaethik und zur doxastisch-theletischen Logik seit 1994 im Jahrbuch eine Heimat gegeben haben.

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verpflichtet seien, von Fall zu Fall eine Antwort zu geben. Diese Antworten sind allerdings nicht objektiv-allgemein, nämlich für jedermann gültig, sondern bloß subjektiv verbindlich – was jedoch nicht ausschließt, dass sie für alle in den relevanten Hinsichten gleichartigen Fälle gleichermaßen, also ohne Ansehung der Person, gelten und in diesem Sinne subjektiv-allgemein genannt werden könnten. III. Die Singuläre und die Universalisierte (Universelle) Goldene Regel Diese Zusammenhänge dürften sich am einfachsten anhand der so genannten Goldenen Regel nachweisen lassen, die in fast allen Kulturen und Religionen bekannt war und ist und die Jesus in der Bergpredigt so formuliert: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso“ (Matthäus 7,12; ähnlich Lukas 6,31). Gleichbedeutend, wenn auch negativ formuliert, heißt es in der deutschen Volksweisheit: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“. Interessant ist übrigens, dass mir diese Regel weniger bei meinen philosophischen als vielmehr bei meinen vergleichend-religionswissenschaftlichen Studien begegnet ist. Das dürfte daran liegen, dass der ‚Titan‘ Kant diese Regel verkannt und völlig zu Unrecht kleingeredet hat − mit dem Resultat, dass sie von deutschen Philosophen erst seit etwa Ende des Zweiten Weltkriegs wieder beachtet wird, während sie beispielsweise in England (wie bis zu Kants Zeiten durchaus auch in Deutschland; s. etwa Hruschka 1987) immer wieder auch Philosophen und nicht nur Theologen, Religionswissenschaftler, Ethnologen, Altphilologen, Rechtshistoriker usw. beschäftigt hat. Tatsächlich glaube ich, dass die Goldene Regel (wenn man sie richtig anwendet, was allerdings längst nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte: s. Hoche 1978a) als Grundlage der Moral vollständig ausreicht – zwar nicht in den soeben zitierten Fassungen, die an je mein persönliches (in diesem Sinn ‚singuläres‘) Eigeninteresse appellieren und die ich daher als – entgegen verbreiteten Vorurteilen: logisch und moralisch gleichwertige – Spielarten der Singulären Goldenen Regel bezeichne, wohl aber in den verallgemeinerten (‚universalisierten‘) Versionen, die im alten Griechenland verbreitet waren 2 und die, ganz unabhängig davon, eine Frau ohne wissenschaftliche oder philosophische Ambitionen spontan einmal auf die prägnante Form gebracht hat: „Was mich an andern stört, das darf ich doch selbst nicht tun.“. Weniger lapidar, aber dafür präziser ausgedrückt soll das heißen: „Wenn ich dafür bin [in einem 2  „Wie können wir das beste und rechtschaffenste Leben führen? Dadurch, dass wir das, was wir bei anderen tadeln, nicht selbst tun.“ (Thales); „Worüber du beim Nächsten unwillig wirst, das tue selbst nicht!“ (Pittakos); „Was ich dem Nächsten zum Vorwurf mache, werde ich selber nach Kräften nicht tun.“ (Herodot); Quellenangaben und griechische Originalzitate in Hoche 1978a: Abschnitt X mit Anm. 18 – 20. – Im apokryphen Thomas-Evangelium wird Jesus eine sehr ähnliche Formulierung zugeschrieben: „Was ihr hasst, das tut nicht“ (nach Bauschke 2010: 91; vgl. ebd. 27, 74, 90 – 95). Dieser Wortlaut ist insofern sogar noch vorzuziehen, als der Bezug auf andere in diesem Zusammenhang eigentlich in die Irre führt; s. unten Abschnitt VII.

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normierten Sinn: ‚will‘],3 dass niemand in einer Situation von der und der Art so und so handle, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht so und so zu handeln.“. IV. Die Universalisierte Goldene Regel ist ein analytisch wahrer Satz. Eine doxastisch-theletische Logik ist leistungsfähiger als die deontische Normenlogik und auch als die Haresche Imperativlogik Von der so verstandenen Universalisierten Goldenen Regel glaube ich nun gezeigt zu haben, dass sie ein analytisch wahrer Satz ist, nämlich wahr allein aufgrund der Bedeutungen der zu ihrer Formulierung verwendeten sprachlichen Ausdrücke, insbesondere des Begriffswortes „moralisch verpflichtet sein“. Um diesen Nachweis führen zu können, müssen wir uns freilich eines neuartigen Logik-Kalküls bedienen, den es hier ganz kurz zu charakterisieren gilt. Ich bezeichne diese Logik als ‚integrierte Glaubens- und Wollenslogik‘ oder, im Interesse der Handlichkeit wie auch der leichteren Übersetzbarkeit der Bezeichnung in andere Sprachen, als ‚doxastisch-theletische Logik‘4 (Hoche 2004). Von einer rein doxastischen oder Glaubenslogik als einer Spielart der gut erforschten epistemischen oder Wissenslogik ist recht häufig die Rede (s. etwa Lenzen 1980), und auch an einer von dieser ganz abgekoppelten reinen Wollenslogik hat man sich gelegentlich versucht (s. Wohlhueter 1974) – wenn auch, wie zu erwarten, ohne nennenswerte Ergebnisse; denn man kann ja nur dann etwas wollen, wenn man bereits etwas (anderes) glaubt, und deshalb ist die Wollenslogik in der Glaubenslogik fundiert, also von ihr abhängig. Dass man ungeachtet dieses offenkundigen Zusammenhangs eine kombinierte oder integrierte Glaubens- und Wollenslogik beharrlich ignoriert 3  Ich verwende hier den Ausdruck „ich bin dafür“ noch nicht in einem ‚moralischen‘ Sinne, sondern als halbwegs idiomatischen Ersatz für „ich will“, sofern dies nicht nur so etwas wie „ich möchte“, sondern so etwas wie „ich beabsichtige“ besagen soll. Denn wenn man in der zweiten und dritten grammatischen Person sagt: „Ich will, dass du das und das tust.“ und „Ich will, dass der und der das und das tut.“, so wird das in der Regel als Äußerung eines Wunsches und nicht etwa einer Absicht aufgefasst; und die Wendungen „Ich beabsichtige, dass du [er / sie] das und das tu[s]t.“ sind wohl nur in speziellen sprechakttheoretischen Ausnahmefällen möglich. An diese Idiomatika hat mich jüngst Dr. Rochus Sowa erinnert; vgl. aber schon Hoche 1992a: 56 mit Anm. 61, 106 f., 154 mit Anm. 214. 4  Anfangs hatte ich, unter Rückgriff auf die altgriechischen Verben ‚dokéo‘ (‚ich glaube‘) und ‚boúlomai‘ (‚ich will‘), jahrelang von einer ‚doxastisch-buletischen Logik‘ gesprochen. Doch am 21. Januar 2005 wies mich der Bochumer Gräzist Prof. Dr. Alexander Kleinlogel in einem meiner zusammen mit Herrn Kollegen Ulrich Pardey durchgeführten Sprachanalytisch-Logischen Kolloquien an der Ruhr-Universität Bochum – und tags darauf noch einmal in einer ausführlichen E-Mail – freundlicherweise darauf hin, dass das Adjektiv ‚theletisch‘ (‚theletikós‘, etwa zu ‚thélema‘/‚thélesis‘ [‚der Wille‘]; vgl. auch die griechische Fassung der Goldenen Regel in Matthäus 7,12 und Lukas 6,31) insofern eine philologisch besser begründete Ableitung sei, als man ín der Antike das Adjektiv ‚bouletikós‘ eher mit ‚bouleúomai‘ (‚ich berate, beschließe‘) als mit ‚boúlomai‘ (‚ich will‘) assoziiert habe.

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hat, liegt nach meiner Überzeugung wohl vor allem daran, dass man gegenüber der grundlegenden Aussagen- und Prädikatenlogik erweiterte (‚extendierte‘) Logiken immer nur nach dem Modell der klassischen, nämlich der ontischen, Modallogik – der Logik der Modalitäten-Trias ‚möglich‘–‚unmöglich‘–‚notwendig‘ – entwickelt hat und dass dieses Modell für den Aufbau einer integrierten Glaubens- und Wollenslogik allein schon deshalb nichts taugt, weil diese Logik zwei parallele, nicht definitorisch aufeinander zurückführbare Triaden nicht-ontischer Modalitäten erfordert. Dass man an jenem Modell nichtsdestoweniger festhält, scheint mir darin begründet, dass man, zumindest in der Logik erster Stufe (vgl. etwa Boolos 1975), in der Lage sein möchte, zwischen syntaktischen und semantischen Begriffen zu unterscheiden und auf dieser Grundlage die Korrektheit und Vollständigkeit eines logischen Kalküls zu beweisen. Diesem Anspruch wird die von mir inaugurierte doxastisch-theletische Logik möglicherweise nicht gerecht, und deshalb habe ich sie gelegentlich auch als eine bloße ‚Quasi-Logik‘ – was natürlich keineswegs heißen soll: ‚Pseudo-Logik‘ – apostrophiert. Da ich selber auf dem Gebiet der formalen Logik nur ein Quereinsteiger bin, möchte ich es lieber professionell vorgebildeten Fachkollegen überlassen, die Frage zu klären, ob hier mit Hilfe anderweitiger Methoden Abhilfe geschaffen werden kann – oder ob das vielleicht nicht einmal nötig ist.5 Dass ich aber diesen noch offenen metalogischen Problemen zum Trotz die integrierte Glaubens- und Wollenslogik der von Metaethikern und Juristen üblicherweise verwendeten deontischen Logik vorziehe, hat seinen Grund darin, dass sich die Leistungsfähigkeit der doxastisch-theletischen Logik von derjenigen der deontischen Logik vergleichbar gravierend unterscheidet wie die der Prädikatenlogik von der der bloßen Aussagenlogik. Denn die doxastisch-theletische Logik erlaubt es im Gegensatz zur deontischen Logik, die nur mit der Modalitäten-Trias ‚erlaubt‘‚ ‚verboten‘ und ‚geboten‘ arbeiten kann, die Binnenstruktur des Prädikats „moralisch verpflichtet sein“ aufzubrechen und zu analysieren. Das hat zwar schon Hare mit seiner Anwendung einer Imperativlogik auf die Metaethik versucht, doch lässt sich der Begriff der fundamentalen logischen oder semantischen Implika­ tion gegenüber denen einer pragmatischen (‚Mooreschen‘) und einer, wie ich sie in Ermangelung eines anderen Ausdrucks nenne, katapragmatischen Implikation auf diese Weise überhaupt nicht erfassen (vgl. bes. Hoche 1995b). Meinen durch Hare angestoßenen, von ihm selber aber leider nicht akzeptierten und wohl auch nicht recht verstandenen (s. Hare 1995: 272 – 280) Übergang von der imperativischen 5 Ich neige dazu, eher das Letztere zu vermuten. Denn in der Entwicklung der doxastisch-theletischen Logik habe ich mich weitestgehend auf idiolektische Zustimmungstests (siehe unten Abschnitt V) gestützt, die, wenn ich recht sehe, von Formallogikern meist ignoriert werden, obwohl sie, wie ich meine, letzten Endes der Anwendbarkeit der mathematischen Logik auf natürliche Sprachen – und damit also auch der Verwendung logischer Methoden in der Philosophie – zu Grunde liegen. Die formale Logik ist eben noch immer viel mehr an der Mathematik als an der Philosophie orientiert. Das zeigt sich, wie ich meine, nicht zuletzt daran, dass die Unterscheidung zwischen Syntax und Semantik der Logik natürlicher Sprachen (der ‚Sprachlogik‘) insofern fremd ist, als mit Ausnahme der Individuenkonstanten (auf die eine Logik grundsätzlich aber auch verzichten könnte) alle Ausdrücke einer gegebenen natürlichen Sprache eo ipso oder von vornherein bedeutungsvoll oder ‚semantisch interpretiert‘ sind.

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zur doxastisch-theletischen Logik halte ich daher für eine unerlässliche Weiterentwicklung der analytischen Metaethik. V. Zum Beweis der Analytizität der Universalisierten Goldenen Regel bedarf es neben einer doxastisch-theletischen Logik der Methode zweistufig durchgeführter Zustimmungstests im Rahmen je meines persönlichen Idiolekts Auf der Grundlage dieses doxastisch-theletisch extendierten nicht-klassischen Logikkalküls – und, wie ich meine, nur auf ihr – lässt sich die analytische Wahrheit der Universalisierten Goldenen Regel streng formal beweisen. Eine weitere notwendige Bedingung für diesen Beweis ist die durch zweistufig durchgeführte Kombinations- oder Zustimmungstests6 im Rahmen meines ganz persönlichen Idiolekts7 begründbare These, dass ein Verpflichtungssatz der Form „ich bin (nach meinen eigenen normativen Maßstäben)8 moralisch dazu verpflichtet, das und das zu tun“ einen Wollenssatz der Form „ich will [beabsichtige; gedenke; usw.] das und das [zu] tun“ semantisch und nicht bloß, wie ich in Hoche 1992a zunächst noch 6  Die in der sprachanalytischen Philosophie weit verbreiteten, aber immer nur unzulänglich, weil bloß einstufig – nämlich unter Verzicht auf die zugehörigen Modalisierungen (‚Vermöglichungen‘) – verwendeten Kombinations- oder Zustimmungstests müssen wir doppelstufig gestalten, um eine so genannte Mooresche Paradoxie von einem logisch-semantischen Widerspruch und einer korrespondierenden sprachlogischen Implikation (‚entailment‘) unterscheiden zu können. Eine weitere, und zwar sehr ‚haarige‘, Aufgabe ist es, die beiden Definitionsvorschläge Hares, die er selber unversehens miteinander konfundiert hat, zu einem einzigen, wenn auch zwangsläufig recht unhandlich geratenden, zusammenzuführen (bes. Hoche 2008: Essays I – II). – Die Resultate solcher idiolektischen Zustimmungstests sind allerdings nur dann wirklich zwingend, wenn man das Walten des sprachpsychologischen Phänomens der ‚Sinnkonstanz‘ durch eine penible Präzisierung der zu testenden Satzkombinationen systematisch unterbindet; vgl. Hörmann 1976a: Kap. II, „Der Begriff der Sinnkonstanz“; 1976b; Hoche 1990: 8.2. 7  Man tut gut daran, die in philosophischer Absicht zu analysierenden natürlich-sprachlichen Ausdrücke nicht als solche einer mir und meinen Sprachgenossen gemeinsamen Muttersprache, sondern als solche meines ganz persönlichen ‚Idiolekts‘ – meiner jeweiligen ‚Eigensprache‘ – zu betrachten. Denn man kann gar nicht oft genug betonen, „dass nicht nur die Sprachkompetenz verschiedener Sprachgenossen von recht unterschiedlichem Niveau ist, sondern dass man auch Begriffsanalytiker von einer anerkannt hohen sprachlichen Sensibilität finden kann, deren Befunde sich keineswegs immer decken. […] Deswegen aber zu fordern, die philosophische Begriffsanalyse so lange auszusetzen, bis man auf empirischem Wege zumindest in einer repräsentativen Stichprobe seiner Sprachgemeinschaft volle Übereinstimmung hergestellt hat – das würde bedeuten, ein methodologisches Postulat aufzustellen, das nur dazu angetan wäre, die Forschung zu lähmen. Statt dessen schiene es mir ein viel fruchtbareres Forschungsprinzip zu sein, sich mit der begrifflichen Analyse seiner eigenen ‚Punktsprache‘ zu begnügen und es seinen philosophisch interessierten Sprachgenossen anheimzustellen, den Befunden später ‚beizutreten‘ oder auch nicht.“ (Hoche 1985: S. 111 f.; cf. 1990: S. 141). Loci classici sind Austin 1956 und Hare 1960. Vgl. auch Hoche 2008: „Introduction“, §§ 11 – 12. 8  Diese bei Bedarf noch weiter auszugestaltende Parenthese dient dem Zweck, das Walten der oben in Fn. 6 erwähnten Sinnkonstanz unschädlich zu machen.

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angenommen hatte, pragmatisch impliziert (Hoche 2001; vgl. oben Abschnitt IV). In diesem Sinne ist jeder Verpflichtungssatz verdeckt sprecherbezogen; und das wiederum ist der Grund, warum es nicht Sache des Ethikers oder Philosophen als solchen sein kann, konkrete moralische Verpflichtungen zu begründen: Eine solche Begründung hängt stets von meinen jeweils eigenen subjektiven Wollensprinzipien ab (siehe den folgenden Abschnitt VI.), und deswegen kann nur jeweils ich selber, in meiner Eigenschaft als ‚Mann oder Frau auf der Straße‘ und nicht etwa als Ethiker oder Philosoph (falls ich denn einer bin), meine moralischen Verpflichtungsurteile begründen und verantworten. VI. Einzelheiten zur Durchführung dieses Programms. Doxastisch-theletische Realisierung der Forderung Hares nach Präskriptivität und Universalisierbarkeit moralischer Verpflichtungsaussagen Unter Verwendung der ausführlichen Analysen in Hoche 1992a (bes. Kapitel 2 – 3), 2001 und 2008 (Essays I – II) möchte ich kurz versuchen, das soeben in Abschnitt V Gesagte etwas genauer, wenn auch zwangsläufig in außerordentlich geraffter Form, auszuführen. In meinem persönlichen Idiolekt folgt aus dem singulären, nämlich auf eine einzelne, konkrete Handlung ao bezogenen Verpflichtungssatz „Ich bin (nach meinen eigenen normativen Maßstäben) moralisch verpflichtet, ao zu tun.“ der Wollenssatz „Ich beabsichtige ao zu tun.“ logisch-semantisch (siehe oben Abschnitt IV.). Denn aufgrund meines ‚Sprachgefühls‘ – genauer gesagt: meiner eigenen Phantasie- und Idiolekt-Kompetenz – halte ich die Aussage „Es ist (‚kontrafaktisch‘, also objektiv) möglich, dass ich (nach den von mir vertretenen normativen Maßstäben) moralisch verpflichtet bin, ao zu tun, dass ich aber ao nicht tun will [nicht zu tun gedenke oder beabsichtige]“ für falsch. Oder, modallogisch gleichwertig: Ich halte es für notwendig, dass ich, wenn ich zu einer Handlung moralisch verpflichtet bin, ebendiese Handlung auch ausführe oder wenigstens auszuführen versuche. In dieser Weise mache ich mir die Forderung Hares nach der von ihm so genannten ‚Präskriptivität‘ (dem ‚vorschreibenden‘ Charakter) von Verpflichtungssaussagen in einer Form zu eigen, die mir seiner eigenen imperativ-logischen Interpretation deutlich überlegen zu sein scheint.9 Wenn man außerdem noch der Forderung Hares nach der ‚Universalisierbarkeit‘ (‚Verallgemeinerungsfähigkeit‘) von Verpflichtungssätzen Rechnung tragen will, dann bietet sich für das normalsprachliche Analysandum „Ich bin (nach meinen eigenen normati9  Vgl. etwa Hoche 1995b, wo ich allerdings die logisch-semantische Implikation von „ich will“-Sätzen in Verpflichtungssätzen in der 1. grammatischen Person noch immer, wie schon in 1992a, als eine bloß pragmatische missdeutet habe. Diese Missdeutung wiederum beruht darauf, dass ich in den 1990-er Jahren noch nicht erkannt hatte, dass die Prädikate „moralisch verpflichtet sein“ und „moralisch verpflichtet zu sein glauben“ („sich für moralisch verpflichtet halten“) semantisch gleichwertig sind (siehe Hoche 2001: bes. X: „Ad ignorata nemo obligatur“ und XII: „Das doxastische Element in unseren Wollensprinzipien“).

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ven Maßstäben) moralisch verpflichtet, ao zu tun.“ etwa das folgende Analysans an: „Ich will [genauer: bewerte positiv, oder idiomatisch besser: ich bin dafür], dass für jede Person z und jede Handlung a gelte: wenn z glaubt, zu a in der Beziehung Ro zu stehen, dann tut z a; und ich glaube zu ao in der Beziehung Ro zu stehen.“.10 Der vor dem Semikolon stehende Teilsatz ist ein bedingter allgemeiner positiver Bewertungs- oder, wie ich der Kürze halber sagen möchte, Wollenssatz, nämlich ein von mir persönlich vertretenes Präferenz-, Pro- oder Wollensprinzip, und der Teilsatz danach drückt aus, dass nach meiner Überzeugung die in diesem Wollensprinzip (Wollensgrundsatz) genannte singuläre ‚Randbedingung‘ im vorliegenden Fall erfüllt ist. VII. Die Evidenz dafür, dass ich ein gegebenes Wollensprinzip tatsächlich vertrete, gewinne ich in einem ‚Nathan-David-Verfahren‘ Davon, dass ich ein bestimmtes Wollensprinzip tatsächlich vertrete, kann ich mich dadurch überzeugen, dass ich auf ein Verhalten, mit dem ich, etwa in einem Gleichnis, einem Roman oder einem Spielfilm, in anonymisierter Form konfrontiert werde, emotional negativ reagiere (‚mich empöre‘). Damit zeige ich nämlich mir selbst und anderen über jeden Zweifel hinaus, dass ich folgendem, doppelt negativ formulierten, Satz zustimme: „Ich will, dass für keine Person z und keine Handlung a gelte: z glaubt zu a in der Beziehung Ro zu stehen und tut a (dennoch) nicht.“; und das ist mit dem soeben in Abschnitt VI in einer positiven Fassung hingeschriebenen Wollensgrundsatz logisch gleichwertig.11 Ein solches Verfahren 10  Dies ist nämlich eine der einfachsten Formen, die einerseits der Präskriptivität und Universalisierbarkeit von Verpflichtungsaussagen und andererseits dem unerlässlichen Adä­quat­ heitskriterium „Was geboten ist, ist auch erlaubt.“ Rechnung trägt. Die Beziehung Ro hat dabei allerdings eine sehr komplexe Binnenstruktur, deren Entfaltung die Formeln hier allzu unhandlich machen würde; insbesondere schließt sie die Existenz eines Interessensubjekts und das relevante Können des Handlungssubjektes z ein (vgl. bes. Hoche 1992a: Kap. 3; 2001: XVI – XVII). – Wie man sieht, ist dieses ‚Analysans‘ – dieser ‚analysierende‘, ‚auflösende‘, ‚zergliedernde‘ Satz – noch immer halb normalsprachlich. Wenn wir ihn aber tauglich für seine Verwendung in einem doxastisch-theletischen Logikkalkül machen wollen, dann müssen wir ihn vollständig formalisieren, etwa in der von mir bevorzugten Form „(We) : (z, a) . (Bz) Roza → z tut a : & (Be) Roeao“. 11  Die Formalisierung „(We) : ¬ (∃z, ∃a) . (Bz) R za & ¬ z tut a“, die insofern doppelt ne­ o gativ ist, als der Negator „¬“ genau zweimal verwendet wird, lässt sich mit dem am Ende der vorangehenden Fußnote 10 vor dem zweiten Doppelpunkt hingeschriebenen, positiv formulierten Wollensprinzip „(We) : (z, a) . (Bz) Roza → z tut a“ als doxastisch-theletisch äquivalent erweisen (vgl. etwa Hoche 1992a: 276 – 278). – Die negative Fassung eines Wollensprinzips ist übrigens auch insofern bemerkenswert, als ich sie bereits oben, am Ende von Abschnitt III, bei meiner folgenden Formulierung der Universalisierten Goldenen Regel verwendet habe: „Wenn ich dafür bin (‚will‘), dass niemand in einer Situation von der und der Art so und so handle, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht so und so zu handeln.“.

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der Selbstvergewisserung oder Evidenzgewinnung nenne ich, unter Bezug auf ein bekanntes Gleichnis aus dem Alten Testament (2. Buch Samuel, Kap. 11 – 12), gern das ‚Nathan-David-Verfahren‘ (vgl. bes. Hoche 2011: IV – VIII; 2015: II.5). Schon dieses namengebende Gleichnis vom reichen Mann, der aus niederen Motiven das einzige Lamm seines armen Nachbarn schlachtet, zeigt meiner Meinung nach in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, dass es in dem soeben angeführten halb-formalisierten Wollensprinzip tatsächlich „keine Person z“ heißen muss und nicht etwa „keine andere, nämlich von mir verschiedene, Person z“. Dass Dudda (vgl. bes. 1999: 144 – 146) das nicht wahrhaben will, halte ich für einen schweren Mangel seiner dritten, von Hares und meiner bewusst abweichenden Ausgestaltung eines ‚Universellen Präskriptivismus‘ (s. unten Abschnitt IX mit Anm. 14). VIII. Einige Einzelheiten zum formalen Beweis der analytischen Wahrheit der Universalisierten Goldenen Regel Auf der Grundlage der in Abschnitt VI grob skizzierten doxastisch-theletischen Analyse von Verpflichtungsaussagen lässt sich die analytische Wahrheit der Universalisierten Goldenen Regel schließlich formal beweisen. Zu diesem Zweck wandle ich zunächst die singuläre Verpflichtungsausssage „Ich bin (nach meinen eigenen normativen Maßstäben) moralisch verpflichtet, ao zu tun.“ – und zwar zweckmäßigerweise anhand ihrer Formalisierung „(We) : (z, a) . (Bz) Roza → z tut a : & (Be) Ro eao“ – wie folgt in eine universelle Verpflichtungsaussage um: „(α) :. (Be) Ro eα → (We) : (z, a) . (Bz) Roza → z tut a : & (Be) Ro eα“ – in Worten etwa: „Wenn ich zu irgendeiner beliebigen Handlung α in der Beziehung Ro zu stehen glaube, dann bin ich (nach meinen eigenen normativen Maßstäben) moralisch dazu verpflichtet, α zu tun.“ Von dieser auf mich persönlich zugeschnittenen allgemeinsten Verpflichtungsaussage kann man nun doxastisch-theletisch beweisen, dass sie aus meinem Wollensprinzip „(We) : (z, a) . (Bz) Roza → z tut a“ allein, ohne weitere Bedingungen, logisch folgt; denn die Formel „(We) : (z, a) . (Bz) Roza → z tut a : → (α) :. (Be) Ro eα → (We) : (z, a) . (Bz) Roza → z tut a : & (Be) Ro eα“ lässt sich mit Hilfe der integrierten Glaubens- und Wollenslogik, etwa in einem entsprechend erweiterten Kalkül des natürlichen Schließens, als logisch wahr erweisen.12 Diese Formel ist aber zugleich das doxastisch-theletische Analysans der Universalisierten Goldenen Regel, deren analytische Wahrheit damit bewiesen ist.13 12  Sie lässt sich nämlich aus der ‚leeren Prämissenmenge‘ ableiten: siehe besonders Hoche 2001: XVI, S. 366 f., und die Kommentare in Abschnitt XVII.; vgl. 1992a: 4.5 – 4.6, bes. S. 285 f., wo allerdings manche Formulierungen meinen späteren Einsichten noch nicht genügen. 13  Vgl. bes. Hoche / Knoop 2010: Abschnitt IV. (Wie wir ebd., Abschnitt III, begründen, wählen wir dort für das obige „(Bz) Roza“ die genauere Form „(Bz) Roz*a“, um dem mit dem Namen Castañeda verbundenen Problem der sog. Quasi-Indikatoren gerecht zu werden. Es würde in dem vorliegenden Überblick aber zu weit führen und den Leser nur verwirren, wenn ich auf

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IX. Warum die Analytizität der Universalisierten Goldenen Regel nicht schon früher bewiesen werden konnte. Zur Rezeption und zur Zukunft dieses Projekts Mit diesem Beweis ist nun endlich die 1690 von John Locke in seinem Essay concerning Human Understanding mit Recht erhobene Forderung erfüllt, sich nicht nur von der Vernünftigkeit, sondern auch von der Wahrheit − „the truth and reasonableness“ − der Goldenen Regel zu überzeugen (nach Wattles 1996: S. 81). Soweit ich sehe, hat das weder vor Locke noch nach ihm irgend jemand auch nur versucht; und die sprachphilosophischen, sprachpsychologischen und logischen Instrumente dafür – nämlich die Beschränkung auf den je eigenen Idiolekt, die vollständig, nämlich zweistufig, durchgeführten Zustimmungstests und die Beachtung des Hörmannschen Prinzips der Sinnkonstanz (siehe o. Abschnitt V mit Anm. 6 – 7) sowie vor allem die doxastisch-theletische Logik (siehe o. Abschnitt IV.) – haben ja bis vor kurzem auch noch gar nicht zur Verfügung gestanden. Da ich in dieser Sache im Wesentlichen nur vier Mitstreiter hatte – nämlich Ende der 1980-er Jahre Bernd W. Buldt (heute Philosophieprofessor an der Purdue University in Fort Wayne), von dessen ungewöhnlich vorurteilsfreiem und innovativem Gespür für eine in der Philosophie umfassend verwendbare mathematische Logik ich in vielen Gesprächen und Diskussionen an der Ruhr-Universität Bochum immer wieder ungemein profitieren konnte, und sodann meine Schüler Ludger Pfeil, Friedrich Dudda und Michael Knoop –, kann ich nur inständig auf die künftige Fortführung meiner Arbeiten durch mindestens ebenso sehr metaethisch wie mathematisch gesonnene Formallogiker hoffen. Freilich bin ich in dieser Hinsicht nicht sehr optimistisch; denn die bisherigen Reaktionen auf meine Bemühungen, ein Jahrtausende altes und nahezu in allen Kulturen verbreitetes Moralprinzip − also eigentlich: das Moralprinzip der Menschheit − endlich einmal zu begründen, und zwar als analytisch wahr zu erweisen, sind, von zwei Ausnahmen abgesehen, in meinen Augen wenig hilfreich. Die erste dieser Ausnahmen ist die Dissertation von Ludger Pfeil (1990), der sich anstelle eines seinerzeit noch nicht hinreichend entwickelten extendierten Logik-Kalküls eines lauffähigen Computer-Programms namens MOSES („Moral Obligation: A Small Expert System“) als einer „inference engine“ („Schlussfolgerungsmaschine“) auf der Basis der in der KI-Forschung oft verwendeten höheren Programmiersprache PROLOG bedient hat. Die zweite Ausnahme ist ein auf Japanisch verfasster Aufsatz des mit der europäischen und fernöstlichen Ethik gleichermaßen vertrauten japanischen Juristen und Rechtsphilosophen Fumihiko Takahashi (1997), der überdies im Jahre 2015 schon einmal die

diese sprachphilosophische Feinheit einginge.) – Übrigens enthält dieser Aufsatz, in dem ich von den außergewöhnlichen formallogischen Kenntnissen und Fähigkeiten meines Koautors Michael Knoop in hohem Maße profitieren konnte, in meinen Augen die Quintessenz meiner Metaethik. Zugleich konnten wir dort im Einzelnen zeigen, dass aus der Singulären Goldenen Regel die Universalisierte Goldene Regel und aus dieser wiederum der Kategorische Imperativ Kants logisch folgt (ebd.: bes. Abschnitte IX – XI; s. unten Abschnitt XII.).

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erste Hälfte (nämlich die Abschnitte I – V) von Hoche / K noop 2010 ins Japanische übersetzt hat.14 X. Mögliche theonome Bedenken gegen dieses Projekt Auch aus einem ganz anderen Grunde halte ich es für unwahrscheinlich, dass jemand mein Projekt in absehbarer Zeit aufgreifen wird. Denn meine doxastisch-theletische Begründung der Universalisierten Goldenen Regel greift ja nicht etwa auf ein Wollen Gottes zurück, sondern auf das Wollen dessen, der sich dieses Moralprinzip jeweils zu eigen macht und in konkretes Handeln umzusetzen versucht. Die Universalisierte Goldene Regel ist zwar wahr, aber nur aus rein sprachlichen Gründen wahr, nämlich wahr kraft ihrer bloßen Formulierung in meinem je eigenen Idiolekt; und sie erlaubt zwar die Begründung von Moralurteilen, aber sie tut das nicht in objektiver, sondern immer bloß in subjektiver, nämlich auf den jeweils urteilenden Sprecher bezogener Weise. Mehr kann man von einer zwingenden Moralbegründung nach meiner Überzeugung allerding auch gar nicht erwarten; aber dieser Position steht das massive Vorurteil derer gegenüber, die z. B. mit Ludwig Wittgenstein (1930) betonen: „Ein Soll hat [...] nur Sinn, wenn hinter dem Soll etwas steht, das ihm Nachdruck gibt − eine Macht, die straft und belohnt.“ XI. Eine moralische Verpflichtung ist kein ‚Sollen‘ Das Gefährliche an dieser These ist, dass sie, wörtlich genommen, stimmt; denn tatsächlich beruht ein ‚Sollen‘ im strengen Sinne des Wortes immer auf einem 14  Zwar hat sich auch Friedrich Dudda 1999 nicht nur mit Hares, sondern auch mit meiner Metaethik sehr gründlich auseinandergesetzt. Aber sein Ziel war es, eine dritte Variante des ‚Universellen Präskriptivismus‘ zu entwickeln, und gerade meine so wesentliche Schlussfolgerung, die Universalisierte Goldene Regel sei ein analytisch wahrer Satz, findet vor seinen Augen keine Gnade. Bezeichnend ist die Tatsache, dass er in einer positiven Fassung dessen, was auch er als „universelle Goldenen Regel“ bezeichnet, die Wendungen „jeder andere“ und „jede Person [wie ao]“ promiscue verwendet (1999: 144 – 146; vgl. oben Abschnitt VII). Dementsprechend versteht er unter der universellen oder Universalisierten Goldenen Regel etwas anderes als ich, nämlich (für mich schwer analysierbare) Formulierungen der Art „Wie ich will, dass jeder andere handele, so will ich selbst handeln.“ oder „Ich beabsichtige, immer so zu handeln, wie ich will, dass jeder andere handele.“ (Dudda 1999: 145 oben). So ist es nur konsequent, dass er, wie er mir mündlich versichert hat, auch die Analytizität der Universellen Goldenen Regel ablehnt. Daraus folgt natürlich, dass er auch die im Titel des vorliegenden Aufsatzes aufgestellte ‚unerhörte Behauptung‘ (s. oben Abschnitt I) zurückweisen müsste. So wird zweifelhaft, ob ich ihn soeben im Text wirklich als ‚Mitstreiter‘ hätte aufführen dürfen. Ich habe es aber deshalb getan, weil er mich immer wieder gedrängt hat, meine Metaethik logisch zu formalisieren, und mir dabei eine Zeitlang fachkundig zur Seite stand. Aber meine tatsächliche Durchführung hat ihn wohl nicht überzeugt, und so hat er in seiner Dissertation auf logische Ableitungen ganz verzichtet und statt dessen für jeden Einzelfall sprachliche Zustimmungstests bemüht, die oft so kompliziert werden, dass sie die kombinierte Phantasie- und Idiolektkompetenz des Lesers – und ich fürchte: oft auch seine eigene – überfordern.

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fremden Willen, und der muss allerdings durchsetzungsfähig sein. Das jedoch, was man auch heute noch immer wieder gewohnheitsmäßig, aber meines Erachtens ganz gedankenlos und sprachwidrig das „moralische Sollen“ nennt − also, korrekt gesprochen: die moralische Pflicht oder Verpflichtung oder, schlichter, das moralische Müssen −: das wird nicht durch einen fremden, sondern durch den jeweils eigenen Willen dessen bestimmt, der sich zu dieser Verpflichtung, ob sie nun ihn selber oder jemanden anders betrifft, bekennt. Deswegen beginnt der ethische Obskurantismus − die Annahme, die moralischen Pflichten seien religiös fundiert − bereits in der gedankenlosen Verwendung der Sprache, und zwar der Sprache der Feudalzeit. Tatsächlich kann man aber zeigen, dass sich die Sprachlogik der Rede vom Sollen von der Sprachlogik der Rede vom Müssen, genauer: von der moralischen Verpflichtung, trotz einer Reihe von unbestreitbaren Analogien ganz grundlegend unterscheidet. Das kann man aber nur in einer sorgfältigen ‚vergleichenden Anatomie‘ der moralsprachlichen Prädikate „soll“, „sollte“ und „muss“ (genauer: „ist moralisch verpflichtet“) erkennen; und deswegen halte ich eine solche ‚vergleichende Anatomie‘ − im Hinblick auf die ich mein einschlägiges Buch (Hoche 1992a; vgl. dort besonders Kap. 5) ‚Elemente einer Anatomie der Verpflichtung‘ genannt habe − für ein wichtiges Stück Aufklärung, von dem man nur hoffen kann, dass es sich gegen den eben erwähnten Obskurantismus der religiösen (oder gar religiös-fundamentalistischen) Begründung der Moral doch eines Tages durchsetzen wird. XII. Der Kategorische Imperativ Kants ist aus der Universalisierten Goldenen Regel logisch ableitbar und daher ebenfalls analytisch wahr Lassen Sie mich zum Abschluss noch hinzufügen, dass nicht nur die so leistungsfähige und leicht anwendbare Universalisierte Goldene Regel, sondern auch der Kategorische Imperativ Kants (den ich allerdings weder für besonders leistungsfähig noch für leicht anwendbar halte) ein analytisch wahrer Satz ist. Einen strengen Beweis haben Michael Knoop und ich zu führen versucht (Hoche / ­K noop 2010: bes. Abschnitt XI, vgl. I.2 und Abschnitte V – IX; übersichtlich zusammengefasst in Hoche 2015: Abschnitt II). Es lässt sich nämlich – und zwar ohne jeden zusätzlichen Rückgriff auf die doxastisch-theletische Logik, sondern allein mit Hilfe grundlegender Ableitungsregeln der klassischen Aussagen- und Modal­ logik – zeigen, dass aus der oben in Abschnitt III erwähnten Singulären Goldenen Regel die Universalisierte Goldene Regel und aus dieser (und damit auch aus jener) der Kategorische Imperativ Kants in seiner ersten und wohl bekanntesten Fassung logisch ableitbar ist.15 Aus dieser Tatsache und der analytischen Wahrheit der Uni15  In der Gegenrichtung gibt es keine solchen Ableitungsmöglichkeiten, und auch anderweitig sehe ich beim besten Willen keine Möglichkeit, die Wahrheit der Singulären Goldenen Regel zu beweisen. Das tut ihrer Plausibilität freilich keinen Abbruch. Zudem hat sie in der Moralbegründung sicher eine gewisse psychologische Wirksamkeit, und zwar etwa in dem Sinne:

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versellen Goldenen Regel folgt aussagenlogisch aber auch die Analytizität des Kategorischen Imperativs, den Kant, meiner Ansicht nach also zu Unrecht, für einen synthetischen Satz a priori gehalten hat. Summary In this synoptic essay, I try to argue in favour of the unheard-of claim, raised in the title, that using the expressions “moral obligation” or “morally ought” in a well-conceived way commits us to adopting the UGR (short for: Universalized Golden Rule) (I). This can be shown by a conceptual analysis of the statement-form “I morally ought to do ao”, which is a major task of metaethics (II). There are two basic forms of the Golden Rule, to wit, the well-known SGR (short for: Singular Golden Rule) and the widely unknown UGR (III). The latter is analytically true, i.e., true by virtue of the meanings of the very expressions used in the wording of this moral principle. To prove this, you have to use an ‘extended’ non-classical calculus of belief and intention (‘doxastico-theletical’ logic), which is much more powerful than the familiar calculi of deontic logic or Hare’s imperative logic (IV). Furthermore, you need to apply two-level assenting tests within the frame-work of your personal idiolect and to allow for ‘Sense Constancy’ (V). If you do so, most of us will recognize that the statement-form “I morally ought to do ao” entails the statement-form “I intend to do a o”. Universalizability and prescriptivity of moral “ought”-statements in terms of the doxastico-theletic calculus (VI). That I truly stick to a given individual principle of willing can be made evident by carrying out a ‘Nathan-David Procedure’ (VII). How to prove the analytical truth of the UGR (VIII). The prerequisites for this proof (to wit: doxastico-theletic calculus, idiolectal analysis, two-level assenting tests, Sense Constancy) have been made available only recently. Reception and prospects of this metaethical project (IX). Theonomic qualms; Wittgenstein on “I am to” (X). Elaborating the different locical structures of “I am to” and “I morally ought to” greatly contributes to Enlightenment (XI). Kant’s Categorical Imperative is entailed by the UGR, and hence the analyticity of the latter is passed on to the former (XII).

Wenn ich aus Gründen meiner Eigenliebe selber nicht in einer bestimmten Art und Weise behandelt werden will, dann liegt es nahe, dass meine ‚Empathie‘, mein Vermögen der Einfühlung in ‚Meinesgleichen‘ (wer auch immer das genau sein mag) mir sagt, dass es den anderen ähnlich ergehen dürfte, und weiterhin kann dann die Annahme einer gewissen instinktiven, naturwüchsigen Solidarität mit ‚Meinesgleichen‘ psychologisch erklären, warum es mich empört, wenn irgendjemand anders auf diese für mich inakzeptable Art behandelt wird. Für die moralische Argumentation ist aber nicht eine solche psychologische Erklärung-warum von Belang, sondern allein die empirische Feststellung-dass, die ich am sichersten mit Hilfe eines ‚Nathan-David-Verfahren‘ (s. oben Abschnitt VII.) treffen kann.

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Das logische Sechseck als Hilfsmittel bei der Kant-Interpretation Jan C. Joerden

I. Ziele des Beitrags Das (quantoren-)logische Sechseck erweitert das seit der Spätantike bekannte (quantoren-)logische Quadrat um zwei Eckpunkte: Neben den Eckpunkten „alle p sind q“, „kein p ist q“, „mindestens ein p ist q“ und „mindestens ein p ist nicht q“ aus dem logischen Quadrat kommen im logischen Sechseck die Eckpunkte „nur einige p sind q“ und „alle p sind q oder kein p ist q“ hinzu. Das so zum Sechseck erweiterte Schema erfasst nunmehr drei Grundbegriffe („alle p sind q“, „kein p ist q“ und „nur einige p sind q“) sowie deren drei Negationen. Außerdem repräsentiert es alle logischen Beziehungen, die zwischen diesen Grund- und Negationsbegriffen bestehen. Zumindest seit Leibniz wird das logische Quadrat auch auf deontologische Begriffe („geboten“, „verboten“, „erlaubt“, „ungeboten“) bezogen. Von Kalinowski und Lenk1 wurde das so entstandene deontologische Quadrat weiterentwickelt zu einem deontologischen Sechseck mit den Grundbegriffen „geboten“, „verboten“ und „indifferent = absolut erlaubt“ sowie deren Negationen „relativ erlaubt“, „ungeboten“ und „pflichtig“. Joachim Hruschka hat gezeigt, dass Immanuel Kant2 zwar noch nicht die Zeichnung eines solchen deontologischen Sechsecks verwendet, aber – offenkundig im Anschluss an Gottfried Achenwall3 – alle sechs Begriffe dieses Schemas mit den entsprechenden logischen Beziehungen zwischen ihnen zugrundelegt. So unterscheidet Kant insbesondere zwischen zwei verschiedenen 1  Kalinowski, Einführung in die Normenlogik, Frankfurt a. M. 1972, S. 50 ff.; Lenk, „Konträrbeziehungen und Operatorengleichungen im deontologischen Sechseck“, in: Lenk (Hrsg.) Normenlogik. Pullach 1974, S. 198 ff.; vgl. auch Hruschka, „Das deontologische Sechseck in der Jurisprudenz“, in: R. Krause u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, Berlin 2004, 775 ff. 2  Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. Bd. 6, S. 222 f.; hier und im Folgenden wird Kant zitiert nach der von der Preußischen Akademie begonnenen Akademie-Ausgabe der Werke Kants. 3  Achenwall, Prolegomena Iuris Naturalis, 3. Aufl., Göttingen 1767; näher dazu und auch zu dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang, in dem Kant zu Achenwall stand, als er sein Natur- bzw. Vernunftrecht unter Verwendung der Lehrbücher Achenwalls entwickelte, s. Hruschka, Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767. Zur Geschichte der deontischen Grundbegriffe in der Universaljurisprudenz zwischen Suarez und Kant, Hamburg 1986, S. 7 ff.

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Erlaubnisbegriffen („erlaubt“ und „bloß erlaubt“) entsprechend ihrer unterschiedlichen Lozierung im deontologischen Sechseck. Es soll nun – nach einem kurzen Abriss der historischen Entwicklung des deontologischen Sechsecks (unten II.) – gezeigt werden, dass sich neben der soeben angedeuteten Verwendung der Struktur dieses Sechsecks durch Kant (unten III.) an weiteren Stellen in Kants Werk eine begriffliche Differenzierung entsprechend der Struktur des logischen Sechsecks auch bei ganz anderen Problembereichen findet. So etwa bei der Unterscheidung zwischen „meritum“, „demeritum“ und „Schuldigkeit“4 (unten IV.); oder zwischen „Tugend“, „Laster“ und „weder Tugend noch Laster“ (unten V.); oder zwischen „bloß als Mittel“, „bloß als Zweck“ und „als Mittel und als Zweck“ (unten VI.); oder zwischen „hochwürdig“, „unwürdig“ und „bloß würdig“ (ebenfalls unten VI.); oder zwischen „analytisch“, „a posteriori“ und „synthetisch a priori“5 (unten VII.). Erkennt man hier jeweils die Grundstruktur des logischen Sechsecks als Hintergrund der kantischen Texte, kann dies – wie nachfolgend näher gezeigt werden soll – die Interpretation der betreffenden Passagen erleichtern. II. Zur Entwicklung des deontologischen Sechsecks Schon Gottfried Wilhelm Leibniz hatte deutlich gemacht,6 dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen den modallogischen Begriffen „notwendig“, „unmöglich“, „möglich“, „unnotwendig“, „kontingent“ einerseits und denjenigen Begriffen, die – weil sie auf das Sollen („deón“) bezogen sind – als deontologische Begriffe bezeichnet werden, andererseits. Deontologische Begriffe sind insbesondere „geboten“, „verboten“, „erlaubt“ und „freigestellt“, da sie etwas darüber aussagen, was geschehen soll (oder nicht geschehen soll) bzw. geschehen darf. Sie können auf Handlungen7 bezogen werden und bringen dann zum Ausdruck, dass eine Handlung geboten (oder verboten, oder erlaubt) ist. Der von Leibniz bereits gesehene und verwendete Zusammenhang zwischen den modallogischen und den deontologischen Begriffen wird deutlich, wenn man die folgende Überlegung von 4  Genannt werden hier zunächst jeweils nur die Grundbegriffe und nicht die Negationen (sie werden ergänzt in den weiteren Abschnitten dieser Darstellung). 5  Hierauf weist Béziau, “The Power of the Hexagon”, Logica Universalis 6 (2012), 1 ff. hin; näher dazu unten VII. 6 Vgl. Leibniz, Elementa Juris Naturalis, in: Sämtliche Schriften und Briefe, 6. Reihe Philosophische Schriften, Bd. 1., Darmstadt 1930, 431 ff. und Bd. 2., Berlin 1966, 562 ff. sowie dazu Burkhardt, „Modaltheorie und Modallogik in der Scholastik und bei Leibniz“, Anuario Philosophico 16 (1983), 273 ff.; Kalinowski / Gardies, „Un logicien déontique avant la lettre: Gottfried Wilhelm Leibniz“, ARSP 60 (1974), 79 ff.; Hruschka (Fn. 2), 33 ff.; Lenzen, „Zur Logik alethischer und deontischer Modalitäten bei Leibniz“, in: Stelzner, Stöckler (Hrsg.), Zwischen traditioneller und moderner Logik – Nichtklassische Ansätze. Paderborn 2001, 335 ff.; Armgardt, „Law and Logic in Leibniz’s Legal Philosophy“, in: Krimphove, Lentner (eds.), Law and Logic, Berlin 2017, 52 ff., 59 f. 7  Oder auch auf Unterlassungen.

Das logische Sechseck als Hilfsmittel bei der Kant-Interpretation

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Leibniz zugrunde legt: Eine Person möchte ein „guter Mensch“ werden; die Vornahme welcher Handlungen ist dann (1) notwendig? – Antwort: Die Vornahme der gebotenen Handlungen; (2) unmöglich? – Antwort: Die Vornahme der verbotenen Handlungen; (3) möglich? – Antwort: Die Vornahme der erlaubten8 Handlungen; (4) unnotwendig? – Antwort: Die Vornahme der freigestellten9 Handlungen. Die Überlegungen von Leibniz lassen sich in einem deontologischen Quadrat darstellen, das hier nicht wiedergegeben wird.10 Vielmehr soll gleich auf das deontologische Sechseck übergegangen werden, das den Vorzug hat, neben den von Leibniz verwendeten deontischen Begriffen auch noch die Begriffe „(relativ) erlaubt und ungeboten“ (= „absolut erlaubt“) sowie „entweder geboten oder verboten“ (= „pflichtig“) aufzunehmen. Zugleich weist dieses von Kalinowski und Lenk11 entwickelte deontologische Sechseck bereits den Unterschied zwischen „relativ erlaubt“ und „absolut erlaubt“ nach (vgl. die linke untere Ecke und die mittlere untere Ecke im Sechseck), wie aus Abb. 1 ersichtlich.

pflichtig

geboten

verboten

(relativ) erlaubt

ungeboten (freigestellt)

indifferent (absolut) erlaubt

= Implikaon;

········ = Disjunkon; ------ = Exklusion;

= Kontravalenz

Abbildung 1: Das deontologische Sechseck 8  Der Ausdruck „erlaubt“ ist allerdings mehrdeutig, wie sich bei Verwendung des deontologischen Sechsecks zeigt; näher dazu im Folgenden. 9  Auch der Ausdruck „freigestellt“ ist – ähnlich wie der Ausdruck „erlaubt“ (vgl. Fn. 8) – mehrdeutig; vgl. näher dazu Joerden, Logik im Recht, 3. Aufl., Berlin / Heidelberg 2018, S. 182 f. Hier bedeutet er „ungeboten“. 10  Vgl. dazu Hruschka (Fn. 3), S. 33 ff. m. w. N. 11  Vgl. die Nachweise in Fn. 1.

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Eine Implikation (= „Subalternation“) zwischen zwei Begriffen ist dabei dann gegeben, wenn bei Erfüllung des ersten Begriffs stets auch der zweite erfüllt ist (was allerdings nicht umgekehrt gilt). Eine Exklusion (auch: „konträrer Gegensatz“) zwischen zwei Begriffen bedeutet, dass diese nicht zugleich, aber durchaus je einzeln erfüllt sein können, und auch möglich ist, dass beide nicht erfüllt sind. Eine Disjunktion (auch: „subkonträrer Gegensatz“ bzw. „nicht ausschließendes ‚oder‘“) bedeutet, dass beide Begriffe zugleich, aber auch je einzeln erfüllt sein können, nicht aber, dass beide Begriffe zugleich nicht erfüllt sein können. Eine Kontravalenz (auch: „kontradiktorischer Gegensatz“ bzw. „ausschließendes ‚oder‘“) ist gegeben, wenn beide Begriffe nicht zugleich erfüllt sein können, aber es auch ausgeschlossen ist, dass beide Begriffe zugleich nicht erfüllt sind; sie sind also nur jeweils einzeln erfüllt.

III. Zur Verwendung der Struktur des deontologischen Sechsecks bei Kant Immanuel Kants Werk Die Metaphysik der Sitten (1797) enthält im Rahmen des Abschnitts „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (Philosophia practica universalis)“ die folgende Passage:12 „E r l a u b t ist eine Handlung (licitum), die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist; und diese Freiheit, die durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt wird, heißt die Befugniß ( facultas moralis). Hieraus versteht sich von selbst, was u n e r l a u b t (illicitum) sei. P f l i c h t ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können. Der kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-praktisches G e s e t z . Weil aber Verbindlichkeit nicht bloß praktische Nothwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch N ö t h i g u n g enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbot-Gesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird. Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß e r l a u b t , weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugniß) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis).“

In diesem Text13 fällt auf, dass Kant zweimal den Ausdruck „erlaubt“ verwendet. Zuerst wird er dem Ausdruck „unerlaubt (illicitum)“ gegenübergestellt und mit dem lateinischen Ausdruck „licitum“ gleichgesetzt. Später dann wird er für eine   Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 222 f.   Näher hierzu Ebert, „Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter Handlungen“, Kant-Studien 67 (1976), 570 ff.; Hruschka (Fn. 3), 43 ff. 12 13

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Handlung verwendet, die „weder geboten noch verboten“ ist. Das erste „erlaubt“ ist dabei das „relativ erlaubt“ des deontologischen Sechsecks (Abb. 1), da es den (kontradiktorischen) Gegenbegriff zu „unerlaubt = illicitum“ (also verboten) bildet.14 Das zweite „erlaubt“ dagegen ist das „absolut erlaubt“ des deontologischen Sechsecks, indem es diejenigen Handlungen kennzeichnet, die nicht nur nicht verboten, sondern die zugleich auch nicht geboten sind.15 Kant sieht diesen Unterschied zwischen den beiden Erlaubnisbegriffen und kennzeichnet ihn durch das unscheinbare Wort „bloß“, so dass man das zweite „erlaubt“ genauer als „bloß erlaubt“ lesen muss. Dementsprechend lassen sich die von Kant in der obigen Passage verwendeten Begriffe, wie sich in Abb. 2 zeigt, in die Struktur eines deontologischen Sechsecks eintragen.16

Pflicht

verboten = unerlaubt= illicitum = lex prohibitiva = lex vetiti

geboten = lex praeceptiva = lex mandati

erlaubt = licitum = nicht verboten

nicht geboten

bloß erlaubt = sittlich-gleichgültig = indifferens = adiaphoron = res merae facultatis

= Implikaon;

········ = Disjunkon; ------ = Exklusion;

= Kontravalenz

Abbildung 2: Die Struktur des deontologischen Sechsecks bei Kant

14  Das „relativ erlaubt“ ist dabei auch dann erfüllt, wenn eine Handlung geboten ist. Man kann sogar von der Gebotenheit einer Handlung auf deren (relative) Erlaubtheit schließen, wie etwa in folgendem Satz: „Es ist geboten, bei Unglücksfällen Hilfe zu leisten; also ist es auch erlaubt, bei Unglücksfällen Hilfe zu leisten“. 15  „Absolut erlaubt“ ist eine Handlung dann, wenn sie sowohl ungeboten als auch nicht verboten (= relativ erlaubt) ist. Dies sind diejenigen Handlungen, die vollkommen in die Entscheidung der betreffenden Person gestellt sind; diese kann die Handlung vornehmen oder sie auch unterlassen, ohne damit einer Pflicht zuwider zu handeln. Dementsprechend ist der kontradiktorische Gegensatz zur „absolut erlaubten“ Handlung die (entweder durch ein Gebot oder durch ein Verbot) zur Pflicht gemachte Handlung. 16 Vgl. Hruschka (Fn. 3), 43 ff.

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Wie Hruschka17 deutlich gemacht hat, bezieht sich der oben wiedergegebene Text von Kant auf eine Passage in dem Buch „Prolegomena Iuris Naturalis“ (3. Aufl. 1767) von Gottfried Achenwall, das Kant seinen Vorlesungen über Rechts- und Moralphilosophie regelmäßig zugrunde legte. In dieser Passage von Achenwall lassen sich bereits (fast) alle Elemente des deontologischen Sechsecks, einschließlich seiner logischen Beziehungen, nachweisen, ohne dass darauf hier im Einzelnen eingegangen werden kann.18 IV. Zum „rechtlichen Effect“ einer Tat Wie die oben zitierte Passage aus der Metaphysik der Sitten zeigt nun auch eine andere Textstelle in den „Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten“19 die Verwendung der Struktur eines deontologischen Sechsecks, und zwar dann, wenn Kant auf die „rechtlichen Effecte“ einer Tat20 zu sprechen kommt; die Passage lautet:21 „Was jemand pflichtmäßig m e h r thut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist v e r d i e n s t l i c h (meritum); was er nur gerade dem letzteren a n g e m e s s e n thut, ist S c h u l d i g k e i t (debitum); was er endlich w e n i g e r thut, als die letztere fordert, ist moralische Ve r s c h u l d u n g (demeritum). Der rechtliche Effect einer Verschuldung ist die S t r a f e (poena); der einer verdienstlichen That B e l o h n u n g (praemium) (vorausgesetzt daß sie, im Gesetz verheißen, die Bewegursache war); die Angemessenheit des Verfahrens zur Schuldigkeit hat gar keinen rechtlichen Effect. – Die gütige Ve r g e l t u n g  (remuneratio s. repensio benefica) steht zur That in gar keinem R e c h t s v e r h ä l t n i s .“

Man erkennt die Struktur, die hinter dieser Textestelle steht, wenn man der Gegenüberstellung der Grundbegriffe meritum (= „verdienstlich“) und demeritum (= „moralische Verschuldung“) folgt und als dritten Grundbegriff den des debitum (= [bloße] „Schuldigkeit“)22 verwendet, den Kant zwar erwähnt, aber für den er   Hruschka (Fn. 3), S. 7 ff.   Zu den Einzelheiten des Zusammenhangs zwischen dem Text von Achenwall und dem Text von Kant sowie der Entstehungsgeschichte des Textes von Achenwall vgl. wiederum Hruschka (Fn. 3). 19  Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 227 f. 20  Mit „Tat“ ist hier nicht nur die normwidrige, grundsätzlich tadelnswerte (bzw. strafbare) Tat gemeint, sondern auch die normgemäße und daher nicht strafbare Tat sowie sogar die überpflichtmäßige (d. h. supererogatorische), grundsätzlich lobenswerte Tat. – Mit dieser Feststellung ist allerdings die Diskussion darüber, ob es in Kants System von Rechts- und Tugendpflichten überhaupt supererogatorisches Verhalten geben kann, noch nicht abgeschlossen. Jedenfalls aber ist die „verdienstliche Handlung“, auf die Kant in dieser Passage Bezug nimmt, der wohl plausibelste Kandidat für die Kennzeichnung eines Verhaltens als supererogatorisch. Näher zur Logik supererogatorischen Verhaltens, dessen Erfassung den Übergang von einem deontolo­ gischen Sechseck zu einem deontologischen Zehneck erfordert, vgl. im Übrigen Hrusch­ka / ­Joerden, „Supererogation: Vom deontologischen Sechseck zum deontologischen Zehneck“, ARSP 73 (1987), 93 ff.; Joerden (Fn. 9), 195 ff. m. w. N. 21  Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 227 f. 17 18

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„gar keinen rechtlichen Effect“23 angibt, weil die hier gemeinten ‚Taten‘ von dem verpflichtenden Handlungsrahmen weder nach oben (so aber das meritum) noch nach unten (so aber das demeritum) abweichen. Der „rechtliche Effect“ des meritum ist demgegenüber (nach Kant unter bestimmten Voraussetzungen; s. o.) die Belohnung und der „rechtliche Effect“ des demeritum die Strafe. Hieraus ergibt sich eine Darstellung in einem Sechseck, wie es in Abb. 3 wiedergegeben ist. meritum oder demeritum (= nicht bloße „Schuldigkeit“) Belohnung oder Strafe (rechtlicher Effect)

meritum Belohnung

demeritum Strafe

non meritum

non demeritum

weder meritum noch demeritum (= bloße “Schuldigkeit”) weder Belohnung noch Strafe (kein rechtlicher Effect) = Implikaon;

········ = Disjunkon; ------ = Exklusion;

= Kontravalenz

Abbildung 3: Zur Struktur der „rechtlichen Effecte“ einer Tat nach Kant

V. Zum Verhältnis von Tugend und Laster bei Kant In der Tugendlehre, dem – nach der Rechtslehre – zweiten Teil der Metaphysik der Sitten, äußert sich Kant zum Verhältnis von Tugend und Laster, das er wie folgt beschreibt:24 „Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten. Die Erfüllung derselben ist Verdienst (meritum) = + a: ihre Übertretung aber ist nicht sofort Verschuldung (demeritum) = – a, sondern blos moralischer Unwerth = 0, außer wenn es dem Subject Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen. Die Stärke des Vorsatzes im erste22  Etwa im Sinne von umgangssprachlich: „Er hat seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan“. 23  Gemeint ist: „weder Strafe noch Belohnung“. 24  Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 390.

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ren heißt eigentlich allein Tugend (virtus), die Schwäche in der zweiten nicht sowohl Laster (vitium) als vielmehr blos Untugend, Mangel an moralischer Stärke (defectus moralis). (Wie das Wort Tugend von taugen, so stammt Untugend von zu nichts taugen.) Eine jede pflichtwidrige Handlung heißt Übertretung (peccatum). Die vorsetzliche aber, die zum Grundsatz geworden ist, macht eigentlich das aus, was man Laster (vitium) nennt.“

Erkennt man hinter der Argumentation in der eingangs wieder gegebenen Passage die Struktur des logischen Sechsecks (siehe Abb. 4), so wird vor allem die etwas eigenartige Verwendung von Ausdrücken wie + a, - a, 0 innerhalb des Kant-Textes klarer. Diese drei Ausdrücke bezeichnen (ähnlich wie schon in Abb. 3; hier nun allerdings auf Tugendpflichten begrenzt) die drei Grundbegriffe dieses Sechsecks (meritum, demeritum und „blos moralischer Unwert“), die zueinander jeweils im Verhältnis der Exklusion stehen. Denn sie können mit Bezug auf dieselbe Handlung nicht zugleich gegeben sein (ein und dieselbe Handlung kann nicht zugleich tugendhaft und lasterhaft sein), wohl aber je einzeln; sie können aber auch beide zugleich nicht erfüllt sein, was dann der Fall ist, wenn der jeweils dritte dieser drei Grundbegriffe („blos moralischer Unwert“) erfüllt ist.

Tugend oder Laster

Laster (demeritum = – a)

Tugend (meritum = + a)

Keine Tugend (Untugend)

Kein Laster

weder Tugend noch Laster („blos moralischer Unwerth = 0“) = Implikaon;

········ = Disjunkon; ------ = Exklusion;

= Kontravalenz

Abbildung 4: Zum Verhältnis von Tugend und Laster

Auch in diesem Sechseck stehen den drei Grundbegriffen jeweils deren kontradiktorische Gegensätze gegenüber. Es besteht also wieder jeweils das Verhältnis der Kontravalenz zwischen den Grundbegriffen und deren zugehörigen Negationsbegriffen. Zudem führen die Implikationspfeile von jedem der drei Grundbegriffe auf die Negationen der beiden jeweils anderen Grundbegriffe, womit klargestellt wird, dass bei Vorliegen eines der Grundbegriffe, die jeweils anderen beiden

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Grundbegriffe nicht erfüllt sind. Dadurch wird z. B. zum Ausdruck gebracht, dass dann, wenn ein bestimmtes Verhalten ein Laster ist, dieses Verhalten nicht zugleich eine Tugend sein kann und auch nicht zugleich ein „blos moralischer Unwert“. Modelliert werden bei Kant die Begriffe der Tugend, des Lasters und des bloß moralischen Unwerts hier zusätzlich noch durch die subjektive Komponente des Vorsatzes, die nach Kant sowohl zum Begriff der Tugend als auch dem des Lasters gehört.25 Mit diesen Feststellungen wird auch die folgende Stelle aus der Metaphysik der Sitten (Tugendlehre) klarer:26 „Der Tugend = + a ist die negative Untugend (moralische Schwäche) = 0 als logisches Gegentheil (contradictorie oppositum), das Laster aber = - a als Widerspiel (contrarie s. realiter oppositum) entgegen gesetzt …“

Kant spricht hier zunächst die Kontravalenz zwischen Tugend und Untugend an. (Dass er die Formulierung „negative Untugend“ nicht als doppelte Verneinung auffasst, sondern das erste Wort dieses Ausdrucks gewissermaßen als Erläuterung des zweiten einsetzt, wird aus dem Klammerausdruck „moralische Schwäche“ ersichtlich, der bei gemeinter doppelter Verneinung vor der Klammer anders hätte formuliert werden müssen.) Kant bezeichnet dann die Kontravalenz, wie sie sich auch aus dem Sechseck als logische Beziehung zwischen Tugend und Untugend ergibt, mit der früher üblichen Bezeichnung als „kontradiktorisches Gegentheil“ (contradictorie oppositum), während er die Beziehung zwischen Tugend und Laster zutreffend als „konträres Gegenteil“ (contrarie s. realiter oppositum) charakterisiert. VI. Zu Kants Begriff der Menschenwürde Bei der Interpretation der sog. Zweckformel des Kategorischen Imperativs „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“27 wird gelegentlich übersehen, dass hier durchaus nicht jedes Behandeln eines anderen als Mittel unter das Verdikt unethischen (verbotenen) Verhaltens gestellt wird. Ein Verhalten wird mit dieser Formel nur dann verboten, wenn der andere bloß als Mittel gebraucht wird; nur dann widerspricht das betreffende Verhalten dieser Formel des Kategorischen Imperativs und auch nur dann wird der andere in seiner Würde verletzt, weil er nur wie eine Sache behandelt wird. Denn wer bloß als Mittel, d. h. als Sache gebraucht wird, wird letztlich so behandelt, als hätte er keinen 25  Zu Einzelheiten der subjektiven Zurechnung bei Kant nach dem „Grad der Zurechnungsfähigkeit“ (Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 228) vgl. Joerden, „Zwei Formeln in Kants Zurechnungslehre“, ARSP 77 (1991), 525 ff. 26  Kant, Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, 384. 27  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 429.

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inneren Wert, d. h. keine Würde, sondern nur noch – wie Sachen – einen Preis. In der Grundlegung heißt es dazu: 28 „…das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d. i. Würde. Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat. Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreis; Witz, lebhafte Einbildungskraft und Launen einen Affectionspreis; dagegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinct) haben einen innern Werth.“

Ist der andere jedoch mit der intendierten Behandlung einverstanden (man denke an: volenti non fit iniuria), wird er zwar oftmals auch als Mittel gebraucht, aber nicht mehr bloß als Mittel, sondern eben zugleich als Zweck. Dieser Unterschied wird etwa in Fällen deutlich, in denen jemand sich von einem anderen in dessen Wagen eine Wegstrecke mitnehmen lässt und der andere ihn freiwillig transportiert. Hier nutzt der „Anhalter“ den anderen zwar auch als (Transport-)Mittel, aber eben nicht bloß als Mittel, sondern wegen der Einstimmung des anderen zugleich als Zweck. Zwingt er den anderen dagegen mit vorgehaltener Waffe und damit unter Todesdrohung, ihn mitzunehmen, gebraucht er ihn nur noch als (Transport-) Mittel und nicht mehr zugleich als Zweck. Kants Argumentation geht folglich von drei prinzipiell verschiedenen Möglichkeiten aus, wie man einen anderen behandeln kann: 1. bloß als Mittel, 2. bloß als Zweck und 3. sowohl als Mittel als auch als Zweck. Dieser Zusammenhang der drei Verhaltensmodalitäten und ihrer Negationen lassen sich wiederum mit Hilfe eines logischen Sechsecks strukturiert darstellen, wie dies in Abb. 5 wiedergegeben ist.29 Zu fragen ist allerdings, was es bedeuten soll, einen anderen „bloß als Zweck“ zu behandeln. Dass es diese Verhaltensmodalität unter Zugrundlegung von Kants Systematik geben muss, ist bereits mit Abb. 5 deutlich geworden. Inhaltlich wird man daraus ableiten können, dass Wesen, die bloß als Zweck behandelt werden, Wesen sein müssen, die niemals als Mittel (auch nicht mit ihrer Zustimmung) gebraucht werden können bzw. dürfen, sondern stets nur Zweck sein können: Es kommen dafür nur Gott und die Engel, eventuell noch zusätzlich sehr hochgestellte Persönlichkeiten in Betracht, die als Mittel einzusetzen einem Handelnden nie in den Sinn käme. Was hier gemeint ist, wird klarer, wenn man auf die Struktur der Abb. 5 die Terminologie der Würde bezieht; dann ergibt sich die Abb. 6.   Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 435.  Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher Joerden, „Menschenwürde bei Margalit und Kant“, in: Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung. Die Menschenwürdekonzeption Avishai Margalits, Baden-Baden 2013, 37 ff. 28 29

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Entweder bloß als Mittel oder bloß als Zweck

Bloß als Mittel

Bloß als Zweck

Nicht bloß als Zweck

Nicht bloß als Mi el

Weder bloß als Mi el noch bloß als Zweck = als Mi el und als Zweck ········ = Disjunkon; ------ = Exklusion;

= Implikaon;

= Kontravalenz

Abbildung 5: Zur Verwendung als Mittel bzw. als Zweck

Die Abb. 6 lässt deutlich werden, dass der Begriff „würdig“ bei Kant sich letztlich in einem Begriffsfeld von nicht nur zwei, sondern drei Grundbegriffen (und dementsprechend auch von drei Negationen) entfaltet, und zwar (1) hochwürdig, (2) unwürdig und (3) (bloß) würdig. Daraus folgt aber auch, dass Kants Würdebegriff keineswegs impliziert, dass man einen anderen Menschen besonders hoch schätzen oder ihn gar verehren soll, sondern nur, dass man ihn nicht unwürdig behandeln Entweder hochwürdig oder unwürdig

unwürdig

hochwürdig

Nicht unwürdig

Nicht hochwürdig

Nicht hochwürdig und nicht unwürdig = (bloß) würdig = Implikaon;

········ = Disjunkon; ------ = Exklusion;

= Kontravalenz

Abbildung 6: Zum Begriff „würdig“ und seinem Begriffsfeld

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darf. Daher genügt es, sich gegenüber dem anderen und dessen Willen neutral zu verhalten; eine besondere Empathie oder gar Sympathie sind nicht gefordert. Auch wenn eine solche Konzeption formalistisch erscheinen mag, so hat sie doch den Vorteil, den Schutz der Menschenwürde nicht mit mehr Anforderungen aufzuladen, als notwendig sind, um die Freiheitssphären der Individuen und deren Persönlichkeitsentfaltung wechselseitig zu begrenzen.

VII. Zu den Urteilsarten bei Kant Auf einen weiteren Themenbereich in Kants Philosophie, der sich mit Hilfe der Struktur des logischen Sechsecks besser verstehen lässt, hat unlängst Béziau aufmerksam gemacht.30 Bekanntlich unterscheidet Kant vier verschiedene Aspekte von Urteilen:31 Diese sind entweder analytisch (zergliedernd) oder synthetisch (zu neuen Erkenntnissen führend) und entweder a priori (allein in der Vernunft gebildet) oder a posteriori (empirisch gewonnen). Daraus könnte eine Unterteilung aller Urteile in die folgenden vier Arten abzuleiten sein: (1) analytisches Urteil a priori; (2) analytisches Urteil a posteriori; (3) synthetisches Urteil a priori; (4) synthetisches Urteil a posteriori. Insbesondere, ob es überhaupt analytische Urteile a posteriori geben kann, oder nicht vielmehr alle Urteile a posteriori zugleich synthetisch sind, ist allerdings durchaus problematisch. Zudem ist die Kategorie der synthetischen Urteile a priori – wenn man Kant nicht folgt, der explizit insbesondere den Kategorischen Imperativ als synthetischen Satz a priori ansieht32 – keineswegs unstrittig. Béziau33 macht nun den Vorschlag, die Urteilsarten bei Kant nicht mit Hilfe einfacher Kombinatorik im Hinblick auf die soeben genannten 4 Urteilsarten zu strukturieren, sondern durch eine dem logischen Sechseck entsprechende Figur zu erfassen, wie sie sich aus Abb. 7 ergibt. Auf der Basis eines so strukturierten Sechsecks interpretiert Béziau die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der kantischen Urteilsarten, indem er die von Kant verwendeten Charakterisierungen einleuchtend wie folgt deutet: (1) analytisch = unmittelbar einleuchtend (2) a posteriori = abhängig von sinnlicher Erfahrung (3) a priori = reines Produkt unseres Gehirns (4) synthetisch = wahr nur im Nachhinein

  Béziau (Fn. 5), 27 f.   Vgl. etwa Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 270 ff., 275 ff. 32  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 454. 33  Béziau (Fn. 5), 27 f. 30 31

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analytisch oder a posteriori

analytisch

a posteriori

synthetisch

a priori

synthetisch a priori

= Implikaon;

········ = Disjunkon; ------ = Exklusion;

= Kontravalenz

Abbildung 7: Der Vorschlag von J.-Y. Béziau zu den kantischen Urteilsarten

Vor diesem Hintergrund erscheinen die beiden Implikationspfeile in Abb. 7 von analytisch zu a priori und von a posteriori zu synthetisch durchaus plausibel: Was unmittelbar offensichtlich (= analytisch) ist, hängt nicht ab von äußerer Erfahrung (ist also nicht a posteriori, sondern a priori). Ist ein Urteil dagegen abhängig von äußerer, sinnlicher Erfahrung (also a posteriori), entsteht seine Wahrheit nicht unmittelbar (es ist also nicht analytisch, sondern synthetisch). Zugleich wäre auf diese Weise besser erklärbar, weshalb Kant kein analytisches Urteil a posteriori in Betracht zieht, und zwar weil beide Charakterisierungen in einem Exklusionsverhältnis (konträrer Gegensatz) zueinander stehen. Schließlich wäre danach ein synthetisches Urteil a priori, auf das Kant im Zusammenhang mit dem Kategorischen Imperativ, wie soeben erwähnt, besonderen Wert legt, zu definieren als kontradiktorischer Gegensatz zu „analytisch oder a posteriori“. Zusammengefasst hätte man es dann nur noch mit drei Grundbegriffen für die Urteilsarten zu tun („analytisch“, „a priori“ und „synthetisch a priori“), während die verbleibenden Kombinationsmöglichkeiten der von Kant vorgegebenen Begrifflichkeit nur noch die Negationen zu den genannten Grundbegriffen für Urteilsarten repräsentieren („nicht analytisch = synthetisch“, „nicht a posteriori = a priori“; und „nicht synthetisch a priori = analytisch oder a posteriori“). Eine allerdings noch offene Frage bleibt es, ob es die synthetischen Urteile a priori auch tatsächlich gibt. Es müsste m. a. W. noch geklärt werden, ob man eigentlich nur von zwei Arten von Urteilen auszugehen hat: einerseits von analytischen, d. h. von (begrifflich) zergliedernden Urteilen (wie etwa: „Alle Junggesellen sind unverheiratet“), und andererseits von Urteilen a posteriori, d. h. von Erfahrungsurteilen (wie etwa: „Alle Menschen sind sterblich“). Oder ob das synthetische Urteil

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Jan C. Joerden

a priori – wie Kant dies fordert – als weitere von den beiden anderen zu unterscheidende Urteilsart hinzukommt (oder ob es sogar noch zusätzliche Urteilsarten gibt, die von dieser Begrifflichkeit bisher noch gar nicht erfasst sind). Diese Fragen können mit Hilfe der hier vorgestellten Systematik allerdings nicht geklärt werden, sondern erfordern ggf. eine neue Systematik.

VIII. Fazit und Ausblick Die Zusammenstellung der Bereiche, in denen sich die Texte Kants besser verstehen lassen, wenn man im Hintergrund die Struktur des logischen Sechsecks erkennt, ist sicher nicht vollständig34, so wie die Möglichkeiten der Anwendung des Sechsecks bei der Strukturierung von Begriffsfeldern im Allgemeinen hier nicht abschließend ausgeleuchtet werden konnten.35 Es ist auch keineswegs so, dass immer dann, wenn Kant drei verschiedene Begriffe demselben Problembereich zuordnet, stets das logische Sechseck im Hintergrund verwendet werden könnte. Denn das setzt voraus, dass ein Begriffsfeld von genau drei Grundbegriffen und ihren Negationen bestimmt wird. Ist dies nicht der Fall, ist das Sechseck zur Strukturierung nicht hinreichend.36 Davon abgesehen mag es zwischen drei Begriffen weitere bedeutsame Beziehungen geben, die sich durch andere Strukturen abbilden lassen. So ordnet Kant die drei Gewalten im Staat (Legislative, Exekutive und Judikative)37 etwa auch nach der Struktur des praktischen Syllogismus.38 Erst recht sind natürlich die bei Kant besonders beliebten, aus jeweils vier Elementen kombi-

34  Zu Versuchen, das Sechseck für die Analyse der Begriffe „Rechtsstaat“, „Un-Rechtsstaat“ und „Unrechts-Staat“ sowie ihr Verhältnis zueinander nutzbar zu machen und dabei die Kantische Unterscheidung von „Republik“, „Despotie“ und „Barbarei“ aufzugreifen, vgl. Joerden, „Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaats. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie“, Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), 253 ff.; ders. (Fn. 9), S. 207. 35  Vgl. dazu weiterführend insbesondere Béziau (Fn. 5), 1 ff. und die weiteren Beiträge im Heft der Logica Universalis 6 (2012); s. a. Joerden (Fn. 9), S. 217 ff. 36  Man kann dann überlegen, das Sechseck entsprechend zu erweitern; dazu etwa – für das Beispiel der Supererogation – Hruschka / Joerden (ob. Fn. 20). Wie sich zeigt, ist zur Einordnung des Supererogationsbegriffs in die Reihe der anderen deontischen Begriffe ein deontologisches Zehneck erforderlich. 37  Sofern man nur diese drei Begriffe als Bezeichnungen für Staatsgewalten anerkennt (und nicht etwa weitere behauptet, wie z. B. die Presse, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Arbeitgeber etc., die allerdings wohl allenfalls Gewalten im Staate sind, aber keine Staatsgewalten), bilden sie mit ihren Negationen durchaus ein (logisches) Sechseck. Die Struktur des praktischen Syllogismus zwischen ihnen (vgl. Fn. 38) tritt dabei nicht in Konkurrenz zu dem Sechseck, sondern als dessen Ergänzung hinzu. 38 Dazu Hruschka, „Praktische Vernunftschlüsse und die Dreiteilung der staatlichen Gewalt in Kants ‚Rechtslehre‘ von 1797“, in: Juristische Fakultät der Aristoteles Universität Thessaloniki (Hg.), Festschrift für Ioannis Manoledakis Bd. III, Athens / Thessaloniki, 2006.

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natorisch zusammengesetzten Tafeln39 regelmäßig nicht geeignet, durch Sechsecke gedeutet oder gar ersetzt zu werden; allenfalls die von Kant oftmals verwendeten drei Begriffsuntergliederungen innerhalb dieser Tafeln könnten im Einzelfall dafür geeignete Kandidaten sein.40 Summary This article examines how the logical hexagon can help interpreting some passages within the work of Immanuel Kant. It starts with a short introduction into the historical development of the deontological hexagon, and shows how Joachim Hruschka used it to make a certain passage in the Metaphysics of Morals on obligatory, forbidden and permitted better understandable. Then the Kantian concepts of meritum, demeritum, and just fulfilling ones obligation are analyzed in the light of their “legal effects” (especially punishment and reward) with the help of the hexagon, as well as the concepts of virtue, vice, and neither virtue nor vice. Furthermore the passages, where Kant discusses the concepts of using someone “(only) as a means”, “(only) as an end”, and “as a means and as an end”, are examined by applying the logical hexagon. This topic stands in connection with the well known concept of human dignity that Kant introduces when presenting one of the formulas of the categorical imperative. Therefore the concepts of “highly dignified”, “undignified”, and “(only) dignified” are discussed in this context, too. Finally a proposal by Béziau is reconsidered that shows how the classes of judgment, characterized by Kant as analytic, synthetic, a priori, or a posteriori, can be better understood by using the structure of the logical hexagon.

39  Vgl. z. B. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl., Akad.-Ausg., Bd. 4, S. 60, 66, 187, 251 f.; ders., Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. 6, S. 240, 398; ders., Prolegomena (Fn. 31), S. 302 f., 339. 40  Vgl. z. B. die „Tafel der Kategorien“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl., Akad.Ausg., Bd. 4, S. 66 u. a. mit der Kategorie der „Modalität“ und den Begriffen „Möglichkeit – Unmöglichkeit; Dasein – Nichtsein; Nothwendigkeit – Zufälligkeit“.

Wie gleich sind Personen – und Menschen? Kant über Geschlechter, Rassen und Kolonisierung Matthias Kaufmann Es gilt als eine der wesentlichen intellektuellen Entwicklungen im Europa der Neuzeit, dass sich die Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit der Menschen im rechtlichen wie moralischen Bereich immer weiter durchsetzte. Dies konnte mit der Begründung geschehen, sie seien als Kinder Gottes gleich, wie bei Locke,1 oder „säkular“ mit dem Hinweis, dass im gedachten Naturzustand jeder jeden töten könne, wie bei Hobbes.2 Aus heutiger Sicht mag es verwundern, dass sich extreme politische und rechtliche Ungleichheit als derart beharrlich erwies. Die Verkündung menschlicher Gleichheit konnte allerdings in der Aufkärungszeit mit umfangreicher Kolonisierung und einem industriell betriebenen transatlantischen Sklavenhandel einhergehen. Sklaverei und Leibeigenschaft wurden vielerorts erst im Laufe des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Das Wahlrecht für Frauen wurde in den meisten europäischen Ländern nach dem ersten Weltkrieg eingeführt. Carl Schmitt konnte 1926 im Zuge seines Einsatzes für eine „zäsaristische“ Demokratie unter Verweis auf die Praxis der Kolonialmächste festhalten, eine Demokratie könne einen Großteil ihrer Untergebenen von der Entscheidung auschließen ohne aufzuhören, Demokratie zu sein;3 ein Satz, den Achille Mbembe mit anderer Intention vor Kurzem aufgriff.4 Umstritten ist, welche Rolle die Aufklärungsphilosophen in diesem Kontext spielten. Waren sie die Verkünder einer reinen, egalitären Humanität, deren Ruf erst nach langer Zeit in der politischen Wirklichkeit ankam, oder gibt es da eine andere, dunkle Seite, die nicht nur einzelne Äußerungen der Denker als „Kinder ihrer Zeit“ einschließt, sondern die aufklärerische Moralphilosophie in ihrem systematischen Ansatz betrifft? Insbesondere Immanuel Kant geriet in der angelsächsischen Debatte in den Verdacht, weite Teile der Menschheit von den Segnungen seiner moralphilosophischen Errungenschaften nicht nur politisch, sondern auch moralisch auszuschließen. 1  John Locke, The Second Treatise on Government / Über die Regierung, Stuttgart: Reclam 2012, Kap. II, §§ 4 – 6. 2  Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 13. 3  Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Vorw. zur 2. Auflage (1926), Berlin: Duncker & Humblot 2016, 15. 4  Achille Mbembe, Politik der Feindschaft, Berlin: Suhrkamp 2017, 81.

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Matthias Kaufmann

Im Folgenden werde ich daher zunächst darlegen, welche Teile seiner praktischen Philosophie in dieser Hinsicht weitgehend unumstritten sind (I.), dann die Überlegungen präsentieren und diskutieren, die den Verdacht begründen, seine Ethik als solche sei nicht egalitär (II.) und schließlich zu zeigen versuchen, dass es gerade die nicht zuletzt von Kant formulierten Moralprinzipien der Aufklärung sind, die eine begründete Kritik an den fragwürdigen Praktiken und Äußerungen ermöglichen (III.). I. Gleiche Personen und ungleiche Menschen? Zunächst scheint die Sache klar: Die Darlegung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten lässt keinen Zweifel daran, dass das Sittengesetz alle vernünftigen Wesen verpflichtet und man entsprechend die „Freiheit als zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen gehörig beweisen“ muss.5 Somit sind alle Vernunftwesen dem Sittengesetz unterworfen, sind seine Gesetzgeber und werden von ihm vor sich und vor anderen beschützt, da nach der dritten Formel des kategorischen Imperativs „die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck niemals bloß als Mittel“ gebraucht werden darf.6 Die moralische Gleichheit scheint daher gesichert, beim Recht sieht es zunächst sehr ähnlich aus: Laut dem § B der Einleitung in die Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten betrifft der Begriff des Rechts „das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander... Einfluß haben können“.7 Gemäß der Regelung des inneren Mein und Dein ist das einzige angeborene, „jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ die Freiheit als „Unabhängigkeit von eines anderen nöthigender Willkür“. Zu ihm gehört laut Kant die „angeborne Gleichheit, d.i. die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“ und noch manches Weitere.8 Demnach verträte Kant eindeutig ein egalitäres Menschenbild, das alle Menschen einschließt. Ebenso gewiss ist allerdings, dass es sich etwas komplizierter verhält. Im § 46 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten werden als Kennzeichen der Staatsbürger, genauer der aktiven Staatsbürger, die gesetzliche Freiheit, die bürgerliche Gleichheit und die Selbständigkeit genannt. Gesetzliche Freiheit besteht darin, nur Gesetzen zu gehorchen, denen man die Zustimmung geben konnte, bürgerliche Freiheit darin, nur solche als Obere anzuerkennen, mit denen wechselseitige Verbindlichkeit besteht. Zu den Attributen des Staatsbürgers gehört indessen auch die Selbständigkeit. Davon ausgeschlossen sind Unmündige, „alles Frauenzimmer“   Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 448.   Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 429. 7  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, 230. 8  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, 237. 5 6

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und generell gilt: „jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung Anderer (außer des Staats) genöthigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz“.9 Solche Menschen sind passive Staatsbürger oder besser vielleicht „Staatsgenossen“. Es lässt sich hier eine eigenwillige Adaption des rousseauschen Gedankens erkennen, dass der Gemeinwille nur dann existiert und als Garant von Freiheit und Gerechtigkeit dient, wenn seine Entscheidungen allgemeiner Natur sind, von allen für alle beschlossen werden und alle in etwa gleicher Weise betreffen.10 Diese Bedingung für das Zustandekommen des Allgemeinwillens hat Kant in die Formulierungen des kategorischen Imperativs und die Bedingungen der Autonomie der beteiligten Vernunftwesen eingearbeitet. In seiner Rechtsphilosophie versucht er das durch die offenkundige, drastische soziale Ungleichheit erzeugte Problem des völlig verschiedenen Betroffenseins von den beschlossenen Gesetzen zu unterlaufen: Er lässt nur die Personen Gesetze geben, die in etwa gleich sind, die sich, wie es bei Rousseau heißt, nicht verkaufen müssen, auch nicht ihre Arbeit zu verkaufen brauchen, sondern „die Producte aus dieser Arbeit als Waare öffentlich feil stellen“ können.11 Seine subtilen Differenzierungen zwischen dem nicht zum Staatsbürger taugenden, weil im Haus angestellten Friseur und dem selbständigen „Perrückenmacher“ in der Schrift „Über den Gemeinspruch: das mag für die Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“12 mögen in der Retrospektive der aufgeklärten Kommentatorin von heute ebenso skurril bis amüsant wirken wie die Reflexionen zur „bürgerlichen Unmündigkeit“ der Frauen, genauer darüber, dass Frauen nur vermittelst eines Stellvertreters rechtlich agieren dürfen, „obgleich das Weib nach der Natur ihres Geschlechts Mundwerks genug hat sich und ihren Mann, wenn es aufs Sprechen ankommt auch vor Gericht... zu vertreten“ aus der Anthropologie.13 Doch geht es um etwas Grundsätzlicheres: „Diese Abhängigkeit von dem Willen Anderer und Ungleichheit ist gleichwohl keineswegs der Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen, vielmehr kann bloß den Bedingungen derselben gemäß dieses Volk ein Staat werden und in eine bürgerliche Verfassung eintreten“.14

Auch in der von Friedrich Theodor Rink herausgegebenen Pädagogik von 1803 hebt er hervor, wie wichtig es sei, den jungen Menschen „das Bewußtsein   Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 46, AA VI, 314.  Vgl. Matthias Kaufmann, „Volonté générale als institutionelle Garantie“, in: Konstanze Baron, Harald Bluhm (Hg.), Jean-Jacques Rousseau im Bann der Institutionen, Sonderband Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin / Boston 2016, 35 – 53. 11  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 46, AA VI, 314 f. 12  Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, 295. 13  Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 48, AA VII, 209. 14  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 46, AA VI, 315. 9

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der Gleichheit der Menschen bei der bürgerlichen Gleichheit ... nach und nach“ beizubringen: „Dem Jünglinge muß man zeigen, dass die Ungleichheit der Menschen eine Einrichtung sei, welche entstanden ist, da ein Mensch Vortheile vor dem andern zu erhalten gesucht hat.“.15 Die Ungleichheit ist also notwendig für die Staatsbildung und eine bürgerliche Verfassung, sie ist ferner gesellschaftlich zweckmäßig, aber sie ist von Menschen so gemacht, keine von der Natur vorgegebene Notwendigkeit. Man tut Kant wohl kein Unrecht, wenn man festhält, dass er sich hier einige Inkohärenzen seiner Theorie leistet und es keine tragfähige Rechtfertigung dafür gibt, moralisch gleiche Menschen ohne besonderen Grund von staatsbürgerlichen Rechten auszuschlicßen. Nun gibt es allerdings markante Äußerungen aus verschiedenen Schaffensepochen, die sehr deutlich die Annahme einer naturgegebenen Hierarchisierung zwischen unterschiedlichen Menschengruppen erkennen lassen.16 In der vorkritischen Schrift „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ aus dem Jahr 1775 werden als die beiden „Grundracen“ der Neger und der Weiße angenommen, aus denen sich die hunnische und die hindistanische, aber auch die amerikanische mischen.17 Es zeigen sich auch bereits die Ansätze zu naturwissenschaftlicher, speziell chemischer Erklärung anhand der Unterschiede in der Verarbeitung des in allem Tierblut vorhandenen Eisens. Dies kann die Ausdünstung des phosphorisch Sauren sein, „wornach alle Neger stinken“,18 oder auch dass sich das Eisen gar nicht niederschlägt wie bei den Weißen, wodurch „zugleich die vollkommene Mischung der Säfte und Stärke dieses Menschenschlags vor den übrigen bewiesen“ werde.19 In den Reflexionen zur Anthropologie aus dem handschriftlichen Nachlass findet sich die chemische Analyse der Rassen mit gewissen phlogistongestützten Modifikationen (phlogisticirte phosphorische Säure: Neger... Dephlogistirtes alcali: Weisser)20 wieder. Wir erfahren auch sogleich, was Kant von einer Mischung der Rassen hält: „Halbschlächtige (muli) taugen nicht viel“.21 Ein „Givero“ genannter Mehrfachmischling aus Jamaica sei derart bösartig, dass man die Eltern verjage, wenn ihre Paarung bekannt werde.22 Man könnte dies als kuriose Prahlerei mit von irgendwo her aufgelesenen Borniertheiten abtun, würde nicht direkt danach betont,

  Immanuel Kant, Pädagogik § 46, AA IX, 498.   Ich bin für Hinweise auf einige der relevanten, aber etwas entlegeneren Passagen, vor allem aber auf die inzwischen durchaus verzweigte Forschungsliteratur Christian Müller (Halle) sehr dankbar, vgl. auch Christian Müller, Kant’s unreasonable reasoning – towards a philosophical anthropology of reason after Kant, Vortrag auf dem UK Kant Society Annual Meeting 2019 in Bristol. 17  Immanuel Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, AA II, 433. 18  Ebd. 438. 19  Ebd. 440. 20  Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie Nr. 1374, AA XV, 599. 21  Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie Nr. 1373, AA XV, 598. 22  Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie Nr. 1376, AA XV, 601. 15 16

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es sei „bey der race nichts zufalliges“23 und etwas später festgehalten: „Falsche Meinung: daß auch so gar die Natur (des Menschen, M.K.) durch Freyheit (in der Gestaltung der Umstände, M.K.) sich umwandeln und anarten lasse.“24 Noch drastischer sind Collegentwürfe aus den achtziger Jahren. Die folgenden Passagen werden in den Diskussionen der letzten Jahre immer wieder angeführt, seien daher relativ umfangreich wiedergegeben: 1. Americaner unempfindlich. Ohne affect und Leidenschaft als blos vor Rache. Freyheitsliebe ist hier bloße faule Unabhängigkeit. Sprechen nicht, lieben nichts, sorgen vor nichts. Mexico und Peru. nehmen gar keine Cultur an. 2. Neger. Gerade das Gegentheil: sind lebhaft, voller affect und Leidenschaft. Schwatzhaft, eitel, den Vergnügen ergeben. Nehmen die Cultur der Knechte an, aber nicht der freyen, und sind unfähig sich zu führen. Kinder. … 4. (g Weisse: ) Enthalten alle Triebfedern der Natur in affecten und Leidenschaften, alle Talente, alle Anlagen zur Cultur und Civilisirung und können so wohl gehorchen als herrschen. Sie sind die einzige, welche immer in Vollkommenheit fortschreiten. … Der Neger kan disciplinirt und cultivirt, niemals aber ächt civilisirt werden. Er verfällt von selbst in die Wildheit. Alle racen werden ausgerottet werden (g Amerikaner und Neger können sich nicht selbst regiren. Dienen also nur zu Sclaven ), nur nicht die der Weissen. Hartnäckigkeit der Indianer bey ihren Gebräuchen ist Ursache, daß sie nicht in ein Volk mit den Weissen zusammen schmeltzen. Es ist nicht gut, daß sie sich vermischen. Spanier in Mexico.25

Der Einwand, diese Passagen entstammten handschriftlichen Notizen, die Kant bewusst nicht publiziert habe, die also nicht wirklich als seine definitive Position gelten könnten, wird relativiert durch einige Sätze aus den „Beobachtungen über das Schöne und Erhabene“: Die Negers von Afrika haben von Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel zu nennen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freihei gesetzt werden, nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft ... etwas Großes vorgestellt habe.26

  Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie Nr. 1377, AA XV, 602.   Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie Nr. 1462, AA XV, 643. 25  Immanuel Kant, Collegentwürfe aus den 80er Jahren. Entwürfe zu dem Colleg über ... Character der Race, L Bl. HA 53 S. I, II, AA XV, 877 f. 26  Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 4. Abschnitt, AA II 253. 23 24

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Angesichts der überschaubaren Größe der Gelehrtenrepublik – zumal der deutschen – hätte man auch 1764, als diese Schrift entstand, etwas von den Publikatio­ nen des aus dem heutigen Ghana gebürtigen, dann in Wittenberg, Halle und Jena tätigen Philosophen Anton Wilhelm Amo (ca. 1703 – 1784) gehört haben können.27 Ferner könnten zwar noch nicht zu dieser Zeit, wohl aber während der Entstehung der Anthropologie, deren „Hülfsmittel“ laut Vorrede ja „Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane“ sind,28 die Erzählungen um Joseph Boulogne, Chevalier de Saint-Georges, eines Geigenvirtuosen, Komponisten, Dirigenten, Fechtgenies und Lieblings der Pariser Gesellschaft, der später als „schwarzer Mozart“ bezeichnet wurde, auch im deutschen Sprachraum bekannt gewesen sein.29 In den Collegentwürfen fällt Kant nach heutigen Maßstäben hinter den Diskussionsstand der Schule von Salamanca zurück. Francisco de Vitoria hatte 1539 die Ureinwohner Amerikas als veri domini charakterisiert, die Eigentum besaßen und Staaten bildeten,30 und Luis de Molina beschreibt 1593 die unterschiedlichen Königreiche Afrikas, aus denen die Portugiesen Sklaven nach Amerika transportierten, nachdem sie „gerechte Kriege“ gegen sie geführt hatten.31 Es bestätigt sich die alte Vermutung, dass die Ausbreitung rassistischen Denkens im 18. Jahrhundert etwas mit der Rechtfertigung des Faktums des Kolonialismus und des Faktums der Sklaverei zu tun hatten.32 Umstritten ist, ob Kant diese Praktiken wirklich stützen wollte oder ob er sich „nur“ zu wenig klar oder auch zu spät davon distanzierte. Man kann die genannten Reflexionen als Teil einer umfassenden rassistischen Theorie einstufen, wie gleich zu diskutieren sein wird, oder als – heutige Kantia­ ner*innen vielleicht peinlich berührende – Irrtümer eines großen Geistes, dem auch andre eigenwillige Einschätzungen unterliefen. Als Beispiel aus dem Bereich der Anthropologie mag etwa die positive Beurteilung der Theorie Pietro Moscatis dienen, derzufolge die Menschen ursprünglich auf allen Vieren gegangen seien und sich erst allmählich aufgerichtet hätten.33 Nahezu ebenso beredt sind einige Passagen aus der Physischen Geographie, einer Vorlesung, die Kant seit 1756 bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit 1796 immer wieder mit erheblichem Erfolg bei den Studenten hielt. Dort finden sich außer Berichten über angeblich „natürliches Le27  Anton Wilhelm Amo, Tractatus de arte sobrie et accurate philosophandi, Halle 1738; ders., De humanae mentis apatheia, Wittenberg 1734. 28  Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Vorrede, AA VII, 121. 29  Jan-Jacob Mulder, Joseph, der schwarze Mozart, Zürich: Unions-Verlag 2018. 30  Francisco de Vitoria, De Indis, in: ders.; Vorlesungen: Politik, Völkerrecht, Kirche II, hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerd Justenhoven, Joachim Stüben, Suttgart u. a. 1997. 370 ff. 31  Luis de Molina, De Iustititia et Iure (1593), ed. novissima, Mainz 1659: Schönwetter, Tract. II Disput. 34 f. 32  Henri Grégoire, An enquiry concerning the intellectual and moral faculties, and literature of Negroes, followed with an account of life and works of fifteen Negroes and mulattoes, distinguished in science, litterature and arts, Brooklyn: Thomas Kirk 1810, 16. 33  Vgl. u. a. Immanuel Kant, Recension von Moscatis Schrift: Von dem körperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen der Structur der Thiere und Menschen, AA II, 423 – 425.

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der“ am Schambein der Menschen in einigen Weltgegenden und darüber, dass die „Einwohner von NeuHolland ... nicht in die Ferne sehen [können], ohne den Kopf auf den Rücken zu bringen“34 indessen immer wieder klar abwertende Äußerungen, v.a. über afrikanische und amerikanische, aber auch asiatische Menschen und darüber wie „man“, also etwa holländische Sklavenhalter, mit verschiedenen Arten von Sklaven umgeht.35 Es handelt sich nach Auskunft der Editoren beim bisher edierten Manuskript „Holstein“ größtenteils um Exzerpte von „Reisebeschreibungen und zeitgenössischen Periodica“, bei den weitgehend auf Mitschriften basierenden Texten späterer Jahre dürfte es nicht völlig anders sein.36 Gewiss hätte man von einem akademischen Lehrer vom intellektuellen und moralischen Format Kants erwartet, dass er seine Studenten auf die Rechtswidrigkeit und moralische Verwerflichkeit dieser Zustände hinweist. Doch beweist dieses Versäumnis noch nicht, dass er über eine eigene Rassentheorie verfügte, die gleich zu diskutieren sein wird. Abgesehen von diesem Versäumnis und den beiden fatalen Sätzen, dass manche Menschen nur zu Sklaven taugen und die anderen Rassen außer der Weißen ausgerottet werden, bleibt im praktischen Sinne zunächst übrig, dass Nicht-Weiße sich aufgrund mangelnder Selbständigkeit nicht zu Staatsbürgern eignen. Doch teilen sie dieses Schicksal, wie gesehen, mit weißen Frauen, Unmündigen und Nicht-Selbständigen. Kritisch ist zum einen die Frage, ob es Menschen geben kann, die „nur“ zu Sklaven dienen. Da nach dem § 30 der Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten sogar ein Vertrag, in dem sich jemand selbst als Sklaven verkauft, null und nichtig ist, weil er das Recht der Menschheit in der Person verletzt, wäre dies nach der üblichen Kant-Interpretation unmöglich.37 A forteriori wäre eine gewaltsame Versklavung mit dem Recht der Menschheit in der Person eines jeden, also mit der dritten Formel des kategorischen Imperativs unvereinbar.38 Nun gibt es von verschiedener Seite den Verdacht, Kant spreche manchen Menschen den Personenstatus grundsätzlich ab – nicht z. B. nur bis zu einem bestimmten Alter. Martha Nussbaum schließt aus dem Umstand, dass Kant Tiere nicht in 34  Immanuel Kant, Das Konzept zur Vorlesung über Physische Geographie (1757 – 1759) aufgrund der Handschrift „Holstein“, AA XXVI.1, 93. Der von Rink edierte, in AA IX enthaltene Text der „Physischen Geographie“ stellt eine Kompilation verschiedener Fassungen dar und genügt nicht heutigen editorischen Ansprüchen. Das von Kant redigierte Manuscript Holstein ist im Band XXVI.1 der Akademie-Ausgabe enthalten, Bd. XXVI.2 mit diversen Vorlesungs-Mitschriften aus verschiedenen Zeiten ist in Arbeit. 35  Eine Zusammenstellung findet sich bei Pauline Kleingeld, „Kant’s Second Thoughts on Colonialism“, in: Katrin Flikschuh; Lea Ypi (eds.), Kant and Colonialism. Historical and Criti­ cal Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2014, 43 – 68. 36  http://kant.bbaw.de / base.htm / index.htm (10.  7.  2019), genauere Angaben vgl. AA XXVI.1, VI – XVII. 37  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 30, AA VI, 283; ähnlich in den Kommentaren zu Achenwall, Reflexion 7400, AA XIX, 357 f. 38  Vgl. u. a. die „Vorarbeiten zu Zum Ewigen Frieden“ AA XXIII, 174, wo es heißt, dass der „Negerhandel...Verletzung der Hospitalität des Volks der Schwarzen ist“.

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den Kreis der moralisch zu Berücksichtigenden aufnimmt und Moral als eine Angelegenheit von Vernunftwesen ansieht, dass auch menschliche Wesen, die in ihrer Vernunftentwicklung nicht weiter gediehen sind als Tiere, z. B. geistig schwer Behinderte, nicht zu den moralisch relevanten Wesen gehören.39 Ferner wurde auf die Probleme hingewiesen, die für Kants Theorie durch die Verbindung des Personenstatus mit Zurechnungsfähigkeit und eben auch Freiheit erwachsen könnten, wenn es u. a. um unzurechnungsfähige oder vermindert zurechnungsfähige Straftäter geht.40 Kant bringt die „ursprüngliche Anlage zum Guten in der Menschlichen Natur“ auf drei Klassen, als Elemente in der Bestimmung des Menschen ... : 1. Die Anlage für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden; 2. F  ür die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen; 3. Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens.41

Daher könnte man fragen, inwieweit er Menschen, die nicht der Zurechnung fähig sind den Personenstatus, solchen, die nicht der Vernunft fähig sind, gar den Menschenstatus abspricht. In den letzten Jahrzehnten entstanden einige Werke, nach denen Kant zumindest eine der beiden Eigenschaften, mitunter beide, den Angehörigen der nicht-weißen Rassen, vor allem den „Amerikanern und Negern“ aberkennt (vgl. unten 2.3). Es gilt daher zu klären, ob seine offenkundig rassistische Haltung so weit zu gehen scheint und ob dies dazu führt, dass seine Ethik eigentlich nur weiße Männer berücksichtigt und daher auch nur für weiße Männer Geltung beanspruchen kann. Während ich glaube, hierfür eine plausible Lösung präsentieren zu können, bleibt der zweite fatale Satz, der vom Untergang der nicht-weißen Rassen, rätselhaft, insbesondere, weil Kant diesen nicht etwa durch eine Vermischung der anderen Rassen mit der weißen zu erwarten scheint. Kant war, wie gezeigt, strikt gegen jede Form der Rassenmischung. Die befremdende Behauptung, die anderen Rassen außer der weißen würden ausgerottet, könnte aus dem Umstand entstanden sein, dass dies mit den „Amerikanern“ bereits sehr weitgehend geschehen war und Kant für Afrika angesichts der massenhaften Deportationen Ähnliches erwartete. Dass er dies ohne wertenden Kommentar notiert, könnte wiederum auf einen Mangel an Empathie und auch an Bemühung, solche Entwicklungen zu verhindern, deuten – 39  Martha Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability. Nationality. Species Membership, Cambridge (Mass.)/London 2006, 131. 40  Alexander Aichele, Grüße von Sam. Zum Verhältnis von Zurechnungsfähigkeit und Menschheitsbegriff am Paradigma der Rechtsphilosophie Kants, in: M. Kaufmann / J. Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Frankfurt / M.: Peter Lang 2004, 247 – 262. 41  Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Erstes Stück, I. AA VI 26.

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wobei die meisten Menschen heute auch beachtlich passiv im Angesicht der ablaufenden Völkermorde sind und deshalb nicht vorschnell richten sollten. Allerdings wissen wir nicht mit Sicherheit, aus welchen Motiven Kant diese Zeilen notiert hat, Kantianer*innen könnten z. B. bezweifeln, dass es sich dabei um seine eigene Ansicht handelt; dies wäre indessen eine extrem spekulative Form der Apologie. II. Kants Rassismus und Sexismus: Ein biographisches oder ein systematisches Problem? 1. Hierarchien bei Geschlechtern und Rassen Seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts intensiviert sich die theoretische Auseinandersetzung mit Kants Äußerungen über die Rassen und ist nach wie vor im Gange. Emmanuel Chukwudi Eze hatte 1997 in „The Colour of Reason. The Idea of ‚Race‘ in Kant’s Anthropology“42 für die Annahme einer systematisch relevanten Bedeutung von Kants Äußerungen über die Rasse votiert, Robert Bernasconi hatte in verschiedenen Texten Kant als unerwartete Quelle des Rassismus charakterisiert43 und Charles Mills ihm sogar die Degradierung amerikanischer Ureinwohner und schwarzer Menschen zu Untermenschen unterstellt.44 2017 schrieben u. a. Bernard Boxill über „Kantian Racism and Kantian Teleology“45 und Jennifer Mensch „Caught Between Character and Race: ‚Temperament‘ in Kant’s Lectures on Anthropology“.46 Was ist von den angedeuteten Vorwürfen zu halten? Die Vielfalt und unterschiedliche Qualität der einzelnen Äußerungen erfordert eine differenzierte Stellungnahme. Zunächst ist der von Eze erhobene Vorwurf, Kant habe die transzendentale Methode auf die Rassenfrage angewandt und damit den Rassismus quasi auf die apriorische Ebene gehoben,47 offenkundig unzutreffend, da Kant weder in den – noch dazu vorkritischen – „Beobachtungen über das Schöne und Erhabene“ noch in der „Anthropologie“ mit ihren etwas speziellen 42  Emmanuel Chukwudi Eze, „The Colour of Reason:. The Idea of ‚Race’ in Kant’s Anthropology“, in: E. C. Eze (ed.), Postcolonial African Philosophy: A Reader, Cambridge (Mass.): Blackwell 1997, 43  Robert Bernasconi, „Kant as an Unfamiliar Sorce of Racism“, in: Julie Ward / Tommy L. Lott (eds.), Philosophers on Race, Malden (Mass.): Blackwell, 2002. 44  Charles Mills, „Kant’s ‚Untermenschen’“, in: ders., Black Rights, White Wrongs. The Critique of Racial Liberalism, Oxford: Oxford University Press 2017. 45  Bernard Boxill, „Kantian Racism and Kantian Teleology“, in: Naomi Zack (ed.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race: Critical Essays, Oxford: Oxford University Press 2017. 46  Jennifer Mensch, „Caught Between Character and Race: ‚Temperament’ in Kant’s Lectures on Anthropology“, in: Australian Feminist Law Journal 43 (2017), 125 – 144. 47  Emmanuel Chukwudi Eze, Achieving Our Humanity: The Idea of a Postracial Future, New York: Routledge 2001, 104 f.

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„Quellen“ transzendentale Argumente verwendet.48 Weniger klar ist auf den ersten Blick, ob sich Kants private Vorurteile von seiner philosophischen Theorie trennen lassen, wie Robert Louden argumentiert, was von Mills bezweifelt wird:49 Die Differenzierung zwischen einem essentiellen und einem peripheren Teil von Kants Ansichten samt der Behauptung, die egalitäre Theorie sei das Wesentliche sei nicht einfach und habe zu klären, ob wesentlich für uns oder für Kant gemeint sei. Nun entstammen die meisten oder auf jeden Fall die drastischsten der als rassistisch eingestuften Passagen dem handschriftlichen Nachlass. Die als egalitär geltende Theorie hingegen wurde in verschiedener Form mehrfach publiziert, zumindest in der Grundlegungsschrift, in der zweiten Kritik und der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten. Die Entscheidung, was anscheinend wichtiger war – nicht nur für uns, sondern auch für Kant – erscheint damit nicht übertrieben schwer. Dennoch ist Mills Kritik, die auch von Bernasconi und anderen geteilt wird, Kant habe die Menschen der nicht-weißen, in jedem Fall aber der schwarzen und der roten Rassen nicht als Personen akzeptiert, ebensowenig wie die Frauen, damit nicht widerlegt. Mills geht sogar soweit, dass Kant seiner Ansicht nach Schwarze und Amerikaner gar nicht als Menschen ansieht, wenngleich er auf dieser Deutung nicht unbedingt besteht.50 Rassismus wird von ihm auch nicht etwa als problematische persönliche Einstellung, sondern vielmehr als „normative theory in its own right“, als „sophisticated and elaborated theoretical position“ angesehen.51 Dies mag auf viele Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts zutreffen, erscheint bei Kant indessen eher zweifelhaft, wie ich zu zeigen versuchen werde. Es soll nicht bestritten werden, dass Kants Autorität von dem Rassedenken nahestehenden Autoren des 20. Jahrhunderts für ihre Zwecke in Anspruch genommen wurde, ebensowenig, dass einige seiner Bewunderer des Lobes voll über diese „Theorie“ waren. Erich Adickes zum Beispiel sah hier Kants Genie am Werke, welches „die durchgehenden inneren Gesetzmäßigkeiten so klar zu erfassen vermochte. So dürften auch Kants Ansichten über Rasse und Vererbung unter seine Ruhmes­titel auf naturwissenschaftlichem Gebiet gezählt werden“.52 Adickes setzt die oben aufgelisteten Notizen Kants in einige der – heute weitgehend befremdlichen53 – Diskurskontexte 48  So auch Thomas Hill, Bernard Boxill, „Kant and Race“, in Bernard Boxill (ed.), Race and Racism, New York: Oxford University Press 2001, 453 ff., sowie Mills (wie Fn. 44), 103. 49  Robert Louden, Kant’s Impure Ethics: from Rational Beings to Human Beings, New York e.a.: Oxford University Press 2002, 105, 177; Mills (wie Fn. 44),101. 50  Mills (wie Fn. 44), 105. 51  Mills (wie Fn. 44), 101, 104 f. 52  Erich Adickes, Kant als Naturforscher Bd. II, Berlin: De Gruyter 1925, Kap. 5, 429; Theo­ dor Eisenhans, Kants Rassentheorie und ihre bleibende Bedeutung, Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, Leipzig 1904; vgl. Christian Müller, Kant’s unreasonable reasoning – towards a philosophical anthropology of reason after Kant, Vortrag auf dem UK Kant Society Annual Meeting 2019 in Bristol. 53  Ob z. B. die Menschheit – so die sog. okkasionalistische Evolutionstheorie – auf einmal von Gott erschaffen wurde und wenn ja, ob Eva ca. 200 Millionen Eizellen, oder Adam ebenso

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des 18. Jahrhunderts, stellt den Diskussionsstand zur Rassenlehre zur Zeit Kants vor, lobt dessen Bemühung um begriffliche Klärung54 und zeigt, dass angesichts des Kenntnisstandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kants Ansichten zur Halbschlächigkeit „in keiner Weise mehr aufrechtzuerhalten“ sind.55 Rassen-Hierarchien spielen indessen bei Adickes keine nennenswerte Rolle, tauchen allenfalls am Rande auf und werden auch nicht ernsthaft diskutiert. Es ist somit einerseits keineswegs eine Erfindung von Eze, Mills, Kleinfeld oder Bernasconi, Kants Äußerungen zur Rasse den Status einer Theorie zuzuerkennen, andererseits steht in den früheren Diskussionen um den Rassenbegriff die Hierarchisierung der Rassen nicht durchgängig im Mittelpunkt der Überlegungen. Häufig wird sie möglicherweise als selbstverständliche „Tatsache“ unterstellt. Dies macht sie nicht weniger problematisch, scheint allerdings spätestens bei Linné zu beginnen, der die Rassen den vier durch die Säftelehre bedingten menschlichen Temperamenten zuordnet (rot cholerisch, gelb melancholisch, weiß saguinisch, schwarz phlegmatisch).56 Kants Autorität in Verbindung mit den angeführten Äußerungen hat vermutlich einen Beitrag zur Stabilisierung rassistischer Denkmuster geliefert. Hinsichtlich des theoretischen Anspruchs sollte man aber auch Kants mehrfach geäußertes Eingeständnis nicht übersehen, er bewege sich hier außerhalb seines eigentlichen Fachs, wenn er z. B. in einem Brief an Gottlieb Immanuel Breitkopf vom 1. 4. 1778 betont, dass „die Naturgeschichte nicht mein Studium, sondern nur mein Spiel ist“; er beabsichtige, „die Kenntnis der Menschheit auch vermittelst ihrer zu berichtigen und zu erweitern.“57 Dieser Charakter des Spiels hindert ihn freilich nicht daran, zehn Jahre später gegenüber Georg Forster vehement seine Ansicht über die Entstehung der Rassen, insbesondere durch eine angebliche Anpassung ans Klima, zu verfechten.58 Der Hinweis auf einen „sachkundigen Mann“, demzufolge freigelassene schwarze Sklaven in nördlichen Breiten nicht als freie Arbeiter taugen, hat wiederum dort eher die Funktion, diese Klimatheorie zu belegen, als die Sklaverei zu rechtfertigen, denn „ebendas findet man auch unter den Zigeunern bei uns“,59 die Kant wohl auch nicht zu versklaven gedenkt. In jedem Fall geraten einige Elemente aus Kants „Spiel“ in erheblichen Widerspruch zu den Resultaten seines „Studiums“, wie gleich noch deutlicher wird. Dies gilt zumindest dann, wenn man nicht unterstellt, Kant habe aus Kohärenzgründen seine ganze Ethik und Rechtstheorie den viele Spermien beherbergte, oder ob sie zwar von Gott ursprünglich geschaffen wurde, sich dann aber entprechend der Epigenesistheorie eigenständig entwickelte (Adickes [Fn. 52], 428 f.), ist heute kein Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen mehr. 54  Adickes (Fn. 52), 445 ff. 55  Adickes (Fn. 52), 450. 56  Linné, zitiert nach Adickes (Fn. 52), 446. 57  Immanuel Kant, AA X 230. 58  Immanuel Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, AA VIII, 172 ff. 59  Ebd. 174 Fn.

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rassistischen Thesen aus diesem „Spiel“, die im letzten Abschnitt angeführt wurden, angepasst oder am Ende gar einen Völkermord globalen Ausmaßes angestrebt oder gut geheißen. Gegenüber einer derart schweren Anschuldigung sollte auch für einen ziemlich alten weißen Mann das Prinzip in dubio pro reo gelten. In jedem Fall bleibt die Lage einigermaßen vielschichtig und kompliziert. Vor der Diskussion von Sklaverei und Kolonialismus sei jedoch, wie oben bereits erwähnt, fraglos zugestanden, dass Kant im Hinblick auf das politische Teilhaberecht, das Recht zum Staatsbürger zu werden, gewiss nicht geschlechtsneutral vorgeht, da er von der Möglichkeit, selbständig zu werden und damit den Staatsbürgerstatus zu erlangen, die Frauen ausschließt.60 Von Argumenten, gar von einer „sophisticated... theroetical position“ kann dabei nicht wirklich die Rede sein, wenn im Plauderton meist die für die bürgerliche Mittelschicht über Jahrhunderte üblichen Banalitäten vorgetragen werden, manchmal mit gewissem Witz, manchmal mit Borniertheit. Hier drei Beispiele aus unterschiedlichen Schaffenszeiten, die inhaltlich gerade nicht, wohl aber stilistisch in etwa repräsentativ sind und deutlich machen, wie politische und rechtliche Diskriminierung der Frauen problemlos mit „galanten“ Ausdrücken der Wertschätzung einhergehen konnten: Das schöne Geschlecht hat eben so wohl Verstand als das männliche, nur es ist ein schöner Verstand, der unsrige soll ein tiefer Verstand sein, welches ein Ausdruck ist, der einerlei mit dem Erhabenen bedeutet.61 Gelehrte lassen sich in Ansehung der häuslichen Anordnungen gemeiniglich gern von ihren Frauen in Unmündigkeit erhalten. Ein unter seinen Büchern begrabener Gelehrter antwortete auf das Geschrei seines Bedienten, es sei in einem der Zimmer Feuer: „Ihr wißt, daß dergleichen Dinge für meine Frau gehören.“62 Weil der Weiber Grundeigenschaften darauf ausgehen den Mann zu erforschen ... so sind sie gemacht zu regiren u. regiren auch alle in Nationen die Geschmack haben.63

Wenn man überhaupt für die bürgerliche oder rechtliche Unmündigkeit der Frauen, wie Kant es nennt, in der relevanten Passage der Anthropologie so etwas wie eine Begründung findet, dann höchstens, dass Frauen ja auch nicht in den Krieg ziehen dürften und dass durch das „Recht des Schwächeren“ mit der Zurücksetzung ein Machtzuwachs innerhalb des Hauses verbunden sei, da „sich das männliche Geschlecht durch seine Natur schon berufen fühlt“ das weibliche zu schützen.64 Der Hinweis auf die in der kantischen Morallehre ja nun einmal irrelevanten 60 Vgl. Pauline Kleingeld, The Problematic Status of Gender-Neutral Language in the History of Philosophy: The Case of Kant, in: Philosophical Forum 25, no. 2, (June), 134 – 150. 61  Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 3. Abschnitt, AA II 229, Hervorh. im Original. 62  Immanuel Kant, Anthropologie AA VII, 210. 63  Immanuel Kant, Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Schöne und Erhabene, AA XX 15 f. 64  Immanuel Kant, Anthropologie AA VII, 209.

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und in der Realität eher unzuverlässigen männlichen Gefühle belegt, wie weit man hier von einer apriorischen oder transzendentalen Argumentation entfernt ist. Eine auch nur halbwegs ernstzunehmende Begründung bleibt also aus, es wird eine kontingente historische Situation akzeptiert, ohne die Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer Änderung dieser Verhältnisse auch nur zu erwägen. Allerdings muss man Kant zugestehen, dass nach seiner Definition die Ehe notwendig wird, „wenn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen“ und ein wechselseitiges Recht zur Rückholung besteht, „wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in eines Andren Besitz begeben hat“.65 Er gibt somit eine in etwa egalitäre Definition der Ehe, im Gegensatz zu Fichte, der ungefähr zur gleichen Zeit das Wesen der Ehe in der vollständigen Unterwerfung der Frau sieht.66 Mit den Angehörigen der schwarzen und der roten Rasse geht Kant sehr viel weniger „charmant“ um, dies belegen bereits die im letzten Abschnitt aufgeführten Zitate. Wie Robert Bernasconi gezeigt hat,67 ist Kants Rassismus gegenüber den Schwarzen insofern „verwirrend“ und „schockierend“, weil er erstens – anders als viele Proponenten der Sklaverei – keinerlei persönliches Interesse am oder persönliche Verbindung zum Sklavenhandel hatte und weil er in seiner Herder-Rezension gerade den Wunsch nach einer kritischen, vertrauenswürdigen „Vorsortierung“ der vielen in Umlauf befindlichen Erzählungen äußert: Jetzt aber kann man aus einer Menge von Länderbeschreibungen, wenn man will, beweisen, ... daß Amerikaner und Neger eine in Geistesanlagen unter die übrigen Glieder der Menschengattung gesunkene Race sind, andererseits aber nach ebenso scheinbaren Nachrichten, daß sie hierin, was ihre Naturanlage betrifft, jedem anderen Weltbewohner gleich zu schätzen sind, ...68

Um so erstaunlicher ist also, dass Kant sich an verschiedenen Stellen derart einseitig negativ über die „Amerikaner und Neger“ äußert. Bernasconi und andere kritisieren zudem, dass er zwar die Kolonisierung, nicht aber den Sklavenhandel ausdrücklich verurteile, obwohl er von beiden, auch von der Grausamkeit der Sklavenhalter, auch über die für seine Vorlesungen zur Physischen Geographie und zur Anthropologie69 benutzten Texte, sehr wohl Kenntnis hatte. Kant habe nicht einmal prinzipiell die Abschaffung der Sklaverei gefordert, dafür emotionslos beschrieben, dass man Mohren und andere Bewohner heißer Zonen wegen ihrer dicken Haut „nicht mit Ruthen, sondern mit gespaltenen Röhren peitscht, wenn man sie züchtigt, damit das Blut einen Ausgang finde und nicht unter der Haut   Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre §§ 24,25 , AA VI 278.   Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, Erster Anhang § 16, Hamburg: Meiner 1979, 320. 67  Robert Bernasconi (wie Fn. 43), 149 f. 68  Immanuel Kant, Recensionen von I.G.Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Theil 1.2. AA VIII, 62. 69  Immanuel Kant, Vorlesungen zur Anthropologie, AA XXV. 65 66

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eitere“.70 Empathie mag wiederum nicht zu den Stärken Kants gehören, zumindest gibt es kein „Recht des Schwächeren“ der Schwarzen, das in den Weißen ähnliche natürliche Schutzgefühle hervorriefe wie die Schwäche der Frauen (angeblich) in den Männern. 2. Über Sklaverei und Kolonialismus Doch beweist der Mangel an Empathie mit den gepeinigten Menschen nicht, dass Kant die Sklaverei akzeptierte, ebensowenig, dass er systematisch der Versklavung eines Teils der Menschheit das Wort redete. Umgekehrt beweist Empathie keineswegs, dass man die Sklaverei ablehnt: Alonso de Sandoval ist etwa 150 Jahre zuvor voll des Mitleids für die schwarzen Sklaven, die im Hafen von Cartagena in Kolumbien ankommen, zweifelt aber ausdrücklich nicht daran, dass ihre Versklavung legitim sei.71 Kants Position zur Versklavung von Menschen lässt sich durch einen Vergleich mit den traditionellen neuzeitlichen Rechtfertigungsmustern aus der Spanischen Scholastik, die z.T. auf dem Römischen Recht fussten, recht genau eingrenzen: Luis de Molina, der Autor des wohl längsten und gründlichsten Textes zu dieser Frage, lehnt die Annahme, es gebe Sklaven von Natur ab und nennt vier Gründe der gesetzmäßigen und rechtmäßigen Versklavung: individuelle Verbrechen, Gefangennahme in einem gerechten Krieg, Selbstverkauf und gemäß altem römischem Recht die Geburt als Kind einer Sklavin (partus sequitur ventrem).72 Die Gefangennahme im gerechten Krieg legitimierte, anders als das Strafrecht, auch die Versklavung von Frauen und Kindern, unabhängig von individueller Schuld. Dies war eine Regel des Völkerrechts, die vom Naturrecht angesichts der Umstände nach dem Sündenfall erlaubt wurde. Bereits Locke wollte sie so nicht mehr akzeptieren, beschränkte die Versklavung nach einem gerechten Krieg auf die erwachsenen Männer.73 Kant erkennt allemal den Krieg nicht als Strafe an, mit der ein Volk für Missetaten seiner Herrscher bestraft wird.74 Um eine Strafe zwischen Völkern anzunehmen, bedürfte es einer rechtlich übergeordneten Instanz über ihnen, daher kam das Kriegsrecht als Grund für Versklavung – oder auch Kolonisierung – für ihn ebenso wenig in Frage wie der Selbstverkauf, den er mehrfach ablehnt.75 Was er 70  Immanuel Kant, Physische Geographie, AA IX 313, AA XXVI.1 89; Bernasconi (Fn. 43), 151. 71  Alonso de Sandoval, Treatise on Slavery. Selections from De instauranda Aethiopum salute, ed. and transl. Nicole von Germeten, Indianapolis: Haclett 2008, Book I chap. 17, 50 f., Book II Chap. 1, 66 f. 72  Luis de Molina, De iustitia et iure, Cuenca 1593, Tract. II, Disp. 32 u. 33; Luis de Molina, De iustitia et iure/ Über Gerechtigkeit und Recht (Hg. von Matthias Kaufmann & Danae Simmermacher), Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromman-Holzboog 2019, 573 – 607; vgl. Matthias Kaufmann, “Slavery between Law, Morality, and Economy”. in: M.Kaufmann & A. Aichele (eds.) A Companion to Luis de Molina, Leiden & Boston: Brill 2014, 183 – 225. 73  John Locke, 2nd Treatise on Government § 182. 74  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre §§ 57, 58 AA VI 347 f.

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ausdrücklich akzeptiert ist allerdings die Versklavung infolge eines individuellen Verbrechens. Durch sein eigenes Verbrechen wird der Delinquent „dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines Anderen (entweder des Staates oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht“ und zu dessen Eigentum (dominium). Dieser darf ihn „als eine Sache veräußern und über seine Kräfte, wenn gleich nicht über sein Leben und seine Glieder verfügen.“ Jedoch kann dies „nur durch Urtheil und Recht“ erfolgen und dieser Status kann nicht vererbt werden.76 Diese Gedanken finden sich im Kontext einer Überlegung zum „Recht des obersten Befehlshabers im Staat“, der eben nicht das Recht hat, von ihm ernannte Beamte nach Belieben abzusetzen. Man kann vor diesem Hintergrund vermuten, dass Kant mit der scholastischen Differenzierung zwischen einem stets begrenzten dominium iurisdictionis politischer Obrigkeiten und einem den Sklavenstatus definierenden dominium proprietatis vertraut ist,77 der er freilich seine sehr eigene Deutung verleiht. Diesem dominium proprietatis und damit der nötigenden Willkür eines Anderen entzogen zu sein ist ja gemäß der Einleitung zur Rechtslehre das einzige angeborene Recht jedes Menschen,78 das man laut Kant durch ein Verbrechen verlieren kann, aber auch nur so. Die anderen im ius gentium üblichen Rechtfertigungen der Versklavung werden ebenso abgewiesen wie die Legitimationsstrategien für Kolonialisierung im heutigen Sinne. Dies ist einmal die Theorie des gerechten Krieges, des Strafkrieges, gegen Menschen, die man in gewissem Sinne als ebenbürtig ansieht, wie sie sich bei den Autoren der sog. Spanischen Scholastik findet, wonach der „überwundene Staat“ zur Kolonie, seine Bürger zu Leibeigenen würden, was Kant als „an sich selbstwidersprechend“ ansieht.79 Da ist zum anderen die Lehre vom vacuum loci bzw. der terra nullius, die man sich aneignen kann, weil dort keine Rechtssubjekte im engeren Sinn vorzufinden sind, die eher dem englischen Vorgehen zur Rechtfertigung diente,80 und gegen die Kant in der Friedensschrift heftig polemisierte.81   Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 30 AA VI 283.   Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Anm. D, AA VI 330, § 58, AA 349; vgl. auch in den Anmerkungen zu Achenwall die Reflexion 7886: „Die Leibeigenschaft ist der Tod der Persohn aber das Leben des Thiers. Es geht an bey einem Todesverbrechen. Aber es kan nicht auf contract gegründet werden ...“, AA XIX 545. 77  Luis de Molina (wie Fn. 72), Tract. II Disp. 3.13, Molina 2019, S. 72 f. 78  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung AA VI 237. 79  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 58, AA VIII 348; über Kants prinzipielle Ablehnung des Kolonialismus Arthur Ripstein, Kant’s Juridical Theory of Colonialism, in: Katrin Flikschuh; Lea Ypi (eds.), Kant and Colonialism. Historical and Critical Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2014, 145 – 169. 80 Vgl. Matthias Kaufmann, Veri domini vs. Terra nullius. Ways of Justifying Colonization, Vortrag auf der Tagung Civilisation – Nature – Subjugation am 17. 10. 18 in Halle (Saale), wird publiziert in den Tagungsakten. 81  Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII 358: „Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Cap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts.“ 75 76

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Für die Kolonisierung im modernen Sinne gibt es in Kants Sicht des Völkerrechts daher keine Rechtsgrundlage. Anthony Pagden82 hat allerdings darauf hingewiesen, dass Kant auf der anderen Seite angesichts seiner generellen Ablehnung des Widerstandsrechts wenig Bereitschaft zur Anerkennung der Legitimität von Befreiungskriegen erwarten ließe. Pauline Kleingeld vertritt die These, Kant habe seine Ansichten zu Rasse und Kolonialismus im Laufe der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts geändert, was eine Folge seiner geänderten Ansicht über die Menschenrassen sei.83 Ob Kant seine Ansichten über nicht-weiße, besonders über schwarze Menschen „im Innersten“ geändert hat, vermag ich nicht zu sagen. Wenn man allerdings bei seinen Äußerungen zur Rasse von einer Theorie sprechen will, dann geht es ihm um Begriffsbestimmung und Entstehungslehre, wie Adickes zeigt, die rassistischen Diskriminierungen finden eher beiläufig statt. Das macht sie nicht unproblematisch und die negativen Folgen dieser Sätze lassen sich nicht in Abrede stellen. Die doch recht klare Ablehnung des Kolonialismus könnte auch Reflex der konsequenten Anwendung seiner ethischen Prinzipien auf die Rechtslehre sein, bei der es dann weniger schwer fällt, ein paar für ihn wohl eher nebensächliche empirische Annahmen fallen zu lassen. Zu klären bliebe dann, ob Kant in seiner „Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahr 1784 einem Kolonialismus und Imperialismus das Wort redet, wenn er meint, dass „unser Welttheil...wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird“.84 Dies muss keine Forderung nach Kolonisierung sein, es kann sich auch schlicht um eine Prognose über die faktisch fortschreitende Kolonisierung angesichts des europäischen Expansionsdranges handeln. Diese Kolonisierung wird nicht verurteilt, so viel ist richtig, aber auch nicht ausdrücklich begrüßt. Bei sehr wohlwollender Lesart könnte man die zitierte Äußerung auch in die generelle Interpretation von Kants Verständnis des positiven Rechts mittels des sog. Erlaubnisgesetzes einordnen, wonach ein zunächst gewalttätig hergestellter Rechtszustand ein Übergangszustand ist, allerdings eine notwendige Voraussetzung für das allmähliche Herausbilden eines gerechten Zustandes.85 Kant geht in so einer Deutung von einer allmählichen Verbesserung unserer Gesetze aus, den eben zitierten Satz würde man als globalisierte Version verstehen, die teleologisch natürlich auch zur Anerkennung aller Mitglieder anderer Kontinente als Staatsbürger führen müsste.

82  Anthony Pagden, The Law of Continuitiy: Conquest of Settlement within the Limits of Kant’s International Right, in: Katrin Flikschuh; Lea Ypi (eds.), Kant and Colonialism. Historical and Critical Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2014, 40 f. 83  Pauline Kleingeld (wie Fn. 35), 46 – 58. 84  Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA VIII 29. 85  Über das Für und Wider dieser Deutung vgl. Matthias Kaufmann, Was erlaubt das Erlaubnisgesetz und wozu braucht es Kant? In: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), 195 – 219.

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Es bliebe dabei, dass auch diese Sicht die europäische Arroganz widerspiegelt, den Glauben man müsse der Welt Vernunft und Recht beibringen, eine Arroganz, die man Kant verschiedentlich nachsagt, weil er angeblich wisse, was „die Vernunft“ denkt und will. Die Erkenntnisse der reinen Vernunft allein durch angestrengte Introspektion ermitteln zu wollen, dürfte heute als unbrauchbare Methode angesehen werden und impliziert ein erhebliches Maß an Eurozentrismus oder gar Provinzialismus. Seyla Benhabib unterscheidet daher einen substitutiven, die eigene Vernunft unterstellenden, von einem dialogischen, alle Beteiligten einbeziehenden Universalismus.86 Wie Kant in diesem Spektrum einzuordnen ist, kann und muss hier nicht geklärt werden, allemal handelt es sich um ein anderes Problem als das der Rasse. Zugegebenermaßen bekommt Kant ein theoretisches Problem, wenn er die Äußerung aus den Collegentwürfen, „Amerikaner und Neger“ könnten sich nicht selbst regieren, theoretisch ernst nehmen sollte. Zwar bedeutet dies zunächst „nur“, dass sie nicht Staatsbürger im vollen Sinn werden und sich nicht an der Gesetzgebung beteiligen können, was sie mit Frauen und Nicht-Selbständigen gemeinsam haben und was keineswegs einen Sklavenstatus impliziert. Wenn man aber seine heftige Ablehnung des auf der Theorie der terra nullius basierenden europäischen Kolonialismus im dritten Definitivartikel der Friedensschrift,87 generell eines jeden Kolonialismus ernst und die im zweiten Definitivartikel erhobene Forderung nach einem Föderalismus freier Republiken hinzunimmt, würde mit dieser rassistischen Prämisse fraglich, wie die freien Staaten Afrikas regiert werden sollten. Von den beiden Optionen, entweder anzunehmen, Kant plädiere doch für eine Art des Kolonialismus, nur mit anderer Rechtfertigung, bei der allerdings nicht klar ist, wie sie aussehen könnte, oder diesen extremen handschriftlichen Satz als eine Art „Lapsus“ einzuordnen, scheint die zweite auch deshalb plausibler, weil in der bereits mehrfach erwähnten „Physischen Geographie“ durchaus einige anerkennende Äußerungen über afrikanische Völker und ferner kurze Bezugnahmen auf deren politische Organisation zu finden sind.88 Sei es, dass die Hottentotten „viel natürlichen Witz und viel Geschicklichkeit in Ausarbeitung mancher Sachen, die zu ihrem Geräte gehören [haben]; ... ehrlich und sehr keusch, auch gastfrey“ sind, auch wenn sie sich und ihre Kinder mit Kuhmist „salben“,89 sei es dass der Kaiser von Monomotapa über viele Unterkönige herrscht.90 Mögen diese – exzerpierten – Ausführungen nach heutigen Maßstäben auch naiv bis kurios erscheinen und mag 86  Seyla Benhabib, The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Global Era, Princeton: Princeton University Press 2002, 14. 87  Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII 358: „Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Cap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts.“ 88  Immanuel Kant, Physische Geographie, AA IX, 407  – 420, Ms. Holstein AA XXV.1 263 – 288. 89  Immanuel Kant, Physische Geographie, Ms. Holstein AA XXV.1 265 f. 90  Immanuel Kant, Physische Geographie, Ms. Holstein AA XXV.1 271.

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es auch in diesen Texten immer wieder rassistische Passagen geben, so sind sie doch differenzierter als die zwei bis drei extrem diskriminierenden, handschriftlich fixierten Thesen, nach denen solche Berichte nicht möglich wären. Versklavung aufgrund der Hautfarbe ist für Kant indessen nicht zu rechtfertigen, auch wenn er sie in den genannten Vorlesungen zu wenig kritisiert. Mit der einige Jahrhunderte lang immer wieder herangezogenen „theologischen“ Rechtfertigung, wonach die schwarzen Menschen die Nachkommen des von Noah verfluchten Ham seien und daher den Nachkommen der anderen Söhne zu dienen hätten,91 kann Kant herzlich wenig anfangen. Man könne „keinen Grund anführen, warum die schwarze Farbe in einer vorzüglichern Weise das Zeichen des Fluchs sein solle als die weiße“.92 Kant streitet auch niemandem wegen dessen Hautfarbe den Personenstatus oder gar das Menschsein ab, wie Mills behauptet und Bernasconi unter der Kautele, dies sei „extremely speculative“93 vermutet. Dies werde ich gleich zu zeigen versuchen. 3. Ein exklusiver Personbegriff? Der Irrtum, der dazu führt Kant einen Personbegriff mit derart hohem Exklusionspotential zuzuschreiben, besteht m.E. darin, Kant eine quasi angelsächsische-empiristische Konzeption der Person zu unterstellen, die sich an den aktualen Fähigkeiten der Betroffenen orientiert, statt einer solchen, die den Menschen als Gattungswesen versteht und von den individuell realisierbaren Kompetenzen absieht. Kant bewegt sich, wie Theo Kobusch ausführlich gezeigt hat, in der Tradi­tion des wohl im 13. Jahrhundert entstandenen Konzepts des ens morale, da der Mensch als Person von den Naturdingen, aber auch den bloßen Vernunftfähigen nochmals unterschieden wird.94 Die Bestimmung des Menschen als Verbindung aus einem Naturwesen, einem Vernunftwesen und einem der Moral fähigen Wesen kam vermutlich aus der stoischen Einteilung der Philosophie in Naturphilosophie, Logik und Moralphilosophie über Augustinus ins Mittelalter, wo sie in Analogie zur Christologie bei Alexander von Hales zu einer eigenen Ontologie menschlicher Eigenschaften wurde,95 die Jahrhunderte später nach einigen Umwegen bei Kant in der oben zitierten Passage aus der Religionsschrift aufgegriffen wird. Bei Kant nimmt die Rede von der Person insofern eine neue Wendung, als die Anerkennung der Würde in Ansehung der Moralität und Freiheit des Menschen, die es durchaus 91  Stephen Heynes, Noah’s Curse. The Biblical Justification of American Slavery, Oxford: Oxford University Press 2007. 92  Immanuel Kant, Physische Geographie, AA IX 313, Ms Holstein AA XXVI.1 89. 93  Robert Bernasconi (wie Fn. 37), 152. 94  Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, 129 – 157. 95  Ebd., 23 – 30.

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seit dem Mittelalter gibt, sich nicht nur auf die gesellschaftlich geschuldete Achtung bezieht, sondern absolut und unabhängig von den Kontingenzen der natürlichen Person gilt.96 Wenn Kant in der genannten Passage aus der Religionsschrift die „Persönlichkeit“ einem „der Zurechnung fähigen Wesen“ zuschreibt, so bedeutet dies nicht, dass diejenigen Menschen, welche aus kontingenten Gründen nicht der Zurechnung fähig sind, keine Würde und keinen absoluten Anspruch auf Achtung dieser Würde hätten. Es ist seit Jahrhunderten üblich, die subjektiven Rechte an der Gattungszugehörigkeit, die rechtliche Verantwortung hingegen an der faktischen Zurechnungsfähigkeit festzumachen. Zwei Beispiele aus verschiedenen Epochen: Luis de Molina spricht geistig Behinderten und Kindern vor dem Vernunftgebrauch (amentes & pueri ante usum rationis) zu, Eigentum (dominium) haben zu können, weil das dominium seinen Sinne darin besitze, dass jemand gemäß seiner Natur die Dinge nach dem freien Willen benutzen kann, auch wenn er am Gebrauch dieses freien Willens gehindert sein sollte: andernfalls würde jemand schon dadurch, dass er schläft, die Herrschaft über das Seine verlieren.97 Doch können ebendiese amentes et pueri nicht für etwaige Missetaten verantwortlich gemacht werden, da sie sich zwar frei entscheiden können, jedoch nicht schuldfähig sind, weil ihnen die moralische Einsichtsfähigkeit fehlt, um ihnen Verdienst oder Schuld zuzurechnen.98 Jahrhunderte später sind für Rudolf von Jhering Rechte „rechtlich geschützte Interessen“, nicht an den individuellen Willen geknüpft.99 Ein wesentliches Argument für diese Sichtweise sind die Rechte der „Kinder und Wahnsinnigen“, deren Ansprüche als Argument gegen eine Willenstheorie der Rechte geltend gemacht werden.100 Dass etwa Neugeborene ein Recht auf Leben haben, obwohl sie es nicht wählen können, bringt im 20. Jahrhundert H.L.A.Hart, der gewöhnlich als Vertreter der sog. choice-theoryof rights gilt, an dieser Stelle zu Differenzierungen.101 Es gibt jedoch – durchaus in diesem Kontext – auch direkte Hinweise darauf, dass Kant die Personalität nicht an den aktualen Fähigkeiten eines Menschen festmacht, wenn es nämlich um die Personalität von Embryonen und Kleinkindern geht:   Ebd., 138.   Luis de Molina, (wie Fn. 72) Tract. II disp. 18.3, Molina 2019, 346 f.: Dominium namque in potentiis fundatur, hoc est, in eo, quod secundum se & naturam suam natus quis sit uti rebus per liberum arbitrium, licet arbitrium ipsum, quoad usum sit impeditum: alioquin eo ipso quod quis dormiret, amitteret dominium suarum rerum. 98  Luis de Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione concordia (1588), krit. Ed. Johannes Rabeneck S.J., Oña / Madrid: 1953, I 2 15. 99  Rudolf von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3. Teil 1. Abteilung § 60, 2. Aufl. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1865, 317. 100  Ebd. 311. 101  H.L.A. Hart, Essays on Bentham: studies in jurisprudence and political theory, Oxford: Clarendon 1982, 162 – 194; 189. 96 97

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Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: So ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch nothwendige Idee, den Act der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche That auf den Eltern nun eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.102

Die Verbindlichkeit gegenüber einem Wesen und damit umgekehrt dessen Anspruch auf Versorgung wird demnach nicht an dessen aktualen Fähigkeiten festgemacht. Dass Kant die Fähigkeiten von Nicht-Weißen unter die von Embryonen stellen und ihnen damit den Personenstatus aberkennen könnte, dürfte nach dem eben Gezeigten ebenso unplausibel sein, wie dass nur Weiße Personen zeugen können. Teile der (angelsächsischen) Debatte um den Personenbegriff leiden möglicherweise darunter, dass Autorinnen und Autoren sich – wie Peter Singer dies explizit tut – an der Definition orientieren, die Locke im § 9 des Kap. XXVII des zweiten Buches seines Essay Concerning Human Understanding gibt, die jedoch gerade die Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit und nicht die Rechte thematisiert.103 Ich habe zu zeigen versucht, dass man mit einem solchen Vorgehen Kants Haltung gegenüber vielen angeblich durch seinen Personenbegriff ausgeschlossenen menschlichen Wesen fehldeutet. III. Wie wollen wir Kants Ethik und Rechtslehre deuten? Daran, dass Kant sich extrem rassistisch äußert, gibt es wenig zu deuteln. Im Unterschied zu seinem Sexismus ist dies auch nicht das schlichte Hinnehmen des sozial Gegebenen – was freilich auch keineswegs unausweichlich gewesen wäre. Kant hatte ohne Weiteres die Möglichkeit, die theoretischen Mängel seiner Rassenlehre – wenn man denn von einer Lehre sprechen möchte – zu erkennen, warum er sich anders entschied, wird sich evtl. durch biographische Forschungen und psychologische Spekulation (evtl. durch die Sorge, für provinziell gehalten zu werden) ermitteln lassen. Ich habe zu zeigen versucht, dass die rassistischen Thesen systematisch eher zu Ideosynkrasien führen, als dass sie sich sinnvoll in Kants Ethik und Rechtslehre einfügen ließen. Dies gilt jedenfalls, solange man nicht unterstellt, Kant habe seine gesamte Theorie nur zum Zwecke der Diskriminierung geschaffen, denn nur dann wären die Annahme, dass Personen gleich sind und der Ausschluss eines wesentlichen Teils der Menschheit vom Kreis der Personen miteinander vereinbar, nachdem seit dem 17. Jahrhundert immer wieder die Gleich  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 28, AA VI, 280 f.   John Locke, Essay Concerning Human Understanding, Buch II, Kap. XXVII § 9 „Meines Erachtens bezeichnet dieses Wort [Person, M.K.] ein denkendes, intelligentes Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich als sich selbst erfassen kann, d.h. als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt.“ 102 103

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heit der Menschen vor dem Gesetz betont wurde. Kant war allerdings offenbar bei Gender- und Rassefragen nicht in der Lage, die rationale Konsequenz aus seiner systematischen Theorie auch im eher pragmatischen Bereich zu ziehen. Bernard Boxills These, die rassistischen Thesen seien durch Kants Geschichtsteleologie bedingt,104 scheint auch deshalb fraglich, weil die teleologischen Ansätze innerhalb des Kantischen Werks nicht unerheblich variieren,105 so wie Kant generell in relativ kurzer Zeit verschiedene seiner Positionen änderte.106 Ferner ist die Trennung zwischen einer theoretischen Position und individuellen Besonderheiten, vielleicht auch Unzulänglichkeiten ihrer Erschaffer nicht nur in der Physik oder der formalen Logik der Normalfall. Z. B. sind die Diskussionen um Freges und Russels Beiträge zur Diskussion um die entstehende Prädikatenlogik, Fragen der Referenz, der Kennzeichnung, des Umgangs mit drohenden Antinomien, völlig unabhängig davon, dass der eine nationalistische und antisemitische Tagebucheinträge verfasste, während der andere den Kriegsdienst verweigerte und sich für das Frauenwahlrecht einsetzte. Die materiale Wertethik wird nicht dadurch wertlos, dass ihr Verfasser Max Scheler einen Bordellbesuch mit dem Satz kommentierte, ein Wegweiser gehe eben nicht den Weg, den er zeige. Selbst wenn Kant bei der Formulierung des kategorischen Imperativs in seinen verschiedenen Formen nur an weiße Männer gedacht haben sollte, wäre dies daher für uns kein Grund, diese Formeln anders als egalitär zu verstehen. Im Gegenteil: Will man verstehen, warum sexuelle, rassische und andere Diskriminierung ungerecht und moralisch zu verurteilen ist, nicht etwa nur etwas, das den Betroffenen missfällt, so bedarf es einer Ethik, die Menschen als gleich ansieht, solange keine moralisch relevanten Unterschiede in Bezug auf ihre Fähigkeiten und ihre Bedürfnisse erkennbar sind, die sie als mögliche Quelle vernünftiger Argumente, als Träger berechtigter Interessen ansieht. Einen Versuch, vielleicht den wichtigsten Versuch, das Prinzip einer solchen Ethik auf den Punkt zu bringen, verdanken wir Immanuel Kant. M.E. gibt es somit gute Argumente für Robert Loudens These einer Trennung zwischen persönlichen Ansichten Kants, auch wenn diese sich in Teilen mit theoretischen Ambitionen umgeben, wie die Diskussion mit Forster zeigt, und seiner systematischen Ethik und Rechtslehre. Allerdings ist diese These dahingehend zu modifizieren, dass Kants politische Theorie und damit z.T. auch die Rechtslehre von seinen Vorurteilen in gewissem Rahmen betroffen sind, während die Ethik so 104  Bernard Boxill, Kantian Racism and Kantian Teleology, in: Naomi Zack (ed.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race, Oxford: Oxford University Press 2017, 44 – 53. 105  In der „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ muss ein „philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur ... zu bearbeiten ... als möglich und für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden“ (AA VIII 29). Die Garantie des ewigen Friedens durch die Natur als Daedala rerum erfolgt hingegen wesentlich durch den Handelsgeist hinter dem Rücken der Akteure (AA VIII 360 – 367). 106  Vgl. z. B. Matthias Kaufmann, What is new in Kant’s Theory of War in the Metaphsics of Morals? In: Jahrbuch für Recht und Ethik 2008, 147 – 163.

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weit wie möglich sich von anthropologischen Prämissen frei hält und nur in einigen fragwürdigen Nebensätzen solche Vorurteile erkennen lässt.107 Summary Kant’s ethical theory sees all persons as equally obligated and equally protected as ends in themselves by the categorical imperative and in the Metaphysics of Morals he declares freedom as the only innate right of all men, including the innate equality, but he does not accept women, minors, domestic servants and others as citizens of the state, insisting that this would not diminish their natural equality. While he seems to see these inequalities as politically useful and man-made, there are a number of utterances from different periods of his work that show a clearly racist attitude, supposing a natural hierarchy between the races. Interpreters differ concerning the question whether these utterances are to be seen as personal shortcomings of a great mind, whose ethical (and legal) is still deeply egalitarian, or whether there is a complete racial theory affecting also Kantian ethics which is a theory made only for white men. Whereas Kant does not really show empathy with the victims of colonization and enslavement in his writings, his systematic position in ethics remains egalitarian and his legal and political theory are anti-colonial and in the end not coherent with an acceptance of the enslavement of human beings.

107  Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 423: „Da sieht er nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich der Mensch (so wie die Südsee-Einwohner) sein Talent rosten ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung ... bedacht wäre; allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde ...“ Den Südsee-Einwohnern wird also nicht das Menschsein abgesprochen, wohl aber ein Verstoß gegen das moralische Gebot der Selbstvervollkommnung vorgeworfen.

David Hume – ein Utopist? Jens Kulenkampff

I. Einleitung Denkt man an Hume, der seine eigene Philosophie als gemäßigten Skeptizismus bezeichnet hat, was im Grunde nichts anderes als Beschränkung auf Erfahrung und Zurückhaltung bei kühnen Hypothese bedeutet, käme man schwerlich auf den Gedanken, dass der Hume der politischen Theorie ein Utopist gewesen sein sollte. 1752 aber hat er als zwölftes Stück seiner Political Discourses1 einen Essay mit dem Titel Idea of a Perfect Commonwealth publiziert, der nicht nur in eine moderne Sammlung britischer Utopien aus dem 18. Jahrhundert Eingang gefunden hat,2 sondern offenbar auch von zeitgenössischen Lesern als utopischer Entwurf verstanden worden ist. So stellt Robert Wallace in seinen Various Prospects of Mankind, Nature, and Providence von 1761 die „idea of a perfect commonwealth“ des „ingenious Mr. Hume“ in eine Reihe mit der Politeia von Platon, der Utopia von Thomas Morus und der Oceana von James Harrington.3 Nun heißt es aber in Humes Essay, ehe er seinen eigenen Entwurf präsentiert: „All plans of govern­ ment, which suppose great reformation in the manners of mankind, are plainly imaginary. Of this nature are the Republic of Plato, and the Utopia of Sir Thomas More. The Oceana is the only valuable model of a commenwealth, that has yet been offered to the public.“ (Eassys 514) Hume selbst ordnet sich also nicht den Utopisten zu, hätte aber auch der von Wallace aufgestellten Reihe nicht ohne weiteres zugestimmt. Die Frage stellt sich also, wie Humes eigener Entwurf eines „perfect commonwealth“ einzuschätzen ist. Dafür ist es in einem ersten Schritt nötig, eine Skizze des Inhalts der Idea of a Perfect Commonwealth zu geben.

1 Vgl. die Angaben zum Inhalt der Sammlung in T.E. Jessop: A Bibliography of David Hume and of Scottish Philosophy from Francis Hutcheson to Lord Balfour. London 1938, Reprint New York / London 1983, S. 23. – Zitate aus Humes Essays werden (abgekürzt: Essays u. Seitenzahl) nachgewiesen nach: David Hume: Essays Moral, Political, and Literary, hrsg. v. Eugene F. Miller, Indianapolis ²1985. 2 Vgl. Gregory Claeys (Hrsg.): Utopias of the British Enlightenment. Cambridge 1994. 3  Robert Wallace: Various Prospects of Mankind, Nature, and Providence. London 1761, S. 36 f.

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II. Idea of a Perfect Commonwealth Der Essay lässt sich folgendermaßen gliedern. Auf einleitende Bemerkungen, wozu der Entwurf eines „perfect commonwealth“ dienen kann, folgt die schon zitierte Verwerfung von Staatsentwürfen à la Platon oder Morus und die ausdrückliche Ausnahme von Harrington (Essays 512 – 514). Auf Harringtons Oceana (1656) geht Hume mit drei Einwänden ein, die den Auftakt zu seinem eigenen Entwurf bilden (Essays 515 f.), der dann den Hauptteil der Abhandlung ausmacht (Essays 516 – 522). Es folgen einige „political aphorisms“, mit denen Hume die wesentlichen Elemente seines Entwurfs begründet (Essays 522 – 526), sodann ein Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen seinem Entwurf und der Staatsverfassung der Vereinigten Niederlande als Beweis für eine praktische Umsetzbarkeit der „idea of a perfect commonwealth“ und außerdem Vorschläge für eine Reform des britischen Regierungssystems (Essays 526 – 528). Der allerletzte Absatz (Essays 528 f.) schließt an die Eingangsbemerkungen an. Für ein auf das Wesentliche konzentriertes Referat der Abhandlung ist von Humes anscheinend widersprüchlichen Stellungnahmen zu Harrington auszugehen. Würdigt er die Oceana 1752 als den einzig wertzuschätzenden Entwurf eines „commonwealth“, der bislang der Öffentlichkeit vorgelegt worden sei, so heißt es 1757 im sechsten Band seiner History of England mit Bezug auf Harringtons Schrift: „The idea […] of a perfect and immortal commonwealth will always be found as chimerical as that of a perfect and immortal man.“ Näher betrachtet, liegt hier aber kein Widerspruch vor, denn unmittelbar davor heißt es: „Harrington’s Oceana was well adapted to that age [gemeint ist die Cromwell-Zeit], when the plans of imaginary republics were the daily subjects of debate and conversation; and even in our time it is justly admired as a work of genius and invention.“4 Die Frage ist also: Worin hat Hume den Wert von Harringtons Entwurf gesehen und was hat er daran auszusetzen gehabt? Im Essay von 1752 macht Hume drei Hauptmängel geltend. Erstens hält er die Rotationsregel, die Harrington festsetzt (Vergabe von Wahlämtern nur für ein Jahr bei Ausschluss zumindest einer unmittelbar anschließenden Wiederwahl) für untunlich, weil dadurch talentierte Leute in regelmäßigen Intervallen aus dem öffentlichen Dienst geworfen würden. Zweitens wendet Hume ein, dass Harringtons Regelung des Landbesitzes ihr Ziel nicht erreichen würde. Harrington war der Überzeugung, dass es einen direkt proportionalen Zusammenhang zwischen Landbesitz und politischem Einfluss gebe, und wollte daher, um eine schädliche Machtakkumulation im Staate zu vermeiden, den Landbesitz beschränken. ­Humes Einwand richtet sich nicht gegen Harringtons Annahme eines Zusammenhang zwischen Besitz und Macht, sondern besagt, dass eine gesetzliche Beschränkung des Landbesitzes schon bald (wie schon im antiken Rom) durch das Vorschieben von Strohmännern unterlaufen würde, bis der Missbrauch so allgemein geworden   David Hume: The History of England. Indianapolis 1983. Bd. VI, S. 153.

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sein werde, dass man schließlich sogar die Maske der Scheinbeschränkung fallen lassen werde. Humes dritter Einwand richtet sich gegen das Gesetzgebungsverfahren, das Harrington vorschlägt. Im Staate Oceana gibt es zwei Organe: den Senat und das Volk, mit folgender Rollenverteilung. Der Senat berät und beschließt über die Gesetzesvorlagen, über die dann das Volk abstimmen muss. Dieser Regelung hält Hume entgegen, dass sie nicht „sufficient security for liberty, or the redress of grievances“ (Essays 515) biete. Was er meint, geht daraus hervor, dass er erwägt, was es hieße, diese Regelung auf englische Verhältnisse zu übertragen: Es würde bedeuten, dass der König eine Art vorauseilendes Vetorecht hätte. Denn anstatt sich mit Parlamentsbeschlüssen auseinandersetzen und sich gegebenenfalls mit dem Parlament ins Benehmen setzen zu müssen, könnte der König es von vornherein verhindern, dass Gesetzesvorlagen, die ihm nicht passen, vor das Parlament kommen, was darauf hinausliefe, dass er absoluter Monarch wäre. Im Staate Oceana (so Hume) ist es offensichtlich der Senat, bei dem die ganze Macht der Gesetzgebung liegt, und Harrington selbst würde zugeben, dass das keine gute Regierungsform wäre. Ausführlicher geht Hume auf Harringtons monumentales Werk nicht ein, sondern fährt ziemlich unvermittelt fort: „Here is a form of government, to which I cannot, in theory, discover any considerable objection“ (Essays 516). Ein Grund, warum Hume Harrington, anders als Platon oder Morus, ein Stückweit gelten lässt (obwohl er dessen Staatsentwurf für „chimerical“ gehalten hat),5 dürfte sein, dass es Harrington nicht um ein Land Nirgendwo, sondern ganz konkret um Britannien ging,6 so wie auch Hume seinen Entwurf eines „perfect commonwealth“ auf „Great Britain and Ireland“ oder ein Land gleicher Größe zuschneidet (Essays 516), dessen Hauptstadt London genannt werden soll (Essays 521). Mit andern Worten: Bezugsgegenstand selbst eines spekulativen Staatsentwurfs sollte das Hier und Jetzt sein und weder ein Nirgendwo und Nie-gewesen noch ein unerreichbares Dermaleinst. Vor diesem Hintergrund ist wichtig, was man im Umkehrschluss aus Humes kritischen Einwürfen schließen kann. Dass ein Gemeinwesen zu seiner Verwaltung Kenntnisse, Erfahrung und Talente braucht und diese nicht verschleudern sollte, ist einigermaßen trivial.7 Hume lässt daher Wiederwahl zu, hält aber an der kurzen Wahlperiode von einem Jahr fest. Auch alle höheren Funktionsträger (etwa in Militär und diplomatischem Dienst) müssen jährlich bestätigt werden. Was, zweitens, den Zusammenhang zwischen der Größe des Vermögens und dem politischen Einfluss angeht, steht Hume Harringtons Auffassung nahe, sieht die 5  So auch noch im Brief an seinen Neffen David Hume vom 8. Dezember 1775. Vgl. J.Y.T. Greig (Hrsg.): The Letters of David Hume. Oxford 1932, Nachdruck New York / London 1983. Bd. 2, S. 306 f. 6  Zur Verwendung des Namens ‚Oceana‘ als Bezeichnung für Britannien vgl. S.B. Liljegren S. 227 ff. seiner Ausgabe von James Harrington’s Oceana. Heidelberg 1924. 7  Weniger trivial ist die Frage, wie eine Gesellschaft solche Eliten rekrutiert und verhindert, dass aus Expertentum eine selbstherrliche Bürokratie wird. Dazu hat sich Hume leider nicht geäußert.

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Dinge aber differenzierter: Die Erfahrung gerade Englands zeige, dass es hier keinen Automatismus gibt und dass es durchaus möglich ist, „[to] maintain our free government, during so many centuries, against our sovereigns, who, besides the power and dignity and majesty of the crown, have always been possessed of much more property“ als jeder Untertan (Whether the British Government inclines more to Absolute Monarchy, or to a Republic. Essays 49). Aber das heißt auch, dass einer durch übermäßigen Reichtum bedingten, schädlichen Machtakkumulation etwas entgegengesetzt werden oder de facto entgegenstehen muss, wenn es sich bei einem Staate um ein „free government“ handeln soll. Nur die Maßnahme, die Harrington vorschlägt, hält Hume für unwirksam. Drittens lehnt Hume jede Form von Absolutismus ab. Das politische System muss so beschaffen sein, dass sich weder eine exekutive noch eine legislative Übermacht herausbilden und dem Land ihren Willen aufzwingen kann. Aus dieser Überlegung ergibt sich auch, was hier mit „liberty“ bzw. „free government“ gemeint ist, nämlich eine Staatsverfassung, die einseitige Machtakkumulationen verhindert und es den Staatsorganen möglich macht, auftretende Missstände und negative Entwicklungen in Staat und Gesellschaft zu registrieren und darauf differenziert zu reagieren. Wie das Beispiels Englands lehrt, ist es nicht ausgeschlossen, dass auch eine Monarchie wie die britische ein „free government“ sein kann, folglich ist die Freiheit nicht unbedingt an die Regierungsform der Republik gebunden. Dennoch schreibt sich der Hume hier leitende Begriff der Freiheit von der seit der Renaissance bestehenden, festen begrifflichen Verbindung von ‚Freiheit‘ und ‚Republik‘ her, wonach der ‚Freistaat‘ eine Republik meint, die so verfasst ist, dass Entscheidungen mit Blick auf das Gemeinwohl im Namen und mit Beteiligung des ganzen Gemeinwesens getroffen werden, „which will best determine what agrees with the general interest“ (Essays 525). Es sind diese Ziele, die Hume mit seinem Entwurf erreichen will. Aber sie dürften auch der Grund sein, warum die politische Ordnung, die Hume vorschwebt, ziemlich kompliziert ausgefallen ist. Für einen Staat von der Größe Großbritanniens und Irlands schlägt er eine Gliederung in hundert Grafschaften und die Untergliederung einer jeden Grafschaft in hundert Gemeinden vor. Jede Gemeinde wählt aus der Mitte der Wahlberechtigten (die Wahlberechtigung ist an gewisse Vermögens- oder Einkommensuntergrenzen geknüpft) einen Grafschaftsrepräsentanten. In jeder Grafschaft gibt es also ein repräsentatives Gremium mit hundert Mitgliedern. Jedes Grafschaftsreparlament wählt wiederum aus seiner Mitte zehn Grafschaftsmagistrate und eine weitere Person, die als Mitglied in den Senat entsandt wird, der das oberste exekutive Organ8 des Staates ist und in dem also alle Grafschaften durch ein Mitglied vertreten sind. Die legislative Macht liegt bei den Grafschaftsparlamenten. Diese bilden aber kein vereinigtes nationales Parlament. Die Legislative besteht vielmehr aus hundert Einzelparlamenten, die, da jede Graf8  Der Senat ist aber auch das oberste judikative Organ des Staates. Eine konsequente Gewaltenteilung hat Hume also nicht vorgesehen, obwohl er sich in seinen Schriften des öfteren auf Montesqieu bezieht.

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schaft „a kind of republic within itself“ ist (Essays 520), auch eine Verordnungskompetenz für ihre jeweilige Grafschaft haben. Das Gesetzgebungsverfahren des Staates sieht dann so aus: Der Senat diskutiert und entscheidet über Gesetzesvorlagen und legt diese den Grafschaften vor. Zu einer Zustimmung bzw. Ablehnung kommt es, wenn die Mehrheit der Grafschaften dafür bzw. dagegen stimmt, und die Stimme einer Grafschaft kommt durch das Votum ihres jeweiligen Parlaments zustande. Um den Mangel, den Hume bei Harrington gesehen hat, zu vermeiden, nämlich dass der Senat durch ein ausschließliches Initiativrecht de facto zum absoluten Herrscher wird, kann ein Zehntel der Senatoren verlangen, dass ein im Senat durchgefallener Vorschlag gleichwohl der Legislative unterbreitet wird. Außerdem können die Grafschaften über ihren Senator Gesetzesvorlagen einbringen, und fünf Grafschaften zusammen können bewirken, dass ein Gesetzesvorschlag der Legislative, also allen Grafschaften, zur Abstimmung vorgelegt wird. Hume sieht wohl, dass die so konstruierte Staatsmaschine nur ziemlich schwerfällig agieren kann Aus pragmatischen Gründen hat er daher zwischen die Grafschaftsparlamente und den Senat die Grafschaftsmagistrate eingeführt, die eine Art Ausschuss sind; die Magistraten werden ja von den Grafschaftsrepräsentanten gewählt und bleiben Mitglieder ihres jeweiligen Grafschaftsparlaments. Diesem Ausschuss obliegt es, alle weniger bedeutsamen legislativen Angelegenheiten zu erledigen.9 Auch der Senat ist mit seinen hundert Mitgliedern nicht gerade ein schlankes Exekutivorgan. Deshalb wählt er aus seiner Mitte einen Staatspräsidenten („a protector, who represents the dignity of the commonwealth, and presides in the senate“ (Essays 518)), sowie zwei Staatsekretäre und die Mitglieder von sechs Räten („councils“) mit festgelegten Aufgabenbereichen, also die Minister und ihre Stellvertreter. Der Entwurf umfasst etliche weitere Bestimmungen (z. B. auch für den Fall des Staatsnotstandes) und nähere Angaben zu Befugnissen und Zuständigkeiten der verschiedenen Organe, für die sich Hume öfter an britischen Verhältnissen orientiert, etwa mit der Bestimmung, dass der Senat alle Machtbefugnisse besitzt, die den Prärogativen des britischen Königs mit Ausnahme des Vetorechts entsprechen (Essays 516 f.), oder mit der Maßgabe, dass die Magistrate die Befugnisse der britischen Friedensrichter haben sollen (Essays 520). Für die Kirchen wird eine presbyteriale Verfassung eingeführt, und der Klerus sowie die Universitäten unterstehen der Aufsicht durch das „council of religion and learning“ (Essays 519). Soweit im Grundzug die Verfassung eines „perfect commonwealth“. Es ist auffällig, dass Hume eine Republik konstruiert. Aber der Anspruch ist nicht, nur für die Regierungsform der Republik die Bestform zu bestimmen, sondern mit der „idea of a perfect commonwealth“ zugleich zu bestimmen, welches überhaupt die beste Regierungsform ist oder wäre.10 Dem Republikanismus Humes liegt die 9  In der äußerst kurzen Wahlperiode von einem Jahr hat Hume kein Hindernis für die Arbeitsfähigkeit der Organe gesehen, sondern an dieser Bestimmung ausdrücklich festgehalten, um Machtmissbrauch zu verhindern (vgl. Essays 523).

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Überzeugung zugrunde, dass jede freie Regierungsform aus zwei Gremien („councils“) bestehen muss, einem kleineren exekutiven und einem größeren legislativen Rat, die er in Übereinstimmung mit Harrington als „senate“ bzw. als „people“ bezeichnet. Weiter leiten ihn drei Ziele: Zum einen muss der Staat so geordnet sein, dass eine Machtbalance zwischen Senat und Volk herrscht. Aus diesem Grund müssen die Exekutive und die Legislative in regelmäßigen Abständen aus Wahlen hervorgehen. Wenn ferner alle Landesteile in der Exekutive gleichmäßig vertreten sein sollen, muss die Exekutive ein Mehrpersonengremium sein. Daher scheiden sowohl eine erbliche als auch eine Wahlmonarchie sowie eine erbliche Adelsherrschaft aus, und es kommt nur eine Republik als Regierungsform in Frage. Humes zweites Ziel ist es, die Entscheidungsfindung am Gemeinwohl zu orientieren und so zu organisieren, dass Privatinteressen neutralisiert werden, aber auch Weltanschauungen (Religionen, Ideologien) möglichst keine Rolle spielen und statt dessen möglichst viel Sachkompetenz in den Gremien vorhanden ist. Da Hume die Einschätzung von Kardinal de Retz teilt, dass zahlenmäßig große Versammlungen ein bloßer Mob seien und von niedrigen Beweggründen hin und her gerissen würden, ist er auf den Gedanken verfallen, die Legislative als die Summe der Grafschaftsparlamente zu konstruieren (Essays 523). Humes drittes Ziel ist es, die Spaltung der Gremien in Parteiungen möglichst zu verhindern. Dazu hat er sich unter anderem eine ungewöhnliche Institution einfallen lassen, die er „court of competitors“ nennt. Diesem Hof der Mitbewerber sollen die bei einem knappen Ausgang der Wahl der Senatoren unterlegenen Bewerber mit der nächstniedrigeren Stimmenzahl angehören. Der Hof der Mitbewerber hat zwar keine exekutiven Befugnisse, kann aber öffentliche Kassen prüfen, kann Leute vor dem Senat anklagen und unter Umständen an die Legislative appellieren oder die Bildung eines ad-hocGerichts verlangen und er kann Gesetzesinitiativen beim Senat ergreifen. Auf diese Weise sollen die Interessen, die die unterlegenen Mitbewerber vertreten, gehört und berücksichtigt werden, ohne dass die Interessenunterschiede in den Entscheidungsgremien selbst zu lähmenden Spaltungen führen (Essays 519 f., 525). Auf weitere Details des Entwurfs einer vollkommenen Republik einzugehen, erübrigt sich; ebenso die Frage, ob die Ordnung, die Hume sich vorstellt, wirklich praktikabel und geeignet ist, ein „free government“ zu etablieren und zu erhalten. Zu fragen ist aber, wie eindeutig sein Republikanismus eigentlich ist. Hume ist kein radikaler Antiroyalist gewesen. Des öfteren hat er die gemischte britische Verfassung gegenüber den Verfassungen anderer europäischer Staaten gelobt. Und am Ende seines Entwurfs eines „perfect commonwealth“ macht er Vorschläge, wie das britische Regierungssystem dem Modell einer möglichst vollkommenen „limited monarchy“ angenähert werden könnte (Essys 526). Aber er hält es nicht für völlig ausgeschlossen, dass einmal Entwicklungen eintreten, die das englische Regierungssystem aus der Balance geraten und (nicht zuletzt begünstigt durch 10  Dass der Ausdruck „commonwealth“ hier tatsächlich ‚Republik‘ bedeutet, geht auch etwa aus dem Satz hervor: „Every county is a kind of republic in itself.“ (Essays 520) ‚Common­ wealth‘ im Sinne von ‚Republik‘ ist der aus der Cromwell-Zeit übernommene Sprachgebrauch.

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den enormen Reichtum der Krone) zur absoluten Monarchie entarten lassen. In dem Essay Whether the British Government inclines more to Absolute Monarchy, or to a Republic spielt er die Möglichkeiten einer fundamentalen Änderung der Machtverhältnisse durch, auch wenn er meint, dass nichts dergleichen zu seiner Zeit zu befürchten stand.11 Aber, so Hume, nichts ist ewig; auch Staatsverfassungen und Regierungsformen werden sterben. Er stellt sich daher die Frage, welcher Tod der britischen Verfassung vorzuziehen sei: ihr Untergang in einer Volksherrschaft („popular government“) oder in einer absoluten Monarchie? Und er votiert („though liberty be preferable to slavery, in almost every case“ – Essays 52) gegen die Republik, gegen die Volksherrschaft (deren Schreckbild ist ihm die Comwell-Zeit) und für die absolute Monarchie! Mit andern Worten: Die gemischte britische Regierungsform ist gut, solange sie vom Volk getragen wird und die Machtbalance Bestand hat. Eine absolute Monarchie dagegen ist schlecht. Aber noch schlechter ist ein „popular government“ à la Cromwell. Wie passt diese Stellungnahme zum Entwurf einer vollkommenen Republik? Hier ist eine Unterscheidung zu beachten, die Hume eher en passant trifft. Bei der Frage, ob im Falle einer Degeneration des britischen Regierungssystems eher eine absolute Monarchie als eine Republik zu wünschen sei, gehe es darum, „which kind of republic“ zu erwarten sei und nicht um „any fine imaginary republic, of which a man may form a plan in his closet. There is no doubt, but a popular governement may be imagined more perefect than absolute monarchy“ (Essays 52). Mit andern Worten: Der Hume der politischen Theorie ist entschiedener Vertreter eines Republikanismus; wenn es dagegen um Fragen der Zukunft eines konkreten Staates geht, kommt der Kenner der Vergangenheit und Beobachter der gegenwärtigen Verhältnisse zu Wort und erwägt, was – rebus sic stantibus – zu erwarten und was von den konkreten Möglichkeiten die bessere wäre. Dabei entspricht der zweite Ansatz dem, was Hume in dem früheren Aufsatz That Politics may be reduced to a Science (Essays 14 ff.) unter einer Wissenschaft von der Politik versteht, nämlich dass es möglich ist, aus Analyse und Vergleich historischer sowohl als auch gegenwärtiger Fälle generelle Wahrheiten oder universelle Prinzipien abzuleiten (Essays 18). Mit anderen Worten: Die Erfahrung spricht dafür, dass eine absolute Monarchie, für die es in Europa Beispiele gibt, gegenüber einer Republik, für die es in der jüngeren britischen Vergangenheit ein Beispiel gab, das kleinere Übel wäre. Und so ließen sich der Hume der politischen Theorie und der Hume einer empirischen Wissenschaft von der Politik miteinander in Einklang bringen. Umso mehr fragt es sich dann aber, was Sinn und Zweck eines im Kämmerlein des Theoretikers geborenen Entwurfs eines „perfect commonewaelth“ sein soll. Handelt es sich um ein bloßes Gedankenspiel? Oder war Hume doch ein Utopist, als er den Essay Idea of a Perfect Commonwealth verfasste?

11  Hume ist 1776 gestorben, hat also das Jahr 1789 und damit nicht mehr erlebt, wie unvorhergesehen und plötzlich es zu radikalen Veränderungen kommen kann.

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III. David Hume – ein Utopist? Natürlich ist die Einordnung einer staatstheoretischen Abhandlung als Utopie davon abhängig, was unter einem utopischen Staats- und Gesellschaftsentwurf zu verstehen ist. Da für die Neuzeit die Utopia von Thomas Morus zweifellos das Musterbeispiel ist, lassen sich an ihr einige Merkmale ablesen. Das Buch kündigt im Titel an, dass „de optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia“ gehandelt werde, was im allgemeinen so verstanden wurde und wird, dass von der neu entdeckten Insel Utopia und dem dort gegebenen besten Staats- und Gesellschaftszustand berichtet wird. Und weil der Titel auch gleich zu verstehen gibt, dass es die Insel Utopia nicht gibt, wird die Beschreibung der dort herrschenden Zustände dem Autor Thomas Morus zugeschrieben, der, ausgehend von mannigfachen, zu seiner Zeit herrschenden Missständen, einen idealen, eben den besten Staats- und Gesellschaftszustand entwirft. Folgende Elemente einer politischen Utopie lassen sich daraus ableiten: Erstens ist der entworfene Staats- und Gesellschaftszustand nicht nur besser als der bestehende, sondern er ist der beste Zustand, und zwar insofern, als durch die dort herrschenden Regelungen dafür gesorgt ist, dass nicht nur die aus Geschichte und Gegenwart bekannten Missstände abgestellt sind, sondern dass Missstände gar nicht erst auftreten können. Zweitens meint es der Verfasser des Entwurfs eines idealen Staats- und Gesellschaftszustande ernst; er ist wirklich der Überzeugung, dass ein solcher Bestzustand von Staat und Gesellschaft möglich ist. Dabei mag er einsehen, dass der Bestzustand – angesichts der gewaltigen Veränderungen, die eine Verwirklichung des Entwurfs verlangt – nicht im revolutionären Sprung erreicht werden kann. Aber er glaubt, dass sein Entwurf ein Ziel formuliert, auf das eine Politik, die das Wohl der Menschen im Auge hat, auch tatsächlich hinarbeiten muss.12 An diesem Modell gemessen, scheint Humes Idea of a Perfect Commonwealth eher keine politische Utopie zu sein. Aber so ganz eindeutig ist die Sache nicht. Hume selbst hat zu dieser Frage mit den einleitenden Bemerkungen zu seinem Essay folgendermaßen Stellung genommen: „It is not with forms of government, as with other artificial contrivances, where an old engine may be rejected, if we can discover another more accurate and commodious, or where trials may safely be made, even though the success be doubtful. An established government has an infinite advantage, by the very circumstance of its being established; the bulk of mankind being governed by authority, not reason [… To] try experiments merely 12  Diese Lesart der Utopia ist allerdings ein hartnäckiges Missverständnis. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Schrift als ein Plädoyer für pragmatische Politik, die – unter Berücksichtigung der bestehenden Machtverhältnisse – auf mögliche Verbesserungen der Zustände durch Reformen abzielt, aber keineswegs darauf aus ist, die teilweise nachgerade grotesken und überdies fundamentalen Wesenszügen des Menschen widersprechenden Verhältnisse herbeizuführen, die auf der Insel Utopia herrschen. Recht verstanden, ist die Utopia von Thomas Morus das genaue Gegenteil des Entwurfs einer idealen Staats- und Gesellschaftsordnung. Vgl. Jens Kulenkampff: Alles zum Besten bestellt? In: Zeitschrift für philosophische Forschung Bd. 72 / 2018, Heft 3, S. 343 – 356.

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upon the credit of supposed argument and philosophy, can never be the part of a wise magistrate, who will bear reverence to what carries the marks of age; and though he may attempt some improvements for the public good, yet will adjust his innovations, as much as possible, to the ancient fabric, and preserve entire the chief pillars and supporters of the constitution.“ (Essays 512 f.) Und weiter: „All plans of government, which suppose great reformation in the manners of mankind, are plainly imaginary.“ (Essays 514). Das klingt nach einem Plädoyer für eine pragmatische Reformpolitik im Rahmen der gegebenen Verfassung und nach Ablehnung eines jeden Versuchs, den am Reißbrett des Philosophen entworfenen, vollkommenen Staat zum Gegenstand weiser Politik zu machen. Aber was lehnt Hume hier genau ab: nur den unverantwortlich gefährlichen Versuch einer revolutionären Umsetzung oder auch den philosophischen Staatsentwurf selbst? Im selben Zusammenhang heißt es nämlich auch: „As one form of government must be allowed more perfect than another, independent of the manners and humours of particular men; why may we not enquire what is the most perfect of all, though the common botched and inaccurate governments seem to serve the purposes of society, and though it be not so easy to establish a new system of government, as to build a vessel upon a new construction? The subject is surely the most worthy curiousity of any the wit of man can possibly devise. And who knows, if this controversy were fixed by the universal consent of the wise and learned, but, in some future age, an opportunity might be afforded of reducing the theory to prectice, either by a dissolution of some old government, or by the combination of men to form a new one, in some distant part of the world? In all cases, it must be advantagious to know what is most perfect in this kind that we may be able to bring any real constitution or form of government as near it as possible, by such gentle alterations and innovations as may not give too great disturbance to society.“ (Essays 513 f.) Mit andern Worten: Nicht nur für die Einführung einer neuen Verfassung, auch für die Reform einer bestehenden Verfassung braucht man als Richtschnur die Kenntnis der besten Staatsverfassung. Um Hume, der es abgelehnt hätte, als Utopist eingestuft und mit Platon und Morus in eine Reihe gestellt zu werden, gerecht zu werden, muss hier ein Unterschied stärker betont werden, als er selbst es tut. Maßnahmen, die auf die Beseitigung von Missständen oder auf Verbesserungen der Lebensbedingungen der Bevölkerung zielen, müssen die Staatsverfassung natürlich gar nicht berühren und brauchen zu ihrer Begründung auch kein Argument des Philosophen und keine ideale Zielvorgabe; ihr Ziel ergibt sich aus dem jeweiligen Missstand selbst. Nur dann also, wenn es um die Staatsverfassung geht, muss man wissen, welches die beste Regierungsform ist. Und da diese schwerlich in Geschichte und Gegenwart aufzufinden ist, kommt an dieser Stelle der philosophische Theoretiker zu seinem Recht, der die „idea of a perfect commonwealth“ bestimmt hat.13 Und so gesehen 13  Es dürfte kein Zufall, wenngleich von Hume selbst gar nicht bemerkt worden sein, dass der Gebrauch des Wortes ‚idea‘ in diesem Zusammenhang einen platonisierenden Klang und

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ist die „idea of a perfect commonwealth“ doch ein, man möchte sagen, moderat utopischer Entwurf: Zwar nicht eine so radikal andere Staats- und Gesellschaftsordnung wie die Entwürfe von Platon oder Thomas Morus, die ohne eine „great reformation of the manners of mankind“ nicht zu haben und deshalb „plainly imaginary“ sind, aber doch die Beschreibung der besten Staatsverfassung, von der ihr Autor nicht nur meint, dass sie praktikabel ist, sondern auch glaubt, dass sie in drei Fällen die Zielvorgabe richtigen politischen Handelns sein sollte, von denen der eine Fall klar bestimmt und Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus reale Möglichkeit war (nämlich die Neugründung eines Staates irgendwo in fernen Weltgegenden), während der zweite Fall nur abstrakt als die nicht auszuschließende Möglichkeit beschrieben wird, dass sich irgendwann einmal die Gelegenheit bietet „of reducing the theory to practice“, und von denen der dritte Fall der nicht weiter bestimmte Fall der Reform einer bestehenden Verfassung ist (Essays 513 f.). In allen wichtigen Hinsichten entspricht Humes „idea of a perfect commonwealth“ also den an der Utopia abgelesenen Kriterien für eine politische Utopie, auch wenn sein Entwurf keine „great reformation in the manners of mankind“ voraussetzen mag. Aber ob moderat oder nicht, als Utopie ist Humes Entwurf nicht anders einzuschätzen als alle anderen Entwürfe einer angeblich besten Staats- und Gesellschaftsordnung: Ihr Schicksal ist, dass sich die Realität des historisch-politischen Wandels um sie nicht kümmert. In all den vielen, seit Ende des 18. Jahrhunderts vorgekommenen Fällen von Staatsgründungen oder Neugründungen oder neuen Verfassungen ist die Orientierung an bewährten, existierenden Ordnungen, ferner die Erfahrung mit gegebenen oder gerade vergangenen Verhältnissen, aus denen sich zumindest ableitet, wie das Staatswesen nicht verfasst sein soll, ferner auch die Übernahme früherer, nicht in Misskredit geratener Bestimmungen sowie ein Interessenausgleich für die Entscheidung über eine neue Verfassung oder eine Verfassungsreform maßgeblich gewesen und nicht das Idealbild der besten Staatsverfassung überhaupt. Natürlich will man es, den guten Willen vorausgesetzt, unter den jeweils gegebenen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen immer so gut wie möglich machen und eine möglichst dauerhafte Einrichtung schaffen. Denn alle Verfassungen zielen ihrem Sinn und Selbstverständnis nach auf Ewigkeit. Aber, wie Hume ja völlig richtig sah, ist auch in diesem Felde nichts ewig. Daher regeln kluge Verfassungen sogar noch das Verfahren einer verfassungsgemäßen Änderung der Verfassung (wenn auch möglicherweise mit Ausnahme bestimmter Teile, die nicht verfassungsgemäß geändert werden können, wie das GG mit der berühmten Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3). Für Anpassungen und Änderungen, aber auch für gänzlich neue Verfassungen spielt die Idee einer vollkommenen Staats- und Gesellschaftsordnung keine Rolle, wenn es denn überhaupt möglich und nicht schon an sich ein hybrides Unterfangen ist, zu bestimmen, welches die beste Staats- und Gesellschaftsordnung wäre. Von einem gemäßigten Skeptiker

gar nichts mit dem Begriff der Idee (als Replikat sinnlicher Eindrücke) zu tun hat, der in Humes Erkenntnistheorie eine so zentrale Rolle spielt.

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wie Hume hätte man eine ähnliche Einschätzung und Verwerfung utopischer Entwürfe erwartet. Nun kann man Hume Kenntnisse aus historischer Erfahrung nicht vorhalten, die wir haben und die er nicht hatte. Das Erstaunliche ist jedoch, dass er selbst es eigentlich besser wusste, als es scheint, wenn er behauptet, es müsse in jedem Fall, wenn es um die Verfassung geht, von Vorteil sein, zu wissen, was das beste Regierungssystem ist. Denn wenn er selbst erwägt, was für den Fall eines Untergangs des bestehenden britischen Regierungssystems zu hoffen sei, bricht er ja keineswegs eine Lanze für ein „perfect commonwealth“, sondern setzt – im Lichte der schlechten Erfahrung mit der Cromwell-Zeit – seine Hoffnung auf das von zwei Übeln weniger große Übel, nämlich auf eine absolute Monarchie. Und wenn er am Ende seines Entwurfs eines „perfect commonwealth“ Reformvorschläge für Großbritannien macht, zielen diese keineswegs (und sei es auch nur als Richtschnur einer vorsichtigen Reformpolitik) auf eine vollkommene Republik, sondern auf eine Annäherung des Gegebenen an eine möglichst vollkommene „limited monarchy“ (Essays 526). Vielleicht ist Hume selbst nicht so ganz wohl bei seinem Unternehmen gewesen, denn er schreibt: „All I pretend in the present essay is to revive this subject of speculation; and therefore I shall deliver my sentiments in as few words as possible. A long dissertation on that head would not, I apprehend, be very acceptable to the public, who will be apt to regard such disquisitions both as useless and chimerical.“ (Essays 514) Und doch hat Hume einen Punkt, den zu exponieren es freilich auch nicht mehr als eines Essays und keiner länglichen „disquisition“ bedurft hätte, nämlich Kriterien für eine gute Verfassung: Eine gute Verfassung sollte mindestens für zwei Dinge sorgen, nämlich zum einen garantieren, dass sich auf verfassungsmäßigem Wege keine Diktatur etablieren kann, und zum andern, dass es sich um ein „free government“ handelt, das heißt um ein politisches System, das auf geregelte Weise mit Blick auf das Gemeinwohl auf gesellschaftliche Veränderungen und insbesondere auf Missstände reagieren kann. Damit hat Hume zweifellos recht, auch wenn wir heute, wiederum aufgrund historischer Erfahrung, von einer guten Verfassung erheblich mehr verlangen als die Erfüllung der genannten beiden Kriterien. Summary The question is whether Hume’s essay Idea of a Perfect Commonwealth should be regarded as a piece of utopian political theory or not. Hume himself seems to be ambiguous on this point. On the one hand he seems to plea for a policy of gentle reform whenever necessary. On the other hand he declares knowledge of the most perfect constitution as a guideline for introducing new constitutions as well as for improving on existing ones. On closer inspection, Hume’s Idea of a Perfect Commonwealth indeed turns out as a moderately utopian sketch of a perfect state which its author proposes as a guideline for politics. Yet, when taken seriously, Hume’s idea of a perfect commonwealth surely would suffer the same fate as any political

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utopias: political reality doesn’t care about them. Actually, Hume himself – from his own point of view as a historian and as an analyst of his age – should, and could, have known better, as some textual hints sufficiently prove.

Warum musste Kant 1784 die Grundlegung schreiben?Die Erfindung der kritischen Moral Bernd Ludwig musste

Grundlegung

kritischen

Man muß nicht glauben daß diese unsere Critik die Rohigkeit immer haben werde die sie jetzt im Anfange hat. (23:58 [1783])

I. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Situation im Jahre 1781: In einer der Notizen, die Kant sich in Reaktion auf die Rezension der Kritik der reinen Vernunft in den Göttinger Gelehrten Anzeigen vom 19. Januar 1782 machte, heißt es: Nutze[n]. die Critik macht die Religion frey von der speculation so dass indem sie sich davon los sagt sie den Gegner zugleich alles Anspruchs auf Einwürfe beraubt. (23:591)

Ein – nicht weniger berühmt als berüchtigtes – Resultat der Kritik war für Kant der Nachweis, dass die Unsterblichkeits- und Gottesbeweise, d. h., „die zwei Kardinalsätze unserer reinen Vernunft“ (A 742), sich durch die Spekulation nicht hinreichend rechtfertigen (und – im Gegenzug – auch nicht widerlegen) lassen. Das Hauptstück über den Paralogismus lieferte dafür zum einen den Nachweis, dass man durch die spekulative Psychologie über das, was die Seele bei Weltveränderungen treffen könne, nicht im mindesten unterrichtet werde (A 401),

also insbesondere nicht über das, was beim biologischen Tod des Menschen mit dessen Seele passiert. Und im Kapitel „Kritik aller Theologie aus speculativen Prinzipien der Vernunft“ (A 631ff.) hat Kant zum anderen gezeigt, dass sämtliche spekulativen Gottesbeweise „null und nichtig“ sind, die Gottesexistenz „auf diesem Wege […] nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann“ (A 642). 1  Kants Schriften werden zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff. ([Band]:[Seitenzahl]) – mit den zwei Ausnahmen: Die Kritik der reinen Vernunft: diese wird nach den Seiten der ersten (A [Seite]) und zweiten (B [Seite]) Auflage zitiert; die nicht in der AA enthaltene Moral Kaehler nach der Ausgabe: Immanuel Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie, Hrsg. v. W. Stark und M. Kuehn, Berlin, 2004.

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Wenn die Kritik der reinen Vernunft darüber aber nicht zum philosophischen Manifest eines ‚skeptischen Atheismus‘ werden soll, der in Religionsfragen indifferent bleibt (vgl. 18:520 [=Refl. 6236]), bedarf es somit eines anderen Gottesbeweises – und dafür bleibt bei Kant (siehe etwa 28:305) allein der moraltheologische übrig (der dann auch gleich die Seelenunsterblichkeit mitliefert): Da es praktische Gesetze giebt, die schlechthin nothwendig sind (die moralische[n]), so muß, wenn diese irgendein Dasein als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft nothwendig voraussetzen, dieses Dasein postulirt werden[…]. Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings nothwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch postuliren.“ (A 633 f.)

Das ist ein Vorverweis aus der transzendentalen Dialektik in den praktischen Kanon der reinen Vernunft, der zwar in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft steht, aber ausdrücklich nicht mehr zur Transzendentalphilosophie gehört (A 801). Dort im Kanon wird die letzte der drei berühmten Fragen beantwortet: Was kann ich wissen? (KrV), Was soll ich tun? (MdS), Was darf ich hoffen? (Kanon).

Der Kern der Antwort, die dort auf diese dritte (zugleich praktische und theoretische) Frage (A 805) gegeben wird ist recht übersichtlich: Wenn es einen Gott gibt und die Seele unsterblich ist, dann dürfen diejenigen, die sich so verhalten, dass sie der Glückseligkeit würdig sind, „hoffen, ihrer teilhaftig zu werden“ (A 809). Warum aber darf der Mensch um der Hoffnung willen, d. h.: „in praktischer Absicht“ (A 828), voraussetzen, dass Gott existiert und die Seele unsterblich ist, auch wenn das spekulativ ausdrücklich nicht zu beweisen ist? Der Kanon liefert die moraltheologische Antwort: [D]ie Vernunft sieht sich genöthigt [beides] anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten.“ (A 810)

Dass es „wirklich reine moralische Gesetz gebe“, die „schlechterdings gebieten“, die „schlechthin nothwendig sind“ &c. kann und muss man hier ohne Weiteres „voraussetzen“ („jedermann“ sieht sie ja „als Gebote“ an und nicht etwa als leere „Hirngespinste“– und würde sich ohne sie sogar „der Vernunft unwürdig halten“, A 815). Es ist gleichsam ein (reines) praktisches Grunddatum, das man den Menschen weder andemonstrieren kann noch muss (dazu A 829 f.), sondern dessen „innere praktische Notwendigkeit“ (A 818) allenfalls dort, wo man ihrer noch nicht gewärtig ist, durch eigene Reflexion oder von Moralisten zu Bewusstsein gebracht werden kann, wie Kant betont (A 807). Diese Gesetze hätten nun allerdings ohne verlässliche Verheißungen und Drohungen keinen „Effect“ (A 818): Sie könnten (ganz gleich, woher sie ihren Inhalt

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beziehen) ohne solche keine Gebote oder Verbote aussprechen, gar keine „verbindende Kraft“ haben – wie Kant es A 811 im Sinne der tradierten, naturrechtlichen Gesetzestheorie ganz ausdrücklich voraussetzt – gerade so, wie es auch sein Referenzautor für das Naturrecht, Achenwall, getan hat: kein Gesetz ohne gesetzgebenden Willen eines Gesetzgebers und zudem gilt auch noch: „Nulla obligatio datur nisi per praemia et poenas“ (siehe 27:1329). Bei Leibniz war die gerechte Sanktion ja mitunter sogar Teil der Definition der Verbindlichkeit: „obligatio est necessitas imposita iustae ponae metu“ (‚Verbindlichkeit ist eine Nötigung die aus der Angst vor gerechter Strafe hervorgeht‘).2 Damit nun aber jenseitige, also jedenfalls nicht-gegenwärtige, Belohnungen und Strafen das Handeln in der Gegenwart bestimmen können, muss der Mensch über das verfügen, was man traditionell psychologische oder praktische Freiheit nennt. Kant spezifiziert diese Voraussetzung nun nachdrücklich dahingehend, dass hier im Kanon („vorjetzt“, hier i. S. von ‚nunmehr‘, vgl. das Grimmsche Wörterbuch) ausschließlich vom arbitrium sensitivum liberum als jenem empirisch-verbürgten (und damit philosophisch gänzlich unproblematischen) Vermögen die Rede sei, seine gegenwärtigen Affektionen, das also, was aktuell „reizt“, aufgrund der (vernunftgeleiteten) Erwartungen zukünftiger Güter bzw. Übel zu überwinden (was ein gegenwartsfixiertes arbitrium sensitivum brutum ja nicht vermag, A 802). Es ist ein Vermögen, das Kant in der (empirischen3) Anthropologie behandelt wissen will – und mit dessen Erörterung ist für spekulationsaverse Autoren (wie etwa Thomas Hobbes oder David Hume) über das arbitrium des Menschen bereits alles Nötige gesagt. Mit großer Emphase weist Kant in diesem Kontext (A 801 – 804) nun darauf hin, dass die „transzendentale Freiheit“ (d. h. ein „arbitrium liberum transcendentale“ bzw. „[…] purum“; 28:255 und 677), die Voraussetzung der Zurechenbarkeit von Handlungen (dazu A 448), ein Problem für die spekulative Philosophie ist, und von ihm dementsprechend auch schon zuvor, nämlich „in der Antinomie“ der transzendentalen Dialektik bereits „hinreichend“ abgehandelt worden sei. Hier „im Praktischen“ hingegen, wo es nun um Gottes- und Unsterblichkeitsbeweises willen ausschließlich darum geht, die Vernunft um „die Vorschrift [!] des Verhaltens zunächst [zu] befragen“, wird die transzendentale Freiheit keine Rolle (mehr) 2  Leibniz, Akademie Ausgabe, Bd. VI,4 (Berlin 1999), 2151; vgl. 2149, 2749 f.); jenseits des Kanals hätte etwa John Locke zweifellos zugestimmt: Essay concerning human Understanding Bk. II, Chap. XXVIII, §§ 4 – 16. 3  Im Sinne der Humeschen Kausalitätskritik lässt sich (auch) für Kant jede generische Kausalbehauptung nur nomologisch stützen und beurteilen: Die Überzeugung, dass ich durch das Sonnenlicht meinen Körper wärmen kann, ist genauso ausschließlich über die Erfahrung von (durch den Schematismus spezifisch vorgegebenen) Regelmäßigkeiten unter variablen Bedingungen gewonnen (vgl. A 766 f.), wie die Überzeugung, dass ich durch das in-Aussicht-Stellen einer gemeinsam im Schatten der Bäume zu leerenden Flasche Rieslings meinen Nachbarn dazu bringen kann, mir zuvor beim Heraustragen des schweren Gartentisches zu helfen – hielte ich eines von beidem nicht aufgrund von Erfahrungen für erfolgversprechend, würde ich es nicht tun.

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spielen. Sie kann demnach im Kanon „als ganz gleichgültig beiseite“ gesetzt werden – und muss es auch: Andernfalls wäre die Religion ja gar nicht von der Spekulation „frei gemacht“ (s. o.) – und das kritische Projekt wäre geradewegs vor die Wand gefahren. In der Moraltheologie kommt man tatsächlich mit der komparativen, praktischen bzw. psychologischen Freiheit aus, mit einer spontaneitas automatica oder spontaneitas secundum quid (dazu 28:268): in diesem Falle eben secundum praemia et poenas. Eine spontaneitas absoluta hingegen, eine Unabhängigkeit von sämtlichen sinnlichen Antrieben (d. i. auch von allen zukünftigen Gütern und Übeln), eine transzendentale bzw. intelligible Freiheit – oder wie auch immer dieser Gegenstand der Spekulation genannt wird – soll hier im Kanon keine Rolle spielen, weil es ja nur um die Möglichkeit von „Vorschriften“, nicht aber – wie „oben“, d. h. „in der Antinomie der reinen Vernunft“ – um die Möglichkeit von „Zurechnung“ geht,4 und sie tut es offenkundig auch nicht: Der moraltheologische 4 Ein arbitrium liberum absolutum ist (e definitione) das Vermögen selbstbestimmter Handlungen (actiones). Weil sein Begriff ein notwendiger Vernunftbegriff ist (vgl. 3. Antinomie, Thesis), dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann (vgl. ebd., Antithesis), ist er eine transzendentale Idee (siehe 18:228, oder A 327 – wo es z. B. 03:254.01 zufolge allerdings „der transzendentalen Idee“ heißen muss): die transzendentale Idee der Freiheit. Und deren Gegenstand wird kurz ‚transzendentale Freiheit‘ genannt; diese ist eine intelligible Freiheit, da sie nicht in der Sinnenwelt gedacht werden kann. Der negative Begriff (dazu A 553 f., 06:213) einer solchen absoluten Spontaneität ist der einer Unabhängigkeit von jeder sinnlichen Bestimmung. Der positive Begriff ist der des Vermögens der reinen [!] Vernunft praktisch zu sein. – Wesentlich weniger übersichtlich ist die terminologische Seite beim arbitrium liberum (secundum quid oder der spontaneitas automatica, 28:267), der „comparativen (Willens-)Freiheit“ (05:66, 101). Ihr negativer Begriff ist der einer Unabhängigkeit von aktuellen Bestimmungsgründen der Sinnlichkeit (von dem, „was reizt, d. i. unmittelbar affiziert“, A 802). Der positive Begriff ist der eines Vermögens, sich vermittels der Vernunft durch Vorstellungen zukünftiger (sinnlicher) Güter und Übel zu bestimmen (ebd.), die aktuellen „Eindrücke auf das Begehrungsvermögen zu überwinden“. – Im Kanon der KrV, wo es nur „um die Vorschrift [!] des Verhaltens“ geht, benutzt Kant dafür den Ausdruck „practische Freiheit“, und zwar ausdrücklich zum Zwecke der Ausgrenzung der transzendentalen (A 803): Die Möglichkeit der praktischen Freiheit als solcher hängt nicht davon ab, dass die Vernunft ihrerseits auch ohne alle natürlichen Ursachen (d. h., u. a. ohne Vorstellungen entfernter Güter) wirksam werden kann, dass sie (auch) eine transzendentale Freiheit ist. – In der Antinomie hingegen, wo es um die Zurechnung geht, steht „practische Freiheit“ zuvor für eine nicht bloß-comparative, sondern auch transzendentale Freiheit, d. h., für eine Willenskausalität, bei der die Vernunft sowohl in Abhängigkeit von sinnlichen Begehrungen als auch gänzlich unabhängig von diesen (durch die Kausalität ihrer reinen Ideen) den Willen bestimmen kann: Denn gemäß der dortigen Formulierung (A 534) würde die Aufhebung der transzendentalen auch „alle practische Freiheit vertilgen“. Das liegt an dieser Stelle daran, dass Kant hier in einem ersten „Schattenriss“ der Auflösung der Antinomie der Naturkausalität noch die Vernunftkausalität als eine Einheit gegenüberstellt. Die nötige Differenzierung nach comparativer und transzendentaler ‚Dimension‘ der letzteren wird erst A 542ff. nachgeliefert, wo es dann „um die Momente der Entscheidung, auf die es eigentlich [!] ankommt“ geht, und wo dann die transzendentale ‚Dimension‘ der menschlichen Freiheit von dem „empirischen Charakter“ (als der bloß-comparativen Dimension) unterschieden und an der Bestimmung durch Ideen festgemacht wird. – Ähnliche Ambiguitäten gibt es auch bei der Rede von ‚psychologischer Freiheit‘: In der KrV (A 448) steht sie für die Einheit von comparativer und transzendentaler Willensfreiheit (so, wie „practische Freiheit“ im „Schattenriss“ A 534). In der KpV (05:94, 96 f.) dann jedoch für eine

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Gottes- und Unsterblichkeitsbeweis ist „der transcendentalen Philosophie fremd“ und gründet sich allein (1) auf die Erfahrung komparativer (oder: psychologischer) Freiheit in Verbindung mit der (2) von „jedermann“ zugestandenen Unleugbarkeit moralischer „Verbindlichkeit“ (A 811). Moraltheologie ist also tatsächlich die Überzeugung vom Dasein eines höchsten Wesens […], welche sich auf sittliche Gesetze gründet (A 632)

– und somit von der Spekulation frei ist. Damit ist offengelegt (und für die folgenden Untersuchungen bedeutsam), dass das unhintergehbare Datum einer moralisch-praktischen Vernunft (mit ihrem Sittengesetz) seit 1781 für Kants Metaphysik, genauer: für seine Gottes- und Unsterblichkeitslehre (also für zwei Drittel der ‚kritischen‘ metaphysica specialis), unverzichtbar ist. Das wird mitunter übersehen, vermutlich, weil die Unabweisbarkeit und Unbeweisbarkeit des sittlichen Sollens erst seit 1787, d. h. mit der zweiten Auflage der ersten Kritik, dann auch im Rahmen der von den Nachgeborenen zumeist fokussierten Freiheitslehre (wo es dann um die dritte der drei transzendentalen Ideen geht) prominent zum Tragen kommt. Und in der Kritik der praktischen Vernunft wird dieses praktische datum 1787/88 dann kurz darauf erstmals auch in die Lehre vom „Factum der Vernunft“ (05:31)5 eingehen und gewinnt damit dann endlich die verdiente Aufmerksamkeit: Wie dem auch sei: Der unhintergehbare datum-Charakter der unleugbaren moralischen Verpflichtung wird, wie wir gerade gesehen haben, von Anfang an für die kritische Philosophie benötigt, wenn diese mit ihrer Zurückweisung aller spekulativen Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise 1781 nicht geradewegs in den Agnostizismus führen soll – sondern vielmehr zu einer spekulationsfreien Religion(sphilosophie).

bloß-comparative, wie auch schon in den 1770ern (dort in einem Atemzug mit der „praktischen“ 28:267). Keinesfalls kann man die transzendentale Freiheit aber ‚psychologisch beweisen‘ (28:267, 773, 682; 27:507). – Da eine transzendentale Freiheit (zumindest bei einem sinnlich affizierten, endlichen Wesen) gemeinhin auf einer comparativen aufsitzt (die Vernunft kann das Handeln nämlich nicht nur – als praktische – mit Bezugnahme auf entfernte Güter, sondern auch – als reine praktische – ohne eine solche bestimmen), aber nicht umgekehrt, kommt man für eine Klassifikation mit dem zwei Prädikaten ‚transzendental‘ und ‚bloß-comparativ‘ grundsätzlich aus. Der Gebrauch von ‚practisch‘ und ‚psychologisch‘ wäre dann mit Bezugnahme auf die ersten beiden zweckmäßig festzulegen – wenn man zu einer terminologischen Redeweise bezüglich der Kantischen Freiheitslehre kommen will. 5  Dass am Ausdruck „Factum der Vernunft“ nichts hängt, zeigt sich u. a. daran, dass Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, wo er das Bewusstsein sittlicher Nötigung erstmals (auch) im Rahmen der Freiheitslehre bemüht, noch ohne diese Bezeichnung auskommt und die moralischen Gesetze dort einfach als „practische in unserer Vernunft liegende Grundsätze als Data [!] derselben a priori“ bezeichnet (B XXVIII; vgl. B XXII und 430 f.): Eine solche Formulierung hätte sicherlich auch schon 1781, bei der Erörterung der „zwei ­Kardinalsätze unserer reinen Vernunft“ (über die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele; A 633 f. oder 807 f.), keine Irritation bei seine Lesern hervorgerufen (und die vom „Factum …“ genauso wenig).

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II. Soweit, so gut: Eine solche spekulationsfreie, rein-moraltheologische Gottesund Unsterblichkeitslehre scheint für Immanuel Kant seit 1781 also möglich zu sein, und ‚alles wäre gut‘ … wenn Kant nicht schon seit längerem Vorlesungen zur Moralphilosophie gehalten hätte, in denen – wie wir unter anderem der Kaehlerschen Mitschrift entnehmen – über das Sittlich-Gebotene etwa das Folgende zu hören war: Du sollst nicht lügen ist kein problematischer Imperativus, denn sonst müsste es heissen: ‚Wenn es dir einen Schaden bringt, dann sollst du nicht lügen‘, sondern er imperiert categorisch und schlechthin, ‚du sollst nicht lügen‘. (Moralphilosophie-Vorlesung ‚Kaehler‘, ~1775, MS p. 11)

Kurz: Sittliche Gesetze, wie „Du sollst nicht lügen!“, imperieren kategorisch – oder sie sind keine sittlichen, denn „die moralische Necessitation [ist] categorisch und nicht hypothetisch“ (ebd. 31). Wenn nämlich die Gesetze nur dann imperierten, uns verbänden oder geböten, wenn irgendwelche an sie geknüpften Verheißungen und Drohungen seitens eines anderen die aktuellen Reize übertrumpfen können, dann ‚gebrauchte der Verstand die eine Sinnlichkeit gegen die Andere‘, um größeren Schaden zu vermeiden, wie Kaehler es später (ebd. 254) notiert – und das Sollen wäre, als ein pragmatisches, unmöglich ein sittliches. Es konnte Kant nicht lange verborgen bleiben, dass diese metaethische Position des Moralphilosophen mit dem moraltheologischen Gottesbeweis des Metaphysikers prinzipiell unvereinbar war: Denn wenn es „wirklich reine moralische Gesetze“ gibt (gemäß KrV) und diese ihrerseits kategorische Imperative sind (gemäß Vorlesung), dann können sie e suppositione auch und gerade unabhängig von den jeweils zu erwartenden „angemessene[n] Folgen“ (A 811) des Handelns gebieten, d. h., ein Bewusstsein der Verbindlichkeit mit sich führen – und damit bricht dem verbindlichkeitstheoretisch-infizierten moraltheologischen Gottesbeweis von 1781 die zentrale Prämisse (‚Keine Verbindlichkeit ohne Drohungen und Verheißungen!‘ bzw. als Merkvers: ‚Keine Obligation ohne Strafe und Lohn!‘) weg. Die Moraltheologie in der Kritik von 1781 passte also definitiv (noch) nicht mit jener Moralphilosophie zusammen, die Kant schon seit mehreren Jahren in seinen Vorlesungen präsentierte. Anders herum: Im systematischen Kontext der kritischen Philosophie von 1781 sind kategorische Imperative definitiv gar nicht möglich, denn auf deren Unmöglichkeit baut gerade der verbindlicheitstheoretische Gottesbeweis. Dass Kant dieses Problem nicht entgangen ist, dass er also seine temporäre ‚philosophische Schizophrenie‘ recht bald bemerkt und überwunden hat, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er das Problem dann durch zwei präzise darauf zugeschnittene Revisionen gelöst hat – und zwar beide auf Seiten seiner Metaphysik, durch zwei Revisionen, deren Motive andernfalls im Dunkeln blieben: Er hat, erstens, in allen späteren Bemerkungen zum moraltheologischen Beweis jede verbindlichkeitstheoretische Dimension (oder auch nur Konnotation) ganz ausdrücklich abgewiesen, um dann in der Kritik der praktischen Vernunft ausschließlich rationalitätstheore-

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tisch zu argumentieren (siehe 05:108ff.; vgl. bereits 29:616 und 08:139): Schon in der Naturrechts-Vorlesung von 1784 distanziert er sich ganz ausdrücklich von der einschlägigen Voraussetzung, die er 1781 mit Achenwall (s. o.), Baumgarten und anderen noch geteilt hatte: Unser Autor und andre reden von der obligatio per poenas, so auch Baumgarten. Aber durch Poenas und Praemia einen verbinden ist contradictio in adjecto. (27:1326).

In der Kritik der reinen Vernunft wusste Kant das selbst noch nicht, denn es konnten die moralischen Gesetze – ich zitiere es noch einmal – keine Gebote (!) sein, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten (A 812; vgl. auch A 634, s. o.),

d. h. sie konnten definitiv keine kategorischen Gebote sein. Göttliche Verheißungen und Drohungen waren für Kant zwar auch 1781 keine hinreichenden Bedingungen der obligatio mehr (denn das Gesetz ist ein Gesetz der Vernunft, nicht der göttlichen Willkür), aber auch für Kant waren sie seinerzeit noch notwendige, d. h. von der Verbindlichkeit [!], die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“ (A 811; Herv. B.L.)

Davon ist seit spätestens 1784 bei Kant niemals wieder die Rede!6 Der zweite Eingriff hat allerdings weitaus radikalere Konsequenzen: Weil ein göttlicher Wille kraft des ihm zugedachten, allumfassenden Sanktionspotentials zwar die Möglichkeit von Imperativen überhaupt erklären kann, aber, wie wir gerade sahen, definitiv nicht die von kategorischen Imperativen in specie, musste Kant diesen gesetzgebenden Willen notgedrungen durch einen anderen ersetzen, der seinerseits nun auch ohne alle äußeren „Triebfedern des Vorsatzes“ (A 813), d. h., ohne „Interesse als Reiz oder Zwang“ (04:433) moralisch gebieten kann – denn Gesetzgebung ist und bleibt auch für Kant ein Verhältnis zwischen einem übergeordneten (zur obligatio eigens befugten!) und einem untergeordneten Willen. Was aber, außer einem reinen gesetzgebenden Willen des Menschen selbst, könnte dann überhaupt noch übrigbleiben? Folglich trat unversehens – und noch 1781 definitiv unantizipiert – die epochale Ablösung der Theo-Nomie durch die Auto-Nomie auf die Agenda der kritischen Philosophie: Ein Nachweis der praktischen Realität der Idee eines reinen gesetzgebenden Willens des Menschen selbst wurde so zu einer gänzlich neuen und zugleich 6  Das bezieht sich selbstredend nur auf das, was Kant seitdem niedergeschrieben oder (etwa Vorlesungsnachschriften zufolge) gesagt hat. Dass sich in Texten, die unverändert nachgedruckt wurden (wie etwa die gesamte zweite Hälfte der Kritik der reinen Vernunft; vgl. auch B XXXVIII), oft Lehrstücke wiederfinden, die zum Zeitpunkt der Wiederveröffentlichung für Kant de facto längst überholt sind (was dieser mitunter – warum auch immer – auffällig vehement dementiert), spielt an dieser Stelle kein Rolle.

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unabweisbaren (metaphysischen) Herausforderung für Kant. Ohne einen solchen Nachweis sind Kritische Metaphysik und das, was wir heute als Kants Kritische Moralphilosophie kennen, nicht zu vereinbaren, denn nur unter der Voraussetzung eines reinen gesetzgebenden Willens lässt sich die Möglichkeit kategorischer Imperative überhaupt „begreiflich“ machen. Diese Aufgabe war es, von der Kant in der Grundlegung dann sagen wird, dass sie eine „besondere und schwere Bemühung erforder[e]“ (04:420). Warum das? Nun, die (objektive) Realität von nicht-empirischen Begriffen (d. h., die Möglichkeit von deren Gegenstandsbezug) kann durch deren Deduktion gesichert werden (wie uns die Kritik der reinen Vernunft lehrt). Also steht eigentlich nach 1781 gleichsam natürlicherweise eine Deduktion des Vernunftbegriffs eines reinen gesetzgebenden Willens (des Menschen) an. Und eine solche Deduktion wird in dem Moment zu einer Aufgabe für Kant, wenn er ihre Notwendigkeit erkennt: Das ist der Augenblick der „Invention of Autonomy“ (Schneewind 1998). Als ein sicherer terminus post quem dafür kann die Abfassung der Schulz-Rezension von 1783 (08:10ff.) gelten, denn dort hätte Kant die Autonomie (oder den reinen Willen) thematisieren müssen, wenn er ihre bahnbrechende Rolle bereits erfasst hätte. Im Naturrecht Feyerabend vom Sommer-Semester 1784 wird der Grundgedanke für uns dann erstmals sichtbar (27:1326). Aber wir können Anlass und Zeitpunkt dieser außergewöhnlichen moralphilosophischen Neuausrichtung noch genauer bestimmen: Dass Kant zu Beginn des Jahres 1784 an einer „Antikritik“ über Christian Garves Kommentar zu Ciceros de officiis (der zur Michaelismesse, d. h. Ende September, des Vorjahres erschienen war) gearbeitet hatte, wissen wir schon lange – ein Motiv dafür mag die eingangs genannte, wenig gewogene Rezension gewesen sein, an der, wie Kant wusste, ­Garve einen beträchtlichen Anteil hatte. Warum diese Auseinandersetzung aber in der Grundlegung dann so wenig inhaltliche Spuren hinterlassen hat (von der Auffrischung stoischer Einfärbungen und ein paar eingestreuten Polemiken gegen die Popularphilosophie einmal abgesehen), können wir jetzt auch verstehen: Am 2. Mai 1784 schreibt Hamann an Herder: Kant „arbeitet scharf an der Vollendung seines Systems. Die Antikritik über Garves Cicero hat sich in ein Prodromum [vgl. „Vorarbeitung der Grundlage“, 04:391] zur Moral verwandelt [!]“.7 Es sieht also ganz danach aus, als sei Kant im Zuge der Arbeit an seiner „Antikritik“, d. h. Anfang 1784, auf ein Problem seiner eigenen Lehre gestoßen worden, für das er dann auch rasch eine Lösung gefunden zu haben glaubte, die er sogleich in einem Prodromus vorstellen wollte – ein Problem, das Kant dann 1793 im ersten Teil des Gemeinspruchs noch einmal gegen Garve zum Thema machen wird (08:278 ff.): Das Problem einer nicht-sinnlichen, d. i. kategorischen, Nötigung.

  Siehe hierzu die von Paul Menzer zusammengestellten Briefstellen 04:626 f.

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III. Was hat Kant für die damit nun plötzlich notwendig gewordene Deduktion der Idee eines reinen gesetzgebenden Willens in der Hand? Die Kritik der reinen Vernunft hatte 1781 ihrem Anspruch nach in der Antinomie eine spekulative Lösung des moralphilosophischen Problems der Zurechnung geliefert, d. h. des Problems der transzendentalen bzw. intelligiblen Freiheit des Menschen. Dieses Problem „für die Speculation“ hatte Kant ja (nach eigener Aussage im Kanon) bereits „in der Antinomie“ „abgethan“, „hinreichend“ abgehandelt (so A 802, 804). Allerdings sollte (und durfte) es für die Religion und damit für die moralischen Gesetze sowie für die (bloß-comparative) praktische Freiheit als solche (auf denen beiden das moraltheologische Argument von 1781 ja beruht) nicht bedeutsam sein. Und andererseits war die transzendentale Freiheit ihrerseits auch nicht vom Sittengesetz abhängig, denn sie war ja bereits „oben“, in der Auflösung der Antinomie „hinreichend abgehandelt“, und dabei war nur von der Zurechnung, aber nicht von der Verbindlichkeit die Rede – und vom Sittengesetz schon gar nicht. Nun musste Kant nur eins und eins zusammenzählen. Denn dass Freiheit und Gehorsam gegen selbst gegebene Gesetze im Grunde dasselbe sind, das war bereits eine Einsicht der Sokratik, man kann sie – mit etwas gutem Willen – auch bei Aristoteles finden (s. NE 1128 a 32); und zumindest in der republikanischen Tradition der Neuzeit war sie seit Langem ein Gemeinplatz. Wenn Kant das nicht aus Machiavellis Discorsi gelernt hat, dann womöglich aus Rousseaus Du Contrat Social I.9 (von dem 1783 auch gerade eine deutsche Übersetzung erschienen war) – oder vielleicht auch nur aus Gesprächen am Mittagstisch. Wenn nun aber die Republik frei ist, weil die Bürgerschaft sich selbst, d. h. der Republik, die Gesetze gibt (und nicht etwa ein Fürst oder eine fremde Macht), warum sollte dann nicht auch der einzelne Mensch frei sein, indem er sich selbst die Gesetze gibt (und nicht etwa ein Gott). Die 1781 bereits gesicherte intelligible Freiheit und die 1784 zu erklärende Selbstgesetzgebung dürften demnach unmittelbar zusammengehören: Autonomie wird damit von einem Begriff der Politischen Philosophie zum Zentralbegriff der Moralphilosophie. Eine Deduktion der transzendentalen, intelligiblen Freiheit des Menschen wird daher, wenn sie nicht sogar dasselbe sein sollte wie die Deduktion seines intelligiblen, d. h. reinen, gesetzgebenden Willens, zumindest der entscheidende Schritt bei einer solchen Deduktion sein. Kurz – in der Überschrift des ersten Absatzes von GMS III: Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens. (III.1; 04:446)

Wer die Realität der transzendentalen Idee der Freiheit gezeigt hat, der kann – so steht also zu vermuten – auch die Realität der Idee eines reinen gesetzgebenden Willens zeigen (und damit am Ende dann auch die Möglichkeit kategorischer Imperative). Das ist ein gedanklicher Dreischritt, welcher 1781 der KrV noch vollständig fremd ist, denn dort ist Freiheit, an den wenigen Stellen, an denen sie überhaupt diskutiert wird, bestimmt als eine Gesetzlosigkeit, die es durch die moralischen

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Gesetze einzuschränken gilt (etwa: A 447, 451, 569) – von Selbstgesetzgebung ist (nach unseren Zeugnissen) bei Kant in der Freiheitslehre vor 1784 nirgendwo Rede. Der wesentliche Schritt muss für Kant nun offenkundig der sein, den positiven Begriff der (Willens-)Freiheit einschlägig neu zu bestimmen – und zwar so, dass der Zusammenhang von Freiheit und Selbstgesetzgebung erstmals direkt sichtbar und auch argumentativ nutzbar wird. Sektion 1 des dritten Abschnitts der Grundlegung beginnt daher mit einem Paukenschlag, der uns nach den bisherigen Erörterungen allerdings nicht mehr aufschrecken wird: Freiheit kann nicht gesetzlos sein, sondern, wenn es sie denn gibt, dann muss sie als eine Kausalität notwendig eine solche nach Gesetzen8 sein – aber eben nicht nach Naturgesetzen: … was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das [… formale] Princip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen [!] Gesetzen einerlei (Herv. B. L.).

Damit steht ein Programmpunkt der Grundlegung bereits fest: Sie soll vermittels (a) eines neuen positiven Begriffs der Freiheit in Verein mit (b) der speculativen (04:456!) ‚Deduktion der Idee der Freiheit‘ eine Deduktion der Idee des reinen gesetzgebenden Willens leisten, um mit dieser zu erklären, wie moralische Gebote als kategorische Imperative möglich sind9 – denn das war ja mit der metaphysica specialis der KrV von 1781 noch unvereinbar. Und genau das geschieht nun tat8  Wenn ich es richtig sehe, dann gibt es hier erstmals in der Philosophie der Neuzeit (oder gar in der des Abendlandes überhaupt?) ‚Gesetze der Freiheit‘ mit einem genitivus subjectivus (‚laws of freedom‘), nicht nur mit dem genitivus objectivus (laws ‚for freedom‘)! – Der nomologische Charakter ist für Kant (spätestens seit der KrV) ein unverzichtbares Merkmal der Kausalität. Das wird von ihm allerdings nirgendwo eigens begründet, folgt aber unmittelbar aus seiner (von Hume übernommenen) Einsicht, dass jede besondere Ursachenerkenntnis letztlich von ‚beständigen Gesetzen‘ ihren Ausgang nehmen muss (dazu A 764 – 78). 9  Damit wird deutlich, dass es bei Kants Autonomiebegriff 1785 in erster Linie um die Selbst-Gesetzgebung gehen muss (sc. das Gesetz, „das wir uns selbst und doch als an sich noth­ wendig auferlegen“; 04:402; siehe auch die Kommentierung des Scheiterns aller vorherigen Moralphilosophie: 04:432 f.). Die Universalität der selbstgegebenen Gesetze hingegen (und damit auch die Möglichkeit einer diesbezüglichen Zusammenstimmung aller vernünftigen Wesen) ist dabei mit Kants Begriff der Autonomie selbst noch nicht gegeben, sondern folgt dann erst aus einem zusätzlichen genuin kritischen Theorem, wie Abschnitt III.1 zu zeigen beansprucht: Dass nämlich die mit der Selbstgesetzgebung verbundene „Nöthigung“ um der Kompatibilität mit dem Naturgesetzeszusammenhang willen nur von einer nicht-natürlichen, d. h. intelligiblen Kausalität ausgehen kann. Und das Gesetz einer solchen intelligiblem (Willens-) Kausalität kann dann nur ein formales (in specie: das Sittengesetz) sein. Kurz: Nur im Rahmen der kritischen Philosophie (d. h.: mit der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich) kann man die Freiheit und damit die Autonomie des Menschen überhaupt denken (dazu 04:453). Und weil man die Freiheit dort wiederum nur als eine intelligible Kausalität denken kann, kann das selbstgegebene Gesetz dieser Kausalität nur ein formales sein, das als ein solches dann naturgemäß für alle vernünftigen Wesen ein und dasselbe (allgemeine) Gesetz ihrer Selbstbestimmung ist: Der kategorische Imperativ eben. Nur vermittels der Einsichten des transzendentalen Idealismus ist für Kant folglich der von ihm behauptete (und um 1784 erst-

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sächlich im weiteren Verlauf des dritten Abschnitts: Sektionen 2 & 3 zeigen mit der „Deduktion der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ die praktische Realität des Freiheitsbegriffs auf, d. h.: seine praktische Notwendigkeit für unser Selbstverständnis (in Sektion 2) und seine metaphysische Möglichkeit (in Sektion 3). Auf dieses zweistufige Verfahren werden wir in der rückblickenden Erörterung in Sektion 5 noch einmal eigens hingewiesen: Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann [siehe Sektion 3]), sondern auch sie praktisch, d.i. in der Idee, allen seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung nothwendig [siehe Sektion 2]. (04:461)

Diese erste Deduktion, die „Deduktion der Freiheit“ (die außer ihrem neuen Namen noch nichts enthalten soll, was wir nicht schon „in der Antinomie“ der Kritik von 1781 finden könnten, s. A 804) dient als „Vorbereitung“ jener zweiten Deduktion in der Sektion 4, der Deduktion der Idee „eines reinen, für sich selbst praktischen Willens“, auf die sich dort der Ausdruck: „die Richtigkeit dieser [!] Deduktion“ direkt zurückbezieht. Diese Deduktion zeigt, dass zum empirisch bestimmbaren Willen freier Wesen ein reiner Wille (etwas genauer: die Realität von dessen Idee) ‚hinzukommt‘, der die Möglichkeit einer kategorischen Nötigung des ersteren „begreiflich“ macht. Dass es ebendiese Ideen(!)-Deduktion (!) ist, welche die Möglichkeit (!) eines synthetischen Satzes (!) a priori, d. h., des kategorischen Imperativs (04:420 und 430), erweist, macht Kant gleich noch einmal deutlich durch den ausdrücklichen Hinweis auf seine Kategorien(!)-Deduktion (!), die in der ersten Kritik die Möglichkeit (!) synthetischer Sätze (!) a priori über die Natur erwiesen hat. Kurz: Im Praktischen werden 1785, genau wie zuvor 1781 im Theo­ retischen, synthetische Sätze a priori dadurch möglich, dass reale reine Begriffe zu Sinnlichem hinzukommen und dort Gesetzlichkeit stipulieren (vgl. Prolegomena, 04:365 sowie 23:60; für Details s. Ludwig 2018), kurz: Durch eine Deduktion reiner Begriffe. Und schon im nächsten Absatz bestätigt dann auch der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft genau „diese Deduction“ der Idee des reinen Willens post festum gleich noch einmal mit Hinweis auf den reuigen Bösewicht: Der beweist nämlich durch seinen Wunsch, eigentlich besser zu sein als er es ist, einen zweiten, von allen „Antrieben der Sinnlichkeit“ freien, „guten Willen“ in sich, einen Willen, der „in Gedanken“ zu (s)einem naturgetriebenen „bösen Willen“ hinzukommt und diesem die Richtung vorschreibt (diese aber leider nicht zu bestimmen vermag).10 mals aufgedeckte) Zusammenhang von Freiheit, Autonomie, Verbindlichkeit und Universalität der sittlichen Forderungen usw. als ein begründbarer zu verstehen. 10 Dass mit dieser Version einer ‚Zwei-Willens-Lehre‘ die Zurechnung pflichtwidriger Handlungen unmöglich wird (nur der gesetzeskonforme Wille ist selbstbestimmt und damit frei!), hat Kant 1785 offenkundig nicht bemerkt – Carl Leonhard Reinhold aber schon. Systema­

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IV. Wenn man einsieht, dass Sektion 4 des dritten Abschnitts für Kant nicht mehr – aber auch nicht weniger – leisten muss, soll und kann, als die nach 1781 notwendig gewordene, freiheitsbasierte Deduktion der Idee des reinen gesetzgebenden Willens, dann lichtet sich schlagartig jenes Dunkel, in das der Text gehüllt wurde, als Herbert James Paton 1947 erfolgreich die Annahme in die Kant-Literatur einführte, der eben zitierte Ausdruck „die Richtigkeit dieser Deduktion“ müsse sich auf eine „transcendental deduction of the categorical imperative“ beziehen. Erstaunlicherweise führte weder das von Paton gleich mitgelieferte, vernichtende Urteil über diese vermeintliche ‚Imperativ-Deduktion‘ noch die Tatsache, dass unter den etwa 200 Deduktionen im corpus kantianum auch sonst keine einzige den kategorischen Imperativ oder das Sittengesetz zum Gegenstand hat, dazu, Patons textvergessene Behauptung als eine bloße Hypothese zu erkennen und dann ggf. zu überprüfen. Hinzu kommt: Wir finden beim kritischen Kant auch sonst keinen einzigen Versuch, die Geltung, Gültigkeit, Verbindlichkeit oder was auch immer des Sittengesetzes für die Menschen zu beweisen oder zu rechtfertigen. Das sollte uns aber auch nicht erstaunen, denn dergleichen hatte er ja bereits 1762 in der Preisschrift über die Deutlichkeit der Grundsätze der Metaphysik und der Moral für unmöglich erklärt (und daran hat er auch bis ins opus postumum hinein nicht gerüttelt): Denn es ist aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes, welche es auch sei, möglich zu erkennen und zu schließen, was man thun solle, wenn dasjenige, was vorausgesetzt ist, nicht ein Zweck und die Handlung ein Mittel ist. Dieses aber muß es nicht sein, weil es alsdann keine Formel der Verbindlichkeit, sondern der problematischen Geschicklichkeit sein würde (02:299; geschrieben 1762).

Dass Kant das Sittengesetz auch in der Grundlegung sicherlich nicht „durch Vernunft herausklügeln und der Willkür anschwatzen“ will (wie er bereits 1792 avant la lettre das ‚Paton-Projekt‘ einer ‚Deduktion des Sittengesetzes‘ charakterisiert hat), findet einen weiteren Grund darin, dass er als kritischer Metaphysiker, der, wie eingangs erwähnt, die Religion von der Spekulation frei machen will, dergleichen seit 1781 schlicht nicht einmal mehr wollen darf. Man kann und muss zwar den Moralisten wie den Bösewichtern die richtige Formel des Moralgesetzes vorstellen und diese gegenüber den tradierten Alternativen (die für Kant allesamt eudaimonistisch sind!) rechtfertigen – und ggf. muss man, als eine metaphysische „Schutzwehr“, vernünftelnde Einwände der philosotisch wird dies Problem in der KpV dann durch Modalisierung gelöst (frei ist ein Wille, sofern er – ultra posse nemo obligatur – durch das Sittengesetz bestimmt werden kann). Terminologisch wird dies erst um 1797 in Auseinandersetzung mit Reinhold durch die Unterscheidung von „Wille“ (der „weder frei noch unfrei genannt werden“ kann) als gesetzgebender reiner Vernunft (06:226; vgl. 21:470 f., 23:248 f.) und „Willkür“ als einem freiem Handlungsvermögen (arbitrium) ausdifferenziert (bis 1794 ist diese Unterscheidung bei Kant definitiv nicht fixiert, siehe z. B.: 27:480, 501 u. ö.).

Warum musste Kant 1784 die Grundlegung schreiben?

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phischen Schul-Kollegen gegen sie ‚abtreiben‘ (A 849, 04:459). Aber für Kant besteht nicht der geringste Anlass, die moralische Verpflichtung als solche gegenüber irgendwelchen Moral-Skeptikern zu rechtfertigen oder zu begründen. Schließlich eröffnet selbst David Hume, „vielleicht der geistreichste unter allen Sceptikern und ohne Widerrede der vorzüglichste in Ansehung des Einflusses“ (A 764) seine Enquiry concerning the Principles of Morals mit der Klarstellung, dass diejenigen, die die „reality of moral distinctions“ grundsätzlich leugnen, keine Adressaten seiner Erörterungen sein können und daher von ihm unbeachtet stehengelassen werden (schon seit Aristoteles sieht man das ähnlich: NE X, 1180a9 f. oder Topik I.11, 105a3 – 7). Eine fundamentale Moralskepsis ginge selbst (oder vielleicht besser: gerade!) dem (Metaphysik)Skeptiker Hume entschieden zu weit. Lohnend sei ausschließlich – und darin ist dieser sich mit Kant völlig einig – die Beschäftigung mit der Frage, was denn die „foundation“ (bei Kant: die „Quelle[ ]“) dieser für das menschliche Leben letztlich unverzichtbaren Unterscheidungen ist: Reason oder Sentiment. Doch mit dieser Einigkeit der beiden ist es bekanntermaßen bereits bei den ersten Schritten auf dem Wege zur Beantwortung der Frage wieder vorbei … Soviel zur Teilfrage, warum Kant irgendwann nach 1781 den dritten Abschnitt der Grundlegung schreiben musste – und worum es ihm dabei definitiv nicht gehen konnte: Er musste die Realität der Idee eines reinen Willens zeigen (d. i. diese Idee „deduzieren“), wenn er nach 1781 weiterhin daran festhalten wollte, dass die sittlichen Gesetze kategorisch gebieten. Er musste allerdings nicht, wie er am Ende noch einmal betont, das Sittengesetz „seiner absoluten Nothwendigkeit nach […] begreiflich machen“, denn dass uns sittliche Gesetze verbinden, dass diese unbedingt gelten bzw. uns verpflichten, das ist so unleugbar wie unbegreiflich – und wird ja ohnehin auch von jenen Moralisten geteilt, gegen die Kant argumentiert. Und an dieser Stelle wiederholt Kant sogar noch einmal sein Argument von 1762: Damit Imperative überhaupt begründet werden können, müssen sie e suppositione bedingte sein. V. Warum aber musste Kant die ersten beiden Abschnitte schreiben? Nun, zunächst einmal, weil er seine länger schon in Vorlesungen vorgetragene Moralphilosophie, die erst durch den dritten Abschnitt mit seiner kritischen Metaphysik versöhnt werden konnte, endlich in gedruckter Form sehen – und dafür zumindest schon einmal die „Vorarbeitung“ möglichst rasch liefern – wollte.11 Den Anfang macht er im ersten Abschnitt mit der „Aufsuchung“ bzw. „Bestimmung“ seiner neuen Formel des obersten Prinzips der Moralität auf analytischem Wege (04:392). Und zwar nimmt dieser ‚Weg zum Prinzip‘ seinen Anfang 11 Es ist daher anzunehmen, dass der dritte Abschnitt zumindest konzeptionell bereits ‚stand‘, bevor der erste und insbesondere der zweite mit seinen zahlreichen Vorverweisen niedergeschrieben wurden – ich danke W. Stark für diesen Hinweis.

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bei der „gemeinen sittlichen Vernunft“, welche die moralische Unterscheidung von „schlechthin gut“ und „böse“ anwendet und versteht (vgl. 04:404), sie also „jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurtheilung braucht.“ (04:403). Der zweite Abschnitt unternimmt dann eine „Prüfung“ (04:392) der neu gewonnen Formel des Moralprinzips auf ihre Tauglichkeit für eine Metaphysik der Sitten. Die erforderte Reinheit des Prinzips zeigt sich darin, dass ebendiese Formel sich jetzt auch aus einer Darstellung des „praktische[n]Vernunftvermögen[s]“ selbst (04:412), d. h. ohne jede Bezugnahme auf den besonderen, menschlichen Vernunftgebrauch, entwickeln lässt: als die Formel eines kategorischen Imperativs. Sodann wird anhand eines exemplarischen Pflichtengevierts noch gezeigt, dass sich aus „diesem einigen Imperativ“, am Ende auch tatsächlich „alle Imperativen der Pflicht“ der Art nach ableiten lassen werden (04:421). Der Übergang zu einer Metaphysik der Sitten ist damit hergestellt. Im dritten und letzten Abschnitt kann und muss Kant dann (wie oben bereits dargelegt) noch die besonderen (d. h. reinen) „Quellen“ (04:392) ausweisen, aus denen die kategorisch-gebietende Gesetze dann auch wirklich entspringen können: Erst mit der Deduktion der Idee des reinen gesetzgebenden Willens ist nämlich die in Abschnitt II aufgekommene (04:419 f.) und dort mehrfach aufgeschobene Frage beantwortet: Die Frage nach der Möglichkeit jener nicht-sinnlichen Nötigung, mit der ein kategorischer Imperativ (und damit auch das in Abschnitt I „entwickelte“ Prinzip der „gemeinen praktischen Vernunft“) dann tatsächlich auch als den Willen bestimmend „gedacht werden“ kann. Damit ist also im dritten Abschnitt gezeigt, dass die reine Moral der Autonomie (440.14ff.), wie sie im zweiten Abschnitt entfaltet wurde, und die ihrerseits das im ersten Abschnitt bestimmte Prinzip der „allgemein im Schwange gehenden Sittlichkeit“ auf den Vernunftbegriff brachte – dass diese reine Moral kein bloßes Hirngespinst, keine Chimäre ist, sondern auch und gerade im Rahmen einer kritischen Moralphilosophie Bestand hat: Als Moral der Autonomie des reinen Willens freier Wesen. Moral gab und gibt es immer – doch eudaimonistische Heteronomie war gestern. Nach der analytischen „Aufsuchung“ der Formel des Prinzips der Moralität im gemeinen moralischen Vernunftgebrauch (in GMS I) und dessen anschließender vernunfttheoretischer „Festsetzung“ (in GMS II und III) kann und soll „zukünftig“ der Weg von diesem „obersten Prinzip der Moralität“ zu „Anwendung“ und „Gebrauch“ nach synthetischer Methode in einer der Popularität fähigeren Schrift, der Metaphysik der Sitten geschehen12 – doch die wird noch bis 1797 auf sich warten lassen. 12 Also erst im Anschluss an die „besondere und schwere Bemühung“ (04:420) im dritten Abschnitt der Grundlegung soll die ‚der Popularität fähige‘ Metaphysik der Sitten von dem hier ‚festgesetzten‘ Prinzip „dereinst“ den Weg zurück zur ‚zugänglichen‘ „Anwendung“ in der „gemeinen Erkenntnis“ nehmen. Die dabei dann zu erwartende „Leichtigkeit im Gebrauche“ sollte nämlich zunächst nicht von der Notwendigkeit eines „ganz sicheren Beweises“ des neuen Prinzips ablenken. – Zur Verortung der „analytisch“ oder „synthetisch“ beschrittenen „Wege“, von denen am Ende der Vorrede die Rede ist, siehe Ludwig 2019, Fn. 26 f.

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Die Grundlegung ist also nicht nur ein philosophischer Geniestreich zur Vereinbarung der kantischen Moral mit der kantischen Metaphysik, sie ist, wie wir nun erkennen, als „Vorarbeitung der Grundlage“ in drei Abschnitten auch ein architektonisches Meisterwerk im Gliederbau der gesamten philosophischen Sittenlehre. VI. Wir hören oder lesen oft Formulierungen der Art, Kant habe mit der Grundlegung eine ‚Rechtfertigung des kategorischen Imperativs‘ oder eine ‚Justification of the Principle of Morals‘ liefern wollen: Das kann man bei gebotener Vorsicht durchaus so sagen, aber Obacht: diese Formulierung ist auf gefährliche Weise ambigue. Denn wie wir sahen, und wie es die Kritik der praktischen Vernunft dann 1787/88 ausdrücklich klarstellt, ist das, was Kant 1785 tatsächlich erstmals „angegeben und gerechtfertigt“ hat, nicht etwa ‚das Sittengesetz‘ oder gar ‚die Moral‘, sondern ‚nur‘ eine bestimmte „neue Formel“ für die unabweisbaren und selbst von ärgsten Bösewichtern niemals infrage gestellten Forderungen der Sittlichkeit. Und genau das ist es ja auch, was Kant am Ende der Grundlegung als „unsere Deduction des obersten Princips [!] der Moralität“ bezeichnet: Die in der Vorrede versprochene „Aufsuchung und Festsetzung“ einer allgemeinen Gesetzesformel für die allseits anerkannte sittliche Verbindlichkeit, jener Formel, die eigentlich jeder Mensch „jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße [seiner] Beurtheilung braucht.“ – wenn seine Vernunft nur einmal „aufgeklärt“ worden ist. Was Kant 1785 aber weder tun wollte, konnte, durfte, sollte oder musste, war, seine Leser von der Gültigkeit, Geltung oder Verbindlichkeit sittlicher Forderungen überhaupt zu überzeugen.13 Es gibt bei Kant weder eine „Rechtfertigung der Sittlichkeit“ noch eine „Justification of Morality“, denn dergleichen könnte es ja überhaupt nur geben, wenn man etwa „ein Interesse ausfindig und begreiflich [machte], welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne“ (460) – ein Ansinnen, das Kant bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit brüsk zurückweist. Die „praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs“, seine Verbindlichkeit also, ist und bleibt für Kant – unerachtet aller Unleugbarkeit – ausdrücklich „unbegreiflich“, unerklärlich. Man kann nur zeigen, dass der „einmal allgemein im Schwange gehende[ ] Begriff[ ] der Sittlichkeit“ (04:445) nicht Ausdruck unseres Glücksstrebens ist, sondern unseres Selbstverständnisses als freie Wesen. Wie Kant es in der Kritik der praktischen Vernunft dann mit Rückblick auf die Grundlegung schreibt: Sie war es, die erstmals 13  Der „natürliche gesunde Verstand“ soll 1785 ganz ausdrücklich nicht belehrt, sondern nur aufgeklärt werden (04:397). Kants leitende Frage ist daher nicht: ‚Warum soll ich moralisch sein?‘ – ‚denn dass ich es sein soll, ‚begreift ein jeder von selbst‘ (vgl. dazu 06:273), sondern allenfalls: ‚Warum eigentlich soll ich moralisch sein?‘ – und dahinter steckt keine obstinate, sondern eine ganz normale erklärungsverlangende Frage, die Kant mit der Rechtfertigung einer neuen Formel des obersten Prinzips der Moralität, mit dem kategorischen Imperativ, beantwortet: Moral ist Ausdruck der Autonomie – aber nicht der Eudaimonie.

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mit dem Princip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel derselben angiebt und rechtfertigt.*

Und in der Fußnote heißt es dann, dass man es nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten [soll], daß darin kein neues Princip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt worden [ist]. (05:08, Herv. B. L.).

Wenn man in Grundlegung III jedoch anstatt einer freiheitsbasierten Deduktion der Idee des reinen Willens eine Deduktion des kategorischen Imperativs oder des Sittengesetzes (im Sinne eines „Nachweis[es] der Geltung des Sittengesetzes für den Menschen“) ‚herauszuklügeln‘ versucht, um Kant gegen den Amoralismus in Stellung zu bringen, dann reißt man das Buch nicht nur aus dem systematischen und dem historischen Kontext der kritischen Philosophie heraus: Man verwandelt es zudem mit einem Handstreich von einem der brillantesten Texte Kants in einen seiner dunkelsten, wenn nicht sogar – wie man es auch schon lesen konnte – in einen der dunkelsten Texte der Philosophiegeschichte überhaupt.14 *** Unerachtet ihrer architektonischen, argumentativen und schriftstellerischen Meisterschaft konnte die Grundlegung nicht Kants letztes Wort sein, denn sie hatte mit ihrer ‚spekulativen (Willens)Freiheitslehre‘ noch einen groben dogmatischen Fehler aus der Antinomie der Kritik der reinen Vernunft geerbt, auf den ihn zwei Rezensionen im Mai 1786 sogleich aufmerksam gemacht haben.15 Kants Lehre von der Willensfreiheit selbst war hier aber kein Thema, ich habe nur darauf hingewie14  Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie des Schicksals, dass ein für die neuere Interpretationsgeschichte der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten prägender Aufsatz (Henrich 1975) in einem Sammelband mit dem Titel „Denken im Schatten des Nihilismus“ erschienen ist: Eine Kantische ‚Grundlegung der Moral‘ als dunkler Einspruch avant la lettre gegen Nietzsches Genealogie der Moral? 15  Dieser Fehler bestand darin, dass Kant (nachweislich von 1781) bis 1785 die Teilhabe der menschlichen Vernunft am Intelligiblen mit Verweis auf den vermeintlich nicht-sinnlichen Ursprung der Ideen spekulativ begründet hat (A 456 f., 04:345, 04:452 u. ö.). Das kam letztlich einer Erkenntnis eines Gegenstandes der intelligiblen Welt (sc. einer „Intelligenz“) gleich, denn es bedarf dafür eines (eigentlich unübersehbar-)transzendenten Gebrauchs der Kategorie, was Kant in den Prolegomena dann auch mit geradezu entwaffnender Deutlichkeit formuliert: Die Vernunft ist „Eigenschaft [!] eines Dinges an sich selbst [!]“ (04:345.08). – Von 1787 an ­geschieht die „herrliche Eröffnung“ (05:94) der intelligiblen Welt des menschlichen Willens dann ausschließlich vermittels des unabweisbaren „Bewusstseins des moralischen Gesetzes“ (B 430 f. u. a.), also nur (noch) in praktischer Absicht, d. h. ohne irgendeinen theoretischen Erkenntnisanspruch bezüglich des Intelligiblen – und somit endlich gemäß der „consequenten Denkungsart der speculativen Critik“ (05:06; dazu Ludwig 2017 und 2018). – Es ist nicht einfach zu glauben, dass Kant selbst diese Änderungen für bloße Verdeutlichung und nicht als Korrektur eines (im Kontext der kritischen Philosophie sehr schweren) Fehlers gehalten hat – auch wenn er das behauptet (B XXXVII).

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sen, dass sie spätestens seit 1784 eine der tragenden Säulen seiner Moralphilosophie ist. Hier ging es allein darum, uns – um mit Klaus Reich zu sprechen – in den Stand zu setzen, die Kantische Illusion nachzuvollziehen, er habe 1785 die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer reinen, nicht-eudaimonistischen Metaphysik der Sitten gezeigt. Kant selbst ist dieser Illusion allerdings nicht lange erlegen: Seine ‚Deduktion der Idee des reinen Willens‘ hatte für ihn keinen Bestand. Vor allem aber war sie, wie Kant dann rasch bemerkte, gänzlich überflüssig: Soweit es um den reinen Willen geht, konnte Kant nämlich einfach auf das 1781 bereits beim Gottes- und Unsterblichkeitspostulat erprobte datum zurückgreifen. Denn, so lesen wir in der Kritik der praktischen Vernunft, die objective Realität eines reinen Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ist im moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Factum gegeben […] und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit […] ist vergebens (05:55).

Die Frage der Grundlegung: „Wie sind kategorische Imperative möglich?“ war also noch Ausdruck eines dogmatisch-überspannten „Vernünftelns“, denn kategorische Imperative sind möglich, weil sie wirklich, weil sie „gegeben“ sind – und mit diesen ist dann eben auch der reine Wille „gegeben“, ohne den sie ja (wie es bereits die Grundlegung gezeigt hat) gar nicht möglich wären. Die 1787, in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, erstmals auf „praktische Data“, also auf das (in der Kritik der praktischen Vernunft dann erstmals so genannte) „Factum der reinen praktischen Vernunft“ (und des reinen Willens) gegründete, neue Lehre von der Freiheit als einem praktischen Postulat (05:94, 132), die Lehre vom Gesetz als ratio cognoscendi der Freiheit, galt es fortan also auszubuchstabieren. Und ferner wartete ja auch noch die alte Postulatenlehre (s. A 634) von Seelenunsterblichkeit und Gottesexistenz aus dem Kanon von 1781 auf eine autonomie-kompatible Reformulierung (ohne jeden Rückgriff auf „Drohungen und Verheißungen“; s. o.). – Damit wäre nun auch schon eine Antwort auf die Frage vorgezeichnet: „Warum musste Kant 1787 die Kritik der praktischen Vernunft schreiben“16. 16  Das Werk ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ ist somit keine Ergänzung zum Werk ‚Kritik der reinen Vernunft‘: Die Schrift von 1787/88 fügt dem von 1781 nämlich der Sache nach überhaupt nichts hinzu, sie ersetzt vielmehr zwei gewichtige Lehrstücke desselben: Mit ihrer Analytik ersetzt sie die Willensfreiheitslehre der Schrift von 1781 (d. h.: A 533 – 558; Kant betont daher 1790 gegenüber Kiesewetter ausdrücklich, dass eine Willenslehre nicht mehr in die KrV gehöre, sondern in die KpV – wo dann das Sittengesetz ins Spiel komme; siehe 11:154). Und mit ihrer Dialektik ersetzt sie den Kanon (A 795 – 831). Beide Lehrstücke von 1781 genügten, wie Kant erfahren musste, nicht mehr den Kriterien der „consequenten Denkungsart der speculativen Critik“ (dazu Ludwig 2010). Deduktion und Paralogismus waren aus diesem Grund ja bereits kurz zuvor in der zweiten Auflage durch neue Versionen ersetzt worden, doch nach dem Paralogismus brach Kant die Überarbeitung unvermittelt ab (ein Zeugnis eines bis dato unerwarteten Abbruchs sind zwei seitdem offene Verweise in den nachfolgenden Text: B 430 und 423). Kant bezieht sich um 1787 auf diese gleichsam ‚sittengesetzfreie‘ Rumpf-Kritik vornehmlich mit dem Ausdruck ‚Kritik der speculativen [!] Vernunft‘ (B XXII, XLIII; 05:07 f., 42, 141 u. ö). ‚Kritik der reinen [!] Vernunft‘ wird damit implicite zum Obertitel für

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Literatur Henrich, Dieter: Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnittes von Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. In A. Schwan (Hrsg.): Denken im Schatten der Nihilismus, Darmstadt 1975, 55 – 112. Ludwig, B. (2010) Die „consequente Denkungsart der speculativen Kritik“. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58 (4), Berlin, S. 595 – 628. Ludwig, B. (2015) ‚Notwendigkeit ist nichts als jene Existenz, die durch die Möglichkeit gegeben ist‘. – Zur Epistemologie des Übersinnlichen bei Leibniz und bei Kant. In: Claudia Jáuregui, Fernando Moledo, Hernán Pringe, Marcos Thisted (Eds.): Crítica y Metafísica. Homenaje a Mario Caimi (=Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 90), Hildesheim 2015, 245 – 273. Ludwig, B. (2017) Kants langer Weg zu einer Consequent-Kritischen Metaphysik. In: A. Hahmann, B. Ludwig (Hg.), Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kritischen Philosophie. Hamburg 2017, 79 – 118. Ludwig, B. (2018) Über drei Deduktionen in Kants praktischer Philosophie – und über eine, die man dort vergeblich sucht. In: Kant-Studien 109(1): 47 – 71. Ludwig, B. (2019): Aufklärung über die Sittlichkeit, Zu Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, Frankfurt 2019. Paton, H. J. (1947): The categorical Imperative: A Study in Kant’s Moral Philosophy, London. Schneewind, J. B. (1998): The Invention of Autonomy: A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge.

Summary In the Doctrine of Method of his Critique of Pure Reason Kant had presented a proof of god’s existence from Moral Theology that was not compatible with the Moral Philosophy he taught in his lectures since the 1760s: In 1781 Kant obviously did not yet realize that categorical imperatives are not possible as long as divine rewards and punishments are prerequisites for moral obligation (as his proof presupposed). In the Groundwork the sanctioning will of god is replaced by the pure, legislative will of the free being itself as the “source” of moral obligation. The deduction of this very “idea” assures that categorical imperatives are possible – and hence autonomy has to supersede theonomy.

zwei Kritiken – was dazu passt, dass die zweite Kritik ja ursprünglich als ein Teil der zweiten Auflage des Buches von 1781 geplant war (siehe dazu 03:556).

“Kantian Postulates” in Husserl’s Later Texts at the Limits of Phenomenology Thomas Nenon

Prominent among the topics covered in the recently published in Volume XLII of the Husserliana series under the general heading of Grenzprobleme der Phänomenologie1 are questions relevant for Husserl’s thoughts on moral motivation. The texts published there that are taken from Husserl’s later research manuscripts are revealing and, at least for those whose familiarity with Husserl is taken primarily from the writings he published during his lifetime, quite surprising: revealing, because they provide insights into some of Husserl’s most basic motivations and beliefs as a person, and surprising, because they depart so dramatically from the image of a philosopher of pure consciousness whose model for knowledge is the perceptual recognition of physical objects. Scholars who have been working on the manuscripts that remained unpublished during his life-time will be less surprised by the topics presented here, namely the notions of birth and death, the instincts as indispensable and often essentially unconscious elements of mental life, the primacy of valuing and willing as motivations in human lives, and questions of the ultimate meaning of life in terms of ethical values and religious / theological ideals. However, they will find much more explicit and extensive treatments of several of these topics than in anything previously published and discover ideas that go well beyond what is presented in the other texts on these topics that have appeared until now. As the title of the volume indicates, what all of texts included in the volume have in common is that they are at the “limits” of phenomenology. They include topics that are not accessible to consciousness under the phenomenological reduction. For instance, we witness the birth and death of others, but transcendental subjectivity has no access to its own beginning and, by definition, cannot experience itself as ended in death, yet we take it as certain that all transcendental consciousness is necessarily embodied and that embodied subjects are born and will at some point die. We ourselves as persons also find ourselves subjected to drives and instincts that are not necessarily directly accessible to reflection, nor is the fact that we share many of those same instincts with other animals necessarily a truth that can 1  Edmund Husserl, Grenzproblem der Phänomenologie: Analysen des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik, Texte aus dem Nachlass (1908 – 1937), Husserliana Band. XLII, edited by Rochus Sowa and Thomas Vongehr, (Dordrecht: Springer, 2014). References to passages from this volume will be cited simply using the page numbers in this volume.

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be gleaned from an examination of pure consciousness either. Similarly, Husserl’s conception of God as an ideal postulate of practical reason – a Kantian postulate, he calls it – which is the main topic of this essay, might perhaps be accessible through an analysis of what is implicitly entailed in rational motivation for moral action, but it is certainly not accessible to experience as such, and even its status as an ideal may or may not be an apodictic insight on the same level as eidetic insights into the necessary givenness of perceptual objects through adumbrations, for instance. In this sense, the notion of “limits” here is ambiguous. In the editors’ “Introduction,” they point to the mathematical notion of a “limes” as one helpful way to think about limits here (XXIII – XXIX). In a way similar to the mathematical procedure, according to which what can actually and precisely be calculated is used in increasingly small increments to approach that which cannot be measured directly, these limit phenomena are not themselves directly accessible to phenomenological description, but can be reconstructed or even constructed based on what is directly accessible to phenomenological description. As constructions, however, one might view at least some of them as outside the bounds in another sense, as “subliminal” or “translimal” a sense that moves Husserlian thinking on these topics outside the bounds of philosophy as a scientific enterprise as well. In this regard, they do indeed resemble the Kantian postulates that go beyond the bounds of theoretical reason, knowledge, but are nonetheless posited as necessary implications of practical reason. The passages are certainly thought-provoking and contain a wealth of interesting analogies and insights – even if many of them are outside the bounds of transcendental phenomenology as a science –, but it is important to recall that Husserl repeatedly characterizes the thoughts documented here as “experimental,” “preliminary,” “needing correction,” still filled with “confusions” and “unclear points” or “not yet mature.” So in attempting to ascertain the status of these texts, it is certainly true that these are Husserl’s thoughts at various points along the way, especially in the later stages of the development of his work, but one should exercise caution in accepting them as Husserl’s “positions” in a strong sense without evidence from other texts that he published or intended to publish in some way or without independent evidence (whether phenomenological or otherwise) to support them. We will come back to this point more directly at the end of this essay. Specifically relevant for questions concerning moral motivation are the second and third sections of the volume. The second section presents five extended texts plus some supplemental texts related to the instincts as a basic phenomenon of animal life, including the lives of humans. Contrary to the standard reading that attributes to Husserl the position that all mental life is conscious in the sense of being directly accessible to self-consciousness, these texts show that Husserl’s considered position by the 30’s at the latest is that human consciousness is also permeated by instincts – desires, drives, and inclinations – that are not necessarily accessible to direct awareness. He identifies a fundamental structure of life, and not just conscious life, as Selbsterhaltung, self-preservation or sustaining itself across time. At the lowest level, these are desires and tendencies that do not necessarily involve a determinate purpose, but even at the lowest level, they have the proto-intentional

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structure that exhibits itself as a directness towards some experience of fulfillment. At higher levels, the inherent goal-directness of life can exhibit itself in a conscious dynamic of intention-fulfillment, whereby the notion of self-sustainability becomes the inherent directness of intentions – whether as beliefs, values, or actions – towards fulfillment with its temporal parallel in the sustained unity of a belief, a desire, or an action over time. This is fundamental structure of reason for Husserl, which can also involve sustainability beyond just the individual level, but sustainability across individuals and perhaps even generations. Drawing on both Aristotelian and Leibnizian language, Husserl explores how these hidden or explicit purposes motivate all of life and seem to be a pattern of the universe itself in its unfolding over time. This is where his ideas about the teleological structure of life, consciousness, and the universe lead him to the notion of a divine principle that would explain and assure the unfolding of these purposive structures, a kind of “reason in history.” It is important to note that Husserl recognizes that the key role of the instincts is not limited to other animals or to developing human life, but that even in fully developed normal human functioning, the instincts remain powerful motivating factors influencing our desires and actions. In fact, “Reason itself (is) modified instincts, all rational life is permeated by instinctive affections and desires. Is the world itself not always already constituted out of instinctiveness and its fulfillments?” (134). Though they are not always necessarily opposed to reason and sharing with it a structural similarity in the directness towards goals, from the standpoint of more fully developed consciousness, however, “... blind instincts can turn out to be related to things that are in themselves rational or universally purposeful, in being indirectly related to something that is in itself valuable; they can also be perverse, sick, or directed to something without value” (87). Conscious life is a stage on which various instincts compete with each other, the irrational vies with the rational, and even the rational is always exerting whatever influence it gains against the background of irrationalities and is constantly in danger of being overwhelmed by them. Husserl increasingly comes to acknowledge how conscious life is not just a surface phenomenon, a series of directly accessible attentive states of the now, but has interruptions and depths not directly accessible to reflection. In fact, at least twice he refers to Freud (113 and 126) as another thinker exploring these depths. As mentioned at the beginning of this paper, these themes should not be a complete surprise to scholars familiar with Husserl’s genetic phenomenology in general or more particularly with his 1920 – 24 lectures on ethics.2 We recall that there he had stressed that feelings play a key role in moral motivation. “Reason” in the practical sphere is not a matter of theoretical calculation or of the intellect alone. It is the 2  Edmund Husserl, Einleitung in die Ethik, Dordrecht: Kluwer 2004. Vorlesungen Sommersemester 1920/1924, Husserliana Band XXXVII, edited by Henning Peucker. (Dordrecht, Kluwer, 2004). (= Hua XXXVII)

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self’s directedness towards appropriate experiences and intuitions that can serve as confirmation for the purportedly beautiful or valuable in the aesthetic or the good in the ethical sphere. It is also clear how reason is not the opposite of feelings. Rather it is the search for appropriate feelings and dispositions for acting. For Husserl, not all feelings are created equal and not every feeling is sui generis pathological in a Kantian sense. For him, the question is not how to have pure practical reason trump all our inclinations, but rather how to sort out the appropriate from inappropriate inclinations. In fact, Husserl believes that all actions are motivated by feelings: “The intellect alone is not practical. Only feelings can determine actions” (Hua XXXVII, 170) and further, Human beings’ practical conduct is obviously determined by feelings. It we attempted to eliminate feelings from the human breast, then all ethical concepts, concepts such as end and means, good and bad, virtue and duty and all the concepts that belong along with them would lose their meaning. Humans would no longer be striving, desiring, acting entities. We therefore have to go back to feelings and examine them more closely in order to elucidate the meaning of our ethical concepts, in order to study humans as ethical beings, to elucidate the unique features of their moral conduct and to ground the moral laws that explain it. (Hua XXXVII, 148)

The important issue for Husserl is to examine critically the tendencies and feelings we do discover in ourselves and see if they are justified and consistent with our overall goals and duties. That is also why, in many of the texts contained in the Limits-volume, but also earlier in the Kaizo articles,3 Husserl stresses feelings like love that do expand the scope of one’s motivations to include the well-being of others and the commensurability of one’s individual feelings and tendencies with those of other persons in the communities of which one is a member. Some of the texts in Section II and most of the texts in Section III build upon some of these same themes – life, death, teleological structures, their fulfillment, hindrances, and disappointments – with an eye to the question of whether such teleological structures amidst the fragilities and fractured nature of consciousness do not necessarily point to an Ideal of complete fulfillment if not of every specific end and goal, at least an overall purpose that could give meaning to human striving. Using the language of individuated instances of consciousness as “monads,” Husserl asks whether the very notion of one world, for instance, does not point to the idea of an ideal point of unity for all of them, something like we often call in English “a God’s eye view”? His term for it is an “All-Bewusstsein” (All-encompassing consciousness) (166 – 67). More important for him, though, is the ethical dimension of a conception of God as an ideal source of meaning in the universe – an idea of God not just as a warrant for truth (see, for instance, 173), but also for the beauty and goodness of the universe (176). This ideal has an eminently ethical dimension for Husserl, which is why Sections III and IV return often to the same themes. 3  Edmund Husserl, Vorträge und Aufsätze 1911 – 1921. Husserliana Band XXV, Thomas Nenon and Hans Rainer Sepp (eds.), Dordrecht: Kluwer 1987, pp. 43 – 124.

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Husserl distinguishes extra-rational religion, guided by tradition, from religion grounded in genuine experiences subject to rational confirmation. The kinds of experiences he means involve above all grounds for rational motivation for right actions. For Husserl, moral actions are motivated by feelings just as much if not more than by mere intellectual insights. Even the noblest of actions, the most ethical strivings are motivated by feelings, for instance, feelings of love – an unconditional love like that of a mother for her child or feelings of love for one’s fellow man, as members of the same community or for humanity as a whole. Reason and feelings are not opposites for him, but rather practical reason is being motivated by the right feelings towards genuine and lasting goals, consistent with the general theme of teleology in this volume from the inherent teleology of drives and instincts up through the teleological motivations involved in the highest and most genuine ethical goals of humanity. All human strivings and above all ethical strivings are motivated to the achieving of some end. However, Husserl notes over and again that all of our strivings for success are always threatened by elements beyond our control – illness, death, affectivities in our own lives, conflicts with others, selfishness, and ignorance. If part of the inherent motivation to do one’s best is some sort of confidence that the goals one is striving for are achievable, then how can one stay motivated in the face of the failures and disappointments one experiences as part of our lives? Husserl’s own life-experience and feelings find expression here, the disappointments and trials he faced in the personal losses he experienced with the loss of a beloved son in the First World War, the experience of being part of an entire nation that had been misled and manipulated into that war and the subsequent experience of loss and powerless of the German people after the war weighed upon him. Then in the 30’s, Husserl is wondering whether the notion of progress in history makes any sense in light of the developments his is not only witnessing, but also suffering as events in Germany are taking a fatal turn. How can one continue to work, as he says in the Crisis and other places, as a functionary for humanity when all might well be for naught? In these texts, he invokes the Ideal of a divine governance of an ultimately rational and meaningful universe where progress towards the goal of the betterment of humanity is a postulate for continued ethical striving in what otherwise might seem to be a completely irrational, meaningless world. With explicit reference to Kant’s postulates of practical reason, Husserl asserts that the notion of God as an absolute teleological ideal is the “infinite source of strength on which I can draw” (216) in striving to make myself a better person and the world a better place. He asks, “What must be believed in order for the world to be able to make any sense” (238)? Otherwise, he fears, everything would be in vain (254). One cannot help but hear Husserl’s own deepest personal doubts and fears when he asks how a father who would not be able to have some faith that the son he values and loves might not continue to live and how that father could consider it a bearable idea that his son, “this good human being should die senselessly without having lived out his life …?” (241) He explicitly refers to this faith as a “Kantian postulate.” How is it similar and how is it different from Kant’s postulates themselves?

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The content of the Husserlian postulates is certainly quite different from those in Kant’s most definitive presentation of them in the Critique of Practical Reason.4 There, Kant defines postulates as necessary “presuppositions in a practical regard that do not extend our speculative knowledge but provide the ideas of speculative reason in general (with regard to their relationship to the practical) objective reality and justify them as concepts whose possibility we might not even presume to maintain otherwise” (KprV, 238). This formal description certainly fits Husserl’s notions of an absolute teleology in history and the idea of some kind of divine providence for which pure phenomenological reflection or even empirical observations and extrapolations cannot provide evidence. Rather, Husserl describes them as necessary assumptions for continued striving to give one’s life meaning if one’s efforts are directed at the betterment of humanity. However, whereas the ideas Kant identifies as postulates of pure practical reason, namely freedom, the immortality of the soul, and a just God point towards individual rewards for moral action in the next life, Husserl’s postulates point towards to possibility of finding comfort in the confidence that there is progress in history and that contributions towards the betterment of humanity as a whole will not be in vain even though one might individually suffer grave losses and severe disappointments in the course of one’s own life on this earth. The reward Husserl seeks in not a reward in another life, but rather in the confidence that it is possible to contribute to the overall progress of humanity here on earth. In this regard, the path he actually takes here is oriented on Kant’s views about teleology with regard to history as articulated in § 84 of the Critique of Judgment,5 where he recognizes that, if history is to have any ultimate purpose, it can only consist in the moral betterment of humanity since the only unconditional end in the world is the realization of pure practical reason, i.e. morality. In his own later essays, in particular in his essay on “Perpetual Peace,”6 Kant laid out why it might be reasonable to assume that one can see a certain hidden purpose in history tending towards a future state in which each human being is not only a member of a civil order in which conduct consistent with the moral law is facilitated within one’s own society, but also a universal world order in which nations might come to agree on an arrangement that would encourage conduct consistent with moral demands among 4  Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, (= KprV), cited using the page numbers in Volume V of Akademie-Ausgabe in: Immanuel Kants gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, (Berlin: de Gruyter, 1908), pp.  1 – 163. 5  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kants gesammelte Schriften. Vol. V, pp. 167 –  485. 6  Immanuel Kant, “Zum ewigen Frieden,“ in: Kants gesammelte Schriften. Vol. VIII, pp. 343 – 86. The most comprehensive collection of essays on this topic, including articles by Joachim Hruschka (pp.  215 – 230), Sharon Byrd (pp.  171 – 190; 343 – 362), and Jan Joerden (pp. 139 – 156) can be found in: Hoke Robinson (ed.), Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Memphis 1995. Volume I, Part 1, Sections 1 and 2 (Milwaukee, Marquette University Press, 1995).

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nations as well. Kant himself makes no connection between this possible development and an individual’s moral duties and moral motivations, as Husserl does, but these historical / political speculations certainly are connected to his views about the nature of morality and of the idea of freedom as the only unconditional good and thus teleological principle in history. Interestingly, the subsequent thinker whose development of this idea most closely resembles the direction it took for Husserl is not Fichte, who otherwise had a strong influence on Husserl’s ethics in his middle and later periods, but Schelling, whom Husserl almost certainly did not read. Towards the end of Schelling’s System of Transcendental Idealism,7 he follows and extends the Kantian notions of a universal history with progress towards a moral order among nations and a divine providence that guides this program. The end-result of his brief remarks on these topics are remarkably similar to Husserl’s, even though it is highly unlikely that Husserl would have had occasion to be aware of these parallels. As noted above, there can certainly be some questions about how many of these questions and these tentative responses Husserl offers still remain within the bounds of transcendental phenomenology or philosophy as a science at all in Husserl’s sense. It is certainly not the case that these reflections yield eidetic insights that necessarily hold for all rational beings. There are certainly conceivable alternatives that other reasonable human beings have historically found plausible – from traditional Christian notions of a reward in the afterlife, which is actually closer to the ideal postulated by Kant, to Buddhist notions of karma and reincarnation, or even just classical Stoic reliance on a kind of inner satisfaction that could come from knowing that one has done his or her best. There is no doubt that for Husserl himself, though, these were among the most serious questions he faced as he struggled to make sense of his own life and maintain his belief in reason as an authentic and legitimate motivating force for himself and in his view for all of humanity. The texts presented here help explain much about Husserl and his own self-understanding as a philosopher and a person and they help fill in the gaps between some of the more phenomenologically grounded philosophical positions and the self-interpretation of his work we find in his personal correspondence and in his impassioned pleas for the importance of philosophy in general and phenomenology in particular as an eminently ethical pursuit and a crucial component of social and cultural renewal at a critical time in the history of modern humanity. Zusammenfassung Dieser Beitrag stellt einige von Husserls wichtigsten und oft überraschenden Gedanken über Phänomene vor, die sich als an die Grenzen der Standardmethode 7  F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. In: Friedrich Wilhelm Schellings sämmtliche Werke , (Stuttgart und Augsburg: Cotta, 1856 – 61), Band III. For this topic, see especially pp. 580 – 604.

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der Phänomenologie oder darüber hinaus gehend darbieten. Dies umfasst Phänomene, die der Erste-Person-Reflexion im reinen Bewusstsein selbst nicht direkt zugänglich sind, wie etwa Geburt und Tod, die Instinkte und die letzten Gründe von Welt und Geschichte. Insbesondere interessant für diesen Beitrag sind dabei die von Husserl so bezeichneten „Kantischen Postulate“, die eine Motivation für praktisches Handeln bieten, aber nicht durch empirische Beobachtung oder theo­ retische Reflexion erwiesen werden können. Für Husserl ist das erste Ideal, das er postuliert, ein Begriff göttlicher Vorsehung als Quelle für das Vertrauen in den Fortschritt, in die Vernunft in der Geschichte, das menschliche Anstrengungen rechtfertigen würde, die auf eine graduelle Verbesserung der Menschheit gerichtet sind. Der Beitrag schließt mit einem Vergleich von Husserls Postulaten mit denen von Kant und der Feststellung, dass Husserls Position hier tatsächlich näher bei der von Schelling liegt, obwohl bezweifelt werden kann, dass Husserl selbst sich dessen bewusst gewesen ist.

Cosmopolitanism without Commensurability: Why Incommensurable Values are Worthless Kenneth R. Westphal without

I. Introduction Weber’s (1917) essay on value neutrality in sociological and economic sciences repays reconsideration handsomely, both for what it expressly argues or clearly suggests, and for those further reflections it prompts or affords. It is a mature work, published only three years before his passing in 1920; as always, Max Weber is vigorous and acute. Weber is very clear and forthright about what empirical social sciences can and cannot provide regarding which courses of action, whether individual, collective or institutional (including governmental), are or are not advisable. He is also rightly emphatic that the scope and competence of social sciences are insufficient for policy deliberations, though they can and ought to be necessary to such deliberations – and they can and ought to provide bases for responsible political engagement by social scientists who recognise that they are not only scientists, but also responsible members of society, typically: members with the rights and obligations of voting and petition. I do not think Weber’s own assessment of these issues is so bleak as may first appear; certainly his own assessment does not lend itself to Carl Schmitt’s self-serving ‘decisionism’, not without exploiting two further, portentous blunders. Weber’s essay examines a host of issues regarding facts and values, theory and practice, propositions, attitudes and commitments. Unstated yet fundamental to his reflections are issues about what Aristotle called the practical syllogism and about the scope and limits of rational justification, best identified by Kant’s Critical philosophy.1 II. Value Conflicts? I begin with what may appear to be appallingly naïve: Though they may differ, though they may be incompatible or mutually inconsistent, values do not clash. 1  Otherwise unassigned parenthetical page references are to Weber (1917) in its (1922) republication / English translation (2012b), though translations are revised or provided anew without further notice. (References provided at the end.)

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They do not even conflict, no more than do sense-data, dreams or mirages (the optical phenomena, not the fighter jets). Not only behind ‘actions’, but also behind the ‘plurality of possible valuations’ (Wertungen) stands: s / he who acts – der Mensch (492/328). Weber’s issue concerns Wertungen in the form of Wertungsstandpunkte (465/312): what people stand for and stand against. This is where key issues about struggle, conflict or ‘incommensurability’ of fundamental ‘valuations’ arise. People pursuing what they value – that to which they commit themselves – may well struggle, conflict or inadvertently interfere with others, whether competing for the same relatively scarce ends; over desired yet relatively scarce resources; or heedlessly striving for their own ends, others’ ends, ways, means or persons be damned. Weber’s examination of “Wertungen” or ‘valuations’ as they can be embodied in actions is altogether a contribution to normative sociology, as an empirical study of normative phenomena – human actions, whether individual or collective – and to the methodology of the social sciences, including what kinds of research, teaching or promulgation properly falls within the remit of professional academic research and teaching – and what falls outside that remit yet belongs to the public responsibilities of an informed intellect, who happens professionally to be a social scientist. The English phrase, ‘value judgments’, is too thin, too intellectualist; ‘valuational positions’ (2012b, 312) is too abstract and ephemeral (cf. 470/315, quoted below, § IV); both miss the connotations of conatus – that is, willingness, commitment – to act on those valuations by intervening in affairs or by abstention. We might – and I shall – render Weber’s term Wertungsstandpunkte (465) as ‘value stances’. III. ‘Is’ and ‘Ought’: Empirical Science and Policy Advocacy In several regards and with many illustrative examples, Weber underscores how empirical social sciences cannot legitimately bridge the distinction between sociological fact, or social-scientific explanation of social institutions or phenomena, and normative advocacy of policy. 1. One set of Weber’s considerations concerns the empirical evaluation of effective, sufficient ways and means of achieving some well-defined goal. In this regard, he repeatedly highlights how social-scientific assessment of ways and means is indeed important, but suffices only for precisely, unequivocally specified goals. The practical problem is that such precise goals are either rare or artificial; in public life we must and do also consider both how goals are best characterised and which goals ought to be given priority. These questions require political debate and deliberation; answering them is beyond the scope of empirical social science, precisely because those goals are not univocally defined, and so cannot afford strictly technical assessment of available and sufficient ways and means to achieve them. This is an important observation about the insufficiency of sound social science to policy debate, not its irrelevance (461/310)!

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2. Another set of Weber’s considerations concern the social-scientific study of specific social viewpoints or ‘theories’: To examine, understand and clearly expound the most fundamental values, the ‘axioms’, as it were, which inform a social view – e.g. syndicalism, anarchism, Marxism, socialism, liberalism, free-market libertarianism – so as to characterise such views as accurately, adequately and systematically as possible, so that these views can be understood and assessed, by their proponents as well as opponents. 3. These considerations arise in two regards: ‘value discussions’ amongst proponents or opponents of the value stances in question; and the social-scientific examination and interpretation of such value stances. Consider first Weber’s summary findings about value discussions amongst proponents of specific value stances, those who adopt and live by their evaluative standpoints: Thus, the discussion of practical valuations (of those participating in the discussion themselves) can only mean: a) The explication of the ultimate, internally consistent and consequential value-axioms, from which the mutually divergent attitudes derive. People often err, not only about the opponent’s, but also about their own evaluations. This procedure essentially begins with concrete particular evaluations, analysing their significance and ascending to more general, principled evaluative stances. It does not use the techniques of an empirical discipline and it produces no new factual knowledge. It is ‘valid’ in the same way as logic. b) The deduction of ‘consequences’ for the evaluative stance, which would follow from specific ultimate value-axioms, if practical evaluation of factual situations is based solely upon these axioms. This deduction solely concerns the significance or meaningfulness of the argumentation, so bound to empirical determinations as to provide the most exhaustive casuistic analyses possible of all such empirical determinations as can be considered by practical evaluation. c) The determination of the factual consequences which executing a specific practical evaluation must have for some problem: (1) in consequence of being bound to specific indispensable means, (2) in consequence of inevitable, specific, not directly desired collateral effects. These purely empirical determinations may have inter alia such results as: (1) the utter impossibility of achieving the value-postulate, not even remotely, because no means to achieve it can be discovered; (2) the greater or lesser improbability of its complete or even approximate achievement, either for the same reason or due to probable occurrence of undesired collateral effects which may directly or indirectly render the execution illusory; (3) the necessity of accepting such means or such collateral effects as the advocate of the practical postulate in question had not considered, so that his evaluation of end, means and collateral effects presents a new problem to him at the cost of compelling force against others. Finally: d) new value-axioms and their correlative postulates may be represented, which the advocate of the practical postulate had not considered, and so in their regard had formulated no stance, although executing his own postulate conflicts with these others either (1) in principle or (2) as a result of practical consequences, i.e., in their significance or practically. The first case (1) concerns further discussion of problems of type (a); in the second case (2), of type (c).

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Far from being ‘meaningless’, value-discussions of this type, provided their aims are correctly understood, and in my view: only then, can be enormously significant. (472 – 3/316 – 7) This aim of intelligibility provides  – so far as is possible for participant-advocates – for understanding an evaluative standpoint, one’s own or another’s. Such understanding may not lead one to endorse it, but understanding another’s standpoint is crucial to any constructive policy debate – even if such debate may concern restrictions, e.g., on public speech by holocaust deniers or by bigots, racists or sexists; or perhaps restrictions upon eligibility for public office, such as the democratic Athenian procedure of ostracism, by which those who appeared to be gaining too much influence yet exhibiting too much arrogance for the security of Athenian democracy could be sent abroad for a decade – plainly a much more sensible policy than electing them to high office.

This aim of intelligibility holds equally for social views or even Weltanschauungen vastly different from, or even opposed to, one’s own – whether one is a social scientist, or an interested participant. Weber rightly stresses two different status of Wertungen – as values by which one lives, for participants or advocates: Wertungsstandpunkte (465/cf. 312) – or as social conventions by which people live, as these are studied by social sciences. They are one and the same Wertungen, but how they are understood and assessed by participants and by social scientists are and must be distinctive. According to participants, adherents or advocates, Wertungen are normatively valid; for social scientists, they are de facto conventions by which people live (494/329). This distinction in status is solely due to the specifically empirical approach required by any social science, including interpretive sociological study of normative phenomena. I return to this contrast shortly. IV. To What Extent, and How Well, can Wertungen be Assessed? Weber stresses that it is not possible to assess these Wertungen ‘scientifically’, i.e., not empirically, also not by normative social science. Consider Weber’s assessment of our critical resources: Philosophical disciplines can go further and discern the ‘meaning’ of evaluations, i.e., their ultimate structure of significance and their significant consequences, and thus can indicate their ‘place’ within the totality of all possible ‘ultimate’ values and delimit the spheres of significance within which they are valid. Yet even such simple questions as the extent to which an end should sanction unavoidable means, or the extent to which undesired collateral effects should be accepted, or third: how conflicts between several concretely conflicting, incompatible, yet desired or obligatory ends are to be arbitrated, are entirely matters of choice or compromise. There is no (rational or empirical) scientific procedure of any kind whatsoever which can provide a decision here. Least of all can our strictly empirical science presume to spare the individual [these difficult choices], and this science should therefore not create the impression that it can do so. (470/315) Does this rule out our assessing Wertungen, according to Weber? No, but how they can

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be assessed he does not explicate, as it is beyond the scope of normative social science and its empirical and interpretive methodologies.

As indicated in this passage, Weber acknowledges that philosophy can do more than social sciences to explicate and taxonomize Wertungen, including (NB) to ‘delimit the spheres of significance within which they are valid’. I examine this important delimitation shortly. At some points, Weber suggests that at least some Wertungsstandpunkte must or do appeal to trans-empirical ‘metaphysical’ claims (469, 470, 477/314, 315, 319); plainly Weber expects little consensus about metaphysics, which is ‘never demonstrable by science’. At other points, Weber mentions Wertphilosophie (463, 469/311, 314) – a philosophy of values or ‘axiology’, though he does not elaborate. One might recall Max Scheler’s (1913, 1916) Formalism in Ethics and Material Ethics of Values, or dozens of Neo-Kantian works on ethics. The chronic problem with such approaches is familiar from Mill’s purported ‘proof’ of the principle of utility: that something is valued or that someone does value something does not suffice to justify claims about whether it ought to be valued, or whether it is, in this normative sense, rightly valuable, or even (morally) permissible. This is, yet again, one key point of Socrates’s question to Euthyphro (Euthyphron, 10de). It is also the recurrence of problems of psychologism in connection with values (see § VII.3). Weber devotes somewhat more attention to Kant’s moral philosophy, mentioning his Critique of Practical Reason (467/313), and defending Kant’s ‘formal’ criterion of the Categorical Imperative against the common charge that, as formal, it is empty (468 – 9/314). Speaking of Kant’s Categorical Imperative (without naming it), Weber states: In its negative form and disregarding any claim about what would be the positive counterpart to the ethically proscribed treatment of another person ‘only as a means’, it obviously contains: (1) the recognition of self-sufficient extra-ethical spheres of value, (2) the delimitation of the ethical sphere from these, and finally, (3) the determination that, and the sense in which, differences of ethical dignity may be imputed to an action serving extra-ethical values. Actually, those value-spheres which permit or prescribe the treatment of another ‘only as a means’ are quite heterogeneous vis-a-vis ethics. This cannot be further pursued here; it shows, in any case, that the ‘formal’ character of that highly abstract ethical proposition is not, so to speak, indifferent to the content of the action. (468/314)

Weber’s remarks on Kant’s ethical theory are avowedly brief and circumscribed. I shall argue that further consideration of Kant’s Critical philosophy directly addresses and incisively circumscribes the proper domains of policy debate and Wertungsdiskussionen, including the domains within which various Wertungen or Wertungsstandpunkte can be valid – independently of anyone’s attitudes, whether pro or contra (cf. below, § VII.1).

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V. Weber’s Quasi-Axiomatic Model for Explicating Wertungsstandpunkte Weber’s quasi-axiomatic model for explicating Wertungsstandpunkte is expressly an exegetical, heuristic model aiming at comprehensive, detailed interpretive understanding. This model apparently treats a standpoint’s most basic values as ‘axiomatic’ – hence un-derived, perhaps or apparently self-evident, or merely expostulated. This model apparently leaves us confronting Kampf um Wertungsstandpunkte (cf. 469, 479/314 – 5, 220 – 1), i.e., strife if not conflict between or about evaluative standpoints, not only in theory but also in practice. Weber contends: Hence a non-empirical approach, interpreting the significance: a genuine axiology, or philosophy of value, when proceeding further, may not neglect that a system of ‘values’, however well-ordered, is unable to address the crucial point at issue. It is namely a question ultimately not only of alternative values, but of an irreconcilable deadly struggle, like that between ‘God’ and ‘Devil’. Between these, there is neither relativisation nor compromise; note well: in principle not. There are, of course, as everyone realizes in the course of life, compromises, both in fact and in appearance, and at every point, in almost every important position taken by real human beings, their value-spheres cross and interpenetrate. The superficiality of routinized ‘daily life’ in this most significant sense of the term consists precisely in this: that those who are living within it do not become aware, and above all do not want to become aware, of this partly psychologically, partly pragmatically conditioned motley of mortally irreconcilable ‘values’. Instead they avoid the choice between ‘God’ and ‘Devil’ and their own ultimate decision regarding these conflicting values, which of them is ruled by the one, which by the other. The fruit of the tree of knowledge, so unwelcome and inconvenient, yet entirely inescapable, consists in this: to know and hence to see that each and every important action and that ultimately life as a whole, if it is not to transpire merely as a natural event, but instead shall be consciously directed, signifies a series of ultimate decisions by which the soul, as Plato noted, chooses its own fate: the significance of its own activity and being. (469 – 70/314 – 5) Weber’s apparent voluntarism about ‘ultimate values’ and ‘ultimate choices’ may appear to offer a pretext for Carl Schmitt’s willful decisionism.2 That, however, is a mere appearance predicated upon egregious negligence regarding the scope and character of rational justification, and of the proper role of rational justification in guiding one’s actions and conduct in life, including public life, and within that, public policy debate and deliberation.

Weber quite rightly observes that ‘… a genuine axiology, or philosophy of value, when proceeding further, may not neglect that a system of ‘values’, however well-ordered, is unable to address the crucial point at issue’. Fortunately, the Critical resources of Kant’s account of rational justification in all non-formal domains, including morals and politics, are not limited to a ‘philosophy of value’. Thinking that relevant philosophical resources can only consist in a philosophy of value, which in principle cannot address the key point at issue, is not a mistake made by Weber, though for reasons now to be examined, Weber’s care in this regard is itself easy to mistake. 2  I examine Schmitt’s strategies in their juridical and political context in Westphal (2019); the present paper augments that analysis.

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Note first that Weber’s quasi-axiomatic, expressly empirical and interpretive model for explicating Wertungsstandpunkte readily recalls some combination of two standard models of rational justification: foundationalism and coherentism, as well as Rawlsian ‘reflective equilibrium’. If ultimate ‘values’ are the unjustified justifiers in practical or moral reasoning, we are indeed condemned to chronic petitio principii and conflict. However, neither model is sufficient, nor is any combination of them. That was already well known to Pyrrhonists. Sextus Empricus formulated the Dilemma of the Criterion thus: … in order to decide the dispute which has arisen about the criterion [of truth], we must possess an accepted criterion by which we shall be able to judge the dispute; and in order to possess an accepted criterion, the dispute about the criterion must first be decided. And when the argument thus reduces itself to a form of circular reasoning the discovery of the criterion becomes impracticable, since we do not allow [those who make knowledge claims] to adopt a criterion by assumption, while if they offer to judge the criterion by a criterion we force them to a regress ad infinitum. And furthermore, since demonstration requires a demonstrated criterion, while the criterion requires an approved demonstration, they are forced into circular reasoning. (PH 2.20; cf. 1.116 – 7) This is the key problem to be resolved, also when recast regarding criteria of justification. No axiology, no ‘philosophy of values’ (Wertphilosophie), has addressed it, nor afforded the slightest basis to address it. Hegel realised that Kant’s Critical philosophy does afford a solution to the Dilemma of the Criterion, when augmented by explicating the possibility of constructive self-criticism, and when Kant’s own Critical account of rational justification in all non-formal domains is augmented and undergirded, by showing that our recognising one another as competent rational judges is required for each and any of us to be a rationally competent judge (Westphal 2018a, §§ 2, 60 – 64, 71 – 91). Yes, these theoretical innovations still leave practical problems to address, but – one step at a time! Weber’s and Sextus’ problems require and deserve care, patience and clarity.

VI. Kant’s Critical Philosophy Not only is Kant’s Kritik der praktischen Vernunft (466/314), but the whole Critical philosophy is required to address the fundamental issues examined in, and those raised by, Weber’s essay. 1. Central to Kant’s critique of our human powers of judgment are five basic yet widely neglected points: (1.) Reasoning using rules or principles always requires judgment to guide the proper use and application of the rule or principle to the case(s) at hand (KdrV A130 – 6/B169 – 75). Specifying rules of application cannot avoid this, because using such rules of application also requires judgment. (2.) Rational judgment is inherently normative, insofar as it contrasts to mere response to circumstances by forming or revising beliefs, because judgment involves considering whether, how or to what extent the considerations one now draws together in forming and considering a specific judgment (conclu-

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sion) are integrated as they ought to be integrated to form a cogent, justifiable judgment (KdrV A261 – 3/B317 – 9, B219; KdU Einl., GS 5:182.26 – 32). (3.) Rational judgment is in these same regards inherently self-critical: judging some circumstance(s) or consideration(s) involves and requires assessing whether or the extent to which one assesses those circumstances or considerations as they ought best be assessed (KdrV A261 – 3/B317 – 9, B219). (4.) Rational judgment is inherently social and communicable (KdU § 40), insofar as judging some circumstances or considerations rationally involves acknowledging the distinction in principle between merely convincing oneself that one has judged properly, and actually judging properly by properly assessing the matter(s) and relevant considerations at hand. (5.) Recognising one’s own fallibility, one’s own potentially incomplete information or analysis and one’s own theoretical or practical predilections requires that we each check our own judgments, first, by determining as well as we can whether the grounds and considerations integrated in any judgment we pass are such that they can be communicated to all others, who can assess our grounds and judgment, so as also to find them adequate (KdrV A829/B857); and second, by actually communicating our judgments and considerations to others and seeking and considering their assessment of our judgments and considerations (Anth. § 2; GS 8:145 – 7). 2. One important point regarding Weber’s issues is already at hand: Principles guide judgment; principles are not algorithms by which to calculate proper results! Looking for a clear, unequivocal ‘decision’ in non-monotonic domains  – i.e. all domains richer than pure axiomatics – is a profound and grievous error, though pervasive in the 20th Century (Erickson et al., 2013). 3. A second important point regarding Weber’s issues is also at hand: Because we homo sapiens semi-sapiens are such finite, fallible reasoners, to be rational, and to engage in rational assessment or justification at all requires our utmost care, first person, to do all we can to distinguish reliably in principle and in practice between what Kant calls ‘subjective’ and ‘objective’ conviction, namely, between these two very different presumptively cognitive circumstances: (1.) Being utterly convinced one has grasped a truth, and on that basis alone asserting that (merely purported) truth. (2.) Grasping a truth, and only on that basis being convinced one has grasped that truth. As Hume recognised, however manifestly obvious they may appear to some, there are altogether no necessary, self-evident truths in matters moral, because none of these truths or principles has a logically self-contradictory negation. All the truths relevant to matters moral are synthetic, not analytic. To identify and to justify basic synthetic truths – in any non-formal domain, including matters moral – requires us to consider whether the grounds and principles upon which we base (justify) our judg-

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ment are such that they can be communicated to all others, such that they can understand our grounds and principles, they can likewise judge them to be sufficiently accurate and justificatory, and they can in principle and in practice think and act on those grounds and principles, consistently with our so doing. (This elaborates points 4., 5. from § VI.1) 4. Spelling out Kant’s communicability requirement in this way shows how very close it is to his universalisability tests using the Categorical Imperative or the Universal Principle of Justice. Precisely what Kant’s universalisability tests ascertain is whether acting on one’s maxim can only succeed by either evading or over-powering someone else’s capacity to decide what to do, and so to act, on the basis of sufficient justifying reasons. Kant’s universalisability tests directly rule out any and all maxims of theft, fraud, deceit, aggression and assault – all of which fail to treat at least one other person as the rational agent s / he is, by either evading or over-powering her or his capacity to act on the basis of sufficient justifying reasons. 5. This same line of reasoning justifies Kant’s sole innate right to freedom, once these Critical considerations about rational judgment and justification in all non-formal domains are augmented by two basic facts belonging to Kant’s (unwritten) ‘practical anthropology’: the facts that we homo sapiens semi-sapiens cannot will anything ex nihilo, and that we inhabit a finite surface, an approximately globular Earth, so that we cannot merely disperse and avoid interacting. Consequently, we require publically acknowledged, authoritative, legitimate principles, institutions and practices establishing titles to rightful acquisition, possession and use of material resources. These principles, institutions and practices can be legitimate – they can be justified – only if they respect everyone’s sole innate right to freedom: There is only one innate right. Freedom (independence from being constrained by another’s choice), insofar as it can coexist with the freedom of every other in accordance with a universal law, is the sole original right belonging to everyone by virtue of being human. – This principle of innate freedom already involves the following authorizations, which are not really distinct from it (as if they were members of the division of some higher concept of a right): innate equality, i.e., independence from being bound by others to more than one can in turn bind them; hence a human being’s quality of being one’s own master (sui iuris), as well as being someone beyond reproach (iusti), since before he performs any act concerning rights he has wronged no one … (RL Einl., 6:237 – 8) The sole innate right Kant identifies is not merely asserted: It is required by, and required for, the autonomy of rational judgment, which is required for omnilateral giving, taking, assessing, perhaps revising, and when warranted adopting and acting upon justifying reasons, which itself is required to justify one’s principles and one’s actions by being able to provide all concerned (affected) others sufficient reasons for so acting, reasons which they too can adopt in thought or in action, including on the occasion of one’s own act. This conditio sine qua non of rational justification in non-formal, substantive domains, together with elementary, pervasive facts about our finite form of rational agency and our circumstances of action (Kant’s ‘practical anthropology’), suffice to identify and to justify significant rights and obliga-

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tions regarding possessions, including their acquisition, use, and exchange, coördinating our actions via promise or contract, and for identifying basic rights and obligations of republican citizenship and government – though these latter may only be mentioned here en passant (Westphal 2016a).

6. All of these points are justified solely by Kant’s Critique of rational judgment and justification in all non-formal domains. None of these points requires appeal to, nor even mentioning, Kant’s famous claim that rational nature has an incommensurable value which he calls ‘dignity’, even when rational nature is embodied in such unholy beings as us. Kant may be correct about this ‘dignity’. However, he neither needs nor uses it as a premiss to justify his criteria for identifying and distinguishing right, wrong and permissible actions, nor their use in assessing particular acts, whether prospectively or retrospectively, whether first-, second- or third-person; i.e., all of this is justified without any appeal to ‘values’, nor to value stances (Weber’s Wertungen), nor to any ‘metaphysics’. Kant’s Critical Denkmittel are more cogent and comprehensive than Weber noted (or Habermas recognised), in part because Kant’s Critique of rational judgment and justification holds without any appeal to transcendental idealism. VII. One Core Value However, one very important point about ‘value’ or ‘values’ does follow from Kant’s Critique of rational judgment and justification: the fundamental duty, virtue and value of humility. Because we are such very finite and fallible reasoners, we owe this humility to ourselves and to all others. This core value is entirely ecumenical, trans-cultural and trans-historical, however much gross misbehaviour history and daily news record. This humility is required to recognise and to act upon our duty to respect the innate freedom of all persons, ourselves and others. This innate right to freedom is the human right to non-domination, as Pettit (1997, 2012) calls it; it is likewise Rousseau’s ‘Independence Requirement’ (so named by Neuhouser), that no one be allowed to wield wealth, power or privilege so as to unilaterally determine (coerce) anyone else’s choice or action (Westphal 2016b). Kant’s sole innate right to freedom is the cornerstone of republican freedom. (Please note the lower-case ‘r’!) 1. Those who fail to exercise or manifest such due regard, i.e.: humility towards others, by that very token betray their own dogmatism – or worse. This is not a problem about different fundamental values or principles. This problem is about those who are willing to assert their interests at the expense of others! This is nothing is new, nor is it anything to tolerate, no matter how intelligible it may be made by socio-psychological or perhaps pathological inquiries. Kant’s critique of rational judgment and justification, and his universalisability tests upon the justifiability in principle of any claim, act, principle or policy does indeed ‘delimit the spheres of significance within which they – i.e.: Wertungen and Wertungstandpunkte – are valid’ (470/315, quoted above, § IV), and does so without

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appeal to ‘value’, nor to ‘values’. Weber’s own analyses are those of an interpretive, strictly empirical social scientist; he does not presume philosophical competence. Yet his concise remarks on Kant’s moral philosophy are altogether favourable. The present explication of Kant’s critique of rational judgment and justification (§ VI) corroborate Weber’s point that philosophy can provide further, cogent resources to assessing Wertungen, to assessing policies, and to circumscribing the domain of legitimate policy considerations. Policies or practices which unilaterally exploit some for the benefit of others are indeed illegitimate; no compromise with such devilish policies or actions is ever justifiable. 2. Weber further notes difficult issues concerning ‘the extent to which undesired collateral effects should be accepted’ (470/315; above, § IV). When ‘undesired collateral effects’ consist in treating any persons merely as means without also respecting them as rational agents (in those regards indicted in § VI), it is our fundamental duty of justice, individually and collectively, so to arrange or revise our practices, institutions, policies or actions to avoid, rectify or at the very least utterly to minimize any such exploitation. This duty is entailed by the sole innate right to freedom (§ VI.5), which right is constitutive of the capacity and the liberty to engage in and act upon rational justifying reasoning and reasons, in all our judgments, claims and actions, private and public. 3. Another problem may be anticipated: The rejoinder by dogmatists and other arrogant power-mongers that my recitation of Kant’s Critique of rational judgment and justification is nothing more than my own ‘values’ or ‘ideology’. About Kant’s Critical philosophy I am steadfast; having examined all the serious alternatives regarding rational judgment and justification, I have concluded, for considered reasons, together with Hegel, that Kant is right that there is only Critical philosophy (MdS 6:206 – 7); none other is remotely tenable (Westphal 2018a). Such a rejoinder (§ VII.2) presumes that there is nothing but ideology; it presumes that there is nothing more to ‘desirability’ than that someone or some group desires something. Such presumptions regard anyone else’s views merely as de facto convictions, very much like the merely de facto conventions examined by Weber’s social scientists. Those who make such rejoinders owe us a cogent answer to the question, How can they know that our views are nothing but ideology? How can they know that their own views are genuine values, and not more ideology? Of course, those who insist on ideology first and foremost are least likely, and least able, to address such questions seriously, or even competently. The problem here is how very much our ‘modern’ social structures facilitate, even promote such self-serving rubbish, and so easily allow those who seek gain at others’ expense to go about their business, largely unhampered by ‘merely ideological’ considerations such as justice. Weber’s sharp critique of the ‘developmental tendencies’ of his time, including “Realpolitik” (474 – 6/318 – 20) is directed precisely against those developments for which Carl Schmitt was an opportunistic, sophistic spokesman. Weber (480 – 6/321 – 6) recognised such presumptive teleology for what it is: a sheer petitio principii, a naturalistic fallacy, mistaking issues

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of (presumed, merely proclaimed) process for issues of justificatory validity. (This naturalistic fallacy holds independently of issues about the accuracy or credibility of claims about the presumed process.) The manifold petitiae principii rife when accusations of ‘mere ideology’ arise all presume that there is some plausible distinction between ideology and credible views on any debated issue. The key point concerns how to distinguish credibly between considered, justifiable, sufficiently accurate judgment and mere advocacy of factional interests. Weber is rightly concerned to highlight how and within what domains claims to objectivity can be made credibly, especially though not only within social sciences. Here lies a cardinal strength of Kant’s Critical philosophy. The universalisability criterion central to Kant’s Categorical Imperative, and to its juridical counterpart, the Universal Principle of Justice (MdS 6:230), is the very same universalisability criterion central to Kant’s critique of cognitive judgment within all non-formal domains: To be so much as a candidate for truth, accuracy or rational justification, any judgment about any public phenomenon must be based upon considerations – evidence and analysis – and so formulated that the judgment and its grounds can be understood and assessed by all others, who can likewise think and act upon that same judgment and its justifying grounds, also on any occasion on which the judge (first person) proposes so to act. No less than moral or juridical credibility, scientific credibility too is rooted in Kant’s Critical publicity criterion. Negative though this criterion is, it suffices to identify and to rule out irreproducible proto- or pseudo-cognitive results and to identify and to exclude any and all judgments, actions, policies or institutions which violate or infringe anyone’s sole innate right to freedom. It is not for the sake of juridical decorum alone that Kant models his division of our most fundamental juridical duties upon Ulpian’s: honeste vive, neminem laede, and to establish and live by lex iustitiae (RL 6:236 – 7). 4. Weber’s published remarks on Kant’s moral philosophy are as favourable as they are brief. One aspect of his view of Kant’s moral philosophy appears to be clearly and concisely stated in a letter to Ferdinand Tönnies (19. 02. 1909), from which I quote (with minor omissions) Weber’s second point: Certainly, I am also … of the opinion that, if someone accepts the general necessity, as far as his own actions are concerned, of letting oneself be guided by ‘values’, value judgments or whatever you want to call them …, then it is possible to demonstrate in a compelling way that he is bound by all the consequences of the Kantian [Categorical I]‌mperative … To demonstrate this dialectically (or rather, more accurately, to discuss this as a problem) is the task of ethics as a science … But, in my opinion, that can never go beyond demonstrating the formal characteristics of a moral attitude [sittliche Gesinnung]. This formal critique of attitudes [Gesinnungskritik] can never demonstrate that a social, supra-personal structural system, whatever it may be, is morally obligatory [ethisch gesollt]. To this category belong all metaphysical dogmatisms – whether religious or not, clerical or anti-clerical; an individual may embrace them, but he should never believe that he has the right to pass them off as science. (MWG 2.6:63 – 4/2012, 398) Here Weber apparently reduces Kant’s view to ‘a moral attitude’ (sittliche Gesinnung), neglecting that Kant’s universalisability criterion is a conditio sine qua non of

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rational justification (per § VI), which suffices to rule out as unjustifiable views which fail to treat all others as rational beings who can assess, judge and decide what to think and how to act on the basis of sufficient and sufficiently publicisable justifying reasons. This criterion is equally constitutive of scientific objectivity as of moral permissibility, also in jurisprudence and public policy. Such assessments need not be, nor need they be passed off as, ‘science’. The mistake is to suppose that only (natural or social) ‘science’ can be rationally justified ‘objectively’, i.e., ominlaterally, and in regard to publically available evidence and analysis. Moral justification can be, moral justification is robustly omnilateral and obligatory, without invoking ‘metaphysics’, ‘values’ or ‘value stances’.3

Kant uses conjointly the Principle of Hypothetical Imperatives and the Categorical Imperative and its universalisability tests to assess the deontic status of any action. Weber verges upon this when he notes this prospective result of a critical assessment of a value stance: (3) the necessity of accepting such means or such collateral effects as the advocate of the practical postulate in question had not considered, so that his evaluation of end, means and collateral effects presents a new problem to him at the cost of compelling force against others. (472 – 3/316; quoted more fully above, § III.3) Kant’s point, like Rousseau’s, is that compelling or coercing others is no merely economic ‘cost’; excepting only cases of legitimate punishment, coercion or compulsion treats others as mere means to one’s own ends, and one treats oneself merely as a slave of one’s own de facto ends, instead of exercising sufficient autonomy to rescind those ends, the achievement of which treats any person – including oneself – merely as a means (to desire-satisfaction), rather than as a rational agent who can assess and decide what and how to think and to act on the basis of sufficient justifying reasons.

No „Wertphilosophie“ can justify this finding, because none can distinguish properly between what people happen to value (de facto) and what is worth valuing (de jure), i.e., what deserves to be valued, or what in this normative sense is valuable. This is the problem of psychologism regarding ‘values’ and people’s value stances (Wertungen). The ‘incommensurability’ of value stances does not set the scope of valid first principles of moral assessment or justification; to presume that it does is to presume that reason can only be instrumental or strategic. Only a properly Critical analysis of the scope and character of rational judgment and justification in non-formal domains justifies this finding. Kant is quite right that the sole and proper alternative to ‘egoism’ in cognition, morals and taste is cosmopolitan universality (Anth. § 2; cf. KdU § 40), which is obligatory for us – rationally, both in cognition and in morals – because we are such very finite, mutually interdependent, semi-rational embodied agents.4 3  Weber’s passing suggestion, that the duty to comply with Kant’s Categorical Imperative may be demonstrated ‘dialectically’, is detailed cogently by Alan Gewirth and especially (following yet furthering Gewirth’s account) by Deryck Beyleveld (1991), (2017); cf. Capps / Pattinson (2017). 4  On closely related issues of group identities and their normative credentials, see Bauhn (2017).

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Because no „Wertphilosophie“ can justify the above finding, Weber is quite correct that such a philosophy, however otherwise successful or comprehensive, and likewise any … system of ‘values’, however well-ordered, is unable to address the crucial point at issue. It is namely a question ultimately not only of alternative values, but of an irreconcilable deadly struggle, like that between ‘God’ and ‘Devil’. (469/314; quoted more fully above, § V) This crucial point concerns irreconcilable divergences between different systems of values, qua systems of value. Even if consideration is restricted to systems of values which otherwise are permissible, of course no system of values can resolve disagreements between systems of values. The mistake is to think that only systems of values can address such issues. Kant’s Critical philosophy provides far more cogent resources, precisely because it does not appeal to ‘values’ as fundamental premises for rational justification, including moral justification.

Weber himself may have been unduly influenced by the very developments of ‘rationalization’ he sought to diagnose and to counter (synopsised by Brubaker 1984): Those manifold, pervasive social developments, both administrative and economic, which reduce reasoning to instrumental rationality and technical procedures, thus purporting that there is an exclusive and exhaustive dichotomy between ‘science’ and ‘attitudes’, moral or otherwise. Weber was a brilliant and profound empirical and interpretive social scientist, contributing enormously to the explanation as well as to the understanding of myriad social phenomena. However, neither explanation nor understanding suffice for assessment or evaluation. This is why and how Kant’s Critical philosophy is so incisive, because Kant shows how the requirement of publicity, probed by his universalisability tests, is the benchmark for permissibility, as a matter of morals, including justice. This is because these universalisability tests probe the conditio sine qua non of rational justification in all non-formal domains, including all domains of empirical knowledge. No appeal to values, hence no appeal to ‘incommensurable values’, is required to justify this Critical result. This, in a word, is why ‘incommensurable values’ are as needless as they are worthless, whenever they are mistaken for indispensable first premises of any moral argument. That alleged indispensability is a sheer sceptical illusion, a shadow cast by the foundationalist-axiomatic model of justification, according to which rational justification consists solely in derivation from first premises, and its inevitable sceptical regress, if it is insisted upon within non-formal domains, thus leaving those first premises unjustified and unjustifiable (by this approach), because none are logically necessary truths. This deductivist-infallibilist model of rational justification was foisted upon philosophy by Tempier’s (1277) condemnation of 220 neo-Aristotelian thesis in natural philosophy (Piché 1999, Boulter 2011). Subsequent historical myopia, and this alone, has obscured its source and meagre merits. Kant knew better; Kant showed better; we are long overdue to learn his Critical methods of assessment and justification.5 5  I have only been able to grasp Kant’s Critical achievements thanks to Onora O’Neill’s (1992, cf. 2015) insightful leads, and then by grasping that, and how, Hegel had comprehended,

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5. Nevertheless, Weber is correct that each and every important decision regarding our own conduct involves a fundamental choice about who we are – regardless of whether we recognise this. Yet he mentions this choice too briefly to characterise it adequately (470/315; quoted above, § IV). However well we may identify, understand and comprehend the morally important features or aspects of any important judgment about how to conduct ourselves into the future by acting in one way rather than another, even when we correctly recognize how we ought to behave, there is always an issue about whether or how well we shall act upon our own best judgment. This is to say: We must always face the question of whether or how well we hold ourselves responsible to our own best judgment of what is just, permissible, virtuous, beneficent or – amongst permissible, optional actions or policies, which are both desirable and feasible. This is why moral norms and their implications and corollaries in our specific circumstances take the form of imperatives, indicating how we ought to act; whereas for purely rational agent these norms and their implications describe how such agents shall act (MdS 6:379 – 80, 383). This is the core feature of Kant’s account of our moral autonomy: That we have the capacity to recognise what we can and ought morally to do, where one aspect of this capacity is to recognise that we ought, and that we can, hold ourselves accountable to moral requirement, and the complementary aspect of this capacity: Actually to hold ourselves responsive and accountable to moral requirement by acting accordingly. This requires – and it enables – us to forego actions which would otherwise serve our (apparent) interests, whether these be individual interests, or those of our family, clan, group, party, faction or class. This is the core of moral integrity, in which Kant agrees entirely with Rousseau, that ‘… it is slavery to be under the impulse of mere appetite, and freedom to obey a law which we prescribe for ourselves’ (CS 1. 8. 3). Rousseau (cf. CS 1. 4. 6), Kant, Hegel (Rph §§ 3 – 7) and Socrates concur with Weber (470/315; quoted above, § IV), that recognising and exercising our rational, moral autonomy is required to lead our lives self-consciously, rather than simply to endure and undergo them as if our lives were mere natural processes. This is our own, continuing choice between our own ‘god or devil’, as Weber put it. 6. A different problem about theory and practice concerns an aspect of Aristotle’s practical syllogism: However well someone may correctly understand what is to be done, to be omitted, or to be tolerated, such knowledge does not always issue in appropriate conduct. Weakness of will, too, can generate strife or conflict, though this is a different source than that highlighted by Weber (irreconcilable differences in basic value stances). Weakness of will may take various forms due to various deficiencies, whether in moral education (cf. Westphal 2016d; 2020, §§ 25– 30), psychological integrity or pathology (e.g. Miller 1981, 1983), or cultural pathologies, e.g., fostering such vicious notions as ‘Whoever dies with the most toys wins’, or that ‘the will of the people’ is embodied and expressed by ‘der Führer’, parliament be damned. defended, undergirded and augmented Kant’s specifically Critical philosophy, sans transcendental idealism (Westphal 2018a).

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7. Yet another problem arises due to the distinction and the relations between rationally justifying any claim, principle, policy or act, on the one hand, and convincing specific persons that the claim (etc.) in question is justified. Conflating rational justification with convincing some or all others – or also (merely) convincing oneself  – is a sceptical error with grave consequences. Yes, convincing someone to act as morality requires or permits can only be effective if that person is already convinced that morality is (sufficiently) important. Weber is correct about this point (per above, § VII.4), but his noting this important, as it were ‘dialectical’, point should not mislead readers into neglecting Weber’s acknowledgment of the further normative resources of Kant’s Critical philosophy, even if Weber may have been surprised by their explication above (§ VI). On this count, I can only hope it may have been to him a welcome surprise.6 The precious links between what is justified or what is justifiable, and what people regard or are convinced is justified or justifiable, are forged by enlightened education and the development of sufficient moral integrity to rescind those ends, ways, means or hopes which can only be attained by unjustifiable means; this moral integrity is constitutive of moral freedom (per above, § VII.4) and is required by, and for, justice in practice as well as in principle. VIII. Weber’s Sociological Advice for Policy Studies Weber’s sociological advice for policy studies remains important. For example, the kind of merely technical, ‘free market’ economics Weber criticises (489 – 91/326 – 7) is characteristic of the Austrian School of Economics (excepting Joseph Schumpeter), the school which relocated to become known subsequently as the Chicago School of Economics. Weber’s critical analysis is incisive, prescient, and underscores exactly how and why social sciences are required for policy analysis, including legislation. Prices are but one of a myriad of unintended consequences of individual market transactions. Any nation’s ‘gross national product’, taken literally and comprehensively, includes far more than is listed on accountant’s books: Any domestic economy produces patterns of distribution of population, factories, transport systems, wealth, poverty, employment, unemployment, police, health care, orphanages, waste, pollution, and many more such categories of products, including public works and social services. Changes in any of these social 6  Those who see little difference between Weber’s and Schmitt’s views, I surmise, fail to note how carefully etched are the aspects of Weber’s analysis, and the scope he himself acknowledges for philosophical assessment of value stances; they also fail to note that Weber’s quasi-axiomatic model for explicating value stances is not Weber’s own analysis of their structure or normative credentials. These features of Weber’s careful analysis are easy to miss, if one presumes the sceptical view that ‘justification’ only consists in derivation from expostulated first premises, of whatever sort, such as purported ‘basic values’. Reason and reasoning are not only, not merely instrumental in such deductive regards, though empiricism can neither make nor justify the relevant distinctions.

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institutions, structures or arrangements must be monitored for their socially good or ill consequences, direct and indirect, intended or unintended.7 This is the key aim of Hegel’s robustly republican, corporative system of political representation (Westphal 2016c; 2020, §§ 31 – 39). In myriad ways we have developed socio-economic polities which facilitate many kinds of economic innovation, though typically in ways which advance the interests of innovators and investors at the expense of others, including workers. This is not news; at the turn of the Twentieth Century (c.e.), Will Rogers quipped that the USA had ‘the best Congress money can buy’. The incursion of business interests and management techniques into higher education, thwarting the proper aims of liberal education – i.e., the education required to be a free and responsible citizen – was already diagnosed and forewarned against by J.S. Mill in 1867; there has been a steady stream of similarly cogent, prescient analyses ever since, yet they have not prevented those same incursions generating our current crises of academic mal-administration (Troschitz 2017, Westphal 2108b); – they have not, because we have not. Through markets in news reporting and in campaign finance, we have developed systems of political representation which favour benefits for factions or groups over the long-term interest of the welfare of the nation as a whole. The constantly increasing sophistication and implications of natural sciences, applied sciences and technologies require vastly more robust numeracy than our schools provide – and have provided for a century now, except to exceptional students. We urgently need education for sustainability, and for responsible citizenship (Curren & Metzger, 2017; Gödde & Zirfas, 2018). It is impossible to have democracy without democrats (Keulder & Wiese, 2005), that is, without adults who have sufficient knowledge and understanding to act responsibly as a free citizens, not only in the voting booth, but in public life at large (Curren & Dorn, 2018). Not only with regard to the environment (Kelly 1970) have we met the enemy, only to discover we ourselves are it: our own negligence, individual and collective, of large-scale, perhaps unintended consequences of social innovations which too often serve faction at the expense of – the commonwealth of the republic, domestically and internationally. These urgent problems do involve fundamental conflicts of interest, but they are not the kinds of problems about basic ‘value stances’ considered by Weber. They are problems about how and how very much our economic and political developments in the past two centuries have systematically occluded and undermined how our species, as Aristotle recognised, is a zoon politikon. Not only Hegel, but Kant concurred (Westphal 2020, §§ 25 – 30). The fundamental choice we must make, and which we do make on a daily basis – whether we acknowledge it or not – is whether or how well we each hold ourselves to be responsible to do as morality requires, and to discern, that is: to judge, as well as we can what morality, including justice, does 7  On our net effects upon our mother Earth and our responsibilities regarding them, see the current issue of On Education. Journal for Research and Debate 2 (April 2019), ‘Education in the Anthropocene’; https://www.oneducation.net / issues/.

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require. That is Kant’s fundamental point about moral autonomy! In this important regard, Weber’s observation about the opposition and the recurrent option between good and evil is correct: The fruit of the tree of knowledge, so unwelcome and inconvenient, yet entirely inescapable, consists in this: to know and hence to see that each and every important action and that ultimately life as a whole, if it is not to transpire as a natural event, but instead shall be consciously directed, signifies a series of ultimate decisions by which the soul, as Plato noted, chooses its own fate: the significance of its own activity and being. (469 – 70/315) Constitutive of rational autonomy are two analytically distinct aspects of self-discipline: One is to assess as accurately as possible what judgment is most accurate and best justified in view of all relevant considerations; then to adopt this judgment for those reasons and to think and act accordingly – whilst continuing to monitor the adequacy, accuracy and justification of that judgment, and our enactment (our execution) of it. In all non-formal domains, rational justification is fallible; this is consistent with some select synthetic principles being necessarily true, and with our knowing them to be true (cf. Toulmin 1949). Pure conceptual analysis cannot suffice in non-formal domains; instead we must do our best to explicate our key concepts sufficiently for the purposes of some inquiry (KdrV A727 – 30/B755 – 8), yet our explications must be assessed within humanly possible contexts of their actual use, not in merely imaginary contexts of their logically possible use.

It is not encouraging that Carl Schmitt’s views are regaining attention, though it may be understandable, in view of the many ways current events and developments appear to repeat the confluence of conflicting factions and actions, domestic and international, which spawned the disastrous world wars of the previous century. Having examined and criticized his strategic methods previously (Westphal 2019), I here add one brief observation. In good sceptical fashion, Schmitt seeks to regress to the first premises of purported political justification, seeking some one master premiss from which all further law and policy is said to follow. Occluded from the outset is any sense of republican constitutionalism which aims to institutionalise legitimate, collective and reflective legislation, much of which can and should have been learnt from Plato’s Nomoi. Ignored from the outset is Sophocles’ brilliant reductio ad absurdum refutation in Antigone of the view that justice is constituted solely by a ruler’s edict. Occluded at the outset is the naturalistic fallacy involved in any inference from any (purported) historical tendency to the (specious) validity of any such developments (Weber 480 – 6/321 – 6; above, § VII.3), as also the sheer petitio principii of typical political claims about ‘historical tendencies’ or ‘historical developments’. At whatever point one presents cogent, sufficient reasons and analysis to justify any legislative act, Schmitt’s ‘decisionism’ asks, in effect, ‘But should we do as we ought?’ To suppose there is any further question whether we ought to act as we ought to act substitutes for weakness of will the utter folly of self-induced, self-serving moral scepticism and willful, capricious voluntarism. Exactly at any point wherein it is our moral and juridical responsibility to do what morality and justice require, Schmitt instead looks to der Führer’s command as the ultimate ‘axiom’ from which all else is

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said by Schmitt to follow. This is exactly the kind of superstition Kant exposed as the suicide of reason, as ‘the complete subjection of reason to facts’, whether real or alleged (WDO, 8:145). Those facts include, in Schmitt’s view, whatever der ­Führer commands. The problem raised by Schmitt’s views is neither that, nor how, he developed, held or espoused them. The problem is why and how they found such a resonant reception – and why today they appear to be finding new audiences.8 Our public domain has become submerged within all too literal a ‘market place of ideas’, trading in seductive over-simplifications, thus urgently underscoring the importance of caveat emptor – though media consumers can only exercise their caveat if they are sufficiently educated and informed to assess what circulates in the media or in gossip (Westphal 2016d). The media glut has all but obliterated the distinction between liberty and licentiousness of public expression, not least by encouraging neglect of the responsibilities incurred by presuming to pronounce anything of public significance. Already in 1786 Kant urgently warned against dangers of Romantic attacks upon the capacities of reason (WDO, 8:144 – 7, 146fn.); his diagnosis and warnings are even more urgent in today’s presumed ‘post-modern’ or even ‘post-truth’ contexts. Kant’s Critical explication of the scope and character of rational judgment and justification in non-formal domains provides cogent, incisive criteria by which to distinguish sense from non-sense within matters moral, including public policy. This theoretical achievement does not magically solve practical problems about disagreements between competing groups, nor about how readily some are willing to act at the expense of others. Kant’s criteria do circumscribe the domain of legitimate policy debate, and so aid our identifying illegitimate policy advocacy, however much politics may have strayed from the art of the possible into the wiles of manipulation or outright Realpolitik. This is precisely why Kant formulated a second, positive criterion of public justice, that any maxim which can only succeed through publicity is consistent with justice and human rights (ZeF, 8:386).9 Yes, standing up for justice and morality requires fortitude as well as clarity and compassion; proper humility does not rally crowds, nor calm zealots, yet Socrates remains entirely correct: Life is not worth living if that part of our souls nourished by justice is instead injured by our own injustice (Kriton 47 – 8).10 8  Neumann’s (2015) critical study is welcome alongside Kaufmann (1988) and Scheuerman (1999), but Meierhenrich / Simons (2016) and the continuing flow of English translations, as also works by those on the left who now find it trendy to ‘talk Schmitt’, are not obvious signs of cultural health – nor are they especially helpful diagnoses, not in an era when Klemperer’s (1947) diagnostic notes are now (2013) used instead as a political strategist’s play book. 9  For discussion, see Westphal (1997), § III. 10  This paper originated by kind invitation of Manuel Knoll and Lucas Thorpe to speak at their conference, ‘Modern Pluralism and the Clash of Values: Max Weber and the Impossibility of a Rational Grounding of Values’, hosted by Boğaziçi Üniversitesi (11 – 12. 06. 2018). I am grateful to participants for helpful discussion, and to Jovan Babić for kindly encouraging my further work on it. Manuel kindly invited me to present the penultimate draft of this paper at İstanbul Şehir University (26. 03. 2019), where further discussion with him and with the audi-

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Zusammenfassung Max Webers Untersuchungen zur „Wertfreiheit“ in den Sozialwissenschaften (1917) sowie zur „Politik als Beruf“ (1919) behandeln „Wertungen“ in der Form von „Wertungsstandpunkten“, d.h. gerade das, was Menschen dadurch praktisch

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bewerten, dass sie dafür bzw. dagegen eintreten, oder auch es bloß geschehen lassen bzw. tolerieren. Dadurch ergeben sich Streitfragen oder gar echte Auseinandersetzungen um „inkommensurable“ Grundwerte. Webers Untersuchungen über „Wertungen“ und „Wertungsstandpunkte“ gehören einerseits der normativen Soziologie an, die eine empirische Wissenschaft solcher normativer Phänomenen wie menschlicher Handlungen ist, unabhängig davon ob Menschen als Einzelpersonen oder Gruppen handeln. Andererseits gehören sie der Methodik der Sozialwissenschaften an. Weber (1917) arbeitet heraus, wie und inwiefern die empirischen Sozialwissenschaften uns über die Ausführbarkeit einer Handlungsart (nicht) beraten können, sei nun diese die Handlung einer Einzelperson, Sozialinstitution, Politik oder aber der Gesetzgebung. Er argumentiert sehr treffend, dass die Leistungsfähigkeit und Reichweite der Sozialwissenschaften für politische Debatten keineswegs hinreichend ist. Dennoch stellen sie eine unentbehrliche Grundlage dar. Darüber hinaus können und sollten sozialwissenschaftliche Untersuchungen und Ergebnissen die Grundlage einer verantwortungsvollen Teilnahme von Sozialwissenschaftlern an der öffentlichen Debatte sein. Denn typischerweise sind sie auch verantwortliche Mitglieder ihrer jeweiligen Gesellschaften und damit auch Träger von Rechten und Pflichten als Bürger. Zu Recht vertritt Weber (1919) eine politische Ethik der beruflichen Verantwortung. Denn die Möglichkeit eines Politikers, die Wahrscheinlichkeit von Nutzen und Nachteilen oder sogar Risiken einer Maßnahme zu prognostizieren, ist oft begrenzt – umso mehr in schwierigen Umständen. In beiden Beziehungen erwartet Weber andauernden Streit unter Vertretern verschiedener, gegenseitig inkompatibler Wertungen und Wertungsstandpunkte. Webers Diagnose solcher Streitigkeiten erscheint trostlos, vielleicht sogar voluntaristisch. Er untersucht eine Reihe von miteinander verwobenen Sachfragen, die Tatsachen und Werte, Theorie und Praxis, sowie Grundsätze, Ansichten, Urteile, Wertungen und Verpflichtungen betreffen. Unerwähnt, aber für seine Untersuchungen grundlegend, bleiben Fragen des praktischen Syllogismus bei Aristoteles, wie auch des Umfangs und der Kompetenz rationaler Rechtfertigung, die durch Kants kritische Philosophie am besten expliziert worden sind. Diese beiden Ansätze werden hier herangezogen, um Kernaspekte von Webers Analyse zu klären und eindeutig auszulegen und um den eigentlichen Umfang einer legitimen politischen Debatte genau zu bestimmen. Zudem erlauben es diese beiden Ansätze Sachfragen um erlaubte, ausführbare oder aber optimale politische Maßnahmen genau auszudifferenzieren, auch im Unterschied zu Sachfragen der Ausübung der eigenen Urteilskraft und zur verantwortlichen Ausführung der eigenen Entscheidungen. Die erneute Analyse dieser Untersuchungen bei Weber untermauert Kants Grundprinzipien und -kriterien rational rechtfertigungsfähiger Urteile, Handlungen und politischer Maßnahmen, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Als Korrolar hierzu ergibt sich, dass Webers Untersuchungen und Einstellungen Carl Schmitts so-genannten „Dezisionismus“ nicht unterstützen, jedenfalls nicht ohne Ausbeutung zweier weiterer, folgenschwerer Grundfehler.

B. Zurechnungsstrukturen – Structures of Imputation

Jenseits jeden vernünftigen Zweifels Die Herstellung subjektiver Gewissheit in A. G. Baumgartens Theorie der Zurechnung Alexander Aichele

Das prinzipielle, systematische Problem einer jeden norm- bzw. pflichtbasierten Moralphilosophie neben der Begründung jener Gesetze ist eine Theorie ihrer Anwendung. In ihr besteht nichts Geringeres als eine Theorie des moralischen Urteilens. Denn wie immer die Prädikate eines moralischen Urteils, nämlich „gut“ und „böse“, auch erklärt werden, so resultiert ein Urteil über die moralische Qualität irgendeiner Handlung erst aus der Anwendung einer moralischen Norm auf ein Tun, Wollen o. ä. Erst wenn deren Möglichkeit gezeigt ist, kann davon gesprochen werden, dass jemand nicht nur in abstrakter Weise verpflichtbar ist, sondern auch tatsächlich seinen Verpflichtungen genügen und Gesetze achten oder brechen kann. Dabei ergibt sich folgende klassische Schwierigkeit: Menschen sind zwar einerseits vernünftige und freie, andererseits aber auch sinnliche und endliche Wesen. Ihre Erkenntnisvermögen sind daher insofern beschränkt, als dass sie keine vollständige begriffliche bzw. rationale Erkenntnis von Singulärem besitzen können, vermittels deren ein einzelnes Ding oder Ereignis von allen anderen möglichen Dingen oder Ereignisses ohne Irrtums- oder Verwechslungsgefahr mit absoluter Gewissheit identifiziert werden könnte. Menschen verfügen deshalb niemals über unbedingtes Wissen von den Dingen und Ereignissen – inklusive ihres eigenen jeweiligen mentalen Zustands –, welche die aktuale Welt ausmachen. Fehlen also dem endlichen Geist derartige singuläre Begriffe, kann er ebenso weder singulären Verpflichtungen noch Gesetzen unterworfen sein. Damit jemand überhaupt zu einer pflicht- oder gesetzeskonformen freien Bestimmung seines Wollens oder Handelns gelangt, müssen folglich immer allgemeine Gesetze auf singuläre Ereignisse bzw. in singulären Situationen angewandt werden. Weil aber schon diese nicht ohne jede Möglichkeit, dabei einen Fehler zu machen, auch nur ihrer Art nach identifiziert werden können, kann niemals vollständige, unbedingte Gewissheit darüber bestehen, welche Norm in einer gegebenen Situation anzuwenden ist bzw. gewesen wäre. Es kann also jederzeit darüber gestritten werden, welche von diversen vorliegenden Normen oder ob überhaupt irgendeine Norm zur moralischen Beurteilung einer Handlung angewendet werden soll oder hätte werden sollen. Handelt es sich bei den fraglichen Normen um positive Gesetze, erkennt man hier unschwer das Wesen des Rechtsstreits. Denn dabei, etwa vor Gericht, geht es

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stets darum, ob irgendeine gesetzliche Norm oder, wenn ja, welche auf ein Ereignis, das erst durch die Normanwendung überhaupt zu einem Fall (eben dieser oder jener Norm) wird, anzuwenden ist. Um sich von dieser epistemisch begründeten, latenten Unsicherheit in der Normenanwendung nicht zu einer allgemeinen Skepsis zwingen oder verführen und das Normenanwenden nicht ganz bleiben oder in bloßer Beliebigkeit versinken zu lassen, braucht jede Moralphilosophie, also auch jede Ethik und jedes Recht, eine Theorie der Normenanwendung. Sie muss sowohl für die prospektive als auch für retrospektive Anwendung von Normen Lösungen liefern, die zudem miteinander verträglich sein müssen. Denn jemand, der durch ihn selbst in der Zukunft mögliche und daher nicht notwendige Handlungen (contingentia futura) moralisch beurteilt, muss zumindest die Möglichkeit haben, prospektiv auf seine eigenen möglichen Handlungen dieselben ethischen oder rechtlichen Normen anzuwenden wie ein anderer, der ebendiese Handlungen, wenn sie einmal vollzogen worden sind, retrospektiv moralisch beurteilt. Man mag diese durchaus komplexe Aufgabe einer „durch Erfahrung geschulten Urteilskraft“ zuweisen,1 aber damit ist zunächst nur ein intellektuelles Vermögen benannt, das sie erledigen soll, jedoch noch keine Theorie ausgearbeitet und erst recht keine Methodik, wie dies geschehen soll. Vernachlässigt man dies aber, gelangt man nolens volens zu einem durchaus autoritären oder elitären Modell,2 in dem Leute, die Urteilskraft beanspruchen und die Anerkennung dieses Anspruchs erwarten, nach ihrem, womöglich sogar dauerhaften Erfolg bei der Normenanwendung beurteilt werden müssen, ohne dass eigentlich formale oder inhaltliche Kriterien bereitstehen, nach denen ebendieser Erfolg beurteilt werden könnte. M. a. W.: Der Besitz trefflicher Urteilskraft könnte wiederum nur durch Leute beurteilt werden, die selbst eine solche besitzen. Insbesondere was moralische, also sowohl ethische als auch juridische Normen angeht, die doch von allen in gleicher Weise angewendet werden können sollen, kann eine derartige Hermetik kaum der Weisheit letzter Schluss sein. Dass ein Streit über anzuwendende Normen einem Gericht zur Entscheidung vorgelegt wird, bedeutet ja gerade nicht, dass die beteiligten Parteien selbst unfähig zur korrekten Normenanwendung gewesen wären. Vielmehr fordert das Recht von ihnen genau dies, und beide beanspruchen, im Recht gewesen zu sein bzw. nichts verkehrt gemacht zu haben. Das ist der Struktur nach auch im Strafprozess nicht viel anders: Denn der Beklagte wird in der Regel jedenfalls versuchen, den Nachweis zu führen, dass auf sein Tun eben keine strafrechtliche Norm anzuwenden ist. Dass der Richter in der Trias mit Staatsanwalt und Verteidiger die gesetzliche Pflicht hat, hier die Entscheidung zu treffen, impliziert nicht, dass er diese Position deswegen erlangt hat, weil seine Urteilskraft vortrefflicher ist als die seiner juristischen 1 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in ders., Werkausgabe in 12 Bänden (hrsg. von Wilhelm Weischedel), Frankfurt / M.: Suhrkamp 1977, Bd. 7, S. 13 f. (BA IX). 2 Vgl. Rainer Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2007.

Jenseits jeden vernünftigen Zweifels

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Kollegen oder aller übrigen Prozessbeteiligten, sondern nur, dass er kraft seines Amtes derjenige ist, der entscheidet – und zwar zunächst darüber, was im vorgelegten Sachverhalt die Wahrheit ist, und sodann auf dieser Basis, ob und, wenn ja, welche Rechtsnorm hier auf welche Weise anzuwenden ist. Dass die erzielte Lösung mit guten Gründen bestritten werden kann, also nicht absolute Geltung beansprucht, zeigt die Vielzahl der einschlägigen Rechtsmittel bis zur letzten Instanz. Deren Entscheidung ist zwar endgültig – schlicht, weil sich der Streit sonst ad infinitum fortsetzen ließe –, aber keineswegs absolut. Der Idealfall besteht vielmehr darin, dass zumindest der Sachverhalt jenseits allen begründeten Zweifels identifiziert und die getroffene rechtliche Entscheidung unter Berücksichtigung aller gesetzlichen Vorgaben rational, d. h. für jedes vernünftige Wesen verständlich, begründet worden ist. Die Wahrheit, die sich in einem solchen richterlichen, auch letztinstanzlichen Urteil findet, ist also nie absolut, nie jeder Irrtumsmöglichkeit entzogen; man soll nur nicht mehr vernünftig an ihr zweifeln können. Bei der Wahrheit, von der hier die Rede ist, handelt es sich um eine zutiefst menschliche, nämlich um ein Urteil über weltliche und daher singuläre Dinge und Ereignisse, die nach bestem Wissen und Gewissen vermittels universaler Begriffe ihrer Art nach bestimmt worden sind, also um eine Wahrscheinlichkeit mit möglichst minimalem Irrtumsrisiko, von der man sich nicht mehr vernünftig vorstellen kann, wie sie denn noch anders sein soll. Man nennt das seit der Aufklärung „subjektive Gewissheit“ im Gegensatz zur „objektiven Gewissheit“, die in der singulären Beschaffenheit der Dinge selbst liegt und allein einem unendlichen Geist, etwa dem Gottes, zugänglich wäre. Von einer Theorie der Normenanwendung mehr zu verlangen als subjektive Gewissheit, wäre also ebenso vermessen wie Unfug. Nun hat Alexander Gottlieb Baumgarten im Rahmen von Ästhetik, Logik und Metaphysik nicht nur eine umfassende Epistemologie subjektiver Gewissheit geliefert,3 sondern diese auch gleich noch zu einer Theorie der Normenanwendung weiterverarbeitet. Er tut dies in seinem Grundlagenwerk zur praktischen Philosophie, den Initia philosophiae practicae primae.4 In diesen „Anfangsgründen der praktischen Metaphysik“ entwickelt Baumgarten allein auf der Basis des Begriffs der Verpflichtung ein universales Fundament der Moralphilosophie, das sowohl Ethik als auch Recht trägt.5 Die dort ausgeführten Verfahren der Entscheidungsfindung bzw. der moralischen Beurteilung eigener und fremder Absichten und Handlungen gelten daher ebensowohl 3  Vgl. zum folgenden: Alexander Aichele, Wahrscheinliche Weltweisheit. Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik des Erkennens und Handelns, Hamburg: Meiner 2017, S. 167 –  224. 4  Alexander Gottlieb Baumgarten, Anfangsgründe der praktischen Metaphysik. Vorlesung (hrsg. u. übs. von Alexander Aichele), Hamburg: Meiner 2019 (PhB 709). Alle Paragraphenangaben im Text bzw. in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe; dort finden sich ebenfalls Übersetzungen der Querverweise auf die Metaphysik („M.“). 5 Vgl. Alexander Aichele, Einleitung, in: Baumgarten, Anfangsgründe (s. Fn. 4), S. VII –  LXVIII, hier: S. LVIII – LXI.

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für Ethik wie Recht. Dabei bezieht sich das „Bedenken“ (deliberatio) auf contingentia futura,6 während bereits vollzogene Handlungen Sache der „Zurechnung“ (imputatio) sind. Allerdings involviert, wie Baumgartens Analyse des Gewissens zeigt, auch das Bedenken trotz der Universalität seiner Gegenstände, die nicht bereits verwirklichte Einzelhandlungen, sondern mögliche Arten von Handlungen darstellen, eine Art prospektiver bzw. hypothetischer (Selbst)Zurechnung.7 Als grundlegende Form des moralischen Urteilens erweist sich damit die Zurechnung. Was es heißt, dass ein gültiges Zurechnungsurteil subjektive Gewissheit jenseits allen vernünftigen Zweifels fordert, und wie man sie erreicht, soll im Folgenden analysiert werden. Hierzu ist zunächst, soweit nötig, die subjektive Gewissheit und ihr Anspruch auf Wahrscheinlichkeit von anderen epistemischen Zuständen zu unterscheiden, die diesen Anspruch nicht erheben können und zuallermindest die Suspendierung des moralischen Urteils verlangen. Sodann ist die Struktur, die ein Zurechnungsurteil nach Baumgarten aufweist, kurz in Erinnerung zu rufen. Schließlich ist anhand der Vielzahl verschiedener Urteile, die im Prozess einer Zurechnung getroffen werden müssen, im Einzelnen nachzuverfolgen, wann ein Zurechnungsurteil Gültigkeit beanspruchen kann und wann nicht. I. Epistemische Zustände zwischen Gewissheit und Ungewissheit Im Paragraphen 28 seiner Initia unterscheidet Baumgarten die möglichen epistemischen Qualitäten von Urteilen: „Gewissheit im weiteren Sinne ist entweder die vollständige (im strengen und harten Sinne, mathematische, geometrische), die zur Wahrheit des Dings, das von allem zu unterscheiden ist, zureicht (die von aller Furcht des Gegenteils befreit), oder die unvollständige, die zur Wahrheit des Dings, das von allen anderen zu unterscheiden ist, nicht zureicht (nicht ohne Furcht des Gegenteils), M. § 531. Ungewissheit im weiteren Sinne ist das Gegenteil von vollständiger Gewissheit. In einem im weiteren Sinne Ungewissen sind entweder mehr erkannte Gründe für die Wahrheit bzw. dafür, etwas zu setzen, d. h. für die Zustimmung, als dafür, dasselbe hinwegzunehmen, und das ist das Wahrscheinliche, oder die Gründe dafür und dagegen sind gleich, und das ist das Zweifelhafte (im strengen Sinne Ungewisse), oder es sind weniger Gründe für als gegen die Zustimmung, und das ist das Unwahrscheinliche. Die Gründe zur Zustimmung werden ausschließlich nach der Zusammenrechnung, M. § 697, mehr, weniger oder gleich genannt. Dasselbe kann in verschiedener Hinsicht im weiteren Sinne gewiss und ungewiss genannt werden. Das im harten Sinne Gewisse ist demselben Subjekt aus keinem Grund ungewiss. Im weiteren Sinne Ungewisses und Zweifelhaftes haben keineswegs denselben begrifflichen Umfang, bzw. was immer uns nicht vollständig gewiss ist, daran ist nicht sogleich erlaubt zu   Vgl. ebd., S. XL-XLVII.   Vgl. ebd., S. LXI f., u. Alexander Aichele, Die Ungewissheit des Gewissens. A. G. Baumgartens forensische Aufklärung der Aufklärungsethik, in: Philosophia practica universalis. FS Joachim Hruschka. JRE 13 (2005), S. 3 – 30. 6 7

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zweifeln. Wahrscheinlichkeit und welche oder eine wie große Wahrheitsähnlichkeit auch immer haben keineswegs denselben begrifflichen Umfang bzw. ein wie auch immer beschaffenes und wie wenig auch immer Wahrheitsähnliches ist nicht sogleich ein Wahrscheinliches. Einige Wahrheitsähnlichkeit kann auch die des Zweifelhaften und Unwahrscheinlichen sein, aber keine, nicht einmal die geringste Wahrscheinlichkeit. Wenn einer der Gegensätze wahrscheinlich wird, wird schon dadurch der andere unwahrscheinlich und umgekehrt. Beide Gegensätze sind niemals demselben Subjekt wahrscheinlich. Unwahrscheinliches ist nicht mehr Zweifelhaftes als Wahrscheinliches, und Zweifelhaftes ist weder Wahrscheinliches noch Unwahrscheinliches. Alles Wahrscheinliche ist im weiteren Sinne gewiss und alles Unwahrscheinliche von im weiteren Sinne gewisser Falschheit. Alles vollständig Gewisse ist wahr. Aber das auf diese Weise im weiteren Sinne gewiss genannte – Wahrscheinliches, Zweifelhaftes, Unwahrscheinliches – kann wahr, kann falsch sein. Ein in welcher Bedeutung auch immer Gewisser ist nicht im Zweifel. Aber es kann ungewiss sein, wer trotzdem nicht im Zweifel ist. Zwei Gegensätze können niemals demselben zugleich unwahrscheinlich sein; sie können Ungewisse sein, sie können Zweifelhafte sein. Dies möge angewendet werden auf eine entweder vollständig gewisse oder im weiteren Sinne ungewisse und entweder wahrscheinliche (im weiteren Sinne gewisse) oder zweifelhafte (im strengeren Sinne ungewisse) oder unwahrscheinliche (von im weiteren Sinne gewisser Falschheit) Verpflichtung, § 15.“

Gemäß Baumgartens primärer Unterscheidung zwischen Gewissheit und Ungewissheit fallen alle Urteile über Dinge, die nicht zureichen, um ein Ding von allen anderen möglichen Dingen zu unterscheiden und also nach dem principium identitatis indiscernibilium absolut zu identifizieren, in den Bereich der Ungewissheit. Vollständige oder objektive8 Gewissheit hingegen besteht im Besitz der ‚Wahrheit des Dings‘, d. h. einerseits in der Beschaffenheit des Dings selbst und andererseits in deren vollständigen Aussage durch eine unendlich lange singuläre Proposition. Solche Individualbegriffe von Dingen bzw. der Welt besitzt allein ein unendlicher Geist bzw. Gott. Alle Begriffe von Dingen, die im Gegensatz zur intensionalen Logik Gottes den Regeln der herkömmlichen extensionalen Logik folgen, reichen deshalb nicht zur absoluten Identifikation ihres Gegenstandes zu.9 Jede begriffliche Erkenntnis eines wirklichen und also singulären Dings, die auf Sinnesdaten basiert bzw. solche involviert, mithin jede empirische oder – wie Baumgarten sie nennt – „ästhetikologische“ Erkenntnis, ist deshalb ungewiss; schlicht, weil sie nie vollständig gewiss sein kann. Aus diesem Befund braucht jedoch keineswegs universale Skepsis zu folgen. Eine „gewisse Ungewissheit“10 hinsichtlich der Identität eines Dings ist weder dasselbe wie schieres Unwissen noch folgt aus ihr automatisch die Falschheit jeder universalen Aussage über ein einzelnes Ding: Es ist auch dem endlichen Geist möglich, unter einer Vielzahl von Dingen einen Vogel zu identifizieren, unter einer Vielzahl von Vögeln eine Ente, unter einer Vielzahl von Enten Krickenten und un8 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Acroasis Logica in Chr. L. B. de Wolff, Hildesheim u. a.: Olms 1983 (2. ND der Ausg. Halle 1761), § 424. 9 Vgl. Aichele, Weltweisheit (Fn. 3), S. 232 – 236. 10  Baumgarten, Logica (Fn. 8), § 424.

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ter einer Vielzahl von Krickenten die Krickente Harald und die Krickente Walpurga – es dürfen nur nicht alle möglichen Krickenten, Enten, Vögel oder Dinge sein. 1. Gewisse Ungewissheiten Um derart ungewisse, aber deswegen eben nicht gleich unwahre Urteile zu fällen, braucht es Kriterien. Baumgarten nennt sie Gründe, und zwar dafür, eine Aussage entweder zu bejahen (und dadurch zugleich ihre Negation zu verneinen) oder zu verneinen (und dadurch zugleich ihre Negation zu bejahen). Dass es sich dabei nur um tatsächlich erkannte Gründe handeln kann und nicht um alle Gründe handeln muss, die tatsächlich vorliegen mögen, liegt auf der Hand. Denn es geht ja um bloß „subjektive Gewissheit“, also um einen kontingenten Bewusstseinszustand eines endlichen Erkenntnissubjekts.11 Das Verfahren, das Baumgarten vorschlägt, um diese Entscheidung zu treffen, scheint auf den ersten Blick von geradezu entwaffnender Naivität. Denn es scheint rein quantitativ zu funktionieren. Aus dem zitierten Paragraphen 28 scheint nämlich nur hervorzugehen, dass jene Gründe gesammelt und abgezählt werden und dann nach Mehr- oder Gleichzahl entschieden wird. Dass Baumgartens Verfahren so einfach nicht ist, wird sich gleich noch zeigen. Das ändert aber erst einmal nichts an seiner formalen Struktur. Demnach ist ein Urteil wahrscheinlich (probabile), für dessen Bejahung mehr Gründe erkannt werden als für dessen Verneinung; während ein Urteil zweifelhaft (dubium) ist, wenn ebensoviele Gründe für seine Bejahung wie für seine Verneinung sprechen, und unwahrscheinlich (improbabile), wenn dem erkennenden Subjekt mehr Gründe für seine Verneinung als für seine Bejahung bewusst sind. Gemein ist all diesen, hinsichtlich ihrer epistemischen Qualität verschiedenen Urteilen, dass sie wahrheitsähnlich (verisimile) sind. Denn sie weisen zum einen allesamt die logische Struktur einer Aussage auf, die begriffliche Erkenntnis zuallererst ermöglicht, und zum anderen gibt es stets Gründe, die für die Wahrheit des Urteils sprechen, wenngleich sie nicht zu seiner Bejahung ausreichen mögen. Freilich folgt aus der bloßen Wahrheitsähnlichkeit einer Aussage nichts für ihre epistemische Qualität bzw. den subjektiven Wahrheitswert, der ihr zugewiesen wird. Denn all jene wahrscheinlichen, zweifelhaften und unwahrscheinlichen Sätze können ebenso wahr wie falsch sein und müssen im Sinne objektiver Gewissheit naturgemäß auch entweder wahr oder falsch sein. Da derartige Gewissheit aber endlichen Geistern bei Aussagen über die Dinge und Ereignisse der Welt verschlossen bleibt und Gewissheit im „Bewusstsein der Wahrheit“12 besteht, substituieren auf der Ebene der subjektiven Gewissheit die drei epistemischen Qualitäten die zwei objektiven Wahrheitswerte. 11 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Hildesheim/ New York: Olms 1982 (2. ND der Ausg. Halle 1779), § 531. 12  Baumgarten, Logica (Fn. 8), § 164.

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Und sie tun dies mit gutem Grund: Denn jemand, der ein Urteil für wahrscheinlich hält, befindet sich zwar hinsichtlich seiner objektiven Wahrheit im Ungewissen, zweifelt aber nicht daran oder hält es noch weniger gleichzeitig für unwahrscheinlich. Vielmehr erkennt er es unter dem Vorbehalt, dass dieses Urteil der Möglichkeit nach auch falsch sein kann, als wahr an. Ebenso zweifelt jemand, der ein Urteil für unwahrscheinlich hält, nicht daran, dass es falsch ist, wenngleich er um die Möglichkeit seiner Wahrheit weiß. Und jemand, der an der Wahrheit einer Aussage zweifelt, ohne hinreichende Gründe für ihre Unwahrscheinlichkeit angeben zu können, weil er ebensoviele Gründe für ihre Wahrscheinlichkeit erkennt, suspendiert sein Urteil und trifft keine Entscheidung über den Wahrheitswert der Aussage. Demzufolge schließt Wahrscheinlichkeit sowohl Zweifelhaftigkeit als auch Unwahrscheinlichkeit aus, Unwahrscheinlichkeit sowohl Zweifelhaftigkeit als auch Wahrscheinlichkeit und Zweifelhaftigkeit sowohl Wahrscheinlichkeit als auch Unwahrscheinlichkeit. Damit stehen – wie Baumgarten gegen probabilistische Modelle betont13 – ein und demselben Erkenntnissubjekt jeweils nur die zwei klassischen Wahrheitswerte „wahr“ und „falsch“ zur Verfügung, denn die Urteilsenthaltung enthält sich ja gerade deren Zuweisung, ohne dabei eine objektive Unentscheidbarkeit zu behaupten. Dass ein anderes Erkenntnissubjekt aufgrund einer anderen Erkenntnislage zu einem anderen Urteil gelangen oder gar dasselbe Erkenntnissubjekt aufgrund einer veränderten Erkenntnislage sein ursprüngliches Urteil revidieren kann, ist unproblematisch. Denn dies impliziert ja keineswegs, dass sich auch die objektive Wahrheit geändert hätte. Zumindest formal wäre so der Forderung nach der Abwesenheit jedes vernünftigen Zweifels Genüge getan. Schon sie allein schließt die Möglichkeit objektiver Gewissheit aus, weil ein unendlicher Geist nicht einmal die Möglichkeit zu irgendeiner Art von Zweifel kennt. 2. Prospektive Verpflichtungsfeststellung durch Bedenken und Zusammenrechnung Nun soll jene Entscheidung über Wahrheit oder Falschheit oder Unentscheidbarkeit aus der „Zusammenrechnung“ (connumeratio) der Gründe resultieren. Wie stets hilft es dem Verständnis sehr, Baumgartens Querverweisen zu folgen. Nicht nur verschwindet dann der Eindruck einer ziemlich kruden Addition irgendwelcher zusammengewürfelter Gründe. Es zeigt sich auch, dass seine Unterscheidung der epistemischen Qualitäten in der Initia nicht einfach die entsprechende Passage aus der Logik, nämlich den Paragraphen 464, in anderen Worten wiederholt – was bei der berühmt-berüchtigten Ökonomie von Baumgartens Stil ohnehin erstaunlich wäre –, wenngleich sie freilich auf ihr aufbaut. Der Paragraph 697 der Metaphysik, auf den er verweist, lautet: „Einer, der bedenkt (deliberans), insofern er eine mathematische Erkenntnis anstrebt, überschlägt die Gründe (rechnet) (calculat), sofern er überlegt, wie viele Güter, wie viele 13

  Vgl. ebd., § 464.

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Übel von beiden Seiten zu erhoffen sind, zählt er (numerat) die bewegenden Ursachen (caussas impulsivas), welche er erwägt (ponderat), sofern er angibt, wie große Güter, wie große Übel zu erwarten sind, und sofern er genau abwägt, was das bessere sei, zieht er das eine dem anderen vor (praefert). Wenn er das Vorgezogene beschließt, erwählt er (eligit). Wenn einer, der bedenkt, etwas beschließt, damit er dadurch erfährt, ob seine Kräfte groß genug sind, um jenes zu verwirklichen, versucht er (tentat). Wenn einer, der bedenkt, indem er erwägt, die größer scheinenden einzelnen bewegenden Ursachen für so viele sehr kleine hält, so viele Grade der Größe der einzelnen er erkennt, und so die einzelnen vergleicht, rechnet er die bewegenden Ursachen zusammen (connumerat).“14

Anders als in der Logik, wo es um die theoretische Erkenntnis von Dingen geht, handelt die Initia von praktischen Sätzen, und das heißt nach Baumgartens strikt deontologischem Modell: von Pflichten. Die Gründe für die Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit oder die Falschheit bzw. Unwahrscheinlichkeit eines praktischen Urteils über eine Verpflichtung sind anderer Art als die Gründe für die Identifikation eines Dings. Diese nämlich beziehen sich auf Gegebenes, jene richten sich auf Zukünftiges, und zwar eine durch das Erkenntnissubjekt mögliche Handlung. Deshalb bestehen die Gründe für praktische Urteile in bewegenden – besser, aber sprachlich ungelenk: bewegenkönnenden – Ursachen (causae impulsivae). Diese möglichen Ursachen werden erst durch die Bejahung ihres verpflichtenden Charakters zu wirklichen Ursachen. Die Zusammenrechnung, von der Baumgarten spricht, soll nicht nur in einem wahren Satz, sondern in einer guten Handlung terminieren. Der Prozess, der dazu führt, ist deutlich komplexer und voraussetzungsreicher als eine simple Addition. Baumgarten nennt ihn „Bedenken“. Dabei handelt es sich um den „Zusammenhang der Akte des Erkenntnisvermögens, um sich bezüglich der Bewegungsgründe und sinnlichen Triebfedern zu entscheiden“.15 Es sind diese Akte, die Baumgarten im angeführten Paragraphen 697 der Metaphysik differenziert. Ihm zufolge soll die Zusammenrechnung die vierfache Frage nach der Größe der jeweils mit je zwei entgegengesetzten Bestimmungs- und Handlungsalternativen verbundenen Güter und Übel beantworten.16 Diese fungieren selbst als verstandesmäßige Bewegungsgründe (motiva) oder sinnliche Triebfedern (stimuli), also als bewegende Ursachen, die wiederum zu erwartende verstandesmäßige oder sinnliche Güter oder Übel anzeigen. Die gegebenen bewegenden Ursachen werden in der Zusammenrechnung sowohl jeweils einzeln als auch jeweils relativ zueinander betrachtet. Dies kann nur geschehen, wenn sie Gegenstände des Bewusstseins sind. Sie müssen deshalb auch gezählt worden sein. Aus der Zusammenrechnung resultiert demnach die relative und akkumulierte Größe der bewegenden Ursachen, die jeweils für beide Seiten eines kontradiktorischen Paares zweier freier Bestimmungen A und nicht-A vorliegen, also das Tun oder Unterlassen einer Handlung bewirken können.   Baumgarten, Metaphysica (Fn. 11), § 697.   Ebd., § 696. 16  Vgl. ebd. 14 15

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Aus der Zusammenrechnung ergibt sich also eine relative Größenbestimmung. Das ist von entscheidender Bedeutung. Denn die verpflichtende Macht der daraus resultierenden ‚totalen bewegenden Ursache‘ folgt dann gerade nicht bloß aus der größeren Anzahl der ‚partiellen bewegenden Ursachen‘ (§ 23), folgt also nicht mit Notwendigkeit als schlichte Summe einer rein numerischen Addition. Vielmehr kommt es stets auf das jeweilige Gewicht jeder einzelnen bewegenden Ursache an. Genau darin besteht die Notwendigkeit einer relativen Größenbestimmung durch die Zusammenrechnung, so denn ein treffendes Urteil gefällt werden soll: „Wenn es mehr partielle bewegende Ursachen zu einer freien Bestimmung A als zu deren Gegenteil nicht-A gibt, zu diesem aber so gewichtige, dass nach vollzogener Zusammenrechnung die totale bewegende Ursache zu nicht-A die mächtigere ist, gibt es keine Verpflichtung zu A.“ (§ 20) Für eine rationale Entscheidung über eine freie Bestimmung ist der Akt der Zusammenrechnung also unerlässlich, wenngleich er nicht mit ihr identisch ist. Er setzt zwar eine mathematische Operation voraus, weil die diversen bewegenden Ursachen jedenfalls gezählt werden müssen. Allerdings ist die Zusammenrechnung selbst keine mathematische Operation und ihr Resultat keine mathematische Erkenntnis. Denn für einen rein mathematischen Prozess wäre in der Philosophie kein Platz, am allerwenigsten in einer praktischen Metaphysik. Die Philosophie nämlich beschäftigt sich mit Qualitäten, während sich die Mathematik exklusiv mit Quantitäten befasst.17 Daher handelt es sich bei der Größe der bewegenden Ursachen, die eine Verpflichtung bestimmen, nicht um extensive, sondern um intensive Größen, und intensive Größen sind Gegenstand der Metaphysik.18 Folglich wird der Maßstab für die Macht bewegender Ursachen eine einfache oder zusammengesetze Qualität sein, die zwischen Extrema graduiert werden kann. Nun fungieren als bewegende Ursachen in der Zukunft mögliche und durch den Urteilenden bzw. Handelnden selbst herbeiführbare Güter oder vermeidbare Übel. Demnach lässt sich sowohl die Frage nach dem Kriterium für die Macht einer bewegenden Ursache – sei sie partiell oder total – als auch für die Größe eines durch eine freie Bestimmung zu erwartenden Guts oder Übels auf die Frage nach dem Unterscheidungskriterium zwischen Gut und Böse, nach Baumgarten Vollkommenheit und deren Förderung oder Minderung,19 zurückführen. Denn ein absolut Gutes wäre zweifelsohne die mächtigste aller möglichen bewegenden Ursachen zum Tun und umgekehrt. Deswegen mag die Sinnlichkeit, die Baumgartens Erkenntnislehre in Form der Ästhetik der Logik gleichstellt, zwar eine gewichtige Rolle in der Moralphilosophie spielen. Ihr oberstes Kriterium bestimmen aber kann sie nicht. Das absolut Gute kann gar nicht Sache der Sinnlichkeit sein. Das liegt am eigentümlichen Gegenstand der praktischen Metaphysik. Freilich hat es das Bedenken und die Zusammenrechnung sowohl mit sinnlichen als auch  Vgl. Baumgarten, Logica (Fn. 8), § 8.  Vgl. Aichele, Weltweisheit (Fn. 3), S. 266 – 270. 19 Vgl. Aichele, Einleitung (Fn. 5), S. XLVII – LV. 17 18

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verstandesmäßigen bewegenden Ursachen zu tun. Die einen wie die anderen müssen aber gleichermaßen gezählt wie begrifflich erfasst werden, und diese Leistungen wie demzufolge auch die Erkenntnis wahrhafter Verpflichtung fallen in die Domäne der oberen Erkenntnisvermögen. Allein auf dieser intellektuellen Basis kann überhaupt sinnvoll von Freiheit einer Bestimmung, einer Handlung usw. gesprochen werden. Bloßes sinnliches Belieben ohne dessen begriffliche Identifikation führte zu einem rein willkürlichen Verhalten, das wie das des Tiers außerhalb der Moral steht. Dies gilt jedoch nur dann, wenn tatsächlich keine oberen Erkenntnisvermögen zu Verfügung stehen. Wenn das Wesen, das gerade aus bloßer Willkür handelt, ebenso aus freier Willkür handeln könnte, d. h. nach der Zusammenrechnung aller begrifflich erkannten bewegenden Ursachen, fällt auch seine bloße Willkür unter die moralische Beurteilung. Ein von Sinnlichkeit gänzlich freies, rein geistiges Wesen hingegen könnte überhaupt nur moralisch beurteilbare Handlungen vollziehen. Ein unendlicher, reiner Geist, der immer völlig rational entschiede und alle bewegenden Ursachen erkennte, könnte überhaupt nur gute Handlungen vollziehen. Bei einem verstandesbegabten Sinnenwesen (oder umgekehrt) ist solche moralische Unfehlbarkeit aufgrund vollständiger Rationalität ausgeschlossen. Denn unter den bewegenden Ursachen eines solchen Wesens, etwa eines Menschen, werden schon aufgrund seiner Leiblichkeit stets auch sinnliche Triebfedern sein. Folglich kann es seine jeweiligen Verpflichtungen niemals rein logisch bzw. rein rational erkennen, sondern immer nur ästhetikologisch bzw. empirisch. Deswegen kann das Ergebnis seiner Zusammenrechnung prinzipiell auch falsch sein. Es ist daher bestenfalls wahrscheinlich. Diese wesentliche Irrtumsanfälligkeit impliziert aber weder die Abwesenheit noch die notwendige Unkenntnis eines objektiven Kriteriums zur Erkenntnis einer beliebigen Verpflichtung, mithin zur Unterscheidung von Gut und Böse. Nur bei seiner subjektiven Anwendung gelangt der Mensch notwendigerweise zu ungewissen Resultaten. Diese Ungewissheit macht sie aber, wie gesehen, nicht automatisch zweifelhaft oder unwahrscheinlich. Verpflichtungen werden nun nicht erst durch ihre Erkenntnis erzeugt. Vielmehr müssen sie bestehen, um erkannt zu werden. Nur die Quellen von Verpflichtung und ihrer Erkenntnis entsprechen einander: „Die Verknüpfung mancher mächtigerer bewegender Ursachen mit manchen freien Bestimmungen kann aus der Natur der Handlung und des Handelnden hinreichend erkannt werden. Manche Verknüpfung kann hinreichend aus irgendjemandes freier Willkür erkannt werden. Jene Verpflichtung ist eine natürliche (objektive, innerliche, innere), diese eine positive (willkürliche, subjektive, formale, äußerliche, äußere).“ (§ 29) Natürliche Verpflichtungen gelten also universal. Sie schreiben einem jeden Wesen, das sie erkennen und vollziehen kann, also jedem mit logischen Fähigkeiten begabten Sinnenwesen, vor, sich in bestimmten Situationen zu bestimmten Arten von Handlungen auch dann frei zu bestimmen, wenn es, womöglich erfreulichere, Alternativen gibt, und die entsprechende Handlung durch Begehung oder Unterlassung (§ 31) zu vollziehen. Positive Verpflichtungen hingegen hängen davon ab, dass sie an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit von irgendjemand in

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Geltung gesetzt werden. Sie können folglich in jeder Weise verändert oder aufgehoben werden. Daher dürfen positive Verpflichtungen zwar durchaus natürliche Verpflichtungen umfassen oder schlicht kodifizieren (§ 30). Zuwiderlaufen dürfen sie ihnen jedoch nicht, da natürliche Verpflichtungen aufgrund der Universalität ihrer Geltung jederzeit Priorität besitzen. Die Macht bewegender Ursachen besteht nun im Grade ihrer klaren und deutlichen Erkennbarkeit. Weil sie durch jedes sinnliche Verstandeswesen jederzeit ohne weitere Voraussetzungen erkannt werden können, sind natürliche Verpflichtungen stets mächtiger als positive, wenngleich diese zwangsbewehrt sein mögen. Die subjektve Verpflichtetheit eines Subjekts folgt demnach aus einem Erkenntnisakt, den es selbst vollzieht, und nicht aus einer Art psychomechanischer Kausalität, die mit der Gegebenheit irgendwelcher bewegenden Ursachen mit Notwendigkeit genau und nur ein mögliches Resultat herbeiführt. Wäre dem so, gäbe es keine freie Bestimmung mehr. Die Entscheidung, in der sie besteht, ergibt sich jedoch aus einem komplexen Erkenntnisprozess, der stets missraten kann. Jedoch kommt es auch dann zu einer freien Bestimmung. Sie folgt allerdings nicht den wahrhaft mächtigeren Ursachen, mithin der tatsächlich bestehenden Verpflichtung, sondern denen, die in Wahrheit schwächer sind, obgleich sie aufgrund größerer Bequemlichkeit, Vergnüglichkeit u. dgl. m. als die stärkeren angesehen werden mögen. Deswegen, und weil „alle freien Bestimmungen des Menschen entweder gut oder böse [sind]“ (§ 32), ist eine solche freie Bestimmung samt ihrer unvermeidlichen Folgen böse. Keine böse freie Bestimmung kann daher durch ihre scheinbar guten Folgen gerechtfertigt werden. Zugleich muss es zu einer jeden möglichen freien Bestimmung eine wahrhaft mächtigere bewegende Ursache geben, weil ohne bewegende Ursachen überhaupt keine freie Bestimmung möglich ist.20 Demzufolge steht jede freie Bestimmung unter irgendeiner wahrhaften Verpflichtung und bildet deshalb auch einen möglichen Gegenstand moralischer Beurteilung. II. Retrospektive Verpflichtungsfeststellung durch Zurechnung Dem auf die Zukunft gerichteten Bedenken mit seiner abschließenden Zusammenrechnung korresponiert die retrospektive moralische Beurteilung einer Handlung. Baumgarten nennt sie Zurechnung. Weil auch in ihr eine Verpflichtung erkannt werden muss, nämlich diejenige, welche das Subjekt des Zurechnungsurteils hatte oder gehabt hätte, als es die moralisch zu beurteilende Handlung vollzogen hat, involviert auch die Zurechnung Bedenken bzw. Zusammenrechnung – sei es seitens des Handlungssubjekts, wenn es seine bereits vollzogene Handlung nachträglich moralisch beurteilt, sei es einer anderen Urteilsinstanz, der es unter anderem auch darum gehen muss zu entscheiden, ob es dem handelnden Subjekt in der Lage, in der es die zu beurteilende Handlung vollzogen hat, möglich war, die 20

 Vgl. Baumgarten, Metaphysica (Fn. 11), § 691.

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mächtigeren bewegenden Ursachen zu erkennen, oder ob es sie womöglich tatsächlich erkannt und gegen diese Erkenntnis gehandelt hat usw. usf. Die retrospektive moralische Beurteilung einer fremden, äußerlichen Handlung, in der die juridische Zurechnung besteht, ist also, wie man leicht sieht, eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Baumgartens Theorie der Zurechnung trägt dem Rechnung, indem sie den Mitteln zur Fehlervermeidung ungewöhnlich viel Raum gibt. Bevor auf sie eingegangen werden kann, ist indes Baumgartens Begriff der Zurechnung kurz darzulegen.21 Er schließt an die reichhaltige Tradition des Naturrechts bzw. der Universaljurisprudenz an 22 und bildet wohl seine höchste, auch von Kant23 abgekürzt übernommene Entwicklungsstufe. Anders als das Bedenken bezieht sich die Zurechnung auf singuläre Ereignisse (§ 130), jedoch nicht auf beliebige, sondern auf „sittliche Taten“ (facta), die samt ihren Folgen von einer freien Ursache (causa libera) einer Handlung, dem „Urheber“ (auctor), bewirkt werden.24 Werden auf diese im nachhinein moralische Normen angewendet, handelt es sich um eine Zurechnung (imputatio): „Die Anwendung (applicatio) ist das Urteil, wodurch von irgendeinem Universal bejahte Merkmale von dessen untergeordnetem, unter demselben enthaltenen bejaht, verneinte verneint werden. Zurechnung im weiten Sinne wird genannt 1) das Urteil, wodurch einer der Urheber einer bestimmten Tat zu sein beurteilt wird, 2) die Anwendung eines Gesetzes auf eine Tat (applicatio legis ad factum) bzw. die Unterfällung (subsumtio) einer Tat unter ein Gesetz. Erstere mögen wir die Zurechnung der Tat (die physische), letztere die Zurechnung des Gesetzes (die moralische) nennen. Diese ist die Bejahung oder Verneinung eines Prädikats von irgendeiner Tat, welches Prädikat ein bestimmtes Gesetz von einem oberen Begriff bzw. einem Gemeinbegriff bejaht oder verneint hat, unter welchem die gegebene Tat enthalten ist. Zurechenbarkeit (imputabilitas) ist diese innere folgende Bestimmung, wodurch 1) sie irgendeinem Urheber zugeschrieben, 2) unter ein bestimmtes Gesetz subsumiert werden kann. Erstere ist die der Tat (die physische) bzw. die Abhängigkeit einer Bestimmung von der Freiheit, letztere ist die des Gesetzes (die moralische) bzw. die Abhängigkeit einer freien Bestimmung von einem Gesetz, die Anwendbarkeit eines Gesetzes auf eine gegebene Tat, und diese ist deren innere folgende Bestimmung, wodurch sie unter irgendeinem Gemeinbegriff enthalten ist, von welchem ein bestimmtes Gesetz manches bejahen oder verneinen mag, so dass daher dasselbe von 21  Vgl. ausführlicher zu verschiedenen Einzelaspekten: Alexander Aichele, Enthymematik und Wahrscheinlichkeit. Die epistemologische Rechtfertigung singulärer Urteile in Universaljurisprudenz und Logik der deutschen Aufklärung: Christian Wolff und A.G. Baumgarten, in: Rechtstheorie 42 (2011), S. 495 – 313; und ders., Betrunkene Professoren und mörderische Schlafwandler. Personalität und Individualität in der Philosophie der Aufklärung: Locke, Leibniz, A.G. Baumgarten, in: R. Gröschner/ S. Kirste/ O. Lembke (Hrsg.), Person und Rechtsperson, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, S. 101 – 126. 22 Vgl. Joachim Hruschka, Zurechnung seit Pufendorf. Insbesondere die Unterscheidungen des 18. Jahrhunderts, in: M. Kaufmann/ J. Renzikowski (Hrsg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Frankfurt / M.: Peter Lang 2004, S. 17 – 28. 23 Vgl. B. Sharon Byrd/ Joachim Hruschka, Kant’s Doctrine of Rights. A Commentary, Cambridge: Cambridge UP 2010, S. 290 – 293 u. S. 298 – 308. 24  Baumgarten, Metaphysica (Fn. 11), § 940.

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einer gegebenen Tat gemäß dem Dictum de omni et nullo bejaht oder verneint werden kann.“ (§ 125)

Gegenstand der Zurechnung ist eine äußere Handlung samt ihren freien Folgen (§ 133), die durch eine freie Ursache, d. h. eine Person, vollzogen wurde und unter einem moralischen Gesetz steht. Daher ist die Zurechnung ein retrospektives moralisches, d. h. sowohl ethisches als auch juridisches und keineswegs exklusiv strafrechtliches, Urteil. Bloß mentale Zustände wie innere Einstellungen, Wünsche, Absichten usw., die keine äußere Wirkungen besitzen, mithin nicht zu aktualen Bewegungsursachen äußerer Handlungen gemacht werden, sind keine Zurechnungsgegenstände, ebenso wie „unbedingt notwendige, durch schlechthin solche äußerliche Gewalt erzwungene, innerlich und physisch, aber schlechthin erzwungene, physisch, aber schlechthin notwendige und unmögliche Handlungen, rein natürliches Unvermögen und bloß natürliche Handlungen“ (§ 131). Jedes Zurechnungsurteil besitzt zwei Stufen. Dabei setzt die zweite Stufe, die moralische Zurechnung, die erste Stufe, die physische Zurechnung, notwendig voraus. Sie untersucht, ob ein bestimmtes physisches Ereignis bzw. eine Veränderung der Welt durch eine Person verursacht worden ist, also kein allein naturgesetzlich bestimmtes Geschehen darstellt, das sich auch ohne die freie Aktivität eines Urhebers ereignet hätte, sondern die Wirkung einer freien Handlung. Physische Zurechnung terminiert daher stets in einem Kausalurteil. Es muss eine dreifache Qualifikation enthalten, indem es feststellt, ob, erstens, das zu untersuchende Ereignis überhaupt eingetreten ist und also der Möglichkeit nach eine Tat vorliegt, ob, zweitens, dessen vermutete Ursache zur Zeit des verursachenden Handelns eine Person war, und ob sie, drittens, die zu untersuchende Veränderung der Welt frei verursacht hat, diese also wahrhaftig eine Tat war (§ 127). All jene Elemente, die in der physischen Zurechnung zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht werden müssen, sind sowohl singulär als auch kontingent. Demzufolge kann keines dieser Erkenntnisurteile, die ausschließlich universale Begriffe gebrauchen können, Anspruch auf vollständige, sondern nur auf subjektive Gewissheit erheben. Jedes davon und infolgedessen auch die physische Zurechnung insgesamt kann im besten Fall nur wahrscheinlich sein. Ist dies nicht der Fall, enthält sie also ein zweifelhaftes oder unwahrscheinliches Teilurteil, findet keine Zurechnung statt (§ 144). Es sind diese hohen Anforderungen, die in Baumgartens Augen – und dies zu Recht – eine ausführliche Diskussion möglicher Fehlerquellen und der möglichen Ausschlussgründe einer physischen Zurechnung nötig machen. Auf die einschlägigen Paragraphen zwischen §§ 138 und 145 der Initia ist später einzugehen. Führt die physische Zurechnung zum Erfolg, resultiert aus ihr ein wahrscheinliches Urteil der Form: „Die Person p ist der Täter der Tat t.“ Diese Aussage bildet die zweite Prämisse des Subsumtionsschlusses, den die moralische Zurechnung darstellt. Er ist bis heute als „juristischer Syllogismus“ oder „juristische Deduk­ tion“ bekannt und in Gebrauch. Christian Wolff erläutert dieses Verfahren in sei-

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nem Jus naturae.25 Es dient dort dem Zweck dem Beweis eines Rechts(anpruchs) im Eigentumsrecht. Dessen Gewissheitsanspruch beruht auf der logischen Form des Beweises, dem modus (ponendo) ponens. Auch Baumgarten nutzt diese Form, nennt den Schluss jedoch „syllogismus imputatorius“ (§ 171). Weil alle retrospektiven moralischen Urteile Zurechnungsurteile sind und alle Zurechnungsurteile diese Form haben müssen, weitet er mit der Auszeichnung jenes logischen Verfahrens als Zurechnungsschluss seine Gültigkeit auf den gesamten Bereich der Moral aus. Nach Baumgartens Modell des Zurechnungsschlusses bildet den Obersatz ein Gesetz und seinen Untersatz eine Tat (§ 171), d. h. insgenauere: Im Obersatz steht ein Konditional, welches das in seiner Anwendbarkeit zu beurteilende Gesetz wiedergibt, und im Untersatz die wesentlichen Merkmale, die sog. „Momente“ (§ 128), der Tat, die einen Fall des Gesetzes darstellen soll. Entspricht sie der im Antezedens des Konditionals formulierten Bedingung, wird dessen Konsequens in der Konklusion bestätigt. In einfachster Form sieht dies so aus: 1. Wenn eine Person P eine Tat T vollzogen hat, so wird P so und so bestraft (oder belohnt). [Norm] 2. Nun ist p Täter von t. [physische Zurechnung] 3. Also wird p so und so bestraft (oder belohnt). [moralische Zurechnung] Naturgemäß sind Strafe oder Belohnung keine exklusiv juristischen Begriffe; schließlich wird auch ethisches Miss- oder Wohlverhalten mit Ver- oder Hochachtung bedacht. Bevor nun auf die Ausschlussgründe für eine Zurechnung bzw. die Irrtumsquellen, die dem Zurechnungsprozess innewohnen, eingegangen werden kann, die Baumgarten auch für die moralische Zurechnung in den Paragraphen 173 bis 175 der Initia thematisiert, ist noch einmal der Grund für jene Sorgfalt bei der Aufdeckung möglicher Irrtumsquellen zu betonen. Er liegt in der zentralen, epistemologischen Problematik des Zurechnungsverfahrens. Sie bedeutet keinen Mangel von Baumgartens Theorie, da sie unumgänglich ist und durch keinerlei Mittel behoben werden kann. Umso wichtiger ist es deswegen, sie stets im Bewusstsein zu halten. Keine Rolle für die Zurechnung spielt die Herkunft des Gesetzes, also, ob es sich um eine natürliche oder positive Verpflichtung handelt. Der Obersatz des Schlusses ist also unproblematisch, und der gesamte Schluss ist es ebenso, sofern im Untersatz eine zutreffende Handlungsbeschreibung steht, welche die Anwendung des Gesetzes aus dem Obersatz ermöglicht.26 Deswegen hängt der Erfolg des Verfah Vgl. Aichele, Enthymematik (Fn. 21), S. 498 – 502.  Vgl. Joachim Hruschka, Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhunderts, in: Jan Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. September bis 1. Oktober 1999, Stuttgart: Franz Steiner 2001, S. 203 – 214, insb. S. 211 f. 25 26

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rens von der Darstellung des Untersatzes ab. Denn er rechtfertigt die Beurteilung des beschriebenen Ereignisses als eines Anwendungsfalls des Gesetzes aus dem Obersatz. Allerdings kann die Erfassung des zu untersuchenden Ereignisses im Untersatz nicht allein mit rein logischen Mitteln erfolgen und entbehrt daher auch der entsprechenden Notwendigkeit. Das Schlussverfahren ist zwar vollständig logisch bestimmt, doch müssen im Untersatz, der ein singuläres Urteil darstellt, zwangsläufig ästhetikologisch erzeugte, mithin aus Sinneswahrnehmung und Erfahrung gewonnene, indes notwendigerweise universale Begriffe, auftreten. Deswegen ist es unmöglich zu beweisen, dass gerade diese und keine anderen Begriffe mit Notwendigkeit gebraucht werden müssen, um das thematisierte Geschehen wahrhaft zu erfassen. Folglich sind immer mehrere, miteinander konkurrierende Beschreibungen ein und desselben Geschehens bzw. ein und derselben Tat und demnach ebenso verschiedene Subsumtionen möglich. Weil hierüber prinzipiell gestritten werden kann, muss es stets eine den verschiedenen Arten von Gesetzen jeweils angepasste Institution geben, die zur Entscheidung autorisiert ist. Baumgarten nennt sie Gerichtshof (forum) (§§ 180 ff.). Seine Aufgabe ist es, ein bestimmtes Ereignis bzw. eine Tat zum Fall eines Gesetzes zu erklären, also zu entscheiden, welche Beschreibung, mithin welcher Untersatz, die richtige und welcher Obersatz anzuwenden ist. Genau in letzterem besteht die moralische Zurechnung. Sofern sie nicht von einem allwissenden Wesen, sondern von Menschen vorgenommen wird, kann auch ihr Ergebnis – wenn es denn zu einer Zurechnung kommt – nur wahrscheinlich sein. III. Geglückte Zurechnung, Schlamperei, Irrtum und Zurechnungsausschluss In einem Zurechnungsurteil werden, wie wir gesehen haben, zwei universale Aussagen verknüpft, das Konditional, das die Norm aussagt, und das Identifikationsurteil, welches das Resultat der physischen Zurechnung aussagt. Letzteres ist deswegen problematisch, weil es – im Falle endlicher Geister – versuchen muss, Singula durch universale Terme treffend zu erfassen, und demzufolge kontingent und damit unaufhebbar fehleranfällig ist. Die Kontingenz des Untersatzes schlägt sich in der prinzipiellen Bestreitbarkeit des anzuwendenden Obersatzes nieder. Allerdings bedeutet diese prinzipielle Bestreitbarkeit nicht prinzipielle Zweifelhaftigkeit. Denn in der unaufhebbaren Ungewissheit ästhetikologischer Urteile substituieren die epistemischen Zustände von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit die Wahrheitswerte wahr und falsch. Beide lassen keinen Raum für Zweifel, jedenfalls vernünftigen Zweifel, mehr. Dies gilt allerdings nur, wenn sie Resultat eines intellektuellen Verfahrens sind, das alle möglichen Fehlerquellen, soweit sie nicht schlicht im Wesen des Urteilenden selbst liegen, methodisch ausschaltet. Dies zu tun, setzt naturgemäß die Kenntnis jener Fehlerquellen voraus. Deshalb diskutiert Baumgarten sie ausführlich. Lassen sie sich hinsichtlich eines Ereignisses, das Gegenstand einer Zurechnung sein soll, nicht ausschalten oder

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werden sie übersehen oder durch mangelnde Sorgfalt vernachlässigt, kann es nicht zu einer Zurechnung kommen bzw. das diesbezügliche Zurechnungsurteil ist ungültig. Was für die physische Zurechnung gilt, gilt mutatis mutandis auch für die moralische. Nachdem auf diese Weise die korrekte Methodik der Zurechnung zu einem guten Teil von der Fehlervermeidung abhängt, bedarf sie der Analyse, um die Darstellung von Baumgartens Theorie der Zurechnung zumindest ihrer Form nach abzuschließen. Seine Theorie der Graduierung von Zurechnung, mithin von Schuld und Verdienst, gemäß der Freiheit des Täters, die eher die inhaltliche Seite betrifft, kann an dieser Stelle nicht mehr berücksichtigt werden. 1. Die methodische Erfassung der Tat anhand ihrer Momente Das modellhafte Gerüst der methodischen Erfassung eines womöglich zuzurechnenden Ereignisses, d. h. einer Tat, liefern die „Momenta an der Tat“ (momenta in facto). Baumgarten listet sie im Paragraphen 128 der Initia auf: „Die innerlichen und äußerlichen oder auch beziehungsweisen veränderlichen Bestimmungen einer Tat, die bei ihrer Zurechnung zu beachten sind, sind die Momente an der Tat (Umstände im uneigentlichen Sinne), deren Teil die Gelegenheit und die Umstände (im eigentlichen Sinne), M. § 323. Vollständiges oder teilweise Unwissen und Irrtum bezüglich der veränderlichen Bestimmungen welcher Tat auch immer sind Unwissen und Irrtum der Tat, bezüglich veränderlicher Bestimmungen der Tat, die bei der Zurechnung nicht zu beachten sind, außerwesentliche, bezüglich der Momente an der Tat, wesentliche. Untersuchungen der veränderlichen Bestimmungen einer Tat sind Fragen der Tat, veränderlicher Bestimmungen, die bei der Zurechnung nicht zu beachten sind, außerwesentliche, der Momente an der Tat, wesentliche. Die Aufzählung der Momente an der Tat ist die Art der Tat (die Tat). Deshalb nützt dem, der zurechnen will, eine Art der Tat, die nicht von außerwesentlichen Fragen aufgebläht, doch reicher ist, woraus erkannt werden kann, 1) ob die gegebene Bestimmung überhaupt geschehen ist. Die Wirklichkeit eines Vergehens zusammen mit seinen Zeichen ist das Corpus delicti. 2) ob die gegebene Bestimmung eine Tat ist, 3) wie beschaffen, 4) wie groß, 5) wessen, 6) inwieweit sie von diesem, 7) inwieweit sie von dessen Freiheit abhängt, 8) von welchen her, 9) sie welchen Gesetzen zu subsumieren ist. Solange 1) die Wirklichkeit der Tat, z. B. das Corpus delicti, 2) oder die Person, die deren Urheber ist, 3) oder jener Abhängigkeit von dieser überhaupt nicht gewusst wird, ist eine Zurechnung der Tat unmöglich, § 127.“

Die Momente an der Tat sind diejenigen ihrer Bestimmungen, die für ihre Zurechnung wesentlich sind, so dass diese ohne ihre Erkenntnis unmöglich ist. Diese Eigenschaften sind veränderlich bzw. kontingent, weil jede Handlung eine singuläre „Begebenheit“ darstellt,27 die sich auch hätte anders (oder gar nicht) ereignen können. Sie müssen von einem endlichen Geist durch universale Terme erfasst werden, da er aufgrund seiner epistemischen Beschränktheit nicht zur Bildung klarer und deutlicher Individualbegriffe fähig ist. Die vollständige Aufzählung jener  Vgl. Baumgarten, Metaphysica (Fn. 11), § 323.

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Momente ergibt die Art der Tat (species facti), d. h. einen Klassenbegriff, wie er durch einen universalen Term ausgesagt wird. Baumgarten listet neun solcher Momente auf. Von diesen gehören sieben zur physischen Zurechnung, die er wiederum drei Hauptrubriken zuordnet, nämlich der Wirklichkeit der fraglichen Begebenheit, ihrer Urheberschaft durch eine Person oder ihrer Abhängigkeit von einer Person. Letztere Ergänzung ermöglicht sowohl die Klassifikation einer Unterlassung, die ja gerade nichts verursacht,28 als zurechenbare Tat als auch die prinzipielle Zurechenbarkeit von Taten an juristische Personen.29 Zweck der physischen Zurechnung ist die Feststellung, ob eine Person eine Tat vollzogen hat, bei der ein Verdacht besteht, dass sie dadurch bzw. mit der herbeigeführten Veränderung der Welt gegen eine Norm verstoßen haben könnte. Die erste zu stellende Frage ist deshalb, ob diese Weltveränderung überhaupt stattgefunden hat. Erst wenn dies der Fall ist und ein corpus delicti vorliegt, ist es sinnvoll zu fragen, ob das fragliche Ereignis ein Resultat menschlichen Handeln war oder das Ergebnis eines natürlichen Vorgangs. Wiederum erst dann ist es zu Zurechnungszwecken sinnvoll, die qualitative Beschaffenheit jener Tat und ihre intensive Größe festzustellen. Danach erst kommt die Täterschaft in den Blick, und zwar in einem Dreischritt, der von der Identifikation der Person, welche die fragliche Tat vollzogen hat, über die Feststellung der Abhängigkeit – bestehe diese in Urheberschaft oder einer anderen Art von Dependenz – dieser Tat von jener Person bis zur abschließenden Untersuchung, ob die Person bei der Herbeiführung der Tat frei war, mithin tatsächlich als Person gehandelt hat. Man sieht leicht, dass die Reihenfolge der für eine physische Zurechnung notwendigerweise zu stellenden und vor allem zu beantwortenden Fragen keineswegs beliebig ist. Zum einen formulieren sie die notwendigen Bedingungen für eine physische Zurechnung, die diese zusammengenommen auslösen, d. h. für eine physische Zurechnung dann und nur dann hinreichen, wenn sie alle erfüllt sind. Zum anderen fungiert jede dieser Fragen in genau dieser Reihenfolge selbst wiederum als notwendige Bedingung für die jeweils folgende, spezifischere Frage, die erst dann sinnvoll gestellt werden kann, wenn die vorhergehende positiv beantwortet worden ist. Genau dies ist der Grund ihrer Anordnung, die von der schieren Existenz einer Weltveränderung über ihren Tatcharakter, ihre Beschaffenheit und Intensität bis zu ihrer personalen Zuordnung, der Art ihrer Dependenz von einer Person und schließlich deren aktualen Personalität, mithin ihrer Freiheit zum Zeitpunkt der Tat, selbst fortschreitet. Kann eine dieser Fragen nicht bejaht werden, endet der Untersuchungsprozess und es kommt zu keiner physischen Zurechnung. Folglich muss bei jedem Schritt subjektive Gewissheit über die Wahrscheinlichkeit 28 Vgl. Michael Moore, Causation and Responsibility. An Essay in Law, Morals, and Metaphysics, Oxford: Oxford UP 2010, S. 302 – 305 u. 435 – 452. 29 Vgl. Alexander Aichele, Persona naturalis und persona moralis. Die Zurechnungsfähigkeit juristischer Personen nach Kant, in: JRE 16 (2008), 1 – 21.

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eines positiven Urteils vorliegen. Daraus folgt umgekehrt, dass an jeder Stelle des Untersuchungsgangs bloße Zweifelhaftigkeit oder gar Unwahrscheinlichkeit in der Beantwortung einer Teilfrage zu dessen Einstellung führen muss und keine physische Zurechnung stattfinden darf. Baumgarten stellt also ziemlich hohe Hürden auf, deren Überwindung erst erlaubt, überhaupt von einer physischen Zurechnung zu sprechen. Erinnert man sich an die zentrale Bedeutung des Untersatzes im Zurechnungsschluss, der ja die Tat enthalten soll, kann dies kaum verwundern. 2. Physische Zurechnung Angesichts der Komplexität der Untersuchung physischer Zurechenbarkeit kann es ebensowenig verwundern, dass hier eine Vielzahl von Fehlerquellen lauert. Ihre Kenntnis ist für die zurechnende Instanz unerlässlich, um nicht eine physische Zurechnung vorzunehmen, wo sie nicht gerechtfertigt ist, und das heißt zugleich, einen vorliegenden Grund zu übergehen, den Zurechnungsprozess abzubrechen bzw. eine physische Zurechnung auszuschließen. Offensichtlich hält es Baumgarten für methodisch erforderlich, solche Fehlerquellen innerhalb seiner Theorie ausführlich zu präsentieren, obwohl dies deren Systematik nicht unbedingt erfordert. Trotz seiner systematischer Strenge und seinem Hang zu möglichster Kürze dokumentiert er dadurch meistenteils das Bewusstsein einer latenten Gefahr vorschneller physischer Zurechnung, die jedenfalls zu unbegründeten moralischen Zurechnungen führen muss und schlimmstenfalls zur Verurteilung Unschuldiger führen kann. Baumgartens Diskussion verfolgt daher wenigstens zwei Ziele: Einerseits befördert sie die Ökonomie moralischen Urteilens und schützt damit zugleich die Judikative vor Überlastung, da entsprechende Prozesse aus epistemischen Gründen, d. h. aus unzulänglicher Erkenntnislage, jederzeit und auch in frühen Stadien abgebrochen werden können und müssen. Andererseits befördert sie die Rechtlichkeit, indem sie enge und strenge Erkenntnisregeln aufstellt, um zu einem Schuldspruch zu gelangen, und damit zugleich das Streben nach irdischer Gerechtigkeit, indem sie dessen Ansprüche rigoros auf das den Menschen allenfalls mögliche Maß begrenzt. Bei seiner Behandlung der möglichen Fehlerquellen der physischen Zurechnung folgt Baumgarten der methodischen Ordnung der Tatmomente, ohne indes – wohl um allzu heftige Redundanzen zu vermeiden – jeden einzelnen davon eigens und gesondert zu thematisieren. Er beginnt mit der Existenz der zu untersuchenden Weltveränderung selbst: „Weil bei der Zurechnung der Tat am Anfang die einzige Frage der Tat ist, ob die gegebene Tat überhaupt geschehen ist, oder die nach ihrer einzelnen Wirklichkeit, §§ 126, 127, hüte sich einer, der sich vor einer irrtümlichen Zurechnung hüten will, 1) dass er nicht innerlich Unmögliches irgendjemandem so wie Taten zurechnet, M. § 58, wenn auch eine sehr große Mehrzahl, das gewandte Benehmen und die Aufrichtigkeit der Zeugen derart unbedingt unglaubwürdigen Sachen die Wahrscheinlichkeit des Glaubens zu verschaffen scheint, § 129, 2) dass er nicht diese, welche von ihm selbst durch Übereilung

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als innerlich unmöglich beurteilt werden, viel weniger, welche auf diese Weise für einer bestimmten Person physisch unmöglich, wenigstens bedingt für nicht in deren Gewalt stehend gehalten werden, weil sie in der Tat vielleicht nur schwierig sind, M. § 527, am wenigsten, welche auf dieselbe Weise für einer gegebenen Person moralisch unmöglich gehalten werden, deswegen sogleich so wie Ungetanes zurückweist und sich deswegen ihrer weiteren Zurechnung enthält, M. §§ 469, 724.“ (§ 138)

Der erste Schritt des gesamten Zurechnungsprozesses ist die Analyse des Wesens der zu untersuchenden Weltveränderung bzw. Tat, d. h. zunächst ihrer absoluten, logischen Möglichkeit.30 Kann ein Ereignis für sich genommen bzw. intern nicht in allen seinen essentiellen Bestimmungen widerspruchsfrei bestimmt werden, so dass ein sinnvoller Begriff seiner Art definiert werden kann, ist es unmöglich, mithin Nichts. Demzufolge kann es auch nicht wirklich sein, gewesen sein oder werden: Vom Nicht-Sein-Können auf das Nicht-Sein gilt der Schluss.31 So banal das klingen mag, gibt es doch Gründe für diese vorgängige, isolierte Möglichkeitsanalyse. Denn sowohl Vielzahl als auch Stand, Bildung und Erziehung als auch der Ruf von Zeugen mögen einhellig für die Wirklichkeit eines Ereignisses sprechen, das für sich genommen betrachtet gar nicht stattgefunden haben, also auch keine Tat sein kann. Keine, womöglich durchaus in bestem Glauben abgegebene Aussage über die Art eines vergangenen Geschehnisses, an dessen Wirklichkeit zu glauben man aus welchen Gründen auch immer geneigt sein mag, kann zugleich wahr und in sich widersprüchlich sein. Dies gilt umgekehrt ebenso für die zurechnende Instanz, etwa den Richter. Ihm kann es geradeso passieren, aufgrund mangelnder Sorgfalt bei der Analyse des Begriffs der jeweils unterstellten Tat, diese für absolut unmöglich zu halten, während sie in Wahrheit durchaus möglich ist. Gleichfalls kann er sie zwar für absolut möglich, jedoch fälschlich für hypothetisch unmöglich erachten, indem er annimmt, dass die Kräfte des Verdächtigen zur Vollbringung der Tat nicht zugereicht hätten, obwohl dies bei ihrer äußersten Anspannung möglich gewesen wäre. Schließlich kann die zurechnende Instanz einer bestimmten Person eine Tat schlicht nicht moralisch zutrauen und aus irgendwelchen Gründen glauben, dass genau jene Person etwas Unerlaubtes oder wenigstens genau dies Unerlaubte, um das es bei der Untersuchung geht, niemals tun würde. Weil dieser Fehler die fundamentale und allgemeine Einsicht betrifft, dass jede Person imstande ist, Böses zu tun, ist er am leichtesten zu vermeiden. Die anderen beiden Fehlerquellen hingegen lassen sich nicht vollständig eliminieren, da sie im zweiten Fall speziellere Kenntnis über die physischen und eventuell auch intellektuellen Vermögen einer Person, die notorisch schwierig festzustellen sind, und im ersten Fall durchaus umfassende logische Fähigkeiten und Grundkenntnisse der Metaphysik verlangen. Freilich bildet gerade die Feststellung der Möglichkeit einer Tat die Grundlage für weitere, man möchte fast sagen: populäre, Fehler: 30 31

 Vgl. Aichele, Weltweisheit (Fn. 3), S. 226 – 232.  Vgl. Baumgarten, Metaphysica (Fn. 11), § 58.

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Wer sich vor einer irrtümlichen Zurechnung hüten will, § 137, hüte sich, 3) dass er nicht von welcher Möglichkeit einer Tat auch immer – auch einer hypothetischen, physischen oder moralischen – sogleich auf deren Wirklichkeit schließt, M. § 723. Wir unternehmen nicht alles, was auf welche Weise auch immer in unserer Gewalt steht, und auch nicht alles, was, insbesondere nur gemäß irgendwelcher Gesetze, erlaubt ist. Am wenigsten kann von der inneren Möglichkeit aller Taten zureichend abgeleitet werden, dass diese getan worden sind, M. § 59. 4) dass er nicht die erkannte Wahrheit irgendwelcher Momente an der Tat schon für seine ganze wahre Zurechnung hält, weil er nichtsdestoweniger bei den übrigen, noch nicht untersuchten wesentlichen Fragen der Tat irren kann, § 128.

Von der Möglichkeit auf die Wirklichkeit führt kein gültiger Schluss.32 Wäre dies so, müsste alles, was möglich ist, auch wirklich sein, d. h. die Tat müsste vollzogen und nicht vollzogen worden sein, der Täter – und mit ihm alle endlichen Lebewesen – müsste am Leben und nicht am Leben sein und alle kontingenten Dinge müssten existieren und nicht existieren. Das kann nicht sein. Und dies gilt für alle Arten von Möglichkeiten, absolute, hypothetische, physische und moralische: Aus der logischen Möglichkeit eines Ereignisses folgt nicht, dass ein Ereignis dieser Art stattgefunden haben muss (oder stattfindet oder stattfinden wird); daraus, dass ein bestimmtes Ereignis unter einer bestimmten Bedingung stattfinden kann, folgt nicht, dass es, auch wenn diese Bedingung erfüllt war (oder ist oder sein wird), stattgefunden haben muss (oder stattfindet oder stattfinden wird); daraus, dass eine Person die physische Kraft besessen hat (oder besitzt oder besitzen wird), eine bestimmte Handlung zu vollziehen, folgt nicht, dass sie diese vollzogen hat (oder vollzieht oder vollziehen wird); und daraus, dass eine Person zu einer bestimmten Tat – sei sie Begehung oder Unterlassung – verpflichtet war (oder ist oder sein wird), folgt nicht, dass sie diese vollzogen hat (oder vollzieht oder vollziehen wird). Das Geschehen in der Welt bleibt stets kontingent: Auch der größte Grad an Möglichkeit bringt keine entsprechende Wirklichkeit hervor,33 wenn die Tat nicht durch eine wollende und handelnde Person, die jederzeit so oder anders oder gar nicht handeln kann,34 vollzogen wird. Nun mögen Möglichkeit und die ihr korrespondierende Wirklichkeit einer Tat und womöglich noch weitere Momente an ihr mit subjektiver Gewissheit erkannt worden sein. Jedoch ist die physische Zurechnung nicht vollständig, solange nicht alle Tatmomente untersucht worden sind und ihre Gegebenheit bestätigt worden ist. Denn hinsichtlich jeder Teilfrage ist ein Irrtum möglich. Geschieht dies an irgendeiner Stelle, ist die notwendige Bedingung zum weiteren Fortschreiten nicht erfüllt. Das Ergebnis des Zurechnungsprozesses kann dann keine Geltung besitzen, weil er vorzeitig hätte abgebrochen werden müssen. Alle Tatmomente sind daher logisch wie epistemisch gleichberechtigt. Die Abfolge ihrer Untersuchung ist systematisch begründet und kann weder nach Belieben verändert oder gar verrin  Vgl. ebd., § 59.  Vgl. Aichele, Weltweisheit, S.  270 – 278. 34  Vgl. ebd. S. 297 – 311. 32 33

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gert werden. Denn jede einzelne Frage, die zu stellen ist, muss mit subjektiver Gewissheit im Sinne einer Zurechnung beantwortet werden. Wird die Untersuchung eines beliebigen Tatmoments aufgrund irgendwelcher Erwägungen wie der bislang drückenden Beweislast. der sinistren Persönlichkeit des Verdächtigen o. ä. bewusst übersprungen, aus schierer Faulheit weggelassen oder aus einfacher Schlamperei übergangen, kann die Zurechnung nicht mehr gelten. Denn solange die entsprechende Untersuchung nicht geführt worden ist, könnte trotz der möglicherweise erzielten subjektiven Gewissheit bei den behandelten Fragen das Resultat bei einer der fehlenden Fragen zweifelhaft oder unwahrscheinlich sein, so dass keine physische Zurechnung stattfinden darf. Nun gewährt zwar subjektive Gewissheit keine vollständige, vollkommen klare und deutliche Erkenntnis, da sie in allen auf die Wirklichkeit bzw. die Welt gerichteten Teilen nicht anders als ästhetikologisch sein kann. Doch entbindet das Bewusstsein dieser Ungewissheit keineswegs von der Aufgabe, auch ohne Vollkommenheitsanspruch die jeweils größtmögliche Klarheit und Deutlichkeit herzustellen und auf diese Weise Irrtums- und Fehlergefahr bei der physischen Zurechnung zu minimieren. Welche methodischen und epistemischen Aspekte Baumgarten hier im Sinn hat, zeigt Paragraph 140 der Initia: „Neben den beiden beachteten Paragraphen 138 und 139 5) vermenge einer, der glücklich zurechnen will, nicht die Zurechnung des Gesetzes und der Tat und beginne gut mit der Letzteren, weil sonst die Erstere oft ein vergeblicher Akt sein wird, wann die Letztere, indem sie erst nach dieser versucht wird, fehlt, § 125; 6) weil Dunkelheit und Verworrenheit die Mutter des Irrtums ist, schreite er in der Finsternis und bei spärlichem Licht vorsichtig fort; 7) indem du gut unterscheidest, wirst du gut zurechnen; 8) vermenge der im schlechten Sinne Überredete die Lebendigkeit und den Glanz, ja sogar die Unterscheidung selbst, wodurch die Sache, von der, eine Tat zu sein, unterstellt oder gemalt oder auch entwickelt wird, nicht mit der Klarheit des Bewusstseins und dem Licht der Wahrheit selbst; 9) vernachlässige der Oberflächliche nicht deswegen, weil die Zurechnung einer gegebenen Tat nicht vollständig und wissenschaftlich gewiss werden kann bzw. nicht mathematisch beweisbar ist, all ihre Gediegenheit, § 137.“

Dass eine moralische Zurechnung aus logischen Gründen nicht vor der physischen Zurechnung stattfinden darf, ist bereits klargeworden. Trotzdem betont Baumgarten noch einmal eigens die praktische und durchaus gleichermaßen epistemische Seite dieses methodischen Verbots. Denn zum einen wird man überflüssige Arbeit leisten, wenn eine moralische Zurechnung aufgrund der Unmöglichkeit einer physischen Zurechnung ihrerseits unmöglich wäre, und zum anderen wäre ein treffendes moralisches Zurechnungsurteil ohne vorherige klare und deutliche Erkenntnis dessen, was eigentlich zugerechnet werden soll, Produkt eines ausgesprochen unwahrscheinlichen, puren Zufalls. Aber auch eine säuberliche Trennung von physischer und moralischer Zurechnung mahnt Baumgarten ausdrücklich an. Wenngleich nämlich letztere durchaus das Ziel des Zurechnungsprozesses sein mag, muss vermieden werden, dass erstere bereits im Blick auf eine bestimmte, später anzuwendende Norm durchgeführt

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wird. Eine solche Vermengung beider Zurechnungsstufen wird vielleicht den Analyse- und Arbeitsaufwand für die zurechnende Instanz reduzieren, birgt jedoch zweifellos die Gefahr, von vorneherein, ohne genaue Kenntnis der Tatmomente, die Tat selbst so passend zu machen, dass sie unter die antizipierte oder aus irgendwelchen Gründen gewünschte Norm fällt. Dass die Versuchung, solchermaßen der eigenen, vorgefassten Meinung zu folgen, permanent besteht, lässt sich kaum bestreiten. Dem damit verbundenen Risiko eines entsprechend un(ge)rechten Urteils beugt die strikte Fokussierung auf die Art der Tat und die Personalität des Täters, ohne bereits in der ersten Zurechnungsstufe normenapplikative Hintergedanken zu hegen, vor. Dass eine solche moralische Vorurteilsfreiheit im buchstäblichen Sinne in der Praxis womöglich nicht ganz einfach zu leisten sein wird, spricht nicht gegen diese Forderung, sondern unterstreicht eher ihre methodische Notwendigkeit. Die epistemischen Eigentümlichkeiten der ästhetikologischen Erfassung der Tat mögen dagegen eher die Über- oder Unterschätzung ihrer Erkenntnismöglichkeiten oder gar Gleichgültigkeit aufgrund der Unmöglichkeit vollständiger Gewissheit befördern. Sind nur wenige Merkmale der physisch zuzurechnenden Tat klar und deutlich erkennbar und liegt demnach nur geringe Differenziertheit bzw. ein hoher Grad an Dunkelheit und Verworrenheit vor,35 ist besondere Sorgfalt vonnöten, um nicht eine Entscheidung über eine Differenzierung zu treffen, wo nicht genügend Daten vorliegen, um zu derartiger Eindeutigkeit zu gelangen. Zwar sind keine Unterscheidungen zu treffen, wo sie nicht anhand der Erkenntnislage zu begründen sind. Dennoch ist hinsichtlich der zu untersuchenden Momente an der Tat jede Unterscheidung zu treffen, um zu einer gelungenen physischen Zurechnung zu kommen. Es kommt also darauf an, zu einer so differenzierten Bestimmung der Tat zu gelangen, wie es die epistemische Situation erlaubt, ohne diese im Interesse der gewünschten Eindeutigkeit mit Unterscheidungen zu ergänzen oder abzurunden, die nicht an der Sache selbst erkannt und begründet werden können. So unverzichtbar die ästhetische Erkenntnis sowohl für die Herstellung unbedingter Gewissheit der schieren Existenz von einzelnen Dingen und Ereignissen als auch für ihre ästhetikologische Identifikation und Differenzierung ohne jeden Zweifel ist,36 so zweischneidig ist zugleich der Gebrauch ästhetischer, insbesondere rhetorischer oder poetischer bzw. fiktionaler Verfahren bei ihrer Darstellung. Da diese nämlich auch dem Ziel dienen, ‚Hässliches schön zu denken‘, ermöglichen sie im Zuge ‚schlechter Überredung‘ die Verwischung des Unterschieds zwischen dem Wahrscheinlichen und dem bloß Wahrheitsähnlichen, d. h. des in genau dieser Welt real Möglichen und des in ihr real Unmöglichen, das aber in einer anderen, obzwar ähnlichen Welt geschehen könnte.37 Es ist klar, dass letzteres in einer Untersuchung, welche die physische Zurechenbarkeit eines vergangenen Ereignisses, das in dieser und keiner anderen, wenngleich noch so ähnlichen   Vgl. ebd., S. 42 – 47.   Vgl. ebd., S. 52 – 91. 37  Vgl. ebd., S. 210 – 224. 35 36

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Welt geschehen ist, keine Rolle spielen darf. Die zurechnende Instanz darf sich daher nicht mit der Wahrheitsähnlichkeit einer – sowohl fremden als auch ihrer eigenen – Darstellung begnügen und deren dunkle und verworrene Bereiche ohne weiteren Klärungsversuch als integralen Bestandteil akzeptieren. Vielmehr darf sie ausschließlich auf die klaren Bestimmungen ästhetikologischer Erkenntnis zurückgreifen, die stets propositionale Form besitzen und allein die bewusste und allgemein überprüfbare Identifikation und Differenzierung von Gegenständen ermöglichen. Eben deswegen, weil diese Erkenntnisart die einzige ist, die Menschen zur Gewinnung von Wissen über die Welt zur Verfügung steht, darf sie nicht im Bewusstsein ihrer Unvollkommenheit zum Objekt epistemologischer Verachtung gemacht werden. Diese führte nämlich in einen grenzenlosen Relativismus des „Anything goes.“ bzw. radikale Skepsis. Jedoch folgt aus dem Mangel an vollständiger Gewissheit und mathematischer Erkenntnis hinsichtlich der Beschaffenheit eines Dings oder Ereignisses keineswegs absolute Unwissenheit und totale Wahrheitsferne, welche die Beliebigkeit jeder Identifikation und jeder Behauptung über die Welt erlaubten. Wer die Krickente Harald zwar nicht unter allen möglichen Krickenten, aber doch unter einer endlichen Menge von Krickenten identifizieren kann oder unter einer Vielzahl verschiedenen Enten die eine Krickente oder unter vielen verschiedenen Vögeln eine Ente usw., besitzt eine Erkenntnis und steht auf der Seite der menschenmöglichen Wahrheit, trotzdem er keine absoluten Identifikationen vornehmen kann. Die metaphysische Unvollkommenheit einer Erkenntnis entwertet nicht ihren Charakter als Erkenntnis. Deswegen mag die epistemische Methodik, um zu einer physischen Zurechnung zu gelangen, zwar mühevoll sein, doch kann es keinen anderen Weg geben, der zum einzig möglichen Erfolg subjektiver Gewissheit führt. Daraus ergibt sich Baumgartens Zusammenfassung einer in epistemischer Hinsicht gelungenen physischen Zurechnung: „Eine zweifelhafte oder unwahrscheinliche Zurechnung der Tat oder des Gesetzes, § 125, ist niemals eine richtige, §§ 137, 143. Daher suche, wer richtig, auch eine Tat, zurechnen will, 10) wenigstens moralische Gewissheit, § 70, nicht mit welcher Wahrheitsähnlichkeit auch immer zufrieden, die auch die des Zweifelhaften oder Unwahrscheinlichen sein, § 28, oder zu Mutmaßungen gehören kann, die einen unzulänglichen Grund der Zustimmung enthalten, M. § 901. Zureichend zu einer, wenigstens moralisch gewissen Zurechnung sind hierbei die vollständig gegebenen Momente an der Tat. Wenigere und geringere als diese sind unvollständig. Wer richtig zurechnen will, wird ausschließlich aus den vollständig gegebenen zurechnen, § 128. Der zureichend bestimmte Begriff einer moralischen Bestimmung wird genannt, der eben diese ihre Merkmale darstellt, aus welchen du, wenigstens moralisch, gewiss gemacht werden kannst, ob sie eine gute oder böse ist; einer, der solche Merkmale nicht darstellt, ist ein noch nicht zureichend bestimmter. Wer eine Tat zurechnet, damit er zur Zurechnung des Gesetzes fortschreiten kann, hält ersteren Akt nicht zu Recht für vollständig in sich abgeschlossen, wenn nicht der singuläre Begriff der Tat (idea facti) zureichend bestimmt worden ist, §§ 125, 139.“ (§ 144)

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Neben diesen Anforderungen an die Sache der physischen Zurechnung selbst bestehen noch solche an die zurechnende Instanz, insbesondere den Richter. Es sind die folgenden: „Einer, der richtig zurechnen will, 11) soll unparteiisch sein, § 144, M. 917. Und weil zu dem, was wir bisher gesehen haben, dass es von einem, der zurechnen will, erfordert wird, nicht nur Vernunft, sondern auch viel Gebrauch der Vernunft sehr nützlich ist, M. §§ 640, 646, mag es der, der glücklich zurechnen will, 12) durch die Vernunft und ihren Gebrauch bewirken. Nun aber pflegen Leidenschaften den freien Gebrauch der Vernunft heftig zu behindern, M. §§ 678, 693. Daher nützt dem, der richtiger zurechnen will, viel 13) Herrschaft über sich selbst, um die moralische Knechtschaft zu fliehen, M. § 730, und sich von allem fernzuhalten, das einer richtigen Zurechnung entgegengesetzte Leidenschaften erregen wird.“ (§ 145)

All diese Forderungen beziehen sich auf die Person des Zurechnenden, und zwar genauer: auf den mentalen Zustand, in dem er sich bei der Untersuchung und der Entscheidung physischer Zurechenbarkeit befinden soll. Dieser Zustand soll bei diesem Geschäft nicht nur kontingenterweise auftreten, sondern muss habitualisiert sein. Zu ihm gehören Unparteilichkeit, Vernunftgebrauch und Selbstbeherrschung. „Unparteilichkeit ist die Abneigung, aus erscheinenden sinnlichen Triebfedern heraus zu entscheiden“.38 Eine Zurechnungsentscheidung soll also, kurz gesagt, nicht deswegen getroffen werden, weil sich die zurechnende Person damit eine Freude machen oder Unlust vermeiden will, indem sie etwa die sympathischere, hübschere oder gesellschaftlich bedeutendere Partei bevorzugt, sich von ihrer Entscheidung besondere persönliche Vorteile verspricht, persönliche Nachteile, unliebsame Mehrarbeit oder öffentliche Kritik vermeiden will usw. Da die physische Zurechnung eine komplizierte Angelegenheit ist und erhebliche Kenntnisse erfordert, reicht die einfache, natürliche Vernunft zu ihrer Bewältigung nicht aus. Um zu ihrem adäquaten Gebrauch zu kommen, muss sie deswegen „bearbeitet“ bzw. kultiviert und geübt werden.39 Dabei ist es entscheidend zu sehen, dass Baumgarten hier alle epistemichen Vermögen des Gemüts anspricht, d. h. sowohl die logischen der ratio als auch die ästhetischen des analogon rationis.40 Schließlich hat man es bei der physischen Zurechnung mit einzelnen Ereignissen bzw. Taten zu tun, die nicht ohne die Beteiligung der unteren, sinnlichen Erkenntnisvermögen erfasst, sondern allein von ihnen im Verein mit den oberen, vernünftigen Erkenntnivermögen überhaupt erst auf einen Begriff gebracht und in Form ästhetikologischer Erkenntnis ausgesagt werden können. Die Erfahrung, die zu einem treffenden Zurechnungsurteil nötig ist, muss also methodisch kontrolliert erworben, analytisch durchdrungen und in ihrer epistemischen Qualität bewusst sein. Diese Fähigkeiten vermittelt die Philosophie.41 Ein schlichtes Vertrauen auf   Baumgarten, Metaphysica (Fn. 11), § 917.   Ebd., § 646. 40  Vgl. ebd.. § 640. 41  Vgl. ebd., § 917. 38 39

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eine gleichsam naturhaft anwachsende Autorität der Urteilskraft besonders trefflicher Verstandesbesitzer oder Fachleute, die sich ihre Kompetenz strengstensfalls wechselseitig selbst zuschreiben müssen, ist mit diesem Modell kaum vereinbar. Der Vernunftgebrauch muss zudem frei sein,42 d. h. er darf nicht unter der Herrschaft von aus der Sinnlichkeit fließenden „Gemütsbewegungen“ (affectus) stehen,43 die den Zurechnenden zu einer bestimmten Entscheidung zwingen. Seine diesbezüglichen Willensakte müssen vielmehr rational und auf der Basis seiner Erkenntnislage erfolgen. Zu diesem Grad an innerer Freiheit bedarf es ausgeprägter Reflektiertheit und der damit einhergehenden Selbstkenntnis. Ist eine Person nicht willens oder imstande, diese zu erwerben oder auszubilden, wird sie keine kontrollierten Zurechnungsurteile fällen können und jeder Erfolg dabei auf schierem Zufall beruhen. 3. Moralische Zurechnung Die moralische Zurechnung besteht anders als ihre physische Vorstufe nicht in einer Untersuchung der Welt zur Gewinnung einer spezifischen Erkenntnis über ein bestimmtes Ereignis, sondern in einer logischen Operation. Daher bietet sie hauptsächlich Gelegenheit zu logischen Fehlern. Deren Möglichkeiten sind zwar zahlreich, aber ebenso leicht wie knapp abzuhandeln, da es hierbei stets um formale Fehler und nicht um komplexe epistemische Qualitäten gehen muss. Auch die inhaltlichen und personenbezogenen Fehlerquellen bei der moralischen Zurechnung sind deshalb überschaubar. Baumgarten beginnt mit der inhaltlichen Seite und geht noch im selben Paragraphen zur formalen über: „Damit die Zurechnung des Gesetzes wahr, nicht irrig sei, § 172, möge 1) nicht falschen Gesetzen, 2) keinen solchen, bei welchen ein wesentlicher Rechtsirrtum, § 171, begangen wird, 3) keine falsche Tat, 4), keine solche, bei der ein wesentlicher Irrtum der Tat begangen wird, subsumiert werden, und 5) möge kein Formfehler begangen werden. Und weil aus (gleichsam) wahren Prämissen fehlerhaft Falsches geschlossen werden kann, 6) möge nicht von der Wahrheit des Gesetzes und der Tat ohne jede Untersuchung der Folge auf eine wahre Zurechnung des Gesetzes geschlossen werden. Nachdem ferner aus Falschem gerechtfertigterweise Wahres folgen kann, 7) möge nicht von der Wahrheit der Konklusion im zurechnenden Syllogismus allein auf die Wahrheit der Zurechnung des Gesetzes sicher geschlossen werden, § 172. Denn die Konklusion kann dem Fall nach wahr sein, so wie die eines falschen Syllogismus (der entweder in der Materie oder in der Form oder in beidem sündigt) wahr genannt wird.“ (§ 173)

Inhaltlich beschränken sich die Anforderungen, die an einen gültigen und wahren Zurechnungsschluss gestellt werden müssen, naturgemäß auf die Wahrheit von Ober- und Untersatz, d. h. von Gesetz und Tatbestimmung. 42 43

  Vgl. ebd., § 730.   Vgl. ebd., §§ 678 u. 693.

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Da Gesetze Sollenssätze bilden, die eine moralische Verpflichtung aussagen (§ 60), kann es strenggenommen keine wahren oder falschen Gesetze geben, sondern nur begründete und unbegründete, mithin wahrhaft verpflichtende oder unsinnige bzw. überflüssige. Wenn Baumgarten hier also davon spricht, dass im Obersatz des Zurechnungsschlusses kein falsches Gesetz stehen darf, heißt das nur, dass dort bei einer gelungenen Zurechnung genau das Gesetz stehen muss, dem der Untersatz wahrhaft zu subsumieren ist. Dementsprechend muss das anzuwendende Gesetz auch alle wesentlichen Momente an der Tat erfassen, ohne auch nur einen auszulassen oder ihr rechtlich irrelevante, außerwesentliche Momente beizufügen. Beides würde einen wesentlichen Rechtsirrtum bedeuten, der auf der Basis der korrekt beantworteten quaestio facti bei der Beantwortung der quaestio juris fehlt (§ 171). Gleiches gilt für den Untersatz, der in der Tat wahr oder falsch sein muss: Hier darf keine Bestimmung einer Tat auftauchen, die gar nicht stattgefunden hat oder deren Momente nicht vollständig identifiziert worden sind. Die Reihe der Formfehler, die bei der moralischen Zurechnung begangen werden können, beginnt Baumgarten mit der logischen Qualität der Konklusion. Sie hängt von der Korrektheit der Folge (consequentia), d. h. der logischen Verknüpfung von Ober- und Untersatz, ab. Deswegen kann es passieren, dass aus zwei wahren Prämissen ein falscher Schluss oder aus falschen Prämissen ein wahrer Schluss gezogen wird. In beiden Fällen ist die Zurechnung ungültig. Auch hier, im zweiten Fall, rechtfertigt der Zweck niemals die Beliebigkeit der Mittel. Im nächsten Schritt konzentriert sich Baumgarten auf die einzelnen Teile des Schlusses, d. h. die in ihm auftretenden Terme und der logischen Quantität und Qualität der jeweils verknüpften Sätze: „Damit bei der Zurechnung des Gesetzes kein Formfehler begangen wird, § 173, 8) seien in zurechnenden Syllogismen vier fehlerhafte Terme zu verhüten, daher 9) sei jedes einzelne im Subjektterm des Gesetzes bestimmte, aufgrund des Gesetzes notwendige Moment auch an der Tat und nicht mehr, §§ 139, 128; 10) jedes einzelne im Prädikat des Gesetzes bestimmte sei auch in der Konklusion des zurechnenden Syllogismus und nicht mehr; 11) seien die im Gesetz bestimmten Grade dieselben in der Tat und in der Konklusion, § 129; 12) sei die Tat, worüber der Untersatz und worüber die Konklusion spricht, eine und dieselbe; 13) schließe die Zurechnung des Gesetzes nicht vorschnell aus bloßen Partikulären, z. B. einem partikulären Gesetz; 14) nicht übereilt aus bloß Verneinenden, z. B. indem sie den Taten ein Prädikat zuspricht, welches das Gesetz von diesen verneint hat, welche von der Tat, über die verhandelt wird, verneint werden können; 15) folge die Konklusion dem schwächeren Teil.“ (§ 174)

Zwar können die im Zurechnungsurteil auftretenden Terme äußerst komplex sein. Es sind aber nicht mehr als genau vier, nämlich der Subjektterm des Gesetzes, der eine Tat anhand ihrer Momente bestimmt; der Prädikatterm des Gesetzes, der Belohnung oder Strafe festlegt, die beide, insbesondere bei positiven Gesetzen, als Bewegungs- bzw. Verpflichtungsgrund fungieren können; die im Gesetz vorgesehene Graduierung der Tat gemäß ihrer intensiven Größe bzw. Schwere; und die Bestimmung der Tat im Untersatz. All diese Terme müsen in identischer Form ent-

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weder in Ober- und Untersatz – im Falle von gesetzlicher Bestimmung der Tat und ihrer Bestimmung durch die physische Zurechnung – oder in der Konklusion – im Falle von Tatbestimmung und Rechtsfolge samt Graduierung – auftreten. Kommt es hier zu irgendwelchen Modifikation ist die Zurechnung ungültig. Die Quantität des Obersatzes nun muss dem Feld bzw. der Extension des Gesetzes (campus legis, § 72) entsprechen. Sie kann zwischen der Universalität der natürlichen Verpflichtung und verschiedenen Graden der Partikularität schwanken, aber nie zu Singularität reduziert werden. Ein Gesetz, das nur genau und nur eine einzige Person verpflichten könnte, ist unmöglich. Vielmehr kann es nur Gesetze geben, die entweder alle oder eine größere oder kleinere Gruppe von Personen verpflichten. Dabei definiert die Rechtsquelle, die Rechtsart oder das Gesetz selbst den Adressatenkreis. Folglich ist zunächst festzustellen, ob der Täter zu ebendiesem gehört, wenn ein entsprechendes partikuläres Gesetz angewendet werden soll. Ist dies nicht der Fall, kann keine moralische Zurechnung stattfinden. Dies ist jedoch sehr wohl möglich, wenn die gesetzliche Bestimmung einer Tat von dieser eine Eigenschaft verneint, die ihr die Zurechnung jedoch zuspricht, und zwar dann, wenn diese Eigenschaft auch von der gerade zuzurechnenden Tat verneint werden kann. Dies lässt sich offenkundig in zweierlei Weise verstehen: Zum einen kann das fragliche Prädikat in der gesetzlichen Definition der Tat ausdrücklich verneint werden. Es bildete gemäß dieser bestimmten Negation dann ein negatives Tatmoment. Hat sich in der physischen Zurechnung erwiesen, dass die Tat genau diese Eigenschaft aber enthält, kann keine moralische Zurechnung nach diesem Gesetz erfolgen. Zum anderen kann jenes Prädikat in der gesetzlichen Definition schlicht nicht enthalten sein. Dann gehört es gemäß dieser unbestimmten Negation zu den außerwesentlichen Bestimmungen der Tat, ist für die moralische, also ethische wie rechtliche – je nach Gesetzesart –, Bewertung also irrelevant und kann demnach ebenso verneint werden. Trotz oder besser: aufgrund der bloß unbestimmten Negation des Prädikats darf dann moralisch zugerechnet werden. Schließlich gilt auch bei der Zurechnung die allgemeine syllogistische Regel, dass in jedem Schluss die Konklusio in Qualität und Quantität stets den schwächsten Prämissen zu folgen hat. Ist also eine davon partikulär, muss auch eine partikuläre Konklusion folgen, und ist eine Prämisse verneint, muss auch eine negative Konklusion folgen. Die persönlichen Anforderungen an den Praktiker im logischen Teil der Zurechnung lassen sich mit zwei Worten zusammenfassen: Autopsie und Sorgfalt: „Um eine irrige Zurechnung des Gesetzes zu verhüten, § 173, hüte man sich 16), dass nicht bei zurechnenden Enthymemen die, vielleicht durch die Künste von Rechtsverdrehern, § 172, ausgelassene Prämisse ohne Prüfung übernommen werde, weil sie die hauptsächliche sein könnte; 17) dass man unvollständigen Induktionen nicht allzu sehr traue, z. B. wann man zur Beobachtung aufgefordert wird; 18) dass man bei hypothetischen Schlüssen nicht vorschnell von einem falschen Vordersatz auf einen wahren Hintersatz schließt und nicht 19) von einem wahren Konsequens auf einen wahren Antezedens; 20) dass bei disjunktiven Schlüssen nicht ein mögliches Glied der Disjunktion

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ausgelassen werde 21) und nicht mehrere zugleich gesetzt werden könnten, usw. Und weil ein zurechnender Schluss einen sehr zusammengesetzten Beweis haben kann, 22) ist dieselbe Sorgfalt durch alle Prosyllogismen hindurch fortzusetzen, wie es die Wahrheit des Episyllogismus erforderte, §§ 173, 174.“ (§ 175)

Die zurechnende Instanz muss bereit und deswegen auch fähig sein, jede vorgelegte logische Begründung bzw. jeden Schluss selbst zu überprüfen. Dies gilt insbesondere für irreguläre und komplexe oder solche, deren Form oder deren Wahrheitswert nicht nur genau auf einen festgelegt ist, sondern variieren kann. So ist das Enthymem ein beliebtes Mittel der Rhetorik, bei dem eine der beiden Prämissen eines klassischen Syllogismus weggelassen und deren stillschweigende Ergänzung den Zuhörern selbst überlassen wird.44 Dieses Verfahren lässt die tatsächliche Gestalt des fraglichen Syllogismus offen. Denn es ist ohne weiteres möglich, dass mehrere, ganz verschiedene Behauptungen an die Stelle der fehlenden Prämisse eingesetzt werden können, welche zu der gewünschten Konklusion führen. Der Vorteil für den Redner liegt auf der Hand: Auch wenn verschiedene Zuhörer verschiedene Prämissen wählen, um zum vorgegebenen Schluss zu kommen, werden sie doch alle in ihrer Meinung bestätigt, ohne dass der Redner sich auf genau eine Prämisse festlegen müsste und damit die einhellige Zustimmung zu seiner Konklusion gefährden könnte. Weil aber die unterschlagene Prämisse inhaltlich oder – im Falle der juridischen Zurechnung, die Baumgarten anspricht – rechtlich falsch bzw. zweifelhaft oder unwahrscheinlich und demzufolge die Zurechnung ungültig sein kann, hat die zurechnende Instanz zu ermitteln, welche Prämisse es ist, die hier weggelassen wurde. Ähnlich verhält es sich beim Verweis auf induktive Beweise von Aussagen. Da Induktionen im strengsten Sinne prinzipiell unvollständig bleiben müssen, besteht, so wenig wahrscheinlich dies sein mag, stets die Möglichkeit eines anderen Ausgangs des Versuchs bzw. eines anderen Resultats der Beobachtung. Deshalb ist auch beim Verweis auf die Beobachtbarkeit des behaupteten Ergebnisses stets zu beachten, dass es sich dabei womöglich nicht um eines handelt, dass nicht mit der strikten hypothetischen Notwendigkeit natürlicher Gesetze reproduziert und wiederholt werden kann, also in Wahrheit keine rein natürliche Ursache haben wird. Handelt es sich nämlich um ein völlig kontingentes Ereignis wie etwa eine freie Handlung, kann gar kein Induktionsbeweis geführt werden. Ebenso zu überprüfen ist ein scheinbar so wenig problematischer Schluss wie der hypothetische, d. h. eine materiale Implikation bzw. ein Konditional. Ein solcher Schluss ist zwar nur dann falsch, wenn der Antezedens wahr und der Konsequens falsch ist. Jedoch kommt es beim Zurechnungsschluss darauf an, dass beide Teile wahr sind. Es müssen daher die Wahrheitswerte sowohl von Antezendens als auch Konsequens für sich genommen festgestellt werden. Gleiches gilt bei disjunktiven Schlüssen. Denn hier kann die Wahrheit beider Teile entweder – im Falle der Kontravalenz – ausgeschlossen sein, so dass entwe  Vgl. die weiterführenden Hinweise in Aichele, Enthymematik (Fn. 21).

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der der eine oder der andere wahr sein muss, oder – im Falle der Adjunktion – nicht ausgeschlossen sein, so dass beide wahr sein können und mindestens einer von beiden wahr sein muss. Tritt daher eine Disjunktion in der moralischen Zurechnung auf, muss jedenfalls klargemacht werden, ob es sich um eine ausschließende oder nicht ausschließende handelt und sie dementsprechend formal korrekt behandelt worden ist. Schließlich wird eine moralische Zurechnung in der Regel ein komplexes logisches Gebilde darstellen, das über mehrere, der endgültigen Konklusion vorausgesetzen Schlüsse – in Baumgartens Terminologie, die „Syllogismus“ als Allgemeinbegriff für alle logischen Schlüsse gebraucht:45 „Prosyllogismen“ – zum letzten Schluss, dem „Episyllogismus“ fortschreitet. Es liegt auf der Hand, dass sowohl die Wahrheit aller einzelnen, verknüpften Sätze als auch die formale Korrektheit ihrer logischen Verknüpfung überprüft und bestätigt werden muss. IV. Im Zweifel keine Zurechnung Baumgartens Analyse des Zurechnungsurteils und seines Zustandekommens gibt der gern und häufig gedankenlos gebrauchten Anforderung, dass ein juridisches Urteil, insbesondere je mehr es in die Grundrechte von Personen eingreift, wie dies etwa ein Schuldspruch vor dem Strafgericht samt seiner Rechtsfolgen immer tut, ‚jenseits jeden vernünftigen Zweifels’ begründet und gefällt werden muss. Man möchte fast sagen, dass sie nichts anderes als eine Analyse ebendieses Prinzips bildet. Denn Baumgartens Theorie der Zurechnung macht vor allem klar, was es heißt, vernünftige Zweifel an einem moralischen Urteil zu haben, und ebenso, was es heißt, sie nicht zu haben, sondern sich seines Urteils subjektiv bzw. moralisch gewiss zu sein. Sieht man sich seine Zusammenfassung am Ende seines Durchgangs durch die möglichen Fehlerquellen bei der moralischen Zurechnung an, kann man durchaus – und wahrscheinlich zu Recht – auf den Gedanken kommen, dass zumindest eines der Hauptanliegen von Baumgartens Theorie die Vermeidung der Verurteilung Unschuldiger gewesen ist: Damit die Zurechnung des Gesetzes methodisch geordnet sei, §§ 137, 172, ist vor allem zu verhüten, dass die Fragen des Gesetzes und der Tat vermengt werden, § 171. Und weil zur aus den Prämissen zu erlangenden Gewissheit der Konklusion die Gewissheit sowohl aller Prämissen, hier der wesentlichen Fragen des Gesetzes und der Tat, §§ 128, 171, als auch der Form erfordert wird, müssen all dies und jedes einzelne dem, der ein Gesetz zu Recht zurechnen will, wenigstens moralisch gewiss sein, § 143. Durch eine einzige zweifelhafte oder unwahrscheinliche Prämisse oder Form wird eine Zurechnung des Gesetzes ausschließlich eine zweifelhafte oder unwahrscheinliche, daher nicht rechte, § 144, sein, weil auch in diesem Sinne die Konklusion dem schwächeren Teil folgt, § 174. Jedoch möge man nicht das Zweifelhafte und das irgendwie Ungewisse vermengen, § 28. (§ 176) 45

 Vgl. Baumgarten, Logica (Fn. 8), § 205.

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Summary Each system of practical philosophy needs a theory of application of those norms which it establishes in order to show that every person it addresses is able to comply with her duties. Due to the epistemic imperfection inherent to each human being, practical norms can never be applied with of complete certitude, only with probability. A. G. Baumgarten, in the section on imputation of his Initia Philosophiae Practicae Primae, has developed an elaborate theory of applying norms under this human condition of subjective certitude. Baumgarten’s theory virtually explains the juridical trope ‘beyond all reasonable doubt’ which indicates the requirements to be met if a juridical (or ethical) norm shall be applied. Analysis of that theory is the topic of the paper.

Über Versuch und Vorsatz und über Fahrlässigkeit – Eine kritische Analyse von Hruschkas „Strukturen der Zurechnung“ und der Konzeption der imputatio facti Stephan Ast imputatio facti

Hruschkas theoretisches Modell der „Strukturen der Zurechnung“ ist zugleich ein strafrechtsdogmatischer Systementwurf. Er beansprucht sowohl deskriptive Erklärungskraft als auch normative Richtigkeit. Wie es theoretische Annahmen mit normativen Ergebnissen verknüpft, wird anhand der Konzeptionen von Versuch und Vorsatz deutlich, die von der Auffassung der Rechtspraxis abweichen. Auch zur Fahrlässigkeit entwickelt Hruschka auf der Grundlage seines Zurechnungsmodells eine eigenständige Auffassung, die weniger in den praktischen Ergebnissen, als vielmehr in deren Begründung kontrovers ist. Das gibt Anlass, auch die Grundlagen des Modells zu analysieren, nämlich die Konzeptionen der Handlung und der imputatio facti. I. Die „Strukturen der Zurechnung“ und ihr Kontext Noch heute fasziniert Hruschkas kurze Monographie zu den „Strukturen der Zurechnung“ von 1976 aufgrund ihrer Originalität, gedanklichen Dichte sowie sprachlichen Genauigkeit und Eigenart. Nachhaltig wirkte sie dadurch, dass sie die Begriffe der älteren Zurechnungslehre und insbesondere die Unterscheidung von imputatio facti und juris wieder aufnahm. Der Begriff der Zurechnung war der Dogmatik seit seiner Etablierung durch Pufendorf zwar nicht abhandengekommen. Er wurde aber durch Pufendorf und später unter Hegels Einfluss auf das Urteil über die normative Zurechnung, also die Schuld bezogen. Schon das Tatbestandsurteil als eines über die Zurechnung aufzufassen, war demgegenüber bereits in Pufendorfs Begriff der imputativitas und dem wohl daraus entwickelten Begriff der imputatio facti angelegt, den auch Kant verwendet.1 Hieran schließt Hruschka an.2 Doch hatte bereits Honig auf der Grundlage der Hegelschen Tradition den Begriff der objektiven Zurechnung auf 1  Vgl. zum Begriff der imputativitas Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 22 f., 86 f. Zur weiteren Entwicklung Hruschka, Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf, ZStW 96 (1984) S. 661, 672 ff. 2  Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 2 f.

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Tatbestandsebene eingeführt.3 Honig und, wenn auch nicht so deutlich, Roxin haben diese Kategorie wie Hruschka mit der Frage der Konstitution der tatbestand­ lichen Handlung verknüpft.4 Im Vergleich mit Roxins schnell herrschend gewordener Lehre hatte Hruschkas Konzeption aber einen viel geringeren Einfluss. Dafür gibt es zwei inhaltliche Gründe: Zum einen geht es bei Hruschka nicht um die Zurechnung des Erfolgs, weil er den Erfolg von der Handlung trennt.5 Sein Zurechnungskonzept ist daher weder für die Kausalität noch die Erfolgszurechnung relevant und somit ausgerechnet für die ausgehend von Puppe und Roxin am meisten diskutierten Fragen der Tatbestands- bzw. Zurechnungslehre.6 Zum anderen wird die Zurechnung bei Hruschka subjektiv begründet. Eine objektiv begründete Zurechnung wird als außerordentliche und somit als Ausnahme konzipiert. Hierin stimmt er mit der finalen Lehre überein, die, so kann man vermuten, ebenfalls in einer Rezeption der Pufendorfschen Lehre ihren Ausgang nahm.7 Noch gewichtiger für die relative Außenseiterrolle, die Hruschkas Position innerhalb der zeitgenössischen Diskussion hatte, sind aber unterschiedliche Auffassungen zur Aufgabe der Strafrechtswissenschaft. In Gegenbewegung zur finalen Handlungslehre, die strukturtheoretisch bei Handlung und Norm ansetzt, waren zu jener Zeit die teleologisch begründeten Systementwürfe innovativ, deren Ausgangspunkt die Zwecke der Strafe und der Verhaltensnormen sind. Hruschka bestreitet zwar nicht die Möglichkeit, betont aber die Schwierigkeit derartiger Ableitungen.8 Er selbst hält demgegenüber daran fest, die dem positiven Recht vorausliegenden Strukturen zu untersuchen. Gegenüber der finalen Lehre nimmt er dabei eine sprachanalytischer Wendung und will die Beziehungen der voneinander abhängigen Grundbegriffe „Zurechnung, Handlung, Freiheit und Schuld“ analysieren.9 Dieser Anspruch ist angesichts der Definierbarkeit dieser fachsprachlichen Begriffe begründungsbedürftig. So kann man den bisherigen strafrechtsdogmatischen Systementwürfen, die jene Begriffe explizit oder implizit verwenden, kaum begriffliche Inkonsistenz vorwerfen. Hruschka analysiert aber auch nicht die Alltagssprache oder die gegebene Zurechnungspraxis, die jene Begriffe tatsächlich verwendet. Vielmehr betont er den   Honig, Kausalität und objektive Zurechnung, FG Frank, 1930, S. 174, 184 ff.   Honig, a.a.O., S. 195 ff.; Roxin, AT I, 4. Auflage 2006, § 11, Rn. 46. 5  Vgl. die kurze Bemerkung zur objektiven Zurechnung, Hruschka, Strukturen, 1976, S. 2, Fn. 3. Hierzu näher unter (2.) 6  Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 402 ff. spricht insoweit nicht von Zurechnung. Sachlich lehnt er sich aber an Honigs Kriterium der objektiven Zweckhaftigkeit an („objektiver Finalzusammenhang“). 7  Der Einfluss Pufendorfs auf die Herausbildung der finalen Handlungslehre wird im zweiten und sechsten Kapiteln von Welzels Dissertation greifbar (eingereicht 1928), Welzel, Naturrechtslehre, 1958, S. 19 ff., 84 ff. 8  Hruschka, Strafrecht, 2. Auflage 1988, S. 398 f. 9  Hruschka, Strukturen, S. 1. 3 4

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abgeleiteten Charakter der aktuell verwendeten Kategorien. Die Überzeitlichkeit der von ihm ausgemachten Strukturen findet er demgegenüber im Rückgriff auf die alten Autoren und die Logik. Als Gesetz der Logik kann indessen in diesem Zusammenhang nur als ausgemacht gelten, dass jedes Urteil über die normative Zurechnung als Urteil über einen Normverstoß zweistufig aufgebaut ist. Zuerst muss festgestellt werden, dass die Voraussetzungen dieses Urteils vorliegen, und dann muss dieses Urteil selbst gefällt werden. Detailfragen nach der Konstruktion der Norm, die dem Zurechnungsurteil zugrunde liegt, sind demgegenüber auf verschiedene Weise lösbar. Deshalb haben die diesbezüglichen Annahmen eher modellhaften Charakter.10 Modelle müssen sich freilich auf eine gegebene Praxis oder den Entwurf einer Alternative hierzu beziehen und sind deshalb synthetischen und nicht nur logisch-analytischen Charakters. So reflektieren sie auch die auf Zwecke bezogenen Rationalitäts- und Legitimationsstandards einer normativen Praxis, wie zum Beispiel die Voraussetzung der Freiheit im Sinne der Schuld. Andererseits enthalten Modelle mehr oder weniger elaborierte Annahmen über die soziale Realität – wie diejenige, dass jede Handlung eine Körperbewegung ist oder aber durch einen Akt der Zurechnung zustande kommt. Die analytische Methode kann angesichts dessen dabei helfen, Grundlagen und Konsequenzen einer strafrechtswissenschaftlichen Theorie und eines dogmatischen Systems zu explizieren. Dabei sind wir heute in einer Situation, die es ermöglicht, im Vergleich der Systementwürfe deren jeweilige Charakteristika besser zu verstehen und somit zu verstehen, worauf man sich einlässt, wenn man bestimmte Prämissen setzt oder Begriffe und Argumente verwendet. Wenn man wie Hruschka ein neues System entwirft, steht dieser Vergleich freilich nicht im Vordergrund. Daher besteht etwa seine Auseinandersetzung mit der finalen Lehre einfach darin, dass er die Abweichung von der eigenen Auffassung aufzeigt und das als Argument gegen jene Lehre genügen lässt.11 Hruschka erklärt dabei mitunter eine hundertjährige Diskussion mit apodiktischer Sicherheit für irrelevant.12 Seine Urteile ähneln dann denen eines Propheten, der eine alte Wahrheit verkündet und nicht gehört wird. Gerade an Hruschkas normativen Schlussfolgerungen zeigt sich aber, dass auch die von ihm zugrunde gelegten Theorieannahmen nicht unangreifbar sind und dass 10 Hierzu Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006, S. 192 mit dem Versuch, Kriterien für die Qualität von Modellen herauszuarbeiten sowie der Behandlung des Modells der Zurechnung erster Stufe auf S. 206 ff. 11  Siehe unten (IV.1. und 2.). 12 Zum Beispiel Hruschka, Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln, Rechtstheorie 22 (1991) S. 449, 460: „Das nachklassische Schema von Tatbestandsmäßigkeit / Rechtswidrigkeit / Schuld … beruht auf einer Verkennung der ihm zugrunde liegenden Strukturen.“ Beling ist ihm dabei keine weitere Auseinandersetzung wert. Siehe zur Frage des Deliktsaufbaus unter (X.). Vgl. aber auch, die eigene Position relativierend, Hruschka, Strafrecht, 2. Auflage 1988, S. XXIII.

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mancher Meinungsstreit, den er „verabschiedet“ hat, weil er ihn unter den eigenen Prämissen gelöst hat, mit guten Gründen fortbestehen wird.13 Zweifellos gehört aber Hruschkas Modell zu den innovativen und lehrreichen Theorieentwürfen, mit denen es sich lohnt auseinanderzusetzen. Daher werden im Folgenden diejenigen Aspekte der „Strukturen der Zurechnung“ näher untersucht, die mit dem Konzept der imputatio facti zusammenhängen. II. Beobachtungsabhängigkeit und gegenständliche Referenz der Handlung Die imputatio facti ist die Annahme einer Handlung. Hruschka definiert den Begriff der Handlung somit durch die Zurechnung. Mit dem Zurechnenden wird der Beobachter in den Handlungsbegriff einbezogen. Ohne diesen und dessen Urteil über die Zurechnung gibt es keine Handlung; sie ist keine Tatsache, die von der Beobachtung unabhängig denkbar ist. Hruschka spricht davon, dass ein Vorgang als Handlung gedeutet wird und dass man dabei eine im weiten Sinn moralische im Gegensatz zu einer naturalistischen Perspektive einnimmt.14 Das Attribut „moralisch“ meint dabei nicht notwendig, dass die Zurechnung als Handlung mit einer Bewertung verbunden ist. Die Zurechnung zielt vielmehr auf eine Beschreibung, sofern die Zurechnungskriterien allein auf Tatsachen referieren. Mit dieser quasi konstruktivistischen Konzeption der Handlung unverträglich ist die These der finalen Handlungslehre, dass eine Handlung der Bobachtung seinsmäßig (ontologisch) vorgegeben sei.15 Die finale Lehre fasst die Handlung als Kausalvorgang auf, dessen Grenzen durch die Zwecksetzung des handelnden Subjekts bestimmt und von einem Beobachter letztlich nur nachgezeichnet werden – wobei die Zwecksetzung und Selbstzurechnung der Handlung in konstruktivistischer Perspektive auch nur eine Art der Beobachtung ist. Demgegenüber hat die kausale, oder besser gesagt objektive Lehre den Begriff der Handlung nach strafrechtsdogmatischen Bedürfnissen konstruiert.16 Das setzt voraus, dass man die Handlung als beobachtungsabhängig auffasst. In der Tradition dieser Auffassung stehen Autoren wie Eberhard Schmidt, Engisch, Roxin und Jakobs, die teils auch explizit auf den Begriff der Zurechnung zurückgreifen. Fast jeder Begriff einer Handlungsart bezeichnet nun eine Veränderung oder das Ausbleiben einer Veränderung – sei es eine Körperbewegung oder eine davon isolierbare Veränderung (z. B.: „den Arm heben“ – „jemanden töten“ – „den Tod 13  Hruschka, Wieso ist eigentlich die „eingeschränkte Schuldtheorie“ eingeschränkt? – Abschied von einem Meinungsstreit, FS Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 441. Hierzu unter (X.). 14  Hruschka, Strukturen, S. 8 f., 14 ff. 15  Vgl. dagegen Hruschka, Strukturen, S. 3 f., 13. 16  Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904, S. 71 ff.

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eines anderen verhindern“). Das ist die einzig notwendige, weil begrifflich vorausgesetzte gegenständliche Referenz eines Handlungsbegriffs. Eine Handlungskonzeption muss die Frage beantworten, wie diese Referenz zu verstehen ist und ob und in welcher Weise primär oder daneben ein Körperverhalten Bezugsobjekt des Begriffs einer beliebigen Handlungsart ist. 1. Körperverhalten und Handlungsergebnis Der kausalen und finalen Lehre zufolge bedeutet jene Referenz, dass jene Veränderung oder deren Ausbleiben gleichsam zur Handlung gehört. Um eine vollendete Handlung zu verwirklichen, muss die fragliche Veränderung eintreten bzw. ausbleiben.17 Darüber hinaus gehört nach jenen Lehren das Körperverhalten mit zur Handlung, auch wenn der Begriff einer Handlungsart nicht auf dieses, sondern einen anderen Erfolg verweist. Die Handlung wird demnach entweder direkt mit dem Körperverhalten oder gegebenenfalls mit einer durch Kausalität begründeten Abfolge von Körperverhalten und Erfolg identifiziert. Die Identifikation der Handlung mit dem Körperverhalten ist naturalistisch, insofern als die Handlung wie ein Ereignis in der natürlichen Welt aufgefasst wird – wobei jene Lehren die Handlung selbstverständlich nicht als Naturvorgang aufgefasst haben. Vielmehr setzt die kausale Lehre voraus, dass das Körperverhalten durch einen Willkürakt bedingt ist,18 der nach der finalen Lehre auch in seiner inhaltlichen Bestimmung berücksichtigt wird. 2. Nur das Körperverhalten Hruschkas Handlungskonzept bleibt durchaus in diesem Rahmen. Im Unterschied zur kausalen und finalen Lehre geht Hruschka aber davon aus, dass der Begriff einer Handlungsart immer nur auf ein Körperverhalten des Zurechnungssubjekts, also eine Bewegung oder Lautäußerung referiert. Demnach ist ein vom Körperverhalten abgelöster Erfolg nicht Teil des Referenzgegenstands, sondern wird in noch zu erläuternder Weise nur als Sinnbezug erfasst. Der Akt der Zurechnung besteht für Hruschka darin, dass ein Körperverhalten als Handlung einer bestimmten Art angesehen, aufgefasst, gedeutet, beschrieben wird,19 auch wenn der Begriff einer Handlungsart dieses Körperverhalten gegebenenfalls gar nicht beschreibt.

17  Radbruch, a. a. O., S. 75 f.; Welzel, Kausalität und Handlung, ZStW 51 (1931) S. 703, 718. 18  Hierauf weist auch Hruschka, Strukturen, S. 10 hin. 19  Hruschka, Strukturen, S. 4, 5, 6, 8.

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Diese Auffassung der Handlung wirkt sich auf die Konzeptionen zum einen des Versuchs, zum anderen der Unterlassung aus. Bei der Unterlassung fehlt ein Körperverhalten als Bezugsgegenstand, weshalb sie nicht als Handlung angesehen werden kann. Hruschka geht aber davon aus, dass die Zurechnungsstrukturen bei Handlung und Unterlassung gleich sind.20 3. Nur das Handlungsergebnis Gerade ein Zurechnungskonzept der Handlung ermöglicht es indessen, die Unterlassung nicht nur als strukturgleich sondern gerade deswegen auch selbst als Handlung aufzufassen. Das setzt aber voraus, dass die Handlung gegenständlich allein auf diejenige Veränderung bezogen wird, deren Eintritt oder Ausbleiben im Begriff einer Handlungsart in Bezug genommen wird. Lediglich wenn der Begriff einer Handlungsart direkt auf ein Körperverhalten des Handelnden referiert („den Arm heben“), kann eine entsprechende Handlung nur durch dieses verwirklicht werden. Falls der Begriff einer Handlungsart aber eine sonstige Veränderung oder deren Ausbleiben bezeichnet, kann eine Handlung prinzipiell auch durch ein Unterlassen verwirklicht werden. Fraglich ist dann nur, unter welchen weiteren Voraussetzungen durch ein Unterlassen eine Handlung verwirklicht wird.21 Somit stellen sich mit Blick auf eine Handlungsart, die ein anderes Ergebnis als eine Körperbewegung bezeichnet, drei Konstruktionsmöglichkeiten: Nach Hruschka liegt die gegenständliche Referenz nur im Körperverhalten. Nach der kausalen und finalen Lehre liegt sie im Körperverhalten in kausaler Verbindung mit dem Ergebnis;22 und schließlich kann man sie allein in jenem Ergebnis sehen. Im letzteren Sinn ist aus der älteren Zurechnungslehre insbesondere Hegel zu verstehen.23 Das Handlungsergebnis ist zwar nicht die Handlung selbst. Es ist aber der Zurechnungsgegenstand im Rahmen einer Handlung. Daher hat diejenige Rezeptionslinie des Zurechnungsbegriffs, die an Hegel anschließt, allein den Erfolg

  Hruschka, Strukturen, S. 60 ff.   Siehe hierzu unter (X.). 22  Welzel kann sich in dieser Deutung der Handlung auf Pufendorf berufen, vgl. Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958 (zuerst als Dissertation 1928) S. 22 f., 85 f. 23  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 115: „Jedes einzelne Moment, das sich als Bedingung, Grund, Ursache eines solchen Umstandes zeigt und somit das Seinige beigetragen hat, kann angesehen werden, dass es Schuld daran sei … Aber in der Schuld liegt nur noch die ganz äußerliche Beurteilung, ob ich etwas getan habe, oder nicht, und dass ich schuld an etwas bin, macht noch nicht, dass mir die Sache imputiert werden könne.“ Unter jene Bedingungen zählt sicherlich auch, etwas nicht getan zu haben, also eine Unterlassung. Dass somit nicht ein Körperverhalten, wohl aber die genannten Folgen wesentlicher Teil der Handlung sind, wird in § 118 ausgeführt: „Die Folgen, die die Gestalt, die den Zweck der Handlung zur Seele hat, sind das Ihrige (das der Handlung Angehörige).“ 20 21

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als Zurechnungsgegenstand aufgefasst. Sie hat die Zweiteilung der Straftatlehre in Handlung und Unterlassung überwunden.24 Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass Hruschka in seinem Rückgriff auf die ältere Tradition den Erfolg nicht als Zurechnungsgegenstand auffasst. Eine Differenz zwischen Kant und Hegel dürfte insoweit nur der Terminologie, nicht der Sache nach bestehen. Kant nennt den Ausgangspunkt der normativen Zurechnung (imputatio juris) Handlung; Hegel hingegen „Tat“. Das Ergebnis der normativen Zurechnung war für Hegel die Handlung, für Kant die Tat.25 III. Begriffsklärung: Straftat, Tat, Tathandlung und Ausführungshandlung Dies gibt Anlass zu einer terminologischen Klärung. Jene Differenzierungen lassen sich in die Sprache des heutigen Strafrechts übersetzen: Die Begriffe „Tat“ bei Kant und „Handlung“ bei Hegel, die jeweils das Ergebnis der normativen Zurechnung bezeichnen, entsprechen dem heutigen Begriff der Straftat. Diese ist als solche eine besondere Handlungsart, z. B. ein „Mord“. Die Straftat wiederum ist übereinstimmend mit dem Gesetz und in der Folge von Beling und Radbruch als rechtswidrige-schuldhafte Tat definierbar.26 Tat ist die Tatbestandsverwirklichung (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5, § 32 Abs. 1, § 34 StGB). Wenn das Gesetz in § 8 S. 1 und § 9 Abs. 1 StGB den Begriff Handlung verwendet, meint es die Ausführungshandlung der Tat, zum Beispiel das Schießen, nicht die Tathandlung, z. B. das Töten. Diese meint es aber in § 11 Abs. 2 StGB. Terminologisch liegt dem Gesetz gewissermaßen eine Synthese zwischen Kant und Hegel zugrunde. Das, was Kant Handlung nannte, heißt übereinstimmend mit Hegel Tat. Der Begriff der Handlung wird ausdifferenziert in die Unterscheidung von Ausführungs- und Tathandlung. An die Kantische Terminologie schließt die wissenschaftliche Diskussion des Begriffs der „Handlung“ an; denn hier ging es vor allem um die allgemeinen Merkmale der Tathandlung, also in der Gesetzesterminologie um den Begriff der „Tat“, sofern diese eine Handlung oder eine Kombination von Handlungen ist.27

24  Jakobs AT, 2. Auflage 1991, 6/24 ff.; Roxin, AT I, 4. Auflage 2006, § 8, Rn. 44 ff; AT II, 2003, § 31 Rn. 5. Zur Deutung von Jakobs’ Konzeption Ast, Konvergenzen, Divergenzen und Diskussionen zwischen Günther Jakobs und Armin Kaufmann, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.): Strafrecht und Gesellschaft. Ein kooperativer Kommentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 195, 197 f. 25  Kant, Metaphysik der Sitten, 1907, S. 227; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 118. Davon, dass der Zurechnungsbegriff auch bei Kant sich auf den Erfolg bezieht, geht Joerden aus, Logik im Recht, 2. Auflage 2009, 5.B.I.2., S. 261 ff. 26 Vgl. hierzu Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, Frank-FG I, 1930, 158, 162 f.

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IV. Hruschkas Handlungsdefinition 1. Die Handlung als Regelanwendung Hruschka bewegt sich mit der Auffassung der Handlung als Körperbewegung oder Lautäußerung jedenfalls durchaus in der Tradition der kausalen und finalen Handlungslehre. In Auseinandersetzung mit diesen Lehren entwickelt er ein Kriterium, das die Zurechenbarkeit eines Vorgangs als Handlung einer besonderen Art bestimmen soll. Zum einen sei im Gegensatz zur kausalen Lehre der Inhalt des Willens zu berücksichtigen, wenn man eine Handlung bestimmter Art zurechnet.28 Die finale Lehre, welche die Zwecksetzung des Handelnden und somit den Willensinhalt für maßgeblich erachtet, kritisiert er indessen mit folgendem Argument: „Gewiss will der Wille stets etwas, aber dieses Etwas, das er immer will, ist die so und so strukturierte Handlung, in der er sich äußert, nicht aber etwa das Ziel der Handlung.“29 Sofern der Wille auf etwas anderes als die Handlung selbst gerichtet ist, sei die Handlung aber immer das Mittel zur Erreichung jenes Ziels. Mittel könne sie nur sein, wenn eine entsprechende Erfahrungsregel angewendet werde. Erst hierin liege das verallgemeinerbare Charakteristikum aller Handlungen: Diese seien Regelanwendungen, so Hruschka: „Wir begreifen einen Vorgang – eine Körperbewegung, einen Laut – als Handlung, wenn und weil wir annehmen, dass ein Subjekt in diesem Vorgang eine Regel anwendet.“30 Neben Erfahrungsregeln kommen dabei auch die Regeln der Sprache, der Musik oder Spielregeln in Betracht.31 Für die Frage, ob eine Handlung bestimmter Art vorliegt, ist demnach entscheidend, welche Regel der Handelnde anwendet. Wenn er jemandem Gift gibt, legt er die Erfahrungsregel zugrunde, der zufolge eine derartige Giftgabe generell den Tod eines Menschen verursacht. Er verwirklicht deshalb eine Tötungshandlung. Hruschka setzt den Fokus nicht wie die finale Lehre auf die Zwecksetzung, sondern die Mittelanwendung und nur über diese vermittelt auf die Zwecksetzung. Das erklärt sich aus dem oben aufgezeigten Modell der Handlung als Körperbewegung. Der außerhalb der Körperbewegung liegende bezweckte Erfolg ist bei Hruschka nicht Teil der Handlung, sondern liegt außerhalb dieser. Die Handlung selbst kommt deshalb immer nur als das Mittel in Betracht, diesen Erfolg zu errei-

27  Zur Analyse eines Tatbestands mit mehreren Tathandlungen Ast, Die normentheoretische Analyse des Betrugs, in: Schneider, Wagner (Hrsg.): Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 201. 28  Hruschka, Strukturen, S. 9 f. 29  Hruschka, Strukturen, S. 10. 30  Hruschka, Strukturen, S. 12 f. 31  Hruschka, Strukturen, S. 12.

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chen; und die Körperbewegung selbst wird nicht eigentlich bezweckt, sondern nur „gewollt“. 2. Mittel statt Zweck Hruschka kritisiert die finale Lehre auf der Grundlage dieses Modells, ohne offen zu legen, dass jene Lehre die Handlung anders konzipiert. Sein Argument beruht auf einer petitio principii, zumal er sein alternatives Handlungsmodell nicht weiter begründet. Auf der Grundlage des finalen Handlungsverständnisses, nach welchem auch der Erfolg Teil der Handlung ist, kann man zwischen einem handlungsinternen und  -externen Zweck unterschieden.32 Wenn im oben genannten Beispiel der Tod des Vergifteten die Tötungshandlung konstituiert, ist die darauf gerichtete Zwecksetzung handlungsimmanent. Mit einer Tötungshandlung wird der Zweck, jemanden zu töten, nicht verfolgt, sondern verwirklicht. Für die von der Tötungshandlung zu unterscheidende Handlung des Vergiftens ist der Zweck zu töten hingegen handlungsextern. Nun mag man gegen die finale Lehre einwenden, dass nicht jede Handlung eine immanente Zwecksetzung aufweist. So kann der Handelnde einen handlungskonstituierenden Erfolg bloß in Kauf nehmen; und bei einer Körperbewegungshandlung (z. B. „den Arm heben“) ist die Rede von einem handlungsinternen Zweck befremdlich. Indes stellt diese Lehre das Moment der Steuerung bzw. Beherrschung des Geschehens durch den Handelnden in den Vordergrund und setzt den Begriff der Finalität mit dem Vorsatz gleich. Daher kann sie auch in den Fällen des Inkaufnehmens oder eines einfachen Wollens einer Körperbewegung Finalität annehmen.33 Ob und wie das begründbar ist, steht auf einem anderen Blatt.34 Doch das theoretische Konzept ist konsistent. Hruschkas Kritik geht ins Leere. Damit entfällt zugleich das wichtigste Argument dafür, den objektiven Aspekt der Handlung nicht nach der Übereinstimmung mit einer Intention, sondern einer Regel zu bestimmen, die der Handelnde angewendet hat. 3. Verallgemeinerungsfähigkeit Stattdessen ist die Verallgemeinerungsfähigkeit des Kriteriums der Regelanwendung zweifelhaft. Hruschka gibt das Beispiel, dass man Ritzen und Kerben in 32 Vgl. Ast, Überlegungen zum Verhältnis von Zweck und Funktion im Strafrecht, ZIS 2018, S. 115, 116. 33  Vgl. die Replik auf Hruschka seitens Stratenwerth, Literaturbericht Strafrecht – Allgemeiner Teil, ZStW 91 (1979) S. 906, 910 f. 34 Hierzu Ast, Handlung und Zurechnung, 2019, S. 158 ff.

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einer Felswand vorfindet. Als Ergebnisse einer Handlung will er diese nur deuten, wenn man „widerspruchsfrei die spezifischen Regeln ausmachen kann, die den Akten des Einritzens und Einkerbens zugrunde gelegen haben mögen“ – insbesondere Regeln der Sprache oder der Kunst.35 Jedoch kann das „Ritzen von Kerben in den Stein“ auch unabhängig davon einem freilich unbekannten Subjekt als Handlung zugerechnet werden. Hruschka könnte in diesen Fällen immerhin noch auf den instrumentellen, also regelgeleiteten Aspekt hinweisen, dass man ein Werkzeug benutzt. Dieser entfällt aber bei zweckfreien, bloßen Körperbewegungen wie dem Heben eines Arms. Hier wendet der Handelnde keine Regel an, um diesen Akt auszuführen;36 nur der Zurechnende wendet Regeln an – nämlich die sprachliche Regel, eine derartige Veränderung zunächst objektiv als „Heben des Arms“ zu beschreiben sowie die Regeln, nach denen sich die Zurechnung dieses Ereignisses im Rahmen einer Handlung bestimmt. Da jede Handlung aufgrund des Willkürlichkeitserfordernisses eine Körperbewegungshandlung oder das Unterlassen einer Körperbewegungshandlung als letztendliche Ausführungshandlung voraussetzt, ist der Einwand grundlegend. Wenn Hruschka die Handlung als Anwendung einer Regel definiert, fragt sich, was die Regel eigentlich bezeichnet – offenbar ja nicht diese Handlung selbst, sondern eine andere Handlung, durch die man jene Regel ausführt. Diese Handlung müsste aber nach Hruschka wiederum selbst als Anwendung einer wiederum anderen Regel begreifbar sein. Wenn Tatjana Nikolajewa das Thema der Fuge in C-Dur von Dimitri Schostakowitsch spielt, so wendet sie eine mit den Noten vorgegebene Regel über die Abfolge und Länge der Töne des Themas an. Sie tut dies, indem sie zuerst nacheinander die Töne C und G spielt. Das tut sie, indem sie wiederholt die Regel anwendet, dass man auf einem Klavier einen Ton dadurch erzeugt, dass man die entsprechende Taste niederdrückt, und die Taste drückt, indem man Finger, Hand und / oder Arm bewegt. Aber jene Bewegung selbst ist eben nicht mehr als Regelanwendung formulierbar, obgleich sie offensichtlich eine Handlung ist.37 Tatiana Nikolajewa bewegt ihre Finger, indem sie ihre Finger bewegt. Das ist keine Regel, sondern eine Tautologie. Da jede Regel eine Handlung bezeichnen muss, bezeichnet auch diese letzte Regel eine Handlung, die aber nicht wiederum eine Regelanwendung sein kann. Es mutet fast paradox an, dass Hruschka die Handlung als Körperverhalten versteht, dieses allein aber letztlich nicht als Handlung verstehen kann.

  Hruschka, Strukturen, S. 19.  Vgl. etwa die ähnliche, gegen die finale Handlungslehre gerichtete Kritik von Weber, in Baumann / Weber / Mitsch, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 37, 69. 37  Klassisch zu der hier implizierten Thematik aufeinander aufbauender Handlungen Anscombe, Absicht, 1986, S. 59 ff., p. 37 ff. 35 36

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4. Objektive und subjektive Voraussetzungen der Regelanwendung Die spezifische Regel, als deren Anwendung das (zunächst auch unspezifisch als solches identifizierte) Handeln38 verstehbar ist, bestimmt für Hruschka eine Handlung ihrer Art nach. Mit Blick auf die tatbestandlichen Handlungsarten von Erfolgsdelikten ist dies immer eine Erfahrungsregel über die generelle Eignung eines Handelns, einen tatbestandlichen Erfolg zu verursachen oder zu bedingen.39 Die Tathandlung bzw. das entsprechende Körperverhalten ist also für Hruschka immer erfolgsgeeignet. Den Begriff der Regelanwendung und somit implizit auch den der Erfolgseignung bestimmt Hruschka in Abhängigkeit zum einen vom Zurechnenden und zum anderen vom Handelnden. Zum einen muss der Zurechnende annehmen, dass ein Akt derjenigen Erfahrungsregel entspricht, die für eine bestimmte Art von Handlungen konstitutiv ist. Zum anderen muss der Handelnde diese Regeln bewusst anwenden.40 Die subjektive Seite der Regelanwendung begründet eine Nähe zum finalen Handlungsbegriff. Nach diesem ist die objektive Seite aber gerade der Erfolgseintritt, selbst bei Armin Kaufmann, der lediglich in der Bestimmung des Unrechts den Erfolg eskamotiert. Bei Hruschka ist dagegen der Erfolgseintritt nicht vorausgesetzt, um die Handlung zu konstituieren. Gleichsam an die Stelle der Objektivität des Erfolgs tritt bei ihm die Objektivität der Regelanwendung, welche aus der Sicht des Zurechnenden bestimmt wird. Das fundamentum in re der Handlungszurechnung ist allein das Körperverhalten, nicht ein gegebenenfalls davon unterschiedener Erfolg.41

38  Hruschka, Strukturen, S. 15 – 18. Die These, dass schon vor deren Spezifizierung im Hinblick auf eine Handlungsart (und somit vor dem Tatbestandsurteil) feststellbar ist, dass eine Handlung vorliege, geht auf Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906 , S. 13 f. zurück. 39  Hruschka, Der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils nach heutigem Strafrecht, GA 1980, S. 1, 6, Fn. 20. Die gegen Hruschka gerichtete Kritik von Küper, GA 1977, S. 158, 159 liegt das übliche Missverständnis zugrunde, dass der dem strafrechtlichen Handlungsbegriff allein um eine der Tatbestandlichkeit vorgelagerte Handlung gehe. Die Diskussion dieses Begriffes betrifft vielmehr vor allem die Kriterien der tatbestandlichen Handlung. Wenn jemand schimpft, während er mittels vis absoluta in eine Scheibe gestoßen wird, ist das Schimpfen zwar eine Regelanwendung und somit Handlung. Es interessiert aber allein, ob die tatbestandliche Handlung der Art „Beschädigen einer fremden Sache“ vorliegt. Vortatbestandlich lässt sich darüber nichts sagen. 40  Hruschka, Strukturen, S. 20 ff. 41  Hruschka, Strukturen, S. 22: „Die Annahme, dass eine Tötungshandlung begangen werde, setzt unter anderem voraus, dass ich für irgendjemanden eine von einem menschlichen Körper ausgehende Lebensgefahr annehme.“

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V. Die Regelanwendung als Tat 1. Begriffliche statt teleologische Ableitung von Verboten erfolgsgeeigneter Handlungen Weil nach Hruschka die Handlung ein Körperverhalten ist, das als Mitteleinsatz verstehbar ist, bezieht sich der Begriff einer tatbestandlichen Handlung wie z. B. das Töten im Sinne von § 212 StGB unmittelbar auf die erfolgsgeeignete Handlung, zum Beispiel den gezielten Schuss auf einen Menschen. Beide Handlungen werden als identisch angesehen. Begrifflich wird das tötungsgeeignete Schießen als eine Art des Tötens konzipiert. Das Unterscheidungsmerkmal dieser Art besteht in der spezifischen Erfahrungsregel, dass man den Tod eines Menschen verursachen kann, indem man auf ihn schießt. Dass das Tötungsverbot den Einsatz eines Tötungsmittels, also eine tötungsgeeignete Handlung erfasst, wird somit nicht als praktisch-teleologische Ableitung eines anderen Verbots aus dem Tötungsverbot, sondern als begriffliche Ableitung erfasst.42 Wenn das Töten der Mitteleinsatz ist, wird durch den Verweis auf näher zu konkretisierende Erfahrungsregeln die Teleologie der Zweck-Mittel-Beziehung in den Begriffsinhalt implementiert. Der Preis dafür ist, dass es einen Begriff der Tötungshandlung, der den Erfolgseintritt voraussetzt, nicht gibt. Der Begriff der Regelanwendung bezieht sich nur auf den Mitteleinsatz. Die Frage der Zweckerreichung – also etwa des Todeseintritts – ist nicht relevant. 2. Handlung und Tatbestand Da es ohne Erfolgseintritt kein vollendetes Delikt gibt, wird bei Hruschka die Rolle des Erfolgs im Tatbestand eines solchen Delikts prekär. Der Begriff des „Tötens“ in § 212 StGB hat offenbar eine andere Bedeutung als der Begriff des „Tötens“, den Hruschka als Handlungsbegriff entwickelt. Ersterer setzt den Erfolgseintritt voraus, letzterer nicht. Um diese Unterscheidung abzubilden, verwendet Hruschka die Begriffe Tat und Tatbestandserfüllung. Die Tat ist die Handlung. Der Tatbestand umfasst hingegen weitere Voraussetzungen, um das Rechtswidrigkeitsurteil über die Tat zu fällen.43 Die Tat ist dabei Teil der Tatbestandsverwirklichung. Das Verbot, das dem Rechtswidrigkeitsurteil zugrunde liegt, bezieht sich demnach nicht unmittelbar auf die Tat bzw. Handlung, sondern auf die Tatbestands42  Vgl. Demgegenüber Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 54 ff.; Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, 2010, S. 23 ff. 43  Hruschka, GA 1980, S. 1, 2: „T bedeutet: objektiv … sind Tat und Tatsituation so beschaffen, dass die Tat den Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt.“

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verwirklichung. Da der Tatbestand aber nur durch die Tat verwirklicht werden kann, sind die Verbote der „Tatbestandsverwirklichung durch die Tat“ gegenüber einem Verbot der „Tat“ spezieller, merkmalsreicher und somit enger. So kann man in Hruschkas Terminologie das Verbot, das § 212 Abs. 1 StGB zugrunde liegt, als ein Verbot des Tötens (Tat) mit Todesfolge (Tatbestandsverwirklichung) verstehen. Hruschkas Konzept eines Erfolgsdelikts verhält sich insoweit zum Konzept Armin Kaufmanns genau entgegengesetzt: Kaufmann fasst den Erfolgseintritt zwar als Voraussetzung der finalen Handlung, nicht aber des Unrechts auf, Hruschka hingegen als Voraussetzung des Unrechts, nicht aber der Handlung. Denn das Verbot bezieht sich bei Kaufmann allein auf den Versuch der finalen Handlung; deren Erfolg steht außerhalb des Rechtswidrigkeits- und Schuldzusammenhangs.44 VI. Der Versuch 1. Die Regelanwendung als Versuch Abgesehen davon ähneln sich die Konzeptionen Hruschkas und Kaufmanns, weil für Hruschka die Tat eines Vorsatzdelikts nur der Versuch ist. Weil schon der Versuch zumindest der Beginn der Regelanwendung ist, fasst ihn Hruschka bereits als vollendete Handlung bzw. strafrechtlich als „Tat“ auf. Die strafrechtsdogmatische Unterscheidung von Vollendung und Versuch hat für ihn nur sekundären Charakter. Es handelt sich bei Versuch und Vollendung um Unterarten derselben Handlungsart; die Tat ist dieselbe.45 Dem Versuch eines Erfolgsdelikts liegt somit bloß das Verbot der Tat zugrunde; dem vollendeten Delikt demgegenüber das speziellere Verbot der Tatbestandsverwirklichung (durch die Tat). Demnach sind für Versuch und Vollendung zwei unterschiedliche Verbote anzunehmen – ein allgemeineres und ein spezielleres. Hruschka spricht auch davon, dass der Versuch nur ein Rudiment der Erfüllung des Tatbestands ist, das aber genüge, um das Rechtswidrigkeitsurteil zu fällen.46 Da er somit für den Versuch keinen eigenständigen Tatbestand konstruiert (ebenso schon Beling), ist für ihn der Versuch, obgleich allgemeiner, nur eine abgeleitete Form des Delikts (Beling: Erscheinungsform). Aus Hruschkas Handlungsbegriff folgt für den Versuch eine vermittelnd objektiv-subjektive Konzeption. Da der Versuch sogar zumindest entweder schon die komplette Handlung oder ein unmittelbares Ansetzen zu ihr ist,47 ist nach Hruschka vorausgesetzt, dass sie sich einerseits aus der Sicht des Zurechnenden als eine geeignete Methode der Erfolgsherbeiführung verstehen lässt und dass sie ande  Zu Kaufmann Ast, in: Strafrecht und Gesellschaft, 2019, S. 195, 205 ff.   Hruschka, GA 1980, 1, 9. 46  Hruschka GA 1980, 1, 7, 9. 47  Hruschka, Strukturen S. 8 f. (auf den Anfang der Regelausführung bezogen). 44 45

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rerseits von dem Bewusstsein der Regelanwendung getragen ist. Hruschka wendet sich somit gegen eine rein objektive wie eine rein subjektive Bestimmung des Versuchs. 2. Hruschkas Einwand gegen ein rein objektives Versuchskonzept Das Argument, das Hruschka gegen eine rein objektive Konzeption des Tatbestands und somit des Versuchs entwickelt, ist indessen nicht tragfähig. In seinem Aufsatz zum „Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils“ stellt er zunächst zwei Konzeptionen des Verbotstatbestands einander gegenüber – eine rein objektive und eine objektiv-subjektiv gemischte Konzeption. Der ersten kann die kausale Lehre zugeordnet werden: Erforderlich sei objektiv die volle Erfüllung des Verbotstatbestands; auf subjektive Annahmen kommt es nicht an.48 Die zweite Konzeption setzt hingegen ein subjektives Element daneben. Argumente gegen den kausalen Tat- bzw. Handlungsbegriff, welcher der ersten Konzeption zugrunde liegt, lässt Hruschka beiseite, da es ihm allein um die Konstruktionslogik geht.49 Er wendet gegen diese Konzeption stattdessen ein, dass auf ihrer Grundlage kein Versuch konstruiert werden könne. Beim Versuch müsse man auf die volle Verwirklichung des objektiven Tatbestands verzichten. Weil sich dann aber das Schießen auf eine Person vom Schießen in die Luft „in der äußerlichen Komponente … in keiner Weise“ unterscheide, müsse als Ausgleich die subjektive Tatseite berücksichtigt werden.50 Daher könne nur die objektiv-subjektiv gemischte Konzeption den Versuch als rechtswidrig erfassen. Der Einwand trifft aber nicht zu: Hruschka selbst bestimmt die Tat als Regelanwendung, also z. B. tötungsgeeignetes Handeln. Die erste Konzeption verzichtet nun lediglich darauf, in Hruschkas Prämissen und Terminologie übersetzt, das Bewusstsein der Regelanwendung für die Konstitution der Tat zu fordern. Sie kann daher bereits das objektiv regelanwendende bzw. erfolgsgeeignete Handeln als „Tat“ in Hruschkas Sinn aufweisen, die ohne Rücksicht auf den Erfolg oder den Vorsatz als Versuch qualifizierbar ist. Das Schießen in die Luft ist dagegen nicht erfolgsgeeignet und deshalb auch schon objektiv keine Tat. Auf der Grundlage einer rein objektiven Versuchskonzeption würde aber, wenn man zudem Hruschkas Begriff der Regelanwendung als gefährliches Körperverhalten zugrunde legt, auch die unvorsätzliche und gegebenenfalls fahrlässige Gefährdung in den Tatbegriff einbezogen. Dass nicht dieser „fahrlässige Versuch“, sondern nur der vorsätzliche strafbar ist, würde sich für eine konsequent objektive Handlungs- und Unrechtskonzeption erst auf der Schuldebene darstellen lassen.

  Hruschka, GA 1980, 1, 4 ff.   Hruschka, GA 1980, 1, 6. 50  Hruschka, GA 1980, 1, 7. 48 49

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Insoweit besteht aber kein Unterschied zu denjenigen vollendeten Delikten, die nur als vorsätzliche strafbar sind wie etwa der Betrug. Jedenfalls liegt in der Konstruierbarkeit eines rechtswidrigen Versuchs sicherlich nicht der Grund für die Einbeziehung des Vorsatzes in den Tatbestand. Es bleibt allein das Argument aus dem Handlungs- und Unrechtsbegriff. 3. Hruschkas Einwand gegen ein rein subjektives Versuchskonzept Aus Hruschkas eigenem Handlungsbegriff ist schließlich der Einwand zu verstehen, den er gegen die subjektive Versuchslehre erhebt. Aus Hruschkas Sicht ist der Versuch schon die ganze Handlung oder zumindest deren teilweise Verwirklichung. Da er etwa den Begriff der Tötungshandlung als ein aus der Sicht des Handelnden wie des Zurechnenden geeignetes Mittel definiert, den Tod eines anderen zu verursachen, setzt er auch für den Versuch voraus, dass der Handelnde ein aus der Sicht des Zurechnenden erfolgsgeeignetes Mittel anwendet. Folgende Aussage sei widersprüchlich: „Marie ist im Begriff, Hans zu vergiften, aber ich glaube nicht, dass die Zugabe einer Prise Mehl ein Vergiften ist.“51 Nun ist die Verwendung des unvollendeten Aspekts eines Verbs in der Umgangssprache in der Tat mit einer Erfolgsprognose verknüpft. Wenn man behauptet, dass Hans Marie vergiftet, teilt man mit, dass man davon ausgeht, dass der Vergiftungserfolg eintreten und sich die Handlung vollenden werde. Ganz anders ist es aber, wenn man davon spricht, dass Marie versucht, Hans zu vergiften. Hier bleibt dieser Aspekt indifferent, und man kann ohne weiteres hinzufügen, dass man davon ausgehe, dass jenes Handlungsprojekt nicht gelingen werde. Hruschka verkennt somit, dass dasjenige, was versucht wird, die Handlung ist, und der Versuch deshalb nicht selbst dieselbe Handlung sein kann. Er muss auch nicht deren begriffliche Voraussetzungen erfüllen. Der Versuch muss nicht eine objektive Regelanwendung, sondern kann eine versuchte Regelanwendung sein. 4. Versuch und Handlung Eine Lehre, für die der Versuch schon die Handlung ist, kann auf der Ebene des Handlungsbegriffs nicht zwischen Versuch und Vollendung differenzieren. Das, was beim Deliktsversuch versucht wird, ist dann nicht die Handlung, sondern die „Tatbestandsverwirklichung“. Diese Gleichsetzung von Versuch und Handlung führt, wenn man die Handlung auch durch die Intention des Handelnden definiert, in die Gefahr einer gänzlichen Subjektivierung der Handlungsbestimmung. Hruschka entkommt der Subjektivierung allein durch die Forderung der Objektivität der Regelanwendung.   Hruschka, Strukturen, S. 21.

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Hinreichend begründet ist diese Forderung letztlich nicht. Hruschkas Argument spielt mit der Objektivität der alltagssprachlichen Verwendung von Handlungsbezeichnungen. Deren Objektivität wird aber durch die Objektivität des Handlungsergebnisses begründet: Marie hat Hans nicht vergiftet und getötet, wenn Hans nicht gestorben ist. Dass eine vollendete Handlung die Anwendung eines geeigneten Mittels voraussetzt, ergibt sich alltagssprachlich somit nur vermittelt aus der Objektivität des Handlungsergebnisses. Da der Versuch einer Handlung gerade nicht voraussetzt, dass das Ergebnis eintritt, entfällt dieser Zusammenhang. Eine rein subjektive Konzeption des Deliktsversuchs ist daher nicht mit Argumenten aus dem Handlungsbegriff oder dem Sprachgebrauch angreifbar, sondern muss aus den Zwecken des Strafrechts kritisiert werden.52 Konstruktiv möglich ist es ohne weiteres zu fordern, dass der zunächst subjektiv zu bestimmende Versuch durch eine Handlung ausgeführt werden muss, die auch aus objektiver Perspektive gefährlich ist. VII. Der Vorsatz Hruschka setzt das subjektive Element der Handlung mit dem strafrechtlichen Vorsatz gleich. Er fasst es als das Bewusstsein der Regelanwendung auf. Mit Blick auf einen strafrechtlich relevanten Erfolg ist der Vorsatz demnach das Wissen, dass das Körperverhalten geeignet ist, den Erfolg zu verursachen. In allen Fällen, in denen der Handelnde die Gefahr erkennt und vermeiden kann, ist Vorsatz gegeben.53 Der Erfolgswille hat keine eigenständige Bedeutung. Charakteristisch für Hruschkas Vorsatzkonzeption ist, dass das Wollen einen bloß aus dem Bewusstsein abgeleiteten Charakter hat (hierzu unter a)), und dass es sich nicht auf den Erfolg, sondern die Gefahr bezieht (hierzu unter b)). 1. „Wissen und Wollen“ Zur Bestimmung des Verhältnisses von Wille und Kenntnis beim Vorsatz schreibt Hruschka: „Mit der Annahme, dass das handelnde Subjekt Rx aktuell bewusst realisiert, ist … die Annahme, dass das Subjekt die Anwendung auch will, immer schon mitgesetzt.“54 Vorsatz ist demnach das Bewusstsein, das die Ausführung einer Körperbewegung begleitet. Gegenstand des Bewusstseins ist die Handlungssituation, das Körperverhalten selbst sowie die Regel, der es entsprechen muss. Die Annahme, dass es sich hierbei nur um Bewusstsein handele, legt die Vorstellung nahe, dass der Handelnde sein eigenes Körperverhalten nur bemerken 52  Vgl. etwa Binding, Normen II 2, 2. Auflage 1916, S. 798 ff.; Jakobs, GS Kaufmann, 1989, S. 274, 277 ff. 53  Hruschka, Strukturen, S. 65; ders., Strafrecht, 2. Auflage 1988, S. 434 ff. 54  Hruschka, Strukturen, S. 27.

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muss. Diese Beobachtung des eigenen Verhaltens im Moment seiner Ausführung ist indessen für die Handlungskonstitution gar nicht entscheidend. Vielmehr liegt das subjektiv entscheidende Moment notwendig jeweils vor einer beliebigen Phase des Körperverhaltens; denn es geht um eine Entscheidung für die Verwirklichung eines Körperverhaltens durch den Handelnden. Grundlage der Entscheidung ist dabei die Konstruktion von Alternativen und somit die Projektion von Handlungsmöglichkeiten. Das wird deutlich, wenn sich ein Trompeter in Abwandlung eines von Hruschka gegebenen Beispiels verspielt.55 Der Handlungscharakter des Verspielens ist zwar nach Hruschka bereits deshalb zu verneinen, weil das Körperverhalten nicht der Regel für das Musikstück entspricht. Doch auch abgesehen davon genügt offenbar das vorhandene Bewusstsein der aktuellen, fehlgehenden Körperbewegung nicht für einen Vorsatz. Der Trompeter hatte vielmehr den Vorsatz einer korrekten, regelentsprechenden Aufführung. Dieser Vorsatz geht der missglückten Ausführung notwendig voraus. Das ist auch der Grund, warum man davon sprechen kann, dass der Trompeter versucht habe, die fragliche, vielleicht schwierige Stelle des Musikstücks korrekt zu spielen. Dass es noch nicht zur Regelanwendung kommen muss, sondern im „unmittelbaren Ansetzen“ dazu der Vorsatz gegeben ist, zeigt, dass für das kognitive Element des Vorsatzes nicht das Bewusstsein der Realisierung zu fordern ist, sondern nur die auf die Zukunft gerichtete Annahme der Möglichkeit der Realisierung. Die Definition des Vorsatzes bloß als Kenntnis und Bewusstsein überspielt dessen notwendig prospektiven Gehalt. Das subjektive Element der Handlung hat es, was den eigenen Beitrag des Handelnden zur Welt angeht (das Körperverhalten und dessen Folgen), immer nur mit der Potentialität zu tun. Doch auch die bloße Annahme einer Möglichkeit rechtfertigt die Annahme eines entsprechenden Vorsatzes noch nicht; denn sie kann von sich aus nicht produktiv werden. Vielmehr ist vorausgesetzt, dass der Handelnde sich für die Realisierung der Möglichkeit entscheidet; dass er diese Möglichkeit also verwirklichen will. Daher ist die subjektive Annahme der Möglichkeit nur eine Voraussetzung, nicht aber das bestimmende Element des Vorsatzes. Dieses besteht im Willen. Genau entgegengesetzt zur These Hruschkas ist das kognitive Element des Vorsatzes daher im voluntativen Element vorausgesetzt. Ich kann als meine Handlung nur wollen, was ich für möglich halte. Produktiv wird nicht die Kenntnis der Möglichkeit, sondern das Wollen ihrer Realisierung. 2. Wollen der Gefahr und des Erfolgs Für Handlungskonzeptionen, welche die Handlung auf das Körperverhalten begrenzen, liegt die Auffassung des Vorsatzes als Bewusstsein der Erfolgsgefahr nahe, denn der Vorsatz wird handlungsimmanent allein auf das Körperverhalten 55

  Hruschka, Strukturen, S. 27.

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bezogen. Ein Bezug auf einen darüber hinausgehenden Erfolg wird nur durch die Eigenschaft des Körperverhaltens hergestellt, gefährlich zu sein, also diesen Erfolg möglicherweise zu bedingen. Nach dem oben Gesagten ist das kognitive Vorsatzelement dabei präzise gesagt nicht als Kenntnis oder Bewusstsein der Gefahr, sondern als Annahme der Möglichkeit der Gefahr zu fassen. Da der Gefahrbegriff seinerseits durch die Möglichkeit definiert wird, geht es also um die Annahme der Möglichkeit einer Möglichkeit des Erfolgseintritts. Ebenfalls gezeigt wurde, dass die Annahme der Möglichkeit nur deshalb Vorsatzelement ist, weil der Vorsatz als Wille der Verwirklichung der angenommenen Möglichkeit zu definieren ist. Dies vorausgesetzt, ist der Vorsatz Hruschka zufolge das Wollen der Möglichkeit, nicht zwingend auch der Wirklichkeit des Erfolgs. Die Struktur des Vorsatzes unterscheidet sich demnach je nachdem, ob sich dieser auf ein Körperverhalten richtet (dann Wille der Verwirklichung) oder einen darüber hinausgehenden Erfolg (dann Wille der Möglichkeit). Der Wille der Verwirklichung dieses Erfolgs – also die auf den Erfolg bezogene Absicht oder das Inkaufnehmen – geraten demgegenüber ganz aus dem Blick. Die Absicht wird nur als Motiv der Handlung fassbar.56 Das ist die Konsequenz dessen, dass Hruschka die teleologische Handlungsstruktur auf den Mitteleinsatz verkürzt. Nimmt man demgegenüber den Erfolgseintritt in den Handlungsbegriff auf, kann es für den Vorsatz keinen Unterschied machen, ob der Wille sich nur auf ein Körperverhalten oder einen darüber hinausgehenden Erfolg bezieht. Mit Blick auf den Erfolg gilt genau das gleiche wie mit Blick auf das Körperverhalten: Das voluntative Element ist das primäre. Der auf die Zukunft gerichtete Verwirklichungswille setzt begrifflich die Kenntnis der Möglichkeit der Verwirklichung voraus. Die Annahme der Möglichkeit der Verwirklichung begründet demgegenüber für sich allein noch nicht den Willen der Verwirklichung. VIII. Die Fahrlässigkeit 1. Das deliktsbegründende Verbot Hruschka hat den Handlungsbegriff und somit das Verbot, das den Begehungsdelikten zugrunde liegt, unabhängig von strafrechtsdogmatischen Systembedürfnissen bestimmt. Demgegenüber haben Radbruch und Jakobs den Handlungsbegriff vom Fahrlässigkeitsdelikt her mit dem Ziel entwickelt, für vorsätzliche und fahrlässige Begehungsdelikte dasselbe Verbot annehmen zu können. Für Radbruch ist dies ein Verbot der Verursachung,57 für Jakobs ein Verbot der vermeidbaren Verursachung.58   Hierauf beruht die Kritik von Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 100 f.   Siehe Fn. 14.

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Nach Hruschkas Handlungsbegriff ist die Tat des fahrlässigen Begehungsdelikts keine Handlung. Die äußere Seite einer Handlung ist zwar gegeben, nämlich ein konkret gefährliches Verhalten, das sich als Anwendung einer entsprechenden Erfahrungsregel zur Erfolgsherbeiführung interpretieren ließe. Zum Beispiel: Jemand gelangt in einer engen Kurve auf die Gegenfahrbahn und kollidiert mit einem entgegenkommenden Auto. – Auf den Erfolgseintritt kommt es dabei nicht an.59 – Es mangelt aber an einer der Voraussetzungen der Handlungszurechnung, entweder am Bewusstsein oder an der Vermeidbarkeit des Regelanwendung im Moment dieses Vorgangs.60 Den Handlungscharakter der fahrlässigen Verursachung verneinen auch Binding und Kindhäuser. Gleichwohl gehen beide davon aus, dass der Vorsatz- und Fahrlässigkeitstäter dasselbe Verbot missachten – und zwar ein Verbot der Verursachung.61 Binding sieht es so, weil für ihn nur die Straftat als solche eine Handlung ist; Kindhäuser, weil nur die absichtliche Verursachung Handlungscharakter hat.62 Auch nach Hruschka missachtet der Täter des fahrlässigen Begehungsdelikts dasselbe Verbot wie der Vorsatztäter. Hruschka begründet das aber ursprünglich damit, dass eine Handlung fingiert wird.63 Es wird also so getan, als ob die Tat des Fahrlässigkeitsdelikts eine Handlung ist. Diese Fiktion hat den Zweck, einen Verstoß gegen das generelle Verbot der jeweiligen Handlung annehmen zu können. Es handele sich um eine außerordentliche Zurechnung, weil die Zurechnung und somit der Verbotsverstoß grundsätzlich nur begründet werden können, wenn die verbotene Handlung verwirklicht wird. Während die anderen genannten Konzepte also eine einheitliche Zurechnungsvoraussetzung formulieren und deshalb eine außerordentliche Zurechnung nicht 58  Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 41 ff., 47, 48 ff. Zum Verhältnis von Vermeidbarkeit und Vermeidensollen in diesem Zusammenhang die Bemerkung von Hrusch­ka, FS Bockelmann, 1979, S. 421, 425 sowie näher zu Jakobs Konzeption Ast, in: Strafrecht und Gesellschaft, 2019, S. 195, 208 ff. 59 Dass Hruschka in GA 1980, S. 1, 9 hierfür den Eintritt des Erfolgs voraussetzt, ist systematisch nicht vermittelt. 60  Hruschka, Strukturen, 1976, S. 24 f., 28, 65. Entscheidend dürfte indes der fehlende Vorsatz sein. Denn auch, wenn ein sklerotischer Autofahrer, der infolge krankheitsbedingt fehlender Reaktionsfähigkeit keine Alternative zum Überrollen eines Kindes hat, um seine Reaktionsunfähigkeit weiß, genügt doch dieses Bemerken der Regelverwirklichung, das heißt der konkreten Gefährlichkeit des Verhaltens (Überrollen) nicht für einen Vorsatz. Hier macht sich wiederum bemerkbar, dass Hruschka die prospektive, auf Handlungsmöglichkeiten bezogene Dimension des Vorsatzes unterschätzt. Die Annahme, keine Alternative mehr zu haben, schließt den Vorsatz aus. Jüngst wurde dies im Berliner Raserfall, BGH NJW 2018, 1621, entscheidend für die Verneinung von Vorsatz. 61  Binding, Normen I, 2. Auflage, 1890, S. 111 ff.; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 53; Kindhäuser, Zum strafrechtlichen Handlungsbegriff, FS Puppe, 2011, S. 39, 60. 62  Binding, Normen II 1, 2. Auflage, 1914, S. 82 ff.; Kindhäuser, FS Puppe, 2011, S. 39, 42 ff. 63  Hruschka, Strukturen, S. 25, 28.

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kennen, entwickelt Hruschka ein zweispuriges Modell der Zurechnung, obgleich er nur von einem generellen Verbot ausgeht, das beiden Deliktstypen zugrunde liegt. 2. Bezug auf andere Normen: Obliegenheiten Diese Fiktion ist nach Hruschka allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn der Handelnde von vornherein unerlaubt handelt. Hruschka nimmt insbesondere Verbote an, ohne zureichende Fähigkeiten, Kenntnisse oder Aufmerksamkeit bestimmte Tätigkeiten auszuüben.64 Er bemerkt, dass die Zurechnung (bzw. die Fiktion einer Handlung) daher voraussetzt, dass die Missachtung einer Regel festgestellt wird. Im einfachen Fall der Zurechnung wird demgegenüber zunächst eine Handlung festgestellt und dann vor dem Hintergrund einer Regel kritisiert.65 Diese Beobachtung legt den Schluss nahe, dass das Fahrlässigkeitsdelikt erst mit dem Urteil über die normative Zurechnung, die imputatio juris, als Handlung konstituiert wird. Sozusagen „macht“ erst das Recht diese Handlung, da es ihre Art und Voraussetzungen bestimmt. Jedoch produziert es dadurch keine Fiktion – oder nur in dem Sinn, wie jede Zurechnung „gemacht“ wird und nicht nur etwas Vorgefundenes beschreibt. Diesen Schluss zieht Hruschka indessen nicht, sondern begründet gleichwohl eine imputatio facti. Jene Regeln, auf die die Zurechnung hier Bezug nimmt und welche die Gleichstellung der subjektiv nicht nachvollzogenen oder nicht vermeidbaren Regelanwendung mit einer Handlung rechtfertigen, sind andere als das Verbot der Handlung, das dem strafrechtlichen Rechtswidrigkeits- und Schuldurteil und somit der imputatio juris zugrunde liegt. Deshalb spricht Hruschka später in Bezug auf diese Regeln von Obliegenheiten im Gegensatz zu Pflichten;66 in den „Strukturen der Zurechnung“ hat er diesen Begriff nur für die vergleichbaren Regeln eingeführt, die im Hinblick auf das Schuldurteil eine Ausnahme ermöglichen.67 Der Begriff der Obliegenheit macht die spezifisch strafrechtliche Funktion dieser Norm in Hruschkas Zurechnungsmodell deutlich. Die Missachtung einer Obliegenheit begründet noch keinen Verstoß gegen die dem Strafgesetz zugrunde liegende Verhaltensnorm, (die bei Hruschka als Verbot einer konkreten Gefähr-

  Hruschka, Strukturen, S. 66.   Hruschka, Strukturen, S. 67 f. Wenn Hruschka auf S. 67 annimmt, dass eine „Verletzungshandlung … ohne jeden Hinweis auf eine sie betreffende rechtliche Regel, etwa ein Verletzungsverbot, beschrieben werden“ könne, ist dies doch zu präzisieren; denn der Begriff der entsprechenden Verletzungshandlung wird spezifisch mit Blick auf die fragliche Regel ausgelegt. Das gilt selbst für einen scheinbar umgangssprachlichen Begriff wie den des Tötens. 66  Hruschka, Über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit, FS Bockelmann, 1979, S. 426 ff. 67  Hruschka, Strukturen, S. 49 f. 64 65

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dung konzipiert wird).68 Eine Obliegenheit ist auch nicht zwingend strafrechtlichen Charakters – anders als jene Verhaltensnorm sowie die Pflicht, die im Einzelfall aus ihr folgt (zum Beispiel: nicht zu töten). Vielmehr sind Obliegenheiten geschriebene oder ungeschriebene Sorgfaltsnormen, die auch nichtstrafrechtlich begründbar sind, z. B. zivilrechtlich oder durch die StVO. In diesem Sinn ist es aus der Sicht des Strafrechts dem Handelnden gleichsam freigestellt, eine Obliegenheit zu beachten. Missachtet er sie, muss er aber hinnehmen, dass ihm, falls etwas passiert, strafrechtlich zugerechnet wird, obwohl dies regulär nicht möglich wäre.69 Den verschiedenen Fahrlässigkeitsmodellen ist gemeinsam, dass derartige Normen – als Sorgfaltspflichten oder Obliegenheiten – postuliert werden.70 Wenn, wie zumeist,71 daneben ein spezifisch strafrechtliches Verbot angenommen wird, das der Zurechnung zugrunde liegt, muss dieses mit jenen Normen so verknüpft werden, dass die Missachtung jener anderen Norm zur Voraussetzung der Missachtung des Verbots bzw. der Zurechnung wird. Diese Verknüpfung kann in unterschiedlicher Weise konzipiert werden. So bezieht sich bei Jakobs der Begriff der vermeidbaren Verursachung auf die Vermeidungsmöglichkeit. Bei Kindhäuser ist setzt die Zurechenbarkeit einer festgestellten Normwidrigkeit eine Pflichtverletzung voraus.72 Möglich ist aber auch ein expliziter Verweis auf die Menge anderer Normen in der Ausgangsnorm. Einen solchen Verweis drückt der Begriff der Fahrlässigkeit aus, weshalb sich ein „Verbot der fahrlässigen Todesverursachung“ formulieren lässt.73 Die konstruktiv entscheidende Frage ist dabei, ob jene Verknüpfung als Frage der imputatio facti (so bei Jakobs) oder der imputatio juris behandelt wird (so bei Kindhäuser und in der Verweisungslösung). Hruschka entscheidet sich für die erste Alternative und baut diesen Verweis gleichsam in den Begriff etwa der „Tötung“ ein.

68 Deutlich Hruschka, FS Bockelmann, 1979, S. 426; ders., Strafrecht, 2.  Aufl. 1988, S. 287 f., 415 ff. 69  Die irreführende These, es handele sich um hypothetische Imperative (so Hruschka, FS Bockelmann, S. 422, 426) hat Hruschka fallen lassen (vgl. zu diesen Begriffen ders. Strafrecht, S. 413). Veranlasst war sie wohl durch den teleologischen (nach Hruschka: synthetischen) Charakter der Ableitung der Obliegenheiten aus den strafrechtlichen Normen. Die Obliegenheiten sind vielmehr unbedingt (kategorisch) zu beachtende Rechtsnormen. 70  Vgl. insbesondere das Konzept der Pflichten und Obliegenheiten bei Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 53 ff., 65 ff. Zum Konzept der Obliegenheiten allgemein Montiel, Obliegenheiten im Strafrecht?, ZStW 129 (2014) S. 592; Valiente, Imputación extraordniaria. Elementos conceptuales y normativos para un modelo de responsabilidad jurídico-penal, Abschnitt 1, im Erscheinen. 71  Nicht etwa bei Armin Kaufmann. 72 Beispielhaft Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 57. Zu Jakobs siehe oben, Fn. 58. 73 So Ast, Handlung und Zurechnung S. 186 ff. Dagegen etwa Mañalich, Setzt die applicatio legis ad factum eine imputatio facti voraus?, in: CRIMINT, Sonderheft Juli 2018, S. 22 f.

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IX. Zurechnungsregeln und -gründe 1. Zurechnungsregeln Diejenigen Regeln, die bestimmen, wann eine Tötungshandlung und ein Verstoß gegen das Tötungsverbot vorliegen, expliziert Hruschka später als Zurechnungsregeln.74 Sie werden sowohl auf der Ebene der imputatio facti als auch der imputatio juris relevant, weil sowohl die Identifikation einer Handlung als auch die Annahme eines Normverstoßes retrospektiv zu fällende Zurechnungsurteile sind. Aus dieser Perspektive sind auch die Definitionsmerkmale des allgemeinen Handlungsbegriffs als Zurechnungsregeln darstellbar – insbesondere das Erfordernis des Regelanwendungsbewusstseins. Die ergänzende Zurechnungsregel, die auf die Obliegenheiten verweist, lässt sich dann als Ausnahmeregel zu dieser Regel lesen. Sieht man es so, liegt bei einem Obliegenheitsverstoß und eingetretener Gefährdung eine Handlung bestimmter Art (z. B. töten) „wirklich“ vor und wird nicht nur fingiert. Hruschka spricht später auch nicht mehr von einer Fiktion. Demnach kann man nach Hruschka die Handlung definieren als Vorgang, der äußerlich einer Regel entspricht, und nach Regeln zugerechnet wird. Die in den Zurechnungsregeln explizierten Voraussetzungen – das Regelanwendungsbewusstsein oder der Obliegenheitsverstoß – können dabei als Zurechnungsgründe angesehen werden, die es rechtfertigen, einen äußeren Vorgang als Handlung zuzurechnen. 2. Zum Begriff der außerordentlichen Zurechnung Fraglich ist aber, ob der Obliegenheitsverstoß eine imputatio facti und somit die Annahme einer Handlung begründen kann. Hruschka beruft sich hierfür auf das traditionelle Konzept der außerordentlichen Zurechnung bzw. der actio libera in causa.75 Zum anderen entspricht es heute der allgemeinen Auffassung, die Sorgfaltspflichtverletzung als Tatbestands- und nicht als Rechtswidrigkeitsvoraussetzung zu konzipieren. Hruschka rekonstruiert diese Unterscheidung dabei als eine zwischen der imputatio facti und der applicatio legis ad factum.76 Die imputatio facti und mit ihr die Zurechnung als Handlung ist aber nicht eine bloße Feststellung von Fakten, sondern eben schon eine Imputation, die besonders begründet werden muss. Zurechnungsgründe sind, übereinstimmend mit Hruschka, einerseits der Wille und andererseits der Schuldvorwurf, also (zumindest implizit) die Annahme eines Normverstoßes. Die Begründung der Zurechnung un-

  Hruschka, Rechtstheorie 22 (1991) S. 449, 454 f., 456 f.   Hruschka, ZStW 96 (1984) 661, 662 ff. 76  Hruschka, ZStW 96 (1984) 66, 672 ff. 74 75

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ter Berufung auf Obliegenheiten ist normativ. Ihre Zuordnung zur imputatio facti überzeugt deshalb nicht. Bei der Fahrlässigkeit ist die Zurechnung dabei erst durch die Feststellung des Normverstoßes begründet, also weder durch die Feststellung nur eines Teils, noch sämtlicher tatsächlicher Voraussetzungen der normativen Zurechnung. Das wird bei der gerechtfertigten Obliegenheitsverletzung und einer daraus resultierenden gefährlichen Handlung bzw. Erfolgsverursachung deutlich. Die „gerechtfertigte fahrlässige Körperverletzung“ ist keine „fahrlässige Körperverletzung“. Sie ist daher nicht einmal eine „Körperverletzung“ im Handlungssinn, sondern nur die Verursachung eines Körperverletzungserfolgs durch eine Handlung. Der handelnden Person wird hier von Rechts wegen kein factum imputiert, weder intentionsbegründet noch normativ. Insofern ist die ursprüngliche Lösung Hruschkas konsequenter, nur von einer Fiktion auszugehen. Erst der Vorwurf der fehlenden Kenntnis oder der Vorwurf, dass man eine Vermeidemöglichkeit ausgelassen hat, überbrückt die fehlende reguläre Zurechenbarkeit und führt deshalb erst durch die imputatio juris zur Konstitution einer Handlung. Mit der außerordentlichen Zurechnung unter Berufung auf die riskante Übernahme einer Tätigkeit begründet Hruschka stattdessen eine „objektive Zurechnung“, bei allen Unterschieden durchaus vergleichbar mit Roxins Lehre. Die objektive und die außerordentliche Zurechnung sind gleichsam protonormativ: Sie stellen zwar keinen Normverstoß fest, aber schon wichtige Voraussetzungen des normativen Zurechnungsurteils und behaupten, dass dies bereits eine Zurechnung rechtfertige. X. Das Verhältnis von imputatio facti und imputatio juris Nichts zwingt aber zu dieser Annahme. Es sind vielmehr bloße Strukturthesen, dass die Tat (Tatbestandserfüllung) immer als Handlung darstellbar sein müsse (so die kausale Lehre) bzw. dass der imputatio juris eine imputatio facti vorauszugehen habe (so Hruschka). Fest steht nur, dass dem normativen Zurechnungsurteil (dem Urteil über den Normverstoß) die Feststellung der Tatsachen vorausgehen muss, die nach dem Inhalt der Norm für diese Frage relevant sind. Diese Feststellung begründet die imputativitas in Pufendorfs Sinn. Dass sie mit Blick auf die Tat aber notwendig schon ein Zurechnungsurteil bedeutet, ist eine unzutreffende Verallgemeinerung: 1. Verbote – Begehungsdelikt Beim vorsätzlichen Begehungsdelikt ist die verbotene Tat eine Handlung und setzt deshalb ein Zurechnungsurteil (eine imputatio facti) voraus. Die Berufung auf die Intention ist die einfachste Art der Legitimation eines Zurechnungsurteils.

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Schon weil der Handelnde den objektiven Handlungstatbestand wollte, kann ihm dieser zugerechnet werden. Fehlt es aber wie beim fahrlässigen Begehungsdelikt an dieser Voraussetzung, kann die Zurechnung erst durch normative Ersatzannahmen begründet werden. Diese Zurechnung ist dann nur normativ und stützt sich darauf, dass bei Beachtung des gesamten rechtlichen Handlungsprogramms die Verwirklichung des objektiven Tatbestands einer verbotenen Handlung vermeidbar war. Wenn eine intentionsbedingt zurechenbare Handlung gegeben ist, sind schon wichtige Zurechnungsvoraussetzungen im Hinblick auf die Vermeidbarkeit des Normverstoßes festgestellt. Aber es ist durchaus möglich, auch diese nicht als Voraussetzungen einer imputatio facti, sondern erst der imputatio juris zu konstruieren.77 Wenn man aber mit Hruschka eine intentionsbegründete Zurechnung annimmt – und dies scheint auch der Standpunkt des Gesetzes zu sein –, kann man für das fahrlässige Begehungsdelikt nicht von demselben Verbot ausgehen wie für das Vorsatzdelikt. Die „außerordentliche“ ist eine nur-normative Zurechnung. Sie beruht auf einem Verbot, das nicht voraussetzt, dass die Verwirklichung des Verbotsgegenstands eine zurechenbare Handlung ist. 2. Gebote – Unterlassungsdelikt Das Konzept der imputatio facti ist auch nicht auf das Unterlassungsdelikt, also die Gebotsmissachtung übertragbar. Bei diesem Deliktstyp ist es nicht möglich, für Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschiedliche Gebotsinhalte anzunehmen. Der vorsätzlich Unterlassende missachtet das gleiche Gebot wie der fahrlässig Unterlassende.78 Eine Gebotsmissachtung kann unabhängig von der Intention und sogar der situativen Möglichkeit der Gebotserfüllung festgestellt werden.79 Erst die rechtliche Erwartung einer Handlung und die auf ihr beruhende imputatio juris konstituiert die Unterlassung im Sinn einer Handlung und kann dabei unter bestimmten normativen Zusatzannahmen das Fehlen der Möglichkeit überbrücken, die unterlassene Handlung in der Situation vorzunehmen.80

77  So etwa in Kindhäusers Normenkonzept. Ebenso Mañalich, CRIMINT, Sonderheft Juli 2018, S. 22, 24 f. 78  Hierauf beruht das Beispiel von Kindhäuser, Günther Jakobs und Hans Welzel, in: Strafrecht und Gesellschaft, 2019, S. 155, 174 ff. Dieses Beispiel widerlegt Welzels Position für das Begehungsdelikt daher nicht. 79  Hruschka, FS Bockelmann, 1979, S. 421, 422 f.; Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, 2010, S. 36 ff., 58 f., 155 ff. 80  Ast, Handlung und Zurechnung, 2019, S. 193 ff.

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3. Erlaubnisse – Rechtfertigungsgründe Schließlich ist es auch nicht ausgemacht, dass Erlaubnisse ebenso zu behandeln sind wie Handlungsverbote. Gleichgültig, wie man sich zur Frage des subjektiven Rechtfertigungselements und des Erlaubnistatumstandsirrtums verhält, genügt zur Begründung der jeweiligen Position nicht eine entsprechende Strukturbehauptung. So hat das Vorhandensein oder Fehlen von rechtfertigenden Umständen nach geltendem Recht mit der Konstitution der Tat nichts zu tun.81 Deshalb ist die fehlende Rechtfertigung nicht dem Tatbestand zuzuordnen, sondern als Rechtswidrigkeitsvoraussetzung aufzufassen. Diese Voraussetzung unterliegt daher auch nicht dem Erfordernis der imputatio facti, das seinerseits aus der Zurechnung als Handlung (Tat) folgt. Daraus ergibt sich, dass aus dem Erfordernis der imputatio facti weder abzuleiten ist, dass ein subjektives Rechtfertigungselement erforderlich ist noch, dass ein gegebenes subjektives Rechtfertigungselement die imputatio facti ausschließt.82 Es ist auch nicht logisch widersprüchlich, Verbote auf intentional zugerechnete Handlungen zu beziehen, Erlaubnisse aber objektiv zu erlassen oder zu interpretieren. Wie die Normen zu verstehen sind, muss vielmehr aus den Zwecken und Legitimationserfordernissen der Normierung begründet werden. Die Analyse der Strukturen der Zurechnung darf nicht in einen formalen Schematismus führen, sondern muss für normativ relevante Differenzen sensibel sein. Sie muss deswegen auch die teleologische Ebene der Normierung reflektieren. Das verhilft sowohl zu vertiefter wissenschaftlicher Erkenntnis als auch zur besser begründeten Lösung von praktischen Regelungsproblemen. Summary The concept of action is a crucial point in a system of criminal law. Hruschka defines action as the result of an imputatio facti. The statement of imputation is justified if a person applies a rule both from the person´s own standpoint and from the standpoint of the person who states it. The rules which are most important indicate how to achieve certain results (purposes). A specific rule defines a specific kind of action. Therefore, this kind of action is not defined by the result being achieved. – This essay shows and criticizes the theoretical and practical implications which Hruschka´s concept presents for the understanding of attempt and intention. Moreover, Hruschka also applies the concept of imputatio facti on negligence and on the concept of justification. This is based on the fallacy of misplaced generalization: The negligent causing of harm is an action only per imputatio juris.   Vgl. die Darstellung der Begrifflichkeit des StGB unter (III.).   Diesen Begründungsversuch hat Hruschka immer wieder unternommen, GA 1980, S. 1, 4 ff.; Strafrecht, 2. Aufl. 1988, S. 195 ff.; Rechtstheorie 22 (1991) S. 449, 459 f.; FS Roxin, 2001, S. 441, 448 ff. 81 82

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I. Introduction It is a basic tenet of criminal law that with the exception of strict liability crimes, a conviction requires proof not only that the defendant committed an act1 prohibited by law but also that she or he is culpable – legally culpable – for having done so.2 Actus non facit reum nisi mens sit rea, as the maxim has it, or “an act does not make [a person] guilty, unless the mind be guilty.”3 But what is required for the mind to be guilty? Among criminal law theorists and philosophers of law in the US, of particular interest is the question whether negligence should be enough, i.e., should suffice for criminal liability. Debate on this is shaped by the Model Penal Code.4 Among the Code’s many contributions, its discussion of mens rea has been especially important, and among its contributions on this topic, of particular importance is its resolution of the question whether 1  Two clarifications: first, the requirement is that there be a voluntary act. (An action done under duress counts; an action done under hypnosis does not.) Second, ‘committed an act’ is understood to include omissions. The act requirement is thus satisfied by a failure to do something that one was legally required to do, for example, file a tax return. See Joshua Dressler, Understanding Criminal Law, 7th ed., Lexis-Nexis (2015) and Herbert Wechsler, “On Culpability and Crime: The Treatment of Mens Rea in the Model Penal Code,” The Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 339, Crime and the American Penal System (Jan. 1962), pp. 24 – 41. Wechsler was one of the main authors of the Model Penal Code and its Chief Reporter [Paul H. Robinson and Markus D. Dubber, “The American Model Penal Code: A Brief Overview,” New Criminal Law Review 10 (2007): 319 – 341; p. 322]. 2  Exceptions are strict liability crimes: for these, there is no mens rea requirement. 3  Dressler, op. cit. (fn. 1), p. 117. 4  The Model Penal Code is, as the name suggests, a model that was drawn up over a period of several years by judges and legal scholars, codified in the 1960’s, and revisited periodically. It does not have legal standing, but it is looked to by legislators as they revise their statutes. Legal scholars rely heavily on the Model Penal Code, especially for the part on culpability levels. For a sense of the importance of this part of the MPC (and for a critique and reflections about possible revisions), see Kenneth W. Simons, “Should the Model Penal Code’s Mens Rea Provisions Be Amended?“, Ohio State Journal of Criminal Law 1 (2003): 179 – 205. For a very useful historical discussion, see Paul H. Robinson, “A Brief History of Culpability Distinctions in Criminal Law,” Hastings Law Journal 31 (1979 – 80): 815 – 853. Wechsler provides a very helpful overview of the MPC project, with particular attention to mens rea issues, in “On Culpability and Crime: The Treatment of Mens Rea in the Model Penal Code” (cited above fn. 1). Also helpful is Robinson and Dubber (cited above fn. 1).

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recklessness requires awareness of the risk that one is creating.5 This question has been a vexing one in common law, and the MPC framers helpfully settled it by (a) saying that recklessness does require awareness of the risk, while (b) allowing a separate mens rea level of negligence, for which awareness of the risk was not required. Helpfully settled it? That’s what I said. But not everyone agrees that there should be this separate mens rea level of negligence, and thus they think that (b) was a mistake. In the view of critics, recklessness should be the lowest culpability level.6 In this paper I address some – by no means all – of the worries about allowing negligence to suffice for criminal liability.7 Since ‘negligence’ can mean many things, it is important to have a definition of the term before us. I’ll be relying on the MPC definition, quoted below, and will contrast it to its near neighbor, recklessness. Before I present the definitions, more needs to be said about the mens rea requirement in Anglo-American law, and especially as articulated in the MPC. I will not try to line this up with comparable notions in German criminal law, as I lack the expertise to do so, but those interested in comparing it to German law might want to consult an excellent article by someone who does have the expertise, Tatjana Hörnle, “Social Expectations in the Criminal Law: The ‘Reasonable Person’ in a Comparative Perspective.“8 5  This has been a pressing issue in the United Kingdom, as well. For a time, “Caldwell recklessness” (which did not require awareness of risk) replaced “Cunningham recklessness” (which does). For discussion, see Findlay Stark, Culpable Carelessness (Cambridge University Press, 2016), and Kumaralingam Amirthalingam, “Caldwell Recklessness is Dead; Long Live Mens Rea’s Fecklessness,” The Modern Law Review 67:3 (2004): 491 – 500. 6  Some readers may balk at this talk of a “lower” or “higher” level of culpability. I’m told it is alien to UK discussions. But it is common – indeed standard – among US scholars in law and philosophy working on the topic of mens rea (and likewise in US law school courses) to speak in terms of a ‘higher’ and ‘lower’ level. [See for example Kenneth W. Simons, “Dimensions of Negligence in Criminal and Tort Law,” Theoretical Inquiries in Law 3 (July 2002).] Moreover, the MPC list is not simply a list of four options; they form a hierarchy. See below, paragraph to which note 14 is appended. 7  I’ll do so not by directly addressing objections as presented in the literature; that would involve a good bit of disentangling, more than there is room for in this essay. Instead, I’ll motivate and discuss what I find the most compelling grounds for doubt about negligence sufficing for criminal liability. For the debate in the literature, see inter alia Larry Alexander and Kimberly Kessler Ferzan (with Stephen Morse), Crime and Culpability: A Theory of Criminal Law (Cambridge University Press, 2009); David Dolinko, “Review of Crime and Culpability: A Theory of Criminal Law,” Criminal Law and Philosophy 6:2 (2012): 93 – 102; and Alexander and Ferzan, “Iconoclasts? Who, Us? A Reply to David Dolinko,” Criminal Law and Philosophy 6:4 (2012): 281 – 287. See also A. P. Simester, “Can Negligence Be Culpable?” in Oxford Essays in Jurisprudence, ed. Jeremy Horder, 4th series (OUP, 2000): 86 – 106; Kenneth W. Simons, “When Is Negligent Inadvertence Culpable? Introduction to Symposium, Negligence in Criminal Law and Morality,” and the other papers in that symposium, Criminal Law and Philosophy 5:2 (2011); and Garrath Williams, “Taking Responsibility for Negligence and Non-Negligence,” forthcoming in Criminal Law and Philosophy.

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II. Mens rea or Culpability Levels: What’s the Point? In earlier eras, legal culpability in Anglo-American law was linked to having a “wicked mind,” and the term ‘mens rea’ captured that notion. In the modern era there has been an effort not to predicate criminal liability on a wicked mind (or anything else that smacks of an overall character assessment) but instead on some “mental element“9 that shows the person to be at fault for the action. Thus, having a “guilty mind” does not mean that one has a bad character. One can have the mens rea for the prohibited action one committed without having a bad character, and that one has a bad character does not show (and is essentially treated in criminal law as irrelevant to showing) that one has the mens rea.10 As noted above, the key idea of the mens rea requirement is that it is not enough that the defendant (hereafter, D) performed the prohibited action. For there has to be a mental component to D’s so acting, in virtue of which D is legally culpable (barring an affirmative defense). That mental component pertains to the particular prohibited action.11 Thus, the modern notion pegs culpability to the particular crime with which the person is charged.12 If I set out to steal X and in the course of so doing, inadvertently cause a fire – as happened in a case where a sailor lit a match to find the rum he sought to steal – I may be guilty of attempted theft but not arson (since I did not set out to start a fire).13 Doing A on purpose and in the course of doing A, causing B, does not entail that I did B on purpose. 8  New Criminal Law Review, Vol. 11:1 (2008), pp. 1 – 32. See also Jan C. Joerden, „Zur Differenz zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit,“ in Yener Ünver, Jan C. Joerden, Andrzej J.  Szwarc, Keiichi Yamanaka (Hrsg.), Probleme des Allgemeinen Teils des Strafrechts aus rechts­vergleichender Perspektive, Seҫkin Yayincilik, A.S., Ankara (2015): 43 – 51. 9  Often the term ‘mental state’ is used. I think that misleading, for reasons I explain in my “Negligence, Mens Rea, and What We Want the Element of Mens Rea to Provide,” forthcoming in Criminal Law and Philosophy. 10  In the US, rules of evidence prohibit offering character evidence against a defendant to show that the defendant acted in accordance with a particular trait, with the exception that one may do so to rebut a claim presented by the defendant that he or she has (or lacks) a particular character trait. See Rule 4.04. https://www.rulesofevidence.org / article-iv / rule-404/ 11  And to be strictly accurate I should add that it pertains to every material element of the offense. American Law Institute, Model Penal Code and Commentaries, 2.02 (4). This is helpfully explained by Wechsler, op. cit. (fn. 1), p. 28. 12  Felony murder, still on the books in the US and, moreover, very much utilized by prosecutors, can be viewed as an exception. One can be convicted of felony murder if one accidentally causes a death in the course of committing a different felony, e.g. robbery. It is as if the mens rea for robbery transferred over to the act of causing another’s death. In general, the doctrine of transferred intent has been rejected in modern law. 13  Regina v. Faulkner, 13 Cox CC 550 (1877). The wickedness of intending to steal the rum in the ship’s hold was allowed at the trial court level to carry over to the fire that the thief unintentionally created when, to locate the rum, he lit a match, but was not allowed at the appellate level. The conviction for arson was overturned.

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Different crimes call for different culpability specifications: the mens rea requirement for reckless homicide should be that the defendant acted recklessly, but for murder, more has to be required by way of the mens rea than just recklessly causing a death. The Model Penal Code provides four options, and in so doing seeks to capture and render more precise some of the culpability categories in common law (while rejecting the confusing specific intent / general intent classifications).14 The idea of listing these four options is that legislators can then specify which of the four is required for the particular offense (with the option of requiring a different mens rea for one element of an offense than for another element of the same offense).15 The default is recklessness: if no mens rea is indicated, the requirement is satisfied by showing that D acted recklessly. Because they form a hierarchy, the mens rea requirement is satisfied by a higher mens rea, but not by a lower one. Thus, if the mens rea required is negligence, a defendant who acted recklessly would satisfy the requirement, but if the mens rea is recklessness, negligence would not suffice to establish that the mens rea requirement has been met. In the Appendix, I provide the list of all four levels. Here I quote only the definitions of recklessness and negligence, to wit: A person acts recklessly with respect to a material element of an offense when he consciously disregards a substantial and unjustifiable risk that the material element exists or will result from his conduct. The risk must be of such a nature and degree that, considering the nature and purpose of the actor’s conduct and the circumstances known to him, its disregard involves a gross deviation from the standard of conduct that a law-abiding person would observe in the actor’s situation.16 A person acts negligently with respect to a material element of an offence when he should be aware of a substantial and unjustifiable risk that the material element exists or will result from his conduct. The risk must be of such a nature and degree that the actor’s failure to perceive it, considering the nature and purpose of his conduct and the circumstances known to him, involves a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation.17

In the next section, I examine how recklessness and negligence differ. First, a clarification is in order for something I wrote above (in the second paragraph of this section). I said that there has to be a “mental component” to D’s committing A (where A is prohibited), in virtue of which D is legally culpable for A; but I added that D is then legally culpable “barring an affirmative defense.” The reason for the qualification is as follows. The mens rea is necessary for criminal liability. But even if D has the required mens rea, there is the possibility that D has an excuse   For more, see Dressler, Chapter 10, or Robinson, “A Brief History.”   For more on this, see Simons, “Should the Model Penal Code’s Mens Rea Provisions Be Amended?“, op. cit. (fn. 4). 16  American Law Institute, Model Penal Code and Commentaries, 2.02 (2) (c). 17  Ibid., 2.02 (2) (d). 14 15

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(for example, D chose to do the action, but under duress) or a justification (for example, self-defense).18 Thus it may be that D committed the prohibited action, did it on purpose, but is not guilty because D is (for example) severely mentally ill, where D’s illness satisfies the definition of legal insanity and thus suffices for the insanity defense.19

III. Just What is the Difference Between Recklessness and Negligence? Everyone agrees that recklessness should suffice for criminal liability. But allowing negligence to so qualify is controversial. Before considering what makes it controversial, we need to take a closer look at how recklessness and negligence differ. This much is evident: recklessness requires actual awareness of the risk; negligence does not (though as I explain momentarily, there is more to the difference than that).20 But some things are not clear.21 1. Why does the definition of ‘negligence’ employ the term ‘reasonable person’ while the definition of ‘recklessness’ employs the term ‘law-abiding person’? 2. Does recklessness require that one have been aware of a risk which, as it happens, was substantial and unjustifiable? Or does it require more than that, namely, that one have been aware that the risk is substantial and unjustifiable? My answer to #1 is that we don’t know. Nothing in the Comments provided by the framers suggests a reason for the choice of ‘law-abiding’ (or for this particular 18  What is the difference between a justification and an excuse? This is a contested matter. For an exchange between Joachim Hruschka and me on the subject, see my “Justifications and Excuses,” Ohio State Journal of Criminal Law 2 (Spring 2005): 387 – 413 and his reply, “Justifications and Excuses: A Systematic Approach,” published in the same OSJCL issue. I further explore the topic in my “(Putative) Justification,” Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005): 377 – 394, a Festschrift issue for Prof. Hruschka. 19  This is nicely explained by Gideon Yaffe in his Amicus Brief in support of Appellant, James K. Kahler, in James K. Kahler v. State of Kansas, No. 18 – 6135, to be heard by the US Supreme Court. 20  However, it is a mistake to say, as scholars writing on the subject often do, that if the defendant is not aware, “he is negligent as long as he should have been aware, that is, if a reasonable person in his situation would have been aware of the risk” [quoting from Douglas N. Husak, “Negligence, Belief, Blame, and Criminal Liability: The Special Case of Forgetting,” Criminal Law and Philosophy 5:2 (June 2011): 207, emphasis his]. It takes more than this to count as negligent, on the MPC definition. See Sect. IV, below. 21  More than this is unclear, but for present purposes it suffices to mention these two. I explore other puzzles about just what the difference is in a work in progress, “Negligence and Recklessness: Clarifying the Difference and Clearing Away the Dust” (tentative title). For a paper that takes the distinction to be even more unclear (in fact, far more unclear) than I take it to be, see Husak, op. cit. (fn. 20).

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disparity between the definitions of negligence and negligence). All signs – and almost all scholarly opinions I have read or heard 22 – are that the disparity, unlikely though this seems, is a fluke.23 I will so treat it, and will speak solely in terms of the reasonable person, not the law-abiding person. What about #2? Doug Husak offers the following answer: While “no clear answer emerges from positive law,” it is plausible to suppose that the defendant “must be aware of a risk, aware that it is substantial, and also aware of the facts that make it unjustifiable” and nonetheless reach “a different normative conclusion about its justifiability.“24 But is it plausible to think it compatible with doing X recklessly that one reached “a different normative conclusion about its justifiability“? It may seem so at first, but not once we remember that recklessness is defined not simply in terms of awareness of a risk, but in terms of consciously disregarding the risk. If I came to a different normative conclusion about its justifiability, what did I consciously disregard? Not the risk, and not that it is substantial, and obviously not that it is unjustifiable. I didn’t disregard the risk. I attended to it, but decided it was justifiable. If I came to the conclusion that it was justifiable, that settles it: there is nothing for me to consciously disregard. I judged that it was not wrong to take the risk. Thus, if I reach the conclusion that it is justifiable to take the risk, I do not count, on the MPC definition of recklessness, as acting recklessly.25 So how should we understand what, according to the MPC, it is to act recklessly? Although I don’t think that what Husak describes can count as acting recklessly, I also don’t think recklessness has to involve an awareness that the risk is not justifiable. It can involve it: if one is aware that the risk is not justifiable and decides to go ahead anyway – thus consciously disregarding the risk, despite seeing it not to be justifiable – that certainly counts as acting recklessly. But the MPC definition 22  The one exception is George Fletcher, who without asserting that the shift in terminology was deliberate, offers the following suggestion: “If there is a reason for this shift, it is that the culpability of disregarding a risk derives from a conscious departure from a level of legally permissible risk-taking. In contrast, the culpability of failing to perceive the risk derives not from the choice to violate a legal imperative, but from the failure to meet reasonable standards of attentiveness” [Rethinking Criminal Law (New York: Oxford University Press, 2000), p. 262. Originally published in 1978 (Boston: Little, Brown)]. 23 See Kenneth W. Simons, “Should the Model Penal Code’s Mens Rea Provisions Be Amended?” esp. note 24, and the Model Penal Code Commentaries, 2.02, p. 242, note 27, indicating that the standard of recklessness “requires the same discriminations demanded by the standard of negligence.” See also Simons, “When is Negligence Inadvertence Culpable?“, op. cit. (fn. 7). 24  Husak, op. cit. (fn. 21), p. 208. 25  This is the case anyway if I reach that conclusion honestly. If, like the ship-owner in Clifford’s “The Ethics of Belief” (W. K. Clifford, The Ethics of Belief and Other Essays, 1999), I talk myself into believing that the horrendous risk is in fact justifiable, there might be room for saying I acted recklessly. Maybe, depending on how the process of talking oneself into believing X (how the process of self-deception, in that form) is to be understood. But I believe it is more in keeping with the MPC definitions to classify it as negligent than as reckless.

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of acting recklessly presumably also encompasses cases where one sees it to be a substantial risk and consciously disregards it, not judging either ‘It’s justifiable to go ahead’ or ‘It is not justifiable to go ahead’ but aware (even if not focusing on the possibility) that it may not be justifiable. Thus, although acting recklessly does not require that one see the risk to be unjustifiable, it does involve some sense that it is not, or may well not be, justifiable. For if one thinks the risk is justifiable, there is nothing for one to consciously disregard. The key difference between recklessness and negligence is that the reckless agent is aware of the risk but consciously disregards it – decides to go ahead anyway – whereas the negligent agent is not aware of the risk or is not aware of how serious it is (or is aware of it but thinks it justifiable), where this constitutes a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the situation. I’ll henceforth ignore the possibility noted parenthetically, since the focus of the opposition to negligence sufficing for criminal liability is on the paradigmatic case: the negligent agent is not aware of the risk, or not aware of just how serious it is. IV. Can a Failure to be Aware of a Risk Really Suffice for Criminal Liability? Part 1 Although some opposition to allowing negligence to suffice for criminal liability is based on a theoretical commitment – in particular to the position that culpability requires choice26 – the more compelling basis for opposition is, I believe, that negligence has an air of innocence about it. It just doesn’t seem blameworthy in the way that setting out to harm another or recklessly doing X does. The result may be terrible, but the element on which culpability hinges – the alleged mens rea – seems not to be such as to warrant deeming the person who caused the catastrophic result guilty. The person is, one might say, to blame for what happened, but not blameworthy, in cases of negligence; and this is the case because the mental component lacks sufficiently bad-making features to constitute a “guilty mind.“ Attention is often drawn to State v. Williams,27 a 1971 case from (the state of) Washington. The defendants, whose seventeen-month-old child died after his abscessed tooth became infected, causing gangrene, were convicted of involuntary manslaughter because of their failure to seek medical treatment for him; on appeal, the conviction was upheld. The trial court found that the defendants “possessed a great deal of love and affection” for the child, but did not realize how ill he was.28 A complicating factor was that they feared that taking the child to the doctor would lead to the Welfare Department (permanently) removing the child from them, a  See Alexander and Ferzan, Crime and Culpability, op. cit. (fn. 7).   State v Williams, 4 Wn.App 908, P2d 1167 (Wash. Ct. App. 1971). 28  Ibid., p. 910. 26 27

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fear that was probably well-grounded given the practice, at the time, of removing children from Native American parents for circumstances that would not lead them to remove children from European-American parents.29 To those who, like me, find it disturbing that the convictions were upheld, it can initially seem that the problem lies with allowing negligence to suffice for criminal liability. “Okay,” one might say, “it probably is true that a reasonable person would have realized that the child was so ill that taking him to the doctor was clearly called for, and recognizing that, would also have seen that the risk that the child would be removed from them paled in significance to the risk that he would die; but these people did not realize that. They were to all intents and purposes doing their best. They loved the child. They just got it wrong: they didn’t realize how ill he was. Should they be convicted (and punished) for not realizing what they should have realized?” A closer look at the case shows that the problem does not lie with allowing negligence to suffice for criminal liability, unless negligence is understood as “simple” or “ordinary” rather than, as in the MPC, as “gross” negligence. In keeping with the Washington statutes in place at the time, the standard applied in State v. Williams was the former, not the latter. The crime of manslaughter was “deemed committed even though the death of the victim” was “the proximate result of only simple or ordinary negligence” (emphasis mine).30 If “the conduct of a defendant, regardless of his ignorance, good intentions and good faith, fails to measure up to the conduct required of a man of reasonable prudence, he is guilty of ordinary negligence because of his failure to use ‘ordinary caution’.”31 The contrast between this standard and that called for by the MPC definition of negligence is striking. On the standard applied in State v. Williams, one counts as acting negligently if one simply fails to measure up to the conduct required of a “man of reasonable prudence.” By contrast the MPC makes it clear that the mens rea requirement is not met unless the deviation from the standard of care that a reasonable person would observe is a gross deviation. Likewise, the objection, articulated above, that if negligence suffices for criminal liability, one is deemed criminally liable simply for not having realized what one should have realized – for not having been aware of X when a reasonable person in the actor’s situation would have been aware of X – has no purchase if we are talk29  An article discussing another case, State v. Wanrow, 88 Wash. 2d 231 (1977), notes that it was “not unusual during this period for Native American children to be removed from their homes by child protection authorities and placed in foster care or adoptive homes” and adds that in some states, between 25 % and 35 % of Native American children were removed at some point during their childhood. Donna Coker and Lindsay C. Harrison, “The Story of Wanrow: The Reasonable Woman and the Law of Self-Defense,” in Donna Coker and Robert Weisberg (eds.), Criminal Law Stories (Foundation Press, 2013). 30  State v Williams, p. 913. The law was subsequently revised. It’s worth noting that the Washington statutes in force at the time were at odds with common law, which required gross negligence. 31  Ibid., p. 913.

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ing about negligence as defined in the MPC. The Model Penal Code requires for criminal liability not only that the defendant should have been aware of the risk, but also that the risk be “of such a nature and degree that the actor’s failure to perceive it, considering the nature and purpose of his conduct and the circumstances known to him, involves a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation.” Thus deeming negligence to suffice for criminal liability is not equivalent to deeming not realizing what one should have realized to suffice for criminal liability. There is more to negligence (as defined by the MPC, and as generally understood in the criminal law, in the US) than merely that. Whereas it is easy to see why a court, relying on a simple (or “ordinary“) negligence standard, would have found the parents guilty of manslaughter and why an appellate court would have let the conviction stand, a guilty verdict would have been far less likely were the standard that of negligence as defined by the MPC. Did the defendants‘ conduct involve a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in their situation? Not in my estimation. It can, after all, be hard to know whether to take a child to the doctor in the many circumstances where it is not clear to the layperson whether medical attention is required, and numerous considerations enter into the decision. There is the expense, the difficulty (for some) of getting to the clinic, the fact that if medical attention is not required, it is better for the child to stay home and rest (and not be exposed, when her resistance is low, to the contagious illnesses of other patients), and, in the case of some marginalized groups, the risk that the child will be taken from the parents and placed in a foster home. In addition, there is sometimes reason to think that the condition will be easier to diagnose in a few days, and thus that it is better to postpone going to the doctor.32 A range of judgments as to the need to take a child to the doctor is compatible with conducting oneself as a reasonable person, and although the judgment of the defendants in State v Williams lies outside that range, it does not, I believe, amount to a gross deviation. This is all the clearer when we take into account their reasonable fear (reasonable given both the egregious practices at that time and the fact that they didn’t think the child was dangerously ill) that the authorities would remove the child from his home and place him with foster parents.

32  Many of us have had the experience, with ourselves or our children, of being told by the doctor that the ailment isn’t X and that it will go away on its own and then a week later, after a struggle to get another appointment with the doctor, learning from the doctor that in fact one does have X.

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V. Can a Failure to be Aware of a Risk Really Suffice for Criminal Liability? Part 2 The verdict and appellate ruling in State v. Williams throws into relief the importance of setting the bar fairly low for purposes of criminal law. Either we must take care to construe the reasonable person standard in the criminal law as not equivalent to a reasonable person standard for tort law and set the bar for reasonableness lower, or, as the Model Penal Code does, we need to require a “gross deviation” from the standard of care that a reasonable person would observe.33 Reasonable person standards are sometimes judged ipso facto problematic because it is supposed that the bar is a high one.34 Sometimes, as in State v Williams (and the relevant Washington statutes in force at the time), the bar is set too high. But that this sometimes happens should not be viewed as a reason not to employ a reasonable person standard, or not to allow negligence to suffice for criminal liability. Instead, it calls for getting the reasonable person standard, and the construal of negligence, right. That said, the case also throws into relief what is troubling about negligence sufficing for criminal liability. The challenge posed above can be refined, in recognition of the gap between the MPC definition and the standard in Williams, as follows: Should a failure to notice or be aware of a risk or to recognize the seriousness of a risk, where the failure amounts to a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation, suffice for criminal liability? Even, the critic might add, if the defendant was doing his best? And even if it in no way reflects culpable indifference? To be sure, failures to meet a reasonable person standard generally do show a lack of concern for the well-being of others. If I don’t notice the risks that I am unjustifiably imposing on others, this usually means that I don’t really care.35 And yet there are cases where a failure to see what one should see may not reflect a lack of care.36 33  Or so it seems from my perspective. Tatjana Hörnle explains in “Social Expectations in the Criminal Law: The ‘Reasonable Person’ in a Comparative Perspective”, op. cit. (fn. 8), that German law does not distinguish between negligence in criminal law and negligence in tort law, and does not require that the deviation from the reasonable person be gross. 34  See for example B. Sharon Byrd, “On Getting the Reasonable Person out of the Courtroom,” Ohio State Journal of Criminal Law 2 (2005): 571 – 577. I discuss this objection to the reasonable person standard in “The Standard of the Reasonable Person in the Criminal Law,” Structures of Criminal Law, edited by R. A. Duff, L. Farmer, S. E. Marshall, M. Renzo, and V. Tadros (Oxford University Press, 2012), pp. 11 – 35. I am grateful to Oxford University Press for permission to utilize some paragraphs of the earlier paper in this paper. 35 See in particular R.A. Duff, Intention, Agency, and Criminal Liability (Oxford: Basil Blackwell, 1990), esp. Ch. 7. 36  One might note as well that there are also cases where the failure to care enough is not something for which the agent deserves blame. See Gideon Rosen’s discussion in his “Kleinbart the Oblivious and Other Tales of Ignorance and Responsibility,” The Journal of Philosophy 105 (October 2008), pp. 591 – 610.

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The first worry – that it seems highly problematic to punish someone for causing a serious harm if he was doing his best and somehow failed to notice the risk – is partially addressed by seeing to it that the bar is low. But as H.L.A. Hart wrote, “even if the standard of care is pitched very low so that individuals are held liable only if they fail to take very elementary precautions against harm, there will still be some unfortunate individuals who … could not attain even this low standard.”37 And, the thought continues, it is wrong to hold a person criminally liable for failing to meet a standard that he or she is unable to meet (particularly, though perhaps not only,38 if the person is in no way culpable for being unable to meet it). Some might conclude from this that a reasonable person standard should not be utilized. They might propose instead a standard along the lines of ‘reasonable for a person who has great difficulty …’ Others might claim that a reasonable person standard need not be rejected, as long as we include as part of “the actor’s situation” such facts about the defendant as that he is on the autism spectrum, or has Down’s Syndrome, or suffers, as a survivor of a violent crime, from Post-Traumatic Stress Disorder (in the event that the condition would explain the particular failure).39 Hart offers a different solution. Acceptance of a reasonable person standard does not require that we either allow the “situation” to include the personal qualities of the defendant’s that betoken a diminished capacity or hold criminally liable for failing to meet the standard those who were incapable of meeting it. Neither of these options is acceptable. The first bends too much to individual difference to be an objective standard, and the second would be manifestly unjust. But there is an alternative to both (and to giving up on a reasonable person standard), which emerges from the following consideration. Hart writes: [W]hen negligence is made criminally punishable, this…leaves open the question: whether, before we punish, both or only the first of the following two questions must be answered affirmatively: (i) Did the accused fail to take those precautions which any reasonable man with normal capacities would in the circumstances have taken? (ii) Could the accused, given his mental and physical capacities, have taken those precautions?40

37  H.L.A. Hart, “Negligence, Mens Rea, and Criminal Responsibility,” in Punishment and Responsibility (Oxford, 1968), p. 154. 38  If, due to reckless habits (drag car racing, perhaps, or biking at high speeds without a helmet), I sustain a brain injury that renders me no longer able to size up a situation and recognize the risks I am imposing on others, it is not clear what significance the fact that I am culpable for the diminution in my mental capacities should have. 39  Alternatively, one might urge adoption of the standard that was proposed but rejected in a famous civil case, Vaughan v Menlove: “whether the Defendant had acted honestly and bôna fide to the best of his own judgment” [(1837) 3 Bing NC 468, 132 ER 490, 474]. To that the Court responded that it “would leave so vague a line as to afford no rule at all, the degree of judgment belonging to each individual being infinitely various” (475).

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Hart agrees with those who oppose criminal liability for negligence that it would be wrong to hold that only the first question has to be answered affirmatively. But holding that negligence can suffice for criminal liability does not require that we do so. Instead, keep (i) and (ii) as distinct questions; answer (i) without attention to (ii), and then if the answer to (i) is affirmative, we move to (ii).41 We handle the problem – the worry that there will be some who fail to meet the standard despite doing their best – by recognizing excuses, not by altering (i) by building into “the circumstances” that the man is mentally ill, or by qualifying the term ‘man’ by the term ‘mentally ill’ and asking whether the accused failed to take those precautions which any reasonable mentally ill man would in the circumstances have taken.42 To recap: State v Williams need not give us serious pause about allowing negligence as defined by the MPC to suffice for criminal liability for in that case, ordinary negligence (for which the bar is considerably lower) rather than “gross” negligence was treated as sufficient. But reflection on it leads to the worry that in other cases, someone who was doing their best might nonetheless fail to notice the danger they are imposing on another, where that failure involves a gross deviation from the standard of care that a reasonable person in their situation would observe. Hart articulates and addresses this worry by pointing out that allowing negligence to suffice for criminal liability is quite compatible with recognizing excusing conditions. Someone for whom the answer to (i) is affirmative but the answer to (ii) is negative would be off the hook. VI. Can a Failure to be Aware of a Risk Really Suffice for Criminal Liability? Part 3 How far have we come in addressing the worry that if negligence suffices for criminal liability, someone may be found criminally liable who was doing his or her best? We’re taken some distance by the fact that on the MPC definition, some deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation is allowed before his or her conduct counts as negligent. If one’s failure to perceive the risk does involve a gross deviation from that standard despite doing one’s best (or even something close to one’s best), then, depending on just how (ii) is to be understood, the answer to (ii) would generally be negative (unless one’s conduct involves culpable indifference), and thus an excusing condition would apply. I say it would “generally be negative“; but this is the case only if ‘could have taken’ in (ii) is not given a narrow reading. Just how wide or narrow a reading is called for is not entirely clear, but this much should be beyond dispute: Hart does not 40 Hart, op. cit., (fn. 37), p. 154. At the time that Hart wrote, the standard was framed as a ‘reasonable man’ standard; happily, it is now framed as a reasonable person standard. 41 Cf. Hörnle, op. cit. (fn. 8), pp. 8 and 16. 42  The preceding two paragraphs partially overlap with my “Standard of the Reasonable Person,” op. cit. (fn. 34).

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intend (ii) to be understood as entailing that only if it is impossible for the person to so act would (ii) be answered in the negative. This is clear from his statement that “What is crucial is that those whom we punish should have had, when they acted, the normal capacities, physical and mental, for doing what the law requires and abstaining from what it forbids, and a fair opportunity to exercise these capacities” (emphasis mine).43 Those for whom it would be extremely difficult to do X because they lack the normal capacities are not to be punished, on Hart’s view, for having failed to do X. For them, the answer to (ii) is negative. As long as (ii) is answered in the negative, the person deemed to have acted negligently meets an excusing condition and thus (if it is a full rather than a partial excuse) is not convicted and punished. I wrote above that in cases where one was doing one’s best (or close to one’s best) and is not culpably indifferent yet one’s action meets (i) and thus counts as negligent, the answer to (ii) will generally be negative. But... how generally? If there are enough exceptions, the objection is not fully met. The objection is met insofar as the worry is only that one might have failed to be aware of a risk because of a condition one has that significantly reduces one’s ability to recognize and process indications that one is endangering others; in that case, an excusing condition should apply. But, it will be urged, what if there is no particular condition that can be pointed to, and one simply failed to see what one should have seen? In that case, it is by no means clear that the answer to (ii) will be negative. Indeed it seems that it would not be. Thus, even if it is granted that ‘could have taken’ in (ii) should not be understood in the narrow way indicated above, an objection remains because the answer to (ii) may be ‘Yes’ in cases where one did one’s best yet acted negligently. This is a problem because it means that one may be punishable for having done X negligently despite having done one’s best (and despite not being culpably indifferent), as long as one’s best is pretty bad. How serious is this objection? There is plenty of room for disagreement here, and one source of disagreement concerns whether it really happens that one just doesn’t see what one should see despite having tried one’s best.44 My view is that when we are talking about gross deviation from the standard of care that a reasonable person would have observed, it doesn’t happen that one “just doesn’t see” what one should see.45 There has to be an explanation. And then the issue is how that explanation   Hart, op. cit. (fn. 37), p. 152.   Another source of disagreement is how seriously bad it is if someone is punishable for X despite having tried their best. It might be pointed out that this sometimes (maybe often) also happens when the crime is done with a mens rea level higher than negligence. (Think of property crimes committed by drug addicts to get the money they need for their habit, in cases where they try mightily to fight their habit.) Whether it is especially common in cases of negligent conduct is up for debate. 45  My view contrasts with that of Gideon Rosen. See Rosen, op. cit. (fn. 36), especially p. 606. 43 44

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should factor in: should it constitute an excuse, partial or full? Should it be a mitigating factor? Should it (either in addition to or instead of either possibility just named) lead to taking a different response to the calamity? Sometimes the explanation is that one is seriously sleep-deprived; sometimes it is that one has taken on responsibilities without being equipped for them, where one should realize one is ill-equipped. Sometimes it is that one is assigned a task that should not have been assigned to one, and one is given virtually no say in the matter. These matters come to the fore in a 1995 English case, R v Adomako.46 An anaesthetist, John Adomako was convicted of involuntary manslaughter after failing to notice that the tube carrying oxygen from the ventilator to his patient during surgery had become disconnected, and that the patient, Alan Loveland, had ceased to breathe and was turning blue. Adomako did attend to the alarm emanating from a machine monitoring Loveland’s blood pressure, an alarm that went off about four minutes after the tube from the ventilator became disconnected. He checked the machine to try to ascertain whether it was malfunctioning, and administered a drug to raise the patient’s blood pressure. But he somehow did not notice that his patient was not breathing and was turning blue. Nor did he notice the disconnection. By the time this was noticed, it was too late; the 33-year-old Loveland was resuscitated but suffered irreversible brain damage from which he died some six months later.47 Without further information than I’ve provided so far, the facts of the case are utterly baffling. And although the information I am about to add offers something of an explanation, it still is hard to fathom how an anaesthetist could have failed to look at his patient for so many minutes. The factors that provide something of an explanation are as follows: Adomako was not originally assigned to this surgery; another anaesthetist was, but during the surgery was called away along with his assistant to a different operation (an emergency C-section) requiring special expertise. Adomako was thus called in to take over in a surgery that had already begun. An assistant was also called in but showed up only much later. In addition, Adomako had at the time only four hours of sleep. The hospital personnel where he worked knew that he worked as locum anaesthetist at other hospitals as well; he was working seven days per week. And there is more. It was later acknowledged that given his background and skill level, Adomako should not have been assigned to this surgery (even setting aside his state of exhaustion at the time and the fact that the surgery was already underway).48 46  [1995] 1 AC 171. I limit my discussion to the facts of the case. The legal reasoning, interesting though it is, is not germane to my discussion, because the British approach to negligence is quite different from the issue I am addressing, namely, whether negligence, as defined in the MPC, should suffice for criminal liability. 47  D. Brahams, “Two Locum Anaesthetists Convicted of Involuntary Manslaughter,” Anaesthesia 45, pp. 981 – 982.

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If we are uneasy about Adomako’s conviction of involuntary manslaughter – if we either firmly believe or tentatively think that the (permanent) revocation of his medical license and a lawsuit against both him and the hospital would have been more appropriate – this might lend support to the position that negligence should not suffice for criminal liability, at least not without negligence being defined in such a way that culpable indifference is necessary before one counts as acting negligently. As Victor Tadros emphasizes, there is no evidence that Adomako was lacking in concern for his patient.49 Tadros maintains that because of this, he should not have been convicted.50 This has plausibility. Certainly in all the cases of negligence that seem clearly to warrant conviction and punishment, we see (or think we see) culpable indifference. But if the idea is that negligence should never be allowed to suffice for criminal liability unless the defendant’s action showed culpable indifference, I am wary. I would be especially wary if the prosecution were required to prove culpable indifference. More promising would be to include in the statute (or if we are envisioning a revision of the MPC, the Code) a stipulation that there is a rebuttable presumption that negligence (as currently defined in the MPC) involves culpable indifference; the defendant would then be given the opportunity to argue that he or she was not culpably indifferent. One worries, however, that this puts the emphasis on character, a throwback to the earlier notion of mens rea discussed above.51 One might wonder here if Hart’s approach can handle the Adomako case. Could it be claimed that the answer to Hart’s (ii) is negative, on the grounds that because Adomako lacks the experience and skills, he lacks the “normal capacities ... for doing what the law requires”? I think that would be far too much of a stretch. If an excusing condition applies, it isn’t because of (ii). But as I hinted above, just before the presentation of the Adomako case, another approach merits consideration. If we think Adomako should not have been convicted, the best explanation of why he should not have been convicted is arguably not that he was not culpably indifferent. Instead, it points to all the factors that 48  R v Adomako; Brahams; and Lord Williams and Ann Curnow, “Death under Anaesthetic: The Case of Dr. Adomako,” in Medicine, Science, and the Law 36:3 (1996): 188 – 193. “Death under Anaesthetic” consists of two speeches, by Lord Williams of Mostyn OC and Ann Curnow QC respectively, given at the British Academy of Forensic Sciences Friends’ Dinner held at the Law Society, February 15, 1996. Both speakers were involved in the case, Curnow as a prosecutor, and Williams with the defense. 49  One report did suggest culpable indifference: one doctor claimed to have seen him getting himself a cup of coffee, suggesting that Adomako had left the operating theatre to go to the tea room, leaving the patient under anaesthesia without any anaesthetist present. However, this was not corroborated and those in the operating theatre testified that they never saw him leave during the surgery or reenter. See Lord Williams and Ann Curnow, “Death under Anaesthetic.”, op. cit. (fn. 48). 50  Victor Tadros, Criminal Responsibility (Oxford University Press, 2005), pp. 84 – 85. 51 See Simons, “Should the Model Penal Code’s Mens Rea Provisions Be Amended?“, op. cit. (fn. 4), especially pp. 197 – 198.

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contributed to the disaster: he was called in at the last minute; his experience and skills were not such as to warrant assigning him to this surgery even apart from his lack of sleep; he was employed in this position by people who knew he was working multiple jobs; and (to add a detail not mentioned above), he was hired without obtaining references. The problem thus is not best characterized as “He shouldn’t be convicted because he simply failed to see what he should have seen despite his best efforts, and despite really caring about doing right by this patient” but rather as “The blame for what went wrong seems to be shared by many and yet it’s all being pinned on Adomako.” The avoidance of negligent conduct is, as Garrath Williams emphasizes in a forthcoming paper, a collective task.52 Too often the collective response to negligence, when something goes seriously wrong, is to pin the blame on one individual. Sometimes that is what is called for, but often the problem is equally, and sometimes primarily, a breakdown in our wider infrastructure of non-negligence.53 That Adomako was told to step in and take over in a surgery already underway, especially given how long he had been on duty already and his lack of experience and specialist training, and that he was hired without requesting references because the posts into which he was hired were considered of too short duration to warrant this, suggest a deeply flawed infrastructure of non-negligence. I said earlier that “just didn’t notice” is rarely an apt characterization of what happened in a case where one’s failure to notice involves a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would have observed. The suggestion is that no further explanation is needed; but that is not the case. Some explanation is in order. Maybe it is that he or she just didn’t care; maybe, as in the case of Adomako, it has to do with being assigned to something to which he should not have been assigned (along with other failures, such as hiring him without requesting references). Not that he is an innocent party, but if we are uneasy about Adomako being convicted, I think it is less because we see no (or too little) evidence of culpable indifference and more because we need more information about why the death happened. We need to know to what extent it is due to a breakdown in the “infrastructure of non-negligence” and to what extent to him. ******** The upshot of Section VI is as follows. First, it is true that there may be some cases that Hart’s approach – together with negligence being understood as gross negligence, not “ordinary” negligence – does not adequately handle; it might be that 52  Garrath Williams, “Taking Responsibility for Negligence and Non-Negligence,” forthcoming in Criminal Law and Philosophy, p. 1. 53  The phrase is courtesy of Garrath Williams.

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one did one’s best and yet lacks the excuse provided by a negative answer to (ii). And one way to address that would be to stipulate that negligence without culpable indifference doesn’t suffice for criminal liability, indicate that there is a rebuttable presumption that negligence as defined by the MPC involves culpable indifference, but allow the defendant to rebut the presumption. However, a different approach, which I am inclined to favor, is to recognize that, as Garrath Williams emphasizes, non-negligence is a collective task, and to be on the lookout for our tendency to pin the blame on one individual (or a few individuals) rather than examining the institutional practices. When something goes badly wrong because someone failed to see something that he or she absolutely should have seen, we need to focus on how that happened. Sometimes that calls for prosecuting the individual (and often for altering the institutional practices, as well); sometimes it does not. Cases such as that of Adomako54 provide a reminder of the need to be cautious about prosecuting in cases of negligence but do not tell against allowing negligence to suffice for criminal liability.55 In instances where the defendant acted negligently (as defined by the MPC), there is bound to be an explanation of the failure to be aware of, or notice, or remember what he absolutely should have noticed or remembered that bears on the question of the defendant’s culpability. It may show him to be more culpable: perhaps he failed to attend lectures in medical school and cheated on exams, or lied about his credentials. It may instead show the fault to lie with others: he was hired to assist in X and then is told to do X on his own, despite a lack of training, and despite his having requested not to. Prosecutorial discretion is called for in cases of the latter sort, along with changes to the institutional practices. VII. Conclusion I began by explaining the idea of mens rea and a particular issue among US legal scholars, namely, whether negligence should suffice for criminal liability; I explained the MPC approach to mens rea, and the difference, as they articulate it, between recklessness and negligence. In the rest of the paper I articulated and motivated a worry about negligence sufficing for criminal liability. In Section IV, I explained why an oft-cited case, State v Williams, does not give us reason to think negligence should not suffice for criminal liability, because the notion of negligence it relied on was ordinary negligence, not gross negligence, and I highlighted the differences between the standard it utilized and that put forward by the MPC. But that doesn’t lay the worry to rest. We can imagine other cases where the defendant counts as acting negligently on the MPC definition yet was trying her best; if the mens rea requirement is good for anything, one might ask, shouldn’t it keep 54  I don’t mean to suggest that Adomako should not have been prosecuted, however. I take no stand on that. 55 Cf. Wechsler, op. cit. (fn. 1), p. 31.

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her from being convicted and punished? She caused (let’s imagine) a serious harm, but isn’t culpable. In Section V, drawing from H.L.A. Hart, I explained that this can be handled by excusing conditions: having the required mens rea is a necessary but not a sufficient condition for criminal liability. Finally, in Section VI, I asked how far this takes us, and present a case that I believe is not handled by Hart’s approach, that of Adomako. If one thinks he should not have been convicted, one might see this to lend support to the position that negligence shouldn’t count, as it does in the MPC, as a culpability level, i.e. that it should never suffice for criminal liability. I draw a different moral: we had better probe hard for an explanation when it is said that someone just “didn’t notice” X in a case where the failure to do so involves a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation, and the explanatory factors we uncover should then lead us to figure out whether prosecution – or if prosecution is needed to find the explanations, whether conviction – is in order. As Garrath Williams emphasizes, often what is needed is first and foremost institutional changes. And while it is often said that we owe it to the victim or the survivors to punish those whose negligence caused the serious harm, Williams observes that “what infuriates people most is generally not a lack of punitive measures” but “the failure to acknowledge and learn from the misfortune they have suffered.” They want to know “that some preventable misfortune won’t happen to anyone else.“56 I hope that although I have certainly not established that the MPC framers were right to count negligence as a culpability level – as suitably meeting the mens rea requirement for some offenses – I have shown that some reasons for doubting that negligence should ever suffice for criminal liability are less weighty than they initially seem. Appendix Model Penal Code: General Requirements of Culpability (2.02) (1) Minimum Requirements of Culpability. Except as provided in Section 2.05, a person is not guilty of an offense unless he acted purposely, knowingly, recklessly or negligently, as the law may require, with respect to each material element of the offense. (2) Kinds of Culpability Defined. (a) Purposely. A person acts purposely with respect to a material element of an offense when: (i) if the element involves the nature of his conduct or a result thereof, it is his conscious object to engage in conduct of that nature or to cause such a result; and (ii) if the element involves the attendant circumstances, he is aware of the existence of such circumstances or he believes or hopes that they exist.   Williams, op. cit. (fn. 52), p. 23.

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(b) Knowingly. A person acts knowingly with respect to a material element of an offense when: (i) if the element involves the nature of his conduct or the attendant circumstances, he is aware that his conduct is of that nature or that such circumstances exist; and (ii) if the element involves a result of his conduct, he is aware that it is practically certain that his conduct will cause such a result. (c) Recklessly. A person acts recklessly with respect to a material element of an offense when he consciously disregards a substantial and unjustifiable risk that the material element exists or will result from his conduct. The risk must be of such a nature and degree that, considering the nature and purpose of the actor’s conduct and the circumstances known to him, its disregard involves a gross deviation from the standard of conduct that a law-abiding person would observe in the actor’s situation. (d) Negligently. A person acts negligently with respect to a material element of an offense when he should be aware of a substantial and unjustifiable risk that the material element exists or will result from his conduct. The risk must be of such a nature and degree that the actor’s failure to perceive it, considering the nature and purpose of his conduct and the circumstances known to him, involves a gross deviation from the standard of care that a reasonable person would observe in the actor’s situation.

Zusammenfassung Es ist ein grundlegendes Prinzip des Strafrechts, dass – mit Ausnahme von Verbrechen mit strikter Haftung (strict liability) – eine Verurteilung nicht nur erfordert, dass die/der Angeklagte eine rechtswidrige Tat begangen hat, sondern auch, dass sie oder er schuldig (im Rechtssinne) hierfür ist. Die Maxime lautet: Actus non facit reum nisi mens sit rea, bzw. „eine Tat macht [die Person] noch nicht schuldig, wenn nicht auch der Geist schuldig ist“. Aber was ist für einen „schuldigen Geist“ erforderlich? Unter Strafrechtstheoretikern/innen und Rechtsphilosophen/innen in den USA ist die Frage umstritten, ob bloße Fahrlässigkeit („negligence“) ausreicht, um den „Geist schuldig“ zu machen, d. h. ob dies für die strafrechtliche Verantwortlichkeit hinreicht. Die Debatte da­ rüber wird vom Model Penal Code (MPC) geformt. Unter den vielen Beiträgen des MPC war die Diskussion des Begriffs mens rea besonders bedeutsam, und unter seinen Beiträgen zu diesem Punkt ist von besonderer Bedeutung die Lösung der Frage, ob Rücksichtslosigkeit („recklessness“) ein Bewusstsein der Gefahr erfordert, die die Täterin / der Täter hervorruft. Dies war eine schwierige Frage im Common Law, und die Verfasser des MPC haben sie auf hilfreiche Weise beantwortet, indem sie (a) feststellten, dass Rücksichtslosigkeit das Bewusstsein der Gefahr erfordert, aber dabei (b) eine separate mens rea-Stufe der Fahrlässigkeit („negligence“) zuließen, für die das Bewusstsein von der Gefahr nicht erforderlich ist.

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Aber nicht alle sind mit dieser separaten mens rea-Stufe der Fahrlässigkeit einverstanden, weil sie davon ausgehen, dass These (b) fehlerhaft ist. Aus der Sicht der Kritiker / innen sollte Rücksichtslosigkeit („recklessness“) der geringste Grad der Schuld sein. In diesem Beitrag diskutiere ich einige – aber keineswegs alle – der Bedenken gegen die Zulassung von Fahrlässigkeit („negligence“) als hinreichend für die strafrechtliche Verantwortlichkeit.

Causa libera oder causa finalis? Überlegungen zur Regressverbotslehre Hruschkas Luigi Cornacchia

I. Die von Frank begründete Lehre des Regressverbots,1 wonach man den Erfolg der frei handelnden Person zurechnet und den weiteren Rückgriff dahinter verbietet,2 wurde von Hruschka im Rahmen seiner Zurechnungslehre tiefgreifend überarbeitet und als Voraussetzung einer Theorie der Täterschaft gefasst, die auf einen starken Verursachungsbegriff gegründet ist.3 Bekanntlich ist Reinhard Franks Theorie, die als Korrektiv für die kausale Lehre der Äquivalenz fungiert,4 der Ansicht, dass implizit eine Regel gilt, die es verbietet, Verhaltensweisen als Ursachen zu betrachten, die bloße Prämissen des Entschlusses einer Person sind, ihr Verhalten frei und bewusst auf die Verursachung des Erfolgs zu richten:5 Wer eine solche Vorbedingung setzt, kann nie als Täter haftbar sein, sondern nur als Teilnehmer, und dies auch nur, wenn die Voraussetzungen der Teilnahme vorliegen, also nur, wenn das Verhalten vorsätzlich ist.6 1  Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz, 18. Auflage, Tübingen: Mohr, 1931, § 1 III 2a, 14 f. 2  Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, 35, Fn. 69, bemerkt, dass das Regressverbot „es allererst ermöglicht, Verantwortlichkeit zuzuschreiben“. Zur Lehre vom Regressverbot vgl. auch Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, 157 ff. 3  Hruschka, „Regreßverbot, Anstiftungsbegriff und die Konsequenzen“, in: ZStW 110, 1998, 581 ff. 4  Und auf die Unfähigkeit der Formel der condicio und des Mechanismus der kausalen Unterbrechung, die Mängel derselben zu korrigieren. 5 Gemäß Franks Formel (Fn. 1), 14: „… Anderseits gibt es Bedingungen, die keine Ursachen sind und demnach keine Täterhaftung begründen. Denn die Äquivalenztheorie ist durch folgende Sätze einzuschränken: a) Es gilt ein Regreßverbot in dem Sinne, daß Bedingungen, die jenseits einer bestimmten Stelle liegen, nicht als Ursachen angesehen werden dürfen: Keine Ursachen sind die Vorbedingungen einer Bedingung, die frei und bewußt (vorsätzlich und schuldhaft) auf Herbeiführung des Erfolgs gerichtet war. Wer eine solche Vorbedingung gesetzt hat, kann nur als Teilnehmer haftbar sein und auch das selbstverständlich nur, wenn die Voraussetzungen der Teilnahme vorliegen…“. Dazu s. Kindhäuser, Verursachen und Bedingen. Zur Regressverbotslehre Reinhard Franks, Berlin: Duncker & Humblot, 2015.

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Franks Lehre ist teilweise mit früheren theoretischen Modellen verknüpft: Offensichtlich insbesondere mit einigen Aspekten der Konzeption von Max Ernst Mayer, wie der Unmöglichkeit einer Unterbrechung des Kausalzusammenhangs7 und der Idee, dass, wenn der vorsätzliche Eingriff eines anderen Subjekts die Ereignisse auf eine für den Ersthandelnden unvorhersehbare Weise ablenkt, dieser nur als Teilnehmer haften kann.8 Frank legt besonderen Wert auf die Idee der freien Handlung als etwas, das keines der Ereignisse ist, die den blinden Naturgesetzen unterliegen: In der Regressverbotslehre wird die Verantwortung automatisch nur den Subjekten zugeschrieben, die sich bewusst verhalten, und – zumindest prinzipiell – nicht auf die Beiträge ausgedehnt, die in der Kausalkette bloße Prämissen einer solchen freien Handlung sind (abgesehen von einer möglichen Beschuldigung als Teilnehmer in Fällen von Vorsatz). Wahrscheinlich beruht der Ruhm von Franks Lehre weniger auf seinem Argument (das keine herausragenden Elemente der Originalität im Vergleich zu der von Max Ernst Mayer aufweist)9 als darauf, einen Begriff geprägt zu haben, der dann in der deutschen Strafrechtsliteratur (und folglich in der spanischen) fortbestand, wenn auch mit einer bedeutenden semantischen Evolution. Die Theorie Franks wurde in mehrfacher Hinsicht kritisiert. Es wurde vorgebracht, dass sie Straffreiheit „gewährt“, ohne dass der Begünstigte sie verdient, 6  Frank hat seine Theorie erstmals in der 15. Ausgabe des oben erwähnten Werks (Fn. 1) von 1924 vorgestellt (S. 15 ff.). Gegen diese Konzeption, gerade wegen der eindeutigen Inkompatibilität mit der Äquivalenztheorie von Bedingungen, Jescheck, in: StGB Leipziger Kommentar, 11. Ausgabe, Berlin-New York, 1993, Vor § 13/58. 7  Der Zusammenhang zwischen einer Bedingung und einem naturalistischen Geschehen ist entweder vorhanden oder nicht, aber er wird nicht unterbrochen: Die Unterbrechung des kausalen Zusammenhangs ist ein contradictio in adiecto. Man kann nur etwas unterbrechen, das in der Gegenwart existiert, etwas, das in der Entstehung ist, kann in seiner Entwicklung gestoppt werden, und in diesem Sinne kann man von Unterbrechung sprechen; aber man kann absolut nichts mehr unterbrechen, was vergangen ist, einen Prozess, der abgeschlossen ist: „Es giebt also keinen Causalzusammenhang, der unterbrochen wurde, und in allen Fällen, in denen man von einem solchen spricht, ist entweder das Unterbrochene nicht Causalzusammenhang oder der Causalzusammenhang nicht unterbrochen. Was unterbrochen werden kann, ist einzig eine Entwicklung, die, wenn sie zum Abschluss gelangt wäre, sich als Causalnexus dargestellt hätte“ (M.E. Mayer, Der Causalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg im Strafrecht. Eine Rechtsphilosophische Untersuchung, Strassburg: Heitz & Mündel, 1899, 94 f.). So auch Antolisei, Il rapporto di causalità nel diritto penale, Padova: Cedam, 1934, 216 f., Fn. 22. Max Ernst Mayer spricht von Unterbrechung der „Ausführung einer Absicht des Handelnden“, anstatt von Kausalität (Ibid., 97, 100 ff.). Engisch hebt hervor wie das Konzept der „Unterbrechung des Kausalzusammenhanges“ von vielen Autoren als Metapher benutzt wird (Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, Tübingen: Mohr, 1931, 81). 8  M.E. Mayer (Fn. 7), 101 ff.: „Der causale Anteil des ersten Aktes verschwindet also dem des zweiten gegenüber … Somit hat die freie, vorsätzliche Handlung eines Zurechnungsfähigen immer die Bedeutung, die an und für sich relevanten Causalität einer ihr vorausgehenden Handlung zu consumieren …“ (Ibid., 105). 9  M.E. Mayer (Fn. 7), 101 ff.

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nämlich allein aufgrund des gesetzwidrigen Verhaltens eines anderen Subjekts.10 Darüber hinaus stelle das Regressverbot in Bezug auf seine allgemeinen Voraussetzungen kein Korrektiv, sondern eine radikale Ablehnung des konditionalistischen Modells dar, da es die Zurechnung gegenüber den Ersthandelnden ausschließe, die eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung gesetzt haben.11 Weiterhin verstoße es auf ethisch-rechtlicher Ebene gegen den Grundsatz, dass jeder nicht nur für sein eigenes Handeln, sondern auch für ferne Folgen verantwortlich sein muss und seine eigene Herrschaftssphäre auch in Bezug auf unerwünschte Ergebnisse zu kontrollieren hat. Auf rein empirischer Ebene werde der kausale Verlauf überhaupt nicht dadurch unterbrochen, dass eine der Bedingungen der Kette ein freies Verhalten ist, vor allem nicht in dem Maße, wie dieses seinerseits durch das vorherige Glied der Kette bestimmt wurde.12 Diese Kritik ist insofern berechtigt, als sie auf folgende Inkongruenz hinweist: Franks Konzeption rechtfertigt es, Täterschaft als Ursache aufzufassen, doch der Anstiftung soll, obwohl sie eine bloße Bedingung enthält, auch normative Bedeutung für das freie menschliche Verhalten (des Täters) zukommen. Damit akzeptiert diese Konzeption eine, wenn auch bedingte, Wirksamkeit von unfreien Faktoren, und insoweit verdrängt sie das naturalistisch-kausale Modell. Generell passt das Verbot des Rückgriffs auf Bedingungen ohne die Eigenschaft vorsätzlichen Verhaltens dogmatisch zur gesetzgeberischen Entscheidung des deutschen StGB, die Strafbarkeit der fahrlässigen Teilnahme auszuschließen: Zwischen den beiden Beteiligungsformen ergibt sich gerade wegen des Regressverbotes ein Verhältnis radikaler Ausschließlichkeit, da der Täter die blinden Kräfte der Natur einsetzt, der Anstifter hingegen ein freies und bewusstes menschliches Handeln (eines anderen).13 Die ursprüngliche Idee des Regressverbotes ist, dass die Letztverursachung eines typischen Erfolgs den Weg zu der Möglichkeit versperrt, jedem früheren kausalen Beitrag – zumindest als Täterschaft – eine Verantwortung zuzuweisen. An die vom Ersthandelnden geschaffenen Vorbedingungen einer Tat können nicht die Folgen der vom Zweithandelnden geschaffenen Ursache angeknüpft werden, es sei denn vom Gesetz wird etwas anderes festgesetzt (indem es Formen der Teilnahme vorsieht). 10  Feijó Sánchez, Límites de la participación criminal. ¿Existe una „proibición de regreso“ como límite general del tipo en derecho penal?, Granada: Editorial Comares, 1999, 24. 11  Die Abhängigkeit des Regressverbots von einer freien Entscheidung stellt den radikalen Gegenpol zum naturalistischen Kausalismus dar (Lampe, „Täterschaft bei fahrlässiger Straftat“, in: ZStW 71, 1959, 614). 12  Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, Berlin: Duncker & Humblot, 1994, 518 ff. Zum letzten Aspekt siehe Larenz, „Tatzurechnung und ‚Unterbrechung des Kausalzu­ sammenhanges‘“, in: NJW, 1955, 1009 ff.: Die Kausalkette eines Verlaufs setzt sich sowohl aus rein mechanistisch beabsichtigten Bedingungen als auch aus freiem Verhalten zusammen; aus diesem Grund kann es nicht die Regel der condicio sine qua non sein, die das Problem der normativen Zurechnung löst. 13  Frank (Fn. 1), 118.

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Die Grundlage des Regressverbots, auf dem die Akzessorietät als Kern der Teilnahme basiert, ist dagegen reines Postulat: In Franks Konzeption löst die bloße Existenz einer vorsätzlichen freien Ursache – ohne weitere Rechtfertigung – diese Regel aus. Schließlich handelt es sich um eine Theorie, die nach Engisch „auf schwachen Füßen“ stünde: Einerseits beabsichtigt sie nicht, die erkenntnistheoretische Grundlage der Äquivalenz zu leugnen, in Bezug auf die sie als Korrektiv vorgeschlagen wird; andererseits befreit sie kurioserweise und ohne jeden Beweis grundsätzlich denjenigen von der Verantwortung als Täter, der den tatbestandlichen Erfolg über einen durch schuldhaftes Verhalten anderer vermittelten Verlauf verursacht, und das obwohl er selbst eine Bedingung setzt.14 II. Es ist sicherlich Joachim Hruschka zu verdanken, eine „auf starken Füßen“ stehende Rekonstruktion des Regressverbots geschaffen zu haben, die sich auf drei große konzeptionelle Säulen des modernen Denkens stützt: 1. Die erste Säule ist Pufendorfs Unterscheidung zwischen entia physica und entia moralia,15 wobei das Wort „moralisch“ sich auf Freiheit und Zurechnung bezieht: In der Fassung Hruschkas geht es um „einen Unterschied in der einschlagenden Methode“, genauer „in der Betrachtungsweise“, abhängig davon, ob eine Handlung unter dem kausalen Gesichtspunkt „als Wirkung einer Ursache, die … den Vorgang … in Übereinstimmung mit den naturwissenschaftlichen Gesetzen hervorbringt“ (actio physice necessaria), oder unter dem geistigen Gesichtspunkt „als der Neubeginn einer Ursachenkette“ betrachtet wird.16 2. Die zweite Säule ist der Unterschied zwischen dem starken Ursachenbegriff der „hinreichenden Bedingung“ (condicio per quam) und dem schwachen Ursachenbegriff der (notwendigen) Bedingung der „Äquivalenztheorie“ (condicio sine qua non), die die Wirkung nicht bestimmt, sondern nur „zum Eintritt der Wirkung einen Beitrag leistet“:17 Die erste wäre die (notwendige und) hinreichende Bedingung, d.h. diejenige, die den Erfolg nach den Naturgesetzen18 erfordert. Die zweite hingegen entspricht jedem Faktor, der zum Eintreten des Erfolgs beigetragen hat, und eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung in dem Sinne ist, dass die Ätiologie des Erfolgs sie erfordert, aber durch sie nicht unbedingt das Eintreten des Erfolgs impliziert wird.   Engisch (Fn. 7), 82 f.   Hruschka (Fn. 3), 582 f. 16  Hruschka (Fn. 3), 584 f. 17  Hruschka (Fn. 3), 589 f. 18  A ist die Ursache für B, wenn jedes Mal, wenn es A gibt, es auch immer und unbedingt B gibt. 14 15

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Die condicio per quam, die den Prozess erzeugt, der von der Verletzungsgefahr zur eigentlichen Verletzung führt, ist eine hinreichende Bedingung für das Eintreten des Erfolgs: Daher greift hier in Bezug auf andere mögliche Bedingungen im schwachen Sinne das Regressverbot ein. Die Unterscheidung zwischen Täter und Teilnehmer baut auf dieser Unterscheidung auf: Der Erste verursacht in einem starken Sinne, da er die letzte freie Handlung begeht, die den Eintritt der Wirkung auslöst; der Zweite verursacht in einem schwachen Sinne, da er nur einen Beitrag zum Eintritt der Wirkung leistet, der erst durch eine freie Ursache den Erfolgseintritt nach sich zieht und deshalb nur akzessorisch wirkt. Das Regressverbot zieht die Grenze zwischen den beiden Formen. Andererseits ist die Erklärung der Akzessorietät als „eine Konsequenz des Regreßverbots, das seinerseits einen starken Ursachenbegriff voraussetzt“,19 eindeutig das Ergebnis der ausgesprochen hegelschen Auffassung vom Willen des physischen Urhebers, der nicht als durch das Verhalten des Anstifters verursacht angesehen werden kann.20 Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen ergibt sich auch die kohärente Lösung für die mittelbare Täterschaft oder scheinbare Anstiftung: Der Hintermann bestimmt und verursacht – im starken Sinne – die unfreie Handlung des unmittelbaren Täters,21 da in diesem Bereich das Regressverbot nicht eingreift. Das grundlegende Problem, das die Regel des Regressverbotes lösen muss, ist in der Tat die Vermeidung eines unendlichen Regresses in der Ursachenkette, was die Anklage selbst unmöglich machen würde, denn ohne diese Regel „wäre der Anstifter auch nicht Täter, weil … auch sein eigenes Handeln – total – verursacht wäre und es folglich keinen Anknüpfungspunkt für eine Zurechnung seines eigenen Handelns mehr gäbe“.22 Wir weisen darauf hin, dass dagegen das italienische Strafgesetzbuch von 1930 expressis verbis die Unterscheidung zwischen Bedingungen und Ursachen sowie zwischen Ursachen und bloßen Gelegenheiten, bzw. zwischen Ursachen in einem starken und schwachen Sinne, ablehnte. Es nahm einerseits die sog. Bedingungsoder Äquivalenztheorie (Art. 41, Abs. 1, ital. StGB) an und sah andererseits vor, dass „die eingetretenen Ursachen den kausalen Zusammenhang ausschließen, wenn sie allein ausreichten, um den Erfolg zu bestimmen“ (Art. 41, Abs. 2). Diese zweite Bestimmung erscheint als Kompromisslösung, die die condicio sine qua

19  Hruschka (Fn. 3), 592. Die Lehre der Akzessorietät fand in Italien kaum Akzeptanz, da sie im Rahmen eines Einheitstätersystems keine Rolle spielt. 20 Ausdrücklich Hruschka (Fn. 3), 596 f., wo er in diesem Zusammenhang die Hegelianer Hälschner und Köstlin erwähnt. 21  Die Handlung des unmittelbaren Täters ist in dieser Konstellation nicht frei, weil ihm „die Tat auf der ersten oder auf der zweiten Zurechnungsstufe nicht ordentlich zugerechnet werden kann“ (Hruschka (Fn. 3), 602). 22  Hruschka (Fn. 3), 594.

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non und die Wahrscheinlichkeitszurechnung23 entsprechend den unterschiedlichen Ansichten der beiden Hauptautoren des Strafgesetzbuches, Arturo Rocco und Eduardo Massari, vereint.24 Im Wesentlichen wird bei der Herstellung eines vermittelnden Kausalzusammenhangs25 die Zurechnung von allen bedingten Faktoren gemeinsam getragen; nur im Falle einer überholenden Kausalität ist die Zurechnung bezüglich anderer Faktoren ausgeschlossen. 3. Die Voraussetzung der „causa libera“26 als Grundlage des Regressverbots, und infolgedessen der letzten freien menschlichen Handlung als echte ‚condicio per quam‘, wobei Freiheit schlechthin negativ als die Unabhängigkeit des Handelnden von allen ihm vorangehenden physischen oder menschlichen Bedingungen zu verstehen ist.27 Für den Eintritt eines strafrechtlich relevanten Erfolges ist also die Person direkt verantwortlich, die als erste ‚causa libera‘ im Regress entlang der Ursachenkette erreicht wird: Die freie Ursache zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass sie ihrerseits nicht verursacht ist; und sie ist die erste Bedingung, die für den Erfolgseintritt ursächlich geworden ist.28 Dagegen ist die unfreie Ursache, sei sie eine bloße Naturursache (causa naturalis) oder eine unfreie menschliche Ursache (causa moralis non libera)29 keine Ursache im strengen Sinne (condicio per quam): Die jenseits der causa libera handelnden Personen können nur indirekt für den strafrechtlich relevanten Erfolgseintritt verantwortlich gemacht werden, und zwar weil bereits der frei Handelnde ihn ursächlich gemacht hat.30 23 Vgl. v. Kries, Die Principien der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Eine logische Untersuchung, Freiburg i.B.: Mohr, 1886, 75 ff.; ders. Über die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit und ihre Bedeutung im Strafrecht, in: ZStW 9, 1889, 528 ff. 24 Vgl. Antolisei (Fn. 7), 166 ff. 25  Das Konzept der vermittelnden Kausalität geht auf die italienische Strafrechtsliteratur zurück: siehe schon Carrara, Programma del corso di diritto criminale, Parte speciale ossia Esposizione dei delitti in specie, Volume I, II Ed., Lucca: Tipografia Giusti, 1868, § 1095, 74 ff.; Stoppato, L’evento punibile. Contributo allo studio dei delitti colposi, Padova-Verona: Fratelli Drucker, 1898, 95 ff.; ders., Causalità e colpa penale, in: Rivista penale, 1901, 383. Für einen dem Rocco-Code vorausgehenden Gesamtüberblick mit detaillierter Fallstudie sei auf Jannitti di Guyanga, Concorso di più persone e valore del pericolo nei delitti colposi – Contributo alla dottrina delle cause colpose mediate, Milano: Società Editrice Libraria, 1913 hingewiesen. 26  Zur Bedeutung von Freiheit siehe Hruschka (Fn. 3), 600 ff. 27  Hruschka (Fn. 3), 583 f. 28  Der Untergrund dieses Begriffs erscheint vor allem kantisch: Bekanntlich ist nach Kant die Freiheit nicht als empirisch-psychologische Eigenschaft, sondern „als transzendentales Prädikat der Kausalität eines Wesens, das zur Sinnenwelt gehört“, zu betrachten (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Riga: Hartknoch, 1788, Vollst. Neuausgabe, K.-M. Guth (Hrsg.), Reclam, Berlin 2016, 218. 29  Zu den Begriffen von ‚causa naturalis‘ und ‚causa moralis‘ s. Hruschka, „Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf. Zur Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa“, in: ZStW 96, 1984, 696.

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In gewissem Sinne kann die Formel von Bartolo da Sassoferrato als Vorläufer dieser Lehre angesehen werden, wonach dann, wenn der Mandatar aus freiem Willen handelt, der Mandant nicht wirklich, sondern nur interpretativ handelt (man könnte sagen, er ist nicht der Täter).31 Die freie Handlung ist nicht als bloße Zwischenursache im Rahmen einer unendlichen Reihe von Bedingungen, sondern als nicht verursachter Anfang einer Ursachenkette zu verstehen, denn „es kann keinen weiteren Verursacher dieser causa libera geben“:32 Da eine ‚actio libera‘ per definitionem keine actio causata ist, gilt sie als Neubeginn.33 In der Retrospektive bedeutet Zurechnung „einen Vorgang als eine freie Handlung anzusehen“.34 In der unendlichen Kausalkette, aus der sich die Welt zusammensetzt, kann eine Schädigung des Rechtsguts nur denen zugeschrieben werden, die als letztes Glied in der Kette selbst als freier Akteur, also als Täter, auftreten, während jeder logisch vorangehende Beitrag höchstens die Eigenschaften der Teilnahme begründen kann. Gleichzeitig kann es, wenn die Ursache nicht frei ist, einen „Regress der Zurechnung“ auf eine andere (logisch und nicht unbedingt chronologisch) vorhergehende Ursache geben. Täter ist also, wer frei handelt und insbesondere die letzte freie Handlung vornimmt. III. Es handelt sich um eine Konzeption, die auf einem recht starken logischen Substrat fußt, gegen die jedoch mindestens zwei Arten von Einwänden erhoben werden können, die miteinander verbunden sind: 30  Joerden, Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 3. Auflage, Heidelberg Dordrecht London New York: Springer, 2018, 236 ff. 31  „… si … ille per quem quis fecerit non fecit hoc de necessitate naturae, quia liberum habet arbitrium, … tunc ille qui mandat, non fecit vere, sed interpretative“ (Bartolo da Sassoferrato, In Secundum Digesti Novi Partem Commentaria, Venetiis, 1590, ad D. 47. 10. 17.2.1. sed si unius, de iniuriis et famosis libellis, § servus meus, Nr. 3, fo. 132ra). 32 Vgl. Joerden (Fn. 2), Berlin, 1987, 35. 33  Hruschka (Fn. 3), 585; ähnlich Joerden (Fn. 30), 261 f. 34  Hruschka (Fn. 3), 586. Zum Unterschied zwischen Verhaltensregeln, die ex ante als Gestaltungsfunktion und ex post als Maßstabfunktion freisprechen, und Zurechnungsregeln, retrospektiv, siehe Hruschka, „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“, in: Rechtstheorie 22, 1991, 450 ff. Für eine ähnliche Konzeption siehe Kindhäuser, „Zur Logik des Verbrechensaufbaus“, in: Koch (Hrsg.), Herausforderung an das Recht: Alte Antworten auf neue Fragen?, Rostocker Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 1998, 80 s.; ders., Handlungs- und normtheoretische Grundfragen der Mittäterschaft, in: Bohnert / Gramm/ Kindhäuser / Lege / Rinken / Robbers (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 2001, 633 ff.

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1. Der erste betrifft allgemein die kausale Auslegung, die sich seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durchgesetzt hat. Sie konzentriert sich auf die extrinsische Beziehung zwischen dem äußeren Akt und dem Erfolg, der als eine Veränderung der empirisch erfassbaren Welt zu verstehen ist. Sie ist völlig getrennt von der Schuld und der persönlichen Dimension des menschlichen Verhaltens, mit allen Aspekten des Wissens und des Willens, die sie charakterisieren. Dies ist eine Folge des modernen Dualismus zwischen imputatio facti und imputatio juris35 und, schon vorher, der Unterscheidung Pufendorfs zwischen entia physica und entia moralia, d.h. zwischen Natur und Kultur. Diese Art des Verantwortungsverständnisses verliert, obwohl sie auf analytischer Ebene einen gewissen Nutzen haben kann, die charakteristischen Merkmale des menschlichen Verhaltens aus den Augen, das nicht einfach eine – wenn auch „freie“ – Körperbewegung ist, sondern ein physischer, geistiger und willkürlicher Akt, der auf die Verfolgung eines bestimmten Zwecks gerichtet ist. 2. Der zweite Einwand, der sich auf den ersten bezieht, ist, dass Hruschka unserer Meinung nach den Finalaspekt übermäßig abwertet. Er sieht in ihm als „nicht das Wichtigste an der menschlichen Handlung“, gegenüber der Freiheit als Gegensatz zur Naturnotwendigkeit und, noch wichtiger, gegenüber der „Unabhängigkeit eines Ereignisses – einer Handlung – von der Summe der ihm vorangehenden Anfangsbedingungen, d.h. d[er] Unabhängigkeit des Handelnden von ihn determinierenden Antrieben“:36 Die einzige wesentliche Unterscheidung sei diejenige zwischen „actiones liberae“ und „actiones physicae necessariae“. Diese Auffassung ist ausdrücklich dem allgemeinen kantischen Ansatz37 und vielleicht auch dem Dualismus zwischen der Erfahrungswelt als chaotischer, amorpher, obskurer und bedeutungsloser Masse und der prägenden Aktivität des Intellekts zu verdanken, der sie a priori in eine verständliche Realität verwandelt. In der lobenswerten Absicht, nicht nur Franks Regressverbot, sondern auch der Theorie der Beteiligung und damit der „rechtsstaatlichen Forderung“38, zwischen Täterschaft und Teilnahme zu unterscheiden, eine philosophisch rigorose Grundlage zu bieten, interpretiert Hruschka menschliches Handeln im Rahmen 35 Ausdrücklich Hruschka (Fn. 29), 693 ff.; ders., Imputation, in Eser / Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung. Rechtsvergleichende Perspektiven / Justification and Excuse. Comparative Perspective, Freiburg i. Br.: Eigenverlag Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, 1987, 133, 140 ff.; Joerden (Fn. 2), 31 f. 36  Hruschka (Fn. 3), 583 f. 37  „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird“ (Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Akad.-Ausg. Bd. 6, Berlin: Walter De Gruyter, 227). „…wir rechnen es (etwas) zu, wenn es simpliciter zugeeignet, d. i. als aus Freyheit entsprungen vorgestellt wird“ (Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Königsberg, 1797, in 6 gesammelten Schriften, Aufl. Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften, 1907, 157, Reflexion 6775). 38  Hruschka (Fn. 3), 593 Fn. 28.

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der Unterscheidung zwischen starkem (condicio per quam) und schwachem Ursachenbegriff (condicio sine qua non). Dies hat sicherlich den Vorzug, der „causa libera“ eine grundlegende Bedeutung für die Identifizierung der Täterschaft zuzuweisen – wohingegen die Teilnahme, auch in Form der Anstiftung, im Lichte der Kontributionsdoktrin erklärt wird – und somit auf eindeutige und konsequente Weise die Unterscheidung zwischen den beiden großen Kategorien der Beteiligung in einer Rechtsordnung, die, wie die deutsche, diese Unterscheidung macht, festzulegen. Allerdings scheint die These doch in ihrem Untergrund die strukturelle Aporie des Kausalismus aus dem neunzehnten Jahrhundert nicht zu überwinden. Sie begreift die Kausalität als eine rein extrinsische Beziehung zwischen naturalistischen Ereignissen in Bezug auf Kontiguität und Sukzession.39 So wäre sie der bloße Zusammenhang zwischen einem Erfolg und einer Bedingung – sei es eine menschliche (freiwillige Körperbewegung)40 oder natürliche –, im Gegensatz zur nomologischen Kausalität der modernen Epistemologie.41 Es ist zu beachten, dass unter diesen Bedingungen Rechtsordnungen wie die italienische, die sich zu Recht oder zu Unrecht für das Einheitstäterprinzip in der Typisierung der Beteiligung (oder besser, des Zusammenwirkens mehrerer) entscheiden, als unwiderruflich falsch gelten würden, da sie auf der „Bedingungs- oder Äquivalenztheorie“ (Kontributionsdoktrin) gründen. Man gewinnt den Eindruck, dass apodiktisch eine Rechtsordnung wie die deutsche mit ihrem differenzierten System als einzige rationale Lösung gerechtfertigt werden sollte. Die Theorie, das Regressverbot, wurde offenbar mit dem Ziel ausgearbeitet, genau diese Grundlage und Rechtfertigung zu bieten. Was wir jedoch hervorheben wollen, ist, dass dieser Ansatz die Bedeutung des menschlichen Verhaltens apodiktisch abwertet. Obwohl er auf dem Dogma der Freiheit basiert, die hier nebenbei nicht in ontologischem, sondern in methodologischem Sinne verstanden wird, sieht er in der Handlung nur eine Ursache im aristotelischen Sinne. Man muss hingegen dem nexus finalis42 gerecht werden und sie als auf einen Zweck ausgerichtet verstehen – nur so lässt sich die positive Dimension der Freiheit wirklich erfassen. Gerade die causa finalis erlaubt es uns, das Verhalten als Äquivokation vom Gemeinwohl zu interpretieren, dem wahren Wohl des Menschen, der von Natur aus in sozialen Beziehungen mit anderen lebt, und als Bevorzugung des Guten, das

39 Vgl. Hume, A Treatise of Human Nature: Being An Attempt to introduce the experimental Methode of Reasoning into Moral Subjects, Book I, Of the Understanding, London, 1739, Reprinted from the Original Edition in three volumes and edited with an Analytical index by L.A. Selby-Bigge, M.A., Oxford at the Clarendon Press, 1960, 10 ff., 82 ff. 40 Vgl. Ronco, „Descrizioni penali d’azione“, in: Studi in onore di Marcello Gallo. Scritti degli allievi, Torino: Giappichelli, 2004, jetzt in ders., Scritti patavini, Tomo II, Torino: Giappichelli, 2017, 1050. 41 Seit Engisch (Fn. 7). 42  Wie hingegen Hruschka (Fn. 3), 583, zu verstehen scheint.

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egoistisch in der übermäßigen Ausübung seiner eigenen Freiheit verstanden wird, die sich in Willkür umwandelt.43 Das Aufgeben des für die Moderne typischen Begriffs der Finalursache führt nicht nur zur Auslegung der Kausalität als Verbindung zwischen Bedingung und Wirkung, sondern auch zur Reduktion des menschlichen Verhaltens auf reine Körperbewegung. Es ist daher zu begrüßen, dass Hruschka die Bedeutsamkeit der freien Ursache betont, aber das reicht nicht aus, um die zielgerichtete Orientierung zu rechtfertigen, die die Straftat charakterisiert. Dem klassischen Denkansatz hingegen gelang dies sehr klar. Vor allem wird die menschliche Freiheit, wenn sie, abgesehen von der Finalursache, als Orientierung am rational gewählten Guten verstanden wird, auf reine Willkür, spontane Manifestation des Willens und Souveränität der Subjektivität reduziert: Ein selbstreferenzielles Konzept der Freiheit, das in Ermangelung einer zielorientierten Teleologie inhaltslos ist und sich, wenn auch nur „in der Betrachtungsweise“, in der Perspektive die man einnimmt,44 in der reinen und absoluten Durchsetzung des Willens aufzulösen scheint (allenfalls in einer hegelschen Perspektive, dem Allgemeinen Willen entsprechen zu müssen).45 Offensichtlich entspricht das Konzept der Freiheit, das Hruschka annimmt – willentliches und frei43  „Bonum autem, cum habeat rationem appetibilis, importat habitudinem causae finalis: cuius causalitas prima est, quia agens non agit nisi propter finem, et ab agente movetur ad formam: unde dicitur quod finis est causa causarum“ (hl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, Barri-Ducis: Editio Leonina, 1874, I.a, q. 5, a. 2, ad I.m.). „Omne enim agens agit propter finem, qui habet rationem boni. Et ideo primum principium in ratione practica est quod fundatur supra rationem boni: quae est: Bonum est quod omnia appetunt“ (Ibid., I-II, q 94, a 2 c ; I, q 5 a 1 c). Der Mensch ist „agens per intellectum, cuius est manifeste propter finem operari“ (hl. Thomas von Aquin, De Regimine Principum, Torino: Marietti, 1924, 1,1). 44  Hruschka (Fn. 3), 584; ders. (Fn. 35), 167 ff. 45  Die Frage verdient es natürlich, über die Grenzen dieses Beitrags hinaus eingehend geprüft zu werden: siehe das Konzept des „wirklich freien Willens“ von Hegel: „… Die Willkür ist auf diese Weise der Wille nur als die reine Subjektivität, welche dadurch rein und konkret zugleich ist, daß sie zu ihrem Inhalt und Zweck nur jene unendliche Bestimmtheit, die Freiheit selbst hat“ (Hegel, Enciclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 3. Aufl., Heidelberg: Verwaltung des Oswaldschen Verlags (C.F. Winter.), 1830, § 480). Und s. auch die Unmittelbarkeit des freien Willens, dessen Allgemeinheit nach Hegel Grundlage der Persönlichkeit ist und infolgedessen auch des abstrakten Rechts: „Der an und für sich freie Wille, wie er in seinem abstrakten Begriffe ist, ist in der Bestimmtheit der Unmittelbarkeit. Nach dieser ist er seine gegen die Realität negative, nur sich abstrakt auf sich beziehende Wirklichkeit – in sich einzelner Wille eines Subjekts“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin: in der Nicolaischen Buchhandlung, 1921, § 34); „der abstrakte Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freie Wille, der den freien Willen will“ (Ibid., § 27), „Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee“ (Ibid., § 29). „Die Zurechnung ist für Hegel die Anerkennung des Subjekts, seiner Freiheit und Persönlichkeit durch das objektive Recht“ nach Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung, Leipzig, 1927, Neudruck, Aalen: Scientia Verlag, 1970, 50. Bezüglich der lutherischen Wurzeln dieses Freiheitskonzeptes siehe Castellano, Martin Lutero. Il canto del gallo della modernità, Napoli: Edizioni Scientifiche Italiane, 2016, 22 s., 26, 33 ff.

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williges Handeln, als Voraussetzung der ordentlichen Zurechnung auf der ersten beziehungsweise auf der zweiten Zurechnungsstufe46 – nicht unbedingt der Idee der Souveränität der Subjektivität, sondern ist eine Voraussetzung der Hauptursache als nicht verursachter Ursache. Wir denken jedoch, dass die Freiheit des menschlichen Handelns eine reale Bedeutung hat, indem sie die Wahl der Ziele und der Methoden zu ihrer Verfolgung gemäß der aristotelischen causa finalis kombiniert. Welzels finale Handlungslehre, die manchmal fälschlicherweise als Ausdruck dieser klassischen Perspektive bezeichnet wird, ist eigentlich weit hiervon entfernt, da sie das Verbrechen nicht als eine reale Entität, sondern als eine moralische, kulturelle und konventionelle Entität versteht. Darüber hinaus fehlt ihrer Konzeption völlig ein objektives Gutes als Grundlage, von dem menschliches Handeln abgelenkt wird (schließlich gibt es weder eine ontologische Realität noch ein natürliches Recht, sondern sachlogische Strukturen). Zudem war Welzels Denken, wie schon seine Doktorarbeit zeigt, von der pufendorfschen (und in nuce hobbesianischen) Unterscheidung zwischen physischen und moralischen Entitäten, zwischen Natur und Kultur, geprägt,47 und er behandelte schließlich die gesamte rechtliche Dimension des menschlichen Handelns als moralische, kulturelle und konventionelle Entität48. Auch im Gegensatz zum Finalismus des Verbrechens im hegelschen Sinne, der als Bewusstsein und Herrschaft über die Ereignisse verstanden wird, ist die Finalursache im klassischen Sinne eine Orientierung am Guten. Daher sollte das Verbrechen als eine Äquivokation oder Unordnung des menschlichen Handelns im Hinblick auf das Gemeinwohl interpretiert werden.49 Die Beteiligung nimmt daher die Bedeutung von Teilnahme an dieser Äquivokation vom Guten an.

46  Hruschka (Fn. 3), 600 ff. (der Begriff wird dagegen durch Umkehrschluss von Aristoteles hergeleitet); dazu Hruschka, Strafrecht nach logisch analytischer Methode. Systematisch entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allgemeinen Teil, 2. Aufl., Berlin-New York: Walter De Gruyter, 1988, 313 f., 337 ff.; ders. (Fn. 35), 140 ff., 173 f. 47  Pufendorf, De jure naturae et gentium Libri octo, Francofurti et Lipsiae: ex officina Knochiana, 1744, I, 1, 19 – 20. 48  Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin-New York: Walter De Gruyter, 1958, 19 ff.; vgl. auch ders., Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Prolegomena zu einer Rechtsphilosophie, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1951, 132 ff. Dazu Civello, „Le radici giusnaturalistiche del pensiero welzeliano. La dissertazione Die Naturrechtlehre Samuel Pufendorfs del 1928“, in: Ambrosetti (Hrsg.), Studi in onore di Mauro Ronco, Torino: Giappichelli, 2017, 87 ff. 49 Aus dieser Perspektive ist das menschliche Handeln so viel am Gemeinwohl eindeutig orientiert, soweit es der lex naturalis entspricht: „... intellectus humanus ad quem intellegibile lumen ab intellectu divino derivatur, necesse habet in his quae facit informari ex inspectione eorum quae sunt naturaliter facta, ut similiter operetur“ (hl. Thomas von Aquin, In octo libros Politicorum Aristotelis expositio, Lib. 1, Torino-Roma: Marietti, 1951, proem., 1).

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IV. In diesem Sinne versteht Tiberio Deciani (1509 – 1582) das mandatum50 in der Lehre vom gemeinen Recht: Der mandans, d.h. der Auftraggeber, soll wie der Täter angesehen werden – und mit der gleichen gewöhnlichen Strafe bestraft werden – weil der erste das kriminelle Ziel einführt, während der zweite konkret das vom Auftraggeber angestrebte Ziel verfolgt. Es handelt sich also um eine ähnliche Struktur, wie die der aktuellen Anstiftung, aber die Erklärung der Assimilation des mandatum zur Täterschaft steht, zu Recht, in Bezug zur Einzigartigkeit der Finalursache.51 Die Finalursache inspiriert auch das zweite von Tiberio Deciani betrachtete Argument, um das unum et idem delictum zu unterstützen, und zwar die größere Schwere des mandatum, weil dieses von Hass gegen das Opfer gekennzeichnet ist und auch, weil der Auftraggeber sich gegen das Wohl von zwei Menschen stellt, nicht nur gegen dasjenige eines (er trifft das Opfer und korrumpiert auch denjenigen, dem er das Mandat erteilt, indem er ihm befiehlt, Böses zu tun).52 Dieser Finalismus ist in anderen Gestalten, die wir heute der Beteiligung zuschreiben würden, nicht erkennbar. Hierzu zählen consilium, persuasio, admonitio und instigatio, die unter bestimmten Bedingungen nur mit der außergewöhnlichen (extraordinaria) Strafe geahndet werden.53 Die Finalursache führt daher zu Recht dazu, das Mandat der Täterschaft zu assimilieren und beide von der Beihilfe zu unterscheiden, wo der Beitrag anderer in die finalistische Dynamik der vom Auftraggeber oder vom Urheber eingeleiteten Straftat eingreift. Das Ziel des Gehilfen ist gerade der Zugang zum Zweck des Ur50  Für die folgenden Überlegungen verweisen wir auf Ronco, „Il versari in re illicita e l’eccesso del mandatario“, in: Castaldo / V. De Francesco / Del Tufo / Manacorda / Monaco (Hrsg.), Scritti in onore di Alfonso M. Stile, Napoli: Editoriale Scientifica, 2013, 718 f. 51 „... sequuto homicidio delictum mandantis et mandatarii unum et idem est. Nam est unicum homicidium, et finis mandantis fuit ipsum homicidium, ergo unum delictum ...“ (Deciani, Tractatus Criminalis, D. Tiberii Deciani Utinensis, Duobusque Tomis distinctus, Venetiis, 1590, L. IX, Caput XXXII, sub 5, 295. Zu diesem grundlegenden Werk des modernen Rechts vgl. Marongiu, „Tiberio Deciani (1509 – 1582). Lettore di diritto, consulente, criminalista“, in: Riv. storia dir. it. VII, 1934, 135 ff.; 312 ff.; Cavina (Hrsg.), Tiberio Deciani (1509 – 1582). Alle origini del pensiero giuridico moderno, Udine: Forum, 2004; Pifferi, Generalia Delictorum. Il Tractatus Criminalis di Tiberio Deciani e la “Parte Generale” di diritto penale, Milano: Giuffrè, 2006. Zudem wird die mutua relatio zwischen dem Auftraggeber und dem Auftragnehmer durch die argumentum a correlativis begründet (vgl. Pifferi, „Il mandatum nella criminalistica del Cinquecento. Finzioni argomentative e logiche punitive“, in: Sorice (Hrsg.), Concorso di persone nel reato e pratiche discorsive dei giuristi, Bologna: Pàtron, 2013, 78 ff.). 52  Deciani (Fn. 51), L. IX, Caput XXXII, sub 4, 294 – 295. In gleicher Weise Gandino, Tractatus de Maleficiis, Venetiis, apud Franciscum de Franciscis Senensem, 1578, Nr. 12, fol. 320rb: „Sed quis eorum magis peccat? Respondeo mandans, quia autor est peccati, quia ipse peccat in se, et alium peccare facit, et imo acerbius puniendus est quam si propriis manibus offendisset“. 53  Deciani (Fn. 51), L. IX, Caput XXXII, 293.

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hebers (der von ihm verfolgt oder vom Auftraggeber eingeführt wird). Im Hinblick auf die Finalursache ist aus den genannten Gründen auch eine schwerere Strafe für den Auftraggeber gerechtfertigt. Dieses Modell, das auf der causa finalis basiert, erscheint uns überzeugender als dasjenige, das auf der bloßen causa libera beruht:54 Letztere ist makellos, wenn es darum geht, die Unterscheidung zwischen der mittelbaren Täterschaft und der Anstiftung in den Rechtsordnungen, die diese vorsehen,55 zu rechtfertigen, und einen logischen Grund – rectius, „nach logisch-analytischer Methode“ – für die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme anzubieten. Es erscheint uns jedoch nicht so, dass die freie Ursache ein ausreichender Grund ist, die Rechtsordnungen zu bevorzugen, die diese Unterscheidung einfach schematisch übernehmen. Ferner kann die „Ungleichwertigkeit im Verhältnis zwischen der Handlung des Täters und der des Anstifters“56 auch mit der Finalursache gerechtfertigt werden, d.h. mit dem unterschiedlichen Zweck, der mit der jeweiligen Rolle in der

54  Sicherlich ist die finalistische Konzeption von Tiberio Deciani nicht das einzige im gemeinen Recht verbreitete Erklärungsmodell. Zum Beispiel hat Böhmer – von Hruschka zitiert – „die bei Pufendorf ... vorgebildete Unterscheidung von „causa physica“ und „causa moralis“... in das Strafrecht übernommen“ (Hruschka (Fn. 3), 595 Fn. 33, wo er Böhmer, Meditationes in Constitutionem Criminalem Carolinam, Halae Magdeburgicae, 1770, § II zu Art. 177, 838 ff. zitiert.), die Verantwortung des Auftraggebers und des Auftragnehmers auf diese Unterscheidung gestützt: Er ist insbesondere der Auffassung, dass der mandans, „qui rem illicitam alteri committi, excitat huius voluntatem, fax et tuba est sceleris“, aufgrund der „causa moralis“ in demselben Maße für das von der „causa physica“, d.h. dem Ausführenden begangene Verbrechen strafbar ist, „quia aequale momentum confert, unus mandando ..., alter exequendo“ (Ibid., § II, 840); Stattdessen ist der consulens nur „causa moralis“ der admonitio, während sich als einzige Ursache des Verbrechens der Ausführende erweist (Ibid., § V, 843): „Consilium itaque est simplex admonitio facti, quod alter consulto solus suscipit, cuiusque è sola caussa esse videtur, quum consulentis non aeque, ut mandantis interit, aliquid fieri“). Und gerade in Böhmer finden wir eine Lösung, die der causa libera, wenn auch nur in etwa, zugrunde zu liegen scheint. Dort wo er denkt, dass derjenige, der in der Position des Befehls ist, nur dann für einen „concursus moralis“ verantwortlich sein kann, wenn der Ausführende als „nudum instrumentum“ fungiert hat: „qui iubet, etsi vitiosa fuerit executio, non semper concurrit, sed nonnumquam ipse tantum delinquit, executor vero solius instrumenti vice fungitur“ (Ibid., § V, 839). Vgl. Tavilla, „Il concorso di persone nella Constitutio criminalis di Carlo V e nella doctrina di Samuel Böhmer“, in: Sorice (Hrsg.), Concorso di persone nel reato e pratiche discorsive dei giuristi, Bologna: Pàtron, 2013, 93 ff. 55 Die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft ist in das italienische Strafrechtssystem nicht importierbar, da diese Rechtsfigur im italienischen Beteiligungssystem paradoxerweise eine Haftungsminderung bewirken würde (im Gegensatz zur zentralen Rolle, die sie im deutschen Strafrechtssystem spielt). Der mittelbare Täter wäre im italienischen Beteiligungssystem nicht als Beteiligter zu qualifizieren. Deshalb könnte er hier nicht nach den im Art. 111 und 112 it. StGB enthaltenen strafschärfenden Umständen strenger bestraft werden und würde so absurderweise besser behandelt als ein Beteiligter (Padovani, „La concezione finalistica dell’azione e la teoria del concorso di persone nel reato“, in: Moccia (Hrsg.), Significato e prospettive del finalismo nell’esperienza giuspenalistica, Napoli: Edizioni Scientifiche Italiane, 2007, 208). 56  Hruschka (Fn. 3), 592.

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typischen Aufgabenverteilung einer aus vielen Subjekten bestehenden kriminellen Organisation verbunden ist.57 Schließlich bietet die gleiche Unterscheidung zwischen nicht strafbarer fahrlässiger Anstiftung und fahrlässiger Täterschaft, die eben auf dem Regressverbot gründet – der Hintermann, der fahrlässig anstiftet, ist kein Verursacher im starken Sinne58 – auch eine logische Erklärung für einen Fall, der in der italienischen Rechtsordnung im Artikel 113 it. StGB eindeutig als eine Form der sog. „fahrlässigen Mitwirkung“, als fahrlässige Hauptform von „Mitverantwortung“ vorgesehen ist.59 V. Verschiedene Rechtsordnungen erkennen also heterogene Vorbilder von Logik an. Insgesamt besteht jedoch das grundlegende Problem der Beziehungen zwischen den verschiedenen zusammenwirkenden Subjekten, insbesondere zwischen Täter und Teilnehmer, die von einer besonderen Art von Transaktivität gekennzeichnet sind,60 darin dass der Teilnehmer einen Beitrag zum Verhalten der Täters, und dadurch auch zur Tatausführung leistet. Es ist notwendig, Lösungen zu finden, die sowohl mit der Logik der Rechtsordnungen kompatibel als auch mit einem logisch-analytischen Verständnis der Art der Bezüge selbst verbunden sind.61 57  Eine Rekonstruktion der Rollen in der Ausführung durch mehrere Subjekte analog zu den vier aristotelischen Ursachen findet sich in Joerden (Fn. 30), 237 ff., die den Anstifter in der causa finalis einrahmt (Ibid., 273). 58  Hruschka (Fn. 3), 609 f. 59  Mein Vorschlag ist, die im Art. 113 it. StGB enthaltene „fahrlässige Mitwirkung“ als Verletzung von besonderen Pflichten in Bezug auf fremdes Handeln (Komplementäre, Akzessorische, Heterotrope „Verbindungspflichten“), im Rahmen komplexer Strukturen wie die auf Arbeitsteilung aufgebauten (z. B. ärztliche Behandlungen im Team) oder die innerhalb einer festgelegten hierarchischen Ordnung abgestuften, oder die durch vielfältige, diachronische, hochspezialisierte Aktivitäten charakterisierten, zu fassen: vgl. Cornacchia, „Fahrlässige Mitverantwortung“, in Pawlik / Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag am 26. Juli 2007, Berlin: Carl Heymanns Verlag KG, 2007, 53 ff., 68 ff. 60 Vgl. Joerden (Fn. 2), 19. 61  Im Vergleich zur Bezüglichkeit ist dies die klassische aristotelische Kategorie: Ein möglicher theoretischer Weg wäre die Vertiefung der Dimension der sogenannten „esse ad“ oder „respectus ad alterum“ („pros ti“ in Aristoteles, Categories 8a 31; ratio der Bezüglichkeit (im Unterschied zur sogenannten „esse in“, unbeabsichtigte Dimension) nach hl. Thomas von Aquin, Scriptum super Sententiis. Distinctio 33, q.1, a.1, ad 1; ders., Petri Lombardi Sententiarum, I. D. 2, qu. 1. a. 5. c.; ders., Quaestiones disputatae, VII. a. 9. ad 2., VIII. a. 2. c.; vgl. Horváth, Metaphysik der Relationen, Graz: Verlag von Ulr. Mosers Buchhandlung (J. Meyerhoff), 1914, 114 ff; Krings, Ordo. Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee, 2. Aufl., Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1982, 115 ff.; Henninger, Relations: Medieval Theories 1250 – 1325, Oxford: Clarendon, 1989, 13 ff.; ders., „Thomas Aquinas on the Ontological Status of Relations“, in: Journal of the History of Philosphy 25:4, 1987, 491 ff.;

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Mit anderen Worten, es erscheint uns nicht so wesentlich, ein Regressverbot in Bezug auf die Vorbedingungen der Tat zu postulieren, als zu erklären, warum es notwendig ist, bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortung auch auf Subjekte zurückzugreifen, die einen indirekten Beitrag zur Tatausführung geleistet haben. Es muss also geklärt werden welche Art von Bezügen einen solchen „Regress“ rechtfertigen, der in der Beteiligungstheorie unerlässlich ist (Problem der indirekten Verantwortlichkeit).62 Dabei geht es nicht um das Regressverbot, sondern um die Legitimität, Notwendigkeit, und um die Grenzen einer Regressgenehmigung. Das ist das Hauptthema. Summary Hruschka elaborates in the frame of his doctrine of imputation a theory of “prohibition of regression” as a requirement of “Täterschaft”, grounded on a strict causal concept. In particular, Hruschka’s theory is based on three cornerstones: first, Pufendorf’s distinction between entia physica and entia moralia; second, the difference between “strong causal concept” (condicio per quam) and “weak causal concept” (condicio sine qua non); third, the idea of “free cause” as a basis of Regressverbot and, consequently, of free action as a new beginning. In this paper some criticisms have been raised about this conception: the causal interpretation looses the complexity of the human behaviour; and Hruschka’s whole theory of actio libera overlooks its final aspect, because of its orientation to an aim. Hence it has been emphasised the importance of the Aristotelian concept of final cause, in order to highlight the positive dimension of human freedom. Furthermore, it has been suggested to investigate which kind of intersubjective relation justifies the punishment of persons, who have given only an indirect contribution to the commission of the crime.

Ward, „Relations Without Formas: Some Consequences of Aquinas’s Metaphysics of Relations“, in: Vivarium 48, 2010, 279 ff., 281. 62 Vgl. Joerden (Fn. 2), 88 ff.

Fahrlässige Mittäterschaft? Eine Kritik Luís Greco

I. Einleitung Zwei Fälle der jüngsten Vergangenheit rechtfertigen es, das Thema der fahrlässigen Mittäterschaft, um die es in letzter Zeit ruhig geworden ist,1 in einem Band zum Gedächtnis von Joachim Hruschka, der auch die Beteiligungslehre mit einem grundlegenden Aufsatz bereichert hat,2 erneut aufzugreifen. Ich denke an das Verfahren über das Unglück auf der Love-Parade im Jahre 2010, das kürzlich mit einer Einstellung beendet wurde;3 die fahrlässige Mittäterschaft hätte vielleicht über die vielen Kausalitäts- und Zurechnungsprobleme hinweghelfen können, die sich in diesem Fall als unüberwindbare Hindernisse auf dem Weg zu einem Sachurteil stellten. In der Entscheidung zum aufsehenerregenden Fall der Kudamm-Raser scheint der BGH der Figur sogar eine Absage erteilt zu haben: „Bezugspunkt des Tatentschlusses bzw. des Tatplans ist gemäß § 25 Abs. 2 StGB jedoch stets die Straftat. Ein mittäterschaftlich begangenes Tötungsdelikt setzt daher voraus, dass der gemeinsame Tatentschluss auf die Tötung eines Menschen durch arbeitsteiliges Zusammenwirken gerichtet ist. Für die Annahme eines mittäterschaftlich begangenen Tötungsdelikts reicht es deshalb nicht aus, dass sich die Täter lediglich zu einem gemeinsamen Unternehmen entschließen, durch das ein Mensch zu Tode kommt.“ (BGHSt 63, 88, 97 Rn. 27). Dem steht eine mittlerweile im Schrifttum wohl als herrschend zu bezeichnende Auffassung entgegen, die eine Mittäterschaft nicht mehr nur im Zusammenhang des Vorsatzdelikts in Betracht zieht, sondern eine Erweiterung dieser Täterschaftsform auf Fahrlässigkeitsdelikte für möglich hält.4 Ziel meiner Reflexion ist es, die Berechtigung dieser Erweiterung infrage zu stellen. Nach einer kursorischen Zusammenfassung des Diskussionsstandes (u. II.) werde ich meine Argumentation in drei Schritten entwickeln: Zuerst wende ich mich 1 S. dennoch die Arbeiten von Steckermeier, Der Tatentschluss von Mittätern, 2015, S. 216 ff. und Böhringer, Fahrlässige Mittäterschaft, 2017 (die Figur abl., S. 297 ff.). 2  Hruschka, Regreßverbot, Anstiftungsbegriff und die Konsequenzen, ZStW 110 (1998), 582. 3  Zu diesem Fall Duttge, FS Yamanaka, 2017, S. 29 (31 ff.); Große-Wilde, ZIS 2017, 638; zur Einstellungsentscheidung besonders krit. Puppe / Grosse-Wilde, JZ 2019, 338. 4  Vgl. die Nachw. u. Fn. 11. Selbe Einschätzung, dass dieser Standpunkt in der Literatur inzwischen schon überwiege, Haas, Matt / Renzikowski, StGB, 2015, § 25 Rn. 100.

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den angeblichen dogmatischen Schwierigkeiten der Figur zu; hier wird sich zeigen, dass die meisten von den Kritikern der fahrlässigen Mittäterschaft gerügten Probleme in Wahrheit nicht existieren (u. III.). Sodann werfe ich das zentrale Problem auf, im Hinblick auf welches die Befürworter der fahrlässigen Mittäterschaft eine zufriedenstellende Antwort schuldig bleiben: die (theoretische) Rechtfertigung der gravierenden Rechtsfolge der „gegenseitigen Zurechnung“5 im Fahrlässigkeitsbereich (u. IV.). Ich werde darlegen, dass es eine solche Rechtfertigung nicht gibt. Zuletzt versuche ich, aufzuzeigen, dass für die fahrlässige Mittäterschaft nicht einmal ein praktisches Bedürfnis besteht (u. V.). II. Eine kurze Geschichte der Diskussion Die herkömmliche Systematik der Beteiligungsformen, die in Roxins monumentaler Monographie „Täterschaft und Tatherrschaft“ ihre vollendete Fassung gefunden hat, kennt Differenzierungen zwischen verschiedenen Tätern (und Teilnehmern) nur im Bereich des Vorsatzdelikts. Für das Fahrlässigkeitsdelikt gilt das Einheitstätersystem: jeder Mitwirkende ist also Täter, genauer: Nebentäter.6 Auf Grundlage dieses Systems dachte man lange Zeit, dass es einer fahrlässigen Mittäterschaft gar nicht bedürfe, da jeder Mitwirkende als Täter (als Nebentäter) zur Verantwortung gezogen werden könne. Die Wirklichkeit erwies sich aber als kniffliger als das System. Es ereigneten sich Fälle, in denen bereits die „Mitwirkung“ – zumindest im Sinne einer (ggf. zurechenbaren) Mitverursachung des Erfolgs – zweifelhaft war. Man wusste, die Person hatte zwar insoweit mitgewirkt, als sie „bei der Tat“ dabei war; ob sich der Erfolg aber auch ohne ihr Zutun ereignet hätte bzw. ob sie für diesen mitursächlich war, war dagegen alles andere als klar. Die Diskussion wurde vor allem anhand von zwei Beispielen geführt: dem sog. Rolling Stones-Fall des schweizerischen Bundesgerichts und dem Lederspray-Fall.7 5  Zum Grund für diese Anführungszeichen, die ich im weiteren Text nicht gebrauchen werde, u. IV. 2. c) bei Fn. 57. Aus Gründen der Einfachheit wird hier auf den verbreiteten Begriff nicht verzichtet. 6  In den ersten Auflagen von Täterschaft und Tatherrschaft war das Fahrlässigkeitsdelikt noch als Pflichtdelikt konzipiert, mit der Folge, dass eine Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme möglich war (Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 2. Aufl., 1967, S. 527 ff.; dieses 11. Kapitel über „Täterschaft und Teilnahme bei fahrlässigen Delikten“ ist seit der 3. Aufl. nicht mehr vorhanden, vgl. 3. Aufl., 1975, S. 527 ff.; 9. Aufl. 2015, S. 527 ff.); für den Einheitstäterbegriff im Fahrlässigkeitsbereich Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl. 1996, S. 655; Kühl, Lackner / Kühl, StGB, 29. Aufl. 2014, § 25 Rn. 13; Wessels / Beulke / Satzger, AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 740 (wohl and. jetzt die 48. Aufl., Rn. 935, 1104); Heine, Sch / Sch-StGB, 28. Aufl. 2010, vor § 25 ff. Rn. 112 f. (abw. die neuere Aufl., s.u. Fn. 11); Kreuzberg, Täterschaft und Teilnahme als Handlungsunrechtstypen, 2019, S. 55. 7  S.a. BGH VRS 18, 416 (421 f.): Keine Mittäterschaft, sondern nur Nebentäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich; OLG Schleswig NStZ 1982, 116 und BayObLG NJW 1990, 3032, Fälle, in denen mehrere sorgfaltspflichtwidrige Täter miteinander konkurrierten und es zu Beweis-

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Im Rolling Stones-Fall (BGE 113 IV, 58) ging es um zwei Freunde, die sich damit ihre Zeit vertrieben, dass sie im Gebirge schwere Steinbrocken bergab rollen ließen. Ein Fischer wurde von einem der rollenden Steine erfasst und getötet. Wer diesen Stein gerollt hatte, ließ sich nicht mehr aufklären. Hier wollte das schweizerische Bundesgericht die zwei Freunde nicht in dubio pro reo des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung freisprechen. Es sprach von einer „Kausalität zwischen der gemeinsam vorgenommenen Gesamthandlung und dem eingetretenen Erfolg“ (60), was in der Sache einer fahrlässigen Mittäterschaft jedenfalls sehr nahe kommt,8 so dass das Beweisproblem hinfällig wurde. Der bekannte Lederspray-Fall (BGHSt 37, 106) warf eine Vielzahl von Fragen auf. Vorliegend interessiert uns nur ein Ausschnitt aus dem komplexen Sachverhalt: obwohl sich schon Anhaltspunkte für die Gesundheitsschädlichkeit des Ledersprays ergeben hatten, unterließen es die Vorstandsmitglieder bei der Abstimmung über einen Produktrückruf, für den Rückruf zu stimmen. Da der Vorstand aber aus 9 Mitgliedern bestand, konnte sich jeder darauf berufen, dass es auf seine Stimme gar nicht ankam, sein Untätigsein den Erfolg also unmöglich verursacht haben könne. Der BGH appellierte an das Rechtsgefühl, um der gegenseitigen Entlastung zu entgehen – „Dass dies nicht rechtens sein kann, liegt auf der Hand“ (132); in dogmatischer Hinsicht hielt er sich stark zurück, scheint aber die Figur der kumulativen Kausalität bemüht zu haben (130 f.)9. Da die Begründung über die kumulative Kausalität offensichtlich problematisch ist – denn die Konstellation der kumulativen Kausalität ist gerade die, bei der es keine überflüssigen Tatbeiträge gibt, sondern erst deren Summe den Erfolg herbeiführt10 – war das Urteil für die Literatur der Anlass, eine Revision des herkömmlichen Systems der Beteiligung anzustreben. Es mehrten sich Stimmen, die sich für die Anerkennung einer fahrlässigen Mittäterschaft aussprachen,11 womit problemen kam; die Gerichte dachten aber daran, eine fahrlässige Mittäterschaft heranzuziehen (ausdrücklich dagegen OLG Schleswig). 8  In dem Sinne, dass das Urteil in der Sache eine fahrlässige Mittäterschaft anerkannte, Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 112; andere Deutung bei Böhringer (Fn. 1), S. 30. 9  „Denn sein Teilbeitrag war dafür – im Zusammenwirken mit den Teilbeiträgen der anderen Geschäftsführer – ursächlich.“  10 Vgl. Greco, ZIS 2011, 674 ff. (682 m. w. N.). 11  Dafür zusätzlich zu den in den weiteren Fn. Zitierten noch: Bloy, GA 2000, 392 ff. (395); Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 174 ff.; Feijoo Sánchez, Derecho penal de la empresa e imputación objetiva, Madrid, 2007, S. 233 ff.; Frister, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2018, § 26 Rn. 4 ff.; Greco, ZIS 2011, 687 f.; Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 141 ff.; Häring, Die Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt, Basel u. a., 2005, 202 ff.; Heine / Weißer, Sch / Sch-StGB, 30. Aufl. 2019, vor § 25 ff. Rn. 114 ff. (and. noch Heine, Sch / Sch-StGB, 28. Aufl. 2010, vor § 25 ff. Rn. 115 f.); Kaspar, AT 2. Aufl. 2017, § 9 Rn. 69 ff.; Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 540; Kuhlen in: Canaris u. a. (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre BGH, Bd. IV, 2000, S. 647 ff. (670); Lampe, ZStW 106 (1994), 683 ff. (692 f., 734 Fn. 160); Lesch, JA 2000, 73 ff. (78); Renzikowski, FS Otto, 2007, S. 423 ff. (439); Roxin, Straf-

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sich die Schwierigkeiten in beiden Fällen leicht überwinden ließen. Selbstverständlich bedürften die bei Vorsatzdelikten anerkannten Voraussetzungen einer Mittäterschaft einer Modifikation. Verlangt man für eine vorsätzliche Mittäterschaft in subjektiver Hinsicht einen gemeinsamen Tatentschluss (bzw. Tatplan) und in objektiver Hinsicht eine gemeinschaftliche Tatausführung (bzw. einen erheblichen Tatbeitrag),12 wird von den Vertretern der fahrlässigen Mittäterschaft in der Regel in subjektiver Hinsicht auf eine Kenntnis des gemeinsamen Zusammenwirkens bzw. ein gemeinsames Handlungsprojekt,13 objektiv auf eine Sorgfaltspflichtverletzung14 abgestellt. III. Die (angeblichen) dogmatischen Schwierigkeiten Das herkömmliche Modell der Beteiligung wurde jedoch nicht kampflos preisgegeben. Das Meiste aber, was man gegen die Erweiterung durch die fahrlässige Mittäterschaft anführen konnte, traf den Nagel nicht auf den Kopf. 1. Der wohl verbreitetste Vorwurf gegen die fahrlässige Mittäterschaft ist, dass es bei ihr an einem Tatentschluss bzw. Tatplan fehle.15 Der Vorwurf wird die Verrecht AT II, 2003, § 25 Rn. 242 (im LH Cerezo, 2002, S. 963 ff. [974 f.] wurde noch eine Lösung auf der Kausalitätsebene versucht); Sánchez Lázaro, GA 2005, 700 (709 ff.); Schünemann, LK-StGB, 11. Aufl. 2007, § 25 Rn. 216 f.; Utsumi, Jura 2001, 538 ff. (540); dies., ZStW 119 (2007), 787; Steckermeier (Fn. 1), S. 216 ff.; vorsichtig bejahend Hilgendorf, NStZ 1994, 561 ff. (563) und Stratenwerth / Kuhlen, AT 6. Aufl. 2011, § 16 Rn. 7. Weitere Nachw. in Heine / Weißer, Sch / Sch- StGB, 30. Aufl. 2019, Vorbem. §§ 25 ff. Rn. 111; s.a. Böhringer (Fn. 1), S. 99 ff. im Einzelnen zu verschiedenen Konzepten aus der Lit. 12  Statt aller Roxin, AT II, § 25 Rn. 190 ff., 198 ff. 13  Heine / Weißer, Sch / Sch-StGB, vor § 25 ff. Rn. 116; Greco, ZIS 2011, 688; Gutiérrez Rodríguez, La responsabilidad penal del coautor, Valencia, 2001, S. 214 f.; Luzón / Díaz y Garcia FS Roxin I, 2001, S. 575 ff. (605); Kamm, Die fahrlässige Mittäterschaft, 1999, S. 196 ff; Küpper, GA 1998, 519 ff. (527); Ransiek, Unternehmensstrafrecht. Strafrecht, Verfassungsrecht, Regelungsalternativen, 1996, S. 70; Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 288; ders., FS Otto, S. 429 ff.; Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 120; Riedo / Chovjka ZStR 120 (2002), 152 ff. (161); Rodríguez Montañés, FS Roxin I, 2001, S. 307 ff. (326); Roso Cañadillas, Autoría y participación imprudente, Granada, 2002, S. 580 ff.; Weißer, Kausalitäts- und Täterschaftsfragen bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, 1996, S. 147, 156; dies., JZ 1998, 230 ff. (236 f.); Schünemann, LK-StGB, § 25 Rn. 217; Schlehofer, FS Herzberg, 2008, S. 355 (368 f.). Ähnlich wollen Kuhlen BGH-FS, S. 670, und Kaspar, AT § 9 Rn. 70 die Mittäterschaft auf Fälle bewusster Fahrlässigkeit beschränken. Schlehofer, FS Herzberg, 2008, S. 355 ff. (368) verlangt eine Verabredung i.S.v. § 30 II StGB. 14  Wobei ungeklärt ist, ob es bei dieser Pflicht um eine gemeinsame gehen muss (so Weißer [Fn. 13], S. 147, 156 [anscheinend and. dies. JZ 1998, 236]; Kamm [Fn. 13], S. 188 ff, 202; Utsumi, ZStW 119 [2007], 775 [m. w. N. aus dem japanischen Schrifttum], 787; wohl auch Otto, FS Spendel, 1992, S. 271 ff. [282 f.]; ders., Grundkurs Strafrecht, AT, 7. Aufl. 2004 § 21 Rn. 114, 119 ff.). 15 Etwa Bottke, GA 2001, 463 ff. (474); Gropp, GA 2009, 265 (272 f.); Heine, Sch / SchStGB, 28. Aufl. 2010, vor § 25 Rn. 116; Hilgendorf / Valerius, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2015, § 12

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treter dieser Figur nicht sonderlich beeindrucken. Sie können nämlich entgegnen, dass die Voraussetzungen der neuen Figur dem Wesen des Fahrlässigkeitsdelikts entsprechend angepasst werden müssen, so dass sie nicht dieselben sein können, die für die vorsätzliche Mittäterschaft konstitutiv sind.16 2. Gelegentlich wird eine Verletzung von § 25 II StGB behauptet.17 Auch dieses Argument ist nicht sonderlich stark. Zum einen leuchtet bereits wenig ein, weshalb man aus dem Wort „gemeinschaftlich“ ein Vorsatzerfordernis herauslesen müsse.18 Zudem wirken Analogieverbot und Wortlautgrenze im Allgemeinen Teil ohnehin nur sehr schwach.19 Drittens wäre das Argument – selbst als gutes – zunächst nur für Deutschland von Bedeutung. 3. Der dritte wenig überzeugende Einwand wird von der wohl prominentesten Gegnerin der fahrlässigen Mittäterschaft formuliert, nämlich von Puppe: das Vorhaben, sich mittels dieser Figur den Kausalitätsnachweis zu ersparen, sei irregeleitet, weil jede Mittäterschaft Kausalität bereits voraussetze und diese deshalb nicht erst begründen könne.20 Das Argument scheint auf einer Verwechslung von zwei verschiedenen Bezugspunkten der behaupteten Kausalbeziehung zu beruhen: das gemeinsame Handeln und der Enderfolg. Dass jeder einzelne Beitrag für den ersten Bezugspunkt kausal sein muss, ist tautologisch: ohne dieses gemeinsame Handeln, an dem jeder Mittäter teilhaben muss, kann man nicht zum Mittäter werden. Den Vertretern der fahrlässigen Mittäterschaft geht es indes nicht um diese Plattitüde, sondern um den Enderfolg, also um den Tod des vom Stein erschlagenen Fischers bzw. um die Gesundheitsschäden der Lederspraybenutzer. Die Anerkennung einer Rn. 45; Jäger, AT 8. Aufl. 2017, Rn. 366; Puppe, ZIS 2007, 234 ff. (241; mit einem anspruchsvolleren Begriff des Tatplans, 236); Vassilaki, FS Schreiber, 2003, S. 499 ff. (503 f.). 16  Otto, FS Spendel, 1992, S. 281; ders. AT, § 9 Rn. 115; ebenso Brammsen, Jura 1991, 537; Greco, ZIS 2011, 687; Gutiérrez Rodríguez (Fn. 13), S. 213; Heine / Weißer, Sch / Sch-StGB, vor § 25 ff. Rn. 114; Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht, 2001, S. 182 ff.; Renzikowski (Fn. 13), S. 284; ders., FS Otto, S. 432; Riedo / Chvojka, ZStR 120 (2002), 157 f.; Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 114; Roxin, AT II, § 25 Rn. 242; Schünemann, LKStGB, § 25 Rn. 217; Utsumi, ZStW 119 (2007), 774, 786; Weißer, JZ 1998, 232. 17 So Bottke, GA 2001, 463 ff. (474 f.); Kraatz, Die fahrlässige Mittäterschaft, 2006, S. 116 f., 366; Gropp, GA 2009, 272 f.; ders., AT 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 215; Kühl, Lackner / Kühl, StGB 29. Aufl. 2018, § 25 Rn. 13. 18 Ebenso Heine / Weißer, Sch / Sch-StGB, vor § 25 ff. Rn. 114; Kaspar, AT § 9 Rn. 70; Renzikowski (Fn. 13), S. 288; Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 118; Rengier, AT 10. Aufl. 2018, § 53 Rn. 3; Steckermeier (Fn. 1), S. 217; van Weezel, Beteiligung bei Fahrlässigkeit, 2006, S. 363 f. 19 Vgl. Roxin / Greco, AT I 5. Aufl. 2019, § 5 Rn. 41 ff. 20  Puppe, JR 1992, 28 ff. (32); dies., GA 2004, 129 ff. (131, 136 f.); dies., ZIS 2007, 234 ff. (240); auch Samson, StV 1991, 182 ff. (184 f.); Hoyer, GA 1996, 160 ff. (173); Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen, 1999, S. 157; und Becker, Das gemeinschaftliche Begehen und die sogenannte additive Mittäterschaft, 2009, 181 ff. (der aber eine fahrlässige Mittäterschaft akzeptiert, dennoch an der Verursachung des Erfolgs durch jeden mittäterschaftlichen Beitrag festhält); Böhringer (Fn. 1), S. 203, 225 ff. Krit. Renzikowski (Fn. 13), S. 286 f.; Greco, ZIS 2011, 687; Rotsch, ZIS 2018, 1 ff. (9, wenn auch wenig klar).

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sog. additiven Mittäterschaft (Paradebeispiel: Erschießungskommando) belegt,21 dass auch bei Vorsatzdelikten eine Kausalität des einzelnen Beitrags für den Enderfolg nicht verlangt wird.22 IV. Das zentrale Problem: Fehlen einer tragfähigen Begründung für die „gegenseitige Zurechnung“ Die erwähnten dogmatischen Schwierigkeiten mögen überwindbar sein. Der sie belebende Widerwille gegenüber der fahrlässigen Mittäterschaft könnte aber Ausdruck einer zutreffenden Intuition sein. Diese möchte ich im Folgenden explizit machen. Es war Puppe, die hier die Sache auf den Punkt brachte, indem sie die Vertreter der fahrlässigen Mittäterschaft herausforderte, für die Figur eine rechtsethische Fundierung anzubieten.23 Denn die Mittäterschaft führt zu einer Behandlung fremder Tatbeiträge als eigene, also zu dem, was man in der Regel – freilich etwas unpräzise24 – als gegenseitige Zurechnung bezeichnet, mithin zu einer Rechtsfolge, die gegenüber dem Täter einer besonderen Rechtfertigung bedarf.25 Puppe ist hier uneingeschränkt zuzustimmen; ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, um diese Kritik zu vertiefen. Ich werde in vier Schritten vorgehen: zuerst versuche ich, die Fragwürdigkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit der Mittäterschaft bei Vorsatzdelikten etwas deutlicher herauszustellen (u. 1.); sodann wende ich mich einigen Versuchen einer solchen Rechtfertigung zu (u. 2). Zuletzt möchte ich aufzeigen, dass eine Übertragung dieser Rechtfertigung auf das Fahrlässig21  S. jedoch Puppe, GA 2004, 131, 136, die die additive Mittäterschaft zu einer „Ausnahme“ erklären muss; s.a. dies., ZIS 2007, 240 f. Konsequent indes Becker (Fn. 21), S. 167, der für die Mittäterschaft eine Kausalität jedes einzelnen Beitrags verlangt und deshalb die additive Mittäterschaft ablehnt; dem sehr nahestehend Böhringer (Fn. 1), S. 225 ff., 228 f., 266. Man denke ferner an Konstellationen der Mittäterschaft bei zweiaktigen Delikten, bei denen (z. B. im Falle eines Raubes) derjenige, der die Wegnahme begeht, nicht mehr für die von seinem Komplizen begangenen Drohungs- oder Gewaltakte kausal sein kann, näher Renzikowski, FS Otto, S. 427 f. 22  Beulke / Bachmann, JuS 1992, 737 ff. (743); Hilgendorf, NStZ 1994, 563; Hoyer, FS Puppe, 2011, S. 515 ff. (524 ff.); ausf. Renzikowski, FS Otto, S. 426 ff.; Häring (Fn. 11), S. 140 ff., 277 ff.; Jakobs, FS Herzberg, 2008, S. 395 ff. (400 ff, 405) u. insbesondere Knauer (Fn. 16), S. 142 ff, 158 f, 168. 23  Diese Herausforderung insbesondere bei Puppe, GA 2004, 129 („jeder versagt für sich allein“), 132; ferner Murmann, SSW-StGB, § 25 Rn. 34; ders. AT 4. Aufl. 2017, § 27 Rn. 54; Kreuzberg (Fn. 6), S. 716 f.; s.a. Böhringer (Fn. 1), S. 249. 24  Vgl. u. 2. c) bei Fn. 57. 25  Eine Umkehrung des Grund-Folge-Verhältnisses findet sich indes bei Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 6: „Erst diese wechselseitige Verhaltenszurechnung begründet das Unrecht der Mittäterschaft.“ Vielmehr muss die Mittäterschaft umgekehrt die gegenseitige Zurechnung begründen. Keine Rechtfertigung ist es, wenn schlichtweg auf das Bedürfnis, Strafbarkeitslücken zu vermeiden, verwiesen wird (so etwa B. Heinrich, AT 5. Aufl. 2016, Rn. 999).

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keitsdelikt nicht gelingen kann (u. 3), und dass andere, eigenständige Argumente ebensowenig vorliegen (u. 4). 1. Die besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit der Mittäterschaft Auch dann, wenn man einem strengen Selbstverantwortungsprinzip (kein Täter hinter einem voll verantwortlichen Täter) skeptisch gegenübersteht,26 muss man einräumen, dass die Mittäterschaft keine Selbstverständlichkeit ist. Ihre Rechtsfolge, die sog. gegenseitige Zurechnung, bedeutet, dass die Freunde A und B, die sich dahingehend absprechen, dass A dem Opfer die Pistole entgegenstreckt, und B ihm das Geld wegnimmt, jeweils wegen Raubes (§ 249 StGB) bestraft werden, als hätte jeder von ihnen sowohl die „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ als auch die „Wegnahme“ in eigener Person verwirklicht. Der Punkt lässt sich am besten durch einen Seitenblick auf das Zivilrecht verdeutlichen. Man kann einen anderen zur Vornahme eines Rechtsgeschäfts bevollmächtigen; der andere handelt, das Geschäft wird aber dem Vollmachtgeber zugerechnet. Dem Strafrecht ist eine solche Konstruktion eines Handelns, das „unmittelbar für und gegen den Vertretenen wirkt“ (§ 164 I 1 BGB) fremd; die Straftat ist kein Rechtsgeschäft (nicht einmal als Eingehungsbetrug oder Missbrauchsuntreue). Dieser Strukturunterschied dürfte – auf einen Begriff gebracht – wohl darauf beruhen, dass es im Strafrecht stets um die Legitimitätsbedingungen einer Strafe geht; Strafen sind Rechtsfolgen einer ganz besonderen Qualität, nämlich (erstens) Reaktionen, die (zweitens) den Menschen in Rechten berühren, die ihm in seiner Eigenschaft als Mensch zustehen, insofern „angeboren“ sind, insbesondere also Leben, Leib und Freiheit.27 Hingegen ist das Zivilrecht die Domäne dessen, was man haben und wieder verlieren kann, also des „Erworbenen“. Ein Recht, das man deshalb innehat, weil man Mensch ist, ist in diesem Sinne ein höchstpersönliches; ein solches Recht kann man nur verlieren, wenn man es durch einen höchstpersönlichen Fehler selbst verwirkt. Mit anderen Worten: aus der höchstpersönlichen Natur der Strafe folgt die höchstpersönliche Natur der Straftat, also das, was wir Schuldprinzip nennen. Ich muss nicht elaborieren, dass sich die Idee einer gegenseitigen Zurechnung in einem ausgesprochenen Spannungsverhältnis zu dem gerade Ausgeführten befindet. Dass die Rechtfertigungslast bei der Mittäterschaft um einiges höher ist als bei der mittelbaren Täterschaft leuchtet auch ein, wenn man bedenkt, dass es bei der mittelbaren Täterschaft im Regelfall um das Zusammenwirken mit einem nicht voll Verantwortlichen geht, und man bei dieser Figur genau betrachtet nicht   Greco, ZIS 2011, 9 ff.   Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 653 ff.; ders., GA 2015, 503 ff. (512 ff.); diese Gedanken aufgreifend und weiterentwickelnd Schünemann, Neumann-FS, 2017, S. 701 ff. (703). 26 27

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von einer Zurechnung eines fremden Verhaltens ausgehen, sondern allein auf das Handeln des Täters bzw. auf sein Einwirken auf das Werkzeug abstellen muss. Immer wieder kam es deshalb in der Literatur zu mehr oder weniger weitreichenden Kapitulationserklärungen. So meinte Schröder in der 10. Aufl. des berühmten Kommentars, der seinen Namen trägt, dass die Tatherrschaftslehre der Mittäterschaft nicht gerecht werden könne, weil jeder nur seinen eigenen Beitrag beherrsche; das Gesetz selbst begründe also die gegenseitige Zurechnung.28 Und für Küper ist die Mittäterschaft sachlich eine „Sonderform der Teilnahme“.29 Einiges davon findet sich in der bei Haas zu lesenden Formulierung (wohl nicht in der Sache, s.u. 2 b]), die Mittäterschaft sei eine kraft Rechtsfiktion begründete Form außerordentlicher Zurechnung.30 Man könnte also meinen, der Grund, weshalb es eine Mittäterschaft geben darf, sei schlicht § 25 II StGB.31 Dies wäre aber ein gesetzespositivistischer Verzicht auf eine Begründung. Da die Rechte, die die Strafe berührt, angeboren sind und somit bereits vor dem Gesetz existieren, stehen sie nicht zur Disposition des Gesetzgebers; dieser darf eine gegenseitige Zurechnung nur dort anordnen, wo es auch einen guten Grund dafür gibt. 2. Die Rechtfertigung der Mittäterschaft Die Geschichte der Mittäterschaft lässt sich zu einem guten Teil als Suche nach dem Grund der wechselseitigen Zurechnung, d. h. als Versuch der Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen höchstpersönlicher Strafe und Zurechnung eines fremden Verhaltens deuten. a) Insb. Lange, Sax und der bereits erwähnte Schröder schlugen vor, die Mittäterschaft als wechselseitige mittelbare Täterschaft zu verstehen.32 Diese These stimmt aber nicht: die mittelbare Täterschaft setzt etwas voraus – i.d.R. ein vom Hintermann ausgenutztes Verantwortungsdefizit – was in Fällen der Mittäterschaft nicht im Ansatz vorhanden sein muss.33 b) Eine kleine, aber gewichtige Gruppe von Autoren argumentiert, wenn nicht zivilrechtsakzessorisch, so doch zivilrechtsinspiriert. So schlägt Kindhäuser vor,   Schönke / Schröder, StGB, 10. Aufl., vor § 47 Anm. b, zit. nach Roxin (Fn. 6), S. 276 f.   Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, 1978, S. 61. 30  M / R-Haas, § 25 Rn. 60. 31  So könnte man Hoyer, SK-StGB 9. Aufl. 2017, vor § 25 Rn. 14 verstehen, wenn er meint, dem Mittäter fehle es an der vollen Tatherrschaft, wofür aber § 25 II StGB ein funktionales Äquivalent kraft positiv-rechtlicher Anordnung biete; später ergreift er Partei für die Lehre von der gegenseitigen Anstiftung (§ 25 Rn. 117 ff.), auf die ich gleich zurückkommen werde (u. 2. c]). 32  Lange, Der moderne Täterbegriff und der deutsche Strafgesetzesentwurf, 1935, S. 55 ff.; Sax, ZStW 69 (1957), 412 ff. (434 ff.); Schröder, JR 1958, 427; Schönke / Schröder, StGB 16. Aufl., 1971, § 47 Rn. 43; Baumann, JuS 1963, 85 (85); ebenso RGSt 58, 279; 66, 236 (240). 33  Roxin (Fn. 6), S. 276 f.; Puppe, GA 1984, 101 ff. (112 Fn. 43). 28 29

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Mittäterschaft als gegenseitige Repräsentation zu rekonstruieren.34 Ähnliche Gedanken vertritt Haas,35 der die Mittäterschaft als wechselseitiges Mandat deutet, was von Renzikowski inzwischen auch aufgegriffen (und um die Figur der persona moralis ergänzt, s.u. d]) wird.36 So schreibt letzterer: „Jeder einzelne Mittäter repräsentiert das gemeinsame Handlungsprojekt“.37 Er spricht von einer Vertragstheorie der Mittäterschaft.38 Dass sich eine zivilrechtsorientierte Betrachtungsweise verbietet, müsste nach dem gerade Entwickelten (o. 1.) einleuchten. Die Straftat ist kein Rechtsgeschäft, auch kein Geschäft, das sich durch einen anderen besorgen lässt.39 c) Es liegt deshalb nahe, auf zivilrechtliche Anleihen überhaupt zu verzichten und nach strafrechtsinternen Anknüpfungspunkten zu suchen. Dieser Weg wird vor allem von Puppe beschritten, nach welcher die Rechtfertigung der Mittäterschaft darin liege, dass sie eine wechselseitige Anstiftung verkörpere.40 Bei Puppe verbindet sich diese Begründung mit ihrer Lehre vom Unrechtspakt als Grundlage der Anstiftung. Der Anstifter wird wie ein Täter bestraft, weil dieser seinen Tatentschluss in Abhängigkeit zum Anstifter stelle: Anstiftung liege dann vor, wenn der Täter die Tat aufgegeben hätte, falls der Anstifter dies getan hätte.41 Man könnte fragen, ob der Ansatz nicht mehr von einer subjektiven Theorie bzw. vom animus auctoris zu enthalten scheint,42 als er zuzugeben bereit ist. Sein zentrales Problem liegt aber darin, dass er eigentlich in die Liste der Kapitulationserklärungen (o. 1. am Ende) gehört: Dass die Mittäter einander gegenseitig anstiften,   Kindhäuser, FS Hollerbach, 2001, S. 627 ff. (645); ders., AT 8. Aufl. 2017 § 40 Rn. 2.   Haas, ZStW 119 (2007), 519 (534 f.); ders., (Fn. 11) 112 ff.; M / R-Haas, § 25 Rn. 64. 36  Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 9 ff.; ders., JuS 2013, 481 (485 ff.). In Renzikowski (Fn. 13), S. 101 war noch nur von Zurechnung an mehrere Personen als ein Kollektiv die Rede. Hingegen besteht Haas (Fn. 11), S. 114, und M / R-Haas, § 25 Rn. 64 darauf, dass nach seinem Ansatz die Verantwortung des einzelnen Mittäters „kein Derivat kollektiver Verantwortung“ sei. 37  Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 11. 38  Renzikowski, JuS 2013, 485, 486. 39 Übereinstimmend Puppe, GA 2013, 522: „zivilrechtliche haftungsbegründende Institutio­ nen können nicht ohne weiteres auf das Strafrecht übertragen werden, wo es um höchstpersönliche Verantwortung geht.“ 40  Puppe, GA 1984, 112 Fn. 43, 119 Fn. 58; dies., ZIS 2007, 235 ff.; dies., GA 2013, 521 f. Sehr ähnlich ist Steckermeiers (Fn. 1), S. 66 ff., 69, 152 ff. Begründung einer „verlängerten Tatherrschaft“ des Mittäters: diese entstehe aus einer (empirisch ausf. belegten, S. 71 ff.), eine innere Bindung erzeugenden wechselseitigen Einflussnahme, die über die eigentliche Herrschaft hinausgeht, da diese allein die eigene Tat zum Gegenstand habe. Sie merkt selbst, dass dies als Begründung dafür, warum mehr als eine wechselseitige Teilnahme gegeben sein soll, nicht ausreicht, und sucht deshalb nach einem ergänzenden Argument, worauf u. näher eingegangen wird (u. IV. 4. a]). Nebenbei: ein Großteil des von ihr verwerteten empirischen Materials bezieht sich eher auf, auf längere Dauer angelegte Gruppen – m.a.W. Banden und vor allem Vereinigungen – als auf die einzelfallbezogene Mittäterschaft. 41  Puppe, GA 1984, 114. 42  Zu diesen Theorien ausf. Roxin (Fn. 6), S. 51 ff. 34 35

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begründet keine wechselseitige Täterschaft, sondern wechselseitige Teilnahme;43 insofern ist Jakobs Kennzeichnung, dieser Ansatz erblicke in der Mittäterschaft „eine Art Täterschaft zweiter Klasse“,44 noch zu milde formuliert. In der Konsequenz des Ansatzes läge es, im eingangs erwähnten Raub-Fall A wegen Nötigung in Tateinheit mit einer Anstiftung zum Diebstahl zu bestrafen, und umgekehrt B wegen eines Diebstahls in Tateinheit mit einer Anstiftung zur Nötigung. Ich vermag nicht einzusehen, wie man auf dieser Grundlage zu einem gemeinschaftlichen Raub gelangen kann. d) Dass es zu einer Strafbarkeit wegen Raubs kommen sollte, leuchtet insbesondere dann ein, wenn man den Fall der Freunde A und B mit dem des einsamen C vergleicht, der alles eigenhändig erledigen muss. Es erscheint nämlich ungerecht, letzteren wegen Raubes zu verurteilen, erstere nur wegen Diebstahls bzw. Nötigung und der diesbezüglichen Anstiftungen. Deshalb postulieren einige Autoren wie Lampe, Lesch (und gelegentlich Jakobs), Joerden sowie Renzikowski so etwas wie ein kollektives Subjekt: A und B konstituieren ein „Unrechtssystem“,45 eine kollektive Sinneinheit,46 eine Kollektivperson47 oder eine persona moralis,48 dem bzw. der alles, was die konstituierenden Glieder tun, zugerechnet werden kann. Dieser Gedanke hat in Wahrheit eine lange Tradition.49 Die Idee eines kollektiven Subjekts könnte allenfalls überzeugen, wenn es allein um die Bestrafung eben dieses Kollektivs ginge.50 Hingegen lässt sich die Begründung der vollen Zurechnung 43  Diese Kritik üben auch Haas, ZStW 119 (2007), 534 Fn. 53; Seher, JuS 2009, 4; Renzikowski, JuS 2013, 485. Von Puppe wird der Punkt auch nicht bestritten, GA 2013, 522: „Die Tatbeiträge ihrer Komplizen werden ihnen aus genau dem gleichen Grund und in genau dem gleichen Sinn zugerechnet wie dem Anstifter die Tat des Täters, also nicht ‚wie eigenes Handeln‘.“ S.a. Böhringer (Fn. 1), S. 257 f. 44  Jakobs, FS Puppe, 2011, S. 547 ff. (548). 45  Lampe, ZStW 106 (1994), 688 ff. 46  Lesch, Das Problem der sukzessiven Beihilfe, 1992, S. 122 f.; ders., ZStW 105 (1993), 271 ff. (274 ff.); ders., JA 2000, 76 f.; Jakobs, FS Miyazawa, 1995, S. 419 ff. (421: „Tat eines Kollektivs“); ders., FS Lampe, 2003, S. 561 ff. (in späteren Arbeiten ist das Kollektivsubjekt wohl eher in den Hintergrund geraten, vgl. ders., FS Puppe, 2011, S. 547 ff.; ders., Theorie der Beteiligung, 2014, S. 44); für Vertreter in Japan vgl. die Nachw. b. Utsumi, ZStW 119 (2007), 773; nahestehend v. Weezel (Fn. 18), S. 191 ff.; Falcone, InDret 3/2017, S. 15 ff., die aber beide die Idee des Kollektivsubjekts ablehnen (Nachw. u. Fn. 51). 47  Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, S. 79. 48  Nachw. o. Fn. 37. 49  Kraatz (Fn. 17), S. 144 spricht von einer „Wiederbelebung der alten Komplottlehre“. 50  Ähnl. Kritik bei Dencker (Fn. 11), S. 123 f. (dessen eigenes „Haftungsprinzip Gesamttat“, S. 142 ff., für vergleichbare Einwände anfällig ist; Versuch einer Replik bei Frister, FS Dencker, 2012, S. 119 ff. [123 ff.]); Kindhäuser, FS Hollerbach, S. 630 f.; Kraatz (Fn. 17), S. 144 ff.; van Weezel (Fn. 18), S. 163 ff.; Frister, FS Dencker, S. 124; Falcone, InDret 3/2017, S. 19 f.; diese Kritik wird auch in Japan formuliert, s. Utsumi, ZStW 119 (2007), 773 m. w. N. Demgegenüber meint Maurach / Gössel / Zipf / Renzikowski, § 49 Rn. 12; ders., JuS 2013, 485, seine Lehre von der „persona moralis“ könne diesen Einwand entkräften. Mir ist nicht ersichtlich, wie. – Ich sage „allenfalls“, weil nicht einmal das Konzept eines Gesamtsubjekts in einem

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zu den einzelnen Individuen durch die Einführung eines über diesen Individuen stehenden Kollektivs nicht beantworten.51 e) aa) Die wohl überwiegende Antwort auf die Herausforderung ist die Idee der Tatherrschaft in ihrer Ausprägung als funktionale Tatherrschaft. So erblickt Roxin „das der Mittäterschaft Eigentümliche gerade darin, daß jeder einzelne im Zusammenwirken mit den anderen das Gesamtgeschehen beherrscht.“52 Personen, die einen gemeinsamen Zweck arbeitsteilig zu verwirklichen suchen, wird das gemeinsam Bezweckte und Verwirklichte als gemeinsames Werk zugerechnet. M.a.W.: jeder einzelne beherrscht alles; deshalb wird der einzelne auch nur für das bestraft, was er beherrscht. Roxin entwickelt dies an dem oben genannten Beispiel der zwei Räuber: „Nur wenn der Komplice mitmacht, ‚funktioniert‘ der Plan.“53 Es besteht insofern eine „‚Schlüsselstellung‘ jedes Beteiligten“: „jeder einzelne, wenn er die Beteiligung verweigert, bringt die Aktion zum Scheitern“.54 Mittäter ist also „derjenige [...], mit dessen funktionsgerechtem Verhalten das ganze Unternehmen steht oder fällt.“55 In Wahrheit findet nicht einmal eine Zurechnung von Fremdverhalten statt: So schreibt Roxin in Auseinandersetzung mit der Idee der wechselseitigen mittelbaren Täterschaft, diese verkörpere die „sonderbare, mit dem Schuldprinzip nicht in Einklang zu bringende Annahme, daß jemand als Täter für etwas bestraft werden sollte, was ein anderer aus eigener Verantwortung getan hat.“56 „Denn das eigene Tun des Mittäters verschafft ihm ohne Zurechnung von Fremdverhalten die Mitherrschaft über die Gesamttat.“57 bb) Dass hiermit der Grund für die rechtliche Legitimierbarkeit einer gegenseitigen Zurechnung bzw. einer Verantwortung für die Gesamttat genannt wird, kann ich hier nicht im Einzelnen darlegen. Es werden auf zwei Ebenen Einwände formuliert: auf einer allgemeineren Ebene gegen die Idee der Tatherrschaft als

Strafrecht, dass die Idee der höchstpersönlichen Verantwortung ernst nimmt, begründbar ist (näher Greco, GA 2015, 508). 51 Zutreffend Böhringer (Fn. 1), S. 224 f., 254 f. m. w. N. 52  Roxin (Fn. 6), S. 277; ebenso etwa Geppert, Jura 2011, 30 ff. (30); Gropp, AT § 10 Rn. 168 ff.; Herzog, Strafrecht AT, 2017, S. 239; Hoyer, SK-StGB 9. Aufl. 2017, § 25 Rn. 13, 108; Jescheck / Weigend, AT, S. 679; Kühl, AT § 20 Rn. 99; Rudolphi, FS Bockelmann, 1979, S. 369 ff. (374); Schünemann, LK-StGB § 25 Rn. 156 m. ausf. Nachw. Fn. 372; Valdágua, ZStW 98 (1986), 839 ff. (861); ähnl. Bottke, GA 2001, 471; mit einer ergänzenden Korrektur Seelmann, JuS 1980, 571 ff. (574). 53  Roxin (Fn. 6), S. 278. 54  Roxin (Fn. 6), S. 279. 55  Roxin (Fn. 6), S. 280; s.a. Rudolphi, FS Bockelmann, S. 373: „Mitherrschaft über die Tatbestandsverwirklichung als Ganzes“; Valdágua, ZStW 98 (1986), 860, 870 f. und u. Fn. 63. 56  Roxin (Fn. 6), S. 277, 287: „Der Mittäter wird ja nicht für das bestraft, was der andere getan hat, sondern um seiner eigenen Mitherrschaft willen.“; besonders nachdrücklich in diesem Sinne Valdágua, ZStW 98 (1986), 839 (852 ff., 860) und Schild, NK-StGB, 5. Aufl. 2017, § 25 Rn. 126: „Jeder der Mittäter ist selbst ‚Zentralgestalt‘…“ 57  Roxin, AT II, § 25 Rn. 257.

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solche58 sowie auf einer konkreteren Ebene an dem Vermögen dieser Figur, die Mittäterschaft zu tragen.59 Erstere muss ich hier beiseite lassen.60 (1) Ein erster Einwand auf der konkreteren Ebene ist eigentlich durch die angeführten Zitate aus „Täterschaft und Tatherrschaft“ bereits erledigt. Er lautet: eine Herrschaft im eigentlichen Sinne gebe es nur über den eigenen Anteil.61 Derjenige aber, der durch seine Weigerung das Unternehmen zum Scheitern bringen kann, hat auf jeden Fall das „Endwerk“ und sogar in einem bestimmten Sinne das Werk seines Mitgenossen unter seiner Kontrolle. Gelegentlich ist hier von einer „negativen Tatherrschaft“ die Rede.62 Inzwischen spricht Roxin von einer „Teilherrschaft“: „Diese Teilherrschaft über die Tatbestandsverwirklichung besteht darin, dass jeder einzelne Mittäter einen Teil der Ausführung bewirkt, durch dessen Nichterbringung er aber das Gesamtprojekt scheitern lassen kann.“63 Dies ist nur eine (womöglich irreführende64) Präzisierung: in der Sache kommt es immer noch maßgeblich auf den Einfluss auf das Gesamtprojekt an. (2) Der zweite, gewichtigere Einwand bezieht sich gerade auf diese Replik; er liegt so nahe, dass sich Roxin bereits in seiner Monografie zu ihm geäußert hat. Die Fähigkeit, den Erfolg zum Scheitern zu bringen, lässt sich bei den zwei Freunden A und B zwar bejahen; wie wäre es aber, wenn es A und B gelungen wäre, ihre kleinen Brüder a1, a2 und a3 bzw. b1, b2 und b3 jeweils zum Halten einer Pistole sowie zum Wegnehmen von Geld zu engagieren? Wie steht es mit dem Erschießungskommando, d. h. mit der sog. additiven Mittäterschaft?65 Die ursprüngliche Antwort von Roxin, in diesen Fällen gäbe es eine andere Tat,66 ist aber unbefriedigend, weil zirkelverdächtig: Wenn zur „Tat“ immer die Auflistung aller angeblichen Mittäter gehört, dann ist es eine Tautologie, dass der Wegfall eines von ihnen die so beschriebene Tat scheitern lässt.67 Eine weitere Antwort lautet, dass die Herrschaft 58 Etwa Haas (Fn. 11), S. 21 ff.; Freund, AT, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 42 ff.; Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 290 ff.; van Weezel, ZIS 2009, 432 ff. (444); Jakobs, FS Puppe, S. 550 f.; Marlie, Unrecht und Beteiligung, 2009, S. 43 ff. 59  Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 203 f. 60 Zur Verteidigung der Tatherrschaftslehre gegen diese und weitere Einwände nur Schünemann, FS Roxin II, 2011, S. 799 ff. 61  Schröder, wie Fn. 29; Cramer, FS Bockelmann, 1979, S. 389 ff. (400 ff.); Lesch, JA 2000, 75; Kindhäuser, FS Hollerbach, S. 632; Renzikowski, JuS 2013, 485; Steckermeier (Fn. 1), S. 66 f. 62  Vor allem Küper, JZ 1979, 775 ff. (786), der ganz entschieden auf die negative Tatherrschaft („Hemmungsmacht“) abstellt; Valdágua, ZStW 98 (1986), 862, 870 f.; gegen das Ausreichen dieser negativen Tatherrschaft für die Mittäterschaft aber Luzón Peña / Díaz y García, FS Roxin I, 2001, S. 593 ff. 63  Roxin, FS Frisch, 2013, S. 613 ff. (630 f.). 64  Ausdrücklich gegen eine Teilherrschaft bereits Roxin (Fn. 6), S. 277. 65  Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 57; Falcone, InDret 3/2017, S. 6. 66  Roxin (Fn. 6), S. 283 – wann dies der Fall sei, ließe sich „wiederum nicht generalisierend festlegen“, sondern nur anhand „richterlicher Wertung“ –, S. 767 f. 67 Ähnl. Haas (Fn. 11), S. 36.

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des Mittäters bzw. die Wesentlichkeit seines Tatbeitrags aus einer ex ante-Perspektive zu bestimmen sind.68 (3) Diese Lösung ist nicht falsch, jedoch keine, die zur vollen Zufriedenheit führt. Der dritte Einwand richtet sich auch, aber nicht nur, gegen diese Lösung: eine negative Tatherrschaft kann auch der Gehilfe innehaben bzw. auch er kann Beiträge leisten, die für den Erfolg des kriminellen Unternehmens aus einer ex ante-Perspektive wesentlich sind.69 Hier bleiben die Vertreter der funktionalen Tatherrschaft in der Tat eine Antwort noch schuldig. Herzberg und andere haben vorgeschlagen, die Konstellation mittels einer Normativierung zu lösen: auf die Gleichrangigkeit der Rollen komme es an.70 Ich stimme dem im Ergebnis zu. Diese Überlegung bedarf aber noch einer Rückführung auf das Gefüge der Tatherrschaftsidee, wenn hier nicht den Kritikern,71 die den Tatherrschaftsgedanken als unklare, zwischen Normativem und Faktischem oszillierende Proteusgestalt zurückweisen, Recht gegeben werden soll. Ich glaube, dass sich die Antwort sogar aus dem faktischen Kern der Tatherrschaft entwickeln lässt. Man muss nur bedenken, dass Herrschaft keine „absolute“, sondern eine „relative“ Größe ist, in dem Sinne, dass ihr Vorliegen auch von dem Standpunkt der Beteiligten im Verhältnis zueinander abhängig ist. D.h.: gleichgeordnete Beiträge verleihen eine Herrschaft, solange es über diesen keinen übergeordneten Beitrag gibt. Hierin liegt der Unterschied zwischen dem Mittäter und dem Gehilfen: Mittäter stehen einander gleichrangig gegenüber, Gehilfen sind zumindest einem Täter untergeordnet. Die Alternative zu dieser Konstruktion wäre die Figur eines Gehilfen ohne Haupttäter bzw. die Einordnung der Mitglieder der Familie A und B oder des Erschießungskommandos als bloße Gehilfen, was offensichtlich befremdlich wäre.72 Über die Tat, die sie begangen haben, haben sie geherrscht, auch deshalb, weil es keinen anderen gab, dem diese Herrschaft eher zukommen könnte. Anders wäre dies etwa, wenn bei einem Erschießungskommando 18 Männer eine kleinkalibrige, zur Tötung an sich nicht hinreichende, zwei andere hingegen eine großkalibrige Pistole einsetzen: hier wäre es nicht unmöglich, dass die kleinkalibrig Bewaffneten in die Gehilfenrolle verdrängt werden, nämlich als Unterstützer der in Wahrheit von den beiden großkalibrig Bewaffneten täterschaftlich begangenen Tötung.73 68  Roxin, AT II, § 25 Rn. 212, 230; s. gegen eine ex post-Betrachtung nach Vorbild der Notwendigkeitstheorie bereits Roxin (Fn. 6), S. 283. 69  Seelmann, JuS 1980, 574; Kindhäuser, FS Hollerbach, S. 632; Haas, ZStW 119 (2007), 533 f.; ders. (Fn. 36), S. 38; Seher, JuS 2009, 1 (5); Renzikowski, JuS 2013, 485; M / R-Haas, Vorb. §§ 25 ff. Rn. 13; Falcone, InDret 3/2017, S. 5. 70  Herzberg (Fn. 66), S. 69 f.; Seelmann, JuS 1980, 574. 71 Insb. Haas (Fn. 11), S. 26. 72  I.S. einer „Beteiligung ohne Täter“ aber Dencker, FS Lüderssen, 2002, S. 525 ff. 73  Das Beispiel funktioniert freilich nur, wenn man annimmt, die 18 Männer begingen keine Tötungshandlung; dies ist angesichts des Umstands, dass ein Schuss mit der kleinkalibrigen Pistole nicht zur Tötung gereicht hätte, anzunehmen.

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f) Ich ziehe ein kleines Fazit: Eine überzeugende Begründung für die Mittäterschaft und ihre Rechtsfolge der gegenseitigen Zurechnung bietet allein der Gedanke der funktionalen Tatherrschaft. 3. Rechtfertigung der fahrlässigen Mittäterschaft (I): Übertragung der Argumente auf das Fahrlässigkeitsdelikt Wir kehren zurück zur Fahrlässigkeit und fragen nach der Möglichkeit einer Übertragung der vorherigen Überlegungen auf das Fahrlässigkeitsdelikt. a) An sich könnten wir es uns einfach machen und die bereits abgelehnten Ansätze unberücksichtigt lassen. Es sei dennoch kurz auf ihr Verhältnis zur Fahrlässigkeit eingegangen. Weder die Lehre von der gegenseitigen mittelbaren Täterschaft, noch von der gegenseitigen Anstiftung, lassen sich auf das Fahrlässigkeitsdelikt übertragen, solange daran festgehalten wird, dass sich die Figuren der mittelbaren Täterschaft und der Anstiftung nur auf Vorsatzdelikte anwenden lassen.74 Die zivilrechtsinspirierten Ansätze müssten die Frage klären, ob man sich fahrlässig repräsentieren lassen kann; womöglich müsste dies u. a. mittels einer Auseinandersetzung über die Grundlagen der sog. Anscheinsvollmacht geklärt werden.75 Wahrscheinlich würden auf dem Weg zu dem von den meisten Vertretern dieses Ansatzes erwünschten Ergebnis keine dogmatischen Hindernisse vorliegen, zumal das Zivilrecht andere Wege der Zurechnung fremden Verschuldens kennt (u. a. § 278 BGB, § 31 BGB analog).76 Am leichtesten mit der fahrlässigen Mittäterschaft hat es die Figur der Kollektivperson. Dieses Gebilde soll psychologische Größen wie einen gemeinsamen Tatentschluss geradezu obsolet machen.77 Die Ansätze also, die auf das Fahrlässigkeitsdelikt übertragbar sind, sind bereits aus fundamentaleren Gründen bedenklich – und es wird auch ersichtlich, dass sie gerade deshalb die fahrlässige Mittäterschaft zu begründen vermögen, weil sie für die gegenseitige Zurechnung zu großzügige und abzulehnende Bedingungen aufstellen. b) Die an sich zutreffende Idee der Tatherrschaft, auch in ihrer Konkretisierung als funktionale Tatherrschaft, ist auf Vorsatzdelikte gemünzt und auf die Fahrläs74 Die Berechtigung dieser nicht unbestrittenen gesetzgeberischen Entscheidung (Roxin, AT II 2003, § 26 Rn. 26: „zu respektieren, aber auch zu bedauern“; Frister, FS Dencker, S. 130 f.) werde ich nicht in Frage stellen. 75  Zur Figur der Anscheinsvollmacht statt aller Schubert, MüKo-BGB 7. Aufl. 2015 § 167 Rn. 107 ff. Zur Straftatbegehung scheint eine Figur, deren ratio das Setzen eines Rechtsscheins ist, überhaupt nicht zu passen; eine weitere Bestätigung, dass Figuren, die für die Beteiligung am Rechtsverkehr konstruiert wurden, auf den inkommensurablen Zusammenhang des Unrechtsverkehrs nicht übertragen werden dürfen. 76  Die fahrlässige Mittäterschaft leitet Ransiek (Fn. 13), S. 70 gerade aus diesem Gedanken ab (ich revidiere meine ZIS 2011, 687 Fn. 136 an ihn gerichtete Kritik); ebenso Haas (Fn. 36), S. 142 f. 77  So insb. Lesch, wie Fn. 47.

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sigkeit deshalb von vornherein nicht erweiterbar; der Tatvorsatz ist für Herrschaft (mit-)konstitutiv.78 Aus der Perspektive der funktionalen Tatherrschaft überschreitet das, was man allen zurechnen möchte, per definitionem den arbeitsteilig verfolgten gemeinsamen Zweck. Insofern ist Puppe uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie apodiktisch behauptet, „Jeder versagt für sich allein.“79 Die fahrlässige Mittäterschaft ist der Versuch der gegenseitigen Zurechnung eines Exzesses. Sie ist eine Bestrafung für einen fremden Fehler. 4. Rechtfertigung der fahrlässigen Mittäterschaft (II): Sonstige Argumente Es fragt sich nur, ob dies für die fahrlässige Mittäterschaft bereits das „Aus“ bedeutet. Womöglich ließe sich ein weiteres Argument entwickeln, das eine gegenseitige Zurechnung jenseits dessen, was vom gemeinsamen Entschluss erfasst wird, zu begründen vermag. a) In einem früheren Beitrag habe ich genau diesen Versuch unternommen.80 Ich schlug ein Fairness-basiertes Argument vor: Derjenige, der sich arbeitsteilig organisiert, erweitere seine Handlungsmöglichkeiten; es sei deshalb auch angemessen, ihn für die Gefahren, die aus dieser Freiheitserweiterung hervorgehen, zur Verantwortung zu ziehen. Die fahrlässige Mittäterschaft sei also Ausdruck eines allgemeinen Rechtsprinzips, nämlich des Zusammenhangs von Freiheit und Verantwortung.81 Die neuere Arbeit von Steckermeier, die meine frühere Stellungnahme nicht berücksichtigt, deckt die römisch-rechtlichen Wurzeln dieser Idee auf: cuius commodum, hius periculum.82 Inzwischen wurde mir aber klar, dass der Weg nicht gangbar ist. Das genannte Rechtsprinzip kann für den Entzug eines angeborenen, höchstpersönlichen Rechts mittels der Strafe keine Begründung liefern. Seine eigentliche Domäne liegt woanders, nämlich bei der Begründung der Störerhaftung83 und der Gefährdungshaf78 Dass Roxin eine fahrlässige Mittäterschaft akzeptiert (Roxin, AT II § 25 Rn. 241 f.; ders., [Fn. 6], S. 770 Rn. 431 f.) bleibt in seinem Modell, das das Fahrlässigkeitsdelikt gerade nicht als Herrschaftsdelikt begreift, wie er selbst einräumt (Rn. 431), noch ohne Fundament; ausf. zur Entwicklung seiner Reflexionen zu dieser Sachfrage Böhringer (Fn. 1), S. 101 ff. 79  Puppe, GA 2004, 129. 80  Greco, ZIS 2011, 687. 81  Auf dieses Prinzip berufen sich etwa Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, 1996, S. 21; Falcone, InDret 3/2017, S. 15 f. 82  Steckermeier (Fn. 1), S. 159 ff. Das Argument hat bei der Autorin die Rolle einer zweiten Säule für ihre Mittäterschaftsbegründung (neben einer psychologisch begründeten „verlängerten Tatherrschaft“, s.o. Fn. 83). 83  Für ihre Grundlagen im öffentlichen Recht Lindner, Die verfassungsrechtliche Dimen­ sion der allgemeinen polizeirechtlichen Adressatenpflichten, 1997, S. 17 ff., 26 ff.; Hollands, Gefahrenzurechnung im Polizeirecht, 2005, S. 37 ff.; über die Störerhaftung im bürgerlichen Recht Baldus, MüKo-BGB, 6. Aufl. 2013, § 1004 Rn. 149 ff.

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tung.84 Hier geht es aber, anders als bei der Strafe, in der Regel um Erworbenes und niemals um eine Reaktion. Die Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten ist ein Zustand, keine Handlung; sie ist etwas, was einem auch geschehen und sogar aufgedrängt werden kann, während die Strafe auf etwas beruhen muss, wofür man sich selbst entscheidet. b) Man könnte noch versuchen, der Fairness-Idee anders habhaft zu werden, um sich nicht die Hypothek der Auseinandersetzung mit Rechtsfiguren aus verschiedenen Rechtsgebieten einzuhandeln. Wenn schon von Fairness die Rede ist, bietet es sich an, mit einer Metapher aus dem Sport zu arbeiten.85 Die deutsche Nationalmannschaft gewinnt die Fußball-WM 2014: dieser Erfolg lässt sich als gemeinsames Werk sämtlichen Spielern (und auch dem Trainer) zurechnen. Was für Erfolge gilt, so scheint es, muss ebenfalls für Misserfolge gelten: deshalb muss die Blamage Brasiliens im Halbfinale diesen Spielern (und ihrem Trainer) ebenfalls zugerechnet werden. Die Ablehnung einer fahrlässigen Mittäterschaft erscheint aus diesem Blickwinkel als befremdliche Asymmetrie, als könne es nur bei Zweck­ erreichung eine gegenseitige Zurechnung geben. Entgegen Puppe scheint es gemeinsames Versagen durchaus zu geben Es bieten sich zwei Antworten gegen dieses in der Tat einleuchtende Argument. Zum einen könnte man erwidern, mit ihm sei kein Argument für eine fahrlässige Mittäterschaft, sondern nur für die Möglichkeit einer im Versuchsstadium verbliebenen Mittäterschaft geliefert worden. Das gemeinsame Werk ist hier nicht die Niederlage, sondern der (fehlgeschlagene) Versuch zu siegen. Ob diese Antwort überzeugt, scheint mir nicht sicher, weshalb ich eine andere vorziehen würde: die Metapher krankt daran, dass der Fußball als Mannschaftssport kollektive Subjekte kennt, welchen Erfolg und Fehlschlag unmittelbar in Rechnung gestellt wird. Aus der Perspektive des Fußballs gibt es keine Handlungen von Klose oder Neymar, sondern nur von Deutschland oder Brasilien, weil nicht sie, sondern Deutschland oder Brasilien um Sieg und Niederlage kämpfen. Im Strafrecht geht es dagegen um Ureigenes, um den eigenen Hals.86 c) Das bedeutet noch nicht, dass nicht noch ein weiteres Argument formulierbar wäre, das die gegenseitige Zurechnung im Fahrlässigkeitsbereich zu begründen vermag. Dieses Argument liegt soweit ersichtlich aber noch nicht vor. Die vielen Vorschläge zur Konstruktion einer fahrlässigen Mittäterschaft, auf die ich hier nicht eingehen konnte,87 bieten in erster Linie eben Konstruktionen und keine Begründungen. Das gemeinsame Handlungsprojekt88 kann nur einzelne Beiträge zu Vgl. Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, 2003, S. 622 ff.  S.a. Dencker (Fn. 11), S. 221 ff. 86  Sehr augenfällig die im Mittelalter geläufige Bezeichnung der Strafrechtspflege als Halsgerichtsbarkeit, vgl. etwa Eb. Schmidt, in: Festschrift für Siber, Bd. I, 1941, S. 99 ff. (105, 144, 159 ff.). 87  Zu ihnen noch Kraatz (Fn. 17), S. 110 ff. 88  Vgl. o. Fn. 13. 84 85

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sammenfassen, die bereits zusammengehören, also Gemeinsames konstituieren; weshalb dessen Heranziehung zur Begründung gemeinschaftlichen Handelns ein Zirkelschluss wäre.89 Unzureichend ist vor allem der Gesichtspunkt der Gefahrerhöhung, auf den zur Begründung einer gegenseitigen Zurechnung im Fahrlässigkeitsbereich vielfach abgestellt wird.90 Er erklärt zwar, warum wir ein Interesse an einer gegenseitigen Zurechnung haben, nicht aber, warum der Beteiligte sie erdulden muss. Bemüht man sich um eine solche Rechtfertigung auch dem Beteiligten gegenüber, dann verwandelt sich die Begründung in Wahrheit in das fairnessbezogene Argument, das aber aus den o. a) entwickelten Gründen nicht zu überzeugen vermag. V. Das Fehlen eines Bedürfnisses für eine fahrlässige Mittäterschaft Die fahrlässige Mittäterschaft ist, wie o. II. gesehen, aus der Not geboren; heißt das also, dass derjenige, der die fahrlässige Mittäterschaft verwirft, sich gegenüber dieser Not blind verhält? 1. Vorab ist die Bedeutsamkeit der gerade angesprochenen praktischen Sorgen zu relativieren. Auch dann, wenn man für eine Annäherung von Kriminalpolitik und Strafrechtssystem eintritt,91 heißt das noch lange nicht, dass sich das Strafrechtssystem gegenüber jedem behaupteten oder empfundenen Bestrafungsbedarf aufgeschlossen zeigen sollte. Das Motto „Kriminalpolitik und Strafrechtssystem“ heißt richtig verstanden, dass die Bedingungen einer legitimen Bestrafung nicht allein vom Rechtssetzer, sondern auch vom Rechtsanwender zu berücksichtigen sind. Zu diesen Bedingungen zählt das Prinzip höchstpersönlicher Haftung bzw. das Schuldprinzip. Es gibt keine Not, die eine Verletzung des Schuldprinzips rechtfertigen kann. Es erleichtert aber, das Legitime zu vertreten, wenn man weiß, dass es nicht unpraktisch ist. Dem Nachweis, dass es sich so verhält, sind die nachfolgenden Zeilen gewidmet. 2. Es lassen sich genauer betrachtet zwei Konstellationen unterscheiden, die bezeichnenderweise jeweils durch die zwei eingangs genannten Beispielsfälle vertreten werden. In der ersten Konstellation, der des Rolling-Stones-Falles, ist nicht einmal nach dem herrschenden Kausalitätsverständnis ein Problem gegeben. Die zweite hingegen, die Konstellation der fahrlässigen Kollegialentscheidung, belegt augenfällig, dass dieses Verständnis nicht allein aus theoretischen Gründen einer Revision bedarf.  Ebenso Böhringer (Fn. 1), S. 298 f.  Insb. Dencker (Fn. 11), S. 224 f.; Kamm (Fn. 13), S. 179 f., 188; Knauer (Fn. 16), S. 195 und Roso Cañadillas (Fn. 13), S. 565; s.a. Steckermeier (Fn. 1), S. 167 ff.; zur Kritik bereits Greco, ZIS 2011, 687 Fn. 136. 91 Grdl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973 (1. Aufl. 1970); hierzu Greco, ZIS 2016, 416 ff. (416 f.) m. w. N. 89 90

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a) Die erste Konstellation ist in Wahrheit leicht gelöst. Hier werden große Felsbrocken bergab gerollt – dass dies der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt widerspricht, muss nicht ausführlich begründet werden. Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass es hierfür nicht nur einen, sondern zwei Gründe gibt. Zum einen gehen von den Steinen, die unkontrolliert und beschleunigt einen Berg hinunterrollen, offensichtliche Gefahren für Leib, Leben und Eigentum einer Vielzahl von Personen aus. Zum anderen begründet das Sich-Beteiligen an einem derart sinnlosen und offensichtlich gefährlichen Unterfangen einen augenfälligen Beleg, dass die Sache so sinnlos nicht sein kann – womit aus einem zweiten Grund eine unerlaubte Gefahr geschaffen wird, nämlich aus der Verstärkung der drittgefährdenden Motivation anderer.92 Denn das Verhalten des einen Beteiligten wirkt bekräftigend auf die Motivationslage des anderen (und umgekehrt). Unabhängig davon, wessen Stein das Opfer erschlägt: Jeder, der die pflichtwidrige Handlung in eigener Person begangen hat, hat bereits nach der condicio sine qua non-Formel93 eine Bedingung des Erfolges gesetzt, so dass an der Kausalität zwischen der Handlung und dem Erfolg nicht zu zweifeln ist; in diesem verwirklicht sich zudem entweder die erste der oben beschriebenen unerlaubten Gefahren, oder doch die zweite, so dass auch die objektive Zurechnung zu bejahen ist. Die herkömmliche Auffassung, die das fahrlässige Mitwirken nicht als Mit-, sondern als Nebentäterschaft versteht, hat also mit diesem Fall keinerlei Probleme.94 Es wird selten ausdrücklich hervorgehoben, dass hier bezüglich der objektiven Zurechnung (nicht der Kausalität) in Wahrheit ein Entweder-Oder vorliegt, also eine Situation der (gleichartigen bzw. unechten und nicht einmal umstrittenen) Wahlfeststellung.95 Dieselben Überlegungen gestatten es, den Sachverhalt aus OLG Schleswig NStZ 1982, 116 zu lösen.96 Zwei Einbrecher benutzen zur Beleuchtung mehrere Streichhölzer, die sie nach Gebrauch noch brennend wegwerfen. Ein solches Streichholz   Im Erg. ähnlich Hoyer, FS Puppe, 2011, S. 515 ff. (526).   Und erst recht nach der Formel von der Mindestbedingung, näher u. b). 94  Ebenso Baumann / Weber / Mitsch / Eisele, Strafrecht AT, 12.  Aufl. 2016, § 25 Rn. 88; Gropp, AT 4. Aufl. § 10 Rn. 216; MüKo-Hardtung, 3. Aufl. 2017, § 222 Rn. 67 (der auch „klarstellend“ von fahrlässiger Mittäterschaft spricht, Rn. 71); MüKo-Joecks, 3. Aufl. 2017, § 25 Rn. 289; Murmann, AT 4. Aufl. § 27 Rn. 55; Roxin, AT II § 25 Rn. 240; Rotsch, FS Puppe, 2011, S. 877 ff. (905, 907 f.) der aber meint, die fahrlässige Mittäterschaft sei immer überflüssig (was schon in der zunächst zu behandelnden Konstellation infirmiert wird); Utsumi, ZStW 119 (2007), 150; wohl auch Stratenwerth / Kuhlen, AT 6. Aufl. § 15 Rn. 77; Rengier, AT § 53 Rn. 6, der aber denkt, der Weg sei dann nicht mehr gangbar, wenn einer der Beteiligten ein omnimodo facturus sei (Rn. 9; ebenso Donatsch, SJZ 1989, 109 ff. [112]); dies verkennt aber, dass auch das Stärken des bereits gefassten fremden Tatentschlusses Verursachung ist; abl. mit beachtlichen Gründen, über die wir u. c) uns noch Gedanken machen müssen, Kraatz (Fn. 17), S. 358. – Nicht überzeugend ist hingegen die sog. „Unterlassungslösung“: BayObLG NJW 1990, 3032; Walder, FS Spendel, 1992, S. 363 (369 f.); wohl auch Donatsch, SJZ 1989, 113; hierzu ausf. Kraatz (Fn. 17), S. 80 ff.; Utsumi, ZStW 119 (2007), 776 ff. 95 Ebenso Kreuzberg (Fn. 6), S. 54, 716. 96 A.A. Kreuzberg (Fn. 6), S. 725, der für Straflosigkeit plädiert. 92 93

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erfasst hochentzündlichen Dralonstoff mit der Folge, dass ein Brand verursacht wird. Es lässt sich nicht feststellen, wer das entscheidende Streichholz geworfen hat. Auch hier haben beide den Erfolg verursacht; und im Erfolg hat sich entweder die eigenhändig geschaffene (unmittelbare) oder die mittelbar geschaffene (nämlich über die Motivation des anderen vermittelte) Brandgefahr verwirklicht. Dem könnte man aber entgegenhalten, dies verkenne das Eingreifen eines Regressverbots: jeder Fahrlässigkeitstäter ist eigenverantwortlich, sodass seine Fehler nicht dem anderen zur Last gelegt werden dürften.97 Eine fundierte Stellungnahme zum Topos des Regressverbots kann ich vorliegend nicht liefern.98 Ich begründe meine Skepsis mit zwei knappen Argumenten. Zum einen gibt es durchaus Sorgfaltsregeln, deren Sinn es ist, Schädigungen durch vollverantwortliche Dritte zu minimieren: man denke nur an Brandschutzregeln.99 Weshalb es also der Rechtsordnung verwehrt sein sollte, eine Sorgfaltsnorm des Inhalts „Du sollst Deinen Nächsten nicht zum gefährlichen Verhalten anspornen“ vorzusehen, leuchtet mir nicht ein. Zweitens erscheint mir die Prinzipientreue, mit der für ein Regressverbot eingetreten wird, zweifelhaft, wenn zugleich die Bereitschaft zur Anerkennung einer fahrlässigen Mittäterschaft bzw. zur Bestrafung für fremde Fehler vorliegt. Der Einwand hat aber seinen berechtigten Kern: nicht jedes schlechte Vorbild kann schon ausreichen, um eine täterschaftliche Fahrlässigkeitsverantwortung über Erfolge zu begründen, die auf dem eigenen Fehler desjenigen beruhen, der diesem Vorbild folgt. An dieser Stelle – bei der Frage also, innerhalb welcher Grenzen „fahrlässige Anstiftungen“ strafbar sind – besteht in der Tat Klärungsbedarf. Denn der Fall der zwei Radfahrer (RGSt 63, 392), die in der Nacht hintereinander unbeleuchtet fuhren, so dass es zu einem Zusammenstoß mit einem aus der entgegensetzten Richtung kommenden Radfahrer kam, der tödlich verunglückte, in dem man allgemein den Schutzzweckzusammenhang zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung des hinteren Radfahrers und dem Erfolg ablehnt (mit der Argument, es sei nicht der Sinn des Beleuchtungsgebots, das Fahrrad eines anderen zu beleuchten), wäre nicht mehr in diesem Sinne zu entscheiden, wenn jeder motivierende Beitrag zu einer fremden Sorgfaltspflichtverletzung seinerseits sorgfaltswidrig wäre.100 Oder man nehme den Fall aus OLG Karlsruhe MDR 1986, 431: hier verurteilte das Gericht wegen fahrlässiger Zerstörung eines Kulturdenkmals in Nebentäterschaft, begangen durch die Aussage, „ich würde es am liebsten sehen, wenn K das Scheu97  Renzikowski (Fn. 13), S. 285; in der Sache Utsumi, Jura 2001, 540; dies., ZStW 119 (2007), 786; Heine / Weißer, Sch / Sch-StGB, vor § 25 ff. Rn. 112 und M / R-Haas, § 25 Rn. 100 (letzter Satz). 98  Für meine Zurückhaltung gegenüber dem Regressverbot s. Greco, Um panorama da teoria da imputação objetiva, 4. Aufl. São Paulo, 2014, S. 90. 99 Ebenso Puppe, NK-StGB, vor § 13 Rn. 179; Kreuzberg (Fn. 6), S. 52. 100  An diesen Fall erinnert auch Puppe, GA 2004, 146 im Rahmen ihrer Kritik an der fahrlässigen Mittäterschaft. Der Fall ist aber nicht nur für die Vertreter dieser Figur ein Problem, sondern auch für jeden, der eine Nebentäterschaft „hinter“ einem Fahrlässigkeitstäter (d. h. durch Einwirkung auf dessen Motivation) für möglich erachtet.

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nengebäude abbricht“; K hat sodann das Gebäude abgerissen. Hier dürfte das OLG Karlsruhe zu weit gegangen sein. Die Klärung der hier bestehenden Grenzen muss aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. b) Größere Probleme bereitet die zweite Konstellation, nämlich die der fahrlässigen Kollegialentscheidung mit überflüssigen Stimmen. Hier muss in der Tat der Boden der herkömmlichen Auffassung verlassen werden. Die überflüssige Stimme ist bereits per definitionem keine conditio sine qua non des Erfolges: Sie lässt sich hinwegdenken, ohne dass er entfällt. Aber auch der Weg, der gerade beschrieben wurde, nämlich das zur-Verantwortung-ziehen für die Einwirkung auf das Verhalten eines anderen, erscheint nicht gangbar. Man wird nicht ohne weiteres behaupten können, dass derjenige, der an einer Abstimmung teilnimmt (oder es unterlässt daran teilzunehmen), zugleich das Abstimmungsverhalten der anderen mitbeeinflusst. Diesem Ansatz zu folgen, würde zu zufälligen Ergebnissen führen: Haftbarmachung nur derjenigen, die zuerst abgestimmt haben (denn ein bereits vorgenommenes Verhalten eines anderen lässt sich nicht mehr verursachen); keine Haftbarmachung im Falle geheimer Abstimmungen; offene Tore für Schutzbehauptungen und Beweisschwierigkeiten bzw. in dubio pro reo. Ich denke, die Konstellation der fahrlässigen Kollegialentscheidung sollte als Chance wahrgenommen werden, sich von falschen Annahmen im Bereich der Kausalitätslehre endgültig zu verabschieden. Dass die condicio sine qua non-Formel bereits bei der Konstellation der sog. alternativen Kausalität bzw. Mehrfachkausalität scheitert, weiß man seit mehreren Jahrzehnten.101 Bisher bestand aber allein der theoretische Druck konstruierter Gegenbeispiele (die berühmte doppeltvergiftete Kaffeetasse102), die man mit einer auf Traeger und Tarnowski zurückgehenden Modifikation der conditio-Formel zu bewältigen dachte:103 Von mehreren Bedingungen, die kumulativ, aber nicht alternativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfällt, seien alle für diesen Erfolg kausal. Dieser Weg ist jedoch aus mehreren Gründen nicht überzeugend,104 aber das empfand man wohl deshalb nicht als störend, da es nur um Lehrbuchkriminalität ging. Durch die Kollegial­ entscheidung mit überflüssigen Stimmen entsteht ein vom Leben selbst gesetzter Druck, dem man sich nicht mehr unbekümmert entziehen kann.  Etwa Jescheck / Weigend, AT, S. 282 („Ermordung Caesars durch 23 Dolchstiche“).   S. bereits Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, S. 45 f.; Welzel, Deutsches Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 45, m.Nachw. aus dem früherem Schrifttum (M.L. Müller und Tarnowski); s.a. Fincke, GA 1975, 165, der zur alternativen Kausalität schrieb: „Allerding ist es schwer, sich eine solche Situation praktisch vorzustellen.“ Der Fall liegt inzwischen vor. 103  Traeger (wie Fn. 101); Tarnowski, Die systematische Bedeutung der adaequaten Kausalitätstheorie für den Aufbau des Verbrechensbegriffs, 1927, S. 47 f.; u. a. über Welzel (wie Fn. 101) scheint die modifizierte Formel in viele Darstellungen Eingang gefunden zu haben, etwa bei Kühl, AT § 4 Rn. 19 ff.; Wessels / Beulke / Satzger, AT Rn. 232. 104 Vgl. Greco, ZIS 2011, 683, m. Nachw. zu der verbreiteten Kritik. Die modifizierte Formel kann sogar Stimmenthaltungen für kausal erklären. 101 102

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Diese Chance gilt es, in doppelter Hinsicht wahrzunehmen. Zunächst um sich von der impliziten Prämisse der condicio sine qua non-Formel zu distanzieren, es sei möglich, nur mit Blick auf den Einzelfall, also ohne Generalisierungen bzw. Naturgesetze zu postulieren, eine Aussage über ein Kausalverhältnis zu fällen.105 Die conditio sine qua non ist in Wahrheit auf Naturgesetze angewiesen, schlichtweg weil jede Verknüpfung zweier individueller Ereignisse (Schuss des A / Tod des B; Ja-Stimme durch X / Gesundheitsschaden von Y) miteinander als „Brücke“ eines Satzes bedarf, der über diese concreta des Lebens in einem generalisierenden Sinne hinausgeht.106 Dies sehen auch die vielen Autoren ein, die die conditio-Formel zugunsten der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung aufgegeben haben.107 Zweitens – und vor allem – kann man sich nicht mehr damit begnügen, mit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung eine Kausalität bei der Verknüpfung von zwei individuellen Ereignissen mittels eines Naturgesetzes stehenzubleiben.108 Man wird sich den Aufwand nicht ersparen können, Genaueres über die logische Struktur dieses Naturgesetzes und dessen Anwendung auf den Einzelfall zu sagen. Auch hier kann man an grundlegende Reflexionen von Puppe anknüpfen, die die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung zur Lehre von der Mindestbedingung fortentwickelt hat.109 Für diese Lehre ist Ursache ein notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung des Erfolgs. A schießt in das Herz des B, dieser stirbt sofort. As Schuss lässt sich als notwendiger Bestandteil der Mindestbedingung, die etwa – laienhaft und nicht technisch-medizinisch formuliert – folgenden Inhalt aufweisen könnte: „wenn ein Schuss auf jemanden abgefeuert wird, können lebenswichtige Organe beschädigt werden, etwa das Herz, das dann aufhört zu schlagen, mit tödlicher Folge“. Die besondere Stärke dieser Lehre zeigt sich darin, dass sie die bekannten Schwierigkeiten, mit der die condicio sine qua non-Formel zu kämpfen hat, überwindet, was insbesondere für die Konstellation der alternativen bzw. der Mehrfachkausalität gilt.110 Hier lautet ein notwendiger Bestandteil der Mindestbedingung „5 Stimmen von 9“. Selbst wenn alle 9 Stimmberechtigten im selben Sinne 105  So etwa Frisch, FS Gössel, 2002, S. 51 ff. (68): „praktische Umsetzbarkeit“ der condicio-Formel; Frister, AT, 9/35 f.; Greco, ZIS 2011, 685 f. 106  Greco, Problemas de causalidade e imputação nos delitos omissivos impróprios, São Paulo, 2018, S. 56 ff., in Auseinandersetzung mit der früheren Stellungnahme in ZIS 2011, 685 f. 107  Vgl. die Nachw. bei Roxin / Greco, AT § 11 Rn. 15. 108  So aber die überwiegende Anzahl derjenigen, die für diese Lehre eintreten, und dies selbst dann, wenn sie aus ihr die Lösung der Konstellation der Kollegialentscheidung erwarten (so etwa Weißer [Fn. 13], S. 113 ff., 116, 119; Schünemann in: Roxin / Widmaier [Hrsg.], 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 4, 2000, S. 621 ff. [S. 634]); Baumann / Weber / Mitsch / Eisele, § 10 Rn. 32). 109 Grdl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 ff. (865 ff., 891 f.); zuletzt Puppe, NK-StGB, vor § 13 Rn. 102 f.; w. Nachw. bei Roxin / Greco, AT § 11 Rn. 15a Fn. 31. 110  Roxin / Greco, AT § 11 Rn. 15g, 19 m. w. Nachw.

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abstimmen, lassen sich alle (in jeweils verschiedene Gruppierungen von 5) als Teile einer solchen Mindestbedingung des Erfolgs zusammenfassen. Eine Ursache war dann nämlich das Stimmverhalten von A (zusammen mit dem etwa von B, C, D und E), ebenso das Stimmverhalten von B (in Verbindung mit dem Verhalten von vier anderen), usw., bis zum 9., nämlich I. Es sei nebenbei bemerkt, dass viele der gegen diese Lehre gerichteten Einwände auf Missverständnissen beruhen;111 meine diesbezügliche Kritik, die nur auf der (ohnehin) nicht besonders starken Überlegung beruhte, die Lehre sei zu kompliziert,112 nehme ich ausdrücklich zurück. VI. Fazit Die fahrlässige Mittäterschaft ist zwar denkbar (o. III.); sie ist aber noch nicht überzeugend begründet worden (o. IV.), was den Verdacht stärkt, dass sie nicht überzeugend begründbar ist. Sie dürfte nicht einmal praktisch erforderlich sein (o. V.), wenn man sich von der falschen conditio-sine-qua-non-Formel verabschiedet und den Gedanken der Mindestbedingung aufgreift. Summary The paper criticizes the idea of a negligent coperpretation (fahrlässige Mittäterschaft). It accepts that this legal idea is conceivable. It argues that what is missing is the justification to treat someone, who causes a result acting together with another, when both didn’t intend a result, as if he had committed all the acts alone by himself. Finally, it tries to make a point that there is further no need for negligent coperpretation, if one corrects the most widely accepted theory of causality (as but-for-causality) in favor of the theory which calls cause a necessary component of a sufficient minimal set of conditions.

111  Verbreitet ist insb. die Gleichsetzung der Lehre von der Mindestbedingung mit der condicio-Formel (so etwa Samson, FS Rudolphi, 2004, S. 259 [266]; Böhringer (Fn. 1), S. 66 ff.; in der Sache auch Rotsch, ZIS 2018, 6 f.: überzählige Stimme gerade kein notwendiger Bestandteil der Mindestbedingung) – was nicht stimmt. Bei der condicio-Formel wird ein Umstand der Welt hinweggedacht, die Mindestbedingung wird dagegen dadurch gewonnen, dass man Umstände aus einem allgemeinen Satz, also aus dem generellen Konditionalsatz, hinwegdenkt (s. Greco, ZIS 2011, 685 m. Fn. 117). 112  Greco, ZIS 2011, 686.

Zur Logik der Zurechnung. Anmerkungen zum Straftatmodell Joachim Hruschkas Urs Kindhäuser

I. Einleitung In Joachim Hruschkas Explikation des Strafrechts nach logisch-analytischer Methode spielt die Unterscheidung zwischen der imputatio facti und der imputatio iuris mit dem Zwischenschritt der applicatio legis ad factum eine zentrale Rolle. Hruschka hat nicht nur die Begriffsgeschichte der Imputationenlehre in mehreren Abhandlungen detailliert dargelegt1 und so dem Juristen wertvolle begriffliche Differenzierungen der praktischen Philosophie in Erinnerung gerufen, sondern auch seine eigene Theorie des Verbrechensaufbaus auf der Basis der Imputationenlehre entfaltet.2 Nach diesem Modell erfolgt die Konstitution einer Straftat – im Wege der sog. ordentlichen Zurechnung3 – durch die jeweils positive Beantwortung dreier Fragen: (1) Kann einer Person ein Geschehen als dessen Urheber qua Handlung zugerechnet werden (imputatio facti, Zurechnung der ersten Stufe)? (2) Ist diese Handlung nach Maßgabe der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften als rechtswidrig zu beurteilen (applicatio legis ad factum, Gesetzesanwendung)? (3) K  ann die rechtswidrige Handlung der betreffenden Person auch zur Schuld zugerechnet werden (imputatio iuris, Zurechnung zweiter Stufe)?4 Ist auch Letzteres zu bejahen, so ist die zugerechnete Tat strafbar, sofern auch mögliche weitere Strafbarkeitsvoraussetzungen (z. B. Strafantrag) erfüllt sind.

1  Hervorgehoben sei für den hiesigen Kontext der Überblick in: Hruschka, „Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf“, ZStW 96 (1984), S. 661ff. 2 Nach Schuhr, „Hruschkas Zurechnungslehre – eine Skizze“, Crimint – Zeitschrift En Letra Derecho Penal (Argentinien), Sonderheft „Joachim Hruschka in memoriam“, Juli 2018, S. 21, stand Hruschka auch für das geltende Recht uneingeschränkt hinter seinem Zurechnungsmodell. 3  Die sog. außerordentliche Zurechnung sei im Folgenden weitgehend ausgeblendet, vgl. hierzu detailliert Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, Berlin / New York: Verlag Walter de Gruyter, 2. Aufl. 1988, S. 277 ff. 4  Hruschka, „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“, Rechtstheorie 1991, S. 449, 451 ff.

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Hruschka bedient sich dieses gestuften Straftatmodells insbesondere zur Veranschaulichung der logischen Differenz zwischen den zwei unterschiedlichen Regelsystemen, die bei der Konstitution der Straftat heranzuziehen sind.5 Während die Zurechnungsakte mit Hilfe askriptiver Regeln vorgenommen werden, erfolgt die applicatio legis ad factum durch die Anwendung von regulativen Regeln (Verhaltensnormen) in deren Maßstabsfunktion. Zugleich sieht Hruschka in den Stufen des Modells auch eine logische Abfolge von Schritten in der Weise, dass die höhere Stufe jeweils die positive Bestätigung der vorangegangen notwendig voraussetzt. Bevor etwa das Gesetz auf eine Handlung angewandt werden könne, müsse ein Geschehen als eben diese Handlung einer Person zugerechnet worden sein. Hinter Hruschkas Modell steht somit ein Verständnis der Straftat als eines Interpreta­ tionskonstrukts nach Maßgabe askriptiver und regulativer Regeln, das sich nicht vollständig auf empirisch wahrnehmbare Fakten reduzieren lässt. Doch auch und gerade, wenn man diesen Prämissen zustimmt, stellen sich mit Blick auf Hruschkas Modell u. a. zwei Fragen. Zum einen: Wie soll sich das Geschehen, das einer Person als dessen Urheber zugerechnet wird, schon vor einer Gesetzesanwendung bestimmen lassen? Zum anderen: Kann von einer rechtswidrigen Handlung bereits gesprochen werden, wenn die Fähigkeit, sich zu rechtmäßigem Alternativerhalten zu entscheiden, erst im Rahmen der Schuldzurechnung thematisiert wird? Die mit diesen Fragen angesprochenen Probleme seien im Folgenden ein wenig näher betrachtet. II. Gegenstand der Zurechnung Im Mittelpunkt von Hruschkas analytischem Interesse steht nicht der Normal-, sondern der Ausnahmefall. So nimmt auch in seinem Lehrbuch die Beschäftigung mit den Konstellationen der außerordentlichen Zurechnung breiten Raum ein, während der Bereich der ordentlichen Zurechnung eher am Rande behandelt wird. Vor allem zur imputatio facti findet sich nur wenig Erläuterndes und dies zudem noch in differierenden Formulierungen. So ist in einer Tabelle zu den Fällen fehlender Verhaltensalternativen mit Blick auf das Begehungsdelikt zu lesen:6 „Ein physikalischer Vorgang wird dem Täter als verbotene Vornahme einer Handlung zugerechnet, wenn der Täter zu dem Vorgang eine Alternative hatte, wenn er ihn (objektiv) vermeiden konnte.“ Wenig später wird dieser Gedanke erneut formuliert:7 „Auf der ersten Stufe ... gilt die Regel, dass ein physikalischer Vorgang einem Subjekt (einem Täter) nur dann als Vornahme einer spezifischen Handlung (als Vornahme einer Tötungshandlung, einer Wegnahmehandlung, einer Drohung, usw.) ordentlich zugerechnet werden kann, wenn das Subjekt zu dem Vorgang eine Alternative hatte, d.h. wenn das Subjekt die Möglichkeit und das Vermögen hatte,   Ebd., S. 454.   Hruschka (Fn. 3), S. 313. 7  Hruschka (Fn. 3), S. 337. 5 6

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die fragliche Handlung zu unterlassen.“ Beide Formulierungen unterscheiden sich jedoch nicht nur äußerlich durch die differierende Wortwahl, sondern weichen auch in der Sache deutlich voneinander ab. Wenigstens zwei Unterschiede sind bemerkenswert: Während in der erstgenannten Regel die Handlung als „verboten“ bezeichnet und das Erfordernis des Vorhandensein einer Alternative mit objektiver Vermeidbarkeit gleichgesetzt wird, wird die Handlung in der zweiten Regel als „spezifisch“ charakterisiert und für das Erfordernis des Vorhandenseins einer Alternative die Möglichkeit und das Vermögen des Subjekts zum Unterlassen der fraglichen Handlung verlangt, die Vermeidbarkeit also subjektiv verstanden. Ungeachtet der Abweichungen im Detail ist jedenfalls das maßgebliche Kriterium der Handlungszurechnung die Vermeidbarkeit des tatsächlichen Vorgangs durch Ergreifen einer Verhaltensalternative. Vermeidbarkeit setzt wiederum eine genauere Bestimmung des durch das Ergreifen einer Verhaltensalternative zu Vermeidenden voraus. Hruschka bezeichnet den Gegenstand der imputatio facti als „physikalischen Vorgang“,8 eine Formulierung, die sich jedoch prima facie kaum in die heutige Begrifflichkeit des Strafrechts überführen lässt. Die Schadensereignisse und Gefährdungen, an die das Strafrecht anknüpft, sind fast durchweg durch institutionelle Eigenschaften gekennzeichnet, die ihre Existenz sozialen bzw. rechtlichen Regeln verdanken. Die Wegnahme einer fremden Sache lässt sich ebenso wenig wie eine Verleumdung auf einen physikalischen Vorgang reduzieren.9 Hruschkas Anliegen ist es jedoch zu verdeutlichen, dass Vorgänge aus der determinierten Eindimensionalität der kausalen Welt durch Zurechnung in die Welt der moralischen Beurteilung transferiert werden, in die Welt der freien Entscheidungen über Alternativen.10 In diesem Sinne mag die Rede von einem physikalischen Vorgang als einem noch nicht unter dem Aspekt frei gesetzter alternativer Vorgänge interpretierten Geschehen ihre Berechtigung haben. Nur sollte dabei bedacht werden, dass diese vormoralische Welt der „physikalischen“ Vorgänge eine bereits durch ein Dickicht konstitutiver Regeln geprägte soziale Welt ist. Begreift man auch institutionelle Eigenschaften als Tatsachen, so ließe sich das Substrat der Zurechnung weniger missverständlich als „tatsächliches Geschehen“ oder – wie Hruschka es an anderer Stelle formuliert11 – als „Lebenssachverhalt“ bezeichnen. Doch wie soll der zuzurechnende Lebenssachverhalt, der als Gegenstand strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Betracht kommt, identifiziert werden? Hruschka   Hruschka (Fn. 3), S. 337.   Vgl. das berühmte Beleidigungsbeispiel bei Radbruch, „Zur Systematik der Verbrechenslehre“, in: Hegler (Hrsg.), Festgabe für v. Frank I, Verlag Mohr Siebeck: Tübingen, 1930, S. 158, 161. 10  Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin / New York: Verlag Walter de Gruyter: Berlin / New York, 1976, S. 34 f. (mit Fn. 25) mit dem Verweis auf die Unterscheidung von imputatio physica und imputatio moralis bei Christian Wolff. Näher hierzu auch Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, Verlag Duncker & Humblot: Berlin, 1988, S. 30 ff. und passim mwN. 11  Hruschka (Fn. 4), S. 454. 8 9

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zitiert insoweit zustimmend Daries, dem zufolge das Gesetz (lex) zur „völligeren Bestimmung des facti beiträgt“.12 In diesem Sinne betont Hruschka, dass die „logische Frage nach der Differenz zwischen den verschiedenen anzuwendenden Regelsystemen und die hermeneutische Frage, ob bei der Konstitution des Rechtsfalls nicht ‚ein Hin- und Herwandern des Blickes‘ zwischen der lex und dem factum, dem ‚Lebenssachverhalt‘, nötig sei, wenn der Urteiler seiner Aufgabe gerecht werden will, (...) grundsätzlich voneinander zu unterscheiden“ seien.13 Das Bild vom hin- und herwandernden Blick mag hermeneutisch hilfreich sein, wenn es um die Subsumtion eines Lebenssachverhaltes unter einen gesetzlichen Tatbestand geht.14 Nach Maßgabe des Imputationenmodells bezieht sich die applicatio legis jedoch nicht auf den Gegenstand der Zurechnung erster Stufe, sondern auf deren Resultat, die Handlung. Ein Problem entsteht hier nur dann nicht, wenn bereits der Gegenstand der Zurechnung alle gesetzlichen Merkmale aufweist, die das Resultat der Zurechnung zu einer verbotenen Handlung machen. Offensichtlich läuft ein der applicatio legis vorausgehender und von ihr unabhängig gedachter Zurechnungsakt ins Leere, wenn die lex mit dem Rechtssatz identifiziert wird, der die tatbestandlichen Voraussetzungen und die Rechtsfolge (Strafbarkeit) eines deliktischen Verhaltens gesetzlich fixiert. Ungeachtet der Streitfrage, welche Bedingungen ein Verhalten erfüllen muss, um die Eigenschaft aufzuweisen, Handlung zu sein, bedürfen diese Bedingungen der Exemplifizierung unter einer bestimmten Beschreibung, um eine konkrete Handlung zu konstituieren. Handlungen sind irreduzibel abhängig von einer Beschreibung, durch die sie sich als bestimmte Verhaltensinterpretationen verstehen lassen.15 Das schiere Verhalten eines Menschen ist lediglich eine Bezeichnung für die Existenz seines Körpers in Raum und Zeit; in diesem Sinne ist das Leben eines Menschen ein ununterbrochenes Verhalten. Aus einem solchen Verhaltensablauf lässt sich eine bestimmte Sequenz nur unter einer bestimmten Beschreibung ausschneiden, wobei sich zudem ein und derselbe Ausschnitt auch unterschiedlich beschreiben und damit als Handlung interpretieren lässt. So kann die Verhaltenssequenz, dass sich jemand auf einer Straße schnell bewegt u. a. als „joggen“, „zum Bahnhof eilen“ oder „vor Verfolgern fliehen“ beschrieben und interpretiert werden. Hieraus folgt als triviale Feststellung, dass schon als Gegenstand der strafrechtlichen Zurechnung nur das Verhalten samt Kontext und Folgen in Betracht kommt, das sich unter einen gesetzlich fixierten objektiven Deliktstatbestand subsumieren lässt.16 Diese Subsumtion impliziert noch keine Zurechnung im Sinne der Zu  Hruschka (Fn. 4), S. 454 mit Fn. 18.   Hruschka (Fn. 4), S. 454. 14  Näher zur Problematik Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, Verlag Duncker & Humblot: Berlin, 1965, S. 12 ff. und passim. 15 Vgl. auch Ast, Handlung und Zurechnung, Verlag Duncker & Humblot: Berlin, 2019, S. 131 f. 16 Nach Schuhrs ([Fn. 2], S. 17) Interpretation von Hruschkas Straftatmodell sollen imputatio facti und applicatio legis ad factum nicht in einer zeitlichen Abfolge angeordnet sein, son12 13

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schreibung von Verantwortung für einen tatsächlichen Vorgang, sondern legt diesen nur als Gegenstand einer möglichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit fest.17 Kurz: Gegenstand der (strafrechtlichen) Zurechnung erster Stufe sind solche und nur solche Sachverhalte, welche die Individuenvariablen eines gesetzlichen Tatbestands im Sinne einer im Allgemeinen negativ bewerteten Verhaltensbeschreibung exemplifizieren.18 III. Norm und Normbefolgung 1. Nun ist mit der Subsumtion eines Sachverhalts unter einen (objektiven) Deliktstatbestand zugleich eine rechtliche Wertung vorgenommen. Treffend drückt Adolf Merkel diesen Wertungszusammenhang zwischen Deliktstatbestand und Sanktion mit den Worten aus: „Indem die Strafgesetze die von ihnen beschriebenen Handlungen mit Strafe bedrohen, erklären sie dieselben damit implicite für (…) rechtswidrig.“19 Merkel wendet sich damit gegen Bindings Auffassung, dass den Tatbeständen noch das Merkmal der Rechtswidrigkeit im Sinne einer Unbotmäßigkeit gegen den staatlichen Gehorsamsanspruch zu addieren sei, und sieht vielmehr in den Tatbeständen die ratio essendi des strafbaren Unrechts.20 Ob der Deliktstatbestand bei diesem Verständnis als propositionaler Gehalt einer Verhaltens- oder einer Bewertungsnorm begriffen wird, ist ohne Belang. Die Deutung der Merkmale des Deliktstatbestands als Proposition einer Norm besagt lediglich, dass ein Verhalten samt Kontext und Folgen, das die Individuenvariablen des Tatbestands exemplifiziert, im Allgemeinen nicht gesollt ist bzw. einer rechtlichen Wertung zuwiderläuft.21 Dieser Ansatz ist dem – heute wieder zunehmend vertretenen – Einwand ausgesetzt, nur schuldhaftes Handeln könne auch strafrechtlich relevantes Unrecht sein.22 Eine Trennung unterschiedlicher Kategorien in Gestalt von Unrecht und dern in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, das letztlich eine gemeinsame Prüfung verlange. 17 Treffend Ast (Fn. 15), S. 130: „Jede Handlung hat zwar einen Zurechnungsgegenstand, dieser ist aber nicht die Handlung.“ 18 Ausdrücke wie Rechtsverletzung oder Normwiderspruch verlangen dagegen schon die Zurechenbarkeit des rechtswidrigen Verhaltens als Verletzung oder Widerspruch zu einer Person. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB legt die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens nur als notwendige Voraussetzung für die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens im Strafrecht fest. 19  Merkel, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Verlag Ferdinand Enke: Stuttgart, 1889, S. 35. 20 Ebd. 21 Vgl. auch Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I, Verlag Wilhelm Engelmann: Leipzig, 2. Aufl. 1890, S. 111 ff. 22  Vgl. u. a. Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, Springer Verlag: Berlin / Heidelberg, 2. Aufl. 2009, § 4 R. 20 ff.; Lesch, Der Verbrechensbegriff, Carl Heymanns Verlag: Köln / Berlin / Bonn / Müchen, 1999, S. 277 f. und passim; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, Verlag Mohr

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Schuld sei abzulehnen.23 Dieser Einwand ist freilich klärungsbedürftig. Soll er besagen, dass nur schuldhaftes Unrecht strafbar sei, so ist er trivial, da nach Maßgabe der lex lata selbstverständlich. Soll er besagen, dass von einer Verletzung von Recht oder einem Widerspruch zu einer normativen Verhaltensanforderung nur gesprochen werden könne, wenn die für die Annahme einer Verletzung oder eines Widerspruchs erforderlichen Zurechnungsvoraussetzungen erfüllt sind, so ist er tautologisch; die jeweiligen Definitionen legen dann die erforderlichen Zurechnungsvoraussetzungen begrifflich fest. Bedeutsam könnte der Einwand dagegen sein, wenn er in die Behauptung gekleidet wird, das Verhalten eines schuldlos Handelnden könne nicht zum Vorwurfsgegenstand erhoben werden, wenn der Handelnde nicht als tauglicher Normadressat in Betracht komme.24 Ein untauglicher Normadressat könnte demnach also rechtlich nichts falsch machen, weil sich eine Norm nur gegenüber einem tauglichen Normadressaten – und das heißt: einem potenziell schuldhaft handelnden Täter – aufstellen ließe.25 Wenn die Geltung einer Norm von der schuldrelevanten Fähigkeit abhinge, sie zu befolgen, das Urteil über diese Fähigkeit aber von einem Dritten – etwa einem Richter – zu treffen wäre, könnte eine Person in einer bestimmten Tatsituation nicht wissen, ob sie überhaupt ein potenzieller Normadressat ist, geschweige denn die Norm kennen, die nach Maßgabe einer Fremdeinschätzung ihrer schuldrelevanten Fähigkeiten erst noch als für sie verbindliche Handlungsanweisung zu formulieren wäre.26 Ein solches Verständnis27 des Verhältnisses von Schuld (im technischen Sinne) und Rechtswidrigkeit lässt sich jedoch mit den heutigen Grundbegriffen des Strafrechts nicht in Einklang bringen. Mit dem Abrücken von einer Willensschuld, die als Voraussetzung Zurechnungsfähigkeit verlangt und sich in Vorsatz und Fahrlässigkeit erschöpft, zugunsten eines normativen Schuldbegriffs28 ist eine der Rechtswidrigkeit vorgelagerte Schuldfeststellung schon aus logischen Gründen nicht zu vereinbaren. Wie wollte man auch einen entschuldigenden Notstand, der ein rechtswidriges Verhalten zur Voraussetzung hat, ohne Zirkelschluss vor der Feststellung der Rechtswidrigkeit eben dieses Verhaltens prüfen?29 Siebeck: Tübingen, 2012, S. S. 259 ff.; Rostalski, „Zur objektiven Unmöglichkeit schuldlosen Verhaltensunrechts im Strafrecht, in: Schneider / Wagner (Hrsg.), „Normentheorie und Strafrecht“, Nomos Verlag: Baden-Baden, 2018, S. 105 ff. 23  Rostalski, (Fn. 22), S. 105. 24  Ebd., S. 118, Hervorhebung im Original. 25  Ebd., S. 110 26  Eine Möglichkeit, aus diesem Zirkel bei Beibehaltung der Prämissen zu gelangen, wäre die Bildung einer Metanorm, vgl. hierzu Haas, „Der Verbrechensbegriff von Günther Jakobs“, in: Kindhäuser / Kreß / Pawlik / Stuckenberg, Strafrecht und Gesellschaft, Verlag Mohr Siebeck: Tübingen, 2019, S. 277, 291 ff. 27  Solche Fehlschlüsse resultieren aus der Konfundierung askriptiver und regulativer Regeln und ihrer unterschiedlichen Anwendungsperspektiven. Ein Normadressat soll rechtlich richtig handeln, aber nicht schuldhaft oder schuldlos. 28  Grundlegend hierzu Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, Verlag Alfred Töpelmann: Gießen 1907, S. 9 ff. und passim.

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Allerdings ließe sich dieser auf die heutigen dogmatischen Regelungen gestützten Ablehnung eines Verständnisses der Schuld als Unrechtsvoraussetzung entgegenhalten, dass der normative Schuldbegriff nur eine Ansammlung diverser strafausschließender oder zumindest -mildernder Kriterien sei und sich die normgemäße Steuerungsfähigkeit und damit die Zurechnungsfähigkeit durchaus aus der Schuld (im technischen Sinne) in die Voraussetzungen von Unrecht verlagern lasse. Dies entspräche etwa einer Variante der sog. Imperativentheorie, der zufolge ein Sollen das hierzu erforderliche Können logisch impliziert. Das Bild, das hinter dieser Auffassung steht, ist das eines individuellen Befehls, für das Hruschka (befürwortend) ein passendes Beispiel anführt:30 Die Aufforderung „Du sollst die Tür schließen!“ setze voraus und impliziere, dass der Sprecher der Meinung sei, der Angeredete könne die Tür auch tatsächlich schließen.31 Sei es für die Beteiligten offensichtlich, dass der Befehlsadressat die Tür nicht schließen könne, dann sei der fragliche Befehl nur noch so zu verstehen, dass er in einer lingua obliqua gesprochen und also zynisch gemeint sei. Daraus folge auch, dass bei einer restrospektivischen Kritik des Nichtschließens der Tür als eines befehlswidrigen Verhaltens der Beurteilende der Meinung sei, der Befehlsadressat habe die an ihn gerichtete Aufforderung befolgen können. Die Befolgbarkeit des Befehls sei daher Voraussetzung für die Bewertung der fraglichen Untätigkeit als befehlswidriges Verhalten. Hruschka bezieht dieses Beispiel nur auf die Fähigkeit, befehls- bzw. normgemäß zu handeln, also auf die erste Stufe in seinem Straftatmodell, auf dem ein Verhalten als Handlung oder Unterlassung zugerechnet wird, um dann als befehlsbzw. normwidrig kritisiert werden zu können. Konsequent wäre es allerdings, auch die Fähigkeiten im Rahmen der Schuldzurechnung zu den Implikationen des Befehls zu zählen. Auch einem Geisteskranken gegenüber, der zwar körperlich und intellektuell in der Lage wäre, die Tür zu schließen, der sich aber zu dieser Handlung mangels normativer Motivierbarkeit nicht bewegen ließe, wäre der Befehl, die Tür zu schließen, nur eine zynisch gemeinte Äußerung. Damit aber wäre auch die befehlsgemäße Steuerungsfähigkeit eine Voraussetzung der Beurteilung eines Verhaltens – hier des Unterlassens, die Tür zu schließen – als befehlswidrig, so dass sich die Trennung von zwei Zurechnungsstufen mit einer dazwischenliegenden Verhaltensbewertung im Sinne des Zurechnungsmodells nicht konstruieren ließe. An dieser Stelle zeigt sich, dass das für die Zurechnung auf der ersten Stufe erforderliche Können einer Präzisierung bedarf. Hruschka begnügt sich für die Zurechenbarkeit einer Handlung als Gegenstand eines Rechtswidrigkeitsurteils mit 29  Ungeachtet der Konsequenzen des Verhältnisses dieser Regelungen zueinander für die Beteiligung und für die Rechtsstellung des bei einem entschuldigenden Notstand oder Notwehrexzess Verletzten. Vgl. demgegenüber die Empfehlungen Freunds (Fn. 22), § 4 Rn. 28a, für die Fallbearbeitung. 30  Hruschka (Fn. 4), S. 453. 31  Hare, auf den Hruschka verweist, bezeichnet das Verhältnis von Sollen und Können in diesem Kontext ausdrücklich nicht als logisches, sondern als praktisches, vgl. Freiheit und Vernunft, Patmos Verlag: Düsseldorf, 1973, S. 67 ff, 70 f.

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der Annahme, dass der Täter in der konkreten Situation gleichermaßen in der Lage gewesen sei, die verbotene Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen.32 Dieses „in der Lage gewesen sein“ wird von ihm jedoch nur negativ bestimmt; es soll zu verneinen sein bei Unkenntnis der Beschreibung bzw. der Regel, unter welche die zuzurechnende Handlung zu subsumieren wäre, sowie bei physischer Unfähigkeit aufgrund unüberwindbarer körperlicher oder externer Hindernisse. Ohne gegebenen Willen, Kenntnisse und physische Fähigkeiten auch zu alternativem Verhalten einzusetzen, ist jedoch – wie das Beispiel des geisteskranken Befehlsadressaten zeigt – die Annahme, der Täter sei zu dem gesollten Alternativverhalten „in der Lage gewesen“, nicht hinreichend begründet. Dieses Willensmoment verbindet beide Zurechnungsstufen und lässt sich nicht durch die Unterstellung undefinierter Freiheit ersetzen. Hierauf wird zurückzukommen sein. 2. Es mag im hiesigen Kontext dahinstehen, ob die Theorie, die das Rechtssystem als Komplex von Imperativen begreift, auch nur einen halbwegs plausiblen Kern hat.33 Jedenfalls lassen sich die für das Strafrecht bedeutsamen Erlaubnisse oder Freistellungen bei diesem Ansatz nicht als Verhaltensnormen darstellen, da die Aufforderung „Du darfst x tun oder unterlassen!“ schwerlich als Befehl34 gedeutet werden kann. Ungeachtet dessen zeigt schon Hruschkas Formulierung des Beispiels, dass der Sprechakt des Befehls bei mangelnder Handlungsfähigkeit des Adressaten nicht etwa daran scheitert, dass das Befohlene sprachlich unlogisch ausgedrückt wäre, wie es z. B. bei der Anweisung „Du sollst diese verschlossene Tür schließen!“ der Fall wäre. Der Befehl scheitert bei mangelnder Handlungsfähigkeit des Adressaten vielmehr daran, dass das mit diesem Sprechakt verfolgte Ziel im konkreten Fall nicht erreicht werden kann. Die Sinnlosigkeit des Befehls liegt mit anderen Worten nicht in der mangelnden Logik des propositionalen Gehalts der Äußerung, sondern in der misslungenen Pragmatik, mit der Äußerung den sprechaktspezifischen Effekt zu erzielen, nämlich die Realisierung des Befohlenen.35 Hruschka stellt auch nicht in Abrede, dass die fragliche Äußerung die Voraussetzungen eines Befehls erfüllt, 36 sondern hält es wegen dessen mangelnder Befolgbarkeit für zynisch, einen solchen Befehl zu erteilen. Wird das Beispiel der32 „Der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils nach heutigem Strafrecht“, GA 1980, S. 1 ff., 4. 33  Grundlegende Kritik bei Hart, The Concept of Law, Clarendon Press: Oxford, 2. Aufl. 1994, S. 18 ff. und passim. 34  Die Verwendung des Ausdrucks „Befehl“ als Paraphrase für das Sollen bei Verboten und Geboten ohne Bezugnahme auf einen spezifischen Sprechakttypus bleibt von dieser Kritik unberührt. 35  Zu einer sprechakttheoretischen Analyse dieser Differenz Mañalich, „Setzt die applicatio legis ad factum eine imputatio facti voraus?“, Crimint – Zeitschrift En Letra Derecho Penal (Argentinien), Sonderheft „Joachim Hruschka in memoriam“, Juli 2018, S. 22 ff. 36  Hruschka bezieht in dem obigen Zitat (Fn. 30) die Verbindung von Sollen und Können nur auf die „Meinung“ des Befehlenden, also auf die illokutionäre und nicht die lokutionäre Rolle des Sprechakts; in diesem Sinne auch Hare (Fn. 31), S. 70 f.

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gestalt abgeändert, dass ein Vorgesetzter einer mehr oder weniger großen Anzahl Untergebener eine Verhaltensweise vorschreibt, von denen nur U1 zur Ausführung des Befehls nicht in der Lage ist, so wird man diese Handlungsanweisung weder für U1 noch für die anderen Befehlsempfänger als zynisch ansehen können, zumal schon bei einer gewissen Unübersichtlichkeit der Lage die Voraussetzungen der Wirksamkeit eines befehlenden Sprechakts kaum noch an eine zutreffende Einschätzung der je individuellen Handlungsfähigkeit der Adressaten durch den Befehlenden geknüpft werden können. Dies wäre jedoch nicht möglich, wenn ein Befehl die Fähigkeit zu seiner Befolgung logisch implizierte. Angenommen, der Gesetzgeber G stellte das allgemeine Verbot auf, fremde Sachen zu beschädigen. Stößt nun U1 die Vase des U2 um, die auf den Boden fällt und zerbricht, so verstößt U1 gegen das fragliche Verbot. Denn aus dem allgemeinen Verbot, eine fremde Sache zu beschädigen, lässt sich nach einer normlogischen Individualisierungsregel der individuelle Sollenssatz ableiten, dass es verboten ist, eine fremde Vase zu zerstören; die konkreten Individuen unterfallen hier den Allgemeinbegriffen des Verbots.37 Dagegen ist die Fähigkeit von U1, die Beschädigung der Vase zum Zeitpunkt t zu vermeiden, kein spezifiziertes Individuum, das in die Individuenvariablen des allgemeinen Verbots eingesetzt werden könnte. Vielmehr bezieht sich die Fähigkeit von U1 – das Wissen und physische Können – die Beschädigung der Vase gewollt zu vermeiden, auf das verbotene Verhalten selbst. Nähme das Verbot auf die Fähigkeit seiner Befolgung inhaltlich Bezug, so verstieße es gegen das logische Verbot der Selbstbezüglichkeit.38 Eine solches Verbot müsste lauten: Es ist verboten, fremde Sachen zu beschädigen, sofern der Adressat des Verbots fähig ist, das Verbot, fremde Sache zu beschädigen, zu befolgen. Was für das Beispiel gilt, gilt für jede Norm, die durch Handlungen zu befolgen ist. Stets ist die Fähigkeit, die Norm zu befolgen, kategorial von der Norm selbst zu unterscheiden, soll deren Selbstbezüglichkeit vermieden werden. Zudem käme man in einen infiniten Regress, wenn die Normbefolgungsfähigkeit Inhalt der Norm wäre, da der Adressat auch zur Normbefolgungsfähigkeit fähig sein müsste, damit die Norm gilt – usw. 39 Vielmehr muss als „Wer“, der als Adressat der Verhaltensnorm der Jedermann-Delikte im Besonderen Teil genannt ist, notwendig auch derjenige in Betracht kommen, der diese Norm nicht kennt, weil sonst die Unkenntnis irrelevant wäre; über eine Norm, die bei (unvermeidbarer) Unkenntnis nicht existiert, kann man sich auch nicht irren. 3. Dies besagt freilich nicht, dass eine Norm und die Fähigkeit zu ihrer Befolgung in keiner Beziehung zueinander stünden. Jemandem einen Befehl zu erteilen,   Vgl. hierzu auch Ast (Fn. 15), S. 171 f.   Vgl. hierzu nur Vogel, Norm und Pflicht bei unechten Unterlassungsdelikten, Verlag Duncker & Humblot: Berlin, 1993, S. 41 f. mwN. 39  Zum infiniten Regress bei einer Einbeziehung des Wollens in den Inhalt der Norm vgl. v. Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2. Aufl. 1999, S. 89 ff.; gegen die Einbeziehung von Zurechnungskriterien in den Norminhalt auch Binding (Fn. 21), S. 53 f. 37 38

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von dem man weiß, dass er ihn nicht befolgen kann, mag zwecklos sein und allenfalls in einer lingua obliqua Sinn haben. Vor allem aber wird man demjenigen, der schlechterdings nicht in der Lage ist, einen Befehl auszuführen, nicht den Vorwurf machen können, den Befehl nicht befolgt zu haben. Die Unfähigkeit, eine Norm zu befolgen, lässt nicht die Norm entfallen, sondern hindert die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für ein normwidriges Verhalten. Unfähigkeit ist kein Kriterium mangelnder Normwidrigkeit, sondern mangelnder Verantwortlichkeit für Normwidrigkeit – kurz: ein Kriterium des Zurechnungsausschlusses. Der Zusammenhang zwischen einer Norm und der Fähigkeit zu ihrer Befolgung ist also nicht logischer, sondern pragmatischer Natur. Die Norm bedarf der Fähigkeit zu ihrer Befolgung, um faktische Wirksamkeit zu erzielen. Sind Norm und Normbefolgungsfähigkeit jedoch nur pragmatisch miteinander verknüpft, so kann diese Verbindung auch nicht a priori feststehen, sondern nur zu einem bestimmten Zweck erfolgen. Abgesehen davon, dass es Personen gibt, die – wie etwa Kleinkinder – per se untauglich zur Normbefolgung sind, hängen die Anforderungen an das Maß der Fähigkeit zur Normbefolgung von der Zwecksetzung ab, die mit der Bindung des Normadressaten an die Norm verfolgt wird. Der fragliche Zweck kann wiederum nicht aus der Norm abgeleitet werden, da der Norm, soll sie nicht selbstbezüglich sein, nicht entnommen werden kann, warum und in welchem Maße sie befolgt werden soll.40 Im Strafrecht kann dieser Zweck vielmehr nur vom Zweck der Strafe her bestimmt werden: faktische Normgeltung nach Maßgabe hinreichender Rechtstreue zu sichern.41 Strafe ist demnach als Reaktion auf ein der Norm widersprechendes Verhalten legitim, wenn deren Befolgung vom Normadressaten unter den gegebenen Umständen bei hinreichender Rechtstreue erwartet werden konnte. Ein Beispiel für die zweckgebundene Relativität des Maßes der von einem rechtstreuen Bürger erwarteten Bereitschaft, seine Fähigkeiten zur Normbefolgung einzusetzen, liefert die lex lata in Gestalt der Regelung des entschuldigenden Notstands. Während von einem beliebigen Normadressaten in einer Situation, in der rechtmäßiges Verhalten die Preisgabe elementarer eigener Güter verlangte, keine Bereitschaft zur Normbefolgung erwartet wird, bleibt derjenige, der die Notstandslage zu vertreten hat, für sein rechtswidriges Verhalten verantwortlich (§ 35 Abs. 1 S. 2 StGB). Die Vorschrift verdeutlicht im Übrigen nicht nur, dass die Fähigkeit zur Normbefolgung nicht Inhalt der Norm sein kann – sonst könnte das mangels erwarteter Normbefolgungsfähigkeit nicht zu verantwortende Verhalten nicht rechtswidrig sein –, sondern zeigt auch, dass der Zweck der Norm nicht iden40  Deshalb dürfte auch Hruschkas These, Obliegenheiten seien synthetisch aus Normen abzuleiten („Über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit“, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Festschrift für Bockelmann, Beck Verlag: München, 1979, S. 426 ff.; ders. [Fn. 3], S. 398 f., 415 ff.), nicht haltbar sein. Wenn Obliegenheiten Zurechnungskriterien sind, dann können sie auch nur vom Zweck der Zurechnung – dem Strafzweck – her bestimmt werden. 41  Näher hierzu Kindhäuser, „Rechtstreue als Schuldkategorie“, ZStW 107 (1995), S. 701 ff. mwN.

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tisch sein kann mit dem Zweck der Sanktion. Denn der Zweck der Norm, gegen die verstoßen wird, ist ersichtlich unabhängig davon, ob der Täter nach § 35 StGB entschuldigt wird oder nicht. IV. Kriterien der Zurechnung 1. Wird der Deliktstatbestand als Proposition einer Norm verstanden, so wirft dies zwei Probleme auf. Zum einen erfolgt die Subsumtion unter einen Tatbestand ex post factum. Um als Inhalt einer Norm ex ante fungieren zu können, muss der Tatbestand demnach auf die Situation zum Handlungszeitpunkt bezogen werden. Zum anderen ist die bereits aufgeworfene Frage zu konkretisieren, wie Sein und Sollen zusammenzuführen sind, auf welche Weise und in welchem Umfang also der Adressat einer Norm seine Fähigkeiten zu deren Befolgung einzusetzen hat, so dass ihm ex post der mangelnde Einsatz dieser Fähigkeiten zum Vorwurf gemacht und damit als Defizit an Rechtstreue zur Schuld zugerechnet werden kann. Was den Wechsel von der ex post- zur ex ante-Perspektive anbelangt, ist zunächst festzuhalten, dass der begriffliche Inhalt des als Norm interpretierten Rechtssatzes völlig unabhängig vom Betrachtungszeitpunkt feststeht. Auch nach Hruschka berührt der Perspektivenwechsel nicht den Inhalt der Norm, sondern bedingt nur die Differenzierung zwischen ihrer Bestimmungs- und der Bewertungsfunktion.42 Die Unveränderlichkeit des Norminhalts steht freilich in Widerspruch zu einer Interpretation der Norm als Imperativ, da ex post ein bereits realisiertes Verhalten nicht mehr Gegenstand einer Handlungsanweisung sein kann. Binding schloss hieraus, dass die Verhaltensnorm, die der Täter verletze, ein dem Straftatbestand vorgelagerter gesetzgeberischer Befehl sein müsse.43 Dieser Ansatz führt freilich zu der wenig plausiblen Folgerung, strafbares Unrecht als Ungehorsam zu deuten.44 Mit dem Gedanken der Unbotmäßigkeit lässt sich allenfalls die formale Diskrepanz eines Verhaltens zu einem Sollen, nicht aber das Gewicht der Norm und damit die Schwere des Unrechts, das der Täter verwirklicht, ausdrücken. Die Schwierigkeiten der Imperativentheorie ergeben sich aus dem Umstand, dass sie das Sollen mit einem spezifischen Sprechakt identifiziert und so mit zusätzlichen pragmatischen Voraussetzungen belastet, die für rechtliche Verhaltensregeln inadäquat sind und zu Scheinproblemen führen. Das Sollen eines Befehls resultiert aus einer hierarchischen Struktur, in die Befehlsgeber und -empfänger eingebunden sind. Demgegenüber ist das Recht eine normative Ordnung, mit der sich – im Falle demokratischer Verfasstheit – eine Gesellschaft auf die Soll-Werte sozialer Interaktion nach Maßgabe rechtlicher Prinzipien festgelegt hat. Das Recht konfrontiert den Ist-Zustand der sozialen Welt mit einem Soll-Zustand nach Maßgabe der Werte   Hruschka (Fn. 4), S. 450 f.   Vgl. nur Binding (Fn. 21), S. 35 ff., 96 ff. 44  Binding (Fn. 21), S. 299. 42 43

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des Rechts. Das strafrechtliche Sollen beruht daher auf dem Anspruch des Rechts, seinen Wertungen gemäß realisiert zu werden; das Sollen der Verhaltensnormen ist material zu begründen. Gesollt ist mit anderen Worten ein Verhalten dann, wenn es den rechtlichen Wertungen entspricht. Oder anders und mit Blick auf das Strafrecht negativ formuliert: Verboten sind Verhaltensweisen, die rechtlichen Wertungen zuwider Rechtsgüter beeinträchtigen. Dementsprechend geben die Normen des Strafrechts den Grund des Gesolltseins ihrer Befolgung selbst an:45 In ihrem Tatbestand umschreiben sie genau das Geschehen, in dem sich die zu vermeidende Beeinträchtigung von Gütern realisiert. Die Rede von der Apellfunktion des Tatbestands46 erfasst diesen Gedanken unter dem Gesichtspunkt, dass ein im Kontext rechtlicher Wertungen sozialisierter Normadressat bereits aus der Antizipation des fraglichen Geschehens auf die Schutzwürdigkeit der betroffenen Rechtsgüter und damit auf das Vermeidensollen ihrer Beeinträchtigung schließen kann. Da die Norm als Sollenssatz logisch unabhängig von dem Ob und Wann ihrer Exemplifizierung durch ein reales Geschehen ist, hat die Norm ex ante wie auch ex post dieselbe Gestalt, etwa: Es ist verboten, andere Personen körperlich zu misshandeln oder an der Gesundheit zu schädigen. Ohne weiteres kann der propositionale Gehalt der Norm auch Individuenvariablen enthalten, denen sich nur bestimmte Personen subsumieren lassen. So werden nur Richter vom Verbot der Rechtsbeugung erfasst, und es ließe sich auch formulieren, dass es nur Personen über 14 Jahren verboten ist, fremde Sache zu beschädigen. Im letztgenannten Fall wäre das Alter aber kein Kriterium der Fähigkeit, das Verbot der Sachbeschädigung zu befolgen, sondern ein klassifikatorisches Merkmal des Verbotsinhalts. 2. Werden Normen als rechtlich verbindliche Gründe für Handlungen definiert, so muss sich der Adressat der Norm so verhalten, dass das als rechtswidrig bewertete Geschehen, die Realisierung eines Deliktstatbestands, durch eigenes Verhalten vermieden wird. Nun ist Vermeidbarkeit eine Disposition und als solche eine gesetzesartige Hypothese über die Möglichkeit einer Person, sich unter bestimmten Bedingungen in einer bestimmten Weise zu verhalten. Wie die Qualifizierung einer Glasscheibe als zerbrechlich die Hypothese impliziert, sie werde beim Auftreffen einer bestimmten Kraft zerbrechen, so impliziert die Zuschreibung von Vermeidbarkeit, dass sich eine Person unter bestimmten Bedingungen in einer Weise verhält, die sich als Vermeiden von etwas beschreiben lässt. Damit stellt sich für die strafrechtliche Zurechnung die maßgebliche Frage nach den Bedingungen, unter denen sich die Disposition der Vermeidbarkeit in einem bestimmten Vermeiden manifestiert. Beim Begehungsdelikt ist dies das Ergreifen einer Alternative zu dem Verhalten, durch das der Täter den Tatbestand verwirklicht hat, bei Erfolgsdelikten namentlich eine Alternative zu dem den Erfolg verursachenden Verhalten. Beim 45 Insoweit lassen sich die strafrechtlichen Verhaltensnormen auch als „Selbstzwecknormen“ bezeichnen, vgl. hierzu Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, Verlag Vittorio Klostermann: Frankfurt / M., 1989, S. 13 ff. und passim. 46  Vgl. nur Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Verlag Duncker & Humblot: Berlin, 5. Aufl. 1996, S. S. 323 f.

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Unterlassungsdelikt ist es eine der zum Verhaltensspielraum des Täters gehörenden Alternativen, bei deren Ergreifen die Tatbestandsverwirklichung nicht eingetreten wäre. Im Zentrum der Problematik steht nun die Frage, wann eine Tatbestandsverwirklichung als für eine Person vermeidbar anzusehen ist. Während sich die Hypothese, eine Fensterscheibe sei zerbrechlich, zumindest durch das Experiment eines Steinwurfs verifizieren bzw. falsifizieren lässt, ist ein solcher Nachweis bei der Vermeidbarkeit bereits aus logischen Gründen nicht möglich. Zwei Sachverhalte stehen im Verhältnis der Alternativität zueinander, wenn sie sich auf einen identischen Zeitpunkt und einen identischen Raum beziehen.47 Hieraus folgt, dass in ein und derselben Welt alternative Sachverhalte nicht zugleich existent sein können, sondern einander wechselseitig ausschließen. Daher lässt sich allenfalls sagen, dass ein Geschehen für eine Person als vermeidbar anzusehen ist, wenn die Annahme begründet ist, sie sei in der Lage gewesen, sich so zu verhalten, dass das fragliche Geschehen nicht eingetreten wäre. Plausibel machen lässt sich also nur die Annahme, dass die Voraussetzungen erfüllt waren, unter denen eine Person als fähig anzusehen war, ein bestimmtes Ereignis zu vermeiden, nicht aber, dass sie das fragliche Ereignis tatsächlich vermieden hätte.48 Vermeidefähigkeit in diesem Sinne erfordert zunächst eine Prognose über die Wirkungen wenigstens zweier Alternativen eines gegebenen Verhaltensspielraums bezüglich eines Ereignisses x. Hierbei muss die handelnde Person P davon ausgehen, dass x mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bei Ergreifen der Alternative v1 eintritt, bei Ergreifen der Alternative v2 aber ausbleibt. Die Frage, ob x als Wirkung eigenen Verhaltens eintritt oder ausbleibt, hängt aus der Perspektive von P folglich davon ab, ob sie die Alternative v1 oder die Alternative v2 ergreifen muss, um x mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten oder ausbleiben zu lassen. Demnach lässt sich aus der Perspektive von P die Vermeidbarkeit von x in der Form eines praktischen Syllogismus darstellen: Wenn P (mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) x vermeiden will, muss sie aufgrund ihrer Einschätzung der Sachlage die Alternative v1 ihres Verhaltensspielraums ergreifen (und darf nicht die Alternative v2 ergreifen). Es müssen demnach für die Annahme hinreichender Vermeidefähigkeit drei Voraussetzungen erfüllt sein: (1) die physische Fähigkeit, wenigstens zwei Alternativen eines Verhaltensspielraums zu ergreifen, (2) die nomologischen Kenntnisse und das praktische Erfahrungswissen, dass der Eintritt oder das Ausbleiben 47  Näher hierzu Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, Springer Verlag: Berlin / Heidelberg, 1969, S. 16 ff. 48 Nach Burkhardt, „Fahrlässigkeit als individuelle Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung“, in: Kindhäuser / Kreß / Pawlik / Stuckenberg (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft, Verlag Mohr Siebeck: Tübingen, 2019, S. 441, 444 ff., soll dieser Ansatz „pseudokonditional“ sein. Jedenfalls beruht der Schluss, ein Geschehen sei für einen Handelnden vermeidbar, weder auf einer logischen noch auf einer kausalen, sondern auf einer praktischen Notwendigkeit, hierzu näher v. Wright, Explanation and Understanding, Verlag Routledge & Kegan Paul: London, 1971, S. 96 ff.

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des Ereignisses x (mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) davon abhängt, ob die eine oder die andere Verhaltensalternative ergriffen wird, (3) der (dominante) Wille, x nicht durch eigenes Verhalten eintreten zu lassen. Das physische Vermögen und das erforderliche Wissen, um bei entsprechendem Willen ein Ziel zu erreichen, sei Handlungsfähigkeit genannt. Im Normalfall sind hierbei physisches Können und erforderliches Wissen in einer konkreten Tatsituation gegebene Größen,49 während der dominante Wille, ein Ziel handelnd zu erreichen, erst noch zu bilden ist. Vermeidefähigkeit verlangt also notwendig neben der Handlungsfähigkeit noch die Fähigkeit, den Vermeidewillen zu bilden und handlungswirksam werden zu lassen. Dominant ist der Wille, die Alternative v1 eines Verhaltensspielraums zu ergreifen, wenn er tatsächlich handlungsleitend die konkurrierenden Intentionen zum Ergreifen der Alternativen v2 – vn verdrängt. Die Fähigkeit, die dominante Intention zu v1 zu bilden und allen konkurrierenden Intentionen handlungswirksam vorzuziehen, sei Motivationsfähigkeit genannt. Motivationsfähigkeit in diesem Sinne ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Handlungsfähiger ein Ereignis vermeiden kann: Wer ein Ereignis x nur vermeiden kann, wenn er den Willen, x zu vermeiden, handlungswirksam bilden und realisieren kann, kann x ohne entsprechende Motivationsfähigkeit nicht gezielt vermeiden. 3. Nach den bisherigen Überlegungen ist die Vermeidbarkeit nur faktisch bestimmt. Als Kriterium der Normbefolgungsfähigkeit ex ante und damit auch als Zurechnungskriterium ex post ist sie jedoch an die Norm zu binden, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen muss der Normadressat einen verbindlichen Grund haben, den Willen zu bilden, das Ereignis x zu vermeiden, und zum anderen muss er sich unter den Verhaltensalternativen, mit deren Ergreifen sich nach seiner Einschätzung x vermeiden lässt, zu einer solchen entscheiden, die positiven rechtlichen Wertungen entspricht. Der Grund für einen Normadressaten, seine Motivation an rechtlichen Wertungen auszurichten, beruht auf der in ihn gesetzten Erwartung, er werde sein Können nach Maßgabe hinreichender Rechtstreue an den Wertungen des Rechts ausrichten. Das heißt: Die Vermeidung einer bestimmten Tatbestandsverwirklichung durch eigenes Verhalten soll wegen deren Rechtswidrigkeit dominantes Handlungsmotiv sein. Dies setzt freilich voraus, dass zum Verhaltensspielraum des Normadressaten zumindest eine Alternative gehört, die als rechtmäßig zu bewerten ist. Die Bindung eines Normadressaten nach Maßgabe seiner situativen Handlungsfähigkeit an die so begründeten rechtlichen Verhaltensanforderungen sei Pflicht genannt.50 Verpflichtet ist ein Normadressat mit anderen Worten zum Ergreifen derjenigen Alternative seines Verhaltensspielraums, die er 49  Anders bei der Fahrlässigkeit, die durch Defizite bei einer oder beiden Größen der Handlungsfähigkeit aufgrund mangelnder Sorgfalt charakterisiert ist. 50  Dies dürfte cum grano salis der Auffassung Merkels entsprechen, der die Bindung an das Recht nach Maßgabe der individuellen Fähigkeiten (der individuellen Zurechenbarkeit) Pflicht nennt, vgl. Kriminalistische Abhandlungen I, Verlag Breitkopf & Härtel: Leipzig, 1867, S. 44; vgl. auch Hruschka, „Zwei Axiome des Rechtsdenkens“, in: Ackermann / Albers / Bettermann (Hrsg.) FS-Reimers, Verlag Duncker & Humblot: Berlin: 1979, S. 459 ff.

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aufgrund seiner Kenntnisse und körperlichen Fähigkeiten ergreifen müsste, wenn das Gesollte – das Vermeiden der Tatbestandsverwirklichung – dominantes Motiv seines Verhaltens ist. Es wäre also zu kurz gegriffen, wollte man die Pflicht nur als Vermeidung einer für einen Normadressaten vermeidbaren Tatbestandsverwirklichung bestimmen. Aus der Rechtswidrigkeit eines den Deliktstatbestand x verwirklichenden Verhaltens v1 folgt keineswegs, dass schon deshalb jedes x vermeidende Verhalten vn pflichtgemäß wäre. Denn eine Verhaltensalternative, bei deren Ergreifen x ausbliebe, könnte ihrerseits aus anderen Gründen rechtswidrig sein. Etwa: Dass sich A rechtswidrig verhielte, wenn er den B mit einem Steinwurf am Kopf verletzte, heißt nicht, dass er sich deshalb rechtmäßig verhielte, wenn er mit dem Stein stattdessen den neben B stehenden C verwundete, obgleich er auf diese Weise die Verletzung des B faktisch vermiede.51 Demnach kann sich die applicatio legis nicht in der Bewertung eines Verhaltens erschöpfen, sondern muss sich auch auf Alternativen des dem Täter zur Verfügung stehenden Verhaltensspielraums erstrecken.52 V. Stufen der Zurechnung 1. Wenn Motivationsfähigkeit notwendige Voraussetzung zielgerichteter Vermeidefähigkeit ist und Grund zur Bildung des Vermeidewillens die Rechtswidrigkeit des zu Vermeidenden sein soll, dann sind Normkenntnis und die Fähigkeit, sich dieser Kenntnis gemäß zu verhalten, notwendige Voraussetzungen normgemäßen Verhaltens. Insoweit stellt sich mit Blick auf das Handlungs- und Motiva­ tionsfähigkeit umfassende Zurechnungskriterium der Vermeidbarkeit die Frage, ob sich die Trennung von imputatio facti und imputatio iuris aufrechterhalten lässt. Insoweit ist zunächst zu bedenken, dass die Zurechnung ex post nicht mit einer empirischen Deskription der realen Tatbedingungen ex ante verwechselt und das Ergebnis der Zurechnung nicht als Abbild der realen Tat missverstanden werden darf. Es geht bei der Straftatkonstitution nicht (nur) um die Wiedergabe von Geschehenem, sondern um eine zweckgebundene Zuschreibung von Verantwortlichkeit für Geschehenes. Das reale Geschehen ist – beim vollendeten Delikt – die Verwirklichung der Merkmale eines Verbotstatbestands, also gerade die Negation des rechtlich Gesollten. Ausgangspunkt strafrechtlicher Beurteilung ist also nicht die Beantwortung der Frage, wie sich eine Person P zum Zeitpunkt vor der Tatbestandsverwirklichung hätte verhalten sollen und können, sondern die Feststellung des Befunds, dass sich P aufgrund der realisierten Tatbestandsverwirklichung nach den Wertungen des 51  Dies ist kein Fall des rechtmäßigen Alternativverhaltens, da beim Ergreifen der Alternative der zuzurechnende Erfolg (Verletzung des B) gerade nicht eingetreten wäre. 52  Diese Alternativen dürfen nicht als Unterlassungen erfasst werden, da A ansonsten im Beispielsfall mit der Verletzung des B insoweit rechtmäßig gehandelt hätte, als er es unterließ, rechtswidrig den C zu verletzen.

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Rechts falsch verhalten hat. Den elementaren Grundsätzen des Strafrechts – etwa Tatprinzip und Garantieprinzip – gemäß darf nur dieser Befund Gegenstand strafrechtlicher Verantwortungszuschreibung sein. Da somit bei der Zurechnung die Frage gar nicht aufgeworfen werden darf (und sinnvollerweise auch nicht aufgeworfen werden kann), ob P sich hätte richtig verhalten können, bevor feststeht, dass sie sich tatsächlich falsch verhalten hat, kann die Fehlerhaftigkeit des Verhaltens nicht von der Fähigkeit zu richtigem Verhalten abhängen. Die Beurteilung eines Verhaltens als rechtswidrig im Sinne einer Festlegung des Zurechnungsgegenstands impliziert, wie bereits dargelegt, noch keinerlei strafrechtliche Verantwortlichkeit. Der gesamte reale Geschehensablauf, der die tatbestandlichen Individuenvariablen einer Norm verwirklicht, enthält von seiner Genese bis zu seinem Abschluss kein Element, das als solches Verantwortung für eben dieses Geschehen zu begründen vermöchte. Dies gilt auch für subjektive Eigenschaften – wie etwa die Zueignungsabsicht beim Diebstahl –, die das deliktstypische Unrecht markieren; auch ein Geisteskranker kann eine Sache wegnehmen, um an ihr Eigenbesitz zu begründen. Insoweit ist es sachlich gerechtfertigt, wenn Hruschka den realen Befund, der Gegenstand strafrechtlicher Zurechnung ist, als „physikalischen“ Vorgang bzw. „Lebenssachverhalt“ bezeichnet.53 Zurechnungsurteile sind Schritte der Rekonstruktion eines Geschehens, die vor dem Hintergrund gedachter Alternativverläufe erfolgen; maßgebliches Zurechnungskriterium ist die Vermeidbarkeit, die sich gerade nicht in einem tatsächlichen Geschehen manifestiert hat und daher nur in Form irrealer Konditionalsätze zugeschrieben werden kann. Der Täter wird für sein rechtswidriges Verhalten samt deliktischer Folgen nach Maßgabe der Hypothese strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, dass er im Falle einer Entscheidung zu rechtmäßigem Alternativverhalten das als Zurechnungsgegenstand identifizierte tatsächliche Geschehen hätte vermeiden können. Diese Hypothese lässt sich, da sie im Irrealis ex post factum formuliert ist, nicht empirisch verifizieren. Daher beruht auch die Prämisse, Normen wendeten sich nur an Zurechnungsfähige, auf nicht empirisch verifizierbaren Voraussetzungen. Kann die Frage, ob sich der Täter, statt sich rechtswidrig zu verhalten, auch rechtmäßig hätte verhalten können, erst ex post factum gestellt werden, so könnte auch die Bewertung einer Verhaltensalternative als rechtswidrig erst im Falle einer positiven Antwort und damit ex post erfolgen – ein ersichtlich vitiöser Zirkel. Aus diesem Zirkel ließe sich nur ausbrechen, wenn man dem Täter selbst das Urteil über die eigene Motivationsfähigkeit ex ante überließe, eine neuartige und mit § 20 StGB wohl nur schwer zu vereinbarende Bestimmung tauglicher Normadressaten im Strafrecht. Das geltende Strafrecht dagegen umgeht diesen Zirkel auf eine einfache Weise. Es definiert die auf Motivationsfähigkeit beruhende Vermeidbarkeit negativ: Vermeidbar ist, was nicht unvermeidbar ist, genauer: was bei gegebener Handlungsfähigkeit nicht aus begründeter Motivationsunfähigkeit resultiert. Die Zurechnungsfähigkeit bleibt so undefiniert – und kann folglich auch nicht als Voraussetzung von Normwidrigkeit fungieren.   Hierzu oben Abschn. II.

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2. Unter der Prämisse, dass Vermeidbarkeit als Negation der Voraussetzungen mangelnder Unvermeidbarkeit zu definieren ist, gestalten sich die Schritte der Zurechnung einer Tatbestandsverwirklichung als schuldhafte Pflichtverletzung ebenso einfach wie praktikabel: Zunächst ist zu fragen, ob eine Person P, die durch ihr Verhalten rechtwidrig einen Tatbestand verwirklicht hat, (tatsächlich) die nötigen Kenntnisse und körperlichen Fähigkeiten besaß,54 um die Tatbestandsverwirklichung durch das Ergreifen einer rechtmäßigen Verhaltensalternative zu vermeiden, wenn sie dies dominant gewollt hätte. Wird dies bejaht, so hat der nächste Schritt der Zurechnung die Beantwortung der Frage zum Gegenstand, ob es rechtlich akzeptable Gründe gab, derentwegen von P die Bildung des Vermeidewillens nicht zu erwarten war. Solche Gründe sind etwa mangelnde Kenntnis der Norm, um deren Befolgung willen das Vermeidemotiv zu bilden war, die mangelnde Fähigkeit normgemäßer Steuerungsfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Voraussetzungen im Tatzeitpunkt oder eine entschuldigende Notstandssituation. Diese Überlegungen bestätigen das von Hruschka vertretene Modell einer zweistufigen Zurechnung. Die Unterschiede der hier skizzierten Zurechnungsschritte zu Hruschkas Aufspaltung der Zurechnung in eine imputatio facti und eine imputatio iuris mit einer dazwischenliegenden applicatio legis ad factum betreffen formal eher analytische Teilfragen als (gravierende) inhaltliche Diskrepanzen. Dem ersten Zurechnungsschritt ist hier die Anwendung des Gesetzes – im Sinne der Subsumtion eines tatsächlichen Verhaltens samt kontextrelevanter Folgen unter einen Deliktstatbestand – vorgelagert, um auf diese Weise den Gegenstand der Zurechnung festzulegen. Zur Bestimmung der Rechtswidrigkeit des Geschehens gehört an dieser Stelle auch die Prüfung einer möglichen Suspendierung der Verbotsnorm durch eine situativ eingreifende Erlaubnisnorm. Für die Zurechnung erster Stufe ist sodann auch nach Hruschka erforderlich, dass dem Täter eine Verhaltensalternative zu seinem tatsächlichen (tatbestandsverwirklichenden) Verhalten zur Verfügung steht. Gleichermaßen fordert Hruschka hierfür körperliche Handlungsfähigkeit – die gewöhnlich nur beim Unterlassungsdelikt zu problematisieren ist – sowie hinreichende Kenntnis der Tatbestandsverwirklichung und ihrer Vermeidbarkeit durch Alternativverhalten. Letzteres wird nach gängiger Doktrin mit dem Begriff des Vorsatzes erfasst.55 Dass die Zurechnung erster Stufe die Unterstellung eines dominanten Vermeidemotivs erfordert, wird von Hruschka allerdings nicht thematisiert. Den zweiten Zurechnungsschritt nimmt Hruschka (der Gesetzeslage entsprechend) nach dem Muster der vorherrschenden Doktrin vor, indem er für die Schuldzurechnung das Fehlen von Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen ausreichen lässt. Für das zudem erforderliche Unrechts54  Bei außerordentlicher Zurechnung: Ob die betreffende Person bei Aufbietung der von ihr zu erwartenden Sorgfalt die erforderliche Handlungsfähigkeit hätte erlangen können und bei hinreichender Rechtstreue hätte erlangen müssen. 55  Der Vorsatz wird zwar im vorherrschenden Deliktsaufbau als „subjektiver Tatbestand“ geprüft, bezieht sich aber gleichwohl auf den objektiven Tatbestand, wird also ebenfalls als Zurechnungskriterium gedacht.

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bewusstsein lässt er vermeidbare – das heißt: außerordentlich zurechenbare – Unkenntnis genügen.56 Einen positiven Nachweis normgemäßer Motivationsfähigkeit verlangt Hruschka also ebenfalls nicht, sondern definiert Schuld als Urheberschaft aus Freiheit, die bei der Zurechnung eines Geschehens als Handlung zu einem Subjekt notwendig vorauszusetzen sei. Diese Freiheit im Sinne einer „Abgelöstheit von den in der naturalistischen Perspektive anzunehmenden Determinationszusammenhängen“ sei ein Kennzeichen des Subjekts; sie lasse sich nicht erkennen, sondern nur anerkennen.57 Auf dieses inhaltlich undefinierte Freiheitskriterium greift Hruschka auch bei der Bestimmung der Gründe zurück, die einer Schuldzurechnung entgegenstehen.58 Entschuldigungsgründe als Fälle mangelnder Freiheit anzusehen, führt jedoch zu einem begrifflichen Formalismus ohne Erklärungskraft: So lassen sich etwa die Differenzierungen zwischen Tätergruppen in Notstandslagen (§ 35 Abs. 1 S, 2 StGB) nicht mit unterschiedlichen Bedingungen von Freiheit begründen,59 sondern nur mit den am Strafzweck ausgerichteten unterschiedlichen Erwartungen in die Bereitschaft der jeweiligen Täter, ihre Handlungs- und Motivationsfähigkeit an rechtlichen Wertungen auszurichten. An dieser Stelle wird deutlich, dass Hruschkas Zurechnungsmodell auf einer tradierten klassifikatorischen Begrifflichkeit beruht, welche sich gegen eine Funktionalisierung sträubt. Freilich mag eine Ausblendung teleologischer Gesichtspunkte für eine am Maßstab analytischer Klarheit orientierte formale Konzeption nicht notwendig als Defizit anzusehen sein. Summary In Hruschka’s model of criminal imputation, the constitution of a criminal offence takes place in three steps: First, an event must be attributed to a person as an action (imputatio facti). Secondly, this act must be deemed unlawful in accordance with the requirements of criminal norms of conduct (applicatio legis). Finally, this unlawful act must be imputable to a person’s culpability (imputatio iuris). In the following, this model will be critically analysed from two points of view. On the one hand, it is explained that the events that are imputed to a person as an act must already be determined in accordance with legal requirements. The applicatio legis thus logically precedes the imputatio facti. On the other hand, the applicatio legis cannot be limited to the evaluation of a behaviour, but must also extend to alternatives of the scope of behaviour available to the offender. The attribution of an unlawful act to culpability presupposes the possibility of legitimate alternative conduct.

  Hruschka (Fn. 10), S. 43 ff.   Ebd., S. 39 f. 58 Ebd., S. 40 ff. 59  In diesem Sinne Hruschka (Fn. 10), S. 40 ff. 56 57

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I. Worum geht es? Mit Bindings Normtheorie hat alles angefangen. Ich halte die These, dass Binding seine imponierende, grandiose, filigrane Theorie – dies gilt mE trotz aller Kritik – ausschließlich deshalb konstruiert hat, um den traditionellen Sprachgebrauch um (beinahe) jeden Preis zu retten, demnach ein Verbrecher das Recht oder das Strafgesetz „übertritt“, „verletzt“, „bricht“ oder ihm „zuwiderhandelt“, für gut begründet.1 Weil aber ein Verbrecher, etwa ein Mörder, das Strafgesetz, das Binding in der Form „Wer tötet, soll bestraft werden“ völlig zutreffend beschreibt – wie leicht zu sehen – nicht nur nicht „übertritt“, sondern nach Bindings Formulierung, seinem „ersten Teile“ (der Begriff „Tatbestand“ wird erst später gebräuchlich) sogar „gemäß“ („entsprechend“) gehandelt haben muss, um die Sank­ tion auszulösen, besteht unter der Voraussetzung der beiden Prämissen für Binding ein erhebliches Dilemma. Um es aufzulösen, postuliert Binding eine Norm in Form eines Imperativs als quasi Substrat, das durch ein Delikt „verletzt“ werden kann. „(D)‌as Gesetz, welches der Verbrecher übertritt, geht begrifflich und regelmäßig aber nicht notwendig auch zeitlich dem Gesetze, welches die Art und Weise seiner Verurteilung anordnet, voraus.“2 Und einige Seiten weiter: „Jene Rechtssätze taufe ich Normen“.3 Diese originelle Normtheorie stieß schon bei zeitgenössischen Kritikern und vielen Autoren der folgenden Generationen auf völlige Ablehnung. Die Kritik mag überzogen sein, doch ist nicht zu bestreiten, dass diese Normtheorie heute keine Rolle mehr spielt. Der im Anschluss an Binding einsetzende umfängliche und intensiv geführte Streit um eine adäquate Normtheorie dauerte einige Jahrzehnte. Das Ergebnis bildet eine Theorie, die offenbar bis in die Gegenwart hinein Gültigkeit hat. In seinem großen Lehrbuch hat Jescheck diese Theorie so formuliert: „Die Rechtssätze haben somit einen doppelten Charakter: Als Imperative sind sie Bestimmungsnormen, als Maßstab der rechtlichen Beurteilung des Verhaltens sind sie Bewertungsnormen.“4   H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. 1923 (Neudruck), S. 271.   K. Binding, Die Norm und ihre Übertretung, Band 1, 4. Aufl. 1922 (Neudruck), S. 4. 3  K. Binding (Fn. 2), S. 7; Hervorh. von K. B. 4  H.-H. Jescheck / Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 237; Hervorhebung von H.-H. Jescheck; die Wörter „Bestimmungsnorm“ und „Bewertungs1 2

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In meinem kleinen Aufsatz möchte ich – in der gebotenen Kürze – zwei Fragen nachgehen: (i) Ist diese Normtheorie, bestehend aus Bestimmungsnorm und Bewertungsnorm, überzeugend, richtig oder plausibel? (ii) Welche Rolle spielt diese Theorie – ob nun richtig oder falsch sei einmal dahingestellt – in der Strafrechtsdogmatik; daran anschließend auch die Frage nach dem Zusammenhang von Norm und Zurechnung. Zur Vorbereitung meiner Analyse (und Kritik) ist es nützlich, einen Blick auf die Normlogik zu werfen. II. Die Rechtsnorm In der Normlogik ist es üblich, eine strafrechtliche Norm, wie z. B. § 212 Abs. 1 StGB Wer einen Menschen tötet, … wird … mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft, in eine Verhaltensnorm, auch Primärnorm genannt (N1) und eine Sanktionsnorm als Sekundärnorm (N2) zu analysieren.5 Das Muster dieser „generellen Doppel-Norm“6 sieht explizit also so aus: (N1) Du sollst nicht töten! (N2) Wer einen (anderen) Menschen tötet, soll mit Freiheitsstrafe bestraft werden. Hierzu noch einige Ergänzungen. Im Strafgesetzbuch ist eine Verhaltensnorm wie (N1) gar nicht explizit enthalten. Die selbstständigen Strafnormen des StGB haben die Form von (N2). Es sind sog. Bedingungsnormsätze (ihre Bedeutung eine Norm); der Vordersatz dieses hypothetischen Rechtsnormsatzes hat einen deskriptiven, der Hintersatz einen normativen Sinn und der ganze Rechtsnormsatz wiederum normativen Charakter. Diese Konstruktion heißt semantischer Normbegriff. Doch besteht zwischen der Primär- und der Sekundärnorm gleichwohl ein (logischer) Zusammenhang. Die Verhaltensnorm (hier ein Verbot) kann aus der Sekundärnorm – nach einer Formulierung Weinbergers7 – „herausgelesen“ werden. Lautet die Sanktionsnorm „Diebe sollen bestraft werden“, so kann daraus ohne Weiteres die Primärregel „Du sollst nicht stehlen“ herausgelesen werden. Wer sind die Adressaten dieser „Doppel-Norm“? Adressaten der Verhaltensnorm sind die Bürger der nämlichen Rechtsordnung, Adressaten der Sanktionsnorm sind die entsprechenden Rechtsorgane. Ein Vergleich der „generellen Doppel-Norm“ norm“ sind sogar fett gedruckt. Die in diesem Satz enthaltene kleine Tautologie übersehen wir einfach. 5  O. Weinberger, Rechtslogik, 2. Aufl. 1989, S. 264 – 267; ders., Norm und Institution, 1988, S.  89 – 91. 6  H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979 (Neudruck 1990), S. 43. 7  O. Weinberger, Rechtslogik (Fn. 5), S. 266; ders., Norm und Institution (Fn. 5), S. 90.

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mit Bindings Normtheorie zeigt, dass beide in der Formulierung der Sanktionsnorm übereinstimmen. In diesem Punkt ist Bindings Theorie den Entwürfen ihrer Kritiker – mE – bis heute deutlich überlegen. Unterschiede bestehen natürlich zwischen der Primärnorm (N1) und Bindings „Normen“. (i) Die Primärnorm bietet eine einfache Lösung des Adressatenproblems. (ii) Nur unter der Voraussetzung, dass in der Verhaltensnorm ein bestimmtes Verhalten als gesollt gesetzt ist, folgt, dass die Sekundärnorm eine Sanktionsnorm ist. Ganz anders Bindings „Normen“. Demnach muss eine Norm als „materielles Substrat“ vorausgesetzt werden, damit es etwas gibt, das durch ein Delikt „verletzt“ werden kann. In der Normlogik wird dieses Muster überwiegend aber nicht vollständig akzeptiert; es gibt kritische Stimmen. Eine besonders radikale Kritik an dieser „Doppel-Norm“ hat Hans Kelsen an zahlreichen Stellen seines Werkes vorgetragen. Kelsen bezeichnet die Sanktionsnorm als primäre, die Verhaltensnorm als sekundäre Rechtsnorm.8 Weil ein modernes Strafgesetzbuch, wie eingangs erwähnt, eine Norm wie (N1) gar nicht mehr (explizit) enthält, schreibt Kelsen dies: „Hier zeigt sich deutlich, daß eine Norm ‚Du sollst nicht morden‘ überflüssig ist, wenn eine Norm gilt: ‚Wer mordet soll bestraft werden‘; daß die Rechtsordnung ein bestimmtes Verhalten eben dadurch verbietet, daß sie an dieses Verhalten eine Sanktion knüpft …“9 Diese Lösung hat für die Unrechtslehre in der Strafrechtsdogmatik, wie bekannt, erhebliche Folgen; davon wird später noch die Rede sein. Kelsens Lehre, wonach die Verhaltensnorm überflüssig sein soll, ist (auch mE) zu recht kritisiert worden.10 Dass Kelsens Rekonstruktion einer Strafnorm unzulänglich ist, wird von vielen Autoren an einem evidenten Beispiel verdeutlicht: Nehmen wir an, die Sekundärnorm (in Kelsens Terminologie: Primärnorm) lautet: Wenn Du über ein regelmäßiges Einkommen verfügst, sollst Du Einkommensteuer zahlen. Hieraus würde bestimmt niemand folgern, dass es verboten ist, ein Einkommen zu erzielen. „Die Existenz der Verhaltensnorm ist also nicht überflüssig: sie muß wenigstens implizit vorhanden sein.“11 III. Bestimmungs- und Bewertungsnorm Kehren wir nun zu Jeschecks oben erwähnter Lehre zurück. Nach der in der Strafrechtsdogmatik – soweit ich es übersehe – offenbar ganz „h. M.“, besteht das Wesen einer Strafnorm aus einer Zusammensetzung von Bestimmungsnorm und Bewertungsnorm. Historisch ist diese Lehre aus der Verknüpfung zweier in ihrer   H. Kelsen (Fn. 6), S. 43.   H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960 (Neudruck), S. 56. 10  O. Weinberger, Rechtslogik (Fn. 5), S. 267; ders., Norm und Institution (Fn. 5), S. 89, 91; N. Hoerster, Was ist recht?, 2. Aufl. 2012, S. 15 – 17. 11  O. Weinberger, Norm und Institution (Fn. 5), S. 91. 8 9

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Bedeutung für die Strafrechtsdogmatik kaum zu überschätzender Publikationen entstanden, nämlich aus Thons Imperativentheorie und Mezgers Unrechtslehre. Um zu prüfen, ob diese (wohl nur äußerliche) „Synthese“ vertretbar, richtig oder plausibel ist, gehen wir einfach ein paar Schritte in der Geschichte der Strafrechtsdogmatik zurück und beginnen mit der sog. Bestimmungsnorm, hinter der sich ja nichts anderes als eben Thons Imperativentheorie verbirgt. 1. Die Imperativentheorie Thons Zu Beginn sind aber zwei wichtige Einschränkungen zu notieren. (i) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Thons Imperativentheorie und der gleichnamigen Rechtstheorie des englischen Rechtsphilosophen J. Austin spielen an dieser Stelle keine Rolle. (ii) Es gibt, wie bekannt, zahlreiche Argumente gegen die Imperativentheorie (trotzdem wurde sie in der jüngeren Vergangenheit von K. Engisch tapfer verteidigt)12; aber auch dieser Streit ist nicht mein Thema. Ich möchte nur den originellen Kern der Thon’schen Theorie in einer knappen Skizze beschreiben. Der wohl am häufigsten zitierte Satz aus den ersten Seiten seines Werkes enthält schon das ganze Programm: „Das gesamte Recht einer Gemeinschaft ist nichts als ein Komplex von Imperativen …“13 Imperative (Befehle) sind „Impulse“14, die spontan entstehen und vergehen und die ein Imperator (diese Figur können wir an dieser Stelle unbestimmt lassen) setzt, um das Verhalten seiner Imperaten direkt, unmittelbar zu bestimmen, zu determinieren. Ein Verbrechen etwa lässt „neue Imperative lebendig werden“15, führt zum „Erwachen neuer Imperative“16 und gleichzeitig auch zur „Zurücknahme von Imperativen“17. Tötet K seinen Bruder A, dann werden die Imperative, die sich an die Organe der Rechtspflege richten und die den Zweck der Verfolgung und Bestrafung des Täters haben, spontan „wachgerufen“. Gleichzeitig „verfallen“ die Imperative, die Leben und Freiheit des Täters K schützen, gegenüber diesen Organen. Das ist tatsächlich der Kern der Thon’schen Imperativentheorie, die in dieser Fassung gleichwohl etwas phantastisch, surreal anmutet. Ich glaube, es sind vor allem zwei Punkte (neben den vielen anderen Einwänden gegen die Imperativentheorie), die insbesondere gegen Thons Theorie in kritischer Absicht vorgetragen werden müssen: (i) An keiner Stelle seines Werkes stellt Thon auch nur die Frage, ob die imperative Form, die von den Normen der Moral übernommen worden ist, 12  K. Engisch (hrsg. von Th. Würtenberger / D. Otto), Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010, S. 54 ff. 13  A. Thon, Rechtsnormen und subjektives Recht, 1878, S. 8; im Original ist der ganze Satz fett gedruckt. 14  A. Thon (Fn. 13), S. 2. 15  A. Thon (Fn. 13), S. 8, 10, 11. 16  A. Thon (Fn. 13), S. 11. 17  A. Thon (Fn. 13), S. 12.

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überhaupt auf Rechtsnormen übertragen werden kann18 (das gilt übrigens auch für K. Engisch). (ii) Die Frage nach dem Zusammenhang der Imperative („Komplex von Imperativen“) ist für Thons originelle Theorie von nachgerade entscheidender Bedeutung. Wie hat man sich den Nukleus zwischen Imperativen, die spontan entstehen und ebenso spontan wieder vergehen, vorzustellen? Wodurch sind der Imperativ „Du sollst nicht stehlen“ und der Imperativ „(Du) Richter sollst den Dieb bestrafen“ denn miteinander verbunden? Ist der eine die Bedingung des anderen? Das bleibt in Thons Werk ein ungelöstes Problem.19 2. Die Bewertungsnorm nach Mezger Mezgers langer Aufsatz gehört zweifellos zu den erstrangigen Werken in der Literatur zur (modernen) Strafrechtsdogmatik. Hier sei nur von der Normtheorie (nur eines von mehreren wichtigen Lehrstücken in diesem Aufsatz) die Rede. Mezgers Theorie ist erstaunlich einfach konstruiert, sie besteht eigentlich nur aus zwei Prämissen. Im Anschluss an Thon konstatiert Mezger: „Denn daß das Recht (auch) Bestimmungsnorm ist, ist unbestreitbar …“20 Um das Wesen einer Strafrechtsnorm aber vollständig zu erfassen, bedarf die Imperativentheorie einer wichtigen Ergänzung. Mezger schreibt: „Und hier ist die Antwort unbedingt klar: das Recht als ‚Bestimmungsnorm‘ ist gar nicht ‚denkbar‘, ohne das Recht als ‚Bewertungsnorm‘, das Recht als Bewertungsnorm ist unbedingte logische Voraussetzung des Rechts als Bestimmungsnorm.“21 Hinter der rhetorisch beeindruckenden Formulierung („unbedingte logische Voraussetzung“) verbirgt sich doch nur etwas Triviales, nämlich dies: Bevor ein Imperator seine Imperaten zu einem bestimmten Verhalten bestimmen kann, muss er wissen, zu welchem Verhalten er sie zu motivieren wünscht. Aber ist dazu wirklich eine Bewertungsnorm erforderlich? Genügt dazu nicht der allmächtige Wille des Imperators? Wirklich dramatisch wird es aber, wenn wir hören, was Mezger zu der – sagen wir – (logischen) Form seiner Normen zu sagen hat. Die Bewertungsnorm ist eine „adressatlose“22 Norm und ihre Form lautet: „Es soll!“23 Die Bewertungsnorm ist nicht nur „adressatlos“ (welchen Sinn können adressatlose Normen überhaupt erfüllen?), sie ist auch völlig leer. Daraus könne man den Imperativ, das „Normverwirklichungsmittel“24, ableiten (wie genau, bleibt offen), dessen Form lautet: „Du sollst“.25 (Nur nebenbei:   H. Kelsen (Fn. 1), S. 203.   H. Kelsen (Fn. 1), S. 300. 20  H. Mezger, Die subjektiven Unrechtselemente, in: GS 89 (1924), S. 207 – 314 (240); Hervorhebung von E. M. 21  H. Mezger (Fn. 20), S. 240/241. 22  H. Mezger (Fn. 20), S. 242; Hervorh. von E. M. 23  H. Mezger (Fn. 20), S. 245. 24  H. Mezger (Fn. 20), S. 245. 25  H. Mezger (Fn. 20), S. 245. 18 19

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Ist die Bewertungsnorm – so wie Mezger sie formuliert hat – nicht eigentlich ein zweiter Imperativ?) Soweit zu Mezgers Normtheorie. Wie sind nun Thons Imperativentheorie und Mezgers Entwurf einer Bewertungsnorm zu bewerten? ME ist es evident, dass weder die Theorie in (1) noch das Fragment aus (2) – und a fortiori auch nicht eine Kombination aus (1) und (2) – das Wesen einer Strafnorm auch nur annähernd zutreffend rekonstruieren. Beide Theorien sind Fälle für die Rechtsgeschichte. 3. Bestimmungsnorm, Bewertungsnorm und Dogmatik Trotz ihrer offensichtlichen Unzulänglichkeit ist die Kombinationstheorie aus (1) und (2) ein wichtiger Baustein in der Strafrechtsdogmatik geworden und geblieben. Vor allem für die Trennung von Unrecht und Schuld, dem „Angelpunkt der Verbrechenslehre“26 soll die Kombinationstheorie wichtige Argumente liefern. Zunächst ist es nützlich, noch einmal einen Blick in die Quellen zu dieser Frage zu werfen (a) und dann die Rezeption dieser Lehren durch die führenden, großen Lehrbücher zu würdigen (b), (die didaktisch orientierten [Kurz-] Lehrbücher enthalten zu diesem Problem natürlich gar nichts). a) Unrecht und Schuld bei Thon und Mezger Mit der Frage nach der Möglichkeit schuldlosen Unrechts setzt Thon sich gründlich auseinander. Bekanntlich unterscheidet er in diesem Kontext zivil- und strafrechtliches Unrecht. Diese Trennung ist nicht ganz unproblematisch (in der Rezeption auch häufig missverstanden worden), doch das soll hier nicht diskutiert werden, konzentrieren wir uns auf das strafrechtliche Unrecht. Zu dieser Frage ist Thons Haltung völlig klar: (i) Adressaten von Imperativen sind stets und nur zurechnungsfähige Menschen. (ii) Sofern der Unrechtstatbestand die Bedingung einer Sanktion (Strafe) sein soll, darf es ein schuldloses Unrecht nicht geben. Er schreibt wörtlich: „Nie darf Strafe den Schuldlosen treffen …“27 Mezgers Ansicht zu dieser fundamentalen Frage ist dagegen komplizierter. Für Mezger besteht (iE) gar kein Zweifel daran, dass Unrecht und Schuld zwei getrennte Größen sind. Es handelt sich um zwei Widersprüche mit der Rechtsnorm (oder Kombinationstheorie), die aufs Schärfste getrennt werden müssten. Das Kernstück lautet: „Unrecht ist der Widerspruch gegen das Recht als Bewertungsnorm …“28 Die Frage nach dem Wesen der Schuld bereitet Mezger dagegen erhebliches Kopfzerbrechen. Seine zahlreichen, nicht sehr klaren Ausführungen zum Wesen der Schuld können aber mE in dem folgenden Satz (analog zum Unrecht) zusammen  H.-H. Jescheck / Th. Weigend (Fn. 4), S. 425.   A. Thon (Fn. 13), S. 78. 28  H. Mezger (Fn. 20), S. 245/246; Hervorh. von E. M. 26 27

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gefasst werden: Schuld ist der Widerspruch gegen das Recht als Bestimmungsnorm, „(d)ie Diskrepanz der inneren Welt mit der Norm …“29 Soweit die Ansicht der „Klassiker“ zu diesem großen Thema. b) Jescheck und Roxin Für beide Autoren gilt, dass sie sich mit den Primärquellen nicht wirklich kritisch auseinandergesetzt haben (vielleicht darf man eine solche Auseinandersetzung auch in großen Lehrbüchern nicht erwarten). Ich fürchte auch, dass die kurzen Referate in der Sekundärliteratur den Ansichten der „Klassiker“ in einigen Details nicht oder nicht ganz entsprechen. Cum grano salis akzeptieren beide Autoren grundsätzlich Thons Imperativentheorie und Mezgers Kombinationstheorie. Und für beide Autoren spielt die Kombinationstheorie die entscheidende Rolle in der Begründung der Trennung von Unrecht und Schuld. Jescheck akzeptiert, wie gezeigt, die Kombinationstheorie. Danach ist eine Rechtsnorm aus einer Bestimmungs- und einer Bewertungsnorm zusammengesetzt. Er nimmt aber im Gegensatz zu Mezger eine andere Gewichtung vor: „Da das Recht in der Gemeinschaft wirken soll, ist seine Funktion als Bestimmungsnorm von vorrangiger Bedeutung. Zugleich hat das Recht aber auch die Aufgabe, das Verhalten des Täters nachträglich zu beurteilen, und ist deswegen auch Bewertungsnorm.“30 Ob Strafnormen durch die imperative Form der Norm abgebildet werden können und welche Form insbesondere die (auch) von Jescheck postulierte Bewertungsnorm haben soll, darüber schweigen die Autoren. Auch Roxin akzeptiert die Kombinationstheorie, räumt aber ähnlich wie Jescheck und expressis verbis gegen Mezger gerichtet, der Bestimmungsnorm den Vorrang vor der Bewertungsnorm ein. Seine Lehre scheint aber nicht ganz schlüssig zu sein. Roxin schreibt einerseits: „Die heute herrschende Auffassung sieht … schon die dem Unrecht zugrunde liegende Norm als Imperativ, als Bestimmungsnorm an …“31 Andererseits schreibt Roxin aber auch dies: „Daneben wird dem Unrecht von der heute herrschenden Auffassung auch eine Bewertungsnorm unterlegt …“32 Diese Konstruktion evoziert natürlich sofort eine Frage: Enthält diese kritische Rekonstruktion der Mezgerschen Kombinationstheorie nicht eine überflüssige Verdoppelung? So wie es bis jetzt aussieht, muss der „Angelpunkt der Verbrechenslehre“ noch immer als offene Frage behandelt werden.

  H. Mezger (Fn. 20), S. 258.   H.-H. Jescheck / Th. Weigend (Fn. 4), S. 237; Hervorh. von den Autoren. 31  C. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Band 1, 4. Aufl. 2006, S. 323; Hervorh. von C. R. 32  C. Roxin (Fn. 31), S. 324; Hervorh. von C. R. 29 30

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c) Hans Welzel Normlogik (i. w. S) stand natürlich nicht im Mittelbpunkt seines Interesses. Doch sind in seinem großen Lehrbuch an entscheidender Stelle (Definition des Tatbestandes) einige wichtige, wenn auch nur knappe Ausführungen zur Normlogik (i. w. S) enthalten. Es ist nicht zuletzt dem Rang dieses Autors geschuldet, auch diese Fragmente zu beachten. Eine Sekundärnorm (Sanktionsnorm, N2) ist in Welzels Überlegungen zur Normtheorie nicht enthalten. Seiner Ansicht nach haben die Strafnormen, die Verbote insbesondere, eine imperative Form, wie z. B.: „Du sollst nicht töten, stehlen … usw“.33 Der Imperativ enthält die sog. „Normmaterie“, die sich aus „Verbotsnorm und Tatbestand“ zusammensetzt.34 Der Tatbestand enthält die Beschreibung der verbotenen Handlungsweise, die „Norm verbietet die Verwirklichung dieser Verhaltensweise …“35 Das ist raffiniert konstruiert, allein es wird deutlich, dass dieses Konstrukt nicht das Wesen einer Strafnorm (der Sekundärnorm, Sanktionsnorm) abbildet. 4. Hans Kelsen Wer einen neutralen Blick auf das (in III. 1.-3.) analysierte Stück Dogmatik wirft, der wird vielleicht (gleich mir) zu dem Urteil kommen, dass die in (III.) enthaltenen Lehren nicht so kohärent sind wie Dogmatiken ihrem Anspruch nach sein sollten. Deshalb könnte ein Seitenblick auf Kelsens Unrechtslehre, schon aus wissenschaftlicher Neugier, recht interessant sein. Wenn die traditionelle Strafrechtsdogmatik das Wesen des Unrechts mit Begriffen wie Rechts-„Widrigkeit“, Rechts-„Bruch“, Rechts-„Verletzung“ oder eben „Un“-Recht beschreibt, so soll damit der Gedanke ausgedrückt werden, das Unrecht sei wesentlich eine „Negation des Rechts“.36 Das beste Beispiel hierzu ist natürlich Bindings Normtheorie. Dass eine Norm im buchstäblichen Sinn weder „gebrochen“ noch „verletzt“ werden kann, ist eigentlich selbstverständlich und sei nur mehr erwähnt. Rekonstruiert man das Wesen positiver Rechtsnormen aber durch den Bedingungsnormsatz, so zeigt sich, dass das Unrecht keine Negation, sondern eine Bedingung des Rechts ist.37 Das Verhältnis von Unrecht und Unrechtsfolge besteht nicht, wie von der traditionellen Strafrechtsdogmatik angenommen, darin, dass weil eine Handlung oder Unterlassung ein Unrecht sei, sie darum mit einer Sanktion verknüpft sei, sondern umgekehrt darin, dass eine Handlung oder Unterlassung ein Unrecht ist, weil und wenn sie mit einer Sanktion als Unrechtsfolge   H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 50.   H. Welzel (Fn. 33), S. 50. 35  H. Welzel (Fn. 33), S. 50; Hervorh. von H. W. 36  H. Kelsen (Fn. 9), S. 118. 37  H. Kelsen (Fn. 9), S. 119. 33 34

Rechtsnorm und Zurechnung

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verbunden ist.38 Für eine positivistische, rechtsimmanente Betrachtung des Rechts ist das der zutreffende Standpunkt. „Es gibt keine mala in se, sondern nur mala prohibita“.39 Und was bedeutet Schuld und wie ist ihr Verhältnis zum Unrecht? Wie sogleich deutlich wird, hält Kelsen die Trennung von Unrecht und Schuld ebenfalls für eine Irrlehre. Er schreibt: „Das als ‚Schuld‘ bezeichnete Moment ist ein spezifischer Bestandteil des Unrechtstatbestandes: es besteht in einer bestimmten positiven Beziehung zwischen dem inneren, seelischen Verhalten des Delinquenten und dem durch sein äußeres Verhalten herbeigeführten oder nicht verhinderten Ereignis, in seiner Voraussicht oder in seiner darauf gerichteten Absicht.40 Danach würde sich ein zweigliedriger Deliktsaufbau empfehlen. IV. Norm und Zurechnung Im Mittelpunkt von Kelsens Zurechnungslehre (zu der in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche, überwiegend positive Arbeiten verfasst worden sind)41 steht der Zusammenhang von Norm und Zurechnung. Kelsens Kritik der traditionellen Zurechnungslehre42, die die Zurechnung einer schlimmen Folge zu einer Person an empirische Größen wie Kausalität, Wille oder Handlung koppelt, ist berechtigt und überzeugend; (iSe causa efficienz bewirkt der Unterlassende den Erfolg nicht; beim fahrlässig verursachten Erfolg wird auch eine nicht gewollte Folge zugerechnet; es ist nicht möglich eine Handlung von einer Person zu trennen, auch die Handlung eines Unzurechnungsfähigen ist seine Handlung, wenn auch kein Unrecht). Seine aus dieser Kritik gefolgerte Konsequenz („Denn die Zurechnung erfolgt immer nur auf Grund der positiven Norm!“43) ist nur schwer zu bestreiten. In der endgültigen Fassung seiner Lehre bedeutet Zurechnung die Verknüpfung eines Unrechts mit einer Unrechtsfolge in einem Rechtssatz, genauer: Es ist die Bedeutung der Kopula „Sollen“ in dem Bedingungsnormsatz „Wer einen Menschen tötet, soll bestraft werden“.44   H. Kelsen (Fn. 9), S. 117.   H. Kelsen (Fn. 9), S. 118. 40  H. Kelsen (Fn. 9), S. 128. 41  J. Renzikowski, Der Begriff der „Zurechnung“ in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens, in: R. Alexy / L. H. Meyer / S. L. Paulson / G. Sprenger (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 253 ff.; C. Heidemann, Der Begriff der Zurechnung bei Hans Kelsen, in: S. L. Paulson / M. Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 17 ff.; J. Hruschka, Die Zurechnungslehre Kelsens im Vergleich mit der Zurechnungslehre Kants, in: S. L. Paulson / M. Stolleis (Hrsg.), S. 2 ff.; R. Alexy, Hans Kelsens Begriff des relativen Apriori, in: ders., ea. (Hrsg.), S. 179 – 202 (182 – 185). 42  Vgl. hierzu H. Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994, Kapitel 2. 43  H. Kelsen (Fn. 1), S. 75. 44  H. Kelsen (Fn. 9), S. 85. 38 39

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Wenn wir Kelsen einmal folgen und fragen, welches – sagen wir – Zurechnungsprinzip dem StGB zugrundeliegt, dann könnte das folgende (Haupt-)Schema vermutlich sehr viele Fälle umfassen: Wer vorsätzlich oder fahrlässig einen anderen Menschen tötet (verletzt) oder dessen Tod (Verletzung) nicht verhindert, soll bestraft werden, wenn sein Verhalten nicht zu rechtfertigen oder entschuldigen ist.45 Summary It is undisputed that the german dogmatics of criminal law is extraordinarily complex, if not over-complex. It sounds paradoxical, but it is still the case: despite the ingenious differentiation, an important topic is either not dealt with at all or only subordinated. It is about the question of the form of criminal law norms and their significance for criminal law dogmatics. The purpose of my essay is to focus on this point.

45  Insoweit (freilich auch nur insoweit) ähnlich G. Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 18. Davon abgesehen ist Jakobs semantische Zurechnungslehre (S. 30), dargelegt in dem eben erwähnten Buch, eine echte Singularität. Danach wird „(d)ie Setzung des der Norm widersprechenden Sinns … zugerechnet. (S. 89) Der Dieb D stiehlt nicht nur einen Porsche, er behauptet (und genau darin liegt Jabobs‘ „Verhaltenssemantik“ (S. 17)), er habe das Recht des Eigentümers nicht zu achten. (S. 13) Dieser (wie auch immer geäußerte) Handlungssinn widerspricht dem Normsinn „Du sollst nicht stehlen!“ (S. 22) ME ist diese Konstruktion verfehlt. Denn der Dieb D wird nicht aufgrund des ihm zugerechneten Sinns seiner Handlung verurteilt (das Urteil bedeutet wiederum einen Widerspruch gegen diesen Widerspruch), sondern (ganz trivial) weil er gestohlen hat. Noch ein zweiter Punkt sei erwähnt. Jakobs behauptet, er entwickele seine Zurechnungslehre ohne Berücksichtigung von „Gesetz“, „Rechtsprechung“ und insbesondere der „üblichen Lehre“ (S. 18). Das ist kaum nachvollziehbar, denn die Kapitel II und III des erwähnten Werkes handeln von genau den „üblichen Lehren“, nur dass die bekannten Figuren (eben iS seiner semantischen Zurechnungslehre) so stark koloriert werden, dass das vertraute Bild kaum noch erkennbar ist. Vgl. hierzu auch die (kritische) Rezension von B. Schünemann, Ein neues Bild des Strafrechtssystems?, in: ZStW (2014), S. 1 – 26.

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I. Norm-Theory as Grammar In order to engage in a productive comparison between Anglo-American and continental jurisprudence, one must reach a level of abstraction that enables the commensuration of the doctrinal discourse produced in both contexts. In the realm of criminal law theory, such a shared conceptual scheme can be found in the distinction between two sets of legal rules or standards, in reference to which it is possible to make explicit the “depth grammar” of the language-game of ascribing – and thus grounding – criminal responsibility. Although one encounters major terminological diversity in this point, the two sets of rules or standards can be identified through the labels, favored by Joachim Hruschka, of “conduct rules” and “imputation rules”.1 In the sense relevant here, imputation rules correspond to what Robinson calls “principles of adjudication” or “principles of liability assignment”,2 and not to what he identifies, more narrowly, as “principles of imputation”.3 It is well acknowledged that a functional distinction between different sets of rules or standards can become a powerful analytical tool for the comparative reconstruction of institutionalized systems of criminal law.4 To a significant extent, the analytical output of such distinction is linked to the fact that so-called “norm-theory” can serve as a bridge between the doctrinal elaboration of criminal law, on the one side, and the general theory of legal systems, on the other.5 In this paper, I would like to make two central claims. The first is that it is critical not to confuse the distinction, already raised, between conduct rules and   Hruschka, “Imputation”, Brigham Young University Law Review (1986), 669, 672 ff.   Robinson, Structure and Function in Criminal Law, Oxford: Clarendon Press, 1997, 8, 127 ff. 3  Ibid., 57 ff. 4  See, among others, Dan-Cohen, Harmful Thoughts. Essays on Law, Self, and Morality, Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2002, 37 ff.; Eser, “Verhaltensregeln und Behandlungsnormen”, in: Eser / Schittenhelm / Schumann (ed.), Festschrift für Theodor Lenckner, München: C.H. Beck, 1998, 25, 31 ff., 36 ff.; Renzikowski, “Normentheorie und Straf­ rechtsdogmatik”, in: Alexy (ed.), Juristische Grundlagenforschung, ARSP Beiheft 104, Stuttgart: Franz Steiner, 2005, 115, 117 ff. 5  Renzikowski, “Normentheorie als Brücke zwischen Strafrechtsdogmatik und Allgemeiner Rechtslehre”, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87 (2001), 110 ff. 1 2

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imputation rules, on the one side, with the much more extended distinction between sanction rules and conduct rules, on the other. Both distinctions are necessary, and thus complementary, but by no means identical. The second claim is that the first distinction, namely that between conduct rules and imputation rules, provides the basic conceptual apparatus for making explicit what may be referred to as the “depth grammar” of criminal responsibility.6 This depth grammar is built upon a syntactical distinction between the object and the bases (or “grounds”) of imputation.7 The two following questions must therefore be clearly differentiated. First: what may be eventually imputed to someone? And second: in virtue of what may something be properly imputed to someone? While the answer to the first question, which aims at the object of a possible imputation, is given by the relevant set of conduct rules, which jointly identify the types of wrongful behavior for the realization of which a person may be criminally responsible, the answer to the second question is provided by the relevant set of imputation rules, which fix the (positive and negative) bases or grounds for the ascription of responsibility for some criminally significant behavior-token.8 Following Zimmerman, the same distinction can be expressed through the contrast of deontic judgments, on the one side, and “hypological” judgments, on the other.9 Before entering in the display of the conceptual apparatus just sketched, I would like to offer a very brief reflection on the notion of grammar of which I have made use so far. George Fletcher has famously spoken of the “grammar of criminal law”, giving this title to his three volume-project dedicated to the study of the structure of American, comparative and international criminal law. Attributing a rather wide meaning to the term, Fletcher identifies the “grammar” of criminal law with “the deep structure, both the syntax and the semantics, of defining and punishing crime”.10 By contrast, in the present context I pretend to take “grammar” in a way much closer to Wittgenstein’s use of the term.11 In his Philosophische Grammatik, Wittgenstein observes that the grammar of a language is “arbitrary” (willkürlich). He explains what he means by this by saying that the grammatical rules of a language first determine the meaning of what is said  Hereto Mañalich, Nötigung und Verantwortung, Nomos: Baden-Baden, 2009, 75 ff.  See Hruschka, “Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln”, Rechtstheorie 22 (1991), 449 ff.; also Hruschka (Fn. 1), 669 f., 680 ff. 8 Hereto Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1989, 29 ff.; Mañalich (Fn. 6), 23 ff., 46 ff. 9  Zimmerman, “Taking Luck Seriously”, The Journal of Philosophy XCIV, 11 (2002), 553, 554 ff. For a very close distinction between “judgments of impermissibility” and “judgments of blame”, see Scanlon, Moral Dimensions, Cambridge (Mass.) and London: Belknap Press, 2008, 8 ff., 37 ff., 122 ff. 10  Fletcher, The Grammar of Criminal Law. Volume One: Foundations, Oxford and New York: Oxford University Press, 2007, 8. 11 See Foster, Wittgenstein on the Arbitrariness of Grammar, Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2004, 7 ff. 6 7

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when that language is spoken, in the sense that those rules are constitutive of that meaning, which in turn implies that those same rules do not respond to any prior meaning.12 In this sense, then, grammatical rules are arbitrary. A further precision in the description of his use of “grammar” is provided by Wittgenstein as he compares the rules of grammar with the rules of cooking, claiming that while the former are arbitrary the latter are not. He writes: Warum nenne ich die Regeln des Kochens nicht willkürlich; und warum bin ich versucht, die Regeln der Grammatik willkürlich zu nennen? Weil ich den Begriff ‘Kochen’ durch den Zweck des Kochens definiert denke, dagegen den Begriff ‘Sprache’ nicht durch den Zweck der Sprache. Wer sich beim Kochen nach andern als den richtigen Regeln richtet kocht schlecht; aber wer sich nach andern Regeln als denen des Schach richtet, spielt ein anderes Spiel; und wer sich nach andern grammatischen Regeln richtet, als etwa den üblichen, spricht darum nichts Falsches, sondern von etwas Anderem.13

The crucial point of this comparison is that while the activity of cooking is conceptually independent of some set of rules that may prescribe how to cook, the activity of speaking some language is not conceptually independent of the rules that make up the grammar of that language, just as the activity of playing chess is not conceptually independent of the rules of chess. In von Wright’s vocabulary, the explanation for this is that while the rules of cooking are technical rules,14 in the sense that they specify methods for instrumentally achieving some goal – namely that of producing or preparing food of some kind – which can be thought of without any reference to those very rules, grammatical rules, on the other hand, are determinative,15 that is, constitutive. A further point to be made is the following. It seems reasonable enough to deny, as Wittgenstein does, that the concept of language be defined through the purpose of language. For it is disputable whether there is such a thing as the purpose of language. Yet it is not at all clear that the concept of making someone criminally responsible for some legally wrongful behavior-token should be defined without reference to some purpose. But here one should note that to make someone criminally responsible for some legally wrongful behavior-token is not an (instrumental) goal or purpose of imputation, but rather its (constitutive) point.16 Precisely the grammatical structure of imputation enables the contrast of different configurations of systems of criminal law with regard to the possible objects and bases of 12  Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984, 184. 13  Ibid., 184 f. 14  von Wright, Norm and Action, London: Routledge & Kegan Paul, 1963, 9 ff. 15  Ibid., 6 f. 16  This is perhaps what lies underneath Hruschka’s remark that so-called “theories of punishment” are in no position to fix, by themselves, the rational conditions of criminal responsibility. See Hruschka, “Kann und sollte die Strafrechtswissenschaft systematisch sein?”, JuristenZeitung (1985) 1, 2 f.

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criminal responsibility. Which these objects and bases are, is fixed by the (contingent) semantic and pragmatic features of the discourse of imputation within the given legal system. But that we will be able to identify and distinguish the objects and the bases of criminal responsibility is – in Wittgenstein’s words – nothing but a grammatical proposition.17 The claim that the distinction between the object and the grounds of imputation belongs to the depth grammar of any system of criminal law needs finally to be clarified through a contextualization of how Wittgenstein differentiated the notions of “surface” grammar and “depth” grammar. As one reads in his Philosophische Untersuchungen, the surface (or superficial) grammar of the use of a certain word or expression is what one can immediately capture – in the sense of “understanding with the ear” – about its role in speech upon its contribution to the composition of the given sentence or speech item.18 To say that the syntactical (and hence: logical) distinction between the object and the bases of imputation does not belong to the surface grammar of the expressions involved in the articulation and application of such distinction, but rather to their depth grammar, is to say that its operation may not be immediately apparent in the use of that very expressions. This is why only through a meta-language that enables us to make that grammatical distinction explicit it becomes possible to describe the common structural features of very diverse particular systems of criminal law. Norm-theory provides such a meta-language. For the key device for making the distinction between the object and the bases of criminal responsibility explicit is the distinction between conduct rules and imputation rules.19 II. From Sanction Rules to Conduct Rules Any crime-token can be formally identified with an instance of unjustified and unexcused realization, through the behavior of a responsible agent, of the description which specifies the corresponding offense-type. Under the relevant sanction rule, the unjustified and unexcused realization of the given description counts as the operative fact to which the sanction specified in that same rule is attached. As Hart argued, such sanction rules, which connect some form of criminal behavior with a corresponding sanction as its legal consequence, can be understood as (secondary) adjudication rules.20 However, and as Hart also observed, this interpretation of the function of the given rule critically depends on the possibility of justifying the 17 See Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984, §§ 251, 295, 458. 18  Ibid., § 664. 19 Hereto Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2nd ed., Berlin: Walter de Gruyter, 1988, 363 ff. 20  Hart, The Concept of Law, Oxford: Oxford University Press, 1961, 97 f. See Mañalich (Fn. 6), 25 ff.

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claim that the specific legal consequence thus specified should be understood as a sanction, and more precisely, as a form of punishment. If such interpretation could not be sustained, one would not be entitled to claim that the pretended sanction rule could be differentiated from – say – a taxation rule. For since the payment of a given amount of money can count both as tax payment and as the “hard treatment” constitutive of some form of punishment (namely, a criminal fine),21 there is indeed no structural difference between a rule of the former and a rule of the latter kind.22 The critical move for asserting a substantive distinction between a criminal sanction rule and a tax rule lies in the claim that criminal sanction rules must be functionally characterized as secondary rules in reference to a given set of primary rules. Sanction rules are secondary because their function consists in attaching some form and amount of punishment to the transgression of one or more primary rules.23 For only under this assumption can one make sense of the idea that the legal consequence imposed on a person held responsible for some behavior-token counts as punishment, that is, as a coercive reaction – at least partially – grounded on the legal wrongfulness exhibited by that behavior-token. This gives support to a further claim, according to which the given consequence counts as punishment because its imposition expresses deserved censure. Since the primary rules capable of being enforced through the application of the given secondary sanction rules fulfil a directive function, by prohibiting or requiring actions of a certain type, they can be thought of as “obligation rules”.24 In the language favored by contemporary criminal law theory, they are more often known as “conduct rules”. The legal wrongfulness of a behavior-token that may constitute the actus reus of a commission or an omission offense can be formally identified with the violation of a conduct rule that respectively prohibits or requires actions of a certain type. Hence, a conduct rule enforced through one or more criminal sanction rules may have the structure of a prohibition or a requirement of some action-type.25 Following Hart,26 a prohibition can be understood as a content-independent and peremptory reason for omitting actions of the relevant type, whilst a requirement can be understood as a content-independent and peremptory reason for performing actions of the relevant type. In this context, “to omit” and “to perform” are used as transitive verbs, the grammatical object of which is constituted by an action-token that 21  Feinberg, Doing & Deserving, Princeton: Princeton University Press, 1970, 95 ff., in reference to what he aptly labelled the “expressive function” of punishment. 22  Renzikowski (Fn. 5), 114 ff., 120 f. 23  In Raz’s terms, this means that a “punitive relation” exists between the rules of the former and the rules of the latter kind; see Raz, The Concept of a Legal System, 2nd ed., Oxford: ­Clarendon Press, 24 f., 150 ff. Of course, the precise magnitude of the given punishment may be subsequently determined and fixed through the application of grading rules and sentencing standards. 24 Hereto Hart (Fn. 20), 82 ff.; Kindhäuser (Fn. 8), 13 f., 30 f. 25 See Black, Models and Metaphors, Ithaca: Cornell University Press, 1962, 106 ff. 26  Hart, Essays on Bentham, Oxford: Clarendon Press, 1982, 243 ff., 255 ff.

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instantiates a certain action-type, specified through a corresponding action-description.27 Since the practical function of a prohibition or a requirement consists in its serving as a reason for omitting or performing actions of a certain type, its liability-grounding transgression is to be identified with its non-recognition as a binding reason for omitting or performing an action-token of the corresponding action-type.28 The thus highlighted function of conduct rules corresponds to what Hruschka associated with a “prescriptive” use of language.29 In order to make explicit the rejection of an imperativistic conception of legal rules, it seems more suitable to speak of a “directive” use of language.30 In the vocabulary of the theory of speech acts, the promulgation of a legal conduct rule can be understood as a sort of illocutionary act through which a certain deontic status is imposed upon some action-type. Following Searle, this means that such a speech act is of a declarative kind.31 Because the function of the deontic status so imposed upon the given action-type is to provide a reason for the forbearance or the performance of actions that should instantiate that very action-type, we can assert that by means of the declaration of such action-type as (legally) forbidden or required the legislative speaker achieves the illocutionary effect that is characteristic of directive speech.32 Such characterization of prohibition and requirement norms as conduct rules that function as grounds for duties enables the further clarification of the systematic locus of those legal rules and standards traditionally taken as justification grounds.33 In norm-theoretical terms, the best way to give sense to the doctrinal claim according to which the successful invocation of defenses categorized as “justification conditions” negates the legal wrongfulness of the given behavior-token,34 is to reconstruct them as permission or liberation norms that play a merely exclusionary function, in the sense that they render situationally inapplicable one or more prohibitions or requirements.35 Precisely this function warrants the traditional talk of “exceptions” to the corresponding set of prohibitions and requirements.36 Since the rules that provide such justification conditions are just as relevant as  Hereto von Wright (Fn. 14), 36 f.   Infra, III. 29  Hruschka (Fn. 1), 680 f.; Hruschka (Fn. 19), 425. 30 See MacCormick, “Legal Obligation and the Imperative Fallacy”, in: Simpson (ed.), Oxford Essays in Jurisprudence (Second Series), Oxford: Clarendon Press, 1973, 100, 109 ff., 114 ff. 31  Searle, Expression and Meaning, Cambridge: Cambridge University Press, 1979, 16 ff. 32  Ibid., 28 33  Thoroughly hereto Byrd, “Wrongdoing and Attribution: Implications beyond the Justification-Excuse Distinction”, Wayne Law Review 33 (1987), 1289, 1293 ff. 34 Hereto Moore, Placing Blame, Oxford: Oxford University Press, 1997, 64 ff. 35 See Mañalich, “Erlaubnisnormen und Duldungspflichten”, Rechtsphilosophie 3/2015, 288, 289 ff., 301 ff. 36  Hart (Fn. 20), 178 f.; Hruschka (Fn. 1), 701. 27 28

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the set of prohibition and requirement rules for the identification of the positive and negative properties upon which the legal wrongfulness of some behavior-token may supervene, thus contributing to its deontic characterization, their allocation within the corresponding system of conduct rules is warranted.37 An implication of this has been drawn both by continental and Anglo-American scholars who embrace that very allocation, namely: that a behavior-token that satisfies the application conditions of a justification providing rule cannot be characterized as objectively wrongful.38 Where this leads to is also well known: if A performs φ, whereas φ can be subsumed both under a prohibition whose transgression would be criminal and under a permission which in fact excludes that very prohibition, without (A) knowing that φ satisfies the description that makes it objectively permissible, then A cannot be held responsible for the consummated offense, but only for the corresponding attempted offense.39 III. Conduct Rules as Premises for Duties The sense in which a conduct rule constitutes a reason for omitting or performing some action can be clarified by means of a particular application of the model of the so-called “practical syllogism”. In a nutshell, a practical syllogism is an inference the conclusion of which, in contrast to a theoretical syllogism, does not consist in a proposition, but in the performance or omission of a certain action.40 The model of the practical syllogism is of interest here inasmuch as it provides us with a schematic representation of the structure that sustains the grounding of a “forbearance duty” or an “action duty” upon a prohibition or requirement norm that may occupy the place of the major premise of a practical inference.41 Thus, if the norm in question is constituted by the correlation of the prohibition operator and the action-type specified through the description “the killing of another human being”, then that norm counts as a reason for omitting each action-token which

37  Hruschka (Fn. 1), 680 f.; Hruschka (Fn. 7), 450 f. See also Robinson (Fn. 2), 137 ff.; Moore (Fn. 34), 64 f. 38 See Byrd (Fn. 33), 1301 ff. 39  Hruschka (Fn. 19), 195 ff., 199 ff. See also Byrd (Fn. 33), 1321 ff., 1325 ff.; Moore (Fn. 34), 65 f.; Robinson (Fn. 2), 105 ff., 111 f. 40 See von Wright, Practical Reason, Oxford: Basil Blackwell, 1983, 1 ff., 18 ff.; Kindhäuser, Intentionale Handlung, Berlin: Duncker & Humblot, 1980, 146 ff. Of great importance for the argument here displayed is the account offered by Brandom, Making it Explicit, Cambridge (Mass.) and London: Harvard University Press, 1994, 245 ff., who defends the possibility of the fully practical conclusiveness of a syllogism the major premise of which is constituted by some social obligation rule. 41 Hereto Kindhäuser (Fn. 8), 54 ff.; Raz, Practical Reason and Norms, 2nd ed., Princeton: Princeton University Press, 1990, 28 ff. See also Mañalich, “The Structure of criminal attempts. An analytic approach”, Revus 34 (2018), 127, 130 ff.

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instantiates that action-type, that is, as a reason to omit every action-token that exemplifies the set of properties that fix the meaning of that description. For the inference to deserve the labelling of a practical syllogism, its conclusion has to exhibit what Von Wright calls “subjective practical necessity”.42 Among the conditions of such subjective practical necessity figures that the syllogism be construed in the first person’s – in contrast to the third person’s – perspective.43 But this is only a necessary, not a sufficient condition. For the agent must also adopt a “practical-critical attitude” towards the relevant norm as binding standard of behavior.44 Thus, the duty to omit φ, specified as the conclusion of a practical inference whose major premise is to be identified with a prohibition as “external” reason for action, will only have the mark of subjective practical necessity insofar as that very norm is acknowledged by the agent as a reason for omitting φ. This last point presupposes a conception of legal norms as external practical reasons, which is precisely what Von Wright suggests when he claims that “(prescriptive) rules or norms” may be understood as symbolic challenges that function as external reasons.45 What this means is explained in the following way: Challenges I shall call outer or external reasons for action. Unlike internal reasons, challenges are contingently, and not necessarily, reasons. This means the following: Even though an agent recognizes the challenge and has learnt or otherwise knows how to respond to it, he need not acknowledge it as a reason for him to act upon. External reasons can thus be said to “exist” in two different senses. As instituted and presented to members of a community they exist, so to speak, “objectively”. As acknowledged by individual agents as reasons for their acting they exist “subjectively”. Their subjective existence cannot be inferred, in the individual case, from their objective existence.46

Hence, the fact that a norm has the status of an “objectively existent” reason does not warrant that norm’s (contingent) motivational force as possible premise of a practical inference. For such motivational force depends on whether the norm is “subjectively acknowledged” as such by the agent whose behavior is “challenged” by it. The distinction between an abstract conduct rule and a concrete duty grounded upon such rule is a distinction between a deontic premise, on the one side, and a deontic position, on the other. The acknowledgment of this distinction can lead to a dissolution of the apparent dilemma that some legal scholars have meant to discover by analyzing the question whether the claim that norms “exist objectively” is   von Wright (Fn. 40), 6 f.   Ibid., 3 ff., 8 f., 19 ff., 24 ff. 44 See Raz (Fn. 41), 32 f. 45  von Wright (Fn. 40), 54. 46  Ibid. The distinction is equivalent to the one between a reason with which someone does φ and a reason for which someone does φ; hereto Brandom (Fn. 40), 259 ff. 42 43

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indeed compatible with the “ought implies can” principle.47 The dilemma dissolves, actually, once we take note of the ambiguity that affects the use of “ought”. This ambiguity was clearly identified by Parfit as he distinguished two senses in which we can make ought-statements in reference to the behavior of some agent: When we have decisive reasons, or most reason, to act in some way, this act is what we should or ought to do in what we can call the decisive reason-implying senses [sic]. Even if we never use the phrases “decisive reason” or “most reason”, most of us often use “should” and “ought” in these reason-implying senses. […] As well as asking what we ought to do in the decisive-reason-implying sense, we can ask what we ought rationally to do. When we call some act “rational”, using this word in its ordinary, non-technical sense, we express the kind of praise or approval that we can also express with words like “sensible”, “reasonable”, “intelligent”, and “smart”.48

What Parfit calls the “decisive reason-implying” sense of an ought-statement is exactly the sense in which we can say that a legal conduct rule exists, namely the sense in which its existence does not depend on capacities and mental states of its addresses.49 And this is a different sense from that in which an agent may be personally criticized for not having behaved as she ought in light of her own capacities and mental states regarding the given conduct rule, so that we can say of her that she did not fulfil the duty that, in light of her capacities and mental states, the rule imposed upon her. As Parfit observes: When people are ignorant, or have false beliefs, they may do what they ought not to do in the decisive-reason-implying sense. But these people may not deserve any criticism, since they may have false beliefs whose truth would have given them sufficient reasons to act as they do. At least in most cases, that is enough to make their act rational.50

Once it is noticed that a duty grounded upon a conduct rule is not objective in the sense in which the rule itself is,51 we can assert that the objectivity exhibited by the rule as a deontic premise does not prevent us from honoring the “ought implies can” principle. For as Hruschka points out, the conditions under which someone may be criticized for some behavior “measured” against some conduct rule are specified by rules of a different (grammatical) kind, namely: imputation rules.52

47 See Caracciolo, “A dilemma regarding the nature of norms”, Revus 34 (2018), 9, 12 ff., 15, 18 ff. 48  Parfit, On What Matters, vol. 1, Oxford: Oxford University Press, 2011, 33. 49 See Caracciolo (Fn. 47), 13, 15. 50  Parfit (Fn. 48), 36. 51  It is precisely the possibility of making this distinction what Caracciolo overlooks in his analysis; see Caracciolo (Fn. 47), 15. 52  Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin and New York: Walter de Gruyter, 1976, 30 ff.; 34 ff.; Hruschka (Fn. 7), 453 f.

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IV. Imputation Rules and the Language of Imputation The reason why the distinction between a set of explicitly formulated sanction rules and the set of thus enforced conduct rules does not suffice to make explicit the basic structure of a system of criminal law lies in the fact that a conduct rule cannot state the conditions under which someone can be held responsible for its own transgression. For the very rule that could be contingently acknowledged as an obligatory reason cannot, by itself, lay down the conditions that could sustain the expectation that the same rule be practically acknowledged as a binding premise. This is nothing but a particular application of Wittgenstein’s argument concerning the problem of the so-called “regress of rules”, according to which a rule cannot lay down the conditions under which that very rule counts as being followed or not followed.53 Hence, while the prohibition of homicide functions as an (external) symbolic challenge against producing the death of another human being, some other standards are needed for determining the conditions under which it can be expected that an agent situationally transform that legally external reason into a binding premise for her own behavior. And only the satisfaction of those conditions can render the ascription of responsibility for the transgression of the given conduct rule legitimate, in the sense that the rule’s transgression be legitimately placed, as a title of debt, in the agent’s “account,”54 as the etymology of the word “imputation” (Zurechnung) aptly suggests.55 Such ascriptive function, analytically differentiated from the directive function predicated of conduct rules, is served by another set of rules, which Hruschka calls “imputation rules”.56 Since these rules fix the conditions under which someone can be held properly responsible for some token of wrongful behavior and thus punishable under the respective sanction rule, their characterization as “principles of liability assignment”, in Robinson’s terms,57 is entirely adequate. But what is the precise nature of the distinctively ascriptive function exhibited by imputation rules? One can attempt to answer this question by analyzing what one may call the “language of imputation”. Discussing Hart’s analysis of the socalled “ascriptive use of language”,58 John L. Mackie held the view that the thus   Wittgenstein (Fn. 17), §§ 84 ff. Hereto Mañalich (Fn. 6), 43 ff.  Hereto Hruschka (Fn. 19), 366. For an analysis of the notion of “fault-ascription” in terms of a registration of some deed on the agent’s “record”, see Feinberg (Fn. 21), 123 ff. 55 Hereto Hruschka, “Zurechnung seit Pufendorf. Insbesondere die Unterscheidungen des 18. Jahrhunderts”, in: Kaufmann / Renzikowski (ed.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Frankfurt am Mein: Peter Lang, 2004, 17, 17 f. 56  Hruschka (Fn. 1), 680 ff.; Hruschka (Fn. 7), 451 ff. 57  Robinson (Fn. 2), 8. 58  Hart, “The Ascription of Responsibility and Rights”, Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1949), 171, passim. For a discussion of Hart’s early defense and later rejection of ascriptivism, see Mañalich (Fn. 6), 186 ff. 53 54

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specified pragmatic force of certain speech acts would be entirely reducible to a combination of a descriptive and a prescriptive aspect.59 But it is far from being apparent that action ascriptions may indeed have a distinctively prescriptive force. The important insight lies rather in the suggestion that the illocutionary point of an ascriptive speech act could be built upon a systematic combination of two more basic kinds of illocutions. Mackie himself provides an illuminating clue to this when, in reference to an institutional binding statement that establishes that a contract has been celebrated, he observes that the judge is then “at once stating something and making his statement true”.60 This can be elucidated in the following way, if we take action ascriptions as example: what a speaker does when ascribing some action to an agent is to be analyzed as the performance of a speech act, the illocutionary force of which consists in the combination of an assertive and a declarative force. Under Searle’s taxonomy, an assertion consists in taking its propositional content to be true, so that this illocutionary force is defined by a “word-to-world” direction of fit.61 In contrast hereto, a declaration “brings about the correspondence between the propositional content and reality, so that “successful performance guarantees that the propositional content corresponds to the world”.62 This is why a declarative speech act has both a “world-to-word” and a “word-to-world” direction of fit.63 Interestingly enough, Searle claims that a subclass of declarative speech acts ought to be recognized, the members of which would also belong to the general class of assertive speech acts. As an example of such “assertive declarations” ­Searle mentions the judicial declaration of someone being guilty of some criminal deed. In his own words, this is due to the fact that [s]ome institutions require assertive claims to be issued with the force of declarations in order that the argument over the truth of the claim can come to an end somewhere and the next institutional steps which wait on the settling of the factual issue can proceed.64

That the statement that the accused did commit the crime imputed to her is assessable in the word-to-world direction of fit, is clear upon the recognition that the question “did she really commit the crime?” remains, after the declaration has been issued, a perfectly sensitive one. This is one of the reasons that sustain the possibility of judging a given ascription as correct or incorrect.65 But to stress the assertive   Mackie, Persons and Values. Selected Papers II, Oxford: Clarendon Press, 1985, 32 f.   Ibid., 33. 61  Searle (Fn. 31), 12 f. 62  Ibid., 16 f. 63  Ibid., 18 f. 64  Ibid., 19 f. 65  The distinction, made by Meixner, between a subjective and an objective concept of imputation responds directly to this concern: to say that the fact that a given deed is imputed to some agent does not imply that that same deed is imputable to the agent, is tantamount to say59 60

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aspect of the correctness conditions of an ascriptive speech act by no means leads to dilute the declarative aspect of its pragmatic force. Rather, that assertive aspect is only made relevant through the very set of rules that fix the conditions under which the corresponding ascription is to take place. This is why an ascription that does not fulfil the truth conditions imposed by its assertive aspect does not, qua ascription, become false. In the sense in which the imputed behavior-token is registered in the agent’s “record”, the fulfilment of the conditions specified through the applicable imputation rules is rather constitutive of the correctness of the ascriptive speech act. V. Two Levels and Two Modes of Imputation Following Hruschka’s path-breaking analytical investigations, it is possible to organize the conditions fixed by the given set of imputation rules by making two complementary distinctions, which concern the levels and the modes of imputation.66 The first distinction leads to a twofold structuration of the process of imputing some legally wrongful behavior-token, grounded upon an assessment of the individual capacities that an agent must deploy in following some applicable conduct rule.67 In order to follow a rule, an agent must be capable of forming first and second order intentions.68 For a rule is only followed by an agent who forms and executes the (first order) intention of omitting or performing the forbidden or required action, thus fulfilling the (second order) intention of adjusting her behavior to the applicable rule. The capacity of forming and executing the relevant first order intention, which can be labelled “action capacity”, warrants the ascription of the wrongful behavior-token as the person’s deed, in the sense of an imputatio facti.69 In turn, the capacity of forming and executing the relevant second order intention, which may be labelled “motivation capacity”, warrants the ascription of the wrongful deed as a free chosen deed, whose agent then deserves the legal consequence attached to it by the corresponding sanction rule, in the sense of an imputatio iuris.70 That this differentiation of capacities is of “depth grammatical” importance for the grounding of criminal responsibility is shown by the fact that a very close dising that the fact that an ascription takes place does not imply its correctness. See Meixner, “Eine Explikation des Begriffs der Zurechnung”, Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), 479, 479 f. 66  Hruschka (Fn. 1), 672 ff., 676 ff., 682 ff., 686 ff.; Hruschka (Fn. 7), 451 ff., 456 ff.; Hrusch­ka (Fn. 19), 311 ff., 337 ff. See also Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs: Relationen und ihre Verkettungen, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, 30 ff., 57 ff. 67  Hruschka (Fn. 7), 451 ff. 68 See Kindhäuser (Fn. 8), 41 ff. 69  Hruschka (Fn. 52), 14 ff., 18 ff.; also Hruschka (Fn. 1), 672 ff. 70  Hruschka (Fn. 52), 36 ff., 40 ff.; also Hruschka (Fn. 1), 676 ff.

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tinction is made by Moore in terms of what he calls “prima facie” and “definitive” culpability.71 After observing that “one is culpable if he chose to do wrong in circumstances where that choice was freely made”, Moore writes: There are two aspects to culpability in this sense. The first has to do with the mental states that allow one to say that one has chosen to do a wrongful act, and the second has to do with the conditions (of excuse) that must not exist else the choice is sufficiently unfree that no (or a lessened) blameworthiness attaches to it.72

Although Moore focuses his attention on the mental states which are relevant for each of the two “aspects”, or levels, the capacities thus differentiated integrate both cognitive and conative components. This is critical for establishing the reach of the second distinction introduced by Hruschka, which refers to the modes of imputation.73 Imputation has an ordinary mode, which consists in the immediate satisfaction of the criteria upon which responsibility is grounded, at each level of imputation, according to the capacities relevant hereto. In this sense, the rules of ordinary imputation fix the conditions upon which the expectation of individual rule-following is upheld. A person of whom such rule-following could be expected, according to the actual capacities that she possessed in the situation in which the rule was meant to be applicable, can be properly blamed for not having exercised such capacities as a law-abiding person would have. If the agent did not possess the required capacities in the situation in which she in fact did not follow the applicable conduct rule, one would have to assume that the “ought implies can” principle would preclude an ascription of responsibility for the rule’s transgression. Under most criminal law systems, however, such an exculpatory claim is a defeasible one. For imputation also knows an extraordinary mode, which enables an ascription of responsibility grounded upon the agent’s own responsibility for the non-satisfaction of the default or ordinary bases of imputation. This means that the exculpatory claim premised upon the “ought implies can” principle is disavowed if a failure to sufficiently secure his possession of the capacities required for an effective rule-following in the relevant situation is imputable to the agent.74 Such is the function served by negligence as a “compensatory” responsibility criterion in cases where the predictive belief necessary for an ascription of dolus eventualis or (subjective) recklessness cannot be attributed to the agent.75 But the   Moore (Fn. 34), 403 f.   Ibid., 404. 73  Hruschka (Fn. 52), 24 f., 48 ff., 65 ff. See also Hruschka (Fn. 1), 686 ff.; Hruschka (Fn. 7), 456 ff. 74  Hruschka (Fn. 1), 687 ff. 75 Hereto Hruschka, “Über Tun und Unterlassen und Fahrlässigkeit”, in: Kaufmann / Bemmann / Krauss / Volk (ed.), Festschrift für Paul Bockelmann, Munich: C.H. Beck, 1979, 421, 424 ff.; see also Hruschka (Fn. 19), 322 ff. In a more critical vein, see Moore (Fn. 34), 412 ff. For the reconstruction of (subjective) recklessness in the sense presupposed here, see Stark, 71 72

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same function is involved in the application of some (but not all) the responsibility bases specified by what Robinson calls “doctrines of imputation”.76 A very well known example of a rule of extraordinary imputation is the one that enables the ascription of (definitive) culpability in cases of so-called “voluntary intoxication”.77 That the problem thus presented is equivalent to the problem solved through the imputation structure of actio libera in causa when this is reconstructed through Hruschka’s “exception model”,78 shows once again that we are dealing here with structures that belong to the “depth grammar” of criminal responsibility. VI. The Pragmatic Connection between applicatio legis ad factum and imputatio facti We can now summarize the precedent considerations by noting that the ascriptive conditions fixed by the given set of imputation rules are to be identified with the conditions that need to be satisfied so that the illocutionary point of the legislative speech act that institutes the conduct rule as obligation ground is situationally achieved.79 For those are the conditions the satisfaction of which determines that a given agent be in position to rationally respond to the symbolic challenge in which the applicable conduct rule consists. This is why one can say that the application of the conduct rule to the relevant behavior-token, in the sense of an applicatio legis ad factum, presupposes the ascription of that very behavior-token to an agent at the first level of imputation, in the sense of an imputatio facti.80 It is critical to notice, however, that this presupposition does not rest upon a logical connection, but rather upon a pragmatic one. The interesting question here has the following form: is it meaningful o rather senseless to say that an agent A ought to do or not do something if A is not capable of doing it or not doing it?81 Once we have noticed the ambiguity exhibited by ought-statements and thus recognized the need of avoiding the confusion of their decisive reason-implying sense with their potentially critical sense,82 it is not difCulpable Carelessness, Cambridge: Cambridge University Press, 2016, 90 ff. For an argument in favor of the functional equivalence of recklessness and dolus eventualis, see Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, Berlin: Walter de Gruyter, 2007, 311 ff. Hereto Mañalich (Fn. 41), 133 ff. 76  Robinson (Fn. 2), 59 ff. 77 Hereto Dimock, “Actio Libera in Causa”, Criminal Law and Philosophy 7 (2013), 549, 552 ff., 554. 78  Hruschka (Fn. 19), 291 ff., 341 ff. See also Kindhäuser (Fn. 8), 120 ff. 79 Hereto Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, Berlin: Duncker & Humblot, 1993, 34  ff.; Mañalich (Fn. 6), 37 ff. 80  Hruschka (Fn. 1), 672 ff.; Hruschka (Fn. 7), 452 f.; Hruschka (Fn. 19), 366. 81 See von Wright (Fn. 14), 107 ff., 114 ff. 82  Supra, III.

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ficult to grasp the difference between what the applicable conduct rule prohibits or requires, on the one side, and the conditions upon which it may be rationally expected that a particular agent adjust her behavior to that rule, on the other. The conditions which define the “action capacity” that provides the relevant ascription criterion at the level of imputatio facti do not belong to the description that specifies the action-type placed under prohibition or requirement. It would be pragmatically pointless to expect that an agent follow the rule in a situation in which he is not capable of forming and fulfilling an intention directed at the forbearance of an action that would exemplify the prohibited action type, or at the performance of an action that would exemplify the required action type. Yet the very possibility of an extraordinary imputation at the level of imputatio facti shows that it is crucial not to confuse this last point with the thought that the lack of the relevant action capacity by the agent would logically foreclose the assessment of the deontic status of his behavior under the applicable rule. For only if this assessment is not foreclosed will it be possible to ask whether the agent could have effectively acquired or preserved the capacity he lacked in order to follow the rule he did not follow.83 This does not affect the fact that conduct rules are logically prior to the corresponding set of imputation rules, in the sense that the former fix the content of what may come to be imputable according to the latter. For the semantic content of the applicable rule determines the physical capacity and the predictive belief necessary for intentionally omitting or performing an action of the forbidden or required type.84 But the conditions thus constitutive of the agent’s action capacity are not relevant as an aspect of the action-type placed under prohibition or requirement, but only as an enabling factor regarding the rule’s following. This point was very clearly made by Elizabeth Anscombe in her essay “The Two Kinds of Error in Action”: What a rule forbids is often the doing of such and such. When, however, you have done such and such, the question whether you are guilty of doing such and such is not simply a question about what exteriorly happened, but about your will. Naturally, a rule as you consider it in deciding to obey or disobey it does not run: do not voluntarily do such and such, for you cannot consider whether to do such and such voluntarily or not. So even when the notion of a guilty performance, if any, is built into the description of the forbidden thing (as with stealing or murder, though not with adultery), what a man considers is whether to take this horse or this money or whether to kill this other man, not whether to do so voluntarily. The voluntariness is presupposed in his considering whether to do so. Thus it does not come into his considerations of what to do, but it does come into a later judgment – his own or another’s – of what was done.85

The crucial aspect of Anscombe’s analytic remark lies in her distinction between the judgment concerning what is to be done (or not done) by the agent under the given rule, on the one side, and the judgment of whether the agent is to be criti Hereto Mañalich (Fn. 41), 138 f., 153.  See Hruschka (Fn. 52), 18 f. 85  Anscombe, Ethics, Religion and Politics, Oxford: Basil Blackwell, 1981, 7 f. 83 84

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cized – or more precisely: blamed – for having behaved as he did in light of that very rule, on the other. That the voluntariness of the agent’s behavior has no relevance under a judgment of the first kind, follows precisely from the fact that its voluntariness does not belong to the description under which the behavior may be “measured” against the rule, but rather to the conditions the satisfaction of which is both necessary and sufficient for the agent being bound to the rule through his action capacity.86 It is in this sense that, as a category mediated by an imputation judgment, the personal duty situationally imposed by the rule upon the agent expresses a relation between an “objective ought” and a “subjective can”.87 VII. Variations of Imputation It may be helpful to close this contribution by making a few remarks on how the approach sketched until this point can contribute to the inquiry into some more complex structures that modify the paradigms of what counts as the object and the bases of imputation. The first of those structures is the one involved in the liability for an attempted offense. It is constitutive of the structure of a criminal attempt that a discrepancy exists between the agent’s subjective attitude towards the satisfaction, through her behavior, of the description that specifies the corresponding wrongful behavior-type, on the one side, and the way the world turns out to be with regard to the objective satisfaction of that same description by the agent’s behavior, on the other side.88 Indeed, already in 1881, Hugo Hälschner could assert that the “attempt-action” has, in every case, “a mistake of the agent” as a necessary conceptual element.89 The same thought appears in Moore’s claim that liability for an attempted offense is defined by the fact that the agent’s desert base is restricted to “culpability without wrongdoing”.90 This presupposes, as Moore observes, that “wrongdoing” be understood as “wrongdoing in the actual world, not in a possible world”, whereas the only – and precisely: parasitic – sense in which one could say that wrongdoing is present as desert-base for an attempted offense is the sense in which culpability necessarily implies wrongdoing, namely: “wrongdoing in the possible world created by our representational states”.91 This is why, in the lan86  It is precisely the tendency to confuse such pragmatic condition for a conduct’s rule binding effect with an aspect of the rule’s semantic content that leads some theorists to redefine the latter from an “ex ante objective” perspective. See, for instance, Hruschka (Fn. 19), 402 f.; Renzikowski, “Der Gegenstand der Norm”, in: Borowski / Paulson / Sieckmann (ed.), Rechtsphilosophie und Grundrechtstheorie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, 631, 636 ff., 641 ff. 87  Kindhäuser (Fn. 8), 18, 34 ff., 50 ff. 88 Hereto Hruschka (Fn. 19), 185 ff. 89  Hälschner, Das Gemeine Deutsche Strafrecht, vol. I, Bonn: Adolph Marcus, 1881, 344. 90  Moore (Fn. 34), 191 ff. 91  Ibid., 405.

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guage of criminal law, the grammar of “attempt” is so tightly linked to the grammar of “mistake”. The point just made can be more precisely expressed through the syntactical apparatus already established: the particularity of every attempted offense concerns the fact that the behavior-token imputed to the agent does not come to exemplify the properties capable of grounding the actual wrongfulness of some behavior-token under the relevant conduct rule, although the agent behaved in a way that would have been wrongful, had his representation of the given circumstances been true. This grammatical proposition is of great importance for the clarification of the more puzzling features of liability for attempts, namely the role played by the agent’s mental states,92 the possibility of differentiating the magnitude of punishment respectively associated with consummation and attempt,93 as well as the grounds and the scope of exculpation or mitigation as a consequence of an attempt’s abandonment. A second group of responsibility structures which deviate from the paradigmatic identification of the object and the bases of imputation comes into play in cases in which a plurality of agents may be responsible for one and the same offense. The highly complex imputation rules associated with the categories of “Beteiligung” or “complicity” (in a wide sense) are rooted upon the need of introducing specific criteria for ascribing responsibility in situations in which the (actually or potentially) wrongful behavior-token cannot be exclusively imputed to an agent immediately and solely involved in the performance or omission of an action of the relevant type. That the syntactical distinction between the object and the bases of imputation is necessary in this realm, has been stressed by Kutz when arguing against the hegemony of an “individualistic conception of agency”.94 Indeed, it is only by not confusing the question of what is imputed to someone with the very different question of in virtue of which something is imputable to someone that the structures of indirect criminal agency (mittelbare Täterschaft) and joint criminal agency (Mittäterschaft) may be properly elucidated.95 Of course, the complexities become multiplied when these modified imputation structures are combined, as in cases where the question of an attempted offense   Mañalich (Fn. 41), 148 ff.   Ibid., 145 ff. 94  Kutz, Complicity. Ethics and Law for a Collective Age, Cambridge: Cambridge University Press, 2000, 3 ff., 17 ff. 95 Hereto Kindhäuser, “Handlungs- und normtheoretische Grundfragen der Mittäterschaft”, in: Bohnert / Gramm / Kindhäuser / Lege / Rinken / Robbers (ed.), Verfassung, Philosophie, Kirch. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 2001, 627, 645 ff.; Mañalich, “Die Struktur der mittelbaren Täterschaft”, in: Paeffgen / Böse / Kindhäu­ ser / Stübinger / Verrel / Zaczyk, Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 2011, 709, 711 ff., 716 ff. See also Haas, Die Theorie der Tatherrschaft und ihre Grundlagen, Berlin: Duncker & Humblot, 2008, 80 ff., 112 ff. 92 93

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imputable to several co-perpetrators is at stake. A grammatical approach can deliver nothing more, but nothing less, than formal clarity when we frame and attempt to solve the problems so raised. And although formal clarity is not sufficient for providing correct answers to these questions, it is nevertheless indispensable. We owe Joachim Hruschka a great amount of intellectual gratitude for having taught us how this task ought to be pursued. Zusammenfassung Der Aufsatz präsentiert eine Rekonstruktion der Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Zurechnungsregeln, wie sie von Joachim Hruschka systematisch eingeführt wurde und die eine klare Differenzierung des Gegenstands und der Kriterien der Zurechnung als die „tiefgrammatische“ Grundlegung jeder Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung ermöglicht. Auf dieser Basis lässt sich die sprachpragmatische Funktion der Regeln dieser beiden Arten genauer beschreiben, was u.a. zu einer Klärung des Zusammenhangs zwischen den direktiven und den askriptiven Voraussetzungen der Konstitution einer Straftat beitragen kann.

Die actio libera in causa als selbstständige Straftat: Eine Radikalisierung der außerordentlichen Zurechnung? Juan Pablo Montiel actio libera in causa

I. Einleitung Für einen spanischsprachigen Strafrechtswissenschaftler ist das Erscheinen eines Buches, das an das Werk von Joachim Hruschka erinnert, keineswegs überraschend, sondern notwendig und gerecht. Notwendig, weil in unserem sprachlichen Umfeld das Bewusstsein besteht, dass die von dem ehemaligen Professor in Erlangen vorgeschlagenen Kategorien und Strukturen eine bemerkenswerte Leistungsfähigkeit haben, die von der Wissenschaft genutzt werden muss. Gerecht, weil, obwohl Hruschkas Werk am Ende seiner Karriere auf dieser Seite der Welt bekannt war, sein Beitrag zur strafrechtlichen Diskussion von Strafrechtlern hoch geschätzt wird. Seit dem Erscheinen von „Imputación y Derecho penal“ (Zurechnung und Strafrecht),1 einem spanischsprachigen Sammelband mit den wichtigsten Beiträgen Hruschkas zur Zurechnungslehre und weiteren ausgewählten Themen des Strafrechts, der von Pablo Sánchez-Ostiz herausgegeben wurde, haben sich Hruschkas Gedanken in Spanien und Lateinamerika schnell verbreitet, wobei seine Ideen in den angesehensten akademischen Bereichen präsent sind. Dies geschah nicht nur dank dieses Buches und der enormen „evangelisierenden“ Arbeit seines spanischen Herausgebers, sondern auch dank des Einflusses, den einige herausragende deutsche Strafrechtler auf ihre spanischsprachigen Schüler zugunsten der von Hruschka benannten wichtigen Kategorien ausüben konnten.2 Unter den vielen analytischen Kategorien, die Hruschkas Werk ausmachen, stellt die Abhandlung zur ordentlichen und außerordentlichen Zurechnung eines der Elemente seines Systems dar, das in unserem linguistischen Umfeld am weitesten verbreitet ist.3 Diese Unterscheidung hat sich so weit ausgedehnt, dass 1  Hruschka, Imputación y Derecho penal. Estudios sobre la teoría de la imputación (spanische Herausgeberschaft von Sánchez-Ostiz), Pamplona: Thomson Reuters, 2005. 2  Indirekt haben die Werke von Urs Kindhäuser und Ulfrid Neumann zur Verbreitung von Hruschkas Ideen beigetragen. 3  Dazu vgl. u. a. Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin / New York: De Gruyter, München, 1976, S. 48 ff.; ders., „Über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit“, in: Kaufmann  u. a. (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockelmann, München: Beck, 1979, S. 442 ff.; ders.,

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es in unterschiedlichen Kontexten immer häufiger vorkommt, dass die Kategorie der außerordentlichen Zurechnung erwähnt wird, ohne dass ihre begriffliche Zurechnung präzisiert oder der Wissenschaftler benannt werden müsste, der für ihre Verbreitung im modernen Strafrecht verantwortlich ist. Meiner Meinung nach ist die Verbreitung dieser Verantwortungsstruktur nicht das Ergebnis des „Proselytismus“ derjenigen, die die Systematik Hruschkas befürworten, sondern vielmehr das der Sophistikation seines Werkes, die Gruppen von Fällen, die die konventionelle Strafrechtswissenschaft häufig als voneinander abweichende Konstellationen darstellt, homogen erklärt. Die Art und Weise, wie ordentliche und außerordentliche Zurechnung miteinander interagieren, und die Obliegenheitsverletzung sind Begriffe, die die Diskussion auf dem Gebiet des Vorverschuldens wesentlich bereichert haben. Ein Indiz dafür ist die Annahme des Begriffs der Obliegenheiten in den letzten Jahren in theoretischen Modellen, die sich an den Antipoden eines analytischen Strafrechtssystems befinden.4 Auch im Rahmen der jüngsten Beiträge zum Problem der actio libera in causa, die im englischsprachigen Raum erschienen sind, ist die Kategorie der außerordentlichen Zurechnung nicht unbemerkt geblieben. In einigen von ihnen wird eine detaillierte Analyse der außerordentlichen Zurechnung vorgenommen und der Begriff der Obliegenheit in den Mittelpunkt gerückt.5 Abgesehen von den Einwänden, die gegen die Doktrin in diesem Bereich erhoben wurden, und den irreführenden Darstellungen des Modells,6 wird die außerordentliche Zurechnung als „Exportprodukt“ der deutschen Strafrechtswissenschaft in verschiedene Kulturbereiche präsentiert.

„Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf. Zu Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa“, in: ZStW (96) 1984, S. 662 ff.; ders., „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“, in: Rechtstheorie (22), 1991, S. 457 ff.; ders., „Die Unterscheidung von Pflicht und Obliegenheiten, angewendet auf die Selbstberauschung“, in: Kaufmann (Hrsg.), Recht auf Rausch und Selbstverlust durch Sucht, Frankfurt am Main: Peter Lang, 2003, S. 291 ff. Vor allem erhalten diese Kategorie in der spanischsprachigen Strafrechtswissenschaft Sánchez-Ostiz, „Imputación y teoría del delito“, Montevideo / Buenos Aires: BdF, 2008, S. 540 ff.; ders., „La libertad en Derecho penal“, Barcelona: Atelier, 2014, S. 73 ff., 119 ff.; ders., „Teoría del delito, imputación extraordinaria e incumbencias“, in: Luzon Peña (Hrsg.), Libro homenaje a Santiago Mir Puig, Madrid: La Ley, 2010, S. 539 ff.; Mañalich, „Nötigung und Verantwortung“, Baden Baden: Nomos, 2009, S. 68 ff.; ders., „Norma, causalidad y acción“, Madrid / Barcelona: Marcial Pons, 2014, S. 140 ff. 4 Vgl. Jakobs, „System der strafrechtlichen Zurechnung“, Frankfurt am Main: Klostermann, 2012, S. 69 ff.; ders., „Rechtszwang und Personalität“, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2008, S. 41 ff.; Pawlik, „Das Unrecht des Bürgers“, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, S. 302 ff., 345 ff. 5 Vgl. Finkelstein / Katz, „Contrived Defenses and Deterrent Threats: Two Facets of One Problem“, in: Ohio State Journal of Criminal Law (5) 2008, S. 492 ff. 6  Beeindruckend sind die falschen Vorstellungen von der Bedeutung der Obliegenheitsverletzung (z. B. werden die Obliegenheiten als Pflichten (Duties) präsentiert), die meiner Meinung nach darauf zurückzuführen sind, dass die Kategorien der Pflichten und der Obliegenheiten den englischsprachigen Juristen fremd sind, vgl. Finkelstein / Katz (Fn. 5), S. 493.

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In diesem Zusammenhang verstehe ich, dass eine der besten Möglichkeiten, eines meiner geschätzten und bewunderten deutschen Kollegen zu gedenken, zweifellos darin besteht, diese Arbeit der actio libera in causa zu widmen, welche letztendlich der erste Anstoß für die weitere systematische Entwicklung der Doktrin der außerordentlichen Zurechnung war.7 Dies mit folgender Klarstellung: Die Bezeichnung actio libera in causa findet nach der herrschenden Auffassung in der Literatur ausschließlich Anwendung auf solche Fälle, in denen der Täter durch eine freiverantwortliche Handlung im Vorfeld seine eigene Handlungs- oder Schuld­ unfähigkeit zum Zeitpunkt der zu subsumierenden Handlung verursacht hat.8 Im ersten Teil meines Beitrags werde ich mich auf die Elemente konzentrieren, die im Rahmen der außerordentlichen Zurechnung eine strafrechtliche Verantwortung in Fällen der actio libera in causa ermöglichen. Über die Beschreibung des Modells hinaus wird sich ein kritischer Ansatz durchsetzen, in dem die von Hruschka favorisierten problematischen Aspekte der Stellungnahme ans Licht gebracht werden. Demgegenüber werde ich im zweiten Teil die wichtigsten Elemente eines alternativen Erklärungsmodells der strafrechtlichen Verantwortung in Fällen der actio libera in causa entwickeln. Auch wenn ein erster Blick auf meinen Vorschlag den Eindruck erwecken mag, völlig im Widerspruch zu demjenigen Hruschkas zu stehen, verstehe ich ihn jedoch grundsätzlich als Radikalisierung seiner Ausgangspunkte. II. Die actio libera in causa als Unterfall einer außerordentlichen Zurechnung 1. Prämissen und Anwendungsbereich In dem von Hruschka favorisierten Modell ist die actio libera in causa als Frage nach einer Zurechnung zweiter Stufe verortet, bei der der Täter nicht bestraft werden kann, da er zum Zeitpunkt der Begehung der tatbestandmäßigen Handlung an einem von ihm selbst verursachten Zurechnungsdefekt leidet. In diesem Sinne sei die actio libera in causa kein Begriff zur Charakterisierung sämtlicher Fälle; in denen die Person einen beliebigen Verantwortungsdefekt verursacht,9 sondern 7  Hervorzuheben ist die Pionierarbeit Hruschkas, „Methodenprobleme bei der Tatzurechnung trotz Schuldunfähigkeit des Täters. Zugleich eine Apologie des Art. 12 SchwStrGB“, SchZStR (90) 1974, S. 48 ff. 8 U.a. Mir Puig, „Parte General“, 8. Aufl., Barcelona: Reppertor, 2008, Absch. 8, Rn. 7 f.; Jakobs, „La denominada actio libera in causa“, in: ders., Dogmática de Derecho penal y la configuración normativa de la sociedad, Madrid: Marcial Pons, 2004, S. 230; Alcácer Guirao, “Actio libera in causa dolosa e imprudente”, Barcelona: Atelier, 2004, S. 23. 9  Eine expansive Verwendung befürwortend Joshi Jubert, „La doctrina de la ‚Actio libera in causa‘ en Derecho penal“, Barcelona: Bosch, 1992, S. 54; Maurach, „Fragen der actio libera in causa“, JuS 1961, S. 373; Schwinghammer, „Die Rechtsfigur der actio libera in causa und ihr Anwendungsbereich über den Rahmen des § 51 StGB hinaus“, München, 1966, S. 13; Silva Sánchez, „El delito de omisión“, 2. Aufl., Montevideo / Buenos Aires: BdeF, 2003, S. 325; Di-

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umfasst nur bestimmte Zurechnungsfehler, namentlich den entschuldigenden Notstand und die Schuldunfähigkeit.10 Der Begriff actio libera in causa wird daher nicht zur Begründung eines bestimmten Modells (d.h. eines Modells, das sich auf die Ursache der Handlung gründet) verwendet, sondern als Beschreibung einer Konstellation, in der die Bestrafung nach den konventionellen Regeln einer Verantwortungszuschreibung umstritten scheint.11 Unter den Prämissen dieses Modells beziehen sich die Probleme der Verantwortungszuschreibung auf die ordentlichen Zurechnungsregeln. Diese fungieren als konsekutive Regeln,12 da sie zwei Begriffe als logische Konsequenz verbinden und die Bedingungen festlegen, die erfüllt sein müssen, um eine Zurechnung zu validieren. Damit eine Zurechnung erster Stufe bestätigt werden kann, müsse beispielsweise die Kenntnis der tatsächlichen Umstände der verbotenen Handlung, bei einer Zurechnung zweiter Stufe unter anderem die Fähigkeit, die Handlungen zu verstehen und zu steuern, vorhanden sein. Da in den Fällen der actio libera in causa die Zurechnungsbedingungen fehlen, greift Hruschka auf adversative Regeln zurück, um eine Zurechnung herzustellen, d.h. Regeln, die es ermöglichen, die Handlung trotz des Vorhandenseins eines Defekts zuzurechnen.13 Was eine Zurechnung trotz des Defekts rechtfertige, sei die Verletzung einer Obliegenheit, die zur Provokation des Defekts führt.14 Diese Fälle entsprechen daher einer außerordentlichen Zurechnung. Grundvoraussetzung des Hruschka-Modells ist, dass die einem Imputationsprozess unterworfene Handlung frei sein muss.15 In ordentlichen Fällen ist die einer Zurechnung unterliegende Handlung libera in se, d. h. an sich beobachtet frei, während in außerordentlichen Zurechnungsfällen der Handelnde zum früheren Zeitpunkt frei eine Ursache setzte, die letztlich zu dieser Handlung führte. In diesem Schema würden eine actio libera in se und eine actio libera in sua causa bei der Zurechnung vollständig verbunden.16 Im Hruschka-Schema ist die Ursache einer Handlung jedoch nicht konstitutiver Bestandteil der zugerechneten Handlung, wie der Ausdruck in sua causa zu implizieren scheint, sondern eine eigenständige Handlung, die jedoch in der Lage ist, die Zurechnung einer Handlung mock, „Actio libera in causa“, in: Criminal Law and Philosophy (3) 2013, S. 552 ff. Kritisch Hruschka, „Strafrecht nach logisch-analytischer Methode“, 2. Aufl., Berlin / New York: De Gruyter, 1988, S. 274 ff. 10 Vgl. Hruschka (Fn. 8), S. 349. 11  Hruschka (Fn. 8), S. 343. 12  Sánchez Ostiz, La libertad (Fn. 3), S. 60 f. 13  Sánchez-Ostiz, „Imputación e incumbencias en Derecho penal“, in: Política Criminal (24) 2017, S. 1214 f. 14  Hruschka (Fn. 8), S. 415 ff.; Sánchez-Ostiz, Teoría (Fn. 3), S. 553 ff.; Joerden, „Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs“, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 46. 15  Schuhr, „Hruschkas Zurechnungslehre – Eine Skizze“, in: Strafrecht im Fokus. Sonderheft Joachim Hruschka in memoriam, 2018, S. 18 f., abrufbar unter http://crimint.com.ar/ wp-content/uploads/2018/07/Strafrecht-im-fokus-Hruschka-GS.pdf. 16  Hruschka (Fn. 8), S. 346.

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wiederherzustellen, die für sich betrachtet nicht die elementaren Voraussetzungen der Zurechnung besitzt. Diese andere Handlung, genannt actio praecedens, muss eine Obliegenheit verletzen, um die Zurechnung trotz des Vorhandenseins eines Defekts wiederherzustellen. Diese Obliegenheit stellt nach Hruschka eine Verhaltensregel dar – welche sich wiederum aus der im Straftatbestand enthaltenen (primären) Verhaltensnorm ableitet, –17 die die zu befolgende Vorgehensweise festlegt, so dass der Adressat in der Lage sei, durch Befolgung der Obliegenheit der primären Verhaltensnorm zu entsprechen.18 Hruschka formuliert diese Regel in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Schuldfähigkeit wie folgt: Es ist grundsätzlich untersagt, sich in einen nach § 20 StGB relevanten Rauschzustand zu versetzen, wenn – objetiv ex ante gesehen – die Gefahr besteht, dass der Berauschte im Rausch eine deliktstatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat begehen wird.19

Nach der Rechtsnatur der Obliegenheiten,20 die der Arbeit von Hruschka und seinen Anhängern zugrundeliegt, kann der Verstoß gegen sie nie zur Verhängung einer Sanktion führen, sondern hat zur Folge, dass eine gescheiterte Zurechnung nach den ordentlichen Regeln durch den Verlust eines strafbefreienden Arguments wiederhergestellt wird.21 Mit anderen Worten, die Erfüllung einer Obliegenheit bildet die Voraussetzung, damit sich der Täter einer tatbestandmäßigen Handlung auf einen Strafbefreiungsgrund als entlastendes Argument berufen darf.22 In diesem Sinne beweist die Rolle der Obliegenheiten bei der Verantwortungszuschreibung, dass Hruschka diese deontischen Entitäten aus der privatrechtlichen Voraussetzungstheorie23 konzipiert hat. Der Gedanke einer Obliegenheitsverletzung fungiert im Rahmen einer außerordentlichen Zurechnung als Verfalls- und Zurechnungskriterium. Erstens ist die Erfüllung einer Obliegenheit eine Bedingung für die Aufrechterhaltung eines Strafbefreiungsgrundes. Nötig ist das Eintreten des Ereignisses, das die Straffreiheit begründet (z. B. die Notlage oder die Berauschung) und kann nur dann im „Dialog“   Hruschka Über Tun (Fn. 3), S. 421 ff., insbesondere S. 446 ff.   Hruschka Über Tun (Fn. 3), S. 446; Sánchez-Ostiz, „¿Existen las incumbencias en Derecho penal? - Depende“, in: Indret (1) 2015, S. 19. 19  Hruschka (Fn. 8), S. 294. 20  Zu dieser Frage im Rahmen der strafrechtlichen Auseinandersetzung vgl. Montiel, „Obliegenheiten im Strafrecht?“, in: ZStW (3) 2014, S. 599 ff. 21  Hruschka (Fn. 8), S. 248, 416 f. Ebenso Kindhäuser, „Gefährdung als Straftat“, Frankfurt am Main: Klostermann, 1989, S. 67; Mañalich, Nötigung (Fn. 3), S. 71; Vogel, „Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten“, Berlin: Duncker & Humblot, 1993, S. 77. 22  Neumann, „Zurechnung und ‚Vorverschulden‘“, Berlin: Duncker & Humblot, 1985, S. 268. 23  Zu den verschiedenen erklärenden Theorien über die Rechtsnatur von Obliegenheiten im Privatrecht vgl. Hähnchen, „Obliegenheiten und Nebenpflichten“, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, S. 20 ff. 17 18

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mit dem Richter als entlastendes Argument dargestellt werden, wenn der Täter die Obliegenheit befolgt hat. Ihre Verletzung bestimmt den Verfall des Strafbefreiungsgrundes. Zweitens fungiert die Obliegenheitsverletzung als Surrogat in der Zurechnung und ersetzt das Element, das in der tatbestandmäßigen Handlung des Täters fehlt. Als Zurechnungskriterium ermöglicht die Obliegenheitsverletzung es, den Täter so zu behandeln, als habe seine tatbestandmäßige Handlung das Merkmal, das ihr tatsächlich fehlt.24 Damit sich all diese Effekte entfalten können, ist es auch wichtig zu bestimmen, unter welchen Bedingungen die Obliegenheitsverletzung dem Täter zugeschrieben werden kann. Obwohl diese Frage in Hruschkas zahlreichen Beiträgen nicht explizit oder systematisch aufgearbeitet erscheint, scheint klar zu sein, dass die bloße Tatsache, die von der Obliegenheit vorgeschriebene Handlung nicht auszuführen, keineswegs den Verlust des Strafbefreiungsgrundes zur Folge hat.25 Aus meiner Sicht können die vorbezeichneten Beiträge Hruschkas zu diesem Thema wie ein Puzzle zusammengesetzt werden, das zeigt, dass es für die Bestätigung einer Obliegenheitsverletzung notwendig ist, den gleichen Schritten zu folgen, die bei der Zuschreibung der Verantwortung erforderlich sind, nämlich denen der Zurechnung und der applicatio legis ad factum. Wie Hruschka in mehreren Passagen seines monumentalen „grünen Buches“ warnt, ist das Bestehen oder Nichtbestehen einer Obliegenheit unabhängig davon, ob der Täter die relevanten Tatsachen der von ihr vorgeschriebenen Handlung kennt oder nicht oder ob er die Fähigkeit hat, diese zu befolgen.26 So stellt er fest: „(…) sind die Kenntnis und Kenntnismöglichkeiten Kriterien dafür, ob [der Täter] eine bestehende Obliegenheit verletzt hat oder nicht“.27 Um eine Obliegenheit als verletzt zu betrachten, ist es also notwendig, eine imputatio plena ( facti et legis) in Bezug auf das Zurechnungssubjekt zu bejahen. Gleichzeitig setzt diese Verletzung in Hruschkas Ansätzen die Überprüfung der Normwidrigkeit des spezifischen Verhaltens voraus, da es, wie er offen ausdrückt, möglich ist, eine Ausnahme von der Normbefolgung zuzulassen, insbesondere wenn eine Notlage vorliegt, in der es nicht möglich ist, die Handlung des Täters als einen Widerspruch gegen die Obliegenheit zu werten.28

  Hruschka (Fn. 8), S. 64.   Dieser Umstand erklärt auch den Unterschied zwischen Obliegenheiten und Lasten, der für letztere notwendig ist, nämlich die bloße Tatsache, dass sie sich nicht an die Verhaltensregeln halten, um die Verfallseffekte zu erzielen, unabhängig von einem subjektiven Zurechnungskriterium. Dazu Larenz / Wolf, „Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts“, 8. Aufl., München: Beck, 1997, § 13 Rn. 48. 26  Hruschka (Fn. 8), S. 288 f., 295 f., 310. 27  Hruschka (Fn. 8), S. 289. 28  Hruschka (Fn. 8), S. 295. 24 25

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2. Schwierigkeiten Ich verstehe, dass es neben der Sophistikation und Tiefe der Hruschkaschen Struktur, die ihre internationale Anerkennung rechtfertigen, zahlreiche Gründe dafür gibt, ihr zumindest nicht gänzlich zu folgen, wenn es um die Begründung der Bestrafung von Fällen der actio libera in causa geht – und darüber hinaus für sämtliche Fälle der Verantwortlichkeit des Täters für das Fehlen eines Verbrechensmerkmals überhaupt. Im Laufe der Jahre wurden mehrere Kritiken an dem von Hruschka verteidigten Modell formuliert, wobei sich die Bekanntesten unter ihnen auf Herkunft und Natur der Obliegenheiten beziehen.29 An dieser Stelle möchte ich mich jedoch auf andere Kritikpunkte konzentrieren, die die Weiterverfolgung der außerordentlichen Zurechnung als richtiges Modell in Vorverschuldensfällen ablehnen. Zunächst gibt es eine erste Gruppe von Kritikpunkten, die dem Hruschka-Modell intern sind, d.h. die zeigen, dass die angebotenen Lösungen auf der Grundlage des Systems selbst problematisch sind. Die erste Schwierigkeit zeigt sich, wenn man auf die Funktion der Obliegenheitsverletzung als Zurechnungskriterium achtet. Wenn die Obliegenheitsverletzung es hier ermöglicht, den Täter so zu behandeln, als verfüge er über die erforderliche Zurechnungsfähigkeit nach § 20 StGB, gehen Hruschka und seine Anhänger davon aus, dass die Zurechnung auf einer Fiktion beruht:30 Der Täter ist unfähig, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Ansicht zu handeln, aber er wird so behandelt, als ob er diese Fähigkeit hätte. Dies wird von Hruschka ausdrücklich akzeptiert: Doch liegt die Auflösung der Schwierigkeit und damit die Denkmöglichkeit einer Ausnahme darin, daß der Untätige die gebotene Handlung zwar auch im Falle selbstverschuldeter Unmöglichkeit nicht unterläßt, daß er aber in diesem Falle so behandelt werden kann, als ob er die gebotene Handlung unterlassen habe. Das hat zwar den Charakter einer Fiktion, bietet aber eine geeignete und konsistente Anknüpfungsmöglichkeit für die Zurechnung der Untätigkeit.31

Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um ein allgemeines Problem, das die gesamte Darstellung der außerordentlichen Zurechnung stark beeinträchtigt. Es ist wenig überzeugend, den Schuldvorwurf als gegeben anzusehen, wenn der Täter eine Grundvoraussetzung für die Formulierung dieses Urteils nicht erfüllt. Ob ein strafbefreiender Umstand vorliegt oder nicht, hängt davon ab, ob dieser Umstand, der die Strafbefreiung begründet, vorliegt oder nicht. Dass der Handelnde für den Defekt verantwortlich ist, behebt nicht, dass er sich zum Zeitpunkt der Begehung 29  Dazu vgl. u. a. Neumann (Fn. 20), S. 263 ff.; Kindhäuser (Fn. 19), S. 80 f.; Mañalich, Nötigung (Fn. 3), S. 71 f. 30  Auch hierin eine Fiktion sehend Jakobs, Struktur (Fn. 4), S. 68; Rudolph, „Das Korrespondenzprinzip im Strafrecht: Der Vorrang von ex-ante-Betrachtungen gegenüber ex-post-Betrachtungen bei der strafrechtlichen Zurechnung“, Berlin: Duncker & Humblot, 2006, S. 81; Stühler, „Die actio libera in causa de lege lata und de lege ferenda“, Würzburg, 1999, S. 151, 161 ff. Andere Ansicht Mañalich, Nötigung (Fn. 3), S. 74. 31  Hruschka (Fn. 8), S. 64.

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der tatbestandmäßigen Handlung tatsächlich noch in einem Zustand der Unfähigkeit befindet. Meiner Meinung nach scheitert hier der Begriff der Obliegenheitsverletzung als Surrogat des Schuldmangels, da er nicht das beiträgt, was er zur Gründung einer imputatio iuris beitragen soll. Eine zweite interne Kritik am Hruschka-System zeigt die Schwierigkeit, erfolgreich festzustellen, wann eine Obliegenheit verletzt wird. Meiner Meinung nach ist es schwer, eine Obliegenheitsverletzung zu bejahen, wenn man den Schritten der applicatio legis ad factum und der Zurechnung erster und zweiter Stufe folgt, zumindest wenn dies parallel zur ordentlichen Verantwortungszuweisung geschehen soll. Im Grunde genommen hat das Problem damit zu tun, dass diese Schritte mit dem Ziel unternommen werden, die Verletzung einer Pflicht zu bestätigen, und so kann eine Übertragung angesichts der deutlichen Unterschiede zwischen Pflichten und Obliegenheiten32 nicht unproblematisch sein. Um diese Kritik besser zu verstehen, ist es notwendig, sich daran zu erinnern, dass die Möglichkeit, eine Zurechnung zur Schuld – und nicht etwa zum Verdienst33 – zu formulieren, für Hruschka eine applicatio legis ad factum voraussetzt, die dazu führt, dass die betreffende Handlung bzw. Unterlassung die Eigenschaften dieser Verbotenen oder Gebotenen hat.34 Wenn in diesem Sinne die Zurechnung zur Schuld verlangt, dass die unterstellte Handlung einen individuellen Fall des generischen Falles der betreffenden Norm darstellt, dann ist es unbestreitbar, dass die entsprechende Handlung als verboten und damit als rechtswidrig bewertet wird. Genau hier versagt meiner Meinung nach Hruschkas Behauptung bezüglich einiger Probleme des inneren Widerspruchs in seinem System. Nach der Rechtsnatur der Obliegenheiten, die Hruschka verteidigt,35 kann das von einer Obliegenheit vorgeschriebene Verhalten nicht als verboten oder erforderlich eingestuft werden, sondern als angeraten,36 da es sich gemäß seinem Charak32  Zu diesem Unterschied vgl. Hruschka (Fn. 8), S. 415 ff.; Montiel, „Sobre la relevancia de la distinción entre incumbencias y deberes en la dogmática jurídico-penal. A su vez, reflexiones a propósito del Vorverschulden“, in: Carnevalli (Hrsg.), Derecho, sanción y justicia penal, Buenos Aires / Montevideo: BdeF, 2016, S. 6 ff. 33 Vgl. Sánchez-Ostiz, „Ist die ‚objektive Zurechnung‘ objektiv und zurechnend?“, in: Heinrich u. a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, 1. Band, Berlin / New York: de Gruyter, 2011, S. 363; Schuhr (Fn. 14), S. 17. 34  Hruschka, „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“, Rechtstheorie (22) 1991, S. 450 f. Auch diese Perspektive befürwortend Sánchez-Ostiz, „Casos difíciles, teoría del delito y doctrina de la imputación“, in: Miró Llinares (Hrsg.), ¿Casos difíciles o irresolubles?, Madrid: Dykinson, 2010, S. 86 ff. Zu einer Neuintepretation der Beziehung zwischen der Zurechnung erster Stufe und der Feststellung der Normwidrigkeit Mañalich, „Setzt die applicatio legis ad factum eine imputatio facti voraus?“, in: Strafrecht im Fokus. Sonderheft Joachim Hruschka in memoriam, 2018, S. 22 ff., abrufbar unter http://crimint.com.ar/wp-content/uploads/2018/07/ Strafrecht-im-fokus-Hruschka-GS.pdf. 35 Vgl. Montiel (Fn. 20), S. 600 ff. 36  Hruschka / Joerden, „Supererogation: Vom deontologischen Sechseck zum deontologischen Zehneck“, in: ASP 1987, S. 112 ff. Ebenso Joerden, „Logik im Recht“, 2. Aufl., Berlin / Heidelberg: Springer, 2010, S. 225.

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ter als hypothetischer Imperativ37 nicht um ein Verhalten handelt, dessen Verwirklichung bedingungslos gefordert wird, sondern nur insoweit, als ein bestimmtes Ziel anstrebt wird. Die Folge einer solchen Charakterisierung der obliegenheitswidrigen Handlung ist, dass sie nicht als verboten einzustufen und damit nicht als rechtswidrig zu bewerten ist. Dies macht es unmöglich, auf eine echte Zurechnung zur Schuld zu verweisen, da es keinen „Soll“ gibt, der dem „Schuldnervermögen“ des Täters angelastet werden kann.38 Das Argument, das vorgebracht werden könnte, ist zweifellos, dass eine „analoge“ Anwendung dieser Regeln zur Verantwortungszuschreibung erforderlich sei, was bedeutete, dass sie an die Besonderheiten des Falles angepasst würden. Es ist jedoch nicht klar, dass diese vermeintlichen „bloßen“ Anpassungen keine Verzerrung der Funktion der Verhaltens- und Zurechnungsregeln bedeuten. Von außerhalb des Systems betrachtet ist es notwendig, sich an zwei Kritiken zu erinnern, die mit Recht zur außerordentlichen Zurechnung formuliert wurden, nämlich dass sie nicht mit dem Simultaneitäts- und dem Gesetzlichkeitsprinzip in Einklang stünden. Für einen Teil der Lehre bricht die außerordentliche Zurechnung offen mit der Forderung nach Simultaneität,39 was unter anderem Kindhäuser entschieden abgelehnt hat.40 Seiner Meinung nach wird bei dem Fokus auf die vorherige Handlung, welche die Obliegenheit verletzt, der Zurechnungsgegenstand nicht geändert – dieser bleibe weiterhin die unter den Straftatbestand fallende Handlung –, sondern es werden lediglich frühere vorübergehende Handlungen als Zurechnungskriterium herangezogen, um diejenigen Gründe41 zu finden, aus denen

37  Hruschka (Fn. 8), S. 413; Neumann (Fn. 20), S. 265 ff.; Mañalich, Nötigung (Fn. 3), S. 71; Vogel (Fn. 19), S. 77. 38  Meiner Meinung nach scheinen Hruschkas Ansätze zur Natur der Obliegenheiten in mancher Hinsicht widersprüchlich zu sein. In mehreren Passagen stellt er fest, dass derjenige, der eine Obliegenheit verletzt, sich nicht rechtswidrig verhält und gerade deshalb nicht allein für diesen Verstoß bestraft werden kann, vgl. Hruschka (Fn. 8), S. 416. Gleichzeitig charakterisiert er jedoch die Obliegenheiten als „diejenigen Gebote und Verbote (…), deren Verletzung, obwohl sie nicht als solche bestraft wird, doch eine Bedingung für die Möglichkeit ist, die Strafbarkeit der Verletzung einer – von der Obliegenheit zu unterscheidenden – Pflicht anzunehmen“, vgl. Hruschka (Fn. 8), S. 417. Im Wesentlichen würde dies die Unterscheidung eher graduell machen. In Bezug auf die privatrechtliche Dogmatik der Obliegenheiten favorisiert Hruschka eine Charakterisierung, die zweifellos mit der Voraussetzungstheorie zusammenhängt, aber in einigen Passagen greift er auf die Verbindlichkeitstheorie zurück, was mir nicht möglich erscheint, da er auf die Unverträglichkeit zwischen beiden Modellen achtet. Unter dieser zweiten Theorie existiert kein materieller Unterschied zwischen Pflichten und Obliegenheiten, denn beide gehören zur Welt der Verbindlichkeiten. 39  Schünemann, „Sobre el estado actual de la teoría de la culpabilidad penal“, in: ders., Obras, 1. Band, Buenos Aires: Rubinzal Culzoni, 2009, S. 437 ff., S. 460. Daher wird diese Lehre pejorativ „Ausnahmemodell“ genannt, vgl. Freund, „Allgemeiner Teil“, 2. Aufl., Berlin / Heidelberg: Springer, 2009, § 4 Rn. 34; Alcácer Guirao (Fn. 7), S. 30; Streng, „Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung“, in: Kudlich / Montiel / Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, Berlin: Duncker & Humblot, 2012, S. 184 ff. 40  Kindhäuser (Fn. 19), S. 128.

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einer Person die Tat zur Handlung oder zur Schuld zugerechnet werden kann.42 Die Hauptverteidiger der Theorie der außerordentlichen Zurechnung sprechen daher über eine „scheinbare Ausnahme“ des Simultaneitätsprinzips,43 da ihre theoretischen Bemühungen eher darauf abzielen, die tatsächliche Kompatibilität ihres Modells mit dieser Anforderung zu gewährleisten.44 Ich sehe jedoch die Probleme, die sich aus der Arbeit mit der Fiktion ergeben, jemanden, der eine tatbestandmäßige Handlung in einem Rauschzustand durchführt, so zu behandeln, als ob er nicht an diesem Defekt gelitten hätte, weil er eine Obliegenheit verletzt hat. Ich glaube, dass es nur dann möglich ist, diese Entscheidung mit dem Schuldprinzip in Einklang zu bringen, wenn sich der Vorwurf auf die vorangegangene Handlung bezieht. In diesem Fall ist es nicht mehr so eindeutig, dass der Zurechnungsgegenstand nur die tatbestandmäßige Handlung bleibt, da die actio praecedens zur Begründung der fraglichen imputatio iuris beiträgt. Die zweite externe Kritik an Hruschkas Modell zielt darauf ab, seine Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Befehls nullum crimen, nulla poena sine lege aufzuzeigen. Nach seiner Diagnose stelle § 20 StGB eine Lücke dar, die nur durch eine teleologische Reduktion dieses Schuldausschließungsgrundes gelöst werden könne,45 wobei er – gestützt von einer langen rechtswissenschaftlichen Tradition – bestätigen könne, dass sie von Gewohnheitsrecht getragen werde.46 Diese gewohnheitsrechtliche Grundlage beeinträchtige den nulla poena sine lege Grundsatz nicht, da diese rechtsstaatliche Beschränkung nur der Anerkennung neuer Straftatbestände oder Strafverschärfungen außerhalb des Gesetzes entgegenstehe, nicht aber den gerichtlichen oder gewohnheitsrechtlichen Restriktionen der Strafbefreiungsgründe.47 Ich verstehe jedoch, dass diese in der Strafrechtswissenschaft recht verbreitete Interpretation48 die Tatsache übersieht, dass das Gesetzlichkeitsprinzip 41  Zum Unterschied zwischen Objekt (Gegenstand), Subjekt und Kriterien der Zurechnung vgl. Sánchez-Ostiz, La libertad del Derecho penal, Barcelona: Atelier, 2014, S. 32 ff. 42  Stühler (Fn. 28), S. 184 f.; Neumann, „Konstruktion und Argument in der neueren Diskussion zur actio libera in causa“, in: Haft u. a. (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für Ar­ thur Kaufmann zum 70. Geburtstag, Heidelberg: Müller, 1993, S. 591 ff. 43 U.a. Mañalich Nötigung (Fn. 3), S. 68. 44  Möglicherweise ist eine Ausnahme davon zu sehen in Sánchez-Ostiz, „Teoría del delito“ (Fn. 3), S. 547, der bereit ist, direkt eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip zuzulassen, um „die Funktionsfähigkeit der Strafvorschriften zu gewährleisten, vorausgesetzt, dies bedeutet nicht, dass andere rechtsstaatliche Postulate ignoriert werden“. 45  Hruschka, „Methodenprobleme bei der Tatzurechnung trotz Schuldunfähigkeit des Täters. Zugleich eine Apologie des Art. 12 SchwStrGB“, in: SchZStR (90) 1974, S. 63; ders., „Der Begriff der actio libera in causa und die Begründung ihrer Strafbarkeit – BGHSt 21, 381“, in: JuS (12) 1968, S. 558. 46  Hruschka (Fn. 8), S. 74; ders., Der Begriff (Fn. 42), S. 557 f. 47  Hruschka, Der Begriff (Fn. 42), S. 558 f.; ders. (Fn. 8), S. 47. 48 U.a. Hirsch, „Rechtfertigungsgründe und Analogieverbot“, in: Jescheck u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Zong Uk Tjong, Tokio: Seibundo, 1985, S. 54 f. (mit einigen Nuancen, z. B. die teleologische Reduzierung von Strafbefreiungsgründen ablehnend); Paeffgen, „Vorbemer-

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eine auf dem Demokratieprinzip beruhende Grenze darstellt, was bedeutet, dass nur das Parlament für die Feststellung des kriminellen Charakters allen Verhaltens und seiner jeweiligen Strafe zuständig ist. Unter diesem Gesichtspunkt wird das Gesetzlichkeitsprinzip untergraben, wenn die Strafbarkeit gerichtlich begründet oder verschärft wird, sei es durch die Schaffung eines neuen Tatbestandes durch Analogie oder durch die teleologische Einschränkung eines Strafbefreiungsgrundes.49 III. Alternative Begründungswege über die Modelle des Allgemeinen Teils hinaus Meiner Meinung nach zeigt die Ausgewogenheit dieser zusammenfassend dargestellten Kritik in groben Zügen die Unzulänglichkeit der außerordentlichen Zurechnung als ein Begründungsmodell der actio libera in causa, was jedoch nicht bedeutet, dass aus diesem Grund auf andere bekannte Modelle der wissenschaftlichen Diskussion wie das Tatbestands- oder das Ausdehnungsmodell zurückgegriffen werden müsste. Ich bin skeptisch gegenüber der Leistungsfähigkeit der Strategien zur Rechtfertigung der Bestrafung einer actio libera in causa aus Modellen, die auf den allgemeinen Regeln der Verbrechenslehre basieren, aber hier werde ich keine Argumente gegen sie entwickeln. Meiner Meinung nach sehen sich auch die anderen Modelle ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt, insbesondere als Folge dessen, dass die Neuformulierung des Zurechnungsobjekts, die sie in die actio praecedens mit einbezieht, nicht bedacht wird. Die Übertragung der Lösung zur actio libera in causa auf die Regeln des Besonderen Teils ist eine Alternative, die bisher noch nicht intensiv untersucht wurde, obwohl diese Möglichkeit in der Lehre angesprochen wurde und trotz der Tatsache, dass es eine gesetzgeberische Anerkennung gibt. Konkret spreche ich die Möglichkeit an, einen autonomen Straftatbestand zu definieren, der jene Herbeiführung von Verantwortungsdefekten bestraft, die den Erfolgseintritt herbeiführen. Die bekannteste dieser Strategien ist zweifellos das Delikt Vollrausch gemäß § 323a StGB. Bei dieser Frage ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in der deutschen Strafrechtswissenschaft die Meinung vorherrschte, dass es sich hierbei um eine ausdrückliche Typisierung der actio libera in causa handelte, die versucht, die Schranken des Gesetzlichkeitsprinzips kungen zu den §§ 32 ff.“, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 4. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 2013, Rn. 59 ff.; Hellmann, „Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht“, Köln u. a.: Heymann, 1987, S. 103 f.; Gimbernat Ordeig, „Concepto y método de la ciencia del Derecho penal“, Madrid: Tecnos, 1999, S. 47; Roxin, „Allgemeiner Teil“, 1. Band, 4. Aufl., München: C. H. Beck, 2006, § 5 Rn. 44. 49  Kuhlen, „Sobre la relación entre el mandato de certeza y la prohibición de analogía“, in: Montiel (Hrsg.), La crisis del principio de legalidad en el nuevo Derecho penal: ¿decadencia o evolución?, Madrid u. a.: Marcial Pons, 2012, S. 160; Streng, „‚actio libera in causa‘ und Vollrauschstrafbarkeit“, in: JZ 2000, S. 25.

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zu überwinden, die eine Bestrafung fragwürdig machen würden. Damit schloss der § 330a RStGB, der heutige § 323a StGB, in Ermangelung einer in § 51 RStGB ausdrücklich vorgesehenen Ausnahme für Fälle der Provokation eines Bewusstlosigkeitszustandes eine Strafbarkeitslücke.50 Ungeachtet der strukturellen Probleme dieses Tatbestandes51 möchte ich betonen, dass § 323a StGB der erste Versuch ist, eine Person, die eine Straftat begeht, für einen von ihr verursachten Defektzustand verantwortlich zu machen, ohne zu versuchen, durch dogmatische Spielereien die Verantwortung für die defektbehaftete Handlung „wiederherzustellen“. Diese Bedeutung wird nicht durch die Tatsache geschmälert, dass der Vollrauschtatbestand in der heutigen Diskussion eine sekundäre, gar marginale Rolle einnimmt. Denn es handelt sich dabei um eine Nebenfigur, die nur dann funktionsfähig ist, wenn die Anwendung eines actio libera in causa-Modells wie des Tatbestands-, des Ausdehnungs- oder des Subrogationsmodells nicht möglich ist, etwa weil der Tätervorsatz die tatbestandrelevanten Umstände nicht umfasst oder sich die daraus resultierende Straftat als außergewöhnliches Ereignis erweist.52 Eine zweite Alternative, die in der angloamerikanischen Gesetzgebung bekannter ist als in unserem kontinentalen System, besteht in der Kriminalisierung der bloßen Provokation des Zurechnungsdefizits in bestimmten Kontexten. Silva Sánchez erinnert uns daran, dass diese Annahmen in der Wissenschaft unter der Bezeichnung prior fault53 berücksichtigt werden, was darauf hindeutet, dass in diesen Annahmen die vorherige Rechtsverletzung – etwa die Berauschung – statt der nachfolgenden, die unter dem Fehler durchgeführt wurde, bestraft wird.54 Dieser Versuch wurde insbesondere im Rahmen der Provokation von Rechtfertigungsgründen unternommen, wobei zahlreiche Autoren, darunter Hruschka,55 die selbstständige Typisierung von Notwehr- und Notstandsprovokation unter bestimmten besonders gefährlichen Umständen favorisierten.56 50  Mayer, H., „Die folgenschwere Unmäßigkeit (§ 330a StGB)“, in: ZStW (59) 1940, S. 285; Paeffgen (Fn. 46), Rn. 1. 51  Dazu u. a. Paeffgen (Fn. 46), Rn. 21 ff. 52 Vgl. Kindhäuser, „Allgemeiner Teil“, 5. Aufl., Baden Baden: Nomos, 2011, § 23 Rn. 23; Jescheck / Weigend, „Allgemeiner Teil“, 5. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1996, S. 449; Geisler, „Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip“, Berlin: Duncker & Humblot, 1998, S. 364; Sternberg-Lieben / Hecker, „§ 323a“, in: Schönke / Schröder Strafgesetzbuch, 28. Aufl., München: C. H. Beck, 2010, Rn. 31. 53  Silva Sánchez, „A vueltas con la actio libera in causa“, in: Indret (4) 2016, S. 2 f. 54  Auf jeden Fall ist es wichtig zu beachten, dass es in der Lehrbehandlung nicht immer klar ist, dass es unter dem Begriff prior fault beabsichtigt ist, die Provokation des Defekts an sich zu bestrafen, da einige Darstellungen auf einen Zusammenhang mit der nachfolgenden Straftat (als Folge der Provokation) hinweisen, so dass der Ansatz nicht unbedingt einheitlich ist, vgl. Stark, „Prior Fault“, in: Cambridge Law Journal (73) 2014, S. 10 f. 55  Hruschka, „Bestrafung des Täters trotz Rechtfertigung der Tat?“, in: ZStW (113), 2001, S. 870 ff.; ders., (Fn. 8), S. 361. 56  Kiefner, „Die Provokation bei Notwehr (§ 32 StGB) und Notstand (§ 34 StGB)“, Gießen, 1991, S. 55 ff.; Renzikowski, „Notstand und Notwehr“, Berlin: Duncker & Humblot, 1994,

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Meiner Meinung nach ist einer der großen Vorteile dieser Modelle, dass sie die Wirkung der Provokation in die Beschreibung des Zurechnungsgegenstandes mit einbeziehen. Dies geschieht sowohl bei der autonomen Typisierung der Provokation als auch bei § 323a StGB. Denn im letzteren Fall ist die Notwendigkeit der Begehung der nachfolgenden fehlerhaften Straftat kein integraler Bestandteil des Unrechts, sondern lediglich eine objektive Bedingung der Strafbarkeit57. So ist es im Rahmen dieser Strategien nicht notwendig, das Simultaneitätsprinzip zu missachten oder den Begriff des Beginns der Tatausführung entgegen dem Gesetzlichkeitsprinzip58 willkürlich auszudehnen, um vorbereitende Handlungen als Tatbegehung zu erfassen. Dieser Vorteil reicht jedoch nicht aus, um die weiteren Probleme im Zusammenhang mit der actio libera in causa zu lösen, da die Rechtsgutsverletzung, die unter einem Verantwortungsdefekt eintritt, bei der Erklärung des Unrechts und des Bezugspunktes des Tätervorsatzes ihre Bedeutung verliert. Bestenfalls spielt die nachfolgende Handlung noch eine Rolle beim Verständnis der Rechtgutsschädlichkeit der Provokation. Bei der actio libera in causa sind alle Kausalkomplexe relevant, beginnend mit der Provokationshandlung bis hin zur Beeinträchtigung der Rechtsgüter, die unmittelbar durch die tatbestandmäßige Defekttat verursacht wird. IV. Die actio libera in causa als defektbehaftetes Erfolgsdelikt 1. Elementare Beschreibung und Unrechtsstruktur Ausgangspunkt für einen de lege ferenda-Vorschlag, der die Bestrafung der actio libera in causa angemessen begründen kann, ist die Betrachtung des HervorruS. 302 ff.; Momsen, „Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten“, Baden-Baden: Nomos, 2006, S. 309 f. hält an einer sehr engen Position fest, wenn auch ohne eine ausdrückliche Aussage. Zu diesem Modell vgl. Montiel, „Responsabilidad penal y provocación de eximentes: ¿una nueva constelación de delitos de peligro?“, in: Falcone u. a. (Hrsg.), Autores detrás del autor, Buenos Aires: Ad Hoc, 2018, S. 417 ff. m. w. N. 57  Kindhäuser, „Besonderer Teil“, 2. Band, 9. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 2016, § 71, Rn. 20; Sternberg-Lieben / Hecker (Fn. 48), Rn. 12; Rengier, „Besonderer Teil“, 2. Band, 14. Aufl., München: C. H. Beck, 2013, § 41 Rn. 13; Dehne-Niemann, „Omissio libera in causa bei »echten« Unterlassungsdelikten. Zur Verhaltensgebundenheit »echten« Unterlassens am Beispiel der §§ 266a I, 323c StGB“, in: GA 2009, S. 156; Satzger, „Die objektive Bedingung der Strafbarkeit“, in: Jura (2), 2006, S. 109 ff.; Kühl, „§ 323a“, in: Lackner / Kühl (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Kommentar, 27. Aufl., München: C. H. Beck, 2011, Rn. 5. Sowie auch in der Rechtsprechung vgl. Geisler, „§ 323a“, in: Joecks / Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, München: C. H. Beck, 2006, Rn. 55 f. 58  Zur Ableitung eines Verbots der willkürlichen Auslegung aus dem Gesetzlichkeitsprinzip Montiel, „Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht“, Berlin: Duncker & Humblot, 2013, S. 29 ff.

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fens eines Defektzustandes als Zurechnungsgegenstand, dies jedoch im Gegensatz zu § 323a StGB und der Typisierung der Provokationshandlungen als Ursache der nachfolgenden Handlung. In diesem Sinne wird hier weder ein Modell der Verantwortung kraft Provokation noch kraft des in einem defektbehafteten Zustand begangenen Verbrechens verteidigt, sondern ein Modell der Verantwortung kraft Provokation mit schädlichen Folgen für Rechtsgüter. So besteht der de lege ferenda-Vorschlag darin, im Besonderen Teil einen neuen Tatbestand einzuführen, dessen verbotene Handlung einer „resultativen Handlung”59 entspricht, da die Provokationshandlung als Ursache einer nachfolgenden Straftat für die Beschreibung der Straftat relevant ist, die letztendlich als Erfolg dieser Provokation im engeren Sinne interpretiert wird. Diese vom Täter begangene unabhängige Straftat sollte als defektbehaftetes Erfolgsdelikt bezeichnet werden. Diese Bezeichnung umfasst zwei bedeutende Merkmale. Erstens berührt die Verantwortung immer auch die Verursachung eines Erfolges, dessen Ontologie und Charakterisierung davon abhängt, ob die resultierende defektbehaftete Handlung ein Erfolgs-, Unterlassungs- oder Verhaltensdelikt verwirklicht. Ein bestimmendes Merkmal dieser Annahmen ist daher die Fähigkeit der in der vorgeschlagenen Tatbestandsbeschreibung dieser Straftat enthaltenen Handlung, eine Ursache zu setzen, so dass die actio praecedens die Fähigkeit haben sollte, eine Veränderung in der Außenwelt zu bewirken. Die hier getroffenen Annahmen beziehen sich daher allein auf Erfolgsdelikte. Darüber hinaus zeigt der defektbehaftete Taterfolg die besondere Bedeutung des Erfolgseintritts dieses Delikts. Die Neuformulierung der tatbestandsrelevanten Handlung, die durch die daraus resultierende nachfolgende Handlung vollendet wird, ist durch die Tatsache bedingt, dass sie aufgrund des Defekts nicht Gegenstand der Zuschreibung von Verantwortung sein kann. Auf der Grundlage dieser allgemeinen Charakterisierung könnte der mögliche Tatbestand des defektbehafteten Erfolgsdelikts wie folgt formuliert werden: Wer seine Handlungs- oder Schuldunfähigkeit provoziert oder die Notlage verursacht, die die Geltung eines Gebotes oder Verbotes verschiebt, und in diesem Zustand eine Straftat begeht, wird mit (…) bestraft.60

Bis zu diesem Zeitpunkt könnte die vorgeschlagene Konstruktion beanstandet werden, weil sie grundsätzlich nichts Neues beiträgt, insbesondere wenn man bedenkt, dass das Tatbestandsmodell bereits den Beginn der Tatausführung auf die actio praecedens vorverlagert und dass § 323a StGB einen ähnlichen Kausalkomplex beschreibt. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Befürworter des Tatbestandsmodells das Versetzen in den schuldausschließenden   Zu den sog. resultativen Handlungen Mañalich, Norma (Fn. 3), S. 32 f.   Wie man sehen kann, ist der vorgeschlagene Tatbestand so konzipiert, dass er alle Fälle der Provokation der Strafbefreiung abdeckt und wäre daher anwendbar nicht nur für die actio libera in causa, sondern auch für die actio illicita in causa, die Fahrlässigkeit, den vermeidbaren Verbotsirrtum, die Provokation einer entschuldigenden Notlage etc. 59 60

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Zustand als Grund sehen, den Anwendungsbereich der Straftat auf die Vorbereitungshandlung auszudehnen, um dann jedoch den Täter für die Defekttat zu bestrafen. Daher wird unter Verstoß gegen die Regeln des iter criminis die Provokation als Beginn der Durchführung der tatbestandsmäßigen Handlung angesehen.61 Kurz gesagt, die actio praecedens, die das defektbehaftete Verbrechen verursacht, ist das Zurechnungsobjekt, nicht aber das defektbehaftete Verbrechen. Es darf seinerseits nicht übersehen werden, dass beim Vollrausch die Begehung einer strafbaren Handlung im Rauschzustand kein Bestandteil des Unrechts, sondern eine objektive Bedingung der Strafbarkeit ist, deren Vorhandensein nur die Strafnotwendigkeit ausdrückt62 oder die Gefährlichkeit der Verletzungshandlung bestätigt.63 2. Erklärung und Ontologie des defektbehafteten Erfolges Aus klassischer Sicht ist eines der auffälligsten Merkmale der vorgeschlagenen Typisierung die scheinbare Antizipation des angestrebten Schutzes des Rechtsguts, da dieser Schutz nicht durch die Kriminalisierung von Handlungen, welche die Beeinträchtigung unmittelbar hervorrufen, gewährleistet wird, sondern durch diejenige mittelbarer Handlungen. Mit diesem Vorschlag wird versucht, bei der Kausalkette auf solche Handlungen abzustellen, die nach den traditionellen Tatbestandsbeschreibungen nur Vorbereitungsverhalten darstellen. Diese Antizipation steht jedoch nicht im Widerspruch zu den Merkmalen des postmodernen Strafrechts,64 so dass die Besonderheit dieses neuen Delikts eher in der Besonderheit des Erfolges liegt. Was bedeutet es jedoch, von einem defektbehafteten Erfolg zu sprechen? Wenn die actio libera in causa als Erfolgsdelikt präsentiert wird, besteht eindeutig die Notwendigkeit, das Phänomen zu charakterisieren, dessen Eintritt die Verwirklichung des Tatbestandes bedingt. In unserer dogmatischen Tradition ist der Begriff des Erfolgs stark mit der Idee der nachteiligen Veränderung des Objekts des Rechtsguts65 verbunden. So entspricht aus der Sicht der Handlungsphilosophie die Ontologie dieses Phänomens den Ereignissen,66 da die Konfiguration der Straf61 Auch in diese Richtung kritisch Otto, „Vorverschulden und Rechtsmissbrauch“, in: Freund u. a. (Hrsg.), Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems. Festschrift für Wolfgang Frisch, Berlin: Duncker & Humblot, 2013, S. 597; Streng (Fn. 39), S. 270; Je­ scheck / Weigend (Fn. 52), S. 447 f.; Hruschka, „Der Begriff (Fn. 45), S. 557. 62  Geisler (Fn. 48), S. 435. 63  Satzger (Fn. 48), S. 111. 64  Silva Sánchez, „Die Expansion des Strafrechts“, Frankfurt am Main: Klostermann, 2003, S. 17 ff. 65  Puppe, „Strafrecht. Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung“, 2. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 2011, § 1 Rn. 11; dies., „Vor §§ 13 ff.“, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), „Strafgesetzbuch“, 1. Band, 4. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 2013, Rn. 72. In dieser Richtung auch in Lateinamerika Mañalich, Norma (Fn. 3), S. 35; de la Vega Martinis, „El delito de omisión y su explicación causal“, Bogotá: Uniandes, 2010, S. 51 f. 66  von Wright, „Norma y acción. Una investigación lógica“, Madrid: Tecnos, 1970, S. 47.

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tat verlangt, dass der Handelnde eine Änderung des Bezugsobjekts (im Vergleich zweier aufeinander folgender Zustände) hervorruft.67 Dies zeigt sich etwa im Rahmen der Sachbeschädigung (§ 303 StGB), indem sich die Substanz oder Funktion der Sache im Vergleich zum vorherigen Zustand verschlechtert haben muss. Ebenso verbieten die Körperverletzungsdelikte die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, die nichts anderes ist als ein Wechsel von einem Zustand, in dem es eine gesunde Funktion des Organismus gibt, zu einem darauffolgenden Zustand, in dem dieser Organismus nicht mehr voll funktionsfähig ist. Im Hinblick auf die actio libera in causa erlaubt uns dieser Zusammenhang zwischen „Erfolg und Eintritt eines Ereignisses“, mit geringem Aufwand zu erklären, was passiert, wenn das Hervorrufen des Zurechnungsdefekts zur Realisierung einer actio subsequens führt, die der Tatbestandsbeschreibung eines Erfolgsdelikts entspricht. Offensichtlich beinhaltet diese Gruppe die Beispiele und Fälle, die am häufigsten in Handbüchern verwendet werden, und es wird versucht, Betrunkene für den Tod oder die Körperverletzungen, die in diesem Zustand verursacht wurden, zur Verantwortung zu ziehen. Im Gegensatz zu dem, was bei herkömmlichen Fällen passiert, wird bei der actio libera in causa die Verbindung zwischen der Provokation und dem Erfolg durch eine andere Handlung vermittelt – d.h. eine solche, die direkt das Eintreten des entsprechenden Ereignisses bestimmt –, ohne dass dieser Umstand die Verbindung zwischen der Provokation und dem Erfolg verhindern kann. Dass das Regressverbot hier nicht gilt, liegt daran, dass der Täter in der zweiten Phase nicht frei in dem von Frank geforderten Sinne handelt,68 d.h. er verfügt nicht über die erforderlichen Zurechnungsfähigkeiten.69 Der Verlust der Handlungs- oder Schuldfähigkeit führt dazu, dass die actio subsequens angesichts der Verbindung mit dem Erfolg „unsichtbar“ wird, so dass die zweite Handlung die Vorstellung, dass der Tod oder die Körperverletzung das Werk der Rauschtat war, nicht verzerren kann. Mit den Worten Jakobs folgt auf den Verlust der Verantwortlichkeit die „reine Natur“.70 Komplexer dargestellt wird die Erklärung des defektbehafteten Erfolgs, wenn es sich bei dem Delikt, das als Resultat der actio libera in causa fungiert, um einen Unterlassungs- oder Verhaltensdelikt handelt, da hier kein Ereignis vorliegt oder die aktualisierte Tatsache nicht aus dem Begriff des Ereignisses erklärt werden kann. In unserer Tradition ist der Erfolg mit einer Veränderung in der Außenwelt verbunden, die nichts anderes ist als das Stattfinden eines Ereignisses bedeutet. Daher   Mañalich, Norma (Fn. 3), S. 35.   Frank, „Das Strafgesetzbuch für das deutsche Recht“, 18. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1931, S. 14 f. 69  Für dieselbe Interpretation des Begriffs „frei“, insbesondere im Bereich der mittelbaren Täterschaft, Hruschka, „Prohibición de regreso y concepto de inducción. Consecuencias“, in: ders., Imputación y Derecho penal, Navarra: Thomson, 2005, S. 186 ff.; Joerden (Fn. 13), S. 63 f.; Mañalich, „La estrutura de la autoría mediata“, Revista de Derecho de la Pontificia Universidad Católica de Valparaíso (XXXIV) 2010, S. 394 f. 70  Jakobs (Fn. 7), S. 211, 219 f. 67 68

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ist es schwierig, auf die Tatsache hinzuweisen, dass das Unterlassen zu einem Erfolg führen kann.71 Aus der Handlungsphilosophie lässt sich jedoch die Möglichkeit ableiten, dass sowohl die Veränderung in der Außenwelt als auch die Nichtänderung, d.h. sowohl das Stattfinden eines Ereignisses als auch sein Nicht-Stattfinden, als Erfolg gelten können.72 Mit den Worten von Wright: „Die Erfolge einer Enthaltung sind, dass bestimmte Veränderungen nicht stattfinden“. 73 Um richtig zu verstehen, wie das Nicht-Stattfinden eines Ereignisses als Erfolg zählen kann, ist es notwendig, die Eigenschaften der aufeinanderfolgenden Gelegenheiten zu berücksichtigen, die an jedem Auftreten eines Ereignisses beteiligt sind. Daher ist es nur sinnvoll, von einer destruktiven Handlung zu sprechen, die darin besteht, eine andere Person zu töten, wenn es bei der ersten Gelegenheit einen Zustand (state of affair) gibt, in dem das Opfer des Verbrechens am Leben ist. Nur so kann gesagt werden, dass die tödliche Handlung die Veränderung einer Welt, in der A lebte, in eine nachfolgende Welt, in der A nicht mehr lebt, bewirkt hat. Aber auch ein vollständiges Verständnis kann nicht ohne den Begriff der Handlung erreicht werden, da die Zerstörung des Lebens von A nicht „von selbst“, sondern durch das Handeln eines Akteurs stattgefunden hat. Sobald diese Elemente in den Bereich der Unterlassung gebracht werden, zeigt sich, dass der Zeitpunkt vor der Beteiligung eines Garanten so dargestellt wird, dass das Rechtsgut erhalten bleibt, es aber in seinen entgegengesetzten Zustand (seine Zerstörung) übergeht, wenn der Handelnde nicht eingreift. In diesem Beispiel bewirkt die aktive Einwirkung des Garanten die Erhaltung eines Rechtsguts: Hätte er nicht gehandelt, wäre das Gut beschädigt worden. Mit anderen Worten, der Akteur hat durch seine Handlung produziert, dass ein bestimmtes Ereignis nicht stattgefunden hat. Dieses „Produkt“, das Nicht-Stattfinden einer Transformation, ist auch der Erfolg dessen, was der Handelnde getan hat. Unter diesem Gesichtspunkt ist es möglich, zu behaupten, dass, während bei den (Erfolgs-)Begehungsdelikten das Eintreten bestimmter Ereignisse bestraft wird (Tod, Sachschädigung, etc.), bei den Unterlassungsdelikten der Strafgrund das Nicht-Stattfinden bestimmter Ereignisse ist. Bei Letzteren, z. B. bei der Straftat des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB), ist der objektive Tatbestand erfüllt, wenn die Überweisung von Geldern an die Staatskasse nicht stattfindet. So zeigt diese Erklärung, dass selbst wenn der Täter dafür verantwortlich ist, dass er nicht in der Lage ist, die Begehung eines Unterlassungsdeliktes zu verhindern (d.h. die Konstellation der omissio libera in causa), der Begriff des defektbehafteten Erfolgsdelikts seine Erklärungskapazität behält, weil er hier noch immer gerade als Erfolgsdelikt zu sehen ist. In diesem Sinne 71 Sowie Moore, „Causation and Responsibility“, Oxford: Oxford University Press, 2009, S. 352. 444 ff. 72  Dieses weite Verständnis des Erfolgs ist charakteristisch für die Arbeit von von Wright (Fn. 60), S. 56, 60 f. 73  von Wright (Fn. 60), S. 63.

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erfüllt das Verhalten des Unternehmers, der unter dem Deckmantel riskanter Investitionen verschwenderische Manöver durchführt, um im Moment der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen wirtschaftlich nicht leistungsfähig zu sein, den objektiven Tatbestand des defektbehafteten Erfolgsdelikts, das in diesem Fall dann vollendet ist, wenn die Übertragung von Geldern an die Staatskasse nicht stattfindet. Nun denn, wo es prima facie Schwierigkeiten gibt, um die actio libera in causa mit der Logik des defektbehafteten Erfolgsdelikts zu erklären, ist, wenn der Straftatbestand, der unter einem Zurechnungsdefekt durchgeführt wird, einen Verhaltensdelikt darstellt. Denn hier verlassen wir bereits die Ontologie der Ereignisse. Die Tatbestände der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) und des Meineids (§ 154 StGB) beschreiben Aktivitäten, die als solche über einen bestimmten Zeitraum laufen. Im Gegensatz zu den Erfolgsdelikten, bei denen der Täter für die Durchführung einer Handlung, die zu einem Erfolg führt, zur Verantwortung gezogen wird, wird bei Verhaltensdelikten als normwidrig die Aktivität angesehen, die strafrechtlich unerwünschte Prozesse in Gang hält. Die Behauptung, dass eine Person in einem Zustand der Trunkenheit fährt oder falsch schwört, hat als Gegenstand eine Tatsache, die in der Terminologie von Wrights74 einem Prozess entspricht und die durch die Aktivität eines Handelnden über einen Zeitraum in verschiedenen Phasen homogen weitergeführt wird.75 In diesem Sinne wird die von dieser Art Straftatbestand beschriebene Handlung mit einer Aktivität identifiziert, die als solche ein Prozess ist. In unserer Strafrechtsdogmatik stellen Tatsachen, die als output der Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt und Ort stattfinden,76 traditionell das Paradigma zur ontologischen Erklärung des Erfolgsbegriffs dar.77 Unter diesem Paradigma setzt sich die Idee durch, die vor mehr als fünfzig Jahren von Hart und Honoré78 verteidigt wurde, dass Handlungen und Aktivitäten in keiner Weise der Erfolg einer Handlung sein können. Jetzt, von dem Moment an, in dem Prozesse – wie auch Ereignisse – in der Lage sind, zu geschehen oder „einen Auftritt in der Welt zu haben“,79 ist es durchaus möglich, anzugeben, dass hinter dem Stattfinden eines Prozesses ein Akteur stehen kann. In diesem Sinne kann ein Akteur an einem Prozess beteiligt sein, wenn er die Aktivität ausführt, die ihn am Laufen hält, beispielsweise wenn er ein Auto unter dem Einfluss von Alkohol fährt, sowie wenn er   von Wright (Fn. 60), S. 44 f.   Über das Konzept der Aktivität und seinen Unterschied zu anderen ähnlichen Konzepten, vgl. von Wright (Fn. 60), S. 58 f.; Mourelatos, „Events, processes and states“, in: Linguistics and Philosophy (2), 1978, S. 416, 419 f., 423 ff.; Vendler, „Linguistics in Philosophy“, New York: Cornell University Press, 1967, S. 98 ff. 76  von Wright (Fn. 60), S. 45. 77  Vgl. u. a. Joerden (Fn. 13), S. 35, Fn. 40; Puppe (Fn. 59), § 1 Rn. 11; Mañalich, Norma (Fn. 3), S. 35 ff., 58 ff. m. w. N. 78  Hart / Honoré, „Causation in Law“, in: Law Quarterly Review (72) 1956, S. 80. 79  von Wright (Fn. 60), S. 45. 74 75

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ihn hervorruft, indem er den entsprechenden Prozess verursacht. Die Möglichkeit, mit dem Paradigma zu brechen und die Machbarkeit der Verursachung anderer Tatsachen als Ereignisse zu zeigen, wird in der Lehre80 verteidigt, aber vor allem Mañalich81 räumt die Möglichkeit ein, dass Prozesse als Erfolge gelten können. Es ist daher nicht verwunderlich zu behaupten, dass im engeren Sinne derjenige, der sich berauscht, um das Delikt des § 316 StGB oder des § 154 StGB ungestraft zu begehen, einen Prozess der Trunkenheit am Steuer oder der Falschaussage unter der Wirkung von Betäubungsmitteln verursacht hat. 3. Die Provokationshandlung als Ursache des defektbehafteten Delikts Eine erste Folge, die sich aus der elementaren Beschreibung ergeben müsste, ist, dass nicht jede Art von Provokation zu der für den Straftatbestand des defektbehafteten Erfolgsdelikts relevanten Handlung passt, da ihre Fähigkeit, eine nachfolgende Straftat zu „verursachen“, erforderlich ist. In diesem Sinne ist nachdrücklich abzulehnen, dass es sich hier um eine Kriminalisierung der bloßen Trunkenheit oder des einfachen Drogenkonsums handelt,82 so dass eine Provokation nur relevant wird, sobald sie mit der Fähigkeit ausgestattet ist, eine Straftat zu verursachen, und dass sich ihr Auftreten insofern als die Risikorealisierung erweist, die von dem ursprünglich vom Täter unerlaubt geschaffenen Risiko umfasst wird. In den strafwürdigen Fällen der actio libera in causa wird besonders deutlich, dass die bloße Provokation des Täters die Interessen Dritter gefährdet.83 Denn wer seine Schuldfähigkeit durch Alkoholvergiftung in bestimmten Kontexten beseitigt, schafft eine mittelbare Gefahr für strafrechtlich geschützte Güter.84 Das bedeutet, dass es objektiv eine Gefahr darstellt, betrunken zu werden, wenn Umstände vorliegen, unter denen man Exzesse seitens des Täters befürchten muss, oder wenn die Trunkenheit auftritt, bevor der Täter eine Handlung durchführt, bei der man alle intellektuellen 80  Vgl. u. a. Feinberg, „Doing and Deserving. Essays in the theory of responsibility“, Prince­ ton / London: Princeton University Press, 1970, S. 152 ff.; Kadish, „Complicity, Cause and Blame: A Study in the Interpretation of Doctrin“, in: California Law Review (73) 1985, S. 368 ff. 81  Mañalich, Norma (Fn. 3) S. 35, Fn. 70. 82  Diese Debatte fand bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Einführung des Vollrauschtatbestandes statt, indem die These aufgestellt wurde, dass das unter den damals in Kraft getretenen § 330a RStGB fallende Verhalten ein gefährlicher Rausch sei, vgl. Hardwig, „Studien zum Vollrauschtatbestand“, in: Bockelmann / Gallas (Hrsg.), Festschrift für Eberhard Schmidt. Zum 70. Geburtstag, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1961, S. 460 ff.; Mayer (Fn. 47), S. 305 ff. 83  Frisch, „Grundprobleme der Bestrafung ‚verschuldeter‘ Affekttaten. Eine dogmatische Zwischenbilanz aus Anlaß neuerer Entwicklungen“, in: ZStW (101), 1989, S. 575 f. 84  Stühler (Fn. 28), S. 174. Dies führt auch dazu, dass Köhler, „Allgemeiner Teil“, Berlin / Heidelberg: Springer, 1997, S. 338 behauptet, dass man hier gegen ein mittelbares Verbot der Gefahrenabwehr verstoßt.

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Fähigkeiten besitzen muss, um eine sichere Interaktion zu leisten.85 Konkret ist es wichtig, dass sich der Täter – mit Momsens Worten86 - in eine „Zeitbombe“ verwandelt,87 von der es nicht irrational ist, Schäden zu Lasten Dritter zu erwarten. Zweifellos hat eines der großen Dilemmata, das bei der Analyse der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des defektbehafteten Erfolgsdeliktes entsteht, mit der Verbindung zwischen der Provokationshandlung und dem defektbehafteten Erfolg zu tun. Indem man dieser Straftat das Eintreten des Erfolges abverlangt, ist es daher unerlässlich, Kriterien aufzustellen, die klären, in welchen Fällen es sich um eine sinngemäße Folge der Provokation handelt. Diese Frage wird besonders problematisch, wenn es um die defektbehaftete Durchführung eines Erfolgsdelikts geht, da in diesem Fall die Provokation und der Erfolg der defektbehafteten Straftat durch eine Handlung vermittelt werden, die direkt das Eintreten der Verletzung oder Gefährdung bewirkt. Aus Platzgründen beschränke ich mich darauf, zu sagen, dass zur Erklärung dieses Zusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg die Regeln der Lehre der objektiven „Zurechnung“88 durchaus gültig sind, der lediglich einige zusätzliche Klarstellungen hinzugefügt werden müssen. Erstens ist es notwendig zu fragen, warum eine Handlung in der defektbehafteten Phase nicht in der Lage ist, den Risikozusammenhang zwischen der Provokation und dem von der defektbehafteten Straftat abgedeckten Erfolg zu unterbrechen. Am typischen Beispiel eines Menschen, der – nachdem er es vorhergesehen hat – seinen Feind in der Kneipe unter Alkoholeinwirkung angreift, stellt sich die Frage: „Warum unterbricht die Handlung, die die Verletzungen direkt verursacht, nicht die Risikoverbindung?“. Dass es im Falle der actio libera in causa als defektbehaftetem Erfolgsdelikt zu einer Verschiebung des „Zurechnungszentrums“ in Richtung der vorangegangenen Handlung kommt, liegt gerade daran, dass der Täter in der zweiten Phase (in Franks Terminologie) nicht „frei“ handelt,89 d.h. er besitzt keine der erforderlichen Zurechnungsfähigkeiten oder ist nicht voll verantwortungsfähig. Gerade das Fehlen einer vollständigen Schuldfähigkeit in der 85  Mayer (Fn. 47), S. 327; Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, Berlin: Scientia, 1930, S. 324; Schmidhäuser, „Allgemeiner Teil“, Tübingen: Mohr, 1982, 5/76, 7/32; ders. „Die actio libera in causa: ein symptomatisches Problem der deutschen Strafrechtswissenschaft“, Hamburg: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991, S. 46. 86  Momsen (Fn. 52), S. 308. In dieser Richtung stellt auch Schmidhäuser in „Die actio libera“ (Fn. 79), S. 6 fest, dass der Täter eines Vollrauschdelikts „sich selbst gefährlich macht“. 87  Alcácer Guirao (Fn. 7), S. 121 spricht von einem „Fokus der Gefahr“, während Finkelstein / Katz (Fn. 5), S. 482 f., auf eine „Kugel in der Luft“ anspielen. 88  Der Begriff „Zurechnung“ wird in Anführungszeichen gesetzt, da ich der Meinung bin, dass wir hier im engeren Sinne nicht von einer echten Zurechnung sprechen, sondern es werden in diesem Zusammenhang eher interpretative Kriterien des Straftatbestands diskutiert, die an sich zum Bereich der Normwidrigkeit (bzw. applicatio legis ad factum) gehören. In diesem Sinne auch Sánchez-Ostiz, La libertad (Fn. 3), S. 105 ff. 89 Vgl. Fn. 62.

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nachfolgenden Handlung lässt der actio praecedens den Weg frei, um den Bezugspunkt der Zurechnung an sich zu ziehen. Die Defekttat ist daher nicht in der Lage, diesen „Anziehungseffekt“ 90 abzuschwächen. Kurz gesagt, da in der Kausalkette die actio praecendens als letzte autonome Handlung erscheint, ist es möglich, ihrem Täter die Verletzung des Rechtsgutes zuzurechnen und ihm die Bezeichnung „Täter“ zuzuweisen.91 Zweitens ist es auch wichtig zu präzisieren, nach welchen Kriterien der defektbehaftete Erfolg als sinnvolle Ableitung der Provokationshandlung erklärt werden kann. Hier ist es von hohem Wert, den Kategorien der unerlaubten Risikoschaffung und der Realisierung dieses Risikos im Erfolg zu folgen. Dies bedeutet zunächst, dass die actio praecedens ex ante geeignet sein muss, den entsprechenden defektbehafteten Erfolg zu liefern,92 was unter anderem bei der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes ausgeschlossen ist. Zum Beispiel wenn X die Anwesenheit seines Feindes B und seine aggressive Tendenz unter Alkoholeinfluss erkennt, bittet er den Barkeeper um ein Bier mit niedrigem Alkoholgehalt, der ihm versehentlich ein Getränk mit ähnlichem Aussehen und Geschmack wie Bier ausschenkt, aber mit einem höheren Alkoholgrad. Das berauscht X am Ende, der schließlich seinen Feind schwer verletzt. Die Besonderheit, die das Kriterium der Schaffung eines unerlaubten Risikos für die actio libera in causa darstellen würde, besteht darin, dass die actio praecedens nur mittelbar die spezifische Gefahr der endgültigen Verletzung geschaffen haben muss, um die erste Anforderung der objektiven „Zurechnung“ zu erfüllen.93 Zweitens kann die Risikoverbindung unterbrochen werden, wenn zum Beispiel derjenige, der sich absichtlich berauscht, um einen anderen in diesem Zustand zu töten, diesen Erfolg endgültig herbeiführt, dieser aber eine Folge des Fehlverhaltens des behandelnden Arztes bei seiner Ankunft im Krankenhaus ist. In dieser zweiten Phase ist es entscheidend, dass die Provokation und die direkt zum Erfolg führende Defekthandlung zusammen ein „organisatorisches Kontinuum“ darstellen, das es ermöglicht, den defektbehafteten Erfolg als output der Organisation des Provokateurs zu sehen, wobei der Täter die nachfolgende Entwicklung des kau90  Für Jakobs ergibt sich diese Unsichtbarkeit der actio subsequens auch aus der Betrachtung als reines Faktum, vgl. Jakobs (Fn. 7), S. 211, 219 f. 91  Dies entspricht in vollem Umfang dem Täterschaftskriterium, das von Renzikowski befürwortet wird und bei dem das Prinzip der Autonomie eine bedeutsame Funktion für die Zurechnung erfüllt, vgl. Renzikowski, „Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung“, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, S. 73. 92  Hruschka (Fn. 8), S. 294; Frisch (Fn. 77), S. 586; Alcácer Guirao (Fn. 7), S. 123. Diese Notwendigkeit einer ex ante-Eignung des Vorverhaltens für die Entstehung der Verletzungen ist bereits festgestellt worden bei Pufendorf, „De jure naturae et gentium. Libri octo“, 2. Aufl., Frankfurt am Main, 1684, S. 336. Zu dieser historischen Referenz kehrt Hruschka zurück, vgl. Hruschka, Ordentliche (Fn. 3), S. 686. 93  Dieses Merkmal wurde auch bei der Erklärung des objektiven Tatbestands bei dolus generalis-Fällen nach den von Frisch verteidigten Kriterien gegeben, vgl. Frisch, Comportamiento típico e imputación del resultado, Madrid / Barcelona: Marcial Pons, 2004, S. 487.

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salen Verlaufs mit seiner vorausgehenden Handlung konfiguriert und damit die nachfolgende Handlung mit einer integralen Bedeutung ausgestattet hat.94 Metaphorisch gesprochen hätte der Autor mit seiner früheren Handlung zum „Bau einer Schiene“ beigetragen, auf der der weitere kausale Verlauf fließt. Sobald diese „Schiene“ mit der Vorhandlung vorkonfiguriert wurde, ist es möglich, weiter zu interpretieren, dass der Täter in diesem Stadium seinen Rechtsbereich weiterhin verantwortungsbewusst organisiert, unabhängig davon, wie die tatsächliche Möglichkeit einer „Herrschaft“ ist. V. Eine Radikalisierung des Vorverschuldensmodells von Hruschka Der Vorschlag, die actio libera in causa (und gleichzeitig alle Vorverschuldensfälle) unter der Figur eines autonomen Delikts darzustellen, um eine aus dogmatischer Sicht zufriedenstellende Lösung anzubieten, weicht auf den ersten Blick deutlich vom hoch entwickelten Vorschlag Hruschkas ab. Grundsätzlich nimmt der Begriff defektbehaftetes Erfolgsdelikt die Diskussion aus dem Bereich der Zurechnungsregeln heraus und stellt sie auf eine andere Ebene, wo verschiedene Elemente zur Erklärung der strafrechtlichen Verantwortung ins Spiel kommen. Zunächst wird das Zurechnungsobjekt geändert und eine resultative Handlung als wesentlich komplexer angesehen als diejenige, die dem Kontext der ordentlichen Zurechnung entspricht. Zweitens ist es in dem von mir vorgelegten Vorschlag nicht notwendig, die Zurechnungskriterien zu duplizieren, um zu den gewünschten Schlussfolgerungen zu gelangen, sondern es genügt, die ordentlichen Zurechnungsregeln einzuhalten. Ersteres vermeidet externe Probleme der außerordentlichen Zurechnung, namentlich den Verstoß gegen das Simultaneitäts- und das Gesetzlichkeitsprinzip, Letzteres einige der internen Inkongruenzen des Modells. Um zu sehen, wie mein Vorschlag als Radikalisierung des Hruschka-Modells verstanden werden kann, ist es wichtig, von der subsidiären Rolle auszugehen, die die außerordentliche Zurechnung im Vergleich zur ordentlichen spielt. Die außerordentliche Zurechnung fungiert in der von Hruschka favorisierten Systematik als ein subsidiäres Zurechnungskriterium,95 dessen Operabilität durch das Vorliegen eines Zurechnungsdefekts bedingt ist. Unter dieser Vorstellung steht die ordentliche Zurechnung immer primär zur Verfügung und die außerordentliche Zurechnung ist erst dann zu verwenden, wenn eine ordentliche Zurechnung zur Tat oder Schuld scheitert und der Täter den Defekt verursacht hat. Bei Vorliegen eines Falles 94  Jakobs, „Concurrencia de riesgos. Curso lesivo y curso hipotético en Derecho penal“, in: Sancinetti (Hrsg.), Causalidad, riesgo e imputación. 100 años de contribuciones críticas sobre imputación objetiva y subjetiva, Buenos Aires: Hammurabi, 2009, S. 335. 95  Stattdessen spielt eine außerordentliche Zurechnung in den von weiteren Verfassern favorisierte Varianten des Subrogationsmodells die Rolle einer subsidiären Verantwortungs­ struktur, von der die provozierten Zurechnungs- sowie auch Normwidrigkeitsdefekte umfasst werden, vgl. Kindhäuser (Fn. 19), S. 118; Mañalich Norma (Fn. 3), S. 140 ff.

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der außerordentlichen Zurechnung darf ein handlungs- oder schuldunfähiger Täter so behandelt werden, als ob er die tatbestandmäßige Handlung zurechnungsfähig vorgenommen habe. Man steht hier vor einer subsidiären Zurechnungsstruktur, die aber keine Selbstständigkeit genießt, da ihr die gleiche Handlung unterliegt wie der Zurechnungsgegenstand der ordentlichen Zurechnung. In diesem Schema gibt es keine Verschiebung oder Änderung des Zurechnungsobjekts, sondern lediglich die Einführung alternativer Zurechnungsregeln, die die Verantwortungszuschreibung endgültig ermöglichen. Meiner Meinung nach haben die Probleme mit dem Hruschka-Modell gerade damit zu tun, dass dieser Schritt unzureichend ist. Wie in Abschnitt II. 2. zu sehen ist, erfordert das Vorliegen des Kriteriums zur Wiederherstellung der Zurechnung, der Obliegenheitsverletzung, eine der Obliegenheit entsprechende Normwidrigkeit und darüber hinaus die Möglichkeit, eine Zurechnung erster und zweite Stufe zu formulieren. Wenn wir uns ausschließlich auf die Obliegenheitsverletzung konzentrieren, sehen wir, dass sich der bestehende Zurechnungsgegenstand notwendigerweise von dem unterscheidet, der bei der Bestimmung der Pflichtverletzung als Referenz genommen wird (d.h. der tatbestandsmäßigen Handlung). Die Obliegenheit stellt eine andere Handlung (d.h. die Verursachung eines Zurechnungsdefekts) deontisch fest und es ist diese Handlung, die dem Täter zur Wiederherstellung der strafrechtlichen Verantwortung zugerechnet werden muss. Meiner Meinung nach zeigt Hruschka auf diese Weise unbewusst die Notwendigkeit, dass die Lösung der Probleme, die bei der Zuschreibung von Verantwortung bei der actio libera in causa entstehen, in einer Neuausrichtung auf das Zurechnungsobjekt bestehe. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Tatsache, dass dieser Umstand nicht vollständig erkannt und keine Anstrengungen unternommen werden, um das Zurechnungsobjekt neu auszurichten, sogar einige interne Inkonsistenzen im System von Hruschka hervorruft. Denn die Obliegenheitsverletzung ist ein Zurechnungskriterium, das jedoch der Überprüfung der Widersprüchlichkeit einer aus der Obliegenheit stammenden Verhaltensregel und der Anwendbarkeit von (ordentlichen) Zurechnungsregeln unterliegt. Dass die Widersprüchlichkeit zu Verhaltensregeln eine gewisse Rolle bei der Bestimmung eines Zurechnungskriteriums spielt, bricht m.E. mit der klaren Trennung zwischen den Zurechnungs- und Verhaltensregeln, die Hruschka als Prüfstein seines Systems verteidigt.96 Die von Hruschka hinterlassenen Materialien lösen m. E. dieses Problem nicht ausreichend. Trotz der bemerkenswerten Klarheit, die Hruschkas Studien immer geprägt hat, finde ich hier ein seltenes Szenario: Die Zurechnung einer verbotenen oder gebotenen Handlung setzt zugleich die Zurechnung einer anderen Handlung voraus, die von einer deontischen Entität anderer Art vorgeschrieben wird. Meiner Meinung nach sollte einer der Gründe, warum Hruschka die tatbestandsmäßige Handlung als Zurechnungsgegenstand behält (und nicht die Vorhandlung, die Obliegenheit verletzt), in seiner Analyse der Bedeutung der actio libera in causa in der Literatur aus der Zeit der Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert 96

  Vgl. vor allem Hruschka (Fn. 34), S. 452 ff.

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gesucht werden.97 Mit der Idee, dass nur freie Handlungen zugerechnet werden können, wurde damals die Notwendigkeit angesprochen, freie Handlungen gleich zu setzen, die in sich selbst betrachtet werden (actio libera in se) und Handlungen, die in sich selbst betrachtet werden, nicht frei sind, wohl aber in ihrer Ursache (actio libera in sua causa).98 Unter diesem Gesichtspunkt würde für die Zurechnung die durch die Verbots- oder Gebotsregel beschriebene Handlung weiterhin ihren Gegenstand darstellen, nur dass ihre „freie“ Qualität nicht von dieser Handlung selbst, sondern von ihrer Ursache herrührt. Nun ist es einfach zu erkennen, dass analytisch zwei verschiedene Handlungen angedeutet werden, die als Hilfshandlung und als Haupthandlung bezeichnet werden können.99 In diesem Sinne stellt die Annahme in der Vorbereitungsphase lediglich ein Kriterium für die Interpretation der verbotenen oder gebotenen Handlung dar und ermöglicht so, dass die Freiheit einen transitiven Charakter für das Zurechnungsobjekt hat. Durch die Vorstellung von der actio libera in causa als selbstständige Straftat gewinnen actio praecedens und actio subsequens gemeinsam an Bedeutung für die Gestaltung der Normwidrigkeit, die unter anderem der strafrechtlichen Verantwortung zugrunde liegt. Wie man sieht, stellt die actio praecedens – unter der entsprechenden Beschreibung des defektbehafteten Erfolgsdeliktes – die von der Norm verbotene Handlung dar, d.h. diejenige, die die nachfolgende Handlung unter einem Verantwortungsdefekt verursacht. Nach dieser Konzeption entspricht die actio subsequens dem Erfolg dieses selbstständigen Delikts. Wenn also der Zurechnungsgegenstand der actio libera in causa vom Zurechnungsgegenstand der defektbehafteten Straftat getrennt wird, wird meiner Meinung nach erreicht, dass das defektbehaftete Erfolgsdelikt als subsidiäre Verantwortungsstruktur anstelle eines subsidiären Zurechnungskriteriums dargestellt wird wie es die außerordentliche Zurechnung vorsieht. Dem Begriff des defektbehafteten Erfolgsdelikts liegt eine Unterscheidung zwischen einer Haupthaftung – dargestellt durch die Struktur, die dem vorsätzlich vollendeten Delikt entspricht – und einer subsidiären Haftung zugrunde, die die Fälle von actio libera in causa, Fahrlässigkeit, Versuch, verschuldeten Irrtümern usw. zusammenfasst.100 So stellt das defektbehaftete Erfolgsdelikt nicht nur eine subsidiäre, sondern auch eine selbstständige Struktur der strafrechtlichen Verantwortung dar. Sein Zu  Vgl. vor allem Hruschka, Ordentliche (Fn. 3), S. 661 ff.   Hruschka (Fn. 8), S. 345 f. 99  Zu dieser Unterscheidung vgl. Kindhäuser, „Zur Funktion von Sorgfaltsnormen“, in: Hefendehl u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernd Schünemann zum 70, Berlin / New York 2014, S. 151; Vogel (Fn. 19), S. 74. Zu den Schwierigkeiten dieses Unterschiedes bei weiterem Vorverschulden, insbesondere bei Fahrlässigkeitsdelikten, vgl. Montiel, „Die Thesen zum Fahrlässigkeitsdelikt“, in: Böse u. a. (Hrsg.), Festschrift für Kindhäuser, Baden-Baden: Nomos, 2019, S. 332 ff. 100 Zur Unterscheidung zwischen Hauptstruktur und Subsidiärstrukturen vgl. Montiel, „Aproximación a las estructuras elementales de la responsabilidad penal“, in: Revista de Derecho penal y Criminología, 2019, S. 161 ff. 97 98

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rechnungsgegenstand unterscheidet sich grundlegend von dem der Haupthaftung und darüber hinaus gelten für diesen Gegenstand die von Hruschka favorisierten (ordentlichen) Zurechnungsregeln. Meiner Meinung nach vertieft diese Arbeit eine Idee, die in Hruschkas Werk im Verhältnis zur Bedeutung der Normwidrigkeit der actio praecedens in Bezug auf die Obliegenheit auf (scheinbar) naive Weise gesehen wird. Auf diese Weise, wenn im Rahmen des defektbehafteten Erfolgsdelikts die Defektprovokation und die defektbehaftete Straftat gemeinsam für die Gestaltung des Zurechnungsgegenstandes an Bedeutung gewinnen, wird dann eine Radikalisierung von Hruschkas Ausgangspunkt erzeugt. Gleichzeitig wird dann die Funktionsfähigkeit der Verhaltens- und Zurechnungsregeln harmonischer gestaltet und die Schwierigkeiten mit Gleichzeitigkeit und Gesetzlichkeit werden endlich vermieden.101 VI. Schlusswort Die Darstellung der actio libera in causa in Form eines defektbehafteten Erfolgsdeliktes im Gegensatz zum Modell der außergewöhnlichen Zurechnung gibt diesem Beitrag einen kritischen Eindruck in Bezug auf die von Joachim Hruschka zu diesem Thema eingebrachten Ideen. Aber das ist nur der Eindruck auf den ersten Blick. Der Hauptzweck meines Beitrags war es, den enormen Reichtum des akademischen Werks des deutschen Strafrechtswissenschaftlers zu zeigen, der mich am meisten beeinflusst hat und mit dem ich durch eine tiefe wissenschaftliche Bewunderung und eine große persönliche Zuneigung verbunden bin. Hruschka hat der Strafrechtswissenschaft unschätzbares Material hinterlassen, dessen Einfluss – ich wage es, dies vorherzusagen – in den kommenden Jahren in verschiedenen Regionen der Welt zunehmen wird. Wir erleben eine Zeit des wachsenden Desinteresses an der Strafrechtsdogmatik und insbesondere an den strukturellen Problemen der Straftatlehre in Europa. Sicherlich sind die Gründe, die diese Situation erklären, sehr unterschiedlich, aber die Erschöpfung bestimmter klassischer Methoden zum Verständnis der Verbrechenslehre ist m. E. einer der Hauptfaktoren dieser Krise. In diesem Zusammenhang erlangt Hruschkas Werk meiner Meinung nach noch mehr Wert, da es sich als Quelle erweist, aus der eine „frische Luft“ für unsere Strafrechtsdogmatik kommt.

101  Ich glaube, dass die Struktur des defektbehafteten Erfolgsdeliktes es auch ermöglicht, auf Fälle der Provokation von Rechtfertigungsgründen zu reagieren, was im Hruschka-Modell ohne eine klare und völlig harmonische Lösung geblieben ist trotz der Kohärenz, ausschließlich die außerordentliche Zurechnung für Zurechnungsprobleme beizubehalten, vgl. Hruschka (Fn. 8), S. 358 ff., 374.

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Summary One of Joachim Hruschka’s main legacies to criminal law is the differentiation between two levels of imputation: ordinary imputation and extraordinary imputation. Within this second group are characterized all those cases in which the perpetrator suffers from an imputation defect at the time of committing the crime, despite which must be punished for having caused that defect. One of the most representative cases of extraordinary imputation is the so-called actio libera in causa. Although in appearance the two levels of imputation function as independent structures of responsibility, in reality there is a clear dependence of the extraordinary on the ordinary. According to this contribution, this lack of independence explains much of the intra- and extrasystematic problems of Hruschka’s proposal in relation to actio libera in causa. As an alternative, a radicalization of the model is proposed, which would necessarily lead to the autonomy of the structures of responsibility. For this, it is necessary to interpret the actio libera in causa as an autonomous crime, characterized by the action of provocation of the defect that produces as a result a “defective crime”.

Obliegenheiten und strafrechtliche Zurechnung Ulfrid Neumann

I. Einleitung 1. Obliegenheiten im Straf- und Strafprozessrecht „Obliegenheiten“, die sich vorläufig als „Pflichten gegen sich selbst“ bestimmen lassen, haben ihren Ursprung im Zivilrecht. Weil es sich um „Pflichten“ gegen sich selbst handelt, ist ihre „Verletzung“ nicht rechtswidrig; sie bringt für den Adressaten der Obliegenheit aber Rechtsnachteile mit sich. Exemplarisch ist die Obliegenheit eines Versicherten, im Versicherungsfall den Umfang des Schadens nach Möglichkeit zu begrenzen. Wenn der Versicherungsnehmer den Schaden trotz entsprechender Möglichkeit vorsätzlich nicht mindert oder dessen Eintritt nicht verhindert, so ist die Versicherung nicht zur Leistung verpflichtet (§ 82 Abs. 3 VVG). Zahlreiche andere Beispiele finden sich in weiteren Bestimmungen des Versicherungsvertragsgesetzes, des Handelsgesetzbuchs (HGB) und in anderen zivilrechtlichen Kodifikationen. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wird auch im Bereich des Strafrechts in unterschiedlichen Kontexten verstärkt auf den deontischen Modus der Obliegenheit zurückgegriffen.1 So ist in der Dogmatik des Strafprozessrechts von Obliegenheiten die Rede, soweit die Erreichung bzw. Bewahrung vorteilhafter prozessualer Positionen an bestimmte Verhaltensweisen eines Prozessbeteiligten (typischerweise: des Beschuldigten oder seines Verteidigers) geknüpft wird.2 Bei der Frage nach einer Mitverantwortung des Opfers für die ihm zugefügte Rechtsgutsverletzung werden „Selbstschutzobliegenheiten“ des Opfers thematisiert, deren Verletzung 1 Ausf. und überwiegend krit. dazu Montiel, „Obliegenheiten im Strafrecht?“, ZStW 126 (2014), S. 592 ff. 2 Beispiele: Verlust des Entschädigungsanspruchs eines Verfahrensbeteiligten wegen der Nachteile, die aus der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens resultieren, wenn der Betroffene nicht bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens rügt (§ 198 Abs. 3 GVG); Verlust des Rechts zur Rüge einer fehlerhaften Sachleitungsanordnung im Rechtsmittelverfahren, wenn kein Gerichtsbeschluss nach § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt wurde (Nachw. der Rspr. und Kritik bei Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, München: C.H. Beck, 29. Aufl. 2017, 44/18); Obliegenheit des verteidigten Angeklagten, der Verwertung eines kontaminierten Beweismittels zu widersprechen (Nachw. der Rspr. und Kritik ebd., 24/34).

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zum Ausschluss oder doch zur Reduktion der Strafe führen3 und insoweit einen (unterstellten) Anspruch des Opfers auf Bestrafung des Täters beeinträchtigen soll.4 Eine zentrale Rolle spielt die Vorstellung einer strafrechtlich relevanten „Obliegenheit“ schließlich bei der Frage, ob und inwieweit dem Beschuldigten die Berufung auf einen „an sich“ eingreifenden Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgrund versagt werden kann. Hier sind insbesondere die Fälle des vermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 S. 2 StGB), der vom Täter verursachten Gefahr beim entschuldigenden Notstand (§ 35 Abs. 1 S. 2 StGB) sowie der „actio libera in causa“ von Bedeutung. 2. Obliegenheiten als Parameter einer „außerordentlichen“ Zurechnung (Hruschka) Bei der Einführung der Kategorie der Obliegenheit in den strafrechtsdogmatischen Diskurs hat Joachim Hruschka eine Vorreiterrolle gespielt. In seinem Modell der „außerordentlichen“ Zurechnung kommt der Verletzung einer Obliegenheit durch den Täter eine entscheidende Bedeutung zu.5 Sie hat die Konsequenz, dass sich der Täter unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf von ihm selbst geschaffene Konstellationen berufen kann, unter denen nach allgemeinen dogmatischen Regeln ein Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgrund eingreifen würde. In diesen Fällen einer „außerordentlichen“ Zurechnung werde, so der zentrale Gedanke, ein bestimmtes verbrechenskonstitutives Merkmal durch ein Surrogat ersetzt6 - beispielsweise die Steuerungsfähigkeit (Schuldfähigkeit) durch eine obliegenheitswidrig verursachte Steuerungsunfähigkeit oder das Unrechtsbewusstsein durch „die obliegenheitswidrig nicht vermiedene, aber vermeidbare Unkenntnis des Unrechts der Tat“7. Dieses Modell bezieht sich auf Konstellationen, in denen es infolge eines obliegenheitswidrigen Verhaltens des Täters zum Tatzeitpunkt an einer Voraussetzung schuldhaften Handelns oder auch der Handlung selbst fehlt. Für den Bereich der Rechtfertigungsgründe wird die Alternative ordentliche / außerordentliche Zurechnung ergänzt um die Disjunktion zwischen „intrasystematischen“ und „extrasystematischen“ Rechtfertigungsgründen.8 Im Bereich der extrasystematischen, nicht  Dazu Giannoulis, Studien zur Strafzumessung, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, S.  102  f. u.ö.   Biewald, Regelgemäßes Verhalten und Verantwortlichkeit, Berlin: Duncker & Humblot 2003, S. 106 Fn. 7 (zit. bei Montiel [Fn. 1], S. 598). 5 Zusammenfassend Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, Berlin: De Gruyter, 2. Aufl. 1988, S. 415 ff. 6  Ebd., S. 325 ff. 7  Ebd., S. 325/326. 8 Ausf. dazu Renzikowski, „Intra- und extrasystematische Rechtfertigungsgründe“, in: Byrd / Joerden (Hrsg.): Philosophia Practica Universalis. Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot 2005, S. 642 – 668. 3 4

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aber in dem der intrasystematischen Rechtfertigungsgründe soll ein obliegenheitswidriges Verhalten des Täters, aus dem eine „an sich“ rechtfertigende Sachlage resultiert, zum Ausschluss der Rechtfertigung führen. Strukturell besteht hier eine Parallele zu den Fällen einer „außerordentlichen“ Zurechnung im Bereich der Schuld und der Handlung. Zu den extrasystematischen Rechtfertigungsgründen rechnet Hruschka neben der Notwehr (§ 32 StGB) auch die Einwilligung, zu den intrasystematischen dagegen den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB). Dieses hier nur grob skizzierte, später genauer zu rekonstruierende Modell Hruschkas hat insbesondere der Diskussion zu den Konstellationen eines „Vorverschuldens“ neue Impulse gegeben; teilweise ist es jedenfalls in den Grundzügen übernommen worden.9 Unbestreitbar ist, dass es erhebliche Schwächen der etablierten Strafrechtsdogmatik bei der Bewältigung von Konstellationen eines „Vorverschuldens“ offengelegt hat. Das gilt insbesondere für das sog. „Tatbestandsmodell“ der actio libera in causa („Vorverlegungsmodell“), dem zufolge schon die actio praecedens, also beispielsweise das Sichbetrinken in den Fällen einer selbstverschuldeten Trunkenheit, die tatbestandsmäßige Handlung des im Rausch begangenen Delikts darstellen soll. Hruschka weist überzeugend nach, dass diese Rekonstruktion der actio libera in causa weder dogmatisch noch ideengeschichtlich noch sprachlich zu rechtfertigen ist.10 Inwieweit sein eigenes Modell geeignet ist, die Probleme zu bewältigen, und welche Modifikationen erforderlich sein könnten, ist Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen. Ich konzentriere mich dabei auf die Konstruktion der „außerordentlichen“ Zurechnung. Die Differenzierung zwischen „intrasystematischen“ und „extrasystematischen“ Rechtfertigungsgründen spielt nur am Rande eine Rolle.

9 Naher Anschluss an Hruschka insbesondere bei Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, Frankfurt am Main: Klostermann 1989, S. 62 ff., 91 ff., 120 ff.; ders. GA 1994, 197 ff.; ders., „Die Rechtfertigung von Pflicht- und Obliegenheitsverletzungen“, JRE 1994, S. 339 ff.; Mañalich, Nötigung und Verantwortung, Baden-Baden: Nomos Verlag 2009; Sánchez-Ostiz, „Strafrechtliche Zurechnung und Obliegenheiten“, in: Safferling u. a. (Hrsg.): Festschrift für Franz Streng zum 70. Geburtstag, Heidelberg: C.F. Müller 2017, S. 137 ff. Diff. Neumann, „Normtheorie und strafrechtliche Zurechnung“, GA 1985, S. 389 – 401; ders., Zurechnung und „Vorverschulden“, Berlin: Duncker & Humblot 1985. Vgl. auch Klaus Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, Frankfurt am Main: Klostermann 2005, S. 109 ff. 10  Hruschka, „Der Begriff der actio libera in causa und die Begründung ihrer Strafbarkeit“, JuS 1986, 554; ders., „Methodenprobleme bei der Tatzurechnung trotz Schuldunfähigkeit des Täters“, SchwZStR 90 (1974), 48; ders., „Probleme der actio libera in causa heute“, JZ 1989, 310; ders., „Die actio libera in causa – speziell bei § 20 StGB mit zwei Vorschlägen für die Gesetzgebung“, JZ 1996, 64; ders., „‚Actio libera in causa‘ und mittelbare Täterschaft“, in: Dölling / Erb (Hrsg.): Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag, Heidelberg: Müller 2002, S. 145 ff.

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II. Kritische Rekonstruktion des Modells der „außerordentlichen Zurechnung“ 1. Zweistufigkeit der Zurechnungsstruktur Im Unterschied zu der „ordentlichen“ Zurechnung weist die „außerordentliche“ eine zweistufige Struktur auf. Das kommt in der Formulierung zum Ausdruck, der Täter könne sich auf die selbst „obligationswidrig“ herbeigeführten Umstände, die „an sich“ zu einer Entschuldigung bzw. einem Schuldausschluss (ggf. zur Verneinung der Handlungsfähigkeit) führen würden, nicht berufen.11 Diese Formulierung ist im Schrifttum bei den fraglichen Konstellationen geläufig; sie findet sich insbesondere zum vermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 S. 2 StGB), bei der vom Täter selbst verursachten Gefahr im entschuldigenden Notstand (§ 35 Abs. 1 S. 2 StGB) sowie bei der actio libera in causa.12 Es handelt sich hier nicht um eine façon de parler, sondern um eine treffende Bezeichnung der zugrundeliegenden Zurechnungsstruktur.13 Die Formulierung bringt zum Ausdruck, dass ein Faktum oder eine Rechtslage „an sich“ gegeben ist, dem Täter aber versagt wird, sich auf dieses Faktum oder diese Rechtslage zu berufen. 2. Negatorische Funktion der Obliegenheitsverletzung Wird dem Täter versagt, sich auf etwas zu berufen, so liegt darin notwendig ein Moment des Kontrafaktischen, des „als ob“: der zum Tatzeitpunkt volltrunkene Täter muss sich unter bestimmten Voraussetzungen (actio libera in causa) so behandeln lassen, als ob er bei Tatbegehung nüchtern gewesen wäre; der im vermeidbaren Verbotsirrtum Handelnde muss sich (von der im deutschen StGB vorgesehenen Möglichkeit der Strafmilderung abgesehen) so behandeln lassen, als ob er die Tat mit Unrechtsbewusstsein begangen hätte. In diesem Sinne formuliert Hruschka, der Täter, der sich „obliegenheitswidrig in eine Notstandssituation des § 35 Abs. 1 S. 1 StGB hineinbegeben“ habe, werde „in gewissen Grenzen … genauso behandelt, als ob er sich nicht in einer Notstandssituation befunden hätte.“14 Die Verletzung einer Obliegenheit erhält damit eine „negatorische“ Funktion: Sie hat die Konsequenz, dass auf ein verbrechenskonstitutives Merkmal verzichtet werden kann, das nach den allgemeinen dogmatischen Regeln Voraussetzung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Täters wäre, weil der Täter sich auf das von ihm selbst zu verantwortende (weil obliegenheitswidrig verursachte) Fehlen dieses Merkmals nicht berufen kann. Komplementär: sie hat zur Folge, dass ein die Strafbarkeit „an sich“ ausschließender Umstand ausgeblendet wird. Das entspricht   Hruschka (Fn. 5), S. 288 u.ö.   Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, Baden-Baden: Nomos Verlag, 8. Aufl. 2017, § 23 Rn. 6 (zur Interpretation der actio libera in causa im „Ausnahmemodell“). 13  Dazu schon Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“ (Fn. 9), S. 18, 179 ff. 14  Hruschka (Fn. 5), S. 416. 11

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der Funktion der Obliegenheit, für den Fall ihrer Nichterfüllung eine ansonsten bestehende, dem „Obligierten“ günstige Rechtsposition auszuschließen. Die damit konstituierte Zurechnungsstruktur – der „an sich“ entschuldigende bzw. schuldausschließende Umstand wird nicht berücksichtigt, weil er von dem Täter obliegenheitswidrig herbeigeführt wurde – droht allerdings ihre Konturen zu verlieren, wenn dieser Umstand als „Surrogat“ für das fehlende Verbrechensmerkmal interpretiert wird.15 Denn es geht nicht um eine Ersetzung des fehlenden Verbrechensmerkmals, sondern es wird auf dieses Merkmal verzichtet. Auch in der Sache erscheint es nicht überzeugend, dass – beispielsweise – „die obliegenheitswidrig nicht vermiedene, aber vermeidbare Unkenntnis des Unrechts der Tat ein Surrogat für das (fehlende) Unrechtsbewusstsein“ sein soll.16 Ebenso wenig ist zu sehen, wie eine qualifizierte, d.h.: obliegenheitswidrig verursachte Steuerungsunfähigkeit die Steuerungsfähigkeit sollte ersetzen können.17 Folgerichtig ist das Modell Hruschkas in diesem Punkt dann, wenn man es im Sinne der „negatorischen“ Funktion der Obliegenheitsverletzung interpretiert: auf die Unkenntnis des Unrechts bzw. auf die Steuerungsunfähigkeit zum Tatzeitpunkt kommt es nicht an, weil der Täter diese Unkenntnis bzw. diese Steuerungsunfähigkeit obliegenheitswidrig verursacht hat. 3. Rechtfertigung der Ausblendung eines obliegenheitswidrig verursachten Defektzustands Wenn Hruschkas Modell der außerordentlichen Zurechnung in dieser Rekonstruktion folgerichtig erscheint, so besagt das noch nichts über die Legitimität dieses Modells. Normativ überzeugend ist es nur unter zwei Voraussetzungen. Zum einen müssen der deontische Status und die Konstitutionsbedingungen (die „Herkunft“) der Obliegenheiten geklärt werden. Zum andern ist zu begründen, dass die Verletzung dieser Obliegenheiten die gravierende Folge haben soll, dass sich der Täter auf gegebene Umstände, die „an sich“ die Strafbarkeit ausschließen, nicht berufen kann. a) Deontologischer Status und Ableitung der Obliegenheiten aa) Gegenüberstellung von Pflichten und Obliegenheiten Hruschka unterscheidet in einem ersten Schritt klar zwischen Pflichten auf der einen und Obliegenheiten auf der anderen Seite. Pflichten haben die Struktur kategorischer Imperative; sie binden den Adressaten der Pflicht ohne Berücksichtigung   Hruschka (Fn. 5), S. 326.   A. a. O. 17  Dazu schon Neumann, „Neue Entwicklungen im Bereich der Argumentationsmuster zur Begründung oder zum Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit“, ZStW 99 (1987), S. 567, 583. 15 16

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der Ziele, die er selbst mit einer Handlung verfolgt. Demgegenüber sind Obliegenheiten hypothetische Imperative und damit Klugheitsregeln, die dem Adressaten sagen, wie er sich verhalten muss, um bestimmte Handlungsfolgen zu erreichen bzw. zu vermeiden.18 Die Missachtung dieser Klugheitsregeln bringt Nachteile lediglich für den Handelnden selbst. Insoweit handelt es sich bei der Verletzung einer Obliegenheit um ein „Verschulden gegen sich selbst“.19 Bei den strafrechtlichen Obliegenheiten ist die mögliche Folge der Missachtung die Zurechnung des „an sich“ straflosen Verhaltens; es geht darum, was der Adressat „bei Strafe der Zurechnung“ zu tun bzw. zu unterlassen hat.20 Denn im Falle einer obliegenheitswidrig verursachten Schuld- oder Handlungsunfähigkeit oder einer „an sich“ entschuldigenden Situation (entschuldigender Notstand, § 35 StGB) kann sich der Täter auf den „an sich“ strafausschließenden Umstand nicht berufen. bb) Relativierung der Unterscheidung zwischen Pflichten und Obliegenheiten In einem zweiten Schritt wird der Unterschied zwischen Pflichten und Obliegenheiten allerdings relativiert. Denn Hruschka will nicht nur die Pflichten, sondern auch die Obliegenheiten auf Verbote bzw. Gebote zurückführen. Auch die Obliegenheit meine „die Gebundenheit dessen, dem etwas obliegt, an ein Ge- oder Verbot, kraft welcher Gebundenheit eine gewisse – rechtliche oder sittliche – Notwendigkeit zur Erfüllung dieser Norm besteht“21. Der Unterschied zwischen Pflichten und Obliegenheiten sei infolgedessen nur ein gradueller.22 An anderer Stelle heißt es, die Obliegenheiten seien zu verstehen als „Implikationen der jeweiligen Verhaltensanweisung, auf die sie sich beziehen“; es gehe um die Sicherung der größtmöglichen Effektivität dieser Verhaltensanweisungen.23 Dieser Zweck werde durch die Annahme von Sekundäranweisungen (Obliegenheiten) zu Primäranweisungen erreicht.24 In Bezug auf § 35 StGB ist ausdrücklich von einem „Verbot[s], sich in eine Notstandslage zu begeben“ die Rede.25

18  Hruschka, „Über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit“, in: Arthur Kaufmann u. a. (Hrsg.): Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag, München: Beck Verlag 1979, S. 421, 422, 426. Interpretation der Obliegenheiten als hypothetische Imperative auch bei Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“ (Fn. 9), S. 265 ff.; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, Berlin: Duncker & Humblot 1993, S. 77. 19  Hruschka (Fn. 5), S. 416. 20  Ebd., S. 422. Als „Verschulden gegen sich selbst“ verstehen die Obliegenheitsverletzung etwa auch Kindhäuser (Fn. 9), S. 67 und MüKoStGB / Müssig, München: C.H. Beck, 3. Aufl. 2017, StGB § 35 Rn. 53 ff. 21  Hruschka (Fn. 5), S. 416. 22 Ebd. 23  Hruschka (Fn. 18), S. 421, 426 f. 24  Ebd., S. 421, 427. 25  Hruschka (Fn. 5), S. 417.

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Dieser Parallelisierung von Pflichten und Obliegenheiten entspricht es, dass nach Hruschka Rechtfertigungsgründe auch auf Obliegenheitsverletzungen Anwendung finden können.26 So könne etwa die die medizinisch indizierte Einnahme einer Droge nach § 34 StGB gerechtfertigt sein – mit der Folge, dass es an einer Obliegenheitsverletzung fehle und deshalb (auch) eine außerordentliche Zurechnung nicht in Betracht komme. Mit dieser Parallelisierung von Pflichten und Obliegenheiten wird indes der Unterschied zwischen der Zurechnungsstruktur in den Fällen der „ordentlichen“ Zurechnung einerseits, der „außerordentlichen“ andererseits verwischt. Soll die Obliegenheit tatsächlich als hypothetischer Imperativ27, ihre Verletzung als ein „Verschulden gegen sich selbst“ verstanden werden, dann kann sie nicht aus einem (kategorischen) Ver- oder Gebot abgeleitet werden.28 Wenn die Obliegenheiten als Derivate der Verhaltensnormen deren Effektivität sichern sollen, dann geht es bei der Verletzung dieser Obliegenheiten eben nicht nur um die Beeinträchtigung eigener („Verschulden gegen sich selbst“), sondern um die Gefährdung bzw. Verletzung fremder Interessen. Auch die Anwendung von Rechtfertigungsgründen auf Obliegenheitsverletzungen sprengt das deontische Modell der Obliegenheit, soweit diese im Sinne der Kennzeichnung als hypothetischer Imperativ, die Obliegenheitsverletzung als „Verschulden gegen sich selbst“ verstanden wird. Richtig ist, dass sich die Frage, ob eine Obliegenheitsverletzung vorliegt, nach der Gesamtheit der situativen Umstände bestimmt, und dass zu diesen Umständen auch Elemente gehören können, die im Falle der Verletzung einer strafrechtlichen Unterlassungs- oder Handlungspflicht zur Annahme eines Rechtfertigungsgrundes führen würden. Aber Rechtfertigungsgründe sind funktional auf ein pflichtwidriges und – weitergehend – tatbestandsmäßiges Verhalten bezogen, an dem es im Falle einer „Obliegenheitsverletzung“ sensu stricto gerade fehlt. Die Umstände, die zugunsten des Täters zu berücksichtigen sind und die im Falle einer Pflichtverletzung als Rechtfertigungsgründe einzuordnen wären, entscheiden hier darüber, ob der Täter für die von ihm – objektiv – herbeigeführte Situation zuständig ist29 und er sich deshalb auf diese Umstände nicht berufen kann. Das Entsprechende gilt für Umstände, die im Falle einer Pflichtverletzung zu einer Entschuldigung bzw. einem Schuldausschluss führen würden. Auch hier geht es nicht um Entschuldigung oder Schuldausschluss im Sinne der dogmatischen Institute, sondern um die Frage, ob 26  Hruschka (Fn. 5), S. 295; ebenso Kindhäuser, „Die Rechtfertigung von Pflicht- und Obliegenheitsverletzungen“, JRE 1994, S. 339 ff. 27  Oben bei Fn. 18. 28 Ebenso Kindhäuser (Fn. 9), S. 62 ff.; sowie Klaus Günther (Fn. 9), S. 110 f. 29  Im gleichen Sinne stellt Hruschka (am Beispiel des § 20 StGB) darauf ab, ob der Täter den Defektzustand „zu vertreten“ hat bzw. für ihn „verantwortlich“ ist (Hruschka [Fn. 5], S. 303).

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die relevanten Umstände dazu führen, die Zuständigkeit des Täters für die Situation zu verneinen. Dass es hier nicht um Rechtfertigung oder Schuldausschluss im Sinne der dogmatischen Institute geht, wird auch daraus ersichtlich, dass für die Zuständigkeit des Täters keineswegs ein Fehlverhalten erforderlich ist, auf das die Kategorien der Rechtfertigung oder der Entschuldigung / des Schuldausschlusses sinnvoll bezogen werden könnten. Die Vorführung einer Zirkusnummer mit dressierten Tigern, bei der die üblichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen sind, ist in keinem denkbaren Sinne ein Fehlverhalten; trotzdem kann sich der Dompteur nicht auf einen entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) berufen, wenn er im Falle eines plötzlichen Angriffs das Tier von sich ab- und auf einen unbeteiligten Zuschauer hinlenkt. Das Beispiel zeigt, dass es in der Konstellation der vom Täter „verursachten“ Gefahr auf die Vorhersehbarkeit der Gefahr für die eigenen Rechtsgüter des Täters (ggf. eines nahestehenden Dritten) ankommt, nicht aber auf die Vorhersehbarkeit der Möglichkeit, sich (oder den Dritten) durch einen Eingriff in Rechtsgüter anderer zu retten.30 Es geht um eine Obliegenheit sensu stricto, das heißt: um einen hypothetischen Imperativ, dessen Missachtung ausschließlich einen Nachteil für den Handelnden selbst mit sich bringt: der Täter kann sich auf die von ihm zu verantwortende Notlage nicht berufen. b) Rechtfertigung der Folgen einer Obliegenheitsverletzung Diese Rekonstruktion der deontologischen Struktur der Obliegenheit und der Folgen einer Obliegenheitsverletzung beantwortet noch nicht die Frage, weshalb dem Täter die Berufung auf Umstände versagt wird, die er obliegenheitswidrig verursacht hat. Was ist der normativ tragfähige Grund, was ist die Rechtfertigung dafür, dem Angeklagten die Berufung auf eine „an sich“ gegebene Situation bzw. die aus dieser Situation „an sich“ resultierende, für ihn günstige Rechtsfolge zu versagen? Die Antwort auf diese Frage wird in Hruschkas Modell nicht ganz deutlich. aa) O  bliegenheitsverletzung als Beeinträchtigung (nur) eigener Interessen Zunächst: Es geht ihm nicht um eine Erweiterung des Kreises der Pflichten, die der Einzelnen gegenüber anderen hat und die sich auf den gemeinsamen Nenner des Verbots bringen lassen, andere zu schädigen oder zu gefährden (oder, im Falle des Unterlassens, des Gebots, sie vor Schädigungen oder Gefährdungen zu bewahren). Widersprochen wird damit allen Modellen, die das obliegenheitswidrige Vorverhalten als Verletzung bzw. Gefährdung der Rechtsgüter eines potentiellen Opfers betrachten. Derartige Modelle führen in der Tat strafrechtsdogmatisch zu 30  Näher dazu (und zur Gegenmeinung) NK-StGB / Neumann, Baden-Baden: Nomos Verlag, 5. Aufl. 2017, § 35 Rn. 36.

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gequälten Konstruktionen, die weder konsistent zu halten noch in der Grundstruktur überzeugend sind. Hruschka hat dies vor allem für das „Tatbestandsmodell“ der actio libera in causa überzeugend nachgewiesen. Es gilt aber auch für andere Konstellationen eines obliegenheitswidrigen Vorverhaltens. Wer sich selbst gefährdet, indem er trotz mangelnden Trainings ohne künstlichen Sauerstoff den Mount Everest besteigt, schafft damit noch keine Gefahr für andere Bergsteiger – auch dann nicht, wenn er einem von ihnen später in akuter Gefahr eine Sauerstoffflasche wegnimmt, um sein eigenes Leben zu retten. Dass ihm hier die Berufung auf die akute Notsituation versagt wird (§ 35 Abs. 1 S. 2 StGB), resultiert nicht daraus, dass er durch seine Nachlässigkeit eine Gefahr für andere geschaffen hätte, sondern daraus, dass er sich eigenverantwortlich in eine gefährliche Situation gebracht hat, aus der er sich jetzt auf Kosten von Rechtsgütern anderer retten will.31 Deshalb ist nicht schon das Vorverhalten (Besteigen des Berges ohne künstlichen Sauerstoff), sondern erst der Eingriff in Rechtsgüter eines anderen (Wegnahme einer Sauerstoffflasche) strafrechtlich verboten. bb) Obliegenheitsverletzung als Beeinträchtigung (auch) fremder Interessen? Auf der anderen Seite aber scheint Hruschka die Folgen der Obliegenheitsverletzungen doch wiederum mit dem Gedanken der Gefährdung anderer rechtfertigen zu wollen, wenn er die Obliegenheiten als „Implikationen der jeweiligen Verhaltensanweisung, auf die sie sich beziehen“ interpretiert und ihnen die Funktion der Sicherung der größtmöglichen Effektivität der Verhaltensanweisungen zuerkennt.32 Aber diese Relativierung des Unterschieds zwischen Pflichten einerseits, Obliegenheiten andererseits ist, wie dargelegt, nicht überzeugend. Pflichten bestehen gegenüber anderen, Obliegenheiten gegenüber sich selbst. Greift man, wie Hruschka, zur Begründung der Obliegenheiten auf den Gesichtspunkt der Effektivierung der aus den Verhaltensnormen resultierenden Pflichten zurück, dann werden die Obliegenheiten ihrer deontologischen Struktur nach selbst zu Pflichten. Die Folgen einer Obliegenheitsverletzung (dem Täter wird die Berufung auf einen „an sich“ strafausschließenden Umstand versagt) lassen sich folglich nicht unter dem Gesichtspunkt einer in dem Vorverhalten liegenden Gefährdung von Rechtsgütern anderer begründen. cc) O  bliegenheiten in der alltagsmoralischen und der strafrechtlichen Zurechnung Der Grund dafür, dass dem Täter die Berufung auf eine „an sich“ rechtfertigende oder entschuldigende Situation in den Fällen eines obliegenheitswidrigen 31 32

  Wie Fn. 30.   Vgl. oben bei Fn. 23.

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Vorverhaltens versagt wird, kann nur darin liegen, dass er seiner Verantwortung sich selbst gegenüber nicht gerecht geworden ist. Die hier zugrunde liegende Zurechnungsstruktur ist aus der alltagsmoralischen Argumentation vertraut.33 Am Beispiel der (vorsätzlichen) actio libera in causa: Wer sich vorsätzlich betrinkt, um im Zustand der Trunkenheit einen anderen zu töten, kann sich gegenüber dem moralischen Vorwurf des Totschlags nicht mit dem Argument verteidigen, er habe die Tat im Zustand der trunkenheitsbedingten Steuerungsunfähigkeit begangen. Das Gegenargument würde lauten: „Du hast dich doch gerade in der Absicht betrunken, diese Tat zu begehen“. Gegenüber diesem Argument stünde dem Täter in der alltagsmoralischen Auseinandersetzung kein schlagender Einwand zur Verfügung. Der Versuch, sich durch Berufung auf Trunkenheit moralisch von der Verantwortung für die Tat zu entlasten, würde definitiv scheitern. Diese alltagsmoralischen Zurechnungsstrukturen lassen sich aber nicht ohne weiteres zur Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für eine Tat heranziehen. Denn das Argument: „Du kannst dich auf die Trunkenheit zum Tatzeitpunkt nicht berufen, weil du dich doch gerade in der Absicht betrunken hast, das Opfer zu töten“ ist nicht eins zu eins in strafrechtsdogmatische Zurechnungsregeln übersetzbar. Der Grund dafür liegt darin, dass die (klassische) Dogmatik des materiellen Strafrechts keine (grundsätzlich) rechtlich relevanten Umstände kennt, auf deren Vorliegen sich der Täter unter bestimmten Umständen nicht berufen könnte. Die Denk- und Sprachform der Strafrechtsdogmatik ist eindimensional: Zugunsten – wie zu Lasten – des Angeklagten ist alles zu berücksichtigen, was nach den gesetzlichen, von der Strafrechtsdogmatik ergänzten (gegebenenfalls: modifizierten) Regeln „der Fall“ ist. Das bedeutet: der Angeklagte braucht sich auf die zu seinen Gunsten sprechenden Umstände nicht zu berufen, weil das Gericht sie anhand des Entscheidungsprogramms des materiellen Strafrechts „von Amts wegen“ zu berücksichtigen hat. Damit ist der Vorstellung, er könne sich auf gegebene „an sich“ entlastende Umstände unter bestimmten Voraussetzungen nicht berufen, die Basis entzogen. Anders ist das im Bereich des Strafprozessrechts: hier kann es durchaus von dem Verhalten des Beschuldigten abhängen, welche für ihn günstigen (insbesondere: prozessual relevanten) Umstände zu berücksichtigen sind und welche nicht – das prominenteste Beispiel ist das Verbot der Verwertung kontaminierter Beweismittel, das nach der Rechtsprechung nur dann eingreifen soll, wenn der (verteidigte) Angeklagte in der Hauptverhandlung der Verwertung widerspricht.34 In der traditionellen Dogmatik des materiellen Strafrechts hat die Vorstellung, der Täter könne sich auf 33  Diese Feststellung (dazu schon Neumann, „Neue Entwicklungen im Bereich der Argumentationsmuster zur Begründung oder zum Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit“, ZStW 99 [1987], S. 567, 590) besagt noch nichts über die Legitimität paralleler strafrechtlicher Zurechnungsregeln (zutr. Klaus Günther (Fn. 9), S. 75), verweist aber auf normative gesellschaftliche Standards, an denen das Strafrecht als soziales Regelsystem nicht schlicht vorüber gehen kann. Zur Rechtfertigung der Zurechnungsregeln zweiter Stufe s. unter III. 34  Vgl. Fn. 2.

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gegebene und nach dem Programm des Strafgesetzes und der Strafrechtsdogmatik grundsätzlich relevante Umstände nicht berufen, dagegen keinen Platz. Erforderlich ist hier ein Modell, das neben den Regeln erster Stufe (dogmatische Regeln) auch denen zweiter Stufe Raum bieten kann. III. Das Modell des Verantwortungsdialogs 1. Zweistufigkeit der „außerordentlichen“ Zurechnung im Modell Hruschkas a) Strukturdifferenzen zwischen Regeln erster und Regeln zweiter Stufe Festzuhalten ist zunächst die Joachim Hruschka zu verdankende Einsicht, dass diese eindimensionale Perspektive der Zurechnungsstruktur in den Fällen eines selbstverschuldeten Zustands der Handlungs- oder Schuldunfähigkeit sowie eines eigenverantwortlich herbeigeführten „an sich“ entschuldigenden Umstands nicht gerecht wird.35 Bei diesen Konstellationen werden die allgemeinen gesetzlichen und dogmatischen Regeln, die festlegen, was unter welchen Voraussetzungen strafrechtlich „der Fall ist“, überlagert von Regeln zweiter Stufe,36 die bestimmen, dass sich der Täter unter bestimmten Voraussetzungen auf das, was strafrechtsdogmatisch „der Fall ist“, nicht berufen kann. Dem Täter, der in einem vermeidbaren Verbotsirrtum handelt, ist zum Tatzeitpunkt das Unrecht seines Tuns ebenso wenig bewusst wie demjenigen, dessen Irrtum vermeidbar war; das so genannte „poten­zielle“ Unrechtsbewusstsein ist ja keine besondere Form des Unrechtsbewusstseins, sondern die (vermeidbare) Abwesenheit desselben.37 Er wird aber mit der Verteidigung, er habe in gutem Glauben gehandelt, nicht (uneingeschränkt) gehört, weil er für seine Unkenntnis der Rechtslage selbst verantwortlich ist (§ 17 S. 2 StGB). Ebenso ist in einer akuten Gefahr für Leib oder Leben der Motivationsdruck, sich auf Kosten von Rechtsgütern eines anderen zu retten, ceteris paribus nicht deshalb geringer, weil der Täter seine Notlage selbst zu verantworten hat. Er kann sich dann aber nicht zu seiner Entschuldigung auf diese Notlage berufen, weil er diese in vorwerfbarer Weise selbst herbeigeführt hat (§ 35 Abs. 1 S. 2 StGB).38   Dazu oben unter II. 1.   In diesem Sinne schon Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“ (Fn. 9), S. 22 u.ö. 37  NK-StGB / Neumann (Fn. 30), § 17 Rn. 53; Eidam, ZStW 127 (2015), S. 120, 138. 38  Sprachtheoretisch geht es darum, die Beschränkung der Sprache der Dogmatik auf den konstativen Modus zu überwinden und zu berücksichtigen, dass es im strafrechtlichen Verantwortungsdialog um die Sprachhandlungen des Vorwerfens einerseits, des Sich-Verteidigens andererseits und damit um illokutionäre Akte geht. Dazu: Kargl, Strafrecht. Einführung in die Grundlagen von Gesetz und Gesetzlichkeit, Baden-Baden: Nomos Verlag 2018, Rn. 231; Hamel, Strafen als Sprechakt, Berlin: Duncker & Humblot 2009. 35 36

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b) Wertungsdifferenzen Schon diese beiden Beispiele zeigen, dass den Regeln zweiter Stufe (nach denen sich der Täter auf bestimmte, ihm „an sich“ günstige Umstände nicht berufen kann), andere Wertungen zugrunde liegen als den allgemeinen dogmatischen Regeln (Regeln erster Stufe). Wenn der im Verbotsirrtum handelnde Täter entschuldigt wird, so beruht dies auf der Wertung, dass von demjenigen, der bei Ausführung der Handlung das Unrecht der Tat nicht kennt, nicht erwartet werden kann, dass er diese Tat unterlässt. Diese Wertung greift auch im Falle des vermeidbaren (insbesondere in dem des lediglich im Vorfeld vermeidbaren) Verbotsirrtums. Sie wird im Falle des vermeidbaren Verbotsirrtums aber von der ganz anderen Wertung überlagert, dass derjenige, der den Irrtum vermeiden konnte, sich nicht mit entschuldigender Wirkung auf diesen Irrtum berufen kann. Entsprechendes gilt für die selbstverschuldete Notlage im Rahmen der Regelung des entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB). Der Schuldausschluss beruht hier maßgeblich auf dem Gesichtspunkt des auf dem Täter lastenden besonderen Motivationsdrucks, und damit auf der Wertung, dass in einer solchen besonderen Motivationslage dem Täter ein normgerechtes Verhalten nicht zumutbar ist.39 Dass dieser Motivationsdruck im Falle einer selbstverschuldeten Notlage ceteris paribus nicht geringer ist, wird nicht bezweifelt. Die maßgebliche Wertung lautet vielmehr: der Täter kann sich in diesem Fall auf den aus der Notlage resultierenden Motivationsdruck nicht berufen, weil er für die Entstehung dieser Notlage selbst verantwortlich ist. c) Erfordernis einer klaren Trennung der Zurechnungsebenen Der Versuch, diese Regeln zweiter Stufe in das System der allgemeinen dogmatischen Regeln (Regeln erster Stufe) zu pressen, führt zu einer Vielzahl von Verwerfungen. Exemplarisch sind die heillosen Verwirrungen, die aus dem Versuch resultieren, die actio libera in causa auf der Grundlage des Regelsystems erster Stufe zu interpretieren. Die Konsequenz, die tatbestandsmäßige Handlung bereits in dem Sichbetrinken zu sehen, bedingt gravierende dogmatische Brüche, die hier nicht erneut rekapituliert werden müssen. Entsprechendes gilt für die durch das deutsche Strafgesetzbuch vorprogrammierte Deutung des Sichbetrinkens als tatbestandsmäßige Handlung im Rahmen des Vollrausch-Tatbestands (§ 323 a S ­ tGB).40 Zur Klarheit führen lassen sich diese gesetzlichen (§ 323 a StGB) und dogmatischen (actio libera in causa) Normierungen nur dann, wenn man sie im Rahmen des von Hruschka entworfenen zweistufigen Regelmodells interpretiert. Hruschka hat klar herausgearbeitet, dass es zwei unterschiedliche Regelsysteme sind, die in den Fällen eines strafbarkeitsrelevanten Vorverschuldens zusammentreffen. Allerdings hat Hruschka die Unterscheidung zwischen diesen beiden Regelsyste  Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, München: C.H. Beck, 10. Aufl. 2018, § 26 Rn. 1.   Ausf. dazu Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“ (Fn. 9), S. 50 – 128.

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men durch die Parallelisierung der Obliegenheiten mit den Pflichten wieder relativiert.41 Führt man das Modell der Zweistufigkeit konsequent durch, so lösen sich die Probleme, die bei der Rekonstruktion von Hruschkas Modell der außerordentlichen Zurechnung zu registrieren waren. Dazu ist erforderlich, zunächst den Ort der Regeln zweiter Stufe im System der strafrechtlichen Zurechnung genauer zu bestimmen (2.) und anschließend die Frage nach der Rechtfertigung dieser Regeln zu beantworten (3.). 2. Der Verantwortungsdialog als Ort der Zurechnungsregeln zweiter Stufe. In einem monologischen System der strafrechtlichen Zurechnung finden Regeln, die bestimmen, dass sich der Angeklagte (oder ein anderer Verfahrensbeteiligter) auf einen „an sich“ strafrechtlich relevanten Umstand nicht berufen kann, keinen Platz – schon deshalb, weil sich der Angeklagte in diesem System auf für ihn günstige Umstände überhaupt nicht zu berufen braucht.42 a) Kommunikative Struktur der strafrechtlichen Verantwortungs-Interaktion Ein solches monologisches System spiegelt aber nicht die Struktur der sozialen Institution des Strafens. Jemanden zu bestrafen bedeutet: ihn für eine bestimmte Tat strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Es geht von vornherein um eine soziale Interaktion, die notwendig eine dialogische Struktur aufweist. Man muss deshalb das materielle Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht als Gesamtheit von Regeln für eine Interaktion verstehen, in der jemand für eine Handlung unter Verhängung einer Sanktion verantwortlich gemacht wird. Dabei spielt nicht nur die Frage eine Rolle, ob der Angeklagte einen Straftatbestand rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht hat. Es geht auch um die Frage, ob er sich auf eventuell „an sich“ eingreifende Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe berufen kann – Fälle z. B. der actio libera in causa, der provozierten Notwehrlage, des verschuldeten Notstands. Es geht aber auch um die Befugnis des Staates und seiner Organe, dem Betroffenen sein Verhalten im Sinne eines strafbaren Verhaltens vorzuwerfen. Das betrifft z. B. die Fälle der Tatprovokation oder auch der überlangen Verfahrensdauer. Das strafrechtliche Verantwortlich-Machen ist nicht statisch, im Sinne der bloßen Feststellung eines Fehlverhaltens und der rechtlichen Bewertung dieses Verhaltens zu verstehen, sondern als ein dynamischer Prozess, als Verantwortungsdialog,43 der nicht nur die Regeln des Prozessrechts, sondern auch die des materiellen Rechts als Strukturelemente der Interaktion integriert. Die Trennung von materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht wird in diesem Modell des Verantwortungsdialogs relativiert.   Oben unter II. 3. a).   Dazu oben III. 1. b). 43 Ebenso Klaus Günther (Fn. 9), S. 110 f. 41 42

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In der Auseinandersetzung um die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten (Verantwortungsdialog) geht es dementsprechend nicht nur um die Frage, was geschehen und wie das Geschehene rechtlich zu qualifizieren ist, sondern auch darum, wer welche Umstände mit welchen Konsequenzen geltend machen darf. Das Modell bietet deshalb Raum für die Regeln zweiter Stufe, die es dem Angeklagten (um dessen Position im Verantwortungsdialog es hier vornehmlich geht) oder einem anderen Prozessbeteiligten unter bestimmten Voraussetzungen untersagen, sich auf einen bestimmten Umstand zu berufen. b) Tatsachen und Rechtsfolgen als Referenzgrößen der Regeln zweiter Stufe Hinsichtlich der Bezugsgröße des Sich-nicht-berufen-Könnens kann man zwischen der (typischerweise) rechtlich relevanten Tatsache einerseits, der (typischen) Rechtsfolge des Vorliegens dieser Tatsache andererseits unterscheiden. Sowohl die Tatsache als auch deren Rechtsfolge kommen als Referenzgrößen in Betracht. So kann man mit Bezug auf § 35 Abs. 1 S. 2 StGB formulieren, der Täter könne sich im Falle einer von ihm selbst verschuldeten Gefahr nicht auf die von ihm verursachte Gefahrenlage (Tatsache) berufen; es ließe sich aber auch sagen, dass der Täter sich wegen der Selbstverursachung der Gefahr nicht auf einen entschuldigenden Notstand (Rechtsfolge) berufen könne. Der Unterschied dürfte allerdings nur eine terminologische Frage betreffen. Denn entscheidend ist, dass der Zusammenhang zwischen der Tatsache und ihrer (typischen) Rechtsfolge zerschnitten wird: die bestehende Gefahrenlage wird entgegen der allgemeinen Regel des § 35 Abs. 1 S. 1 StGB nicht als entschuldigender Umstand anerkannt, weil der Täter diese Gefahrenlage in zurechenbarer Weise selbst verursacht hat. Entsprechendes gilt im Falle der actio libera in causa für den Zusammenhang zwischen der Volltrunkenheit des Täters und der aus ihr resultierenden Steuerungsunfähigkeit (Tatsache) einerseits, der typischen Rechtsfolge des Schuldausschlusses andererseits. Bezweifelt wird nicht, dass der Täter volltrunken war; bezweifelt wird auch nicht, dass infolge der Volltrunkenheit seine Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt ausgeschlossen war. Es wird aber die Verbindung zwischen trunkenheitsbedingter Steuerungsunfähigkeit einerseits und Schuldausschluss andererseits gekappt. Dabei ist es wiederum nur eine terminologische Frage, ob man schon die Schuldunfähigkeit (zum Tatzeitpunkt) oder aber erst den Schuldausschluss verneint. Versteht man den Begriff der „Schuld“ (auch) als Element des Begriffs der Schuldfähigkeit bzw. Schuldunfähigkeit normativ, dann ist es konsequent, davon zu reden, dass in diesen Fällen zwar die Steuerungsfähigkeit, nicht aber die Schuldfähigkeit verneint wird.44 Entscheidend ist, dass es jeweils um zwei verschiedene Ebenen geht: einerseits um die, auf der etwas – tatsächlich und rechtlich 44  Der Begriff der „Schuldunfähigkeit“ ist insofern ein hybrider Begriff, als er ein normatives Element („Schuld“) mit einem Element verbindet, das ein Verständnis als Faktum (Disposititon) nahelegt („Fähigkeit“).

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(nach den allgemeinen dogmatischen Regeln) – „der Fall“ ist, andererseits um die, auf der – infolge des Sich-nicht-berufen-Könnens – davon abweichende rechtliche Folgerungen gezogen werden. c) „Obliegenheitsverletzung“ als „Folge“ ihrer Rechtsfolgen Da es sich um die Frage handelt, worauf sich der Täter (nicht) berufen kann, geht es ausschließlich um Nachteile, die sich aus seinem Vorverhalten für ihn selbst ergeben. Der Begriff der Obliegenheit ist in diesem Kontext funktional strikt auf diese Folge zu beziehen: der Täter hat durch sein Vorverhalten eine Obliegenheit verletzt, soweit aus diesem Verhalten die Konsequenz resultiert, dass er sich auf einen bestehenden, für ihn „an sich“ günstigen Umstand bzw. die aus diesem Umstand an sich resultierende günstige Rechtsfolge nicht berufen kann. Das bedeutet insbesondere, dass der Begriff der Obliegenheit scharf von dem der Pflicht getrennt werden muss. Die weitgehend konsentierte Beschränkung der Obliegenheitsverletzung auf ein „Verschulden gegen sich selbst“ muss ernst genommen werden. Die Feststellung der Verletzung einer Obliegenheit bedeutet, dass sich der Täter auf die Umstände, die aus seinem obliegenheitswidrigen Vorverhalten resultieren, nicht berufen kann. Diese funktionale Bestimmung des Begriffs der Obliegenheit, die hier im Kontext von Verhaltenslasten des Angeklagten entwickelt worden ist, gilt, als begriffliche Bestimmung, auch hinsichtlich des Verhaltens von Dritten, die (im weitesten Sinne) an der Interaktion des strafrechtlichen Verantwortlich-Machens beteiligt sind. Wenn von „Selbstschutzobliegenheiten“ des Opfers die Rede ist, deren Verletzung zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen wäre, dann wird der Begriff in einem anderen, unspezifischen Sinne verwendet. Allerdings ist hier zu differenzieren. Soweit es sich lediglich darum handelt, dass ein nachlässiges Verhalten des Opfers beim Schutz eigener Rechtsgüter dem Täter – unter dem Gesichtspunkt der Erleichterung der Tatausführung – zugutekommen soll, geht es nicht um einen Nachteil für das Opfer und folglich nicht um eine Obliegenheitsverletzung im Sinne der funktionalen Begriffsbestimmung. Anders, wenn man im Sinne neuerer Straftheorien45 von einem Interesse des Opfers an der Bestrafung des Täters ausgeht. Dann kann in der Nichtbestrafung (oder milderen Bestrafung) des Täters ein Nachteil gesehen werden, der dem Opfer als Folge seines eigenen Verhaltens erwächst.

 Dazu Hörnle, Straftheorien, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 2017, S. 36 ff.

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3. Rechtfertigung der Folgen einer Obliegenheitsverletzung im Modell des Verantwortungsdialogs a) Formale und materiale Zurechnungsstruktur Die Klärung der formalen Struktur der Zurechnung in den Fällen einer Obliegenheitsverletzung (der Obligierte kann sich auf eine aus der gegebenen, aber von ihm zu verantwortenden Situation „an sich“ resultierende, für ihn günstige Rechtsfolge nicht berufen) beantwortet noch nicht die Frage, ob und inwieweit Zurechnungsregeln, die Obliegenheiten auferlegen und an deren Verletzung entsprechende Nachteile knüpfen, gerechtfertigt werden können. Hier geht es nicht mehr um die formale, sondern um die materiale Struktur der Zurechnung. Die materiale Struktur der Zurechnung wird durch die formale aber insoweit vorgezeichnet, als der maßgebliche Grund dafür, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters hier trotz des Vorliegens einer „an sich“ rechtfertigenden oder entschuldigenden Situation zu bejahen, darin liegt, dass der Täter diese Situation in zurechenbarer Weise selbst herbeigeführt hat. Man kann die zugrundeliegende Wertung, mit der die außerordentliche Zurechnung normativ zu begründen wäre, also vereinfachend so formulieren: „Wer einen ‚an sich‘ entschuldigenden oder rechtfertigenden Umstand in von ihm zu verantwortender Weise herbeigeführt hat, kann sich auf diesen Umstand nicht (uneingeschränkt) berufen“. Das entspricht den alltagsmoralischen Wertungen, die einen moralischen Verantwortungsdialog etwa in den Fällen der actio libera in causa oder der Notwehrprovokation prägen und entscheiden würden. Wer einen anderen gezielt provoziert, um ihn unter dem (vermeintlichen) Schutz der Notwehrregelung (§ 32 StGB) straflos töten oder verletzen zu können, kann sich auch im moralischen Diskurs nicht durch Berufung auf die Notwehrsituation rechtfertigen46. b) Die Berufung auf eine obliegenheitswidrig herbeigeführte Situation als „Performativer Widerspruch“ Fraglich ist, welche Qualität das Vorverhalten des Täters haben muss, um (dann als Obliegenheitsverletzung gewertet) die Berufung auf die „an sich“ rechtfertigende oder entschuldigende Situation auszuschließen. Es könnte nahe liegen, insoweit ein vorwerfbares Fehlverhalten bei der Herbeiführung der fraglichen Situation vor­ auszusetzen. In der Tat lässt sich in verschiedenen Konstellationen einer „außerordentlichen“ Zurechnung ein entsprechender Vorwurf gegen den Täter erheben. Das gilt insbesondere für die (vorsätzliche wie fahrlässige) Notwehrprovokation und die (vorsätzliche wie fahrlässige) actio libera in causa. Ein vorwerfbares Vorverhalten ist aber keine notwendige Bedingung für eine außerordentliche Zurechnung und insofern nicht das Kriterium, das diese Zurech  Dazu schon oben unter II. 3. b) cc).

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Obliegenheiten und strafrechtliche Zurechnung

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nung normativ trägt. Es genügt, hier an das Beispiel des Dompteurs zu erinnern, der alle lege artis erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen hat, und der sich gleichwohl im Falle eines unvorhergesehenen Angriffs eines Tigers nicht auf entschuldigenden Notstand berufen kann, wenn er sich dadurch rettet, dass er das Tier von sich ab- und auf einen unbeteiligten Dritten hinlenkt. Hier ist es der Gedanke der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung, der die Berufung auf einen entschuldigenden Notstand ausschließt: wer sich sehenden Auges in eine besondere Gefahrenlage begibt, wird nicht entschuldigt, wenn er sich auf Kosten der Rechtsgüter anderer rettet, sobald sich die Gefahr zu realisieren droht. Auch die Konstellation der Notwehrprovokation lässt sich unter diesem Gesichtspunkt interpretieren: wer sich eigenverantwortlich einem Angriff aussetzt, kann sich auf die aus diesem Angriff resultierende Gefahrenlage nicht (uneingeschränkt) berufen, wenn er den Angriff unter Verletzung des Angreifers abwehrt. Die Möglichkeiten des Angeklagten, sich gegen den strafrechtlichen Vorwurf zu verteidigen, werden hier deshalb beschränkt, weil diese Verteidigung in Hinblick auf das Vorverhalten des Angeklagten widersprüchlich erscheint – die Annahme eines „performativen Widerspruchs“ liegt jedenfalls nahe. Es war die freie Entscheidung des Angeklagten, sich in die Gefahrensituation zu begeben – tat er das, so kann er sich nicht mit befreiender Wirkung auf diese Gefahrensituation berufen, wenn er sich aus ihr durch Verletzung von Rechtsgütern anderer befreit. Eine parallele Zurechnungsstruktur ergibt sich in den Fällen der selbstverschuldeten Trunkenheit, bei § 323 a StGB und in der Konstellation der actio libera in causa. Es war die freie Entscheidung des Angeklagten, sich zu betrinken – tat er das, so kann er sich nicht mit befreiender Wirkung auf die Trunkenheit berufen. In allen Fällen geht es darum, dass der Täter sich widersprüchlich verhält, wenn er sich zu seiner Entlastung auf eine Situation beruft, die er eigenverantwortlich herbeigeführt hat. Die Obliegenheitsverletzung führt zu dem Verlust einer „an sich“ gegebenen Verteidigungsmöglichkeit.47 Es liegt auf der Hand, dass für die unterschiedlichen Konstellationen eines zurechnungsrelevanten Vorverschuldens (actio libera in causa, provozierte Notwehrlage, selbstverschuldete Notlage, vermeidbarer Verbotsirrtum) sehr unterschiedliche Kriterien gelten und gelten müssen, anhand derer zu entscheiden ist, ob der Angeklagte in dem maßgeblichen Sinne für die von ihm herbeigeführte Situation „zuständig“ ist. Offenkundig ist ferner, dass auch für die jeweilige Konstellation differente Wertungen möglich sind. Gesichert scheint mir allerdings die (formale und materiale) Struktur der Zurechnung in diesen Fällen, wie sie vorstehend konturiert wurde. Das von Hruschka entwickelte Modell der „Obliegenheitsverletzung“ hat sich dabei, trotz einiger „Korrigenda“, als tragfähig erwiesen.

47  Dieser Satz ist analytisch-rekonstruktiv, nicht als Aussage über das rechtliche Entscheidungsprogramm de lege lata zu verstehen. Auch die Zurechnungsregeln zweiter Stufe bedürfen der Positivierung durch den Strafgesetzgeber. Zur entsprechenden Forderung für die Zurechnungsfigur der actio libera in causa Hruschka, JZ 1996, 64, 68.

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Summary The deontic mode of “obligation” (“Obliegenheit”) plays a central role in Joachim Hruschka‘s model of “extraordinary imputation.” The violation of an “obligation” by the perpetrator is a prerequisite for punishing the perpetrator for a behaviour, for which – according to criminal law doctrine (i. e. in the framework of “ordinary” imputation) – the perpetrator would not be punishable if an excuse or a factor that excludes guilt applies (or if, what the perpetrator did, does not count as an action). The article tries to provide a precise definition of the deontic mode of “obligation” and analyzes the formal as well as the material structure of imputation in cases where the “obligation” is violated. It is argued that “obligation” as the binding of a person to oneself has to be more sharply distinguished from a duty (i. e. the binding of oneself to others) than it is in Hruschka‘s model. In particular, “obligations” cannot be derived from duties. This strict distinction between “obligations” and duties corresponds to the fact that the violation of “obligations” can only be understood as guilt towards oneself. The fact that, contrary to the common rules of criminal law doctrine, guilt (merely) towards oneself can provide the foundation for punishing the perpetrator can be argued for only in the framework of a model of a dialogue of criminal responsibility. Within this dialogue the perpetrator is not able to plead exculpatory conditions as such, i. e. conditions supporting an acquittal, if he himself has brought these conditions about by violating an “obligation”. The “guilt towards oneself” that – according to the logic of the deontic mode of “obligation” – lies within the breach of the “obligation” leads only to a “disadvantage for oneself”, i. e. losing the possibility of the defense. This can be justified by reference to the fact that one is appealing for his defense to a circumstance whose existence he himself responsibly caused (idea of a “performative self-contradiction”).

Warum „gilt hier nicht das nachklassische Schema von ‚Tatbestandsmäßigkeit / Rechtswidrigkeit / Schuld‘“? Pablo Sánchez-Ostiz*

Ende 1991 veröffentlichte die Zeitschrift Rechtstheorie einen Artikel von Joachim Hruschka, der einen Meilenstein in der Reflexion über die Grundlagen des Strafrechts darstellte. Ich beziehe mich auf seinen ebenso kurzen wie maßgeblichen Text „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“1. Meines Erachtens ist es unnötig, die Relevanz dieses Artikels zu betonen2. In Spanien wurde er erstmals auf einem deutsch-spanischen Symposium (1990)3 und später durch die sorgfältige Übersetzung von Francisco Baldó († 2017) bekannt4. Diese Übersetzung trug dazu bei, den Autor, an den sich diese Gedächtnisschrift richtet, in der spanischsprachigen Welt noch bekannter zu machen. Der Zweck des vorliegenden Beitrags besteht darin, Überlegungen zu einer möglichen Vereinbarkeit der Straftatbegriffe mit der Zurechnungslehre anzustellen. Ich *  Professor für Strafrecht an der Universität Navarra. Diese Untersuchung erfolgt im Rahmen des Forschungsprojekts des Ministerium für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit „El código penal de 1995: Modelos de imputación de la ‚sociedad de la seguridad‘“ (DER 201786496-P). 1  Rechtstheorie 22 (1991), S. 449 – 460. 2  Ein weiterer äußerst wichtiger Text, der dessen Vorläufer war, ist Hruschkas Strukturen der Zurechnung, Berlin, 1976, in dem bereits auf bestimmte Fortschritte der Zurechnungslehre eingegangen wird. Ebenso Hruschka, „Imputation“, in: Eser / Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung. Rechtsvergleichende Perspektiven. Justification and Excuse. Compara­ tive perspectives, Freiburg i. B.: Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, 1987, S. 121 – 174. Als ich für die Koordinierungsarbeit der spanischen Fassung einiger seiner Arbeiten (Hruschka, Imputación y Derecho penal. Estudios sobre la teoría de la imputación, Cizur Menor: Aranzadi, 2005; Montevideo / Buenos Aires: BdeF, 2009) zuständig war, zogen wir die Möglichkeit in Betracht, diese beiden aufzunehmen; dennoch zog Hruschka es vor, dies nicht zu tun, da es sich um Inhalte handelte, die in späteren Arbeiten vollkommener und vollständiger waren. In erster Linie in „Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln“. 3  Konkret wurde dies von Hruschka im deutsch-spanischen Seminar über die Rechtfertigungs- und Ausschlussgründe von Tatbestandmäßigkeit dargelegt, das von Luzón Peña und Mir Puig an den Universitäten Alcalá de Henares und Barcelona im März 1990 veranstaltet wurde; vgl. Luzón Peña / Mir Puig (Hrsg.), Causas de justificación y de atipicidad en Derecho penal, Pamplona: Aranzadi, 1995, S. 13. Der Text von Hruschka findet sich auf den Seiten 171 – 186. 4  Neben der unter Fn. 3 genannten Stelle wurde er in Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales 47 (1994), S. 343 – 356 veröffentlicht. Vgl. hierzu Silva Sánchez, „Prof. Dr. Francisco Baldó Lavilla. In memoriam“, InDret Penal 2 /2017, S. 1 – 2.

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werde dies anhand einiger zweifelsohne enigmatischer und doch auch programmatischer Worte am Ende dieses Artikels tun. Ich halte dies für eine angemessene Art, eine Persönlichkeit zu würdigen, die ein höchst bereicherndes Strafrechtsgebiet geprägt hat. Dieser Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut: Im Anschluss an eine Einführung (I.) folgt eine Einschätzung, inwieweit die Schlüsselbeiträge der Zurechnungslehre nach wie vor für unsere Vorgänge der Zuschreibung von Verantwortlichkeit von Interesse sind (II.). Anschließend folgt eine Überlegung zur Möglichkeit des Aufbaus der Straftatbegriffe unter Beibehaltung der Beiträge der Zurechnungslehre (III.). Den Abschluss bildet dann die mögliche gegenseitige Einflussnahme zwischen den Straftatbegriffen und der Zurechnungslehre (IV.). I. „Freilich gilt hier nicht das nachklassische Schema“ 1. Am Ende des erwähnten Artikels und nachdem er die strukturellen Kategorien der Straftatbegriffe mit ihren historischen Grundlagen dargelegt hat, äußert Hruschka schließlich lapidar: „Freilich gilt hier nicht das nachklassische Schema von ‚Tatbestandmäßigkeit / Rechtswidrigkeit / Schuld‘, das in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gelehrt wurde und bis heute fortwirkt. Dieses Schema beruht auf einer Verkehrung der ihm zugrunde liegenden Strukturen“. Anschließend schlägt er vor, sich auf drei Unterscheidungen zu konzentrieren: Zurechnung erster Stufe, das Urteil der Rechtswidrigkeit sowie Zurechnung zweiter Stufe. Und kommt zu dem Schluss, dass es nicht so sehr darum geht, die Vorschriften des positiven Rechts zu untersuchen, sondern vielmehr die „dem ‚positiven‘ Recht vorausliegende Logik der vorschreibenden und zuschreibenden Sprache.“5. In Anbetracht dieser lapidaren, abschließenden Worte stellt sich die Frage nach der Nichtgültigkeit des nachklassischen Schemas. Denkbar sind Gründe unterschiedlicher Art. Mit Blick auf die genannten Arbeitsinhalte Hruschkas müssen dies vor allem inhaltliche und strukturelle Gründe sein. Dagegen scheint es nicht angemessen, auf eine äußere Auseinandersetzung etwa mit der Kriminalpolitik oder der Verfassung zurückzugreifen, da dies außerhalb des Interesses unseres Autors lag. Lassen Sie uns nun diese begrifflichen und strukturellen Gründe betrachten6. 2. In begrifflicher Hinsicht besteht die Gefahr, die Zurechnungskategorien in die Sprache der Straftatbegriffe zu übersetzen. In diesem Sinne könnte man nach einer bestimmten Korrelation zwischen der imputatio facti und der Tat, zwischen applicatio legis ad factum und der Tatbestandmäßigkeit-Rechtswidrigkeit sowie 5 Vgl. Rechtstheorie 22 (1991), S. 460. Wenn ich es richtig verstehe, erlangen diese abschließenden Worte im Rahmen des Symposiums, dessen allgemeines Thema Rechtfertigungsund Ausschlussgründe von Tatbestandsmäßigkeit waren und in dem sie vorgetragen wurden, eine besondere Bedeutung (Fn. 3). 6  Dies basiert auf der begrifflichen Einteilung in Kategorien, die vor dem positiven Recht bestanden: vgl. ibidem.

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zwischen der imputatio iuris und der Schuld suchen7. Die Entsprechung ist jedoch weder vollständig noch vollkommen. Und es kann auch gar nicht anders sein: denn es gibt ihn, diesen gewissen Widerstand der Begriffe, in Abhängigkeit der Kategorien, auf die sich die Zurechnungslehre bezieht, modelliert zu werden. Ferner darf man, selbst wenn es eine gewisse Entsprechung gäbe – und es gibt sie –, nicht außer Acht lassen, dass die Zurechnungslehre den Straftatbegriffen begrifflich und zeitlich vorausgeht. Von den Straftatbegriffen auf die Zurechnungslehre zu kommen, scheint mir nicht der richtige Weg zu sein. Möglicherweise wäre es besser, sich anzusehen, wie sich die Zurechnungslehre mit der Einführung der Taxonomie in den gebräuchlichen Straftatbegriffen verwässert hat. Andererseits ist es jedoch erforderlich zu berücksichtigen, dass die Zurechnungslehre kein seit Jahrhunderten etabliertes, doktrinäres Korpus ist, sondern sich entsprechend der Notwendigkeit, menschliches Handeln zu verstehen, allmählich herausgebildet hat. In diesem Sinne ist es das Verdienst Hruschkas, die Zurechnungskategorien rekonstruiert und eingeordnet zu haben8. Ich bin daher der Auffassung, dass sich die Frage nicht als bloße historische Weiterentwicklung9, sondern als systematische Alternative stellt. Tatsächlich ist das Erkennen von – größeren oder kleineren – Entsprechungen nicht so relevant wie das Erkennen von Divergenzen. Und eine Divergenz liegt aufgrund des doppelten Charakters der Zurechnungsurteile (imputatio facti und imputatio iuris) gegenüber der  applicatio vor. Nun ist es wiederum – und auch zuvor – erforderlich, bei jedem dieser Urteile zwischen Zurechnungsobjekt und Zurechnungsregeln sowie zwischen der Doppelbedeutung des Zurechnungsurteils erster und zweiter Stufe und den beiden Zurechnungsordnungen (ordentliche und außerordentliche10) zu unterscheiden. Aufgrund dieser Divergenzen empfiehlt sich die Vermeidung eines Parallelismus oder einer Entsprechung zwischen Kategorien: dies wäre ein schwieriges Unterfangen. 7  Ich selbst habe nach diesen Parallelen gesucht: vgl. Sanchez-Ostiz, „Auswirkungen der Zurechnungslehre in den aktuellen Verbrechenslehren“, in: Byrd / Joerden (Hrsg.), Philosophia Practica Universalis. Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag (Jahrbuch für Recht und Ethik – Annual Review of Law and Ethics 2005), S. 669 – 679; Imputación y teoría del delito. La doctrina kantiana de la imputación y su recepción en el pensamiento jurídico-penal contemporáneo, Montevideo / Buenos Aires: BdeF, 2008, S. 503 – 570. 8  Insbesondere ist der von uns besprochene Artikel ein anschauliches Beispiel für diese mittlerweile rekonstruierte Begriffslandschaft, wobei man sagen kann, dass es schwierig ist, mehr in weniger Zeilen zu sagen. 9  Vgl. dagegen den Ansatz von Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin: Duncker & Humblot, 1996, § 22.I. Da die Zurechnungslehre zeitlich vorausgeht, kann sie als historischer Vorläufer der Straftatbegriffe betrachtet werden. Die Zurechnungslehre ist jedoch weit mehr als das: sie rückt in den Bereich einer Handlungsphilosophie. 10  Bei der außerordentlichen Zurechnung zeigt sich die bedeutende Arbeit Hruschkas: er erforscht die Quellen („Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf. Zur Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa“, ZStW 96 [1984], S. 661 – 702), ordnet die Kategorien ein (Rechtstheorie 22 [1991], S. 456 – 458) und schlägt ihren Gebrauch für die Vorgänge im Strafrecht vor (Strafrecht nach logisch-analytischer Methode. Systematisch entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allgemeinen Teil, 2., überarb. und erg. Aufl., Berlin: Gruyter, 1988, S. 274 – 386 [Kap. IV]).

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3. Unterschiede bestehen auch in struktureller Hinsicht; aufgrund dieser Unterschiede empfiehlt es sich, die Zurechnungslehre und die Straftatbegriffe voneinander getrennt zu halten. Ich beziehe mich konkret auf die vorstehenden Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Zurechnungsobjekt und den Regeln für diese Zurechnung. Wie bereits erwähnt11, ist der Geltungsbereich einer Norm (das Verbotene, das Gebotene usw.) von den Bedingungen ihrer Befolgung zu trennen. Bei den Straftatbegriffen gibt es einen dominanten Ansatz, wie etwa den der Konzep­tion als Verfahren zur Feststellung von Merkmalen, die für die Strafbarkeit erforderlich sind. Sofern dies bedeutet, dass alle Vorgänge einem nachfolgenden Verfahren zur Feststellung notwendiger Voraussetzungen gleichgestellt werden12, halte ich dies für völlig inakzeptabel. Gleichwohl ist zu bedenken, dass dieses Verständnis der Straftatbegriffe einen nicht unerheblichen Reiz auf Studenten und Rechtsanwender ausübt. Ihre Fähigkeit, Ideen einzuordnen, die stufenweise Entwicklung der Kategorien sowie die binäre Taxonomie der Begriffe entfalten eine systematisierende Kraft, die begeistert. Diese positive Wirkung auf die Rechtsanwender allein rechtfertigt allerdings nicht eine von einem Autor vorgeschlagene Richtigkeit der Straftatbegriffe, und noch weniger ihre Wissenschaftlichkeit. Vielmehr sind Zweifel angebracht, ob dies die eigentliche Aufgabe der Rechtskonkretisierung ist. Denn in einem bestimmten Fall Recht zu sprechen bedeutet zurechnen, bewerten und entscheiden. Und dies ist charakteristisch für die Zurechnungslehre. II. Aber gilt die Zurechnungslehre? 1. Der im Zitat zu Beginn dieses Beitrags ausgedrückten Ablehnung Hruschkas muss die Frage entgegengehalten werden, ob die Zurechnungslehre besser geeignet ist, die Probleme der Zuschreibung von Verantwortlichkeit zu lösen. Seiner Auffassung nach ist die Zurechnungslehre nicht die Gesamtheit von gemeinsamen Voraussetzungen, die als gemeinsame Bedingungen einer Straftat, als eine Art „allgemeine Verantwortlichkeitsbedingungen“ (als bestünde gewissermaßen eine Parallele zu den „allgemeinen Vertragsbedingungen“) fungieren; ebenso wenig handelt es sich um eine Übung zur Dogmengeschichte für wissensdurstige oder schöngeistige Strafrechtswissenschaftler, und schon gar nicht handelt es 11 So Kindhäuser, Gefährdung als Straftat. Rechtstheoretische Untersuchungen zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1989, S. 29 – 30, 39, 65 („aus logischen Gründen“); implizit, Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, Berlin: Duncker & Humblot, 1992, S. 19, sowie ausdrücklich in Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, Berlin: Duncker & Humblot, 1993, S. 42, 62; ausführlicher in Mañalich, Nötigung und Verantwortung. Rechtstheoretische Untersuchungen zum präskriptiven und adskriptiven Nötigungsbegriff im Strafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 36 – 37, 46. 12 Vgl. Frisch, Strafe, Straftat und Straftatsystem im Wandel, GA 2015, S. 65 – 85, der auf die Entwicklung eines Straftatkonzepts als „gegenständliche“ Realität verweist (S. 4). Ich habe auf weitere Inkongruenzen zwischen den nach dem positivistischen Modell aufgestellten Straftatbegriffen hingewiesen, in Sánchez-Ostiz, Fn. 7, 2008, S. 503 – 510.

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sich um eine weitere Position zum Thema Straftat in der bereits langen Reihe an Straftat„lehren“. Sinn und Bedeutung der Zurechnungslehre beruhen darauf, dass sie analytisch und somit ahistorisch und transnational ist. Sie als Ausgangspunkt zu betrachten, gewährleistet daher die strukturelle Richtigkeit. Darüber hinaus können unter diesem Gesichtspunkt wertende Betrachtungen, welche durch die präventiven Erfordernisse jeder Epoche und Nation bedingt sind, berücksichtigt werden. Dies steht daher nicht im Widerspruch mit den im Folgenden dargelegten – veränderlichen – Inhalten. Insofern birgt die Zurechnungslehre das Risiko des Formalismus. Formalistisch wäre dieser Rückgriff auf die Kategorien der Zurechnung, um jedweden konkreten Inhalt zu berücksichtigen. Dies scheint mir nicht die Sicht von Hruschka zu sein, wenn er vorschlägt, den Blick auf die Kategorien der Zurechnung zu richten. Vielmehr belegen diese Kategorien die Rationalität des Urhebers und des Zurechnenden; eine Rationalität, die eine mitnichten formalistische Anthropologie aufzeigt und auf der Freiheit, Sozialität und Würde des Menschen beruht. Ich beziehe mich hier nicht ausschließlich auf die Anthropologie im Zusammenhang mit der Philosophie Kants, obgleich Kant eben dieses Konzept der Zurechnung in Die Metaphysik der Sitten13 behandelt. Die Kategorien existierten bereits viele Jahrhunderte zuvor und überdauern die Zeit. Meilensteine dieser Entwicklung sind: Pufendorf und die Autoren des rationalistischen Naturrechts14; die Spätscholastik15; die mittelalterliche scholastische Philosophie16 sowie die aristotelische Ethik17. Ich bin daher der Auffassung, dass die Bezeichnung „formalistisch“ der Zurechnungslehre nicht gerecht wird. 2. Ihr analytischer Charakter besteht darin, dass sie mit Aussagen und Meinungen operiert, deren Inhalt bereits in das Gebiet des Verweises fällt. Es handelt sich um eine der möglichen Bedeutungen von „analytisch“, welche durch die Art und Weise, wie Hruschka selbst den Ausdruck verwendet, belegt und in seiner an 13 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA, VI, S. 227 – 228. Vielmehr kann die Unvollständigkeit der Kategorien in dem Zitat dieser kantianischen Textpassage, die nicht einmal durch einen Besuch der Ethikvorlesungen behoben wird, nicht verkannt werden. Vgl. Joerden, „Zwei Formeln in Kants Zurechnungslehre”, ARSP 77 (1991), S. 525 – 538; Sánchez-Ostiz, Fn. 7, 2008, S. 97 – 165. Das Verdienst Hruschkas rührt daher, dass er die Einordnung der gefundenen Begriffe „rekonstruiert“. 14  Wichtig sind die Verweise auf die Autoren, die Kant verwendet (vgl. Hruschka, Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767. Zur Geschichte der deontischen Grundbegriffe in der Universaljurisprudenz zwischen Suarez und Kant, Hamburg: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986), sowie sein Verweis auf Pufendorf (Fn. 10, 1991). 15  Es wäre sinnvoll, die Überlegungen zu Sittlichkeit und Handlung bei zahlreichen Autoren der Spätscholastischen Schule von Salamanca eingehender zu erforschen. 16 Vgl. Hruschka, „Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin“, in: Stratenwerth et al. (Hrg.), Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag, Berlin: Gruyter, 1974, S.  115 – 149. 17  Soweit die Relectiones von Thomas von Aquin als Brücke zwischen Aristoteles und der Moderne fungieren.

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verschiedenen Stellen geäußerten Position bekräftigt wird. Im Hinblick auf den letztgenannten Punkt darf der Titel seines Werks Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, in dem er darüber hinaus die Bedeutung von „analytisch“ und „synthetisch“ beschreibt, nicht außer Acht gelassen werden18. Meiner Ansicht nach gibt es folglich Gründe, von dieser Bedeutung des Analytischen auszugehen, die sich im Übrigen durch die an anderen Stellen getätigten Äußerungen zur Rolle der Strafrechtsdogmatik bestätigt. Tatsächlich begreift er die dogmatische Arbeit als eine Aufgabe zur Erforschung der bestehenden transnationalen und ahistorischen Strukturen, um uns Verantwortlichkeit zuzuschreiben19. Andere Bedeutungen des Begriffs „analytisch“ stehen nicht im Widerspruch zu den vorstehenden Beschreibungen. Insbesondere, wenn mit „analytisch“ die Fähigkeit zur Unterscheidung von Begriffen hervorgehoben werden soll, gilt dies auch für die Zurechnungslehre. Dennoch wäre dies nicht das alleinige und ausschließliche Merkmal der Zurechnungslehre und daher nichts Spezifisches, das der Identifizierung ihrer selbst diente20. Der Begriff „analytisch“ kann ferner mit einer Sicht verknüpft werden, welche auf die Sprache mit ihren Verwendungsweisen und Strukturen verweist. Und in diesem Sinne hat der Ansatz Hruschkas21 etwas Analytisches, wenngleich dies auch nicht das Wesentliche und Bestimmende der Zurechnungslehre ist. Möglicherweise gibt es eine gewisse Ähnlichkeit mit den Ansätzen der Sprachphilosophie und eine gewisse Annäherung einiger Grundgedanken an diejenigen analytischer Autoren. 3. Wie bereits erwähnt (Abs. 1) liegt die Stärke der Zurechnungslehre in ihrem analytischen Charakter, da sie strukturell und somit ahistorisch und transnational ist. In der Tat gilt es, die mit dem konkreten Wortlaut eines Strafgesetzes – ebenso wie die mit einem Gesetzgeber einer konkreten Epoche – verbundenen Sichtweisen der Straftatbegriffe zu überwinden. Hierin liegen der Vorteil und der Beitrag der Zurechnungslehre. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Lehre geeignet ist, die Probleme der Praxis zu lösen. Meiner Ansicht nach ist sie das, soweit eine Lehre dies leisten kann, da sie in hohem Maße von der Art und Weise abhängig ist, wie die Rechtsanwender sie einsetzen. Unter diesem Vorbehalt kann jedoch zweifellos festgestellt werden, dass die Zurechnungslehre geeignet ist, praktische Probleme zu lösen. Ihre analytische Fähigkeit ist eine primäre Voraussetzung für   Vgl. Fn. 10, 1988, S. 397 – 399.   Vgl. beispielsweise, „Das Strafrecht neu durchdenken! Überlegungen aus Anlass des Buches von George P. Fletcher, Rethinking Criminal Law“, GA 1981, S. 237 – 250; „Kann und sollte die Strafrechtswissenschaft systematisch sein?“, JZ 1985, S. 1 – 10; „Vorpositives Recht als Gegenstand und Aufgabe der Rechtswissenschaft“, JZ 1992, S. 429 – 438. 20  Tatsächlich sollte sich jeder Straftatbegriff, der diesen Namen verdient, auf die analytische Fähigkeit stützen. Insofern bringt es wenig, über die Zurechnungslehre zu sagen, sie weise in diesem Sinne einen analytischen Charakter auf. 21  Andere Strafrechtswissenschaftler haben dagegen auf analytischer Grundlage Konstrukte mit dieser dritten Bedeutung entwickelt, wobei jedoch mit zunehmender Lektüre plötzlich Unstimmigkeiten in ihrem Ansatz auftreten. 18 19

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die Erreichung angemessener Lösungen. Ich erinnere insbesondere an die vorstehend genannten Beiträge (I, Abs. 2): die Unterscheidung zwischen zwei Zurechnungsstufen (imputatio facti und imputatio iuris), zwischen Zurechnungsregeln und Zurechnungsobjekt, zwischen Bewertung nach einer Regel und Zurechnungsurteilen, sowie zwischen ordentlicher und außerordentlicher Zurechnung. Diese Unterscheidungen stehen nicht nur dem modus operandi des Strafverfahrens zur Feststellung von Verantwortlichkeit für eine Straftat nicht entgegen, sondern entsprechen der Trennung zwischen Ermittlung und Untersuchung versus richterliche Entscheidung, zwischen Anklage gegen eine Person wegen ihrer Handlung und dem Straftatbestand, sowie zwischen Unrecht (aufgrund des Verhaltens) und Schuld (des Rechtssubjekts). Letztlich lautete die Antwort auf die Frage, die diesem Abschnitt voransteht: ja, die Zurechnungslehre gilt. Zumindest sehe ich keinen Grund, diese Lehre zu verwerfen oder auf sie zu verzichten. Jedoch stellt sich, mit dem Rückgriff auf die Zurechnungslehre, sofort die Frage, ob es möglich ist, eine Vereinbarkeit der Zurechnungslehre mit den Straftatbegriffen herzustellen. III. Sind Straftataufbau und Zurechnungslehre miteinander vereinbar? 1. Ein erster zu berücksichtigender Beitrag der Zurechnungslehre ist die Unterscheidung zwischen Zurechnungsobjekt und Zurechnungsregeln. Bei der Zurechnung stellen wir nicht nur einen Verknüpfungszusammenhang zwischen zwei Phänomenen her, wie bei der Kausalität. Beim Zurechnen schaffen wir ein neues Rechtsgebilde, das zum Objekt der Zurechnung wird: zunächst die Tat, und anschließend den Vorwurf an seinen Urheber. Die Frucht der Vorgänge zurechnenden Inhalts – das Objekt der Zurechnung ist jetzt die Tat – ist das Ergebnis der Anwendung von Regeln, nach denen wir einem Rechtssubjekt in dem Verfahren, das gegen dieses Rechtssubjekt angestrengt wird, eine Tat zuschreiben. Dies erfordert eine Überprüfung des Sachverhalts auf der Grundlage der Kenntnis desselben sowie die Ausübung des Willens hinsichtlich dieser Kenntnis. Umgekehrt verhindern fehlende Kenntnis (Irrtum) oder fehlender Wille (Gewalt) die Zurechnung des Vorgangs als Tat des Urhebers. Diese beiden Grundregeln finden sich mehr oder weniger variantenreich im vergleichenden Recht sowie in der historischen Entwicklung der Allgemeinen Teile des Strafrechts. Darüber hinaus gehen sie, da sie nicht nur von der Kategorie „Straftat“ abhängen, mit den Ausschlüssen oder Willensmängeln bei zivilrechtlichen Pflichten einher und gelten im Übrigen sogar für das Opfer als „Rechtssubjekt der Straftat“22. Dieser Unterscheidung zwischen Zurechnungsregeln und Zurechnungsobjekt kommt eine noch stärkere Bedeutung 22  Daher sprechen wir von Einverständnis des Opfers oder von dessen Mitverantwortung gemeinsam mit dem Täter sowie von der Einschränkung der Verantwortung des Täters je nach Sachverstand des Opfers. Ich habe auf diesen Umstand bereits Bezug genommen in Sánchez-Ostiz, Víctimas e infractores, cumplidores y héroes. La culpabilidad en clave de imputación, Montevideo / Buenos Aires: BdeF, 2018, S. 15 – 35.

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zu: Hier zeigt sich, wie das Recht davon ausgeht, dass seine Adressaten Normen verstehen, sich an diesen Adressaten orientieren und sich für diese entscheiden können. Doch in der Lage zu sein, diese Normen zu erfüllen und zu kennen, ist etwas, das die Verhaltensregeln an sich nicht verlangen, ebenso wenig wie diese Regeln dazu dienen, ihre Befolgung im Falle von Irrtum oder Gewalt auszuschließen. Dabei handelt es sich um Normen, deren Voraussetzungen für eine Befolgung nicht in der eigentlichen Verhaltensnorm gefordert werden. Es erfolgt ein Kategoriesprung von den Verhaltensregeln (Verboten …) zu der Anforderung, diesen gerecht zu werden (Kenne die Normen und lasse dich von ihnen leiten!)23. Wir können nicht verkennen, dass die Straftatbegriffe sowohl Verhaltensregeln als auch Zurechnungsregeln miteinander verknüpfen; allerdings kann der Hinweis, dass es sich um unterschiedliche Regeln handelt, sehr hilfreich sein. Vorerst soll ein Hinweis darauf genügen, dass Verhaltensregeln nicht die Voraussetzungen für ihre eigene Befolgung enthalten: das Verbot oder Gebot einer Handlung sind etwas anderes als die Zurechnung von etwas als Handlung oder Unterlassung (und von etwas Rechtswidrigem als Vorwurf). 2. Eine weitere Differenzierung der Zurechnungslehre, die im Hinblick auf die Straftatbegriffe für Aufregung sorgen mag, ist die Unterscheidung zwischen den beiden Zurechnungsstufen. Tatsächlich rechnet die imputatio facti einen Vorgang als Tat zu, was etwas anderes ist, als einem Urheber eine Tat als Vorwurf zuzurechnen. Es sei darauf hingewiesen, dass wir zunächst den Vorgang zurechnen, der dem Rechtssubjekt als Tat entgegengehalten wird; gleiches gilt für die Fälle von Untätigkeit, die als Unterlassung zugerechnet werden. Es sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass die Zurechnung auf dieser Stufe nur sehr rudimentär, jedoch keineswegs irrelevant ist. Die Tat unterscheidet sich von der Natur oder dem Zufall. Und sie basiert darauf, dass beim Urheber Kenntnis und Willen vorliegen (minimale Willentlichkeit). Auf einer weiteren Stufe erfolgt die Zurechnung zum Urheber als Vorwurf aufgrund einer normwidrigen Tat; gleiches gilt für die Zurechnung als Verdienst von Taten, die über die Norm hinausgehen: das supererogatorische Verhalten. Auch diese Zurechnungsstufe basiert auf Kenntnis und Wille, wobei jedoch eine Verwendung anderer Begriffe sinnvoll wäre, da Kenntnis und Wille hier nicht die gleiche Bedeutung haben wie auf der ersten Stufe. Besser wäre es, an dieser Stelle von „Wissen“ und „Freiwilligkeit“ zu sprechen. Diese Unterscheidung ist ein Schlüsselbeitrag der Zurechnungslehre und kann nicht nur als historischer Vorläufer der Straftatbegriffe angesehen werden. So ist die imputatio facti konkret nicht mit der Verhaltenskategorie der Straftatbegriffe gleichzusetzen. Tatsächlich enthielte diese Verhaltenskategorie, soweit die imputatio facti Kenntnis und Willentlichkeit einschließt, bereits mehr als nur Verhalten, nämlich Vorsatz gemäß denjenigen, die ihn als Kenntnis und Wille definieren24.   Vgl. Fn. 11.  Oder, für diejenigen, die ihn nur in kognitiver Hinsicht verstehen, mehr als Vorsatz: Hrusch­ka, „Über Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes“, in: Gössel et al. (Hrsg.), 23 24

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Darüber hinaus kann Vorsatz, nachdem er identifiziert wurde, nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern bezieht sich auf einen Handlungsverlauf, ein verursachendes Objekt oder einen verursachenden Vorgang oder eine Untätigkeit, wenn man so will. Somit würde die imputatio facti bereits etwas Objektives als Referenzbegriff des Vorsatzes einschließen. Mehr noch: indem man das Objekt und das Subjekt der imputatio facti bereits inhaltlich füllte, würde man die Tatbestandmäßigkeit inhaltlich entleeren. Mit der Kategorie Schuld würde etwas Merkwürdiges geschehen: die sogenannte „Zurechnungsfähigkeit“ oder Schuldfähigkeit erweist sich als die Kategorie, welche am wenigsten mit der Zurechnung zu tun hat, während andere Subkategorien, wie etwa die Kenntnis der Rechtswidrigkeit oder Unzumutbarkeit, die doch eindeutig zurechnend sind, oftmals nicht im zurechnenden Sinne verstanden werden. Dies weist darauf hin, dass Zurechnungslehre und Straftatbegriffe sich nicht parallel, sondern getrennt voneinander entwickelt haben. Daher kommt den Worten Hruschkas zu Beginn dieses Beitrags besondere Bedeutung zu: tatsächlich erweist sich das nachklassische Schema, sobald wir in die Zurechnungslehre einsteigen, als ungeeignet. 3. Im Zusammenhang mit den beiden vorangehenden Abschnitten bietet sich uns eine dritte Unterscheidung in der Zurechnungslehre. Ich beziehe mich auf die Unterscheidung zwischen dem Zurechnungsurteil und dem Bewertungsurteil. Insbesondere geht es darum, die applicatio legis ad factum als Tatmaßstab oder -bewertung zu unterscheiden. Dieses Urteil erfordert – jetzt – die Anwendung der Verhaltensregeln in ihrer Funktion als Maßstab. Dies ist der Moment, in dem die verwirklichte Tat den Regeln gegenübergestellt wird, welche zum Handlungszeitpunkt galten, um zu beurteilen, ob sie den Regeln angemessen ist, ihnen entgegensteht oder den mit den Regeln beabsichtigten Zweck überschreitet. Aus dieser Vorgehensweise folgt in erster Linie, dass es sich um einen Vorgang handelt, der einen anderen Charakter als die Urteile der Zurechnung hat, und dass diese Vorgehensweise nicht auf der Anwendung von Verhaltensregeln (Kenntnis und Wille) basiert, sondern auf der Bewertung oder Bemessung der verwirklichten Tat. Dieses Bewertungsverfahren folgt der imputatio facti nach und setzt diese voraus, da es als Erstes eine Tat erfordert; und er geht der Zurechnung der zweiten Stufe oder imputatio iuris voraus, da er darauf schließen lässt, ob die Tat ungerechtfertigt ist oder nicht. Dies ist der eigentliche Moment der Entscheidung darüber, ob die verwirklichte Tat unerlaubt ist oder nicht. Doch auch hier wäre es übereilt, dieses Urteil der Widersprüchlichkeit zur Norm mit der Rechtswidrigkeit aus den Straftatbegriffen gleichzusetzen, da sie – wie zwei getrennte Stufen – oftmals mit der Kategorie Tatbestandmäßigkeit verbunden ist, obwohl dieser Ansatz keinen Platz für eine Ausweitung der Untersuchung auf zwei Stufen böte (vgl. infra, IV, Abs. 4). Die Dualität könnte zwischen Verbot und Gebot gegenüber Erlaubnis bestehen, soStrafverfahren im Rechtsstaat. Festschrift für T. Kleinknecht zum 75. Geburtstag, München: Beck, 1985, S. 191 – 202; Strafrecht (Fn. 10), S. 195 – 211, 434 – 437; „Der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils nach heutigem Strafrecht. Zur Konsistenz möglicher Konzeptionen von der Bedeutung der Tatumstandsirrtümer“, GA 1980, S. 1 – 22.

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weit es nicht möglich ist, dieselbe Handlung gleichzeitig und in dergleichen Situation zu untersagen und zu erlauben. Bei diesem Bewertungsurteil (applicatio legis ad factum) wiederum treten abermals die subjektiven Merkmale in Erscheinung, welche bereits bei der Zurechnung erster Stufe berücksichtigt wurden. Denn das Urteil der applicatio ist anderer Natur als die Urteile der Zurechnung: ihre Bedeutung und Operativität besteht nicht in der Zurechnung der Tat oder in der Zurechnung als Vorwurf (abgesehen von den Fällen der Zurechnung als Verdienst, wenn das Rechtssubjekt mehr als seine Pflicht geleistet hat), sondern in der Bewertung der zugerechneten Tat. Wir kommen also nun zur Bewertung einer Tat und damit gleichzeitig zu den objektiven und subjektiven Merkmalen. Es geht allerdings darum, das Zugerechnete zu bewerten: daher werden die subjektiven Merkmale nicht nochmals zugerechnet, vielmehr werden diese anhand der Verhaltensregel bewertet. Der Vorsatz wird ebenso betrachtet wie andere, in der entsprechenden Legaldefinition enthaltene, subjektive Merkmale. Wie sich leicht folgern lässt, entspricht diese Stufe der Zurechnungslehre nicht in vollem Umfang der Tatbestandmäßigkeit-Rechtswidrigkeit aus den Straftatbegriffen. Somit gewinnt die Warnung Hruschkas in Bezug auf das nachklassische Schema abermals an Bedeutung. Doch jenseits dieser Unterschiede bin ich der Auffassung, dass die Unterscheidung zwischen Zurechnen und Bewerten, zwischen imputatio facti und applicatio legis ad factum sowie zwischen applicatio und imputatio iuris gute Argumente sind, um Unrecht und Schuld voneinander getrennt zu halten. 4. Eine vierte Unterscheidung setzt die Einführung der Kategorie der außerordentlichen Zurechnung voraus. Mit dieser von Hruschka vorgeschlagenen Kategorie auf Basis der Beiträge der klassischen Autoren wird eine Vorgehensweise bei Zurechnungsvorgängen festgelegt. Konkret geht es darum, eine Zurechnung auch dann vorzunehmen, wenn die erforderlichen Merkmale nicht vorliegen. Dies dient sowohl der Feststellung der imputatio facti als auch der imputatio iuris. Dies gilt jedoch nicht beim Urteil der applicatio, soweit diese keinen zurechnenden Charakter hat. Die außerordentliche Zurechnung behält den Tat- und Vorwurfscharakter in den Fällen, in denen Kenntnis- oder Willensmängel sowohl auf der ersten, als auch auf der zweiten Zurechnungsstufe bestehen. Auf diese Weise gewinnen die Fälle von Verbotsirrtum an Kohärenz und Gehalt, sei es im Hinblick auf den Tatbestand oder auf die Tatbestandmäßigkeit; gleiches gilt für die Fallgruppen der actio libera in causa, sei es im Hinblick auf den grundsätzlichen Willen oder die Willentlichkeit, sei es im Hinblick auf die Freiwilligkeit25. Allerdings setzen ihre Bedeutung und Operativität ein Zurechnungskonzept voraus, das gewöhnlich nicht in den Straftatbegriffen angewendet wird. Dabei ist es üblich, die Fallgruppen der actio libera in causa von denen der Fahrlässigkeit zu trennen26. Auf diese Weise 25 In „Regreßverbot, Anstiftungsbegriff und die Konsequenzen“, ZStW 110 (1998), S. 581 – 610 verwendet Hruschka diese Dualität zwischen Willentlichkeit und Freiwilligkeit, die ich mit Volition („volición“) beziehungsweise Freiwilligkeit („voluntariedad“) ins Spanische übersetzt habe. Beiden gehen jeweils die Begriffe Kennen („conocer“) und Wissen („saber“) voraus (vgl. Sánchez-Ostiz, Fn. 7, 2008, S. 446).

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wird außer Acht gelassen, was sie miteinander gemein haben: mangelnde Zurechnungsvoraussetzungen bei Kenntnis oder Wille. 5. Die vorstehenden Ausführungen zeigen in hinreichender Weise, dass sich die Kategorien und Strukturen der Zurechnungslehre von denen der Straftatbegriffe unterscheiden. Mehr noch: es wäre ein Fehler, sie einander gleichsetzen zu wollen, so als handle es sich um eine bloße Vorstufe seiner geschichtlichen Entwicklung. Die Straftatbegriffe dagegen verdanken ihre Entstehung dem – an sich nicht kritikwürdigen – Ansinnen, die rechtlichen Voraussetzungen der Strafe aufgrund der Begehung eines Verbrechens einordnen zu wollen. Ausgangspunkt dieser Straftatbegriffe sind die Bestimmungen des jeweiligen Gesetzestextes, durch den sie bedingt sind, sowie die Lehre, aus der sie sich entwickeln 27. Die Zurechnungslehre dagegen versteht sich als Ausdruck der Handlungsphilosophie, unabhängig vom Normensystem, dem sie dient. Ich glaube daher nicht, dass die Straftatbegriffe eine Weiterentwicklung der Zurechnungslehre sind, denn man erkennt eine Zäsur zwischen beiden Lehren. Dieser Bruch beginnt mit den Beiträgen Feuerbachs und endet mit den Konstrukten von Liszts. Den als Hegelianer bezeichneten Autoren gelang es nicht, ihr Ansinnen, den Blick auf die Handlung zu richten, zu verhindern. Im Übrigen bedeutet dies nicht, dass all die doktrinären Anstrengungen, die in Bezug auf die Straftatbegriffe unternommen wurden, umsonst gewesen wären. Im Folgenden möchte ich auf die Beiträge der Straftatbegriffe von besonderer Bedeutung hinweisen, sodass zwischen der Zurechnungslehre und den Straftatbegriffen Brücken geschlagen werden können. IV. Um Brücken zu bauen 1. Ein erster, besonders wichtiger Beitrag der Straftatbegriffe besteht in der Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld. Gewiss kommt die Zurechnungslehre anhand des Unterschieds zwischen Zurechnung und Anwendungen des Fallrechts zu dieser Unterscheidung und folglich auch zur Unterscheidung zwischen dem Supererogatorischen und dem Verdienst. Hierbei sind die Gründe, die bei den Straftatbegriffen zur Trennung von Unrecht und Schuld gelten, beachtenswert. Gleichzeitig stellen die Versuche, auf die Unterscheidung zu verzichten und beide Kategorien zu verschmelzen, auch eine Herausforderung für die Zurechnungslehre dar. Tatsächlich ist das Ersetzen der Vorgänge zur Beurteilung der Rechtswid26  Es sei auf die Behandlung in den üblichen Handbüchern hingewiesen: vgl. beispielsweise Jescheck / Weigend (Fn. 9), § 40.IV y §§ 54 – 57. 27  Auf diese Weise wird verständlich, dass bezüglich der Strafbarkeitskategorie derart viele Unterschiede zwischen der deutschen Lehre und anderen Lehren bestehen. So verfügt die spanischsprachige Lehre üblicherweise über eine zusätzliche Straftatkategorie („tatbestandmäßiges, rechtswidriges, schuldhaftes und strafbares Verhalten“) für die Strafbarkeit (vgl. die Ausführungen von Cerezo Mir, Derecho penal. Parte general, Montevideo / Buenos Aires: BdeF, 2008, S. 313 – 315). Dies gilt nicht für Mir Puig, Derecho penal. Parte general, 10.ª ed., Barcelona: Reppertor, 2016, 5/29 – 37.

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rigkeit der verwirklichten Handlung und des Vorwurfs der Schuld ihres Urhebers durch ein einziges, allgemeines Zurechnungsurteil zumindest wenig analytisch. Hier kommen die Vorzüge des analytischen Denkens (in Bezug auf ihre Unterscheidungsfähigkeit) zum Tragen; diese würden bereits ausreichen, um die Beibehaltung der Trennung zu verteidigen. In diesem Bereich können sich sowohl die Straftatbegriffe als auch die Zurechnungslehre gegenseitig Argumente und Gründe liefern. 2. Ein weiterer Bereich, in dem die Straftatbegriffe einen wichtigen Beitrag leisten können, sind die Kategorien der „objektiven Zurechnung“, Täterschaft und Teilnahme, Unterlassung sowie weitere Kategorien geringeren Gehalts, doch von nicht unerheblicher Relevanz, beispielsweise die subjektiven Unrechtsmerkmale und die gesamttatbewertenden Merkmale. In diesen Kategorien sind die Beiträge der Strafrechtswissenschaftler der letzten fünfzig Jahre weder selten noch wenig relevant. In Bereichen wie der objektiven Zurechnung oder der Täterschaft wurden gewaltige doktrinäre Anstrengungen unternommen, und es wäre unklug, diese zu verwerfen. Nichtsdestotrotz muss darauf hingewiesen werden, inwieweit all diese Themen unter die Kategorie der applicatio legis ad factum der Zurechnungslehre fallen. Diese Einordnung führt dazu, dass der Sinn dieses Verfahren darin besteht, eine Tat zu bewerten und zu bemessen und letztlich ein Gesetz am konkreten Fall anzuwenden. Das ergibt keinen „zurechnenden“ Sinn, selbst wenn die Glieder subjektiver Natur sind. Dies gilt etwa für die subjektiven Unrechtsmerkmale: durch Verwerten und Bemessen der bereits zugerechneten Tat28 bewertet der Urteilende sie nach ihrem Charakter oder ihrer Bedeutung. Aus Sicht der Straftatbegriffe ließe sich sagen, dass dies der Moment der objektiven wie subjektiven Tatbestandmäßigkeit ist. Dies führt dazu, dass die sogenannte „objektive Zurechnung“ in Wirklichkeit ein Bewertungsurteil der Tat (oder der Unterlassung) aufgrund der Norm ist, welche dem Verhalten zum Handlungszeitpunkt zugrunde lag, und dass sie kein im eigentlichen Sinne zurechnender, sondern ein bewertendes Verfahren ist. Es wäre daher sinnvoller, sie ihrem eigentlichen Zweck gemäß zu betrachten und zu bezeichnen: als Tatbestandmäßigkeit29. Im Hinblick auf Täterschaft und Teilnahme ist darauf hinzuweisen, dass es oftmals nicht um Zurechnungsfragen geht, sondern um Fragen der applicatio legis ad factum. Somit haben wir es erneut mit einem Bewertungsurteil der Tat (oder der Unterlassung) anhand der zum Handlungszeitpunkt geltenden Verhaltensregel zu tun. In dieser Hinsicht wären diese Fragen, welche als Täterschaft spezifische Zurechnungsprobleme sind (dies 28  Demzufolge würden Merkmale wie Bereicherungsabsicht zunächst die Zurechnung als Tat (imputatio facti) erforderlich machen, um anschließend mittels Tatbestandmäßigkeit etwa als Diebstahl gewertet zu werden (applicatio legis ad factum). Vgl. Sánchez-Ostiz, La libertad del Derecho penal y otros estudios sobre la doctrina de la imputación, Barcelona: Atelier, 2014, S. 116, 205. 29 Vgl. Sánchez-Ostiz, Fn. 7, 2008, S. 524 – 531; „Ist die ‚objektive Zurechnung‘ objektiv und zurechnend?“, in: Heinrich / Jäger et al. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Berlin ...: de Gruyter,  2011, Bd. 1, S. 361 – 375.

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gilt insbesondere in Bezug auf Kenntnis und Wille des Urhebers und deren Instrumentalisierung bei der mittelbaren Täterschaft) angemessen differenziert30. Die Tatsache, dass Täterschaft und Teilnahme ein spezifisches Thema der applicatio legis sind, erklärt die unterschiedlichen Regelungen der nationalen Strafrechtsordnungen (von einheitlichen Täterbegriffen bis hin zu restriktiven Begriffen)31. Was die Unterlassung32 anbelangt, handelt es sich ebenfalls um eine spezifische Problematik der applicatio legis ad factum (Tatbestandmäßigkeit in den Straftatbegriffen), unbeschadet dessen, dass sich von Anfang an eine Dichotomie zwischen Tun und Unterlassen als imputatio facti (vel omissionis) ergeben könnte. Wie man sieht, besteht hier eine Annäherung an die gleichen Probleme von den Randbereichen der beiden Konzepte (Zurechnungslehre und Straftatbegriffe) her, wobei sich beide gegenseitig befruchten können. Allerdings dürfen sie nicht verwechselt werden, als handle es sich um die gleiche Sachlage. Es ist daher besonders wichtig zu verstehen, wie ein und dasselbe Problem bei verschiedenen Vorgängen angegangen wird. Beispielsweise tritt der Vorsatz – wie bereits erwähnt – bei der imputatio facti und noch einmal zum Zeitpunkt der Bewertung einer bereits zugerechneten Tat auf, soweit und insofern sie mit der Verhaltensregel, welche zum Handlungszeitpunkt (applicatio legis ad factum [vel omissionem]) gilt, übereinstimmt oder nicht. Gleiches ließe sich zur Unterlassung, zu den subjektiven Unrechtsmerkmalen oder zu Täterschaft und Teilnahme sagen, ebenso wie zur objektiven Zurechnung und zu den gesamttatbewertenden Merkmalen. 3. Es gibt weitere Vorgänge, die bei den Straftatbegriffen üblich sind und die in der Zurechnungslehre einen eindeutig zurechnenden Charakter aufweisen. Auch hier sind die Weiterentwicklungen der Straftatbegriffe, die Inhalte in die Zurechnungslehre einbringen könnten, beachtlich. Ich beziehe mich konkret auf den Vorsatz und die Kenntnis der Rechtswidrigkeit sowie auf den Irrtum in beiden Fällen. Bei der Zurechnungslehre geht es um Zurechnungsvorgänge, bei denen die Beachtung dieser Bedeutung sehr hilfreich sein kann, um sie nicht zu wertenden Vorgängen zu machen (applicatio legis ad factum). Darüber hinaus haben Willensentscheidungen einen zurechnenden Charakter im Sinne von Willentlichkeit (bei der imputatio facti) und Freiwilligkeit (bei der imputatio iuris). In beiden Fällen wäre es sinnvoll, bei Willensschwäche oder „Akrasia“ über ein Konstrukt parallel zum Irrtum bezüglich der Kenntnis zu verfügen. Und so wie es Fälle von „Verbotsirrtum“ gibt, könnten wir andere Fälle wie die unentschuldbare Akrasia 30  So in Hruschka, „Regreßverbot, Anstiftungsbegriff und die Konsequenzen“, ZStW 110 (1998), S.  581 – 610. 31  Dagegen erkennt man eine relative Einheitlichkeit und Annäherung der nationalen Regelungen in Bezug auf Irrtum, Zurechnungsunfähigkeit und actio libera in causa, bei denen es sich um Fragen der Zurechnung handelt, die nicht so sehr durch nationale Rechtsvorschriften bedingt sind. 32  Im Hinblick auf die Unterlassung scheinen mir die – mitnichten formalistischen, sondern uneingeschränkt konkret-wertenden – Beiträge von Hruschka, Strafrecht, Fn. 10, S. 68 – 181, höchst relevant, um nach wertenden Symmetrien zwischen den drei Graden oder Stufen der Unterlassung und zahlreichen weiteren Rechtfertigungsgründen zu suchen.

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(gemeint ist der Mangel an hinreichender Willensstärke) begrifflich erfassen, um Fällen der Zurechnung im Wege der actio libera in causa gerecht zu werden. Ausgehend von der Zurechnungslehre sind diese Ansätze leicht nachvollziehbar, und die Straftatbegriffe könnten von ihnen profitieren. So beispielsweise in den Fällen von Unzumutbarkeit und entschuldigenden Notsituationen. 4. Möglicherweise ist es schwieriger, Brücken zu anderen Kategorien zu schlagen. Es ist jedoch nicht unmöglich. Ich erlaube mir, an dieser Stelle die Fälle des Versuchs anzuführen, sofern diese sowohl Zurechnungs- oder als auch Bewertungsfragen aufwerfen33. Dazu zählt auch Hruschkas außerordentliche Zurechnung und die Kategorie der Obliegenheiten34, bei der noch weitere Fortschritte erzielt werden können. Darüber hinaus bleibt eine zusätzliche Frage wie etwa die, ob es in der Zurechnungslehre Raum für die Tatbestandmäßigkeit und zwischen dem Verhalten und dem Bewertungsurteil der Rechtswidrigkeit gibt. Meiner Meinung nach wird der Tatbestandmäßigkeit in der Zurechnungslehre zwischen der Tat und ihrer Beurteilung kein eigener, dazwischenliegender und gesonderter Platz eingeräumt. Dies bedeutet nicht, dass die spezifischen Inhalte der Zurechnungslehre nicht mehr untersucht würden. Ganz im Gegenteil, die Zurechnungslehre führt diese Vorgänge bereits in der applicatio legis aus. Es bestünde jedoch kein Spielraum für ein von der Tat getrenntes Zwischenurteil. *** Damit komme ich zum Ende dieses Beitrags. Das nachklassische Modell ist mit der für die Zurechnungslehre verwendeten Kategorisierung nicht vergleichbar, denn es handelt sich um unterschiedliche Blickwinkel. Bei den Straftatbegriffen geht es insbesondere seit von Liszt darum, die im Strafgesetz vorgesehenen Strafbarkeitsbedingungen einzuordnen. Bei der Zurechnungslehre geht es dagegen darum, der Handlung, der Agency, entweder aus Sicht des Strafrechts oder aus der eines anderen Normensystems gerecht zu werden. In diesem Sinne könnte man in Anlehnung an Hruschka35 sagen, dass die Zurechnungslehre im Strafrecht die Straftat als „Vorwurfsurteil aufgrund der zurechenbaren Verletzung einer Verhaltensregel“ betrachtet. Dies heißt nicht, dass die Anstrengungen und dogmatischen Konstrukte nicht voneinander profitieren könnten. Im Gegenteil. Es bestehen Möglichkeiten der gegenseitigen Einflussnahme, die man sich zu Nutze machen könnte. Eine Übersetzung von Begriffen und Kategorien, als würde es sich um Synonyme 33  Mein Standpunkt in Imputación y teoría del delito (Fn. 7, 2008), S. 555 – 565; La libertad del Derecho penal (Fn. 28), S. 98 – 102. 34  Vgl. hierzu Sánchez-Ostiz, Strafrechtliche Obliegenheiten und Zurechnung, in: Safferling et al. (Hrsg.), Festschrift für Franz Streng zum 70. Geburtstag, Heidelberg: Müller, 2017, S.  137 – 149. 35  Vgl. Fn. 19, 1985, S. 9.

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handeln, ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich. Das Verdienst von Hruschka besteht darin, die Zurechnungslehre erforscht und bisweilen erneuert zu haben. Sie wird auch weiterhin Einfluss auf den dogmatischen Straftataufbau nehmen. Summary Regarding the quotation of Joachim Hruschka (in “Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln”, Rechtstheorie 22 [1991]: “The postclassic ‘Tatbestandsmäßigkeit/Rechtswidrigkeit/Schuld’ pattern, which has been taught during the first half of our century and which has repercussions to this day, is certainly not valid here. This pattern rests on a lack of knowledge of the structures that serve as its basis”), this contribution proposes the possible reasons for such refusal, and it is concluded that there are structural reasons and content divergence between theories of crime and the classical doctrine of imputation. Furthermore, the meaning and relevance of the doctrine of imputation is exposed, which refers to how it is analytical, and therefore ahistorical and transnational. Specifically, the doctrine of the imputation results in differentiating between the object of the imputation and the rules of imputation; also, between two levels of the imputation judgments, and between imputation and valuation; along with the “extraordinary imputation” judgments. Finally, some lines of mutual contribution between the theories of crime and the doctrine of imputation are highlighted in order to achieve a fruitful work.

Urteilskraft, Zurechnung und sozialethischer Tadel Über einen blinden Fleck der Strafrechtstheorie Benno Zabel

I. Der blinde Fleck der Strafrechtstheorie Eine gesellschaftsrelevante Wissenschaft bestimmt sich durch eine reflektierte Sprache, durch Begriffe und Kategorien. Sprache und Semantik, Begriffe und Kategorien ordnen die Welt. Dass das wissenschaftliche Ordnen der Welt zugleich an konkreten Erkenntnisinteressen ausgerichtet ist, versteht sich von selbst. Denn wie soll eine gut informierte und gesellschaftlich wirksame Wissenschaft anders möglich sein? Blickt man auf das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft, so ist es vor allem der Zurechnungsbegriff, dem eine Schlüsselstellung zukommt. Zurechnung markiert ein Netzwerk aus fachspezifischen Kategorien, aus Argumentations- und Deutungsmustern, die man beachten muss, wenn man vernünftig über Unrecht, Schuld (Verantwortung) und Strafe sprechen möchte. Nicht selten ist dann von einem System oder Regime der Zurechnung die Rede.1 Mit anderen Worten, Zurechnung garantiert einen Sinn für Kohärenz, der für die Arbeit der Juristinnen und Juristen unumgänglich ist. Joachim Hruschka hat darauf bereits frühzeitig aufmerksam gemacht, insofern er die „strukturelle Beziehung“, die „gegenseitige Abhängigkeit“ von Begriffen im Kontext der Zurechnung betont.2 Zugleich und das findet seltener Beachtung, handelt es sich bei der Zurechnung um ein Urteil. Wir können auch sagen, es ist das Zurechnungsurteil, auf dem das Schuld- bzw. das Strafurteil der Richterinnen und Richter aufbauen (müssen). Dieses Zurechnungsurteil ist zugleich Ausdruck für eine besondere fachliche Kompetenz. Das wird in der juristischen und rechtsphilosophischen Diskussion zwar nicht bestritten. So redet man von der richterlichen Subsumtion, von der fallbezogenen Auslegung oder einer Logik der Interpretation. Und bei Karl Engisch findet man bekanntermaßen die einprägsame Formel vom „Hin- und Herwandern des Blicks“ (namentlich zwischen Sachverhalt und Rechtsnorm).3 Dennoch, so die These, verschleiern diese 1  Günther Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, Frankfurt am Main: Klostermann, 2012. 2  Joachim Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin: De Gruyter, 1976, S. 1. 3  Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., Heidelberg: Winter, 1963, S. 15: „… eine ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“.

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Formeln die komplexe Grammatik der Zurechnung und verhindern so eher ein angemessenes Verständnis als dass sie es fördern. Aber wie kann man zu einem angemessenen Verständnis der Zurechnung gelangen? Wie gesehen, ist die Frage auch deshalb von eminenter Bedeutung, weil von ihr die rechtstheoretische und dogmatische Erfassung individueller Schuld und Strafe, von personaler Verantwortung und sozialethischem Tadel abhängen.4 Eine der wenigen Vorschläge unterbreitet Günther Jakobs. Jakobs geht davon aus, dass die Regeln der Zurechnung als System entwickelt werden müssen. Wenn von einem System die Rede sei, so Jakobs, dann ginge es nicht um das Strafrechtssystem als Teil des Rechtssystems, vielmehr wird „der Systembegriff so verstanden, wie es in den Geisteswissenschaften üblich ist, also als konsistenter Zusammenhang von Urteilen“, namentlich „rechtlicher Urteile“.5 Was Jakobs nur lapidar formuliert, ist doch äußerst bemerkenswert: Zurechnungsfragen können nur in einem Bezugssystem von Urteilen entschieden werden, das Zurechnungsurteil setzt danach einen diskursiven, sprachlich-kommunikativen Umgang mit Sachverhalt und Bewertung voraus.6 D. h. eine rein formal-logische und subsumtionstechnische Begründung ist ausgeschlossen. Dass Jakobs gleichzeitig auf das Konzept der Geisteswissenschaften verweist, ist nicht weniger bedeutsam. Denn damit wird dem selbstgenügsamen, eklektischen und hermetischen Charakter juristischer Systembildung eine klare Absage erteilt.7 Jakobs programmiert diese Zurechnungspraxis – was kaum verwundert – systemtheoretisch. In diesem Sinne heißt es dann: „‚Urteil‘ ist eine Entscheidung nach einem Code“ und dieser lautet bei der strafrechtlichen Zurechnung „deliktischer Sinn vs. Natur“. Deliktisches Verhalten wird also als kommunikativer Beitrag verstanden und ist nach Regeln zu interpretieren, die für solche Beiträge gelten: „nicht nach Regeln für die Erkenntnis der Natur, sondern nach Regeln einer Verhaltenssemantik...Die maßgebliche Frage lautet deshalb nicht: ‚Was bewirkt das Verhalten?‘, sondern ‚Was bedeutet es?‘“8

Jakobs betont zu Recht, dass wir es bei der Zurechnung, der Zurechnungspraxis, mit einem komplexen Beurteilungszusammenhang zu tun haben; dass es nicht um wie auch immer verstandenes Bewirken, sondern um gesellschaftliche Bedeutungen gehen muss. Ich werde mit meinen thesenartigen Überlegungen an dieser Einsicht anknüpfen. Andererseits möchte ich darauf aufmerksam, dass auch Ja  Benno Zabel, Die Ordnung des Strafrechts, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, S. 560 ff.   Jakobs (Fn. 1), S. 16, 17. 6 Grundsätzlich Robert Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; aus der juristischen Debatte Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen, Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 179 ff. und Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2012. 7  Zu diesem Problemfeld Joachim Hruschka, Kann und sollte die Strafrechtswissenschaft systematisch sein?, JZ 1985, 1. 8  Jakobs (Fn. 1), S. 17. 4 5

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kobs die Verbindung von Zurechnung und Urteil nur unzureichend, nämlich nur kognitiv-systemisch bestimmt.9 Ich gehe vorliegend davon aus, dass Zurechnung mit einer Theorie verknüpft ist, die den diskursiven, sprachlich-kommunikativen Umgang mit Sachverhalt und Bewertung in ein praktisch-professionalisiertes Entscheidungswissen einbettet (das Verfahrensrecht spricht ja auch von der richterlichen Überzeugung10). Insofern ist sie notwendig mit dem Konzept der Urteilskraft verknüpft. Diesen blinden Fleck der modernen Strafrechtstheorie gilt es näher aufzuklären. II. Freie Urteilskraft, Zurechnung und sozialethischer Tadel Vorbemerkung Der Begriff der Urteilskraft ist im Kontext von Wissenschaft und Dogmatik nicht selbstverständlich; und das, obwohl Urteilskraft im alltäglichen Handeln und in der juristischen Arbeit ständig in Anspruch genommen wird (der blinde Fleck rührt also daher, dass Urteilskraft als praktisches Phänomen nicht explizit gemacht wird). Der Begriff macht zunächst auf ein produktives Spannungsverhältnis aufmerksam: Wissenschaft und Dogmatik sind einerseits auf soziale Praktiken des Lobens und Tadelns, des Urteilens und Zurechnens verwiesen (das Strafrecht ist Teil einer ausdifferenzierten Lebenswelt und ihrer Selbstorganisation). Andererseits bedarf es für die Lösung von juristischen Konflikten eines professionalisierten, an bestimmten Codes und Semantiken ausgerichteten Vermögens, einer Fähigkeit zur gesetzes- und verfahrensbezogenen Urteilsbildung. Juristische Urteilskraft abstrahiert von den Begriffen des Alltags und gestaltet ihn zugleich in vielfältiger Weise. Das die strafrechtliche Zurechnung begründende Prozedere ist damit reflexiv: die Rede von Freiheit, Subjekt, Norm / Normativität usw. markiert die mehrdimensionale Wirklichkeit des Rechts.11 Dazu jetzt im Einzelnen. 1. Freiheit Zurechnung ist nur möglich im Rahmen freier Gesellschaften und gegenüber freien Subjekten. Die anerkannten Freiheitsniveaus und das Freiheitsbewusstsein der Akteure können – je nach Epoche und Kultur – variieren. D.h. aber auch: Freiheit als Form individueller Selbstverwirklichung und als gesellschaftliche Verfassungskultur ist nie einfach „da“, sie bildet sich in einem Kraftfeld von Status und 9 Auf andere Fragen und Probleme der jakobsschen Konzeption wird nachfolgend nicht eingegangen. 10  § 261 StPO. 11  Vertiefend zum modernen Rechtswissenschaftsverständnis Benno Zabel, Philosophie der Rechtswissenschaft, in: Thomas Reydon / Simon Lohse (Hrsg.), Grundriss der Wissenschaftsphilosophie. Die Philosophien der Einzelwissenschaften, Hamburg: Meiner, 2017, S. 167 – 198.

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Interessen, Institutionen und Autoritäten (Macht- und Herrschaftsformen) heraus, sie muss immer wieder erkämpft, gestaltet und verteidigt werden.12 Jedenfalls gilt für liberal verfasste Gesellschaften, dass sie Freiheit (in ihrer politischen und rechtlichen Gestalt) nicht auf transzendente Sinnagenten religiöser oder sonstiger Provenienz zurückführen können. Vielmehr müssen sie die Begründung von Freiheitsrechten, die Legitimation von Rechtsordnungen, aber auch das „demokratische Projekt“ im Ganzen als ein zutiefst menschliches und fragiles Projekt, als etwas Selbst-zu-Verantwortendes verstehen.13 2. Personales Rechtswissen und normative Ordnung Die Person ist das Subjekt in der Form des Rechts.14 Als frei und sozial kompetent gilt das Subjekt, wenn es in der Lage ist, das angeeignete Rechtswissen mit der normativen Ordnung in Einklang zu bringen und in Handlungsgründe umzusetzen. Das Rechtssubjekt ist demnach „Resultat“ individueller Freiheitserfahrungen und internalisierter gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen. Es ist zugleich Kooperations- und Rechtsgestaltungsubjekt und auf diese Weise in einem Geflecht von Rechtsbeziehungen „verstrickt“.15 Die Zurechnung eines positiven oder negativen Ereignisses (in Form von Lob oder Tadel) verweist auf einen Riss zwischen individuellem Freiheitskonzept und gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen. Juristische Zurechnungspraktiken bestimmen nicht nur den für den Riss Verantwortlichen (als Zurechnungsadressat), sie stellen auch die Kohärenz der normativen Ordnung wieder her. Sie beruhen also gerade darauf, dass zurechnungsbegründenden Regeln als allgemein geteilte vorausgesetzt werden können. Das mag man als soziale Urteilsgemeinschaft bezeichnen.16

12  Einzelheiten etwa bei Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. von Ursula Ludz, München: Piper, 1993; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie, Stuttgart: Kohlhammer, 1967, S.  75 – 94; Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004; Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin: Suhrkamp, 2015. 13  Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992; Christoph Möllers, Demokratie, Berlin: Wagenbach, 2008; Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, Berlin: Suhrkamp, 2011. 14  In diesem Sinne bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Bd. 14, Hamburg: Meiner, 2009 (1820), §§ 36, 209, 268. 15  Das Rechtssubjekt lässt sich deshalb – normativ – nur im Plural rekonstruieren, Michael Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance. Über die Legitimation staatlichen Strafens, Baden-Baden: Nomos, 2017. 16  Benno Zabel, Schuld- und Strafe in freien Gesellschaften, in: Pirmin Stekeler-Weithofer/ Benno Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, S. 264 – 287.

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3. Rechtswissenschaft als praktische Wissenschaft Die Rechtswissenschaft ist eine praktische Wissenschaft (der traditionelle Begriff der Jurisprudenz bringt das noch klarer zum Ausdruck), dies aber in mindestens zweifacher Form: Sie stellt zum einen auf die Gewinnung und Begründung allgemeingültiger Sätze und Regeln, von Normen und Tatbeständen ab. Rechtswissenschaft mobilisiert insofern eine Theorie normativer Orientierung. Diese Theorie normativer Orientierung muss einen konsistenten Zusammenhang zwischen Rechtspolitik und Gesetzgebung, Normhaushalt und Rechtsanwendung herstellen. Sie hat daher die für das Recht typischen „Infrastruktur-Gewährleistungen“ (Wiethölter) abzubilden, aber auch die hierbei auftretenden Spannungen, Aporien und Paradoxien offenzulegen.17 Rechtswissenschaft als angewandte Wissenschaft, namentlich des Strafrechts, ermöglicht zum anderen die Regulierung von speziel­ len Konfliktkonstellationen. D.h., eine funktionierende Rechtspflege stabilisiert die geltende Ordnung durch die Garantie einzelfallgerechter Entscheidungen. Als praktische und praktizierte Wissenschaft hat sie damit das Ziel, die Fuge oder Lücke zwischen der allgemeinen Form des Rechts – dem Gesetz, der Norm usw. – und den konkreten Lebenssachverhalten zu überbrücken. Ohne eine klare Vorstellung von (juristischer) Urteilskraft und darauf basierendem (Zurechnungs-)Urteil, ist dieser Brückenschlag nicht zu bewältigen.18 Schauen wir zunächst auf die Urteilkraft im Allgemeinen. 4. Urteilskraft als epistemisches Vermögen Kein Gesetz, keine Norm kann sich selbst anwenden. Es bedarf also – wie schon angedeutet – für die Verknüpfung von allgemeiner Regel und konkretem Fall (oder von konkretem Fall und allgemeiner Regel) einer Vermittlungsinstanz und einer Kompetenz: nämlich der freien Urteilskraft. Urteilskraft bezeichnet das epistemische Vermögen, Wahrnehmungen und empirische Ereignisse zu strukturieren und in einem zunächst „normativ offenen“ Feld sachgerechte Bestimmungen vorzunehmen. Prominente Beispiele dafür liefern das ästhetische, politische, das moralische oder das juridische Urteil. Dementsprechend können sich die Urteile auf alle möglichen Kunstwerke, auf gesetzte oder informelle Normen, auf Rechte und Pflichten der Subjekte oder auf die Allgemeinheit betreffende Situationen beziehen.19

17  Rudolf Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, in: Christian Joerges/ Gunther Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden: Nomos, 2003, S. 13 – 21; siehe aber auch die Positionen bei Klaus F. Gärditz, Staat und Strafrechtspflege, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2015 und bei Benno Zabel (Hrsg.), Strafrechtspolitik, Baden-Baden: Nomos, 2018. 18  Zum fachübergreifenden Diskurs siehe nur Cornelia Vismann/ Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/ Entscheiden, München: Fink, 2006; aus juristischer Perspektive Sabine Müller-Mall, Zwischen Fall und Urteil, in: G. Koch u. a. (Hrsg.), Affekt und Urteil, München: Fink, 2015, S.  117 – 131.

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5. Urteilskraft und (Rollen-)Kompetenz a) Urteilskraft als epistemisches Vermögen muss eingeübt und professionalisiert werden, d.h. Urteilskraft ist nicht „naturgegeben“ (das gilt für den Kunstkenner ebenso wie für den moralisch und politisch Urteilenden, und den Juristen betrifft es sowieso). Wir verfügen zwar in der Regel über alltagserprobte Verstandes- und Schlusstechniken (nur müssen auch diese in der Regel erlernt werden). Dennoch reichen diese häufig nicht aus. Ihnen fehlt eine spezielle Expertise, zudem weisen sie in der konkreten Umsetzung erhebliche Unschärfen auf.20 Um besser zu verstehen, was es mit der Urteilskraft auf sich hat, hilft ein Blick auf Kant. Kant hatte bereits in der Kritik der reinen Vernunft versucht, die Eigenart des professionellen Urteilens zu näher konturieren: „Ein Arzt daher, ein Richter oder Staatskundiger, kann viele schöne … Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden.“21

b) Urteilskraft verknüpft also nicht nur eine allgemeine Regel und einen konkreten Fall, sondern auch Erfahrung, d.h. Lebens- und Berufserfahrung, etwa der Lehrerin, der Richterin oder des Arztes, mit den normativen und vor allem institutionellen Rahmenbedingungen. Das betrifft die Ausbildung und das Studium, es betrifft aber auch das jeweilige Arbeitsumfeld, die Schule, die Universität, die Gerichte usw.22 Urteilskraft ermöglicht eine Entscheidung, in der die konkrete Tatsache – der Sachverhalt, das Ereignis, die Situation – die Lebens- und Berufserfahrung und das normative Gestaltungsinteresse eine einzigartige Verbindung eingehen (darauf kommen wir zurück). Der juristische Terminus der Einzelfallgerechtigkeit bringt das angemessen zum Ausdruck. In diesem Sinne ist jede „reife“ oder „geübte“ Urteilskraft schöpferisch. 6. Die Tätigkeit und Funktion der Urteilskraft Schöpferisches Urteilen bezeichnet ein Paradox. Das bedeutet, dass die Praktiken der Urteilskraft nicht mehr eigens auf eine positiv gesetzte oder anerkannte 19  Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013; Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz, 3. Aufl., Wien: Passagen, 2005; Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München/ Zürich: Piper 1985; Möllers (Fn. 6), S. 179 ff. 20  Typische Beispiele sind sog. Bauernregeln, Sprichwörter, tradierte Wissensbestände und anderes mehr. 21  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademieausgabe (AA) IV, Berlin: De Gruyter, 1968, 171. 22  Wie überhaupt die Bildung eine zentrale Rolle bei der Ausprägung von Urteilskraft spielt.

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Regel zurückgeführt werden können (denn das würde im unendlichen Regress enden). Sie müssen sich als grundlose Entscheidungen selbst einen Grund geben. Es bedeutet aber auch, dass sie den Rahmen der formalen Logik häufig übersteigen werden, gemeint sind hier die klassischen Schlussregeln des modus ponens, modus tollens, tertium non datur usw. Darin drückt sich die Einsicht aus, dass menschliches Urteilen, sei es ästhetischer, moralischer, politischer oder juridischer Natur, frei ist und nicht ohne Rest „operationalisiert“ oder formalisiert werden kann (gesehen haben das bekanntermaßen schon Ludwig Wittgenstein, Carl Schmitt oder Niklas Luhmann).23 Aber was ist die konkrete Tätigkeit und die Funktion der Urteilskraft? Nochmals hilft ein Blick auf die kantische Begriffsbestimmung: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (… das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert … bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.“24

Kant formuliert das nicht so, aber Urteilskraft begründet Macht; Sprach- und Deutungsmacht; Macht zu sondieren, zu evaluieren und zu kritisieren; Macht, Sinn zu stiften oder Normativität neu zu codieren. 7. Urteilskraft als Medium der normativen Orientierung a) Urteilskraft will die Lebenswirklichkeit angemessen abbilden und gestalten. Insofern geht es um normative Orientierung einzelner Personen oder ganzer Gesellschaften. Wir haben es also mit einer Dynamisierung normativer Ordnungen und Kulturen zu tun. „Die Anwendung [einer Norm]“, so heißt es bei Christoph Möllers, „kann nichts völlig Neues schaffen … Ihre Normativität bezieht die Anwendung der Norm auch aus der Norm, auf die sie sich bezieht. Doch kann umgekehrt der normative Gehalt der Anwendung nicht in der Norm aufgehen, auf die sie sich bezieht …“ Die Norm­anwendung „schafft neues normatives Material unter Bezugnahme auf bereits bestehendes, sodass sich in Hinsicht auf die angewandte Norm sowohl ein konstitutiver Mangel als auch ein Überschuss ergibt. Der Überschuss besteht in ihrem neuen normativen Gehalt, der Mangel in der Notwendigkeit einer weitergehenden, nicht allein aus der angewandten Norm folgenden Autorisierung.“25

b) Ein typisches Beispiel für diese abstrakt beschriebene Normanwendungspraxis ist die Analogie. Unter einer Analogie wird die Anwendung eines (bestehen23  Dazu nur Robert Brandom, Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentia­ lismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. 24  Immanuel Kant, Kritik der Urteilkraft, AA V, 179; vertiefte Auseinandersetzung bei Wolfgang Wieland, Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), S. 1 – 22. 25  Möllers (Fn. 6), S. 183, 185 f.

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den) Normprogramms und seiner konkreten Voraussetzungen (Verhaltens- und Konfliktbeschreibung) auf einen strukturell ähnlichen, aber nicht geregelten Sachverhalt verstanden.26 Der Analogieschluss erweitert damit den Normierungsbereich einer Regelung.27 Diese Praxis der Normbegründung und -anwendung (der Bestimmung von Codes, Semantiken, Kategorien und Kriterien) funktioniert aber nur, weil wir als Urteilende immer schon die gemeinsame und allgemein kontrollierte Anwendung von Begriffen voraussetzen (dürfen). Mit anderen Worten, über Urteilkraft verfügt zwar jedes einzelne kompetente Subjekt; die Bedingungen gelingender Urteile werden aber zuallererst durch die jeweilige Urteilsgemeinschaft festgelegt, d.h. in der vorfindlichen Lebens- und vor allem Berufswelt (man denke an die gesellschaftlichen, die privaten, die politischen Sphären, die gesetzlich gebundene Rechtspflege usw.). 8. Urteilskraft, Kommunikation und Sinnlichkeit Urteilskraft ist expressiv, kommunikativ und sinnlich.28 Diese Einschätzung irritiert auf den ersten Blick. Könnte man doch annehmen, dass sich die mit Urteilskraft verbundenen Praktiken nur in einem rein normativen Kontext rekonstruieren lassen. Aber die normative Gestaltung und die Orientierung in der Welt lässt sich nur angemessen verstehen, wenn man sieht, dass diese Praktiken auch das gesamte Feld der anthropologischen Verfassung des Einzelnen und ganzer Gesellschaften artikulieren und auch anerkennen müssen. Dazu gehören vielfältige Ängste, Sicherheitsbedürfnisse, Erfahrungen der Vulnerabilität und anderes mehr. Die Akteure bringen daher in ihrem Handeln und Urteilen ein (praktisches) Wissen zur Geltung, das empirisch, sinnlich und erfahrungsgesättigt ist. Normbegründung und -anwendungen müssen dieser „erfahrungsgeleiteten Normativität“ Rechnung tragen. Sie müssen eine Kommunikation über Sinnlichkeit nicht nur ermöglichen, sondern auch moderieren. Damit wird allerdings auch deutlich, dass es in Fragen der Urteilskraft nicht um eine schlichte Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Normativität geht. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine produktive Verarbeitung beider Elemente, d.h. die Etablierung eines Standpunktes, der eine (relative) Unparteilichkeit sichert. In diesem Sinne ist Urteilskraft aber immer reflexiv. 26  Allgemein Karen Gloy / Manuel Bachmann (Hrsg.), Das Analogiedenken. Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, Freiburg / München: Alber, 2000, für den juristischen Kontext etwa Karl Larenz / Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Heidelberg: Springer, 1995, S. 258 – 269. 27  Begründet wird das mit dem Gleichheitssatz, insofern die Unterschiede zwischen den schon geregelten und den noch nicht geregelten Fällen eine unterschiedliche Behandlung nicht rechtfertigten. 28  Christoph Menke (Fn. 12), S. 313 ff.; Andreas Fischer-Lescano, Rechtskraft, Berlin: August Verlag, 2013, S. 61 ff.; Benno Zabel, Expressives Recht. Inszenierungen moderner Legitimität, in: Laura Münkler / Julia Stenzel (Hrsg.), Inszenierung von Recht, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2019.

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Nur das, so formuliert es Hannah Arendt, „was einen in der Vorstellung berührt, affiziert, und zwar dann, wenn man nicht mehr durch seine unmittelbare Gegenwart affiziert wird [...] nur das läßt sich als richtig oder falsch, wichtig oder irrelevant, schön oder häßlich oder irgendwo in der Mitte zwischen den jeweiligen Polen liegend beurteilen. Erst dann spricht man vom Urteil und nicht mehr vom Geschmack, weil man nun, obwohl noch wie von einer Angelegenheit des Geschmacks affiziert, mittels der Vorstellung den angemessenen Abstand hergestellt hat [...]. Indem man den Gegenstand wegräumt, hat man die Bedingungen für die Unparteilichkeit geschaffen“.29

Wir können mit dieser Einsicht auf den strafrechtlichen Standpunkt zurückkommen: 9. Der strafrechtliche Standpunkt der Urteilskraft Bezieht man das bisher Gesagte auf den strafrechtlichen Kontext, dann ergibt sich folgendes Bild: Die Entscheidung darüber, was sinnvoll zugerechnet werden kann, ist das Ergebnis vernünftigen Schließens, freier Urteilskraft. Dagegen spricht nicht, dass wir diese Entscheidungskompetenz bis zu einem gewissen Grade erlernen und einüben müssen. Es zeigt viel eher, dass eine juristische Überzeugung (die Rekonstruktion eines Tatgeschehens) Bildung, Ausbildung und nicht zuletzt Professionalität voraussetzt. Aus dieser Kompetenz zum vernünftigen freien Urteilen folgt aber auch, dass ein schematisches Herangehen an Rechtsfragen nur in Ausnahme- oder eindeutigen Fällen zielführend ist. Im Zentrum stehen daher nicht lineare oder formallogische, sondern inferentielle und rekursive Entscheidungstechniken.30 Die gängige Rede von der Subsumtion ist deswegen keineswegs falsch; sie bezeichnet jedoch im Rahmen von komplexen Entscheidungen selten den erschöpfenden Weg.31 Insoweit muss sich jeder Rechtsanwender im Klaren darüber sein (der Theoretiker sowieso), dass eine richtige Entscheidung weitere meistens nicht offen gelegte Reflexionsschritte einzubeziehen hat. 10. Urteilskraft und Strafrechtsordnung Keine Rechtsordnung ist normativ abgeschlossen, sie ist weder statisch noch selbstreferentiell. Zwar erhebt eine moderne Rechtsordnung regelmäßig den Anspruch, mit ihren Normen, Institutionen und Rechtsprechungstechniken die Gesamtheit der vorkommenden Fälle abdecken zu können. Da auf diese Weise aber immer eine endliche Anzahl an Normen, an entsprechenden Tatbestandmerkmalen usw. einer praktisch unendlichen Anzahl von Einzelsituationen und Konfliktfällen   Hannah Arendt (Fn. 19), S. 90.  Vertiefend Jan C. Joerden, Logik für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg: Springer, 2018. 31  Guter Überblick bei Gottfried Gabriel / Rolf Groeschner (Hrsg.), Subsumtion, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012. 29 30

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gegenüber steht, muss ein juristisches Urteilsvermögen in der Lage sein, Normen im Sinne einzelfallgerechter Lösungen in Bewegung setzen zu können. 11. Urteilskraft und Strafnorm Die Strafnorm hat ohne das Konzept der Urteilskraft keinen Sinn. Normen artikulieren bekanntermaßen ein generisches, d.h. allgemein anerkanntes Verhaltensschema. Damit ist gesagt, dass für die Bestimmung gesellschaftlich und rechtlich relevanten (deliktischen) Verhaltens weder nur eine subjektive, noch eine nur objektive Perspektive in Betracht kommt. Vielmehr sind Normen, darauf hat Jakobs zutreffend hingewiesen, Sinnkonzepte und dieser „Sinn [muss] von Personen gesetzt werden“.32 Allerdings sollte im Gegensatz zu Jakobs betont werden, dass die Sinnsetzung nicht allein in einem kognitiven Deutungsparadigma rekonstruiert werden kann. Die Sinnsetzung ist Ausdruck einer jedenfalls implizit zur Geltung gebrachten Urteilskraft.33 Das (möglicherweise deliktische) Verhalten ist ein sinnsetzendes Geschehen, weil es gleichermaßen ein theoretisches Wissen und einen performativ praktischen Akt einschließt. Die strafjuristische Bewertung dieses Verhaltens kann nur deshalb einen Gegensinn behaupten, weil sie auf zweierlei zurückgreift: Sie greift auf ein Normenverständnis zurück, dass durch eine freie rechtliche Urteilsgemeinschaft abgesichert ist. Und sie greift auf die Entscheidungskompetenz der Richterin zurück, die die Normbestätigung durch ein eingeübtes Normwissen und eine schöpferische Interpretation garantiert (die gesetzlich geforderte Überzeugung).34 Die Einzelheiten konkretisiert die Zurechnungslehre. 12. Urteilskraft und Zurechnung a) Urteilskraft ist integraler Bestandteil jeder strafrechtlichen Zurechnung. Strafrechtliche Zurechnung ist nur als Ergebnis einer Dogmatik, einer Fachsprache (einem Sprachspiel), entsprechender Argumentationsfiguren und juristischer Auslegungstechniken denk- und praktizierbar. Der Rückgriff auf die Dogmatik, (bis hinein in die Kultur der Hermeneutik und die Praxis der Rechtsphilologie), sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eines freien richterlichen Schließens bedarf, um Gesetz, Tatbestand, Subjekt und Lebenssachverhalt aufeinander beziehen zu können – also das, was als eingeübtes juristisches Wissen und schöpferische Norminterpretation bezeichnet wurde.35   Jakobs (Fn. 1), S. 22.   Die Frage der Gesetzgebung / der Strafrechtspolitik bleibt vorliegend außer Betracht. 34  Vgl. die vorangegangenen Überlegungen. 35  Es bedarf nach dem Gesagten keiner weiteren Erläuterungen, dass es sich bei der schöpferischen richterlichen Leistung nicht um Willkür handelt (was nicht heißt, dass auch die richterliche Urteilskraft missbraucht werden kann). Der Umgang mit dem geltenden Recht setzt notwendig eine eigene Dynamik frei; zu dieser Debatte etwa Wilfried Küper, Die Richteridee 32 33

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Wenn also wie bei Jakobs von einem konsistenten Zusammenhang rechtlicher Urteile die Rede ist,36 dann müssen wir das so verstehen, dass die Begründung einer Straftat, von Schuld und Verantwortung ein konkretes Wissen über die einschlägigen Verbotsnormen, mögliche oder tatsächliche Konflikte voraussetzt. Auf der Seite des Rechtsstabs kommt es auf einen selbstbewussten Umgang mit der jeweiligen Verhaltensbedeutung an (wie eben dargestellt). Die Dogmatik evaluiert also verschiedene Perspektiven der Urteilskraft und begründet damit ein anerkanntes Zurechnungsurteil – oder schließt es aus. Das betrifft die Annahme von konkreten Rechten und Pflichten, von Zurechnungsausschlussgründen usw., beispielhaft: Unterlassungspflichten, Notrechte, unvermeidbar fehlendes Unrechtswissen.37 Das Zurechnungsurteil muss schließlich die generellen Zurechnungsvoraussetzungen mit den deliktsspezifischen Unrechtsbeschreibungen (den Delikten des Besonderen Teils) zusammendenken. b) Zur Veranschaulichung: Stellt sich für die Richterin die Frage, was genau unter einem gesetzlichen Begriff zu verstehen und wie ein konkreter Sachverhalt zu entscheiden ist, so wäre es eine unzulässige Verkürzung, diese Frage auf eine formelle Subsumtion zu beschränken. Nur in Fällen, die keine Probleme bei der Bewertung des Sachverhalts aufwerfen (deren Problemkern also offenkundig und für jeden einsichtig ist), dürfte das möglich sein. Ob das Tier, das den Nachbarn gebissen hat, ein Hund oder eine Katze ist, mag in der Tat eine reine juristische Routineübung sein. Der Grund hierfür liegt aber in der Eindeutigkeit des verfügbaren Wissens und der sprachlichen Praxis, die dieser Unterscheidung zugrunde liegt. Hier gibt es Richtigkeitsbedingungen, unter die mehr oder weniger schematisch subsumiert werden kann. Ist diese Praxis aber weniger eindeutig und das ist häufig der Fall, so ist die Beurteilung keineswegs so klar. Was eine „fremde Sache“ im Rahmen der Diebstahlsregelung ist (denn ein Diebstahl liegt nur vor, wenn eine fremde Sache weggenommen wurde),38 ist nicht rein subsumtiv zu begründen, sondern bedarf der genauen Bestimmung des begrifflichen Inhalts des Wortes „fremd“ (der Aufdeckung normativer Implikation und vieles mehr); selbst wenn der begriffliche Inhalt des Wortes „Sache“ hinreichend klar sein sollte. Ist beispielsweise ein Gegenstand, der sich im Eigentum zweier Personen befindet, bei Entwendung durch einer dieser der Strafprozessordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen, Berlin: De Gruyter, 1967; Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, Frankfurt am Main: Klostermann, 1986. 36  Jakobs (Fn. 1), S. 16 f. 37  Der Streit, ob man mit Blick auf das Zurechnungsurteil von einem Gesamtunrechtstatbestand spricht, wie das von Jakobs vorgeschlagen wird, mit der Folge, dass nur das schuldhafte Delikt einen spezifischen Sinn des Strafrechts ausdrückt (Jakobs (Fn. 1), S. 23 f.) oder ob man, wie Hruschka (Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 449 – 460), auf einer Trennung von Norm und Zurechnungsregeln beharrt, weil die Norm, enthielte sie die Elemente der Zurechnung, selbstbezüglich würde, soll hier nicht fortgeführt werden. Es spricht allerdings Einiges dafür, dass die Norm immer schon eine zweifache Perspektive integriert: die Perspektive der generischen Verhaltensanforderung und die Perspektive der abweichenden Sinndeutung. 38  § 242 StGB.

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Personen deswegen „fremd“, weil sie auch einem anderen gehört? Gibt es auf diese Frage eine überzeugende Antwort, so liegt das nicht daran, dass es sich bei dieser Bestimmung um einen eindimensionalen Schluss handelt, sondern daran, dass es eine durch Gründe getragene dogmatische Praxis gibt, in der sich die Bedeutung des Wortes „fremd“ herausgebildet hat.39 13. Zurechnung und Expressivität Das strafrechtliche Zurechnungsurteil ist in seiner Form expressiv.40 Insofern hat jede Bewertung eines möglicherweise deliktischen Verhaltens zwei Seiten: Sie muss einerseits (und über die erwähnten Voraussetzungen hinaus) die affektiven, sinnlichen und sonstigen individuellen Dispositionen in Rechnung stellen (man denke an Vorsatz-, Notstands- oder Irrtumsfragen) und in einer normativ angemessenen Form kommunizieren („Das war unzumutbar.“/ „Den Affekt hättest du kontrollieren müssen“ usw.). Andererseits spielen bei der Zurechnung Interessen der Opfer eine Rolle (Täter-Opfer-Ausgleich, § 46a StGB oder die Nachstellung, § 238 StGB). Inwiefern diese Interessen als belastbare Argumente in das Zurechnungsurteil einfließen sollten, ist umstritten.41 Klar dürfte allerdings sein, dass Interessen nicht als zufällige oder als rein subjektive eine Rolle spielen können. Expressivität kann nur bedeuteten, die Interessen als reflektierte Interessen zu verstehen und zur Geltung zu bringen. Reflektierte Interessen sind danach Statuspositionen, die (was im Einzelfall mit großen Schwierigkeiten verbunden sein kann) auf einer Selbstdistanzierung als Rechtssubjekt beruhen. Diese Statuspositionen der Akteure werden damit keineswegs von der Gesellschaft usurpiert, sie werden vielmehr als anerkennenswerte in den Kontext einer Urteils- und Normbefolgungsgemeinschaft integriert.42 Diese Integrationsleistung kann aber selbst nur durch die richterliche oder im weitesten Sinne juristische Urteilskraft geleistet werden. Sie wirkt inklusiv, nicht exkludierend. 14. Zurechnung und soziale Urteilsgemeinschaft Urteilskraft verweist damit in Zurechnungsfragen auf einen ordnungsstabilisierenden Begriff. Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Jakobs, wenn er von Kommunikation, der kommunikativen Bedeutung deliktischen Verhaltens spricht, 39  Karsten Calla / Benno Zabel, Praktische Urteilskraft und „inferentielle Pragmatik“, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts, 2018, S. 36 – 57. 40  Siehe These 8. 41 Zur aktuellen Debatte Tatjana Hörnle, Straftheorien, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, S. 37 ff.; Cornelius Prittwitz, Positive Generalprävention und „Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters“?, in: KritV (Sonderheft), 2000, S. 162 – 175, insbes. 172 ff. 42  Zabel (Fn. 4), S. 546 ff. und öfter.

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den Begriff der Urteilskraft mitdenken und folglich voraussetzen muss. Entscheidend ist die Perspektivität der Urteilskraft: Denn rechtliche Zurechnung ist überhaupt nur möglich, weil wir uns im Prozess der Entscheidungsfindung als freie und urteilsmächtige Akteure ansprechen. Es ist diese Urteilsgemeinschaft – die selbstverständlich auch den deliktisch Handelnden umfasst –, die den Grund für eine kohärente, gesellschaftlich anerkannte Zurechnungspraxis abgibt. 15. Zurechnung und sozialethischer Tadel Nicht nur das Zurechnungsurteil, sondern auch das daran anschließende Strafurteil soll für normative Orientierung sorgen und kommunikative Wirkung entfalten. Die Rede ist dann von einem öffentlichen sozialethischen Tadel und vor allem von der Zufügung eines Strafschmerzes. Aber braucht ein in der Form des Gesetzes durchgeführtes Verfahren überhaupt noch die Zufügung von Strafschmerz oder kann sich eine liberal verfasste Gesellschaft auch mit dem Zurechnungsurteil begnügen?43 Die Frage berührt einen zentralen Punkt moderner Strafkulturen. D.h. den Punkt, ob und in welcher Weise individuelle Folgenverantwortung und Strafwirkungen verknüpft sein müssen. Folgenverantwortung des Täters für das begangene schuldhafte Unrecht lässt sich durchaus im Strafverfahren selbst abbilden. In der öffentlichen Sprache des Rechts, aber auch in der Urteilsbegründung dürfte der Tadel (ohne Strafschmerz) angemessen und mit Blick auf das konkrete Unrecht differenzierbar sein.44 a) Dass die Zufügung eines Strafschmerzes historisch kontingent ist, ist kaum zu bestreiten. Aber gibt es darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen Schuld/ Verantwortung, Tadel und Strafschmerz, der nicht historisch kontingent, sondern der analytisch notwendig, normativ begründet oder gesellschaftlich unabdingbar ist? Namentlich präventive Modelle verweisen darauf, dass Strafkulturen ohne individuelle oder gesellschaftliche Einwirkungen auf Dauer Akzeptanzprobleme bekommen werden, sei es aus Sicht der Verletzten, der Allgemeinheit oder aus Sicht der (potentiellen) Täter. Das moderne Recht müsse regulieren und Eindruck machen.45 Nun sind die Schwierigkeiten präventiver Modelle allenthalben bekannt. Problematisch ist die Einwirkung auf den Einzelnen oder die Allgemeinheit zu 43  Letzteres befürwortend Klaus Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: C. Prittwitz u. a. (Hrsg.), Festschrift für K. Lüderssen, Baden-Baden: Nomos, 2002, S. 205 –  220, hier S. 219. 44  Hierzu und zum Folgenden bereits Zabel (Fn. 16), S. 264 – 287. 45  Präventive Positionen vertraten bzw. vertreten etwa in der Form einer psychologischen Zwangs- und Abschreckungstheorie von Johann Paul Anselm Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. 1, Erfurt: Verlag Henning, 1799, S. 49 ff. sowie ders., Revision, Bd. 2, Chemnitz: Georg Friedrich Tasché, 1800, S. 39 f. und öfter; mit spezialpräventiven Fokus Franz v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), S. 1 – 47; eine elaborierte Theorie der positiven Generalprävention vertritt wiederum Jakobs.

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reinen Besserungs- oder Abschreckungszwecken ebenso wie die Idee, durch Strafe die Gesellschaftsmitglieder von der Vorzugswürdigkeit individueller Selbstdisziplinierung und Normtreue überzeugen zu wollen. Entweder kollidieren diese Modelle (wie bei der Besserungs- und Abschreckungsprävention) mit den Grundannahmen einer auf Individualschutz und Freiheit abzielenden Gesellschaft oder aber ihnen fehlt (wie bei der positiven, auf Normtreue abstellenden Generalprävention) die sozialwissenschaftlich-empirische Validität.46 b) Moderne Strafgesellschaften stehen vor einem Dilemma: Der sozialethische Tadel, die Zufügung eines Strafübels sollen Recht zur Geltung bringen und zugleich die Gewaltdynamiken begrenzen. Sie sollen Rechtssicherheit kommunizieren. Rechtssicherheit heißt Verlässlichkeit des Rechts und Schutz durch das Recht. Diese Vorstellung verweist aber nur darauf, dass jede Gesellschaft und jede Epoche das Verhältnis von Freiheit, Recht (Zwang) und Sicherheit neu austarieren muss. Die Frage, welche Bedeutung Sicherheit für ein Strafkonzept spielen sollte, wird eine verunsicherte oder totalitäre Gesellschaft anders beantworten als eine republikanisch verfasste.47 Aber auch eine freie Gesellschaft muss sich darüber im Klaren sein, was Strafe leisten soll. D.h.: Wenn der öffentliche und sozialethische Tadel eine integrative Funktion haben soll, wenn er den Wert einer Urteils- und Normbefolgungsgemeinschaft im Blick behalten soll, dann wird sie ohne Strafschmerz nicht auskommen. Strafschmerz ist ein Kommunikationsverstärker. Er ist das Medium, in dem der (kontrafaktische) Anspruch auf Gewaltverzicht, auf Freiheit und Schutz seinen konkreten Ausdruck finden kann. Etwas anderes haben wir nicht. c) Gleichzeitig ist einer pauschalen Befürwortung des Strafschmerzes zu widersprechen. Freie Gesellschaften müssen sich reflexiv zur je eigenen Straf(schmerz) kultur verhalten.48 Sie werden sich bewusst halten müssen, dass sie selbst Grund für Kriminalität sein können, man denke nur an diverse Formen der Armutsdelinquenz. Sie wird sich – legislativ – überlegen müssen, welche Verhaltensweisen sie kriminalisiert und welches Strafmaß sie im Fall des Normverstoßes androht. Und sie wird sich überlegen müssen, in welchen Bereichen sie entkriminalisieren oder alternative Sanktionsformen in Erwägung ziehen kann, erwähnt sei nur die Praxis der Betäubungsmittelkriminalität. Sie wird aber auch auf der Ebene der Rechtsprechung und Vollstreckung darauf dringen, Strafschmerz und Strafleiden so weit als möglich zu begrenzen, etwa durch zurückhaltenden Gebrauch der Freiheitsstrafe, durch effektive Resozialisierungsprogramme usw. Der Strafschmerz muss das Kunststück vollbringen, dem Delinquenten das Demütigende seines Ver-

46  Benno Zabel, Das Paradox der Prävention. Über ein Versprechen des Rechts und seine Folgen, in: Jens Puschke / Tobias Singelnstein (Hrsg.), Der Staat in der Sicherheitsgesellschaft, Heidelberg: Springer, 2017, S. 55 – 75. 47  Benno Zabel, Rechtssicherheit und Prävention. Über ein Dilemma des modernen Strafrechts“ in: Jan Schuhr (Hrsg.), Rechtssicherheit durch Rechtswissenschaft, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, S. 219 – 243. 48  David B. Morris, Geschichte des Schmerzes, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994.

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haltens vor Augen zu führen, ohne ihn selbst zu demütigen.49 Aber auch wenn man diesen Punkt anerkennt, dann wird das Konzept des Strafschmerzes der Stachel im Fleisch einer liberalen Zurechnungs- und Strafkultur bleiben. Im Strafschmerz kommt nicht allein das kommunikative Kalkül der Strafe zum Ausdruck, sondern auch das Unbehagen einer Gesellschaft beim Anblick und der Verarbeitung von Gewalt.50 Dass die gegenwärtige Gesellschaft und die moderne Strafrechtswissenschaft dieses Unbehagen spüren, ist keine Randerscheinung liberaler Zurechnungs- und Strafkulturen. Denn das Unbehagen ist selbst eminenter Ausdruck einer rationalen Urteils- und Normbefolgungsgemeinschaft: Urteilskraft steht für Emanzipation und Freiheit, Ordnung und Sinn. Sie steht aber auch für ein Wissen davon, wie fragil normative Ordnungen und wie machtkalkuliert (folglich regressiv) menschliche und auch juristische Entscheidungen sein können. Summary When imputation is discussed in criminal science, one frequently invokes methods and proce-dures such as legal subsumption, case-based interpretation and the logic of hermeneutics. While all of these methods and procedures are necessary, they are not sufficient to justify im-putation and to grant it universal recognition. Rather, according to the thesis put forth here, one must also appeal to a professionalized power of judgement, to the practice of free judging. Criminal imputation is based not only on a structural relation between concepts, categories and semantics, but also on a practically acquired decision-making knowledge (which is rarely made explicit). It is this knowledge that makes possible for the first time the nexus of the norm, the facts and the subject. And it is this capacity that turns dealing with imputation, guilt, and social-ethical reproach into a communicative act. Also for this reason, the concept of imputation can make us sensitive to the fact that all unlawful behaviour and every criminal evaluation is part of a societal understanding concerning the respective applicable standards of freedom.

49  Vgl. dazu auch Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin: Fest Verlag 1997, S. 301 ff. 50  Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002; Christoph Menke, Recht und Gewalt, Berlin: August Verlag, 2011.

C. Rechtsphilosophie und Strafrecht – Legal Philosophy and Criminal Law

Die Bewertung von Strafgesetzen – Struktur, Perspektive, Kriterien* Susanne Beck

Die Verschärfung der Sexualdelikte, die Kriminalisierung des assistierten Suizids, Verbote der Datenhehlerei, Reform der Regelung des Menschenhandels – die Aktivität des Strafgesetzgebers in den letzten Legislaturperioden war und ist beachtlich. Viele der Neuregelungen und Reformen, nicht selten Ergebnis eines tagespolitisch motivierten Aktionismus, werden massiv kritisiert.1 Diese Kritik wird von der Praxis, aber auch von der Strafrechtswissenschaft geäußert. Die Normen werden als zu unbestimmt, inkonsistent oder für die praktische Strafverfolgung und -verurteilung ungeeignet bezeichnet. Doch nicht nur die Form bzw. Systematik, insbesondere der Inhalt vieler Strafnormen weckt Zweifel, sei es an der Verfassungsmäßigkeit der Freiheitseinschränkungen,2 sei es am Vorliegen eines entsprechenden gesellschaftlichen Konsens,3 sei es an der Notwendigkeit des Einsatzes gerade des Strafrechts für die Regulierung des Verhaltensverbots (im Sinne des ultima ratio Prinzips). Wie schon Franz von Liszt in seiner Antrittsvorlesung zutreffend feststellte: „[Die Strafrechtswissenschaft] soll die Lehrmeisterin des Strafgesetzgebers sein, seine zuverlässige Beraterin und Führerin im Kampf gegen das Verbrechen“.4 Be *  Vgl. zum Folgenden Beck, Was ist ein gutes Strafgesetz? In: Strafrechtspolitik – Über den Zusammenhang von Strafgesetzgebung, Strafrechtswissenschaft und Strafgerechtigkeit, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2018, S. 45 ff. Für unermüdliche Unterstützung bei der Recherche und anregende Diskussionen gilt mein Dank Frederike Seitz. 1  Für einen Überblick über die Neuregelungen der letzten Jahre und die im Folgenden diskutierten zentralen Kritikpunkte an den verschiedenen Normen vgl. Knierim / Oehmichen / Beck /  Geisler, Gesamtes Strafrecht aktuell, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2018, jeweils m. w. N. 2  Vgl. etwa zur Verfassungsmäßigkeit der Inzeststrafbarkeit Hörnle, „Das Verbot des Geschwisterinzests – Verfassungsgerichtliche Bestätigung und verfassungsrechtliche Kritik“, NJW 2008, S. 2085 ff. 3  Exemplarisch sei die Debatte um die Legalisierung von Cannabis erwähnt: Fischer, Legalize it!, Zeit-Online, 2015. 4  Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Frankfurt a.M., V. Klostermann, 1948, S. 69 f.: „Sie soll ihm das System der Grundsätze entwerfen, nach denen die Strafe mit den ihr verwandten Maßregeln zum Schutz der Rechtsordnung zielbewußt und mit möglichem Erfolge verwertet werden kann; sie soll ihm den Maßstab geben, nach dem das geltende Recht gemessen werden kann, und ihm die Richtung zeigen, in welcher die Gesetzgebung der Zukunft sich zu

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trachtet man Rechtswissenschaft – wie es auch Joachim Hruschka bereits bei der Auseinandersetzung mit dem „Verstehen von Rechtstexten“5 tat – nicht nur als die Wissenschaft von der rein dogmatischen Anwendung des bestehenden Rechts, sondern auch als kritische Auseinandersetzung mit den existierenden (Straf-)Gesetzen und gegebenenfalls der Entwicklung von Verbesserungsvorschlägen, sollte man diese aktuelle Entwicklung auch aus kriminalpolitischer Perspektive betrachten. Hierzu erscheint es, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sinnvoll, eine auch mit der Auslegungsmethodik in Verbindung stehende Systematik an Bewertungskriterien zu entwickeln. Gerade die systematische Betrachtung verschiedener Aspekte der Strafrechtswissenschaft, der Auslegung wie der Bewertung, war ein Anliegen von Joachim Hruschka, so dass dieser Beitrag hoffentlich eine bescheidene Ergänzung dieser Bemühungen darzustellen vermag. Die Entwicklung dieser Kriterien erfordert eine bewusste Reflektion über den entsprechenden Bewertungshorizont. Eine kritische Bewertung von Normen muss verschiedene Aspekte betrachten, die ich – angelehnt an die juristische Methodik6 – mit „Prozess“, „Grammatik“, „Systematik“ und „Telos“ benennen möchte. Zudem kann Gesetzeskritik aus verschiedenen Perspektiven vorgenommen werden: der rechtsinternen und der rechtsexternen. Rechtsintern beinhaltet eine Wertung durch Teilnehmer des Rechtssystems an den im System relevanten Kriterien. Die rechtsexterne Perspektive erfordert hingegen, von einem Beobachterstandpunkt auf nicht-rechtliche Bezugsrahmen, wie die Ethik7 oder die Politik8, zurückzugreifen. Nachdem wir, zunächst mit Blick auf die Struktur der Überlegungen und Argumentationen und deshalb abstrakt, diese Aspekte und Perspektiven näher beleuchtet haben, werden wir die Überlegungen schließlich an einem Beispiel konkretisieren. I. Strukturierende Betrachtung der Strafnorm Die Bildung von Kriterien und eine strukturierte Bewertung von Strafnormen erfordert zunächst, verschiedene Einzelaspekte einer Norm voneinander zu tren bewegen hat. In der Erfüllung dieser Aufgabe wird die Strafrechtswissenschaft zur Kriminalpolitik.“ 5  Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten: zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, München, Beck-Verlag, 1972. 6 Vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Berlin, 1840, S. 213 f. 7  Hierzu beispielswiese: Albers, „Die Institutionalisierung von Ethik-Kommissionen: Zur Renaissance der Ethik im Recht“, KritV 2003, S. 419 ff.; Coing, in: Blühdorn / Ritter (Hrsg.), Recht und Ethik – Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M., V. Klostermann, 1970, S. 11 ff. 8  Siehe beispielhaft: Volk, „Strafrecht und Wirtschaftskriminalität – Kriminalpolitische Probleme und dogmatische Schwierigkeiten“, Juristenzeitung, 1982, S. 85 ff.; Umfassend zur Kriminalpolitik Lange, Kriminalpolitik, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, insb. zum System in der BRD: Frevel, in: Lange, Kriminalpolitik, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008.

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nen und diese jeweils spezifisch zu betrachten. Hierfür erscheint es sinnvoll, die Kategorien der Auslegung von Gesetzen9 zu übertragen. Dafür spricht m.E. insbesondere, dass diese Elemente einer Norm mehr darstellen als Hilfen bei ihrer Auslegung; sie repräsentieren vielmehr die verschiedenen Facetten des Gesetzes, seinen Gehalt, die für sein Verständnis erforderlichen Aspekte. Somit sind es genau diese Elemente, die auch bei der Bewertung des Gesetzes zu beachten sind. Zu betrachten sind also der Wortlaut, die Historie im Sinne des Gesetzgebungsprozesses, die Systematik und natürlich der „Sinn und Zweck“, das Telos.10 Wie auch bei der Auslegung lassen sich diese Aspekte nicht klar voneinander trennen, sondern greifen ineinander über. 1. Zustandekommen des Gesetzes Ein Aspekt bei der kritischen Würdigung einer Norm ist ihr Zustandekommen.11 Das schießt die gesellschaftliche Konfliktsituation, die dem Tätigwerden der staatlichen Institutionen vorausging, ebenso ein wie die Art und Weise des Führens der politische Debatte, die Frage, ob Experten angehört wurden und selbstverständlich insbesondere der formelle Gesetzgebungsprozess.12 Insofern wäre das Gesetz dann positiv zu bewerten, wenn es als angemessene Reaktion auf das gesellschaftliche Problem erscheint, wenn nicht nur die verfassungsrechtlichen formalen Vorgaben beachtet, sondern auch alle relevanten Stimmen adäquat berücksichtigt wurden und nicht nur bestimmte Interessengruppen oder Unternehmen, sondern soweit erforderlich auch neutrale Experten angehört wurden. Insofern ist auch Transparenz und bewusste Einbindung der Expertise erforderlich; nicht ausreichend ist etwa eine rein formale Anhörung zu Ende des Gesetzgebungsprozesses, wenn die we9  Vgl. zur Methodenlehre: Zippelius, Juristische Methodenlehre, München, C.H. Beck, 2012; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin / New York, Springer, 1995; Rüthers / Birk / Fischer, Rechtstheorie, - mit juristischer Methodenlehre, München, C.H. Beck, 2015; Lagodny, Juristisches Begründen, Baden-Baden, Nomos-Verlag, 2013. 10  Engisch / Würtenberger, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart, Kohlhammer, 2010, S. 85. 11  Bryde, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, de Gruyter 1989; Reutter, „Struktur und Dauer der Gesetzgebungsverfahren des Bundes“, ZParl 2007, S. 299 ff.; Hellauer, Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, München, GRIN Verlag, 2011. 12  Beispielhaft zum Gesetzgebungsverfahren sowie im Hinblick auf unterschiedliche Probleme: Frenzel, „Das Gesetzgebungsverfahren – Grundlagen, Problemfälle und neuere Entwicklungen. Teil 1.“, JuS 2010, S. 27 ff.; Frenzel, „Das Gesetzgebungsverfahren – Grundlagen, Problemfälle und neuere Entwicklungen. Teil 2.“, JuS 2010, S. 119 ff.; Brandner, „Parlamentarische Gesetzgebung in Krisensituationen – Zum Zustandekommen des Finanzmarktstabilisierungsgesetz“ NVwZ 2009, S. 211 ff.; Kloepfer, „Gesetzgebungsoutsourcing – Die Erstellung von Gesetzesentwürfen durch Rechtsanwälte“, NJW 2011, S. 131 ff.; Redeker, „Wege zu besserer Gesetzgebung“, ZRP 2004, S. 160 ff.; Thierse, „Wege zu bessere Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgeabschätzung und Wirkungskontrolle“, NVwZ 2005, S. 153 ff.

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sentlichen Entscheidungen bereits getroffen wurden und es letztlich den Parteivertretern primär darum geht, die eigene Ansicht mit geeigneten, die selbe Meinung vertretenden Wissenschaftlern zu stärken. 2. Wortlaut und Formulierung des Gesetzes Die Auslegungsmethode, die die Grammatik bzw. den Wortlaut des Gesetzes fokussiert13, beschäftigt sich mit der Verwendung bestimmter Begriffe, der Syntax und der Grammatik im engeren Sinn ebenso ein wie etwa damit, ob es sich um eine eher unbestimmt formulierte Strafnorm oder eine möglichst viele konkrete Fälle beschreibende Regelung (z. B. bei Regelbeispielen) handelt. Aus Perspektive der Bewertung wäre an dieser Stelle etwa von Bedeutung, ob die Formulierung des Straftatbestands dem Bürger ermöglicht, die meisten Fälle verbotenen Verhaltens aus dem Wortlaut entnehmen zu können. Zudem wäre zu fordern, dass in klarer, direkter Formulierung möglichst viele Konstellationen des verwerflichen Verhaltens erfasst werden und sich dabei an der Alltagssprache orientiert wird.14 Auch kann man an dieser Stelle beurteilen, ob eine bestimmte Ausgestaltung – etwa die Aufzählung verschiedener Konstellationen oder eine eher vage Formulierung – und bestimmte, etwa in anderen Normen bereits verwendete Begriffe, die typischen Konfliktsituationen adäquat erfassen. 3. Systematik mit Blick auf das (Straf-)Recht Jede Strafnorm ist Teil eines Gesamtsystems. Dies wird nicht nur bei der Auslegung berücksichtigt, sondern sollte auch bei ihrer Bewertung eine Rolle spielen. So wäre zu diskutieren, ob die Verwendung von Begriffen, die in anderen Kontexten ebenfalls verwendet wurden und entweder dieselbe oder eine abweichende Bedeutung haben, mit Blick auf diese Gesamtsystematik sinnvoll erscheint. Zugleich spielt an dieser Stelle eine Rolle, ob sich in der Norm dieselben inhaltlichen Wertungen finden wie in anderen Bestimmungen des Strafrechts oder andere Rechtsgebiete oder ob sich vielmehr Widersprüche zu sonstigen Regelungen und damit dem Gesamtsystem zeigen.15 Positiv wäre in diesem Bewertungszusammenhang zu bewerten, wenn die Norm Begriffe soweit möglich in derselben Weise wie im sonstigen StGB verwendet, möglichst geringe Verweisungen auf andere Normen aufweist und auf denselben Wertungen wie bestehende Strafnormen und sonstige Gesetze zeigt.16 13  Larenz / Canaris: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin / New York, Springer, 1995, S. 133 ff. 14  Heintschel-Heinegg, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), StGB, Kommentar, C.H. Beck, München, 2015, § 1 Rn. 13. 15  Engisch / Würtenberger, Einführung in das juristische Denken, Stuttgart, Kohlhammer, 2010.

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4. Zweck des Gesetzes und des Strafrechts Noch stärker inhaltlich orientiert ist das letzte Einzelelement einer Norm mit Blick auf ihre Bewertung: Unter „Telos“17 ist zu diskutieren, welche Ziele die Norm verfolgt, ob diese überhaupt von staatlichen Normen verfolgt werden dürfen, und ob hierfür gerade das Strafrecht eingesetzt werden darf – die „schärfste Waffe des Staates“. Vor allem aber ist hier relevant, ob die konkrete Norm in ihrer konkreten Ausgestaltung diese Ziele überhaupt erreichen kann.18 An dieser Stelle geht die Strafrechtswissenschaft häufig auf die Suche nach einem schutzwürdigen Rechtsgut19 und verneint die Vertretbarkeit der Norm, wenn ein solches nicht auffindbar ist.20 Ob dies der richtige Weg ist, werden wir im Folgenden ebenso diskutieren wie die Frage, inwieweit es für die Rechtswissenschaft innerhalb einer Demokratie überhaupt zulässig ist, die vom Gesetzgeber gewählten Ziele anzuzweifeln. 5. Abgrenzungen und Übergänge Wie angedeutet, gibt es zwischen den einzelnen Elementen der Strafnormen unzählige Wechselwirkungen. So ist etwa eine Beurteilung der Formulierung häufig verbunden mit der systematischen Frage, wie die jeweiligen Begriffe in anderen Kontexten verwendet werden. Die Angemessenheit des Prozesses – demokratisch und transparent – hängt nicht selten mit der Antwort auf die Frage zusammen, wie der vom Gesetzgeber angestrebte Telos und dessen Erreichbarkeit mittels Strafrecht von den Beteiligten beurteilt wird und ob diese Beurteilung als zutreffend anzusehen ist.21 Dieses Zusammenspiel erschwert eine klare Trennung bei der Be16  Zur Auslegung im Strafrecht unter Rekurs auf höchstrichterliche Rechtsprechung: Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht – Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Berlin, Duncker & Humblot, 2005. 17  Simon: Gesetzesauslegung im Strafrecht – Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Berlin, Duncker & Humblot, 2005, S. 471. 18  Ausführlich hierzu Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht – Eine Analyse der höchst­ richterlichen Rechtsprechung, Berlin, Duncker & Humblot, 2005, S. 471. 19  Zur Rechtsgutslehre allgemein: Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens: Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre, Frankfurt am Main, Athenäum-Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1973; Hilgendorf, „Punitivität und Rechtsgutslehre: Skeptische Anmerkungen zu einigen Leitbegriffen der heutigen Strafrechtstheorie“, Neue Kriminalpolitik, 2010, S. 125 ff.; Appel, „Rechtsgüter durch Strafrecht? Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher Sicht“, KritV 1999, S. 278 ff.; Engländer, „Revitalisierung der materiellen Rechtsgutlehre durch das Verfassungsrecht?“, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 2015, S. 616 ff.; Roxin, „Zur neueren Entwicklung der Rechtsgutdebatte“, in:  Herzog / Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, Hamburg, Hüthig-Jehle-Rehm, 2010, S. 573 ff. 20  Hilgendorf, „Punitiviät und Rechtsgutslehre: Skeptische Anmerkungen zu einigen Leitbegriffen der heutigen Strafrechtstheorie“, Neue Kriminalpolitik, 2010, S. 128. 21  Im Hinblick auf eine punitive Gesetzgebung: Hilgendorf, „Punitivität und Rechtsgutslehre: Skeptische Anmerkungen zu einigen Leitbegriffen der heutigen Strafrechtstheorie“, Neue Kriminalpolitik, 2010, S. 125 ff.

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wertung. Dennoch ist es möglich, den Schwerpunkt der Kritik jeweils auf eine Facette zu legen, ohne bei deren Analyse die anderen Aspekte aus den Augen zu verlieren. Diese können und sollten vielmehr immer mitbedacht werden. II. Perspektiven der Bewertung Im Anschluss an die Facetten eines Strafgesetzes sollen nun die möglichen Perspektiven erläutert werden, aus denen der Blick auf ein Strafgesetz gerichtet werden kann: die rechtsinterne und die rechtsexterne. Dabei behaupte ich nicht die Möglichkeit einer klaren Trennung; jeder Teilnehmer des Rechtssystems22 weiß um die Irritationen, die rechtsinterne Betrachtung von außen erfährt oder außerhalb des Systems bewirken kann. Jeder Beobachter weiß um die rechtsinternen Vorgaben und Grenzen einer Außenperspektive. Doch ist diese Konstruktion m.E. zu Analysezwecken zulässig. 1. Die rechtsinterne Perspektive Die Rechtswissenschaft kritisiert traditionell aus der rechtsinternen Perspektive. Der Kritisierende agiert als Teilnehmer der rechtlichen Kommunikation, der Normen als „Recht“ oder „Unrecht“ wertet, ihre Rationalität, Funktionalität und Effektivität mit Blick auf die vom Gesetzgeber vorgegebene Funktion betrachtet und gegebenenfalls als Rechtsanwender ihre Praktikabilität beurteilt.23 Auch ein Gesetz selbst lässt sich in den binären Code „Recht“ vs. „Unrecht“ einordnen, indem es mit Blick auf höherrangige Normen bewertet wird, d.h. indem es auf seine Verfassungsmäßigkeit, ggf. auch der Europarechtskonformität, geprüft wird.24 Zum Bewertungshorizont gehören für Strafgesetze etwa die nur verhältnismäßig einschränkbare Handlungsfreiheit (Art. 2 II GG), das u. a. aus der Menschenwürde abgeleitete Schuldprinzip,25 das Verbot grausamer und unmenschlicher Strafen,26 das Recht auf den gesetzlichen Richter27 und das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 II GG. Anders als Normen anderer Rechtsgebiete sind Strafgesetze in

  Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1993.   Zum „binären Code“ siehe Luhmann, Differentiation of society, Canadian Journal of Sociology / Cahiers canadiens de sociologie, 1977, S. 29 ff. 24  Heintschel-Heinegg, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2015, § 1 Rn. 22 ff. 25  Eisele, in: Schönke / Schröder, StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2014, Vor §§ 13 Rn. 103 f. 26  Calliess, in: Blanke (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, Art. 4 Rn. 1 – 22. 27  Maunz, in: Maunz / Dürig (Hrsg.) , Grundgesetz – Kommentar, München, C.H. Beck, 2019, Art. 101 Rn. 19 – 37. 22 23

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zweierlei Hinsicht am GG zu messen.28 Sowohl das Verhaltensverbot,29 als auch die Strafandrohung als solche müssen verfassungsgemäß sein. Bereits an dieser Stelle wird der häufig zitierte „ultima ratio Grundsatz“ relevant; der Einsatz von Strafrecht ist hiernach jedenfalls nur dann zulässig, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht.30 Zu berücksichtigen ist aber auch der weite Entscheidungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers bezüglich der relevanten Fakten, der Erfolgsaussichten der Mittel, und damit auch des Einsatzes von Strafrecht. Nur wenn dieser Spielraum überschritten wird, ist ein Gesetz verfassungswidrig. Die Verfassungsmäßigkeit ist sicher das wichtigste, aber nicht das einzige rechtsinterne Kriterium für die Bewertung von Gesetzen. Die Regelung muss zudem funktional sein, d.h. über den verfassungsrechtlichen Aspekt der Verhältnismäßigkeit hinausgehend das zugrunde liegende Problem nachhaltig und besser als andere politische Mittel lösen.31 Auch wenn der Zweck staatlicher Strafe bis heute umstritten ist,32 ist man sich doch insofern einig, als eine gewisse Präventiv- und Kommunikationswirkung erzielt wird – und genau hierauf ist das jeweilige Strafgesetz zu untersuchen.33

28 Vgl. Appel, Verfassung und Strafe: Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafens, Berlin, Duncker & Humblot, 1998; Appel, „Rechtsgüterschutz durch Strafrecht? Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher Sicht“, KritV 1999, S. 278 ff.; Lagodny: Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte: die Ermächtigung zum strafrechtlichen Vorwurf im Lichte der Grundrechtsdogmatik dargestellt am Beispiel der Vorfeldkriminalisierung, Tübingen, Mohr Siebeck, 1996; Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2003. 29  Lagodny: Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte: die Ermächtigung zum strafrechtlichen Vorwurf im Lichte der Grundrechtsdogmatik dargestellt am Beispiel der Vorfeldkriminalisierung, Tübingen, Mohr Siebeck, 1996, S. 138 ff.; Appel: Verfassung und Strafe: zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafens, Berlin, Duncker & Humblot, 1998, S. 109 ff. 30  Miebach, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2012, § 46 Rn. 22 f.; Hilgendorf: „Punitivität und Rechtsgutslehre: Skeptische Anmerkungen zu einigen Leitbegriffen der heutigen Strafrechtstheorie“, Neue Kriminalpolitik, 2010, S. 127 ff.; zur Kritik zur Ausweitung des Strafrechts im Hinblick auf den Ultima-Ratio-Grundsatz: Hanssen, „Das Freiheitsprinzip als Grenze inflationärer Strafnormenschaffung, ZRP 2002, S. 318 ff. 31 Am Beispiel des Anti-Doping Gesetz: Momsen, in: Asmuth / Binkelmann (Hrsg.), Entgrenzungen des Machbaren? – Doping zwischen Recht und Moral, Bielefeld, transcript-Verlag, 2012. 32  Eine Übersicht über jeweiligen Strafzwecktheorien liefern: Miebach, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2012, § 46 Rn. 24 – 49; Streng, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), StGB, Kommentar, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2013, Vor §§ 38 ff. Rn. 33 – 50; Stree / Kinzig, in: Schönke / Schröder, StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2014, Vor §§ 38 ff. Rn. 2 – 17. 33  Stree / Kinzig, in: Schönke / Schröder, StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2014, Vor §§ 38 ff. Rn. 3, Rn. 13; Radtke, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2012, Vor §§ 38 ff. Rn. 35 ff.

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Damit zusammen hängt das Kriterium der Praktikabilität.34 Praktikabel muss die Norm für den Juristen sein, der auf Basis des Gesetzes Maßnahmen anordnet oder ein Urteil spricht. Dazu muss die Norm derart ausgelegt werden können, dass sie auf die relevanten Konfliktfälle angewandt wird und die Anwendung auch zu angemessenen Konfliktlösungen führt. Zum anderen muss gerade ein Strafgesetz auch insofern praktikabel sein, als der juristische Laie es verstehen und sein Handeln hieran orientieren können muss.35 Nur dann kann er sich bewusst für oder gegen ihre Einhaltung entscheiden – und nicht auf Basis von Unverständnis der gesetzlichen Vorgaben. 2. Die rechtsexterne Perspektive Neben der rechtsinternen Perspektive ist es auch möglich, Gesetze können aus einer externen Perspektive zu betrachten, analysieren und zu bewerten. Diese steht nicht in einem Gegensatz zur rechtsinternen Perspektive, sondern ergänzt diese vielmehr. Nun kann man diskutieren, ob es für Angehörige der Rechtswissenschaften überhaupt zulässig ist, diese Perspektive einzunehmen. Hiergegen könnte man einwenden, dass bezüglich der Problemanalysen, der Methodik und der Bewertungskriterien doch Kriterien aus der Politik(wissenschaft), der Soziologie, Ökonomie, Ethik, etc., herangezogen werden müssen. Hierfür sind dann aber eben eigentlich die Angehörigen dieser Disziplinen zuständig. Diese Argumentation vernachlässigt jedoch die Expertise mit Blick auf den Gegenstand. Gerade Rechtswissenschaftler sind es, die das Recht, seine Anwendung, seine Struktur, seine offenen und verdeckten Prämissen, kennen und verstehen. Sie sind in die „Rechtskultur“ ihres Landes hineingewachsen, kennen die Geschichte ihres Rechtssystems zumindest in den Grundzügen und wissen um die Anforderungen an rechtliche Konfliktlösung. Dies und vieles mehr bleibt Experten anderer Disziplinen verschlossen. Deshalb erscheint es sinnvoller, die Einbeziehung der Erkenntnisse und Methoden anderer Disziplinen nicht als etwas zu betrachten, dass die Bewertung durch Rechtswissenschaftler ausschließt, sondern etwas, das sie ergänzt. Plausibel ist deshalb, mit Hassemer gerade auch in der kritischen Betrachtung eine wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaften zu sehen: „Eine Wissenschaft wie unsere entkommt der Politik nicht; es ist ihr nicht gegeben, sich durch Schweigen rein zu halten.“36 Diese Aufgabe eines kritischen Hinterfragens der bestehen34  So bereits: Goetzeler, „Die rechtsstaatliche Funktion des Gesetzes in ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeitsidee und zur Praktikabilität auf dem Gebiet des Strafrechts“, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1951, S. 83 ff. 35  Heintschel-Heinegg, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.) , BeckOK StGB, München, C.H. Beck, 2015, § 1 Rn. 13. 36  Hassemer, „Das Selbstverständnis des Strafrechts“ in: Eser (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende – Rückbesinnung und Ausblick, München, C.H. Beck, 2000, S. 39.

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den Rechtslage muss sich m.E. auch in der Juristenausbildung finden. Dazu ist eine Stärkung der Grundlagenfächer erforderlich, eine Bestärkung der Studierenden darin, den Status Quo stetig zu hinterfragen und sich auch mit anderen Disziplinen auseinanderzusetzen. Ich bin sicher, diese Forderung wäre auch im Sinne Joachim Hruschkas. Die Bewertung aus rechtsexterner Perspektive beinhaltet die Fragen danach, ob das jeweilige Strafgesetz alle Interessen in angemessenen Ausgleich bringt, ob es die sozialen Konflikte nachhaltig löst und dabei insgesamt für die Gesellschaft mehr Vor- als Nachteile birgt. Für deren Beantwortung ist auf verschiedene Bezugsrahmen zurückzugreifen, etwa Politik, Kultur, Philosophie bzw. Ethik, aber auch auf empirische Erkenntnisse. a) Adäquater Ausgleich der betroffenen Interessen Strafgesetze werden derzeit nicht selten als Reaktion auf die Gesellschaft verunsichernde Ereignisse wie Amokläufe37 oder terroristische Attentate38 erlassen. Dass auf eine gesellschaftliche Emotion reagiert wird, heißt aber keinesfalls, dass dadurch die betroffenen Interessen adäquat ausgeglichen werden. So ist doch zumindest zu vermuten, dass derartiger Aktionismus eher politische Positionen sichern und den Wähler beruhigen soll statt den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt nachhaltig zu lösen. Die mit solchen Strafnormen verbundenen Freiheitseinschränkungen stehen häufig in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Erhöhung von Sicherheit (bzw. deren Fehlen). Auch ganz generell ist Skepsis bezüglich des Strafrechts angebracht – so wird argumentiert, zumindest einige Strafgesetze (z. B. die Strafbarkeit des Glücksspiels39) sollen den Blick der Mittelschicht bewusst auf Fehlverhalten der Unterschicht richten, um verwerflicherem Handeln der Oberschicht abzulenken. Kriminalpolitische Kritik sollte deshalb zum einen für die Erhaltung von möglichst großen Freiheitsräumen einstehen und zum anderen hinter den Gesetzen stehende Machtverhältnisse analysieren, soweit möglich die Motive der Akteure aufdecken und fragen, ob der Kompromiss nachhaltig und für die gesamte Gesellschaft – also alle potentiell betroffenen Interessengruppen – vorteilhaft ist. Für diese Überlegungen ist unter anderem von Bedeutung, welche Interessen überhaupt strafrechtlich geschützt werden dürfen. Hierzu wird regelmäßig die sogenannte Rechtsgutsdebatte geführt.40 Nach einer Ansicht ist ein Strafgesetz nur le37  Michel, Amokläuferin erstickt ihren Sohn, TAZ 21. 09. 2010; Horeld, Warum Gesetze Amokläufe nicht verhindern können, Zeit-Online 13. 03. 2009; Koalition verschärft das Waffenrecht, Süddeutsche Zeitung 17. 05. 2010. 38  Tomuschat, Der 11. September 2001 und seine rechtlichen Konsequenzen, Trier, Rechtspolitisches Forum Bd. 5, 2002; Krajewski, Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe nicht-staatlicher Organisationen – Der 11. September und seine Folgen, Archiv des Völkerrechts, 2002, S. 183 ff. 39  Wohlers / Gaede, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), StGB, Kommentar, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2013, Vorbemerkungen zu den §§ 284 bis 297 Rn. 1.

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gitim, wenn es ein Rechtsgut schützt, das sich je nach Ansicht aus dem Naturrecht, gesellschaftlichem Konsens oder der Verfassung entnehmen lässt.41 Nach anderer Ansicht spielen Rechtsgüter für die Legitimation von Strafrecht keine Rolle.42 Mir erscheint die Debatte um die Begrifflichkeit „Rechtsgut“ jedoch weniger relevant als die Suche nach inhaltlichen Kriterien, aus denen sich schützenswerte Rechtsgüter, Interessen oder eben mit Strafrecht verfolgbare Ziele ergeben. Aus Gründen, auf die ich an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingehen kann lässt sich m.E. aus keinem der genannten Bezugsrahmen ein dauerhafter Katalog strafrechtslegitimierender Rechtsgüter ableiten; ein derartiger Katalog wäre jedenfalls schnell veraltet. Vielmehr erscheint es sinnvoller, bestimmte Ausschlusskriterien zu entwickeln, d.h. zu diskutieren, welche Ziele keinesfalls mit Strafrecht geschützt werden dürfen. Dazu gehören m.E. singuläre Interessen einzelner Bevölkerungsgruppen, rein moralische bzw. ausschließlich paternalistische Zwecke, menschenverachtende Ziele, etc. Im Übrigen muss über den Schutzzweck einer Strafnorm ein gesellschaftlicher Konsens denkbar sein. Zudem muss hier nun ohne Einschätzungsspielraum nachweislich auf alle relevanten Fakten Bezug genommen und das Verhältnismäßigkeitsprinzip befolgt werden. Bei der Frage nach dem richtigen Mittel spielt auch die Empirie eine wichtige Rolle, d.h. der Strafgesetzgeber ist unter anderem daran zu messen, ob er Erkenntnisse der Kriminologie über Ursachen von Straftaten, deren effektivste Bekämpfung, die Wirkungen des Strafvollzugs, etc., berücksichtigt.43 b) Einfügen in das kulturelle und gesellschaftliche System Gesetze und insbesondere Strafgesetze stellen eine spezifische Form der kulturellen Kommunikation der wichtigsten gesellschaftlichen Werte dar. Im Bewusstsein der Debatten und Zweifel um den Begriff der „Kultur“ und ihren Bezugspunkt (Nation, Religion, gesellschaftliche Subsysteme)44 ist für uns an dieser Stelle ausreichend, dass es neben den anderen Systemen jedenfalls eine spezifische nationale Kultur gibt. Diese beinhaltet Werte und Regeln, Sitten und Bräuche. Der spezifi40  Ausführlich mit weiteren Nachweisen: Hassemer / Neumann, in: Kindhäuser / Neumann /  Paeffgen (Hrsg.), StGB, Kommentar, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2013, Vor § 1 Rn. 108 ff.; Joecks, in: Heintschel-Heinegg (Hrsg.), StGB, Kommentar, München, C.H. Beck, 2012, Einleitung Rn. 30 ff. 41  Hassemer / Neumann, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), StGB, Kommentar, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2013, Vor § 1 Rn. 115. 42  Hassemer / Neumann, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), StGB, Kommentar, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2013, Vor § 1 Rn. 115. 43  Hassemer / Neumann, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), StGB, Kommentar, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2013, Vor § 1 Rn. 115; Mühl, „Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz? - Die Laufzeitleistung als alternative Sanktion“, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015. 44  Einleitend etwa: Hauser, „Was ist Kultur?“ in: (Hrsg.) Hauser, Aspekte interkultureller Kompetenz, Wiesbaden, Springer, 2003, S. 7 ff.; Eagleton, Was ist Kultur – Eine Einführung, München, C.H. Beck, 2001.

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sche Zusammenhang zwischen Strafgesetzen und Kultur wurde auch vom BVerfG in der Lissabon-Entscheidung betont: „Die Strafrechtspflege ist, sowohl was die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch was die Vorstellungen von einem fairen, angemessenen Strafverfahren anlangt, von kulturellen, historisch gewachsenen, auch sprachlich geprägten Vorverständnissen […] abhängig“45. Mit Blick auf diese Überlegungen sind Strafgesetze etwa problematisch, wenn sie nur Vorstellungen einzelner Gruppierungen kommunizieren oder ihren Kulturbezug verlieren.46 Zugleich setzt dieser Aspekt Grenzen für eine andere Bewertungsmethode: Der Rechtsvergleichung.47 Auch wenn der Vergleich eigener Gesetze mit denen anderer Länder neue Lösungswege eröffnen oder Probleme der eigenen Strafnormen aufdecken kann, ist immer auch zu berücksichtigen, dass kulturell geprägtes Strafrecht nicht beliebig in andere Staaten transferiert oder ausgetauscht werden kann. c) Sozial-ethische Vertretbarkeit Der Erlass eines Gesetzes ist als menschliche Handlung moralisch beurteilbar;48 entsprechende Kriterien können aus der Ethik und Rechtsphilosophie entwickelt werden, wobei letztere zum einen eine genauere Analyse des Rechts ermöglicht, zum anderen über Theorien von Staat, Gesellschaft und vor allem Gerechtigkeit den Bezugsrahmen für die Beurteilung setzt. Insofern muss der kritische Betrachter auf eine bestimmte rechtsphilosophische Theorie zurückgreifen.49 Auch insofern ist es einfacher, offensichtlich ungerechte Strafgesetze zu erkennen als eine   BVerfG 2 BvE 2/08 v. 30. 6. 2009, Rn. 253.   Vgl. hierzu etwa Leonard, Legal Studies as Cultural Studies: a reader in (post) modern critical theory, New York, SUNY Press, 1995; Coombe, Critical Cultural Legal Studies, New Haven, Yale JL & Human 10, 1998, S. 463 ff.; Coombe, Is there a cultural studies of law? A Companion to Cultural Studies, Cambridge, Basil Blackwell pp. 2001, S. 36 ff.; Kahn: The Cultural Study of Law: reconstructing legal scholarship, Chicago, The University of Chicago Press, 2000. 47 Einführend Kischel, Rechtsvergleichung, München, C.H. Beck, 2015; Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2010; Pommer, Rechtsübersetzung und Rechtsvergleichung, Frankfurt a.M., Peter Lang Verlag, 2006; Sieber, Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Berlin, Duncker & Humblot, 2010. 48  Zu Recht und Moral vgl. etwa Nida-Rümelin, Recht und Moral, in: Vöneky (Hrsg.), Ethik und Recht – Die Ethisierung des Rechts, Heidelberg, Springer, 2013, S. 3 ff.; Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral – Beiträge zu einer Standortbestimmung, Baden-Baden, Nomos Verlag, 1991. 49  Zu Gerechtigkeitstheorien etwa Platon, Politeia: Plato / Schleiermacher / Otto / Wolf, Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 2011; Rawls / Vetter, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 2014; Aristoteles / Dirlmeier, Nikomachische Ethik, Leipzig, Reclam Verlag 2003; Kelsen / Walter, Was ist Gerechtigkeit?, Leipzig, Reclam Verlag, 2016. Eine Einführung in die Thematik liefern unter anderem: Horn / Scarano, Philosophie der Gerechtigkeit – Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 2002; Schaal / Heidenreich, Theorien der Gerechtigkeit – Eine Einführung, Stuttgart, UTB-Verlag, 2008; Höffe, Gerechtigkeit – Eine philosophische Einführung, München, C.H. Beck, 2001. 45 46

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positive Feststellung eines gerechten Gesetzes vorzunehmen; dies insbesondere weil durchaus bezweifelt werden kann, dass Gerechtigkeit mehr ist als ein unerreichbares Ideal (was uns nicht davon abhalten sollte, es erreichen zu wollen).50 Doch trotz Unerreichbarkeit des Ideals bleibt es möglich, sich für mehr und gegen weniger plausible Gerechtigkeitstheorien zu entscheiden, zu überprüfen, ob die jeweilige Theorie in die eigene Zeit und Gesellschaft passt und auf dieser Basis um Gleichbehandlung von Gleichem, Ungleichbehandlung von Ungleichem, Grundbedingungen menschenwürdigen Lebens und andere Aspekte gesellschaftlich konsentierter Gerechtigkeitsvorstellung zu ringen. 3. Gesellschaftliche Konsequenzen Die hier dargestellten Perspektiven sind nicht umfassend voneinander trennbar: Im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit werden viele der auch bei der rechtsexternen Perspektive relevanten Kriterien diskutiert und rechtsethische Überlegungen beeinflussen die Auslegung der jeweiligen Verfassungsnormen. Auch werden aus beiden Perspektiven die Konsequenzen der Norm für Gesellschaft und Bürger berücksichtigt. Nur in wenigen Fällen werden Gesetze, einmal erlassen, im Nachhinein überprüft oder angepasst. Es scheint jedoch durchaus angebracht, derartige nachträgliche Überprüfungen durchzuführen; teilweise wird derzeit diskutiert, manche Regelungen nur vorläufig einzuführen. Auch sollten verstärkt Überlegungen zu nachteiligen Effekten von Strafrecht, insbesondere zur Verfestigung ungleicher Machtverhältnisse, berücksichtigt werden – hierfür könnte beispielsweise eine Dekonstruktion gesetzgeberischer Aktivitäten erforderlich werden. III. Exemplifizierung: Reform des Sexualstrafrechts Nach den bisherigen Überlegungen würde man bei einer umfassenden Gesetzesanalyse wie folgt vorgehen: Jedes dieser Kriterien (rechtsintern: Normenhie­ rarchie, Funktionalität, Praktikabilität und rechtsextern: Interessenausgleich, kulturelle Einbettung, Vertretbarkeit) wäre mit Blick auf Gesetzgebungsprozess, Grammatik, Systematik und Telos zu analysieren, soweit diese im konkreten Fall beachtlich erscheinen und insofern Probleme der jeweiligen Norm denkbar sind. Im Folgenden soll an einigen Beispielen gezeigt werden, wie diese Systematisierung zur Bewertung von Strafgesetzen beitragen kann. Als Beispiel zur Illustration der geplanten Vorgehensweise sei die Reform des Sexualstrafrechts herangezogen51, wobei der Fokus auf die zentralen und problematischsten Änderungen gerichtet wird: § 177 StGB wurde neu gestaltet sowie 50  Derrida, Gesetzeskraft – Der „mystische“ Grund der Autorität, Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1991, S.  33 – 34, 36 – 37, 44 – 46, 51 – 52. 51  Vgl. hierzu auch Beck, in: Knierim / Oehmichen / Beck / Geisler (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht aktuell, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2018, S. 55 ff.

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zwei neue, eigenständige Straftatbestände geschaffen (§§ 184i und 184j StGB). Dadurch sollten insbesondere Lücken im Rahmen der sexuellen Nötigung geschlossen werden, so dass nun jegliche Überwindung des erkennbaren Willens erfasst ist und keine Gewalt oder Drohung mehr erforderlich ist (§ 177 StGB n.F.). Zudem wurde die Strafbarkeit auf bestimmte Formen der sexuellen Belästigung erweitert (§ 184i StGB), die bewusst als Sexualdelikt und nicht wie bisher als Beleidigung eingestuft werden soll. Schließlich werden bestimmte Formen der Bedrängung aus einer Gruppe heraus sanktioniert (§ 184j StGB). Diese Normen lösten schon vor Erlass große Debatten aus und werden bis heute in vielerlei Hinsicht kritisiert. Im Folgenden sollen die Gesetze genauer nach dem hier entwickelten Schema betrachtet und bewertet werden. Dabei geht es nicht darum, alle dargestellten Aspekte „abzuarbeiten“, sondern die kritikwürdigen Punkte der Normen mittels des Schemas zu strukturieren und so eine klarere Analyse zu ermöglichen. Hierbei stehen die rechtsexternen Kriterien im Vordergrund, da von einer Verfassungswidrigkeit der Normen trotz aller Mängel wohl aufgrund des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers im Folgenden grundsätzlich nicht ausgegangen wird. Ein Aspekt, der bei dieser Reform häufig kritisiert wurde, war die Schnelligkeit des Gesetzgebungsprozesses bzw. die Reaktion der Politik auf damalige Ereignisse, also das Zustandekommen des Gesetzes. So fanden in der Silvesternacht 2015/2016 zahlreiche Übergriffe statt, vor allem vor dem Kölner Hauptbahnhof, aber auch in Hamburg. Frauen wurden von Männern umringt52 und am Körper, vor allem im Schritt, berührt. Teilweise waren die Taten verbunden mit Diebstählen oder Raubtaten, teilweise sexuell motiviert.53 Die politische Brisanz erhöhte sich dadurch, dass die Täter ausländisch aussahen und von Medien früh als Flüchtlinge identifiziert wurden, während die Polizei sich zur Herkunft zunächst nicht äußerte.54 Zudem wurde am Polizeieinsatz in der Silvesternacht und der Ermittlungstätigkeit (von ca. 1.200 potentiellen Tätern wurden nur wenige wegen Sexualdelikten verurteilt55) Kritik geübt.56 Ein weiterer Fall, der in der Öffentlichkeit intensiv dis52  Bericht des Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Übergriffe am Hauptbahnhof Köln zum Jahreswechsel, S. 1, https://www1.wdr.de/nachrichten/bericht-des-nrw-in​ nenministeriums-zur-silvesternacht-100.pdf, zuletzt aufgerufen am 28. 06. 2019. 53  Dies lässt sich zumindest aus den zwei Verurteilungen wegen sexueller Nötigung schließen: Zwei Täter wegen Sexualdelikten zu Bewährungsstrafen verurteilt, in: Spiegel Online, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/koelner-silvesternacht-erste-schuld​ sprueche-wegen-sexualdelikten-a-1101870.html, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016. 54  Tatsächlich bestand das Problem zunächst darin, dass überhaupt nicht über die Vorfälle berichtet wurde und selbst die Polizei noch twitterte, dass eine friedliche Feier stattfände. Vgl. den Tweet, https://twitter.com/polizei_nrw_k/status/682875312095539200?lang=de, zuletzt aufgerufen am 28. 06. 2019, und die dazugehörige Pressemitteilung, https://www.presseportal. de/blaulicht/pm/12415/3214905, zuletzt aufgerufen am 28. 06. 2019. 55  http://www.sueddeutsche.de/politik/uebergriffe-in-koeln-frauen-wurden-opfer-von-silvester-gewalt-1.3072064; laut Aussage der StA Köln soll es 1276 mutmaßliche Opfer gegeben und 1182 Anzeigen vorgelegen haben, vgl. Reker, „Vielleicht habe ich den Frauen zu wenig Trost gespendet“, in: Zeit-Online vom 22. 06. 2016, verfügbar unter: http://www.zeit.de/zeit-

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kutiert wurde, war das Geschehen um Gina-Lisa Lohfink. Nachdem im Sommer 2012 im Internet ein Film verbreitet wurde, der sie beim Geschlechtsverkehr mit zwei Männern zeigte, erstattete sie Anzeige wegen Vergewaltigung.57 Das Gericht sah die Vorwürfe als nicht erwiesen an. Stattdessen wurde gegen Lohfink wegen falscher Verdächtigung ein Strafbefehl in Höhe von 60 Tagessätzen je 400 Euro erlassen, gegen den sie Einspruch eingelegte.58 Sie habe, so wurde jedenfalls argumentiert, dem Geschlechtsverkehr mehrfach widersprochen (wobei das im Video im Detail unklar blieb59). Nach damaliger Gesetzeslage reichte dieser Widerspruch für eine Bestrafung als Vergewaltigung nicht aus, woraufhin unter dem Slogan „Nein heißt Nein!“ für eine Verschärfung der Regelung plädiert wurde – die bisherige Begrenzung auf Anwendung von Gewalt oder sonstigen Nötigungsmitteln sei inakzeptabel.60 Der Gesetzgeber reagierte mit der Reform gerade auch auf diese öffentlichen Debatten:61 Eine Vergewaltigung bzw. sexuelle Nötigung soll nunmehr eben nicht die Anwendung von Gewalt voraussetzen, sondern bereits vorliegen, wenn sexuelle Handlungen gegen den zum Ausdruck gebrachten Willen des Opfers vorgemagazin/2016 – 06/henriette-reker-armlaenge-aeusserung-fehler, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016. 56  De Maizière wirft Kölner Polizei Versagen vor, in: Spiegel-Online vom 05. 01. 2016, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/koeln-innenminister-thomas-de-mai​ ziere-kritisiert-koelner-polizei-a-1070651.html, zuletzt aufgerufen am 17. 11. 2016; De Mai­ zière übt massive Kritik an Kölner Sicherheitskonzept, in: SZ-online vom 05. 11. 2016, verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/panorama/uebergriffe-an-silvester-de-maizire-uebt-massive- kritik-an-koelner-polizei-1.2806333, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016; 1200 Anzeigen, 19 Urteile, in: Spiegel-Online vom 07. 10. 2016, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/pa​ norama/justiz/koeln-erst-ein-schuldspruch-nach-uebergriffen-an-silvester-a-1115678.html, zuletzt aufgerufen am 17. 11. 2016; zur Reaktion der Landesregierung: Pressemitteilung des Landes NRW, Silvesternacht in Köln – Landesregierung trägt konsequent zur transparenten Aufarbeitung der Ereignisse bei, verfügbar unter: https://www.land.nrw/de/silvesternacht-koeln-lan​ desregierung-traegt-konsequent-zur-transparenten-aufarbeitung-der-ereignisse, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016. 57  Reinbold, Gina-Lisa Lohfink: Eine Demütigung, eine Million Mal geklickt, in: Spiegel-Online, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/netzwelt /web/gina-lisa-lohfink-pornhub-loescht-video-a-1096899.html, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016. 58  Fischer, Frauenfilme zu Frauenwahrheiten und Frauenfragen, in: Zeit-Online vom 21. Juni 2016, verfügbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-06/rechtspoli​tik-se xualstrafrecht-vergewaltigung-taeter-opfer-fischer-im-recht, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016. 59  Tatsächlich äußerte Frau Lohfink mehrere Male „Hör auf!“, wobei der Bezugspunkt der Äußerung (Filmen oder sexuelle Handlungen?) unklar bleibt. Hierzu: Rosenfeld, Der falsche Fall, in: SZ-Online vom 07. 07. 2016, verfügbar unter: http://www.zeit.de/2016/27/gina-lisalohfink-vergewaltigung-sexualstrafrecht, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016. 60  Zu den Positionen vgl. etwa Herzog, Sex wider Willen – Anmerkungen zu dem Grund und den Grenzen der Strafbarkeit von nicht konsensual verlaufendem Geschlechtsverkehr, KritV 2015, S. 18 ff. 61  Zum Verfahrensgang und verschiedenen Stellungnahmen: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw27-ak-selbstbestimmung/433506, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016.

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nommen werden, wie es vermeintlich bei Gina-Lisa Lohfink der Fall war. Handlungen, die aus Gruppen heraus begangen werden, sollen sanktioniert werden können, ohne dass im Detail nachweisbar ist, wer welche konkreten Handlungen begangen hat. Zudem sollen „Grapscher“ künftig auch wegen eines Sexualdelikts bestraft werden können, möglicherweise nicht zuletzt, weil eine derartige Verurteilung Auswirkung auf ihren Aufenthaltsstatus haben könnte. Bereits dieser Aspekt kann mit Blick auf die Historie des Gesetzes kritisiert werden. Derartiger Aktionismus, derartige politisch geprägte Reaktionen auf aktuelle öffentliche Debatten sprechen bereits zumindest tendenziell gegen einen alle Seiten berücksichtigenden, rationalen und abgewogenen Prozess. Das ließe sich natürlich wiederum entkräften, wenn der Gesetzgeber andererseits die umfassende Berücksichtigung aller potentiell Betroffener und relevanten Argumente nachweisen könnte – das erscheint in diesem Fall jedoch kaum möglich, vielmehr spricht doch einiges dafür, dass es sich um einen etwas übereilten und nicht vollends durchdachten politischen Akt handelte. Aber auch mit Blick auf die Systematik wurden gegen die Reform einige Argumente angeführt. Vorab sei angemerkt, dass für die Reform zum Teil die Notwendigkeit der Schließung von Gesetzeslücken angeführt wurde, wenngleich die Bewertung der Lücken seit jeher umstritten ist.62 Gegen eine Verschärfung, also gegen die Schließung der Lücke, wird eingewandt, dass der fragmentarische Charakter dem Strafrecht immanent sei – dieser Zustand sei kein Mangel, sondern in einem Rechtsstaat sogar wünschenswert63. Dem hält Hörnle64 wiederum zutreffend entgegen, dass fragmentarischer Charakter nicht per se zu begrüßen sei, sondern nur dann, wenn die nicht bestraften Handlungen tatsächlich nicht strafwürdig sind und das bestehende Strafrecht als systematisch und in sich konsistent anzusehen ist. Eine genuine Strafbarkeitslücke liege vor, wenn das entsprechende Verhalten unmittelbar Rechte anderer in erheblicher Weise verletze und die Anwendung von Strafrecht verhältnismäßig wäre. Die Bewertung der 62 Vgl. etwa Krings, Neuer Maßstab im Kampf gegen Kinder- und Jugendpornographie, ZRP 2014, S. 69 ff.; Renzikowski, Überfällige Reglementierung der Prostitution, ZRP 2014, S. 75 ff.; Schroeder, Gesetzestechnische Mängel im Gesetz zur Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie, GA 2009, S. 213 ff.; Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) des Deutschen Juristinnenbundes, vom 09. 05. 2014, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2014/Down​ loads/05092014_Stellungnahme_DJB_REfE_Aenderung_Strafgesetzbuch_Umsetzung_euro​ paeischer_Vorgaben_Sexualstrafrecht.html, zuletzt aufgerufen am 28. 06. 2019. 63  Fischer, Stellungnahme für die Anhörung vor dem Rechtsausschuss, BT-Drucksache 18/1969, S. 1; Kulhanek, Der fragmentarische Charakter des Strafrechts als Argumentationsfigur – Exemplifiziert an der Frage nach einem Deliktskatalog für eine Verbandsstrafbarkeit, ZIS 2014, S. 674 ff.; Vormbaum, Fragmentarisches Strafrecht in Geschichte und Dogmatik, ZStW 2011, S. 660 ff. 64  Zum Folgenden Hörnle, Warum § 177 Abs. 1 StGB durch einen neuen Tatbestand ergänzt werden sollte, ZIS 4/2015, S. 207 ff.

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dargestellten Regelungslücke ist somit richtigerweise die Bedeutung der sexuellen Selbstbestimmung sowie die Einstufung einer Verletzung dieses Rechts durch die jeweilige Handlung als Bagatelle oder als erheblich entscheidend, sowie natürlich die Frage, ob sonstige gewichtige Gründe gegen eine Sanktionierung sprechen. Die systematische Betrachtung hilft an dieser Stelle also aus sich selbst heraus nicht weiter. Vielmehr ist der Telos der Normen in den Blick zu nehmen: Der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Insofern geht es um die Frage, ob die verschiedenen sich gegenüber stehenden Interessen zu einem angemessenen Ausgleich gebracht wurden. Bei der sexuellen Selbstbestimmung handelt es sich ohne Zweifel um ein Recht von zentraler Bedeutung und dass nicht-einverständliche sexuelle Handlungen dieses Recht verletzen, ist nicht zu bestreiten. Doch das alleine besagt noch nichts über die Legitimität der Reformen. Denn nicht jeder Eingriff in dieses Recht ist gleich zu bewerten, und nicht jede der neuen Regelungen sanktioniert einen erheblichen sanktionswürdigen Eingriff. Sicherlich sind aufgrund der Bedeutung des Rechtsguts nicht alle Eingriffe, die auf dem unteren Ende der Skala zu verorten sind, per se als Bagatelle anzusehen.65 Jedenfalls sind Rechtsverletzungen, die bezüglich ihrer Schwere unterhalb einer ja ebenfalls strafbaren einfachen Beleidigung oder vergleichbaren Delikten anzusiedeln sind, nur schwer vorstellbar. Das bewusste Hinwegsetzen über eine ablehnende Äußerung im Bereich der Sexualität ist sozialmoralisch verwerflich und damit grundsätzlich strafwürdig.66 Insbesondere ist ein Vorgehen gegen solches Verhalten mit öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Mitteln schwer vorstellbar.67 Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil sich die Opfer den Tätern häufig unterlegen fühlen und gerade deshalb des Beistands des Staates bedürfen. Zugleich kann die Betrachtung an dieser Stelle noch nicht enden: Auch eine zu weitgehende Sanktionierung dieses Lebensbereichs kann problematisch sein.68 Nicht zuletzt weil das Verbot nicht-konsentierter sexueller Handlungen nach § 177 StGB recht vage und weit formuliert ist, stellt es doch eine erhebliche Einschränkung der Freiheit zur Gestaltung des eigenen Sexuallebens dar.69 Insofern kommt zur Kritik bezüglich des Telos an dieser Stelle auch eine kritische Bewertung der Formulierung, also des Wortlauts und der Grammatik, hinzu. Denn es ist gerade aufgrund der unklaren Formulierung durchaus denkbar, dass 65  Man kann durchaus an der Strafbarkeit von Bagatellen zweifeln; im Sinne einer Konsistenz der Wertung sollten jedoch nicht gerade die Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung als geringes Unrecht angesehen werden. 66  So auch Hörnle, Betatschen ist nicht immer strafbar, FAZ vom 11. 01. 2016, verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sexualstrafrecht-betatschen-ist-nicht-immer-straf bar-14007043.html, zuletzt aufgerufen am 01. 12. 2016. 67  So auch Hörnle, Warum § 177 Abs. 1 StGB durch einen neuen Tatbestand ergänzt werden sollte, ZIS 4/2015, S. 209 ff. 68  Zum fragmentarischen Charakter etwa Fischer, Stellungnahme für die Anhörung vor dem Rechtsausschuss, BT-Drucksache 18/1969, 1. 69 So Hörnle, Warum § 177 Abs. 1 StGB durch einen neuen Tatbestand ergänzt werden sollte, ZIS 4/2015, S. 209 ff.

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ein Richter die Norm weit auslegt.70 Das könnte zur Folge haben, dass uneindeutige Verhaltensweisen kriminalisiert werden, etwa wenn der entgegenstehende Wille des Opfers nicht ausdrücklich geäußert wurde, der Täter dies auch nicht erkannte, aber ein objektiver Beobachter dies hätte erkennen können – hier ist unklar, ob diese Konstellation von der Norm erfasst ist, es ist aber durchaus auch unklar, ob ein solches Verhalten wirklich nach § 177 StGB strafwürdig wäre. Aus diesem Grund lässt sich bezweifeln, dass die Regelung die verschiedenen Interessen überzeugend ausbalanciert. Hierzu wäre eine eindeutigere Normierung erforderlich gewesen. Bezüglich § 184i StGB und § 184j StGB seien noch einmal stärker die Probleme bezüglich der Systematik und der Grammatik/ des Wortlauts betont.71 So ist mit Blick auf § 184i StGB fraglich, ob die Eingliederung in das Sexualstrafrecht überzeugt. Zweifellos wird hierdurch die sexuelle Selbstbestimmung gestärkt. Sanktioniert werden hier jedoch Verhaltensweisen, die nur wenig oberhalb der Bagatellgrenze liegen und nur insofern überhaupt als Straftatbestand legitimiert werden können, als ein Gleichlauf mit ebenfalls nur schwer legitimierbaren Strafnormen (§§ 185 ff. StGB) angeführt wird. Doch dass es andere Strafnormen gibt, die ebenfalls Bagatell-Verhalten sanktionieren, ist nicht per se ein überzeugendes systematisches Argument – insofern gibt es keinen Gleichlauf in Unplausibilität bzw. fehlender Legitimierbarkeit. Vielmehr ist durchaus zweifelhaft, ob und inwieweit ein Strafverfahren für derartige Sachverhalte das Mittel der Wahl ist, gerade auch mit Blick auf das ultima-ratio-Prinzip.72 Schließlich ergeben sich bei der Strafverfolgung hier erhebliche Beweisprobleme, handelt es sich doch regelmäßig bei den Tätern um Personen, die dem Opfer unbekannt sind (z. B. Begegnungen in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf öffentlichen Plätzen, etc.). Die Norm suggeriert hier mehr Schutz als sie tatsächlich gewähren kann. Problematisch bezüglich der Systematik und der Formulierung ist aber insbesondere § 184j StGB. Generell gilt, dass derartige Gruppendelikte in vielerlei Hinsicht der Systematik des bestehenden Strafrechts widersprechen und insofern nur schwer mit traditionellen dogmatischen Figuren in Einklang zu bringen sind. Sanktioniert wird hier keine Handlung, sondern ein Zustand – somit sind nicht nur Fragen von Kausalität und Zurechnung problematisch, sondern auch Aspekte wie der Zeitpunkt, zu dem Vorsatz bzw. Schuldfähigkeit vorliegen müssen oder die zeitliche Reichweite für mögliche Beteiligungen. Auch im Übrigen ist der Wortlaut 70  Dagegen argumentiert El-Ghazi, Der neue Straftatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB n.F., ZIS 3/2017, S. 164 ff. 71  Vgl. für einen Überblick über die Kritik Pichler, Straftaten aus Gruppen – ein Vergleich zwischen § 231 StGB und dem neuen § 184j StGB, StRR 2016, S. 5 ff.; Bezjak, Der Straftatbestand des § 177 StGB (Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) im Fokus des Gesetzgebers, Kritische Justiz 4/2016, S. 569 ff. 72 Zum Ultima-Ratio-Grundsatz siehe beispielsweise: Gärditz, Demokratizität des Strafrechts und Ultima Ratio-Grundsatz, JZ 2016, S. 641 ff.; Jahn / Brodowski, Krise und Neuaufbau eines strafverfassungsrechtlichen Ultima-Ratio-Prinzips, JZ 2016, S. 969 ff.; kritisch auch Frisch, Voraussetzungen und Grenzen staatlichen Strafens, NStZ 2016, S. 16 ff.

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in vielerlei Hinsicht unklar. Wie genau eine Personengruppe eine andere Person zur Begehung von Straftaten an ihr bedrängen kann, wird aus der Formulierung nicht deutlich. Ob es sich bei der nach dem Wortlaut geforderten Förderung einer Straftat durch den Täter um dieselbe Straftat handeln muss, zu deren Begehung die Personengruppe eine andere Person bedrängt, ist ebenfalls nicht erkennbar; vielmehr kommt noch eine dritte Straftat (nach den §§ 177 oder 184i) hinzu, die aus der Gruppe heraus begangen worden sein muss; auch hier bleibt unklar, ob dies erneut dieselbe Tat sein muss oder nicht. Das sind nur einige Beispiele für die schwere Interpretierbarkeit der Norm, die somit schon aus den Perspektiven der Grammatik und der Systematik überaus kritikwürdig erscheint. Schließlich ist die Regelung mit dem das Strafrecht prägenden Schuldgrundsatz unvereinbar. Unter anderem zur Umgehung von Beweisproblemen wird ein Verhalten sanktioniert, dessen Unwertgehalt gering ist. Nun kann natürlich die Beteiligung an einer Gruppe eine Dynamik fördern, aus der heraus Straftaten begangen werden – das kennen wir u. a. aus § 231 StGB. Ob aber tatsächlich in diesem Fall das Verhalten des Täters, des Gruppenbeteiligten, die sexuelle Selbstbestimmung verletzt – der Täter braucht keinen Vorsatz bezüglich der Verletzung gerade dieses Rechtsguts – ist überaus zweifelhaft. Nicht zuletzt werden die wesentlichen Beweisprobleme, nämlich das Ausfindig-Machen der Gruppenmitglieder, auch durch diese Norm nicht gelöst werden können. Die Kritik an der Reform des Sexualstrafrechts kann hier nur oberflächlich und punktuell dargestellt werden – sie dient hier primär als Beispiel für die Systematisierung der Kritik anhand der Auslegungsmethoden und der oben dargestellten Perspektiven; es hat sich hoffentlich gezeigt, dass hierdurch eine bessere Durchdringung der kritischen Punkte ermöglicht wird. IV. Zusammenfassung und Ausblick Bei der Analyse der hier ausgewählten Normen handelt es sich nur um Beispiele für eine strukturierte Bewertung von Strafgesetzen. Diese Strukturierung ist, wie dargestellt, wie folgt vorzunehmen: Die Aspekte der Norm, d.h. die Grammatik bzw. Formulierung, die Systematik, der Gesetzgebungsprozess und schließlich der Telos sind aus rechtsinterner oder aus rechtsexterner Perspektive zu bewerten. Nicht jede Gesetzeskritik ist auf Basis rein interner Expertise möglich. Dennoch sollte die rechtsexterne Bewertung nicht auf andere Disziplinen übertragen werden; im Gegenteil, als Experten für den Gegenstand „Recht“ sollten die Rechtswissenschaftler es als eine bedeutsame Aufgabe ansehen, fehlgeleiteter Gesetzgebung entgegenzuwirken. Dafür bedarf es eines Rückgriffs auf Erkenntnisse, Kriterien und Methoden aus anderen Disziplinen, die sich die Rechtswissenschaft durch interdisziplinäre Kooperation beschaffen sollte. Nur auf diese Weise und durch Mitwirkung in politischen Prozessen lässt sich die Strafgesetzgebung hoffentlich

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verbessern. In der Praxis erfolgt eine solche Mitwirkung das durch vielfache Kontakte zwischen der Strafrechtswissenschaft und den entsprechenden Ministerien und Gremien bereits in vielfältiger und häufig produktiver Weise, genannt seien nur der Kriminalpolitische Kreis (www.kriminalpolitischer-kreis.de) oder verschiedene Stellungnahmen aus der Strafrechtswissenschaft zu Themen wie beispielsweise die geplante Einführung von § 217 StGB73 (auch wenn diese Stellungnahme bekanntermaßen im Gesetzgebungsprozess leider nicht die ihr gebührende Beachtung erhielt). Gerade aufgrund der Bedeutung dieser Mitwirkung sollte sich die Strafrechtswissenschaft auch in Zukunft nicht nur mit der Analyse und Bewertung konkreter Gesetze und Gesetzesentwürfe befassen, sondern zusätzlich mit der Erarbeitung eines Rahmens, der Kriterien dafür liefert. Derartige Überlegungen finden sich inzwischen insbesondere in einem Band zur „Strafrechtspolitik“74. Die hier dargelegten Gedanken sollen einen weiteren Beitrag zur Vorstellung und Verbreitung der von mir entwickelten Systematisierung dieses Rahmens leisten; diese Systematisierung soll in Zukunft ermöglichen, die jeweils einzelnen Aspekte weitergehend inhaltlich aufzufüllen. Ein ausgewogenes und freiheitsorientiertes Strafrecht ist ein zentrales Element eines Rechtsstaats in unserem, vom Grundgesetz geprägten Verständnis. Eine systematisierte, inhaltlich durchdachte Kritik geplanter oder bereits erlassener Strafgesetze kann dazu hoffentlich beitragen. Summary Criminal law researchers as well as practicioners tend to criticise each and every new criminal law or reform of existing criminal laws – often are these criticism quite justified. Still, what is missing is a clear structure or methodology for critising (criminal) laws. In the contribution, some examples of a structured assessment of criminal laws are analysed. The structuring suggested is as follows: The methodology for interpreting laws is to be transferred onto the critique of the laws, i. e. the grammar or wording, the systematics, the process and finally the telos should be used as different perspectives onto the specific law; the critique should also be seperated into internal and external perspectives. Not every legal criticism is possible on the basis of purely internal expertise. Nevertheless, the external assessment should not be transferred to other disciplines; on the contrary, as experts in the subject of law, jurists should consider it a significant task to evaluate legislation also from an external point of view. This requires recourse to premises, criteria and methods of other disciplines which jurists should acquire through interdisciplinary cooperation. In the contribution, the structuring of criticism is exemplified by analysing the reform of Criminal Code of Sexual Offenses. Only this way and through 73  Stellungnahme deutscher Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer zur geplanten Ausweitung der Strafbarkeit der Sterbehilfe, https://www.jura.uni-halle.de/rosenau/forschung_ und_publikationen/2894243_2923276/, zuletzt aufgerufen am 26. Juni 2019. 74  Zabel (Hrsg.): Strafrechtspolitik – Über den Zusammenhang von Strafgesetzgebung, Strafrechtswissenschaft und Strafgerechtigkeit, Baden-Baden, Nomos Verlag, 2018.

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participation in political processes can we aspire to improve criminal legislation. Because of the importance of this participation, criminal law researchers should continue further to focus not only on the analysis and evaluation of specific laws and draft laws, but also on developing a framework that provides criteria for this undertaking. Criminal law which is balanced and freedom-oriented is fundamental for any constitutional state in our understanding of the constitution. A systematic, substantively thought-out criticism of planned or already issued criminal laws can hopefully contribute to this.

Künstliche Intelligenz als Ende des Strafrechts? Zur algorithmischen Transformation der Gesellschaft Christoph Burchard* Frage: „Können Sie sich vorstellen, dass smarte und durch KI angetriebene Maschinen in Zukunft zur Unterstützung der justiziellen Entscheidungsfindung eingesetzt werden?“ – Antwort: „Das ist bereits Realität. Und es belastet die Justiz und wie sie verfährt ganz erheblich.“ – Frage an und Antwort durch US Supreme Court Chief Justice John Glover Roberts Jr. im April 20171

Einführung Kurz bevor ich die ehrenvolle Einladung erhielt, an diesem wichtigen Gedächtnisband mitzuwirken, hatte ich just den Aufsatz von Byrd / Hrschuka zu Kants Straftheorie in einem Lektüreseminar „Strafrecht zwischen Moral und Politik“ behandelt.2 Ein wahrhaft bahnbrechender Aufsatz, der Kant aus der (für Viele: Schmuddel)Ecke der absoluten Straftheorien herausholte. Damit schloss sich für mich ein Kreis. Denn dem wegweisenden Œuvre Joachim Hruschkas war ich erstmals im Rahmen meiner Doktorarbeit begegnet. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sehr ich – weiland3 und seitdem – von seinem stets methodisch und rechtsphilosophisch reflektierten, eben logisch-analytisch gehaltenen und im besten Sinne aufgeklärten Zugang zur Dogmatik beeindruckt war. Daher ist es mir eine wirkliche Ehre, in Gedenken an Joachim Hruschka heute einige erste Überlegungen zu *  Prof. Dr., LL.M. (NYU). Inhaber des Lehrstuhls für Straf- und Strafprozessrecht, Internatio­ nales und Europäisches Strafrecht, Rechtsvergleichung und Rechtstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Der Beitrag wurde als Teil des Forschungsprojekts „Die normative Ordnung Künstlicher Intelligenz | NO:KI“ verfasst, das ich als Principal Investigator am ehemaligen Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ (Frankfurt am Main) sowie als Goethe-Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften (Bad Homburg) betreibe. 1  Berichtet von Liptak, „Sent to Prison by a Software Program’s secret Algorithms“, New York Times v. 1. 5. 2017, S. A22 (eigene Übersetzung). 2  Byrd / Hruschka, „Kant zu Strafrecht und Strafe im Rechtsstaat“, JZ 2007, S. 957. 3  So hatte ich u. a. folgende Titel in meiner Doktorarbeit verarbeitet: Hruschka, „Die Herbeiführung eines Erfolges durch einen von zwei Akten bei eindeutigen und bei mehrdeutigen Tatsachenfeststellungen“, JuS 1982, S. 317; ders., Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, Berlin / New York: De Gruyter, 1988; ders., „Der Standard-Fall der aberratio ictus und verwandte Fallkonstellationen“, JZ 1991, S. 488.

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hochaktuellen Entwicklungen anstellen zu dürfen, eben dazu, wie sog. Künstliche Intelligenz unsere Gesellschaft und unser Strafrecht zu verändern „droht“. Diese Themensetzung mag zunächst verwundern, da sich scheinbar nur wenige unmittelbare Bezugspunkte zum Werk Joachim Hruschkas ergeben. Wie ich jedoch zeigen möchte, stellt der Einsatz Künstlicher Intelligenz unsere Gesellschafts- und Strafrechtsordnung vor fundamentale Herausforderungen. Notwendig wird nicht weniger als eine Besinnung auf die normativen Grundlagen unseres Strafrechts, das ein Strafrecht einer Gesellschaft ist, die es neu zu erklären, verstehen und bewerten gilt. Und insofern ist das virtuelle Gespräch mit Joachim Hruschka unbedingt fortzusetzen, um in Auseinandersetzung mit seinen philosophischen, also nicht schlicht behauptenden,4 sondern stets begründenden Einsichten die heutigen Entwicklungen kritisch befragen zu können. Weniger mutig als Joachim Hruschka, der einst nicht weniger als ein Neudurchdenken des Strafrechts gefordert hat,5 rege ich hier an, sich Rechenschaft über die Gesellschaft abzulegen, die unser Strafrecht hervorbringt bzw. hervorbringen soll. Dazu muss sich – wie dies Joachim Hruschka schon vor langer Zeit erkannt hat6 – die Strafrechts- wieder zur Sozial- und politischen Theorie öffnen. *** „Künstliche Intelligenz (KI) und Strafrecht“ ist keine Science Fiction. Angesichts der alle Lebensbereiche durchwirkenden „digitalen Revolution“ kann sich weder das Recht im Allgemeinen noch das Strafrecht im Besonderen vor den Einflüssen von KI feien.7 Soweit KI strafrechtswissenschaftlich bereits in den Blick genommen wird, wird sie (gerade in Deutschland) herkömmlich als potentiell regulierungsbedürftiger8 und auch regulierungsfähiger Objektbereich geführt.9 Dieser Beitrag wirbt für eine Perspektivenergänzung.10 Also dafür, KI (bzw. genauer ihre soziale Praxis) als Medium heutiger gesellschaftlicher und (straf)recht4  Dagegen dezidiert Hruschka, „Kann und sollte die Strafrechtswissenschaft systematisch sein?“, JZ 1985, S. 1 (S. 10). 5 So Hruschka, „Das Strafrecht neu durchdenken!“, GA 1981, S. 237. 6  Ebd., S. 249. Gesellschaftsstraftheoretisch wichtig ebenfalls Hruschka, „Utilitarismus in der Variante von Peter Singer“, JZ 2001, S. 261. 7  Provokant die Fragestellung von Schwintowski, „Wird Recht durch Robotik und künstliche Intelligenz überflüssig?“, NJOZ 2018, S. 1601. 8  Zu den dabei notwendigen Abwägungen, nicht zuletzt mit dem notwendigen Erhalt technologischer Innovationskraft im internationalen (Wirtschafts- und Wissenschafts)Wettbewerb, vgl. etwa allg. Meyer, „Künstliche Intelligenz und die Rolle des Rechts für Innovation“, ZRP 2018, S. 233. 9  Dabei steht häufig die agency-Frage im Vordergrund, wer also verantwortlich ist, wenn durch den Einsatz eines KI-Systems, insbesondere beim Einsatz selbstlernender KI, Schäden verursacht werden. Hierzu eindrücklich Hilgendorf, „Autonome Systeme, künstliche Intelligenz und Roboter“, in: Barton u. a. (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München: C.H. Beck, 2018, S. 99 (111 ff.). 10  Allg. hierzu auch Balkin, „The Path of Robotics Law“, California Law Review Circuit 2015, S. 45.

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licher Transformationen in den Blick zu nehmen.11 Es soll also gefragt werden: Wie verändert KI bereits heute unsere Gesellschafts- und Strafrechtsordnung?12 Bedeutet KI zugespitzt gar das Ende des Strafrechts?13 Nämlich entweder im Sinne eines siechenden Hinscheidens seiner fundamentalen Prinzipien (wie der Unschuldsvermutung) oder eines krönenden Abschlusses seiner grundlegenden Ziele (wie des Rechtsgüterschutzes)?14 Um diesen Fragen nachzugehen, gilt es die Rechtfertigungsnarrative, die bereits heute für die Einführung von KI ins Strafrecht ins Felde geführt werden, näher zu untersuchen; die hinter diesen Narrativen liegenden, durch sie auch verborgenen normativen Ordnungsvorstellungen genauer zu analysieren;15 und dabei auch die machtpolitische und ideologische Offenheit dieser Ordnungsvorstellungen herauszustreichen. Im Sinne dieses Programms werden zunächst mit Blick auf aktuelle Entwicklungen die Verheißungen von KI beleuchtet (hierzu unten I. und II.), um sodann zu reflektieren, wie eine kritische Perspektiven eröffnende16 Strafrechtstheorie damit umgehen sollte (hierzu unten III. und IV.). 11  KI kann daher als potentiell „transformative Technologie“ ausgeflaggt werden, um einen dialektischen Zusammenhang zwischen technologischem, gesellschaftlichem und rechtlichem Wandel herzustellen. Hierzu allg. Fateh-Moghadam, „Selbstbestimmung im biotechnischen Zeitalter“, Basler Juristische Mitteilungen 2018, S. 205 (insbes. S. 209 ff.). – Indem hier auf die soziale Praxis von KI als Medium gesellschaftlicher Transformationen abgestellt wird, wird zum einen gegen eine Essentialisierung von KI angetreten (hierzu auch unten I.) und zum anderen klargestellt, dass KI zwar nicht selbst normativ wirkt, gleichwohl aber einprogrammierte Ordnungsvorstellungen vermittelt. 12  Die Frage insinuiert eine Kausalität, die bei näherem Hinsehen als dialektischer Prozess aufzulösen ist, in dem gesellschaftliche etc. Entwicklungen die Entwicklung und den Einsatz bestimmter KI-Systeme fördern, die ihrerseits die erstgenannten Entwicklungen verstärken etc. KI baut dabei „natürlich“ auf der allgemeinen Technisierung der Lebenswirklichkeit auf. So könnte etwa auch im Einsatz elektronischer Fußfesseln, gerade gegen sog. Gefährder, ein Vorschein einer partiellen Überwachungsgesellschaft erkannt werden, die allemal bestimmten Personengruppen (eben den sog. Gefährdern) das kontrafaktische Vertrauen in ihre Rechtstreue entzieht. Dies kann dann KI mit einem allg. zero trust-Paradigma verstärken. Hierzu unten II. 13  Diese Frage soll aufrütteln und kein fin de siècle zum Ausdruck bringen. In der Sache geht es darum, wie mit den Polyvalenzen der heutigen Entwicklungen umzugehen ist. Ein ähnliches Wortspiel findet sich bei Hildebrandt, Smart Technologies and the End(s) of Law, Cheltenham: Edward Elgar Publishing, 2015. 14  Meine Fragestellungen verstehen sich nicht als spekulative Science Fiction, so dass allfällige Dystopien hier außer Betracht bleiben. 15  Zu diesem am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ geprägten Begriffsapparat einführend Forst / Günther, „Die Herausbildung normativer Ordnungen: zur Idee eines interdisziplinären Forschungsprogramms“, in: Forst / Günther (Hrsg.), Die Herausbildung normativer Ordnungen, Frankfurt a.M.: Campus, 2011, S. 11 (insbes. S. 15 f.). 16  Kritik wird hier axiomatisch verstanden als eine Praxis des begründenden Zweifelns. Das normative Programm liegt in der Eröffnung von Möglichkeiten zu kritischen, zweifelnden Anfragen, nicht in der Entwicklung eines normativen Programms, aus dem heraus Kritik geübt werden kann. Letzteres wäre einer Kritischen Theorie des Strafrechts vorbehalten, die hier nicht entwickelt werden kann. Eine Rückkehr zu einem rationalen Kritikbegriff fordert auch Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode (Fn. 3), S. XI.

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Besonderes Augenmerk wird dabei den Verheißungen geschenkt, dass vermeintlich smarte oder intelligente, regelmäßig Big Data auswertende Algorithmen einen effektiveren und effizienteren Rechtsgüterschutz ermöglichen und eine neutralere, objektivere und kohärentere Rechtsdurchsetzung garantieren als menschliche Entscheidungsträger. Diese Versprechungen entsprechen prima facie jenen des Strafrechts. Auch dieses verspricht, als vermeintlich schärfstes Schwert des Gesetzgebers, einen besonders durchgreifenden Rechtsgüterschutz. Zudem verlangt das Strafrecht nach seiner unbedingt unparteiischen und unvoreingenommenen sowie konsistenten Anwendung. Der Unterschied liegt darin, dass KI technologische Faktizität verheißt, während das Strafrecht – wie das Recht allgemein – nur kontrafaktische Garantien aussprechen kann. Ob KI das Ende des Strafrechts bedeutet, ist in der Folge gleichbedeutend mit der Frage, welches Strafrecht damit gemeint ist. Ein liberales Freiheitsstrafrecht, das auf interpersonalem Vertrauen gründet und die Menschen nicht allein als steuer- und konstant bewertbare potentielle Risiken (neudeutsch also als Gefährder) führt, wird durch KI fundamental in Zweifel gezogen; eine liberale (Straf)Rechtstheorie müsste daher die Vorwärtsverteidigung des Kontrafaktischen des (Straf)Rechts gegen das Faktische der KI suchen. Für ein wohlfahrtstaatliches Sicherheitsstrafrecht, das sich als Instrument der Sozialkontrolle bzw. der Governance sozialer Interaktionen versteht, ermöglicht KI hingegen einen krönenden Abschluss seiner Rationalität. I. KI als non-essentialistisches Konstrukt KI ist kein eindeutiger Begriff. Um seine genaue Begriffsdefinition wird allseits gerungen.17 Häufig trifft man auf einen im Grunde genommen strukturell angelegten Essentialismus, der die proprietären Eigenschaften von Intelligenz im Allgemeinen und Künstlicher Intelligenz im Besonderen zu ergründen sucht.18 Das mag auch erklären, warum bereits heute tiefschürfend über die strafrechtliche 17  Prägend sind Debatten darüber, ob der Name KI den aktuellen Stand von Forschung und Entwicklung überhaupt akkurat abbildet (z. B. wenn und weil heutige „KI“-Systeme nicht über das klassische Maschinenlernen und die althergebrachte Musterkennung hinausgehen); ob KI wirklich „intelligent“ ist (z. B. wenn und weil heutige „KI“-Systeme keine Transferleistungen erbringen können); und ob die deutsche Qualifikation „künstlich“ richtig ist (z. B. wenn und weil die Qualifikation „maschinelle“ Intelligenz die Eigenschaften von Algorithmen korrekter abbilden soll oder das „Künstliche“ im Sinne der Romantik pejorativ besetzt ist). Hierzu etwa Herberger, „‚Künstliche Intelligenz‘ und Recht“, NJW 2018, S. 2825. – Vgl. weiterführend (das nur auf den ersten Blick veraltete Werk von) Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977, S. 268 ff. 18  So erachtet etwa Ertel, Grundkurs Künstliche Intelligenz: Eine praxisorientierte Einführung, Wiesbaden: Springer VS, 2016, S. 1 ff. die Fragen „Was ist Intelligenz?“, „Wie kann man Intelligenz messen?“ oder „Wie funktioniert unser Gehirn?“ für bedeutsam für das Verständnis von KI. Ferner wird ausgeführt, dass für den Informatiker und insbesondere den Ingenieur die Frage „nach der intelligenten Maschine, die sich verhält wie ein Mensch, die intelligentes Verhalten zeigt,“ entscheidend sei.

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Verantwortung dereinst intelligenter und selbst-bewusster Maschinen19 räsoniert wird.20 Hier wird gleichwohl für ein non-essentialistisches Verständnis von KI eingetreten, um Erkenntnisse aus der Beobachterperspektive für eine in den Kategorien der Teilnehmerperspektive denkende, aktuelle und kritische Strafrechtstheorie fruchtbar zu machen. Es geht also nicht darum, was die Essenz von (Künstlicher) Intelligenz ausmacht bzw. ausmachen sollte. Vielmehr wird im Ausgangspunkt gefragt, wie KI (insbesondere durch entsprechende Rechtfertigungsnarrative) sozial konstruiert, repräsentiert und rezipiert wird; wie KI in bestimmte soziale Verhältnisse eingebettet ist und diese verändert; und welche Herrschafts- und Machtverhältnisse in KI zum Ausdruck kommen und durch sie stabilisiert, mystifiziert, transformiert oder produziert werden.21 Es geht mit anderen Worten um Bedeutungszuweisungen, die der sozialen Lebenswirklichkeit entstammen und auf sie zurückwirken. Dabei werden je zu bestimmende normative Ordnungsvorstellungen (einschließlich Ideologien) befördert und spezifische Problemlagen in den Vorder- oder Hintergrund gespielt. So gesehen ist KI ein normativ offenes und formbares, gleichsam ein politisches Konstrukt. Gerade die Uneindeutigkeit und machtpolitische Offenheit des Terminus KI erlaubt es interessierten Akteuren, ihn für eigene – politische, ökonomische etc. – Zwecke zu instrumentalisieren. KI ist dabei eine besonders wirkmächtige Namensgebung, weil sie einem IT-System rein sprachlogisch – also unabhängig von seiner „wirklichen“ Intelligenz – die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit attestiert, „abstrakt und vernünftig zu denken und daraus zweckvolles Handeln abzuleiten.“22 In diesem Zugriff ist KI nicht als neutrale Technologie oder schlicht als informationstechnologische Innovation aufzufassen. Vielmehr ist KI unmittelbar mit den Grundprinzipien menschlicher Sozialität (Freiheit, Toleranz, Recht etc.) verknüpft, 19 Daraus spricht ein essentialistisch und anthropozentrisch strukturiertes Strafrechtsverständnis, das es im Zuge des weltweiten Siegeszugs des Verbands- und Unternehmensstrafrechts zu hinterfragen gilt. Es erscheint nicht fernliegend (und mehr sei hier nicht zur Diskussion gestellt), die Strafbarkeit von KI-Systemen strikt funktional begründen zu wollen, also unabhängig davon, wie intelligent ein KI-System nun ist und ob es sich seiner selbst bewusst ist und ob ihm damit originär menschliche Eigenschaft zugesprochen werden kann. Für eine KI-Strafbarkeit könnte vielmehr, analog zur Unternehmensstrafbarkeit, etwa funktional ins Felde geführt werden: (1) Indirekt sollen die Eigner eines defizitären KI-Systems getroffen werden (z. B. wenn dessen Abschaltung angeordnet wird). (2) Der Regress auf Verantwortliche, die ein defizitäres KI-System entwickelt oder auf den Markt gebracht haben, soll abgeschnitten werden (z. B. weil und wenn „hinter“ einem KI-System unzählige Personen stehen, von Programmierern bis Unternehmensverantwortlichen jedweder Hierarchieebene, so dass eine Verantwortungsindividualisierung nicht tunlich wäre). (3) Oder durch die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit sollen in institutionalisierter Form Gefühle des Übelnehmens und der Empörung zum Ausdruck gebracht werden (ich danke Boris Burghardt für den Hinweis auf diesen Aspekt). 20  Hierzu ausf. Gaede, Recht und Strafen für Roboter?, Baden-Baden: Nomos, 2019 m. w. N. 21 Ähnlich Balkin (Fn. 10 ), S. 59; Weizenbaum (Fn. 17), S. 268 ff. Weiterführend auch Mau, Das metrische Wir: Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin: Suhrkamp, 2017. 22  Duden, Stichwort: Intelligenz, erste Wortbedeutung.

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geht auf sie zurück und transformiert sie. Daher gilt es die mit dem Terminus KI zu einem je bestimmten Zeitpunkt verbundenen Versprechungen, Hoffnungen und Ängste, wie sie durch die verschiedensten Akteure in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft etc. mit unterschiedlicher Dringlichkeit befeuert und geschürt werden, ernst zu nehmen, um sie so einer kritischen Reflexion unterziehen zu können. Als Beispiel sei auf das herkömmliche Bild von KI verwiesen, das nicht zuletzt von Hollywood in unseren Köpfen verankert ist.23 Hier steht KI für autonome Roboter (man denke dystopisch an „Terminator“ oder offener an „I, Robot“), intelligente Androiden (man denke an Lieutenant Commander Data in „Star Trek: The Next Generation“) und selbst-bewusste Supercomputer (man denke an HAL 9000 in „2001: Odyssee im Weltraum“ oder an Central in „Star Trek: Discovery“). KI tritt insofern (was dramaturgisch verständlich ist) fast ausschließlich als sog. starke KI auf, welche die gleiche allgemeine Intelligenz wie Menschen anstrebt oder bereits erlangt, wenn nicht gar übertroffen hat.24 Verhandelt werden sodann im Schwerpunkt sowohl die conditio humana (ob und wie sich Menschen in eine Maschinenwelt einfinden können)25 wie auch die conditio automata (ob und wie sich intelligente Maschinen in eine menschliche Gesellschaft einfinden können)26. Da keines der heute existierenden Systeme unter die Kategorie der starken KI fällt,27 haben diese Verhandlungen freilich noch keine unmittelbare rechtspraktische Bedeutung. Das mag eine Ursache dafür sein, dass „KI und Strafrecht“ bis vor Kurzem bestenfalls ein Orchideenthema war und dass weiterhin in essentialistischer Manier um die inhärenten Charakteristika von starker Künstlicher Intelligenz gerungen wird. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass wir momentan Zeuge einer anderen KI-Revolution werden.28 Diese basierte der Sache nach auf sog. schwacher KI, die für die Lösung konkreter Anwendungsprobleme optimiert ist, auf bekannten Methoden der Mathematik und Informatik basiert und kein tieferes – oder eigentliches – Verständnis für die Problemlösung erlangt.29 Und bei der auch – Hollywood zuwider – keine Roboter oder Androiden zum Einsatz kommen. 23 Hierzu im Überblick bereits Xanke / Bärenz, „Künstliche Intelligenz in Literatur und Film – Fiktion oder Realität?“, Journal of New Frontiers in Spatial Concepts 2012, S. 36; ­Irsigler / Orth, „Zwischen Menschwerdung und Weltherrschaft: Künstliche Intelligenz im Film“, APuZ 2018, S. 39. 24 Zur Unterscheidung zwischen starker und schwacher KI „klassisch“ Searle, „Minds, Brains, and Programs“, Behavioral and Brain Sciences 1980, S. 417. 25  Als literarisches Beispiel: McEwan, Machines like Me, London: Penguin, 2019. 26  Als filmisches Beispiel: Ex Machina, 2015. 27  Folgt man der bei Searle (Fn. 24) entwickelten begrifflichen Trennung zwischen schwacher und starker KI, so ist diese bis in die Gegenwart in ihrer Verwendung durchaus inkonsistent. Als zentraler Fluchtpunkt einer starken KI gilt das Äquivalent zu menschlichen Fähigkeiten. Siehe hierzu nur Ramge, Mensch und Maschine: Wie künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändern, Stuttgart: Reclam, 2018, S. 19. 28  So in der Sache auch das populärwissenschaftliche Werk von Fry, Hello World: Was Algorithmen können und wie sie unser Leben verändern, München: C.H. Beck, 2018. 29  Hierzu, statt aller, Ramge (Fn. 27), S. 19.

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Dass auch diese Systeme hier als KI geführt werden, folgt aus dem soeben anheimgestellten methodischen Ansatz. Unter anderem bedingt durch entsprechende Anstrengungen der Wirtschaft,30 lösen wir uns in Politik und Gesellschaft zusehends von KI à la Hollywood und verstehen unter KI informationstechnische Systeme, die uns als Lösung für lebenswirkliche Probleme „verkauft“ werden – und die wir dafür auch „einkaufen“. Bezeichnend hierfür ist das jüngste Konzeptpapier des „European Committee on Crime Problems (CDPC)“ des Europarats zum Thema „KI und strafrechtliche Verantwortlichkeit“. Dort werden selbstfahrende Automobile nebst ihren selbst-lernenden Algorithmen wie selbstverständlich als Paradebeispiele für KI ausgeflaggt.31 Ins gleiche Horn bläst die „European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ)“ des Europarats, die sich in bestimmten Bereichen und unter bestimmten Bedingungen für die Anwendung von KI in der Rechtspflege ausspricht.32 All das ist Ausdruck des heute zu verzeichnenden KI-Hypes. Dieser wird von dem allerorts reproduzierten Narrativ getragen, dass smarte oder intelligente Algorithmen lebenswirkliche, aber menschliche Fähigkeiten überfordernde Probleme informationstechnisch zum Wohle aller zu bewältigen im Stande sind; und zwar besser, schnell und kostengünstiger als menschliche Entscheidungsträger (beginnend bei der sicheren Steuerung von PKWs über die Auswertung sämtlicher medizinischer Publikationen bei der Unterstützung von Krankheitsdiagnosen und Therapiekonzepten bis hin zur Automatisierung von rechtlichen Dienstleistungen, sog. legal tech33). Diese „neue“ Bedeutung von KI ist nicht neutral, sondern normativ und auch ideologisch aufgeladen. Man sollte sich zwar davor hüten, trotz des andauernden Ringens um die Deutungsherrschaft von „dem“ – allemal dominierenden – Bedeutungsinhalt von KI zu sprechen. Gleichwohl überzeugt der Befund von Katz, dass „the ‚AI‘ label has been rebranded to promote a vision of world governance through big data.“34 Diese Vision verbindet sich nicht selten mit einer metaphysisch und theologisch aufgeladenen Erlösungshoffnung. KI verheißt eine selbst lernende und sich selbst verbessernde Entität, die die Transparenz und Berechenbarkeit des Anderen wie auch des Selbst, und damit die hyperrationale Steuerbarkeit sozialer Interaktionen, verspricht.35 Dieses Narrativ hat besondere soziale und politische Zug30  Dies herausarbeitend und kritisierend Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a.M./New York: Campus, 2018. 31  European Committee on Crime Problems (CDPC), „Artificial Intelligence and its Impact on CDPC Work: The case of automated driving”, CDPC(2018)14 v. 14. 09. 2018, S. 6 f. Ab­ rufbar unter: http://rm.coe.int / cdpc-2018 – 14-artificial-intelligence-and-criminal-law-project2018-202/16808d6d09 (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2019). 32  CEPEJ, „European ethical Charter on the use of Artificial Intelligence in judicial systems and their environment” v. 3 – 4. 12. 2018, insbes. S. 64 ff. Abrufbar unter: https://rm.coe.int/ ethical-charter-en-for-publication-4-december-2018/16808f699c (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2019). 33  Überblicke bei Fries, „Automatische Rechtspflege“, RW 2018, S. 414. 34  Katz, „Manufacturing an Artificial Intelligence Revolution”, 2017, S. 1. Abrufbar unter SSRN: https://ssrn.com / abstract=3078224 (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2019).

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und Sprengkraft, da es allgemein angelegt ist und alle Lebensbereiche durchwirkt (was KI von früheren partikularen „kriminaltechnologischen“ Strömungen à la Lombroso schon quantitativ deutlich abhebt). Das Narrativ ist überdies so generisch ausgelegt ist, dass es neoliberal,36 rational und wissenschaftlich,37 liberal38 wie auch autoritär39 vereinnehmbar wird.40 KI bzw. ihre grundlegenden normativen Ordnungspostulate und Rechtfertigungsnarrative sind mit anderen Worten latent (macht)politisch offen. Und in ihnen zeigt sich auch eine neue Ausprägung der Dialektik der Aufklärung. II. Die Verheißungen von KI für die Strafrechtspflege Ausgehend von der zuvor herausgestrichenen allgemeinen gilt es nun auf die besonderen Versprechungen einzugehen, die KI für das Strafrecht bzw. die Strafrechtspflege ausspricht. Namentlich die Versprechung, dass Kriminalität durch den Einsatz intelligenter Informationstechnologie tatsächlich verunmöglicht oder allemal drastisch reduziert werden kann (unten 1.); und dass die strafjuristische Entscheidungsfindung von menschlicher Subjektivität und Voreingenommenheit befreibar ist und daher „endlich“ tatsächlich objektiv, neutral und kohärent erfolgen kann (unten 2.). 1. Effektivität und Effizienz in der Kriminalitätsinhibition Zunächst verspricht KI die direkte wie indirekte Verunmöglichung von Kriminalität. Bzw. genauer: Verfechter werben dafür, dass bestimmte Kriminalitätsformen durch den Einsatz von KI eo ipso nicht mehr begehbar bzw. die Begehung bestimmter Kriminalitätsformen durch KI-geförderte (hoheitliche, privatisierte oder internalisierte) Durchsetzungs- und Überwachungsstrukturen de facto signifikant reduzierbar ist. Illustrativ hierfür sind sog. Smart Contracts41 sowie das Predictive42 bzw. Big Data Policing43. 35 Insofern treffend Nida-Rümelin / Weidenfeld, Digitaler Humanismus, München: Piper, 2018, S. 44 ff. 36  Hierzu kritisch Zuboff (Fn. 30). 37  Hierzu kritisch Nida-Rümelin / Weidenfeld (Fn. 35), Einführung. 38  So etwa Chiao, „Predicting Proportionality: The Case for Algorithmic Sentencing“, 37 Criminal Justice Ethics 2018, S. 238 ff. 39  Hierzu in der Übersicht – und insbes. mit Blick auf China – Mau (Fn. 21), S. 9 ff. 40  Theoretisch lässt sich also sagen, dass die Rechtfertigungsnarrative von KI (erster analytischer Bezugspunkt) auf dahinterstehende normative Ordnungen (zweiter analytischer Bezugspunkt) verweisen, die ihrerseits machtpolitisch bzw. ideologisch offen sind (dritter analytischer Bezugspunkt). 41  Smart Contracts werden in der Regel im zivil- und nicht im strafrechtlichen Schrifttum behandelt, so dass hier von weiteren Nachweisen abgesehen wurde. Smart Contracts sind nicht

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a) Smart Contracts Smart Contracts qualifizieren sich aufgrund spezifischer informationstechnischer Ansprüche bezeichnender Weise als „smarte“, d.h. als schlaue, pfiffige und raffinierte Verträge. Sie treten mit dem Versprechen auf, vertragliche Interaktionen effektiver und effizienter abwickeln zu können. Smart Contracts werden durch Computerprogramme umgesetzt, die auf die algorithmische Ermöglichung, Überprüfung und Durchsetzung vertraglicher Rechte und Pflichten zielen, ohne dabei auf dritte Parteien angewiesen zu sein. Die Idee ist die weitestgehende Automatisierung der Vertragsgestaltung und -abwicklung, die idealiter „self-executing“ ist und so die Transaktionskosten des klassischen Vertragsrechts minimiert. So soll das Rechtssystem (einschließlich seiner Vertreter wie Notare oder Richter) aber auch private Dienstleister, die gegen Zahlungs- oder Lieferausfälle versichern, obsolet gemacht werden. Frei nach dem Credo „code is law“ wird das Recht sowie die Rechtsanwendung durch eine entsprechende IT-Infrastruktur ersetzt. Smart Contracts beruhen auf der „Distributed Ledger Technology“ wie der sog. Blockchain, also einer mit der Lebenswirklichkeit vernetzten Datenbank, die dezentral gespeichert, verifiziert und kontinuierlich aktualisiert wird. Und in der z. B. gespeichert ist, wer über welche Waren oder Finanzmittel verfügt. Je umfassender und akkurater diese Datenbank ist – gleichsam über je mehr Datensätze (vulgo Big Data) sie verfügt –, desto genauer und sicherer kann und wird der Smart Contract abgewickelt werden – so zumindest die Anspruchshaltung. Getragen wird dies von der Vision einer vertrauensfreien Gesellschaft, in der sich Vertrags- bzw. Interaktionspartner nicht länger vertrauen müssen.44 Denn ihnen werden – so das Rechtfertigungsnarrativ – bessere, nämlich absolute bzw. unhintergehbare informationstechnische Versicherungen gegeben (z. B. dass der Verkäufer über die angebotene Ware verfügt und diese übergeben und übereignen wird; und dass der Käufer hinreichend liquide ist und die Ware auch tatsächzwingend unter KI zu subsumieren. Da jedoch entsprechende Entwicklungen offenbar werden, werden sie hier dargestellt 42  Die deutsche Übersetzung „vorhersagende Polizeiarbeit“ gibt die Implikationen und Facetten der englischen Originalbegriffe nur unzureichend wieder, so dass hier letztere Verwendung finden. – Zum Predictive Policing im deutschen Schrifttum etwa Rademacher, „Predic­ tive Policing im deutschen Polizeirecht“, AöR 2017, S. 366; Singelnstein, „Predictive Policing: Algorithmenbasierte Straftatprognosen zur vorrausschauenden Kriminalintervention“, NStZ 2018, S. 1; Härtel, „Digitalisierung im Lichte des Verfassungsrechts – Algorithmen, Predictive Policing, autonomes Fahren”, LKV 2019, S. 49 (insbes. S. 54). 43 Big Data Policing umschreibt eine neuere Entwicklung gerade in den USA, die in Deutschland terminologisch noch erschlossen werden muss. Hierzu Ferguson, The Rise of Big Data Policing. Surveillance, Race, and the Future of Law Enforcement, New York: New York University Press, 2017. Vgl. auch die im Ohio State Journal Criminal Law 2018, S. 473 ff. abgedruckten Beiträge eines „Round Table on Big Data and Criminal Law“. 44  Vgl. allg. Palka / Wittpahl, Vertrauen und Transparenz – Blockchain-Technologie als digitaler Vertrauenskatalysator, Working Paper of the Institute for Innovation and Technology Nr. 39, 2018.

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lich bezahlen wird). Damit geht eine Vertrauensverschiebung einher, weg vom zwischenmenschlichen Vertrauen und hin zum Vertrauen in informationstechnische Systeme (die Datenbank und die Programmierung).45 Die Vertrags- und Interaktionspartner werden dabei dem Grunde nach als Risiko aufgefasst, da – in der Tat – nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich diese wort- bzw. vertragsbrüchig verhalten werden. Um dieses Risiko zu bewältigen, wird Hand an das zwischenmenschliche Vertrauen als kontrafaktisch postulierter, da sozial schlicht notwendiger Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität gelegt.46 „Smarte“ Datenbanken und Algorithmen sollen fürderhin dafür sorgen, dass sich die sozial Interagierenden auf einander verlassen, und zwar, weil sie übereinander wissen, dass ihnen die Möglichkeit des datenbank- und algorithmenwidrigen Verhaltens durch „intelligente“ Algorithmen und Datenbanken genommen ist. Der Eine begibt sich dabei der Möglichkeit seines datenbank- und algorithmenwidrigen Verhaltens, weil, wenn und damit dem Anderen diese Möglichkeit ebenfalls genommen ist. Zugespitzt gesagt: Das homo homini lupus est wird nicht nur psychologisch verdrängt (vertrauensbasierte Interaktion), sondern von Anfang informationstechnisch abgewendet (sog. zero trust bzw. in tech we trust-Interaktion). Bezogen auf das Strafrecht soll so, Hoheitsträger außen vorlassend und in dem Sinne die Straftatprävention privatisierend47, der Eingehungs- und Erfüllungsbetrug bei Austauschverträgen verunmöglicht werden. Das ist pointiert in der „Gralsschrift“ der ursprünglichen Blockchain-Bewegung nachzulesen, mit und in dem die Bitcoin-Idee erfunden und erklärt wurde. Wörtlich heißt es dort: „Commerce on the Internet has come to rely almost exclusively on financial institutions serving as trusted third parties to process electronic payments. While the system works well enough for most transactions, it still suffers from the inherent weaknesses of the trust based model. Completely non-reversible transactions are not really possible, since financial institutions cannot avoid mediating disputes. The cost of mediation increases transaction costs, limiting the minimum practical transaction size and cutting off the 45  Weiterführend und allg. Wagner, „Vertrauen in Technik“, Zeitschrift für Soziologie 1994, S. 145. 46  So die klassische Definition bei Luhmann, Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, München: UVK, 2014, S. 27 ff. (insbes. S. 30). 47  Weitere Beispiele für eine solche Privatisierung der Straftatprävention durch KI liefern z. B. KI gestützte „Criminal Compliance“-Systeme (also neudeutsch Digitial Compliancetools), die etwa eine Vollüberwachung der unternehmensinternen Kommunikation mit dem Ziel versprechen, verdächtige Interaktionen „zu flaggen“ und damit einer weiteren Prüfung zuzuführen. Hierzu in der Übersicht Schemmel / Dietzen, „‚Effective Corporate Governance‘ by Legal Tech & Digital Compliance“, in: Breidenbach / Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech, München: Beck, 2018, S. 109. – In Japan wird ferner, wie entsprechenden Presseberichten zu entnehmen ist, kontrovers diskutiert, ob KI zur Verhinderung von Ladendiebstählen Verwendung finden soll. Dazu können Kunden algorithmisch überwacht werden, um aus der Analyse der Körpersprache Vorhersagen treffen zu können, ob sie einen Ladendiebstahl planen. Hierzu Lewis, „Should AI be used to catch shoplifters?“, CNN Business v. 18. 5. 2019. Abrufbar unter: https://edition.cnn.com/2019/04/18/business / ai-vaak-shoplifting / index.html (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2019).

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possibility for small casual transactions, and there is a broader cost in the loss of ability to make non-reversible payments for nonreversible services. With the possibility of reversal, the need for trust spreads. Merchants must be wary of their customers, hassling them for more information than they would otherwise need. A certain percentage of fraud is accepted as unavoidable. These costs and payment uncertainties can be avoided in person by using physical currency, but no mechanism exists to make payments over a communications channel without a trusted party. What is needed is an electronic payment system based on cryptographic proof instead of trust, allowing any two willing parties to transact directly with each other without the need for a trusted third party. Transactions that are computationally impractical to reverse would protect sellers from fraud, and routine escrow mechanisms could easily be implemented to protect buyers.“48

b) Predictive bzw. Big Data Policing Entsprechende Narrative tragen auch das sog. Predictive Policing und das sog. Big Data Policing, wie es ausgehend von den USA mittlerweile auch in anderen westlichen Staaten einschließlich Deutschland49 Platz greift. Hier wie dort geht es um – so die Darstellung von Produzenten und Abnehmern – intelligente Algorithmen, die ressourcenknappen Hoheitsträgern schlagkräftige Instrumentarien zur prospektiven Straftatprävention an die Hand geben.50 Brantingham, ein wissenschaftlicher Wegbereiter von Predictive Policing, definiert entlang eines dreistufigen Prozesses wie folgt: „(1) data of one more type are ingested; (2) algorithmic methods use ingested date to forecast the occurrence of crime in some domain of interest; and (3) police use forecasts to inform strategic and tactical decisions in the field. A primary goal of predictive policing is to reduce uncertainty so that police can approach the allocation of resources in an optimal manner. The theory is that an optimal allocation of police resources has a better chance at disrupting opportunities for crime before they happen.“51

Vordergründig ist Big Data Policing ganz entsprechend aufgestellt. Auch hier geht es der Sache nach um algorithmische Vorhersagen, die Hoheitsträgern eine möglichst effektive wie effiziente – in dieser Logik „idealiter“ auch die personengenaue52 – Straftatverhinderung ermöglichen sollen. Der technologische Un48  Nakamoto (ein Pseudonym!), „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System“, 2009, S. 1. Abrufbar unter: https://bitcoin.org / bitcoin.pdf (zuletzt abgerufen am 20. 6. 2019). 49  Zu entsprechenden (Pilot)Projekten in Deutschland in der Übersicht Rademacher (Fn. 42), S. 369. 50  Bezeichnend der Koalitionsvertrag zwischen CDU Hessen und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN Hessen für die 20. Legislaturperiode, Zeile 2535 ff., wo nachzulesen ist: „Neue Instrumente wie spezielle Datenverarbeitungssysteme, die bereits vorhandene Informationen aus polizeilichen Datenbanken bündeln und auswerten, können bei der Bewältigung aktueller polizeilicher Herausforderungen von großem Nutzen sein.“ 51  Brantingham, „The Logic of Data Bias and Its Impact on Place-Based Predictive Policing“, Ohio State Journal of Criminal Law 2018, S. 473 (S. 473).

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terschied zu Predictive Policing liegt in der Menge und der Qualität an Datensätzen, die in das Big Data Policing eingehen. Wie der Name zum Ausdruck bringt, werden große, scheinbar unzusammenhängende Datensätze verarbeitet, denen herkömmliche Analysewerkzeuge (einschließlich des menschlichen Gehirns) nicht gewachsen waren. Hintergründig dürfte das Big Data Policing in seiner Adressierung weitergehen als das einfache Predictive Policing, ist es doch nicht nur an Hoheitsträger, sondern auch an Bürger gerichtet. Wie Brennan-Marquez treffend festgestellt hat, generiert Big Data Policing „a social order – a surveillance society – in which people constantly monitor and curate the data-trails they leave behind in everyday life.“53 Anders ausgedrückt: Je (daten)intensiver Verhaltensvorhersagen zur Kriminalitätsinhibition ausfallen, desto mehr wird der Internalisierung des Kriminalitätsinhibitionsprojekts Vorschub geleistet, gehen also die externe (hoheitliche / öffentliche) und die interne (private) Normdurchsetzung Hand in Hand. In dieser Hinsicht scheint eine Rückbesinnung auf Foucaults Panoptismus von Interesse. Denn indem sich der Einzelne dem Projekt der technologischen Kriminalitätsinhibition durch eine Risikoüberwachung der Anderen verschreibt, macht er dies um den Preis der Überwachung des Selbst, nimmt all dies als eigenes an und wird so zum Vollstrecker der diesem Überwachungsprojekt unterliegenden Herrschaftsstrukturen.54 Dass die Predictive bzw. Big Data Policing zugrundeliegenden Algorithmen – so die bezeichnende Nomenklatur – „Entscheidungen“55 treffen (insbesondere weil sie Korrelationen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Datensätzen herstellen), wird von nicht wenigen Stimmen gerade in den USA für ausreichend erachtet.56 Und zwar selbst dann, wenn diese Entscheidungen nicht nachvollziehbar bzw. erklärbar sind.57 Zugespitzt sollen die Algorithmen also – im Gegensatz zu traditio­ nellen Vorhersagemodellen – bewusst „atheoretisch“58 gehalten werden können. 52  Brennan-Marquez, „Big Data Policing and the Redistribution of Anxiety“, Ohio State Journal of Criminal Law 2018, S. 487 (S. 487). 53  Brennan-Marquez (Fn. 52), S. 487. 54  Euphemistisch heißt dies Selbstdokumentation, deren Kehrseite Foucault’s Panoptikum des Selbst und ein Moment der Ausübung von Macht ist. Hierzu Mau (Fn. 21), S. 249 ff. – Weiterführend und einordnend auch Han, Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt a.M.: Fischer, 2015, S. 84. 55  Anthropomorphismen dominieren heute die soziale Konstruktion von KI, selbst wenn sie die technischen und algorithmischen Eigenheiten von KI in den Hintergrund treten lassen. Es ist zumindest missverständlich, dass KI-Systeme Entscheidungen treffen, da sie eigentlich nur Output generieren können. 56  So etwa von Henderson, „A Few Criminal Justice Big Data Rules“, Ohio State Journal of Criminal Law 2018, S. 527. 57  Obwohl dies scharf – m.E. zu Recht – von computer- oder rechtswissenschaftlicher Seite bestritten wird. Krit. etwa Liu / Lin / Chen, „Beyond State v. Loomis: Artificial Intelligence, Government Algorithmization, and Accountability“, zur Erscheinung angenommen in: International Journal of Law and Information Technology 2019. Bereits jetzt verfügbar unter https:// ssrn.com / abstract=3313916 (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2019).

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Anders und mit den entsprechenden termini technici gesagt: Sog. „opake KI“ (­opaque AI) wird für akzeptabel und „erklärbare KI“ (explainable AI)59 für negligible erachtet.60 Es liegt nahe, hierin eine gesteigerte Technologie- und KI-Gläubigkeit zu erkennen, der ihrerseits durch einen Vertrauensverlust in menschliche Analyse- und Entscheidungsfähigkeiten Vorschub geleistet wird. Allemal belegt diese Sicht der Dinge die Vision einer durch KI getragenen Organisation und Lenkung menschlicher Sozialität und Interaktivität. Diese ist im Kontext des Strafrechts sozial besonders wirkmächtig. Denn wer würde schon bestreiten wollen, dass eine effektive und effiziente Kriminalitätsverhinderung aus gesamtgesellschaftlicher wie auch individueller (z. B. der notorischen Opfer)Sicht wünschenswert ist? 2. Objektivität, Neutralität und Kohärenz in der Strafrechtsanwendung War zuvor von der Versprechung die Rede, dass KI die Begehungsmöglichkeiten von Straftaten effektiv wie effizient zu minimieren im Stande ist, sei nun auf die weitere Versprechung einzugehen, dass sich durch den Einzug von KI in die (straf-) juristische Entscheidungsfindung deren Objektivität, Neutralität und Kohärenz zu verbürgen lassen soll. Die Vorstellung, dass Entscheidungen über die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr, über die vorzeitige Haftentlassung wegen positiver Sozialprognose oder über die Strafzumessung jeweils auf der Grundlage algorithmischer Risikoeinschätzungen (algorithmic risk assessment) ergehen könnten, mag in der Richterrepublik Deutschland ob des scheinbar damit verbundenen Eingriffs in die richterliche Unabhängigkeit unerhört klingen. In den USA ist dies aber bereits gängige, höchstrichterlich abgesegnete Praxis. Hierfür steht State v. Loomis, eine Entscheidung des Supreme Court of Wisconsin.61 Der mehrfach vorbestrafte Beschuldigte Eric Loomis war verdächtigt, der Fahrer eines „drive-by-shootings“ gewesen zu sein. In der Folge bekannte er sich der Flucht vor der Staatsgewalt (eluding an officer) schuldig und trat dem Anklagepunkt des Fahrens eines PKW ohne Einverständnis des Eigentümers (operating a vehicle without its owner’s consent) nicht entgegen. Hierfür wurde er zu einer Haftstrafe von sechs (sic) Jahren verurteilt. Diese drakonische Strafzumessung ging, wie das verurteilende Gericht offen einräumte, u. a.62 darauf zurück, dass Loomis eine miserable Sozial- bzw. ein hohe Rückfallprognose attestiert wurde. Und zwar 58  So wörtlich Berk / Hyatt, „Machine Learning Forecasts of Risk to Inform Sentencing Decisions“, Federal Sentencing Reporter 2015, S. 222 (S. 223). 59  Die auch als „sich selbsterklärende KI“ denk- und ausgestaltbar ist. 60  So etwa von Henderson (Fn. 56), S. 527. 61  State v. Loomis, 881 N.W.2d 749 (Wis. 2016) 754 (US). Dort auch zum Folgenden. 62  Zu weiteren Details, insbes. der (strafprozessual in Wisconsin offensichtlich zulässigen, sic) strafschärfenden Verwendung eines weitergehenden Tatverdachts, die zu den Akten gegeben wurde, vgl. die Zusammenfassung des Verfahrensgangs in State v. Loomis, 881 N.W.2d 749 (Wis. 2016) 754 (US).

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durch COMPAS (Correctional Offender Management Profiling for Alternative Sanctions), einen proprietären (vulgo geheimen) Algorithmus, der durch Northpointe, Inc. entwickelt und vertrieben wurde. COMPAS berechnete auf der Grundlage einer komplexen Analyse eines 137 Punkte umfassenden Fragebogens sowie des öffentlichen Strafregisters des Beschuldigten dessen unmittelbares wie auch allgemeines Rückfallrisiko wie auch sein Risiko für die Gemeinschaft (pre-trial and general risk of recidivism; risk to the community). Dagegen legte Loomis Rechtsmittel wegen der Verletzung seines Rechts auf ein rechtsstaatliches Verfahren (right to due process) ein. Er rügte insbesondere, dass er keine Überprüfung der algorithmischen Abläufe vornehmen konnte, da diese als Geschäftsgeheimnis geschützt waren; dass keine individuelle Strafzumessung erfolgte, weil COMPAS mit generalisierenden Gruppendaten arbeitete; und dass der Algorithmus auch das Geschlecht des / der zu Bewertenden und damit eine unzulässige, da geschlechterdiskriminierende Variable prozessierte. – Der Supreme Court of Wisconsin verwarf das Rechtsmittel und auch der US Supreme Court nahm den Fall letztendlich nicht zur Entscheidung an, nachdem er zuvor noch die US Bundesregierung zur Stellungnahme aufgefordert hatte. Tragend wurde, dass der Einzelne kein „Recht auf Erklärung“ einer algorithmischen Risikoprognose genießen soll, solange er deren Input überblicken kann und über ihren Output informiert wird. Der Zugriff auf den Throughput, also z. B. warum einzelne Datenblöcke wie gewichtet werden, blieb Loomis somit rechtsgrundsätzlich verwehrt. Auch die Verwendung allgemeiner Gruppendaten sowie die Einbeziehung des Geschlechts in die algorithmische Risikoprognose wurde nicht gerügt, weil dies deren Genauigkeit verbessere und keine diskriminierende Zielsetzung verfolge. Freilich beeilte sich der Supreme Court of Wisconsin, klarzustellen, dass ein Richter eine entsprechende algorithmische Risikoprognose nur berücksichtigen, nicht aber als verbindlich werten dürfe. State v. Loomis wird im Schrifttum – innerhalb und außerhalb der USA – kontrovers und mehrheitlich negativ aufgenommen.63 Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Algorithmen unterstützte juristische Entscheidungsfindung in den USA heute höchstrichterlich sanktionierte Praxis ist. Die Ursachen (wohlgemerkt: nicht die Gründe) hierfür sind vielfältig. Löst man sich von der eigentlich angezeigten jurisdiktionsspezifischen Analyse,64 finden sich schnell die wiederkehrenden Motive des heutigen KI-Rechtfertigungsnarrativs. Diesem zufolge soll 63  Vgl. exemplarisch Beriain, „Does the use of risk assessments in sentences respect the right to due process? A critical analysis of the Wisconsin v. Loomis ruling“, Law, Probability and Risk 2018, S. 45; Deskus, „Fifth Amendment Limitations on Criminal Algorithmic Decision-Making“, NYU Journal of Legislation and Public Policy 2018, S. 237; Liu / Lin / Chen (Fn. 57 ), S. 122 ff.; Huq, „Racial Equity in Algorithmic Criminal Justice“, Duke Law Journal 2019, S. 1043 (S. 1081). – Vgl. auch Ostermeier, „Der Staat in der prognostischen Sicherheitsgesellschaft“, in: Puschke / Singelnstein (Hrsg.), Der Staat und die Sicherheitsgesellschaft, Wiesbaden: Springer VS, 2017, S. 101 (S. 103). 64  Um nur wenige Stichwörter zu geben: Ein tiefsitzender, heute auf höchster politischer Ebene noch befeuerter Rassismus findet nicht zuletzt im Phänomen des sog. „mass incarcera­ tion“ Niederschlag und bedingt ein – trauriges, aber verständliches – Gefühl der Resignation,

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der Einsatz intelligenter Algorithmen die strafjuristischen Entscheidungsprozesse effektiver und effizienter machen. Es sollen genauere Risikoprognosen erstellt und frei werdende Ressourcen anderweitig, z. B. im Rahmen von Rehabilitationsprogrammen, eingesetzt werden können.65 Und während Haft- und Strafzumessungsüberdies als Bauchentscheidungen, gleichsam als black art abgetan werden,66 wird die algorithmisch fundierte Entscheidungsfindung dafür hochgehalten, dass sich der Einfluss von Vorurteilen, Voreingenommenheiten und Idiosynkrasien minimieren lasse.67 Nicht das Recht (aufgrund seiner postulierten inhärenten Eigenschaften) oder der Rechtstab (aufgrund seiner Formation), sondern Algorithmen sollen mit anderen Worten die Objektivität, Neutralität und Kohärenz der Rechtsanwendung garantieren (und in den USA: retten). Hier begegnet uns einmal mehr die bereits oben konstatierte Vertrauensverschiebung, weg vom Vertrauen in Menschen und hin zum Vertrauen in Hochtechnologie. Gerade der Vertrauensfall in den Menschen erfolgt dabei auf ganzer Linie, werden hier doch auch die Rechtsanwender in der Sache als Risiko wahrgenommen, nämlich als Risiko für die Objektivität, Neutralität und Kohärenz der Rechtsanwendung. 68 III. Der strafrechtstheoretische Umgang mit den Verheißungen von KI Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass die Strafrechtstheorie die Verheißungen von KI nicht länger ignorieren darf. Dafür haben diese eine zu große soziale Zug- und Sprengkraft entwickelt und sind dabei, sich wirkmächtig in der Strafrechtspflege festzusetzen. Eine Bagatellisierung von KI (unten 1.) wie auch eine subversive Anzweifelung ihrer Verheißungen (unten 2.) scheint daher kein gangbarer Weg, um den aktuellen Herausforderungen begegnen zu können.

dass das US-amerikanische Strafrechtssystem nicht mehr mit herkömmlichen Mitteln zu „retten“ ist. 65  Hierzu etwa Botnick, „Evidence-based Practice and Sentencing in State Courts: A Critique of the Missouri System“, Washington University Journal of Law & Policy 2015, S. 159 ff. (S. 166). 66  So plakativ Chiao (Fn. 38), S. 238. 67  Hierzu krit. Martini / Nink, „Wenn Maschinen entscheiden … – vollautomatisierte Verwaltungsverfahren und der Persönlichkeitsschutz“, NVwZ-Extra 2017, S. 1 ff. (S. 9). 68  Ähnliche Entwicklungen scheinen auch in China Platz zu greifen, wobei dort die Kontrolle anscheinend abhängiger Richter im Vordergrund stehen dürfe. Instruktiv hierzu Meng Yu / Guodong Du, „Why Are Chinese Courts Turning to AI?“, The Diplomat v. 19. 01. 2019. Abrufbar unter: https://thediplomat.com/2019/01/why-are-chinese-courts-turning-to-ai/ (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2019).

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1. Kriminalsoziologische Bagatellisierung? Eine erste, fast schon unwillkürliche Reaktion auf die unter I. und II. geschilderten Verheißungen ist es, diese in ihren Auswirkungen und ihrer Potenz herunterzuspielen und ihnen daher mit tröstlichem Langmut zu begegnen. Insbesondere, weil viele der im Vorstehenden genannten Entwicklungen in den USA (oder gar in China) ihren Ursprung haben und daher für Europa und Deutschland keine Bedeutung entfalten „können“. Überdies wird KI nicht selten zur „normalen“ technologischen Innovation heruntergestuft, die die Strafrechtsordnung im üblichen Ausmaß und nach üblichem Muster zwar zu transformieren, nicht aber zu revolutionieren im Stande ist (vergleichbar etwa der Einführung moderner PKW, die ein eigentliches Verkehrsstrafrecht notwendig machte). Zu erwarten (und je nach Standpunkt: zu befürchten) wäre dann lediglich, dass sich die bekannten Entwicklungen des modernen Strafrechts fortsetzen werden, wie Vorverlagerungen der Strafbarkeit oder der Schutz von Kollektivrechtsgütern. Eine grundstürzende Infragestellung des Strafrechts wäre in der Folge strafrechtstheoretisch nicht zu vergegenwärtigen. Beispielhaft ließe sich scheinbar (!) gut hören: Selbst wenn man arguendo die Verheißungen von Smart Contracts für bare Münze nehmen wollte, würde dies lediglich zu Verschiebungen und Anpassungen führen, wo, wann und wie kriminelle (betrügerische) Energie zum Tragen kommt.69 Insbesondere wäre ein Ansteigen von Cyber-Kriminalität zu erwarten. Statt etwa einen Käufer direkt darüber zu täuschen, dass man über den zu verkaufenden Gegenstand als Verkäufer verfügt, wird Letzterer wohl die die Verfügungsgewalt verifizierende Datenbank („Blockchain“) manipulieren und damit diese Täuschung indirekt vornehmen. Weiterhin sind unproblematisch aktive Angriffe auf die einen Smart Contract konturierenden und ausführenden Computerprogramme wie auch die Ausnutzung ihrer Schwachstellen denkbar.70 Soweit durch solche Entwicklungen Strafbarkeitslücken entstehen, wäre es am Gesetzgeber, sie zu schließen. Dabei wird dieser auf Vorverlagerungstatbestände setzen, die den Schutz von Kollektivrechtsgütern bezwecken (etwa die Integrität und Richtigkeit dezentral organisierter Datenbanken). – Ferner ließe sich mit Blick auf Predictive bzw. Big Data Policing einwenden, dass algorithmische Straftatvorhersagen wenn überhaupt nur für spezifische Kriminalitätsbereiche (wie Einbruchs- und Drogenkriminalität, der man durch örtlich ausgerichtete Polizeipatrouillen vorbeugen kann) funktionieren.71 Der Großteil der Kriminalitäts„bekämpfung“ müsste daher weiterhin mit klassischen Mitteln 69  Anleihen ließen sich hier ziehen bei Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984, S. 86 und 156. 70  Ein illustratives Bespiel hierfür liefert der sog. DAO-Hack. Hierzu Heckmann, „DAOHack: smart contracts auf dem rechtlichen Prüfstand“, CR 2016, R99. 71  Zur räumlichen Dimension von Predictive Policing etwa Straube / Belina „Policing the Smart City: Eine Taxonomie polizeilicher Prognoseprogramme“, in: Bauriedl / Strüver, Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten, Bielefeld: transcript Verlag, 2018, S. 223. Predictive Policing ist aber nicht auf räumliche Straftatprognosen beschränkt. Auch die – wohl höchst defizitäre – Auswertung von Fluggastdaten läuft unter der Rubrik Pre-

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betrieben werden. Zudem könnten Predictive bzw. Big Data Policing neue Kriminalitäts(erscheinungs)formen bedingen, denen dann wieder mit einer entsprechend modern aufgestellten Strafrechtspflege zu begegnen wäre. Man denke etwa an sog. oracle attacks, mit denen sich Kriminelle Kenntnisse über die Vorhersagen der entsprechenden Predictive bzw. Big Data Policing-Software verschaffen, um ihr kriminelles Verhalten entsprechend anzupassen (z. B. indem man genau dort einbricht, wo der Algorithmus keinen Einbruch vermutet). – Bagatellisieren lässt sich schließlich auch der Einfluss von KI in der strafjuristischen Entscheidungsfindung. Z. B. damit, dass die Strafzumessung zu komplex ist, als dass sie von Maschinen bewältigbar ist; oder damit, dass in State v. Loomis höchstrichterlich verfügt wurde, dass algorithmische Risikoeinschätzungen nur zur Unterstützung und Vorbereitung von unabhängigen justiziellen Entscheidungen herangezogen werden, erst letztere aber keinesfalls binden oder verbindlich präjudizieren dürfen.72 So eingängig und tröstlich kriminalsoziologische Bagatellisierungen von KI auch klingen mögen, und so wichtig es auch ist, durch KI ausgelöste Anpassungsund Verdrängungsbewegungen de lega lata et ferenda im Blick zu behalten: die Strafrechtstheorie muss sich gleichwohl grundsätzlicher mit den Verheißungen von KI auseinandersetzen. Ansonsten würde sie sich unwillkürlich zu deren Steigbügelhalter machen und die entscheidenden „Anfangs“phasen der anstehenden Entwicklungen verpassen. Denn je mehr man strafrechtstheoretisch die Blößen von KI betont, desto mehr Anreize setzt man, dass solche Schwachstellen durch technologischen Fortschritt geschlossen werden. Die Bagatellisierung von KI führte also der Sache nach zu einer Entwicklungsspirale, die soziale Fakten schafft, ohne sich ihrer normativen Grundlagen bewusst zu sein. Beispielhaft: Durch die Korrektur fehlerhaften Codes können exploits zusehends verunmöglicht, durch immer bessere Firewalls hacks erschwert oder aber oracle attacks vorweggenommen werden (indem die missbräuchliche Vorhersage der regulären Vorhersagen vorhergesagt wird, mit der Folge, dass dort patrouilliert wird, wo eigentlich nicht patrouilliert werden sollte). Wie wichtig es ist, solche Entwicklungen von Beginn an strafrechtstheoretisch im Blick zu haben, zeigt abermals State v. Loomis. Denn selbst wenn die strafjuristische Entscheidungsfindung „nur“ durch Algorithmen unterstützt und vorbereitet werden sollte, erzeugt bereits dies – je nach Gestaltung – Ankereffekte73 und einen nicht zu unterschätzenden „Compliance“druck. Sollte es etwa Richtern freigestellt werden, mit einer eigenen die algorithmische Sozialprognose zu überstimmen, würde dies auf eine tatdictive Policing. Hierzu instruktiv SZ-Online v. 24. 04. 2019, „Überwachung von Flugpassagieren liefert Fehler über Fehler“. 72 Hierzu die oben unter Fn. 61 nachgewiesene Entscheidung sowie ergänzend Beriain (Fn. 63), S. 47; Katyal, „Private Accountability in the Age of Artificial Intelligence“, UCLA Law Review 2019, S. 54 (S. 86). 73 Hierzu mit Blick auf die Strafzumessung allgemein Streng, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Baden-Baden: Nomos, 5. Aufl. 2017, § 46 Rn. 3; Traut / Nickolaus, „Der Ankereffekt: Schattenseiten im Strafprozess“, StraFo 2015, S. 485.

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sächliche Prävalenz algorithmischer Methoden hinauslaufen (Stichwort: Arbeitszeitersparnis; Furcht vor negativen Reaktionen, wenn sich die eigene Prognose als falsch herausstellt und z. B. der dem algorithmischen „Rat“ zuwider Entlassene sofort rückfällig wird), so dass Strafzumessenden eine Verantwortungsverlagerung („blame shifting“) auf Algorithmen ermöglicht wird (frei nach dem Motto: „Nicht ich, sondern die Maschine ist verantwortlich!“). Diese Punkte müssen wohl bedacht sein, was sich durch eine Bagatellisierung von KI nicht erreichen lässt. 2. Informationstechnologische Unterminierung? Wichtiger als ihre strafrechtstheoretische Bagatellisierung ist es daher, die Verheißungen von KI von innen heraus kritisch zu beleuchten, sie gleichsam auf ihre informationstechnologische Haltbarkeit hin zu befragen. Freilich lässt sich auch so den Herausforderungen von KI nicht abschließend, sondern wenn überhaupt nur vorübergehend strafrechtstheoretisch beikommen. KI begegnet uns hier nämlich als die vielköpfige Hydra; sobald ein Kopf abgeschlagen wird, wachsen andere nach. Gleichwohl gilt es nachdrückliche Zweifel an dem Objektivitäts- und Neutralitätsversprechen heutiger KI-Systeme anzumelden. So sind uneingeschränkt neutrale Algorithmen an sich nur schwerlich vorstellbar. Überdies haben datenverarbeitende Prognosen mit dem hier sog. „bias in, bias“-Problem74 zu kämpfen. a) Algorithmische Normativität Datenverarbeitende Algorithmen arbeiten mit – durch Menschen fixierten oder selbst erlernten – Gewichtungen, z. B. wenn dem Alter eines Straffälligen eine besondere Bedeutung bei der Kalkulation seines Rückfallrisikos beigemessen wird.75 Kritisch wird es, wenn diesen Gewichtungen – gerade bei proprietären, also nicht überprüfbaren Systemen – bewusste oder unbewusste normative Zielvorgaben unterliegen. Wie etwa Berk / Hyatt – sprachlich zwar etwas verbrämt, in der Sache aber in dankenswerter Offenheit – mit Blick auf Rückfallrisikoprognosen ausführen: „Many criminal justice stakeholders will treat false negatives as more costly than false positives. When this policy preferences applies, the standard of statistical proof necessarily will be lower for forecasts of homicide. The intent is to not release an individual who will commit a homicide and, in trade, to accept a larger number of false positives.“76

Das bedeutet nichts anderes, als dass ein dergestalt normativ ausgerichteter Algorithmus „billigend in Kauf nimmt“ (bzw. genauer: die hinter dem Algorithmus   In Anschluss an Mayson, „Bias in, Bias out“, Yale Law Journal 128 (2019), S. 2218.   Hierzu etwa Berk, „Algorithmic criminology“, 2 Security Informatics 2013, article 5, S. 4. 76  Berk / Hyatt (Fn. 58), S. 223. 74 75

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Stehenden und diesen Verwendenden billigend in Kauf nehmen müssen), der Sache nach wohl ungefährliche Personen (sog. falsch Positive) in Haft zu lassen, um zu verhindern, dass der Sache nach wohl gefährliche Personen irrig als ungefährlich eingeordnet (sog. falsch Negative) und in der Folge aus der Haft entlassen werden. Es drängt sich auf, dass eine solche Programmierung strafjustizieller Entscheidungen – die auch dem deutschen Strafrecht leider nicht so fern ist, wie uns etwa die Debatten über die Sicherungsverwahrung vor Augen führen77 – keinesfalls neutral und objektiv, sondern vielmehr hochgradig politisch und normativ aufgeladen ist. Das wird freilich im Schrifttum in kritischer Absicht sogleich wieder ins Positive gewendet, nämlich indem es mit dem Versprechen verbunden wird, dass KI zur Offenlegung normativ offener und daher politisch zu fixierender Zielsetzungen zwingt.78 Transparenz wird somit nicht nur zur Grundvoraussetzung, sondern zum normativen Gut des Einsatzes von KI in der Strafrechtspflege. Bespielhaft hierfür steht die von Chiao jüngst zur (theoretischen) Diskussion gestellte Spielart algorithmischer Strafzumessung.79 Chiao zufolge sollte ein Algorithmus nicht prospektive Risiken, sondern die Angemessenheit der retrospektiven Strafzumessung evaluieren; er soll also nicht kalkulieren, wie gefährlich ein Beschuldigter ist, sondern welche Strafe andere Richter in einer bestimmten Jurisdiktion in einem vergleichbaren Fall verhängen würden. So soll dem tatsächlich zur Strafzumessung berufenen Richter ein konkreter Richtkorridor an die Hand gegeben werden. Dieser Vorschlag greift traditionellen Kontrollmechanismen der Strafzumessung vor (wie beruflichen Sozialisierungsprozessen, instanzgerichtlichen Begründungspflichten und rechtsmittelrechtlichen Angemessenheits- bzw. Willkürprüfungen). Die Strafzumessung wird, so die Idee, im Einzelfall auf ihre Systemgerechtigkeit und -richtigkeit hin überprüft, bevor sie rechtsverbindlich ausgesprochen wird. Und da – wie Chiao natürlich erkennt – die Strafzumessung von den unterschiedlichsten, teils antinomischen Zielen und Zwecken bestimmt wird, müsste im zur Anwendung kommenden Algorithmus verbindlich festgelegt werden, ob und welche Ziele und Zwecke mit je welcher Gewichtung bestimmenden Einfluss gewinnen sollen. Mit all dem stellt sich C ­ hiao in kritischer Tradi­ tion gegen die Intransparenz des subjektiv Politischen der Rechtsanwendung. An deren Stelle soll die Transparenz eines objektiv-politisch gestalteten Algorithmus treten. Der Algorithmus wird damit gleichsam zur bouche de la loi.80 Der aufklärerische Glaube an die ordnende und befriedende Kraft der Rationalität verbindet sich mit anderen Worten nicht länger mit dem menschlichen, sondern mit dem maschi77  Vgl. nur Boetticher u. a., „Zum richtigen Umgang mit Prognoseinstrumenten durch psychiatrische und psychologische Sachverständige und Gerichte“, NStZ 2009, S. 478 (S. 479 m. w. N.). 78  So etwa Beriain (Fn. 63), S. 48 m. w. N. 79 Hierzu Chiao (Fn. 38). 80  Ob und wie eng diese Figur mit Montesquieu zu verbinden ist, kann hier dahinstehen.

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nellen Subsumtionsautomaten,81 der die Normen des Gesetzgebers objektiv, neutral und kohärent zur Anwendung bringt. b) Bias in, bias out Die Neutralität und Objektivität heutiger KI-Systeme muss überdies durch das bias in, bias out in Zweifel gezogen werden. Dies betrifft unmittelbar die Funktionsweise von KI gestützten (Kriminalitäts, Rückfallrisiko oder Chiao’schen Strafzumessungs)Prognosen, die durch die Auswertung aktueller Daten über vergangene Begebenheiten Schlüsse auf die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse ziehen.82 Wenn diese vergangenen Begebenheiten dann freilich vorurteilsbehaftet sind bzw. durch vorurteilsbehaftete Datensätze rekonstruiert werden, reproduziert die Zukunftsvorhersage das Vorurteilsbehaftete der Vergangenheit in der Gegenwart.83 Dies ist gerade in der US-Diskussion von ungemeiner Relevanz. Die die US-amerikanischen Kriminaljustizsysteme prägende Rassensegregation wird durch Datensätze repräsentiert, die einen Algorithmus wie von selbst dazu verleiten, einzelnen männlichen jungen Afroamerikanern heute eine sich morgen realisierende überproportional hohe kriminelle Energie zu attestieren, weil diese Bevölkerungsgruppe gestern überproportional häufig durch das Strafjustizsystem prozessiert (festgenommen, verurteilt, nicht vorzeitig aus der Haft entlassen etc.) wurde. Aus welchen sozialen (z. B. rassistischen) Ursachen dies „gestern“ erfolgte, bleibt im Ausgangspunkt algorithmisch außer Betracht.84 Ein solches bias in, bias out muss dabei nicht auf einem Fehler im System beruhen, sondern kann theoretisch auch System haben.85 Das Objektivitäts- und Neutralitätsversprechen würde dann dazu beitragen, ein (z. B. rassistisch) bemakeltes Kriminaljustizsystem algorithmisch reinzuwaschen, als herrschaftsfrei zu mystifizieren und so in der sozialen Wahrnehmung zu legitimieren. All das kann und müsste eine kritische, KI in den Blick nehmende Strafrechtstheorie rügen. Auswege aus der informationstechnologisch verbrieften Herrschaftspetrifizierung eines bias in, bias out versprechen neutralisierte Trainingsdatensätze, die nor81  Allg. zur Figur des Subsumtionsautomaten Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1986. 82  Eine instruktive Fallstudie aus den USA wird vorgestellt von Berk, „An Impact Assessment of Machine Learning Risk Forecast on Parole Board Decisions and Recividism“, Journal of Experimental Criminology 2017, S. 193. 83  Hierzu instruktiv auch Singelnstein (Fn. 42), S. 4. 84  Hierzu allg. und krit. Moffat / Montford, „Unpacking Sentencing Algorithms“, in: ­Keijser / Roberts / Ryberg (Hrsg.), Predictive Sentencing, Oxford: Hart Publishing, 2018, S. 186 ff. Mit Blick auf die USA spricht Ferguson, „Illuminating Black Data Policing“, Ohio State Journal Criminal Law 2018, S. 503 (S. 504) von einem „black data problem [since data is] racially encoded, colored by the history of real-world policing that disproportionality impacts communities of color.“ 85  Dies stellt Mayson (Fn. 74) in den Raum.

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mativ unerwünschte Inputfaktoren verwerfen (etwa solche, die direkt oder indirekt mit der Hautfarbe der zu Bewertenden zusammenhängen), sowie Algorithmen, die unerwünschte Verzerrungen in den Inputdaten normativ ausgleichen, gleichsam herausrechnen.86 Interessanterweise wird dadurch die Verheißung, dass KI eine objektive, neutrale sowie kohärente Strafrechtspflege effektiver und effizienter als menschliche Entscheidungsträger organisieren könne, nicht nachhaltig in Frage gestellt. Im Gegenteil, sie wird auf einer höheren Ordnungsstufe reproduziert und als Entwicklungsziel ausgegeben. Paradoxerweise stabilisiert und legitimiert die im Vorstehenden skizzierte Kritik am jetzigen Einsatz von KI in der Strafrechtspflege den zukünftigen Einsatz einer weiterzuentwickelnden KI. Die entscheidenden Zweifel daran, dass es sich bei den Versprechungen von KI um die sprichwörtliche „heiße Luft“ handelt und eine KI gestützte Strafrechtspflege quasi an sich selbst bzw. den zu hoch gesteckten Erwartungen scheitert, eben weil Algorithmen normativ programmiert sind und anhand voreingenommener Datensätze lernen, sind im Ergebnis weniger durchgreifend als sie zunächst erscheinen mögen. Denn diese Zweifel betreffen nur die konkrete Umsetzung, nicht aber die fundamentalen normativen Ordnungsvorstellungen einer algorithmischen Verbürgung effektiven wie effizienten Rechtsgüterschutzes sowie objektiver, neutraler und kohärenter Strafrechtsanwendung. Die Forderungen nach einer objektiv-politischen Programmierung und nach einer normativen Ausbalancierung von KI-Systemen sanktionieren und perpetuieren diese Ideale vielmehr. Ein Ignorieren, Bagatellisieren oder Unterminieren von „KI und Strafrecht“ hilft daher nicht weiter. IV. Reflexion fundamentaler normativer Ordnungspostulate Um das Transformative der Verbindung von „KI und Strafrecht“ aufzuarbeiten, wird – da ein Ignorieren, Bagatellisieren und Unterminieren nicht ausreicht – eine Reflexion fundamentaler normativer Ordnungspostulate vonnöten; nämlich der Ordnungspostulate eines gewünschten Strafrechts wie auch jene der gewünschten Gesellschaft, die dieses Strafrecht hervorbringen soll. Da damit große und größte Fragen angesprochen sind, können hier nur einige kursorische Erwägungen angebracht, aber keine endgültigen Antworten versprochen werden, so dass im Folgenden an den entscheidenden Stellen in den Konjunktiv gewechselt werden muss. 1. Strafrecht als liberales Freiheitsschutz- oder als wohlfahrtstaatliches Sicherheitsrecht? Die eigentliche Herausforderung für die Strafrechtstheorie liegt darin, dass sich KI prima facie die zentralen Versprechungen des Strafrechts zu eigen macht – und 86

  Hierzu ebenfalls krit. und m. w. N. Mayson (Fn. 74).

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sie optimiert. Kann unser „herkömmliches menschliches Strafrecht“ (jedweder theo­retischer Provenienz) Rechtsgüterschutz87 lediglich normativ und kontrafaktisch garantieren, weil Normbrüche an der Tagesordnung bleiben, will KI langfristig die faktische Verunmöglichung oder zumindest die substantielle Minimierung von Rechtsgutsverletzungen erreichen. Und kann unser „herkömmliches menschliches Recht“ nur eine normative und kontrafaktische Objektivitäts- und Neutralitätsgarantie für die juristische Entscheidungsfindung abgeben, weil persönliche Eigenheiten und Fehler der Rechtsanwender die „menschliche“ Regel bleiben, mit denen sich das Rechtssystem auch (insbes. aus pragmatischen Erwägungen) abgefunden hat,88 will KI der Subjektivität, Voreingenommenheit und Ungleichbehandlung der Rechtsanwendung kategorisch vorbeugen. Ginge es strafrechtlichen Ge- und Verbotsnormen also darum, von den primären wie sekundären Norm­ adressaten flächendeckend89 ernstgenommen zu werden, um so einen ernstlichen Schutz der geschützten Rechtsgüter zu garantieren, und nähme das Recht seinen Anspruch ernst, objektive, neutrale und kohärente Entscheidungen rechtstatsächlich flächendeckend garantieren zu wollen, so könnte die Strafrechtstheorie nicht prinzipiell gegen die Verheißungen von KI mobil machen. Das Faktische der (Verheißungen von) KI beschlösse mit anderen Worten das Ende des Kontrafaktischen (der Versprechungen) des Strafrechts – und damit das Ende im Sinne des krönenden Abschlusses des Strafrechts wie wir es kennen. Eine grundsätzliche strafrechtstheoretische Kritik am Einzug von KI in die Strafrechtspflege müsste also nicht nur deren „fremde“, sondern vielmehr die „eigenen“, von KI ja vermeintlich nur übernommenen Zielsetzungen kritisch in den Blick nehmen. Zu Verteidigen und Rechtfertigen wäre mit anderen Worten nicht weniger als das „nurmehr“ Normative und Kontrafaktische der Strafrechtspflege. Will heißen: die reale Möglichkeit krimineller Rechtsgutsverletzungen wie auch die reale Möglichkeit voreingenommener, vorurteilsbehafteter, idiosynkratrischer menschlicher Rechtsanwender.90 An dieser Stelle begegnet uns die Differenz zwi87  Zu diesem Paradigma nur Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1973, S. 27 ff. 88  Beispielhaft sei an die Endlichkeit des Instanzenzugs und daran erinnert, dass die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nach Maßgabe des (freilich umstr.) sog. Dürig’schen Dogmas nur Rechtsschutz durch, nicht aber gegen den Richter verbürgt. 89  Diese Qualifikation fordert dazu heraus, offener mit der faktischen Selektivität des Strafrechts – nicht nur auf supra-, sondern auch auf inner-nationaler Ebene – umzugehen, gleichsam den strafrechtlichen Rechtsgüterschutz nicht nur als fragmentarisch, sondern als konzeptionell selektiv zu denken. Denn der Grad an Effektivität, den KI verheißt, mag sich in der Lebenswirklichkeit schnell als gesellschaftlich zu teuer herausstellen. So wurde etwa in einer chinesischen Zeitung das dortige KI basierte Antikorruptionssystem, das bezeichnenderweise die zero trust-Maxime im Namen führt, wie folgt kritisch hinterfragt: „Is China’s corruption-busting AI system ‘Zero Trust’ being turned off for being too efficient?“ Hintergrund ist die Sorge, dass die chinesische öffentliche Verwaltung eine umfassende Verfolgung aller erkannten Korruptionsstraftaten nicht verkraften würde. Abrufbar unter: https://www.scmp.com/news/china/science/ article/2184857/chinas-corruption-busting-ai-system-zero-trust-being-turned-being (zuletzt ab­ gerufen am 17. 06. 2019).

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schen einer liberalen Fundierung des Strafrechts, die letzteres dem Freiheitsschutz verschreibt, und wohlfahrtstaatlichen Konzeptionen, die das Strafrecht zum Sicherheitsschutz einsetzen (können).91 Um den Verheißungen von KI prinzipiell entgegentreten zu können, müsste also – und da es hier nicht darum gehen kann, endgültige Antworten zu geben, kann und muss im Folgenden der Konjunktiv verwendet werden – in liberaler Perspektive das Dogma vom „Rechtsgüterschutz durch Strafrecht“ ergänzt werden. Bewerkstelligen ließe sich dies – (teilweise sehr!) frei nach Haffke,92 Tiedemann93 und Prittwitz94 –, indem das Strafrecht fundamental dem Freiheitsschutz verschrieben wird, dem andere (ggf. legitime, aber dann eben nicht in diesem Sinne strafrechtliche) Instrumente zur Prävention von Rechtsgutsverletzungen entgegenzustellen sind. Gemeint ist damit der unmittelbare Schutz eines Freiheitsgebrauchs (wie dem Alkoholkonsum frei von staatlicher Aufsicht und Kontrolle), der mittelbar auch den Freiheitsmissbrauch ermöglicht, also die Freiheit, Straftaten begehen zu können (wie fahrlässige oder vorsätzliche Alkoholfahrten im Straßenverkehr). Nur so könnte in individueller Hinsicht weiterhin die Nichtbegehung einer Straftat als freiheitliche Entscheidung für und deren Begehung als freiheitliche Entscheidung gegen das Recht gewertet werden. In einer (hypothetischen) Welt, in der KI Straftaten eo ipso oder de facto unmöglich macht, kann von dieser Freiheit, dem berühmten Anders-Handeln-Können, und sei es auch nur als einer für ein liberales Gemeinschaftswesen notwendigen Fiktion, keine Rede mehr sein. In sozialer Hinsicht waren überdies auch bis dato (d.h. ohne KI) Mittel und Wege denkbar, mit denen sich Rechtsgutsverletzungen eo ipso verunmöglichen oder zumindest de facto drastisch (und drakonisch) minimieren lassen.95 Die Potentiale der KI spitzen in dem Sinne zu, was auch bis hierher im Rahmen einer 90  Z. B. indem das Recht in den Dienst der diskursiven, durch Rechtfertigung und Kritik angetriebenen Ausrichtung auf Objektivität, Neutralität und Kohärenz gestellt wird. 91  Diese idealtypische Gegenüberstellung findet sich auch bei Günther, „Bedrohte individuelle Freiheiten im aufgeklärten Strafrecht – Welche Freiheiten?“, KJ 2016, S. 520. 92  Haffke, „Die Legitimation des staatlichen Strafrechts zwischen Effizienz, Freiheitsverbürgung und Symbolik“, in: Schünemann u. a. (Hrsg.), Festschrift für Roxin zum 70. Geburtstag, Berlin: De Gruyter, 2001, S. 965. 93  Prägnant zusammengefasst bei Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht: Einführung und Allgemeiner Teil, München: Vahlen, 5. Aufl. 2017, Rn. 228. 94  Prittwitz, „Strafrecht als propria ratio“, in: Heinrich u. a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, Band 1, Berlin / New York: De Gruyter, 2011, S. 23 ff. 95  Im Wirtschaftsstrafrecht beispielhaft durch eine rigide administrative Supervision und Regulation der Wirtschaftsteilnehmer. Oder im Verkehrsstrafrecht durch eine technische Intervention gegenüber den Verkehrsteilnehmern. Hierzu denke man an verbindliche, mit einer Wegfahrsperre verbundene Alkoholtests vor Fahrtantritt. Auch das ist keine (!) Science Fiction, sondern wird konkret (!) auf EU-Ebene überlegt. Hierzu https://www.europarl.europa.eu/news/ en/press-room/20190410IPR37528/parliament-approves-eu-rules-requiring-life-saving-tech​ nologies-in-vehicles (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2018) m. w. N.

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rigiden wohlfahrtsstaatlichen, nämlich administrativen oder „technischen Präven­ tion“ (Hassemer96) denkbar war, nämlich eine Art „technologischen Paternalismus“ (Hilgendorf ). Wenn das Kontrafaktische des Strafrechts dem Faktischen effektiverer Instrumente der Straftatprävention vorgezogen werden soll, so müsste sich eine liberale Strafrechtstheorie offener mit saldierenden Freiheitsbilanzen auseinandersetzen. Der Freiheitsverlust der Vielen, die sich rigiden nicht-strafrechtlichen Maßnahmen zu unterwerfen haben, obwohl sie auch durch normative (strafrechtliche) Maßnahmen erreichbar sind, müsste dann schwerer als der mögliche Freiheitsverlust der Wenigen wiegen, deren Rechtsgüter durch jene verletzt werden, die normativ (strafrechtlich) nicht ansprechbar waren. Strafverfassungsrechtlich gedeutet: Strafrechtliche Ge- und Verbotsnormen müssten als prima ratio des Freiheitsschutzes theoretisiert werden, weil und wenn ein rigiderer (z. B. administrativ supervisiver, regulativer oder technisch intervenierender) Rechtsgüterschutz per saldo nicht erforderlich oder nicht angemessen wäre, da er Einzelne oder die Allgemeinheit übermäßig belasten würde. Illustrativ hierfür ist die reziproke Freiheitsbilanz, die etwa bei Hochrisikotechnologie (man denke etwa an die kommerzielle Atomkraft) aufgemacht wird. Hier überwiegen die möglichen Freiheitseinbußen der Vielen (die etwa bei einem atomaren Super-GAU zu befürchten wären) den Freiheitsverlust der Wenigen, die rigiden nicht-strafrechtlichen Maßnahmen unterworfen werden (etwa einer engmaschigen staatlichen Kontrolle der Betreiber von Atomkraftwerken). Der schmerzhafte Preis dieser Rekonstruktion ist es, dass die Opfer von Straftaten ihre realen Freiheitseinbußen hinnehmen müssen, um den Anderen ihren virtuellen sonstigen Freiheitserhalt zu sichern. Plakativ: Den Eltern eines Kindes, das überfahren wurde, weil ein Autofahrer fahrlässig auf den zugelassenen „Autopiloten“ seines PKW vertraute, muss offen gesagt werden, dass das Verbot solcher „Autopiloten“ gesellschaftlich zu „teuer“, z. B. zu innovationsfeindlich, und auch nicht im Sinne der Vielen war, die diese „Autopiloten“ verkehrsgerecht zur Realisierung ihrer Freiheit einsetzen. Ein so zu legitimierendes liberales Strafrecht könnte gegen die Verheißung eines effektiven wie effizienten Rechtsgüterschutzes durch KI in Stellung gebracht werden. Das setzte freilich gehörigen kriminalpolitischen und straftheoretischen Mut voraus. Immerhin müsste beispielhaft die öffentliche wie private Fremd- und Eigenüberwachung, die notwendig ist, um Predictive bzw. Big Data Policing zu ermöglichen, als übermäßig freiheitsinvasiv klassifiziert werden. Und der virtuelle Freiheitsgewinn der Vielen, die keiner Überwachung ausgesetzt werden, müsste dem realen Freiheitsverlust der Wenigen vorgezogen werden, die Opfer von Straftaten werden, die sich durch den Einsatz von KI (wohl) hätten verhindern lassen. Die notwendig werdenden Abwägungen und Freiheitsbilanzierungen werden auch in Zukunft bereichsspezifisch ausfallen müssen. Das Straf- als liberales Frei  Hassemer, „Aktuelle Perspektiven der Kriminalpolitik“, StV 1994, S. 333 ff. (S. 336). 

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heitsschutzrecht müsste also nicht überall und generell zur Geltung gebracht werden. Die liberale Strafrechtstheorie ist damit aber gehalten, Freiheit und Rechtsgüterschutz in einen offenen Abwägungsprozess einzustellen. 2. Welches Strafrecht für welche Gesellschaft?97 Der Druck, Farbe zu bekennen, stellt sich ebenfalls ein, sobald man die unterschwelligen normativen Ordnungspostulate von KI in den Blick nimmt, die durch viele oberflächliche Rechtfertigungsnarrative (effektiver und effizienter; objektiver, neutraler und kohärenter) leicht verdeckt werden. Insofern muss sich die Strafrechts- zur Gesellschafts- oder politischen Theorie öffnen und zu Grundlegendem (insbesondere zum gesellschaftlichen Rang von Vertrauen und Zukunftsoffenheit) Stellung beziehen. Wie gezeigt wurde (oben II.), ist und wäre der Einsatz von KI in der Strafrechtspflege Ausdruck eines fundamentalen Verlusts zwischenmenschlichen Vertrauens. Dem Anderen (einschließlich des Rechtsanwenders) soll nicht mehr zu vertrauen sein; er soll vielmehr als potentieller Gefährder und als Risiko geführt werden, den es zu überwachen und dessen zukünftiges Verhalten es algorithmisch zu antizipieren gilt. Das läuft in der Eigenlogik im Ergebnis auf eine Generalisierung automatisierten Misstrauens – oder strafprozessual gesprochen: eines automatisierten und generellen Anfangsverdachts – hinaus.98 Um den Verheißungen von KI prinzipiell entgegenzutreten, müsste die Unschuldsvermutung gesellschaftsstraftheoretisch höher aufgehängt, nämlich umfassender als kontrafaktische zwischenmenschliche Vertrauensvermutung und damit z. B. ganz aufklärerisch  – wie Hruschka dies glasklar herausgearbeitet hat – als „Jedermanns Würde“ rekonstruiert werden.99 Dies setzte den Schulterschluss mit einer Sozialphilosophie voraus, die Vertrauen nicht als bloßen Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität (Luhmann), sondern als funktional wertvoll führt, um ein Abgleiten in eine vertrauenslose Überwachungsgesellschaft mit allemal potentiell autoritärem und oppressivem Charakter zu verhindern.100

97  Diese Pointierung meiner Fragestellung entstammt Diskussionen im Kreis der Frankfurter Kolleginnen und Kollegen und verdanke ich letztlich Klaus Günther. 98  Brennan-Marquez (Fn. 52), S. 488 diagnostiziert daher treffend, dass unter dem Eindruck von Predictive und Big Data Policing die verfassungsrechtliche Figur des Anfangsverdachts, die staatliche Grundrechtseingriffe legitimiert, (bis zur Unkenntlichkeit) geschleift wird. 99  Hruschka, „Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophie der Aufklärung“, ZStW 112 (2000), S. 285. 100  Ob hierfür der von Parsons, Politics and Social Structure, New York: Free Press, 1969 geprägte Vertrauensbegriff, der als Antwort auf die hobbessche Situation formuliert einen politischen Ordnungsbegriff darstellt, in Ansatz gebracht werden kann, muss hier nicht weiter expliziert werden.

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Nicht minder anspruchsvoll ist es, dem Ideal eines end of history101 zu begegnen. Die Funktionsweise von KI proklamiert, wie wir gesehen haben (oben II.), in der Sache eine Art von Ende der Geschichte, gleichsam eine Schließung der Zukunft. Immerhin werden aus der Vergangenheit Rückschlüsse auf die Zukunft gezogen, was – im Guten wie im Schlechten – zu einer Petrifizierung des Gestern im Heute führt und die dynamische Entwicklung des Morgen hemmt. Eine normwidrige Zukunft wird, so das Versprechen, kraft KI tatsächlich verhinderbar. Darauf zielt auf den ersten Blick auch die traditionelle Strafrechtstheorie. Dem Einzelnen wird die Sorge vor zukünftigen Rechtsgutsverletzungen genommen, weil und indem der zukünftige Bestand dieser Rechtsgüter im Jetzt strafrechtlich garantiert wird. Der Unterschied liegt einmal mehr darin, dass KI ein faktisches und Strafrecht ein kontrafaktisches bzw. normatives end of history verspricht. Das hat Folgewirkungen. In einer idealen (utopischen oder dystopischen) KI-Welt sind Dissidenz und Widerstand gegen den als status quo reproduzierten status quo ante nicht nur zwecklos (weil und wenn sie eo ipso oder de facto unmöglich gemacht werden), sondern idealiter auch unvorstellbar (insbesondere weil und wenn der Einzelne sich zum Vollstrecker seiner eigenen Unterwerfung unter eine panoptische Herrschaftsform macht). Wer diese Schließung der Zukunft ablehnen und für deren Öffnung eintreten wollte, könnte den Eigen- und Mehrwert des Kontrafaktischen des Strafrechts in der faktischen Zulassung von Dissidenz und Widerstand finden. Deviantes Verhalten dürfte dann nicht länger allein als verhinderungsbedürftige Rechtsgutsverletzung abgestempelt, sondern zumindest auch als potentielle (objektive oder subjektive) Kritik am status quo anerkannt werden (man denke nur an das strafrechtliche Verbot homosexuellen Geschlechtsverkehrs, das nicht zuletzt durch fortwährende Akte des Widerstands, nämlich durch Akte des Normbruchs, zu Fall gebracht wurde). Das bedeutete, dass in der Auseinandersetzung mit dem Normbruch die strafrechtliche Reaktion immer wieder mit guten Gründen gerechtfertigt werden müsste und diese nicht z. B. als „natürlich“ hingestellt werden dürfte. Strafrecht müsste also als evolutive und diskursive Praxis von (menschlicher) Rechtfertigung und Kritik konzipiert sowie die zeitliche Kontingenz des Strafrechts akzeptiert werden, um die offene Zukunft des Strafrechts der geschlossenen Zukunft der KI entgegensetzen zu können. Ausblick Dieser Beitrag wirbt darum, KI als soziales Konstrukt in den Blick zu nehmen, dessen Praxis unsere grundlegenden gesellschaftlichen und (straf-)rechtlichen Ordnungsvorstellungen zu transformieren im Stande ist. Angesichts konkreter strafrechtlicher Applikationen sollte KI als transformative Technologie nicht län101  Nachgerade klassisch Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York: Free Press, 1992.

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ger strafrechtstheoretisch ignoriert oder bagatellisiert werden. Und da auch interne informationstechnologische Zweifel an der Leistungsfähigkeit von KI nur weitere Entwicklungsspiralen befördern, gilt es die normativen Ordnungspostulate, die in KI einprogrammiert sind, kritisch zu hinterfragen. Insbesondere ist zu hinterfragen, was der Preis der Verheißungen von KI ist, einen effektiveren und effizienteren Rechtsgüterschutz verbürgen und eine neutralere, objektivere und kohärentere Strafrechtsanwendung garantieren zu können (Stichwort: Obsiegen des wohlfahrtstaatlichen Sicherheits- und zero trust-Paradigmas in einer Big Data basierten Überwachungsgesellschaft). Umgekehrt würde es sich – wie hier nur abschließend in den Raum gestellt werden kann – eine non-ideale Strafrechtstheorie zu einfach machen, dem Einzug von KI in die Strafrechtspflege schlicht (normative) ideale Setzungen entgegensetzen zu wollen (Stichwort: Straf- als Freiheitschutzrecht; Recht als diskursive Praxis von Rechtfertigung und Kritik).102 Denn das setzte ein besonders anspruchsvolles Strafrecht voraus, das von allen autoritären und oppressiven Anleihen befreit ist (und nicht „nur“ sein sollte).103 Wer dies zwar als wünschenswertes, aber in kritischer Intention104 wenig realistisches Ziel ausgeben will, und wer von einer faktisch immer weiter voranschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft ausgehen muss, der wird im Endeffekt darüber nachzudenken haben, wie ein im Grundsatz liberal, rechtsstaatlich und demokratisch auszurichtendes Strafrecht so um KI-Systeme ergänzt werden kann, dass KI das Strafrecht einerseits nicht autoritär korrumpieren und es vielmehr andererseits von illiberalen, rechtsstaatswidrigen und autoritären Anwandlungen befreien kann.105 In diesem (non-idealen und kritischen) Sinne müsste KI dann nicht als Ende des Strafrechts (weder im Sinne des siechenden Hinscheidens eines liberalen Freiheitsstrafrechts noch im Sinne des krönenden Abschlusses eines wohlfahrtstaatlichen Sicherheitsstrafrechts), sondern als Baustein eines heute zu entwerfenden Strafrechts der (nahen) Zukunft entworfen werden, das sich zugleich technologieoffen106 und men102  Um damit die berühmte, von Rawls losgetretene methodische Debatte zwischen idealer und non-idealer Theoriebildung für die Strafrechtstheorie anzudeuten. 103  So allg., d.h. ohne spezifischen KI Bezug, Naucke, „Abhandlung über das Strafrecht als Machtbegrenzung“, in: Negatives Strafrecht, Berlin: Lit Verlag, 2015, S. 69 ff. (S. 114 ff.). 104  Ideale Theoriebildung sieht sich der Kritik ausgesetzt, den status quo zu stabilisieren. Eine non-ideale Theoriebildung lässt sich keinesfalls von aktuellen Entwicklungen vor sich hertreiben, nimmt diese aber zur Kenntnis und will sie verstehen, um sie so zum Bezugspunkt kritischer Reflexionen zu machen. 105  Z. B. indem KI aufklärerisch zum Einsatz gebracht wird, um Richtern ihre Vorurteile etc. vor Augen zu führen. Hierzu eindrücklich Sommer, „Psychologie der richterlichen Entscheidungsfindung“, ZRP 2017, S. 60, der eine wissenschaftliche Erforschung richterlicher Vorurteile für geboten erachtet, weil sie hierzulande noch „tabu“ sei. – Rechts- und Urteilsmethodisch ist insofern weiterhin überaus lesenswert Hruschka, „Rechtsanwendung als methodisches Problem“, ARSP 50 (1964), S. 485 (insbes. S. 498). 106  Der Versuch, das Strafrecht vor technologischen Innovationen im Recht zu schließen, kann bestenfalls künstlich wirken. So sieht das französische Strafrecht nun folgende Bestimmung vor: „Les données d’identité des magistrats et des membres du greffe ne peuvent faire l’objet d’une réutilisation ayant pour objet ou pour effet d’évaluer, d’analyser, de comparer ou

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schengerecht und damit in einem modernen Sinne weiterhin vernünftig zeigt. Bei alledem gilt es das – gerade mit Blick auf KI nicht immer leicht umsetzbare – große Vermächtnis von Joachim Hruschkas zu beherzigen, dass die Strafrechtswissenschaft stets intellektuell redlich bleiben muss, sich also rationaler Argumentation zu bedienen und Beschwörungswörter sowie Zauberformeln pedantisch zu vermeiden hat.107 Summary Does Artificial Intelligence (AI) imply the end of criminal law and justice as we know it? This article submits that AI is a transformative technology that seemingly assumes and optimizes the rationalities of criminal law (the effective prevention of crime; the objective, neutral and coherent application of the law etc.), namely by replacing the counterfactual guarantees of the law with the factual guarantees of technology. As a consequence, AI must not be trivialized by criminal law theory. Likewise, it is not enough to subversively criticize the current weaknesses of AI (e.g. vis-à-vis the “bias in, bias out” problem). Rather, criminal law theory should draw on the highflying promises of AI to reflect upon the foundational premises of criminal law. For a criminal law that is mostly a governance tool in the administrative and/or welfare state, AI applications promise the culmination of the law’s very objectives (like the effective inhibition and prevention of crime, e.g. by means of predictive policing; or the political determination of fuzzy sentencing rationales in sentencing algorithms that ensure equal sentences for comparable crimes). For a criminal law, however, that protects liberal freedoms and rests on inter-personal trust, AI may well lead to the passing of the law’s very ideals (e.g. of the presumption of innocence, which can no longer be upheld once everyone, ordinary citizens and judges alike, is deemed a possible risk). The question about “AI as the end of criminal law?” thus eventually raises the two-pronged question “Which criminal law for which society?”. Indeed, what is the status of freedom (esp. in a surveillance society needed to power Big Data driven algorithms), trust (esp. under the zero trust paradigm that underlies many risk assessment algorithms) and future (esp. when algorithms make predictions based on past data) once AI enters into de prédire leurs pratiques professionnelles réelles ou supposées.“ Abrufbar unter, dort auch mit dem Hinweis, wo diese Vorschrift eingefügt werden soll: https://www.legifrance.gouv.fr/eli/ loi/2019/3/23/JUST1806695L / jo / texte (zuletzt abgerufen am 20. 06. 2019). – Daraus spricht die Sorge, justizielle Entscheidungsträger algorithmisch „durchleuchtbar“ zu machen. Wenn damit die Sorge verbunden sein sollte, dass algorithmisch deutlich gemacht werden kann, dass diese Entscheidungsträger nicht objektiv und neutral das Recht anwenden, sondern durch Subjektives gefärbt entscheiden, stellt sich freilich die Frage, ob der strafrechtliche Schutz eines Mythos oder bloßen Ideals (also die Objektivität und Neutralität der Rechtsanwendung) oder eines nicht hinterfragbaren Vertrauens in justizielle Entscheidungsträger ein legitimes und sinnvolles Rechtsgut darstellen. 107 So ausdrücklich Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode (Fn.  3), S. XVIII.

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the administration of criminal justice? These are the questions, or so I respectfully submit, that criminal law theory needs to address today in order to come up with a criminal law that is both (for pragmatic reasons) open to technology as well as (for humane reasons) sensible. In all of this, we must take to heart Joachim Hruschka’s great legacy and remain intellectually honest.

Das deutsche Strafrecht zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht Volker Haas

I. Einleitung Hruschka, dessen ehrendem Angedenken der nachfolgende Beitrag gewidmet ist, kann man ohne Zweifel geradezu als leidenschaftlichen Anhänger natur- bzw. vernunftrechtlichen Denkens bezeichnen, wenngleich Hruschka den Begriff des vorpositiven Rechts favorisiert hat, um sachliche Zugeständnisse an den von ihm vehement abgelehnten Rechtspositivismus zu vermeiden.1 Hruschka hat seinerzeit die These aufgestellt, dass der Rechtsbegriff ein materiales Element enthält. Es ist dieses materiale Element, das uns in die Lage versetzen soll, Mord, Raub, Vertreibung, Sklaverei etc. als Unrecht zu bezeichnen, ohne dass es eines Rückgriffs auf eine Kodifikation wie das Strafgesetzbuch bedarf. Die Beschreibung eines Normensystems, einer Norm oder einer Handlung als Recht oder Unrecht ist Hruschka zufolge keine intellektuelle Spielerei. Durch dieses Vokabular werden wir vielmehr seinem Verständnis nach in die Lage versetzt, Gesetzgebungsakte, Urteile und sonstige Handlungen zu beurteilen und unser Verhalten danach auszurichten. Allerdings soll der faktische Sprachgebrauch der natürlichen Sprachen uns keine Kriterien an die Hand geben zu beurteilen, was Recht und Unrecht ist. Jedoch soll er die Möglichkeit eröffnen, die Frage nach der Beurteilung von Handlungen überhaupt zu stellen – eine Frage, die deswegen unumgänglich sein soll, weil sich der Mensch dem Handeln nicht entziehen kann.2 Es bedarf daher Hruschka zufolge vielmehr einer Letztbegründung oberster Prinzipien des Rechts. Hruschka meint, dass die Vernunftrechtslehre insbesondere des ausgehenden 17. Jahrhunderts und des 18. Jahrhunderts naturrechtliche Prinzipien erkannt hat, die auch heute anknüpfungsfähig sind: das auf Wernher zurückgehende Prinzip der Verallgemeinerung, die von Thomasius aufgegriffene goldene Regel, und der von Kant ins Zentrum gerückte kategorische Imperativ. Diese Prinzipien fußen nach Ansicht von Hruschka jeweils auf derselben erkenntnistheoretischen Idee. Kriterium der Rechtlichkeit einer Maxime soll demnach sein, ob ihre Befolgung einen Selbstwiderspruch des Handelnden impliziert. Mörder, Räuber, Vertreiber 1  Hruschka Vorpositives Recht als Gegenstand und Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 1992, S. 429, 430. 2  Ebd., S. 429, 431 f.

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und Sklavenhalter handeln selbstwidersprüchlich. Es ist also letztlich ein logisches Kriterium, dem Hurschka ausschlaggebende Bedeutung beimisst. Die Verletzung derartiger grundlegender naturrechtlicher Prinzipien kann nun nach Auffassung von Hruschka dazu führen, dass bestimmte institutionelle Akte wie richterliche Urteile, die dem vorpositiven Recht widersprechen, Unrecht sein können, selbst wenn sie den positiv gesetzten Normen entsprechen. So wendet Hruschka gegen die von Hoerster verteidigte Neutralitätsthese des Rechtspositivismus ein, dass bei ihrer Anerkennung von einem Richter, der die Rassegesetze angewendet habe, nicht gesagt werden könne, rechtswidrig gehandelt zu haben.3 Hruschka behauptet also, dass das vorpositive Recht Einfluss auf die Wertungen und auf die Ausgestaltung des positiven Rechts nimmt. Allerdings bleibt offen, ob die Rechtswidrigkeit einer Norm oder eines Rechtsakts aufgrund der Vorgaben des vorpositiven Rechts die Ungültigkeit der Norm oder des Rechtsakts zur Folge hat oder nicht. Der nachfolgende Beitrag beansprucht nicht, die „ewige“ Frage nach der Richtigkeit eines naturrechtlichen oder eines rechtspositivistischen Standpunkts letztgültig zu beantworten, sondern es soll vielmehr anhand vier verschiedener strafrechtlicher Kontexte untersucht werden, auf welchem Standpunkt Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft bezüglich unseres heutigen geltenden Strafrechts stehen. Es wird sich erweisen, dass je nach Kontext mehrheitlich Standpunkte vertreten werden, die man entweder als rechtspositivistisch oder als naturrechtlich einordnen kann. Zunächst sollen die strafrechtlichen Kontexte dargestellt und erörtert werden, in denen rechtspositivistische Standpunkte zur Beantwortung der sich stellenden Rechtsfrage herangezogen werden. Dabei wird der Beitrag relativ kurz auf dem Rechtsgutsbegriff verweilen, um sich dann etwas länger dem Verbotsirrtum in der Variante des Gültigkeitsirrtums zu widmen. Anschließend wendet sich der Beitrag Kontexten zu, in denen naturrechtliche Lösungen vertreten werden. Hier wird die Rechtsbeugung im Vordergrund stehen, abschließend werden noch die Mauerschützenfälle thematisiert. II. Die vier einschlägigen strafrechtlichen Kontexte 1. Strafrechtliche Kontexte mit rechtspositivistischen Lösungsansätzen a) Der Rechtsgutsbegriff und seine normative Verankerung In der äußerst kontrovers diskutierten Inzest-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich ausgeführt, dass eine „naturalistische“ Rechtsgutstheorie, die einen überpositiven Rechtsgutsbegriff zugrunde lege, in Widerspruch 3  Hruschka, Recht und Unrecht bei Norbert Hoerster. Eine Stellungnahme zu dem vorstehenden Beitrag, ARSP 79 (1993), S. 421, 423.

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dazu gerate, dass es nach der grundgesetzlichen Ordnung Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers sei, ebenso wie die Strafzwecke auch die mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Güter festzulegen und die Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Diese Befugnis könne nicht unter Berufung auf angeblich vorfindbare oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers „anerkannte“ Rechtsgüter eingeengt werden. Sie finde ihre Grenze vielmehr nur in der Verfassung selbst, wenn und insoweit diese die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließe. Das Konzept des Rechtsgüterschutzes stelle zudem keine inhaltlichen Maßstäbe bereit, die zwangsläufig in das Verfassungsrecht zu übernehmen wären, dessen Aufgabe es sei, äußerste Grenzen seiner Regelungsgewalt zu setzen.4 Hier ist nicht der zweite Kritikpunkt, der die Leistungsfähigkeit des Rechtsgüterschutzprinzips in Zweifel zieht, von Interesse, sondern ausschließlich der erste Kritikpunkt. Das Bundesverfassungsgericht wendet sich nicht gegen Begrenzungen der Regelungsbefugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers als solche, sondern nur gegen ihre Herleitung aus einem überpositiven Rechtsgutsbegriff, der nicht in der Verfassung verankert ist. Man könnte daher die Position des Bundesverfassungsgerichts als verfassungspositivistisch qualifizieren. Offen bleibt bei der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts allerdings, warum sich angesichts der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers die Beschneidung seiner Regelungsgewalt nur aus der Verfassung ergeben können soll und nicht aus überpositiven Quellen. Der Umstand, dass in unserem demokratischen Verfassungsstaat der Gesetzgeber eine derartige Legitimation für sich zu Recht in Anspruch nimmt, hat möglicherweise einen Einfluss darauf, inwieweit seine Normierungsbefugnisse beschränkt werden dürfen, nicht aber ohne Weiteres darauf, worauf sich diese Beschränkungen stützen können. Auch Engländer hat sich jüngst gegen vorpositive Begründungsmodelle des Rechtsgutsschutzdogmas gewandt, die sich seiner Interpretation zufolge auf die vernunftrechtlichen Deduktionen der Aufklärungsphilosophie berufen.5 Eine derartige Sichtweise soll, soweit sie einen den Gesetz- und Verfassungsgeber vorpositiv bindenden rechtlichen Maßstab formuliert, durchschlagenden ontologischen und erkenntnistheoretischen Einwänden ausgesetzt sein.6 Die Kritik von Engländer bezieht sich insbesondere auf die Idee, zur Begründung des Rechtsgutsbegriffs – wie dies Schünemann vorgeschlagen hat7 – auf die Lehre vom Gesellschaftsvertrag   BVerfG, NJW 2008, S. 1137, 1138.   Kahlo, Über den Zusammenhang von Rechtsgutsbegriff und objektiver Zurechnung im Strafrecht, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden, Nomos, 2003, S. 26, 29; Paeffgen, in: Zöller / Hilger / Küper / Roxin (Hrsg.), Die gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension. Festschrift für Jürgen Wolter zum siebzigsten Geburtstag am 7. September 2013, Berlin, Duncker und Humblot, 2013, S. 125, 131 ff. 6  Engländer, Revitalisierung der materiellen Rechtsgutslehre durch das Verfassungsrecht?, in: ZStW 127 (2015), S. 616, 623. 7  Schünemann, Das Rechtsgüterschutzprinzip als Fluchtpunkt der verfassungsrechtlichen Grenzen der Straftatbestände und ihrer Interpretation, in: Hefendehl / von Hirsch / Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden, Nomos, 2003, S. 137 ff. 4 5

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zurückzugreifen. Die gegenwärtige Diskussion, welche Bedeutung diese philosophische Konzeption des Gesellschaftsvertrags für unsere heutige Rechtsordnung hat, kann und muss an dieser Stelle nicht fortgeführt werden. Von Interesse ist nur der vorpositive Status dieser Lehre, der Stein des Anstoßes ist. Allerdings hat Schünemann die Ansicht vertreten, dass die Verfassung den materiellen Rechtsgutsbegriff als ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz inkorporiert hat. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag dient nur als Konstrukt, in dessen Lichte die Verfassung ausgelegt wird. Und auch Kahlo verweist nur auf vorverfassungsrechtliche Gründe der Verfassung. Ein „naturrechtlicher Durchgriff“ lässt sich seinen Ausführungen nicht entnehmen. b) Der Verbotsirrtum nach § 17 StGB in seiner Ausprägung als Gültigkeitsirrtum Der zweite Kontext betrifft ein Problem, das gerade in Zeiten des islamistischen Terrorismus von großer Aktualität ist. Es betrifft den Überzeugungstäter, der sich aufgrund religiöser Normen legitimiert bzw. berechtigt wähnt, Straftaten zu begehen – beispielsweise in Form eines Anschlags.8 So ist der Fall gut vorstellbar, dass ein islamistischer Terrorist möglichweise infolge von Indoktrinierung in fanatischer Weise dem Glauben anhängt, durch die Verübung eines Anschlags dem göttlichen Gebot des Dschihad zu folgen, das seiner Ansicht nach Vorrang gegenüber den rechtlichen Normen wie dem Tötungsverbot hat. Der Attentäter könnte also eventuell geltend machen, sich in einem Gültigkeitsirrtum zu befinden, der als Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB einzuordnen wäre. Die Strafrechtspraxis wäre – würde sie dieser Einordnung folgen – mit der intrikaten Rechtsfrage konfrontiert, unter welchen Voraussetzungen ein derartiger Gültigkeitsirrtum vermeidbar ist. Die Beantwortung dürfte nicht leicht fallen, wenn man berücksichtigt, wie stark ideologische Indoktrinierungen das Denken und Handeln beeinflussen und in welch starker Form sie die betreffende Person gegen den Apell der Vernunft imprägnieren können. Nach dem zweiten Weltkrieg hat zunächst Welzel als Unterfall eines Gültigkeitsirrtums den Fall eines Irrtums über die überpositive Ungültigkeit der Norm anerkannt. Ein solcher Irrtum setzt seines Erachtens die mit dem Rechtspositivismus unvereinbare Prämisse voraus, dass eine staatliche Norm aus überpositiven Gründen überhaupt ungültig sein kann. Allerdings sei – so meint Welzel – dieser Gedanke aufgrund der Erfahrungen des dritten Reichs geläufig geworden. Für die Richtigkeit dieser Auffassung führt Welzel ins Feld, dass das Recht nicht als Zwang, sondern nur als Wert verpflichte. Der Zwang zwinge nur, verpflichte aber nicht. Verpflichten könne immer nur ein Wert, und dieser verpflichte die Adressaten sittlich. Auch Rechtspflichten gebe es nur als sittliche Pflichten. Die Verpflich8 Vgl. Vogel, in: Laufhütte / Rissing-van Saan / Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 1, Berlin New York, De Gruyter, 2. Auflage, 2007, § 17 Rn. 97.

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tungskraft einer Normenordnung finde daher dort ihre Grenze, wo sie befehle, ein Gut anzutasten, das sittlich unter keinen Umständen verletzt werden dürfe. Welzel bezieht sich dabei in Anschluss an Kant auf den Fall, dass ein Mensch durch einen staatlichen Befehl zur bloßen Sache degradiert und damit in seinem Eigenwert negiert wird. Ein derartiger Befehl könne vielleicht zwingen, nicht aber verpflichten. Er sei nur noch Gewalt, aber kein verpflichtendes, geltendes Recht mehr. Welzel resümiert, dass eine staatliche Norm nur in sehr engen Grenzen aus überpositiven Gründen unverbindlich sei. In rechtsstaatlichen Verfassungen wie dem Grundgesetz sei die betreffende staatliche Norm allerdings bereits wegen Verfassungswidrigkeit (Art. 1 Abs. 1 GG) ungültig. Zu solchen Gründen gehöre jedoch nicht die Ablehnung des Staates aus weltanschaulichen Gründen. Welzel folgert daraus, dass sich hierüber kein Täter im Irrtum befinde.9 In ganz ähnlicher Weise meint Peters gut zehn Jahre später, dass ein Verbotsirrtum naheliege, wenn der Täter sich einer naturrechtlichen oder sittlichen Norm gegenüber sehe, die er für höherrangig halte. Nach seiner Einschätzung ist es durchaus möglich zu glauben, dass staatliche Pflichten gegenüber derartigen überpositiven Normen zurücktreten und daher unverbindlich seien.10 Ebenso hat Armin Kaufmann – in der Sache die Rechtsansicht Welzels aufgreifend – behauptet, dass derjenige, der überzeugt davon sei, dass eine positivierte Rechtsregel ihn nicht binde, gerade dasjenige verkenne, was einen Satz erst zum Rechtssatz mache: seine verpflichtende Kraft.11 Die heute ganz herrschende Meinung ist jedoch der Auffassung, dass ein Täter – also auch ein Terrorist –, der das von ihm übertretene rechtliche Verbot kennt, dieses aber aufgrund außerrechtlicher Gründe für unrichtig hält bzw. meint, die Tat sei moralisch oder religiös gestattet oder sogar geboten, mit Unrechtsbewusstsein handele. Ein Verbotsirrtum soll nur dann vorliegen können, wenn der Täter die übertretene Norm wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig hält.12 9  Welzel, Arten des Verbotsirrtums, JZ 1953, S. 266, 267 f.; vgl. auch ders., Anmerkung zum Beschluss des Großen Senats in Strafsachen vom 18. 03.1952 – GSSt 2/51, JZ 1952, S. 340, 341. 10  Peters, Bemerkungen zur Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, JZ 1966, S. 457, 459; ders., Überzeugungstäter und Gewissenstäter, in: Geerds / Naucke (Hrsg.), Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Mayer zum siebzigsten Geburtstag am 1. Mai 1965, Berlin, Duncker und Humblot, 1966, S. 257, 279 Fn. 71. 11  Armin Kaufmann, Die Dogmatik im Alternativ-Entwurf, ZStW 80 (1968), S. 34, 40. 12  Heuchemer, in: BeckOK, § 17 Rn. 16; Lackner / Kühl, Strafgesetzbuch, München, Beck, 29. Auflage, 2018, § 17 Rn. 2; Stein, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Köln, Carl Heymanns Verlag, 9. Auflage, 2017, Bd. 1, § 17 Rn. 6; Sternberg-Lie­ ben / Schuster, in: Eser et alt. (Hrsg.), Schönke / Schröder, München, Beck, 30. Auflage, 2019, § 17 Rn. 7; Krey / Esser, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, Stuttgart, Kohlhammer 6. Auflage, 2016, § 21 Rn. 722; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, München, Vahlen, 8. Auflage, 2017, § 13 Rn. 58 f., Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, München, Beck, 4. Auflage, 2006, § 21 Rn. 25; Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, Göttingen, Verlag Otto Schwartz und Co, 1969, S. 35 ff., 186 ff.; Zöller, Terrorismusstrafrecht, Heidelberg, Müller, 2009, S. 251; im Grundsatz auch Neumann, in: Kindhäu-

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Der Überzeugungstäter kenne die Verbotsnorm und die entsprechende Rechtswidrigkeit, folge aber der Verbotsnorm willentlich nicht, weil er sie nicht respektiere. Er sei davon überzeugt, dass er die Verbotsnorm verletzen dürfe.13 Speziell bezüglich Terroristen meint Zöller ganz entsprechend, dass diese regelmäßig gerade nicht davon ausgehen würden, dass die Durchführung von Gewalttaten nach der betreffenden Rechtsordnung erlaubt sei. Terroristen würden bewusst die Verbotsnormen zur Förderung ihrer politischen und religiösen Ziele missachten. Ihnen sei die Verwirklichung von Unrecht nach den Maßstäben der von ihnen bekämpften Rechtsordnung letztlich gleichgültig.14 Als Gewährsmann der heute ganz herrschenden Meinung wird häufig Rudolphi zitiert. Rudolphi setzt sich unter anderem mit Fällen auseinander, in denen der Täter die von ihm verletzte Norm aus Gründen für unverbindlich hält, die außerhalb unserer staatlichen Rechtsordnung liegen. Unter anderem hat er diejenigen Fälle vor Augen, dass der Täter eine bestimmte staatliche Rechtsnorm aus politischen oder weltanschaulichen Gründen für unverbindlich hält oder diese an Maßstäben seiner Religion misst. Der Täter halte daher – so die Argumentation von Rudolphi – die von ihm übertretene Rechtsnorm nicht infolge einer unrichtigen Anwendung der staatlichen Rechtsordnung für ungültig. Der Täter glaube nicht an das Vorliegen eines rechtlich anerkannten Nichtigkeitsgrundes. Er wisse damit sowohl um die positive Existenz der fraglichen Rechtsnorm, als auch um das Fehlen von Gründen, die nach der staatlichen Rechtsordnung geeignet seien, ihre rechtliche Verbindlichkeit zu beseitigen. Kenne der Täter damit aber alle Voraussetzungen, deren eine staatliche Rechtsnorm bedarf, um rechtlich verbindlich zu sein, so sei ein Verbotsirrtum von vornherein ausgeschlossen.15 Dem Täter, der eine ihm bekannte Rechtsnorm wegen Verstoßes gegen außerrechtliche Wertvorstellungen für unverbindlich halte, sei also der rechtliche Geltungsanspruch bewusst. Er wisse, dass die Rechtsnorm ihn rechtlich verpflichte. Die Besonderheit liege hier allein darin, dass diesem rechtlichen Geltungsanspruch der außerrechtliche Geltungsanspruch einer sittlichen oder religiösen Norm gegenübertrete. Damit jedoch handele es sich nicht um einen Irrtumsfall, sondern es gehe um die Entscheidung einer Kollision zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Sollensforderungen. Entscheide man diesen Konflikt zugunsten des Rechts, sei es nicht möglich, dieses Ergebnis durch die Annahme eines Verbotsirrtums in sein Gegenteil zu verkehren. Letztlich werde damit das Gesetz unter einen allgemeinen Gewissensvorbehalt gestellt,16 den Rudolphi allerdings ablehnt.17 ser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, Baden-Baden, Nomos, 5. Auflage, 2017, § 17 Rn. 40 und Vogel (Fn. 8), § 17 Rn. 95. 13  Luzón Peña, Handeln aus Gewissensgründen als Entschuldigungsgrund im Vergleich zur Strafbarkeit der Überzeugungstat, in: Zöller / Hilger / Küper / Roxin (Hrsg.), Die gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension. Festschrift für Jürgen Wolter zum siebzigsten Geburtstag am 7. September 2013, Berlin, Duncker und Humblot, 2013, S. 432, 436. 14  Zöller (Fn. 12), S. 251. 15  Rudolphi (Fn. 12), S. 186 f.

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Rudolphi verweist auf die Ansicht des Bundesgerichtshofs,18 dass der Täter naturgemäß nicht solche Wertvorstellungen von Recht und Unrecht zugrunde legen dürfe, die einem fremden Kulturkreis angehörten, sondern nur diejenigen, die die Rechtsgemeinschaft anerkenne, in der er lebe.19 Der genaue dogmatische Bezugspunkt dieser Bemerkungen ist allerdings alles andere als klar. Offen bleibt, ob diese Ausführungen des Bundesgerichtshofs den Verbotsirrtum oder seine Vermeidbarkeit betreffen. Kriminalpolitischer Hintergrund der Erwägungen des Bundesgerichtshofs ist es ausdrücklich, die Gefahr zu bannen, dass bei der Prüfung der Vorstellungen des Täters politische Überzeugungen Beachtung finden, die zu den sittlichen und rechtlichen Grundanschauungen des westeuropäischen Kulturkreises in Widerspruch stehen.20 Eine bessere Referenz für seinen dogmatischen Standpunkt hätte Rudolphi gewonnen, wenn er eine andere Passage der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zitiert hätte. Denn der Bundesgerichtshof führt in seiner Entscheidung ferner aus, dass in Fällen, in denen der Täter glaubt, sich einer Norm aus politischen Gründen nicht unterwerfen zu müssen, zwei Möglichkeiten in Betracht kommen. Erstens: Der Täter wisse, dass das, was er tue, nach dem Recht der Gemeinschaft, in der er sich befinde, verboten sei. In diesem Fall kenne er das Verbotensein seines Handelns. Ein Verbotsirrtum scheide aus. Es sei rechtlich bedeutungslos, dass der Täter die Rechtsordnung der Gemeinschaft, der er angehöre, aus politischen oder weltanschaulichen Gründen ablehne und deshalb die Verbindlichkeit ihrer Normen bestreite. Und zweitens: Der Täter kenne die Verbotsnorm, nehme jedoch an, dass sie einer höheren Norm widerspreche und deshalb unwirksam sei. In diesem Falle liege ein echter Verbostirrtum vor.21 Der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs hat sich das Oberlandesgericht Hamm angeschlossen. Es stellt fest, dass ein Überzeugungsstäter wisse, dass das, was er tue, nach dem geltenden Recht verboten sei. Unerheblich ist nach Ansicht des Oberlandesgerichts der Umstand, dass der Täter sein Tun aufgrund seiner persönlichen sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung für richtig hält. Anders sei hingegen der Fall zu beurteilen, dass der Täter glaube, die Rechtsordnung mute ihm aufgrund seiner Gewissensfreiheit nicht zu, gegen sein Gewissen zu handeln. Unter diesen Voraussetzungen bejaht das Oberlandesgericht das Vorliegen eines Verbotsirrtums.22 Genau dies entspricht auch der Analyse von Rudolphi, der zugleich den weiteren Fall berücksichtigt, dass der Täter meint, die staatliche Rechtsordnung er16  Ebd., S. 188 ff.; vgl. aber die späteren Ausführungen von Rudolphi, Die Bedeutung des Gewissensentscheides für das Strafrecht, in: Stratenwerth et alt. (Hrsg.), Festschrift für Hans Welzel zum siebzigsten Geburtstag am 25. März 1974, Berlin New York, De Gruyter, 1974, S. 605, 632. 17  Rudolphi (Fn. 12), S. 35 ff. 18  BGHSt 4, 1, 5. 19  Rudolphi (Fn. 12), S. 187. 20  BGHSt 4, 1, 5 f. 21  BGHSt 4, 1, 2. 22  OLG Hamm, NJW 1968, S. 212 ff.

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kenne die sich seinem Gewissen offenbarenden sittlichen oder religiösen Normen an und die von ihm übertretene Norm sei daher schon bereits wegen Verstoßes gegen höherrangige Rechtsgrundsätze nichtig. Er resümiert, dass ein Verbotsirrtum überall dort zu bejahen sei, wo der Täter eine Rechtsnorm aus rechtlich anerkannten Gründen für ungültig halte.23 Allerdings anerkennt Rudolphi einen Gültigkeitsirrtum auch dann, wenn der Täter das positive staatliche Gebot oder Verbot wegen Verstoßes gegen einen überpositiven Rechtsgrundsatz für ungültig hält. Nur scheinbar ist also Rudolphi ein Gewährsmann der heute herrschenden Meinung. Es müsse sich bei dem überpositiven Grundsatz tatsächlich um einen allgemein-verbindlichen Rechtssatz, das heißt um eine Norm handeln, die zu jenem Kernbereich überpositiven Rechts gehöre, der auch von dem staatlichen Gesetzgeber schlechthin zu beachten und damit auch überhaupt erst in der Lage sei, staatliche Gesetze als „gesetzliches Unrecht“ außer Kraft zu setzen: In Betracht kämen hier ausschließlich fundamentalste Rechtsgebote und -verbote, deren Zweck es sei, den Menschen vor unerträglichen Eingriffen in die Privatautonomie zu schützen. Aufgrund der Positivierung derartiger Irrtümer durch die Verfassung seien allerdings derartige Irrtümer kaum noch denkbar.24 Diese Position ist allerdings wenig schlüssig. Es kann nicht darauf ankommen, dass es sich bei der überpositiven Norm objektiv um einen allgemein-verbindlichen Rechtssatz handelt, weil unter diesen Voraussetzungen schon das Unrecht der Tat entfallen würde. Entscheidend müsste vielmehr sein, ob der Täter selbst der überpositiven Norm den Status eines derartigen Rechtssatzes zuweist. Damit stellt sich jedoch die Frage, unter welchen Voraussetzungen man einer überpositiven Norm einen derartigen rechtlichen Status zuweist und nicht bloß einen moralischen Status. Darauf geben die Ausführungen von Rudolphi keine Antwort. Vereinzelt wird die herrschende Lehre auch heute in Frage gestellt: So meint zwar Figueiredo Dias, dass man bei einer Gewissenstat nicht ohne Weiteres von einem Gültigkeitsirrtum ausgehen könne. Bei einem Gültigkeitsirrtum handele der Täter in der Überzeugung, dass sein Verhalten aufgrund der Ungültigkeit der Verhaltensnorm rechtmäßig sei, während sich der Gewissenstäter durchaus der Gültigkeit der Norm bewusst sei, wenn er auch ihre Verbindlichkeit nicht anerkenne. Dennoch soll der Täter in beiden Fällen die Gültigkeit als Norm leugnen – ungeachtet des strukturellen Unterschieds, dass dies das eine Mal aus rechtlichen Gründen, das andere Mal aus Gewissensgründen geschehe. Beide Fälle würden einen analogen Sinn aufweisen.25 Diese Ausführungen scheinen auf den ersten Blick nicht konsistent zu sein. Auch Joecks vertritt bei fanatisierten Tätern einen abweichenden rechtlichen Standpunkt: Demjenigen, der verblendet erzogen wurde und deshalb kein anderes Recht als das von Fanatikern interpretierte göttliche   Rudolphi (Fn. 12), S. 189 ff.   Ebd. S. 185 f. 25  Figueiredo Dias, Gewissenstat, Gewissensfreiheit und Schuldausschluss, in: Schünemann et alt. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum siebzigsten Geburtstag am 15. Mai 2001, Berlin New York, De Gruyter, 2001, S. 531, 545. 23 24

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Recht anerkennen will, soll die Unrechtseinsicht fehlen. Nicht zu verwechseln sei die Frage nach der Unrechtsunkenntnis mit der Frage nach ihrer Vermeidbarkeit. Die Lösung der einschlägigen Fälle habe über die Vermeidbarkeit bzw. Unvermeidbarkeit des Irrtums zu erfolgen.26 Dieser Lehre hat Neumann dezidiert widersprochen: Wisse der fanatisierte Täter, dass die praktizierte Rechtsordnung, in deren Geltungsbereich er handele, einem säkularen Rechtsbegriff verpflichtet sei, vermöge seine mangelnde Anerkennung dieses Rechtsbegriffs einen Verbotsirrtum nicht zu begründen.27 Allerdings weicht auch Neumann möglicherweise von der herrschenden Meinung ab, weil seiner Ansicht nach ein Gültigkeitsirrtum, bei dem der Täter die übertretene Norm wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig hält, unter Umständen auch in den Fällen gegeben sein soll, in denen der Täter glaubt, die übertretene Norm sei nach den Regeln der Rechtsordnung wegen eines Verstoßes gegen überpositives Recht unverbindlich. Einschränkend fügt Neumann jedoch hinzu, dass ein privates Naturrechtsmodell einen Verbotsirrtum nicht begründen könne.28 Dem entsprechend verneint Neumann einen Verbotsirrtum (allein) aufgrund der Ansicht des Täters, dass seine eigene Überzeugung in höherem Maße rechtsverbindlich sei als die Regelung des positiven Rechts. Der Täter irre in diesem Fall nicht über die Rechtsnormen, sondern nehme Kollisionsnorm an, die das Verhältnis rechtlicher und außerrechtlicher Normen im Sinne der Prävalenz letzterer regeln würden. Die Rechtsordnung könne aber schon aus logischen Gründen keine Aussage über derartige Meta-Normen machen.29 Zweifelhaft ist, ob es Kriterien dafür gibt, was man unter einem privaten Naturrechtsmodell zu verstehen hat. Wodurch unterscheiden sich private Naturrechtsmodelle von überpositivem Recht jenseits der Geltung? Eine vermittelnde Auffassung scheint jüngst Zabel zu vertreten, der das Vorliegen eines Verbotsirrtums bei einem Gewissens- und bei einem Überzeugungstäter davon abhängig machen möchte, welche rechtlich relevanten und insofern auch rationalisierbaren Gründe ein Täter für sein Handeln vorbringen könne.30 Warum das Vorliegen eines Verbotsirrtums von den Gründen abhängig sein soll, die der Täter für sich reklamieren kann, ist alles andere als evident. Man könnte prima facie auch der Ansicht sein, dass diese Gründe erst für die Beurteilung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums ausschlaggebend sind. Schließlich ist der denkbare Einwand zu beachten, dass nicht hinreichend zu bestimmen ist, welche Gründe diese erforderlichen Eigenschaften aufweisen. 26  Joecks, in: Joecks / Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, München, Beck, 3. Auflage, 2017, § 17 Rn. 22. 27  Neumann, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, Baden-Baden, Nomos, 5. Auflage, 2017, § 17 Rn. 40; sich anschließend Hörnle, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, München, Beck, 2014, C 70 f. 28  Ebd., § 17 Rn. 40. 29  Ebd., § 17 Rn. 40. 30  Zabel, Aktuelle Begründungs- und Anwendungsprobleme des § 17 StGB, GA 2008, S. 33, 47.

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Abschließend kann festgehalten werden: Die Frage, ob die Vorstellung des Täters, dass die Tat religiös oder weltanschaulich legitim ist, einen Gültigkeitsirrtum begründet, ist davon abhängig, was für ein Gültigkeitsbegriff vorausgesetzt wird. Handelt es sich bei dem Gültigkeitsbegriff, den eine bestimmte Rechtsordnung anwendet, um einen Begriff, der sich zur Begründung von Geltungsaussagen nur auf Normen oder Rechtsregeln stützen kann, die dieser Rechtsordnung selbst angehören, oder um einen Begriff, der sich zur Begründung von Geltungsaussagen auch auf Normen oder Rechtsregeln stützen kann, die einen von der positiven Rechtsordnung unabhängigen Status besitzen? 2. Strafrechtliche Kontexte mit naturrechtlichen Lösungsansätzen a) Der Tatbestand der Rechtsbeugung Auf naturrechtlichen Prämissen beruht hingegen die Handhabung des Tatbestandes der Rechtsbeugung gemäß § 339 StGB. Denn nach ganz herrschender Meinung kann auch das überpositive Recht gebeugt werden. Die Bindung des Richters an das staatliche Recht soll dort enden, wo das „gesetzliche Unrecht“ beginnt.31 Nur vereinzelt trifft diese Auffassung auf Widerspruch, auf den weiter unten noch eingegangen wird. Die höchstrichterliche Rechtsprechung stimmt mit dieser Lehre im Grundsatz überein. Die erste relevante Entscheidung betrifft nicht unmittelbar den Rechtsbeugungstatbestand, sondern die Beihilfe zum Mord. Einschlägig ist die Entscheidung dennoch, weil Gegenstand des Strafprozesses die Mitwirkung an einem von Hitler befohlenen Standgerichtsverfahren gewesen ist. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil die Auffassung vertreten, dass die nationalsozialistischen Machthaber zahlreiche Vorschriften erlassen und Anordnungen getroffen haben, die mit dem Anspruch aufgetreten sind, Recht zu setzen und dem Recht zu entsprechen, die aber trotzdem der Rechtsnatur ermangelten, weil sie jene rechtlichen Grundsätze verletzten, die unabhängig von jeder staatlichen Anerkennung gelten und stärker sind als ihnen entgegengesetzte obrigkeitliche Akte, die mit dem Wortlaut weitge31  Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, München Beck, 66. Auflage, 2019, § 339 Rn. 25; Hilgendorf, in: Laufhütte / Rissing-van Saan / Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 13, Berlin New York, De Gruyter, 12. Auflage, 2009, § 339 Rn. 61; Uebele, in: Joecks / Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, München, Beck, 3. Auflage, 2019, § 339 Rn. 25; Sinner, in: Matt / Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, München, Vahlen, 2013, § 339 Rn. 14; Heine / Hecker, in: Eser et. alt. (Hrsg.), Schönke / Schröder, München, Beck, 30. Auflage, 2019, § 339, Rn. 8; Schreiber, Probleme der Rechtsbeugung, GA 1972, S. 193, 200 ff.; Behrendt, Die Rechtsbeugung, JuS 1989, S. 945, 950; Bemmann, Zu aktuellen Problemen der Rechtsbeugung, JZ 1995, S. 123 ff.; ders., Der Richter und das übergesetzliche Recht, in: Seebode (Hrsg.), Festschrift für Günter Spendel zum siebzigsten Geburtstag am 11. Juli 1992, Berlin New York, De Gruyter, 1992, S. 469 ff.; einschränkend C. Freund, Rechtsbeugung durch Verletzung übergesetzlichen Rechts, Berlin, Duncker & Humblot, 2006, S. 240 ff.

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fasster gesetzlicher Vorschriften noch vereinbar zu sein scheinen. Obrigkeitliche Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gerechtigkeit bewusst verleugnen und allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen von Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gröblich missachten, würden kein Recht schaffen. Ein ihnen entsprechendes Verhalten bleibe Unrecht.32 In einer weiteren Entscheidung aus den fünfziger Jahren findet sich der Passus, dass der Missbrauch des § 91b StGB – es handelte sich um den Tatbestand der Feindbegünstigung – durch den Volksgerichtshof mit Rechtsprechung nichts zu tun gehabt habe. Er sei nur eine Ausnutzung gerichtlicher Formen zur widerrechtlichen Tötung. Eine derartige „Rechtsanwendung“ diene nur noch der Vernichtung des politischen Gegners und verletze den unantastbaren Kernbereich.33 Konkrete rechtliche Schlussfolgerungen schließen sich dem Passus nicht an. In einer Entscheidung, die einen Fall der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit betraf, hat der Bundesgerichtshof offengelassen, ob unter Beugung des Rechts im Sinne des § 339 StGB auch die Anwendung „unsittlichen“ Gesetzesrechts zu verstehen ist, wobei als Gewährsmann für diese Ansicht Radbruch herangezogen wird.34 Interessanterweise hat der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung die Ansicht vertreten, dass Tätern, die bewusst die Formen des Gerichtsverfahrens nutzen, um Zwecke zu erreichen, die mit Recht und Gerechtigkeit nichts zu tun haben, nicht vorgeworfen wird, ungültiges Recht anzuwenden, sondern rechtsmissbräuchlich gültige verfahrens- oder materiell-rechtliche Gesetze zu rechtsfremden Zwecken anzuwenden. Gegenstand des Tatvorwurfs war die Verhängung von Strafen, die unter Berücksichtigung aller von der Rechtsordnung zu billigenden Gesichtspunkte in einem unerträglichen Missverhältnis zur Tat und Schuld der Angeklagten standen. Dabei ist der Bundesgerichtshof davon ausgegangen, dass das Verbot grausamer und übermäßig hoher Strafen seit jeher ungeschriebener Grundsatz des deutschen Strafrechts gewesen sei.35 Das Problem der Berücksichtigung überpositiven Rechts hat sich also nach Auffassung des Bundesgerichtshofs nicht gestellt. In einer weiteren Entscheidung, die einen Justizmord betraf, hat der Bundesgerichtshof zwar die Judengesetzgebung als gesetzliches Unrecht bezeichnet, aber sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob schon allein die Anwendung des Blutschutzgesetzes die objektiven Voraussetzungen einer Rechtsbeugung erfüllt.36 Anzumerken bleibt, dass die Ausführungen des Bundesgerichtshofs jeweils eine unverkennbare Affinität zur Verleugnungsformel von Radbruch aufweisen, da   BGHSt 2, 173, 177.   BGHSt 9, 297, 307. 34  BGHSt 10, 294, 300 f. unter Zitierung von Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, S. 105 ff. 35  BGHSt 10, 294, 300 f. 36  BGH, NJW 1971, S. 571, 572; kritisch Spendel, Justizmord durch Rechtsbeugung, NJW 1971, 538 ff.; ebenso Hilgendorf, in: Laufhütte / Rissing-van Saan / Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 1, Berlin New York, De Gruyter, 12. Auflage, 2009, § 339 Rn. 58. 32 33

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in derartigen Fällen Gerechtigkeit von den Tätern noch nicht einmal angestrebt wird.37 In Fällen, die die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit der ehemaligen DDR betrafen, hat der Bundesgerichtshof – in Anwendung des Rechtsbeugungstatbestandes der ehemaligen DDR (§ 244 StGB-DDR)38 – teilweise auf den Vorrang überpositiven Rechts, dessen Verletzung eine Rechtsbeugung zur Folge haben kann, hingewiesen39 und sich auf die Unverträglichkeitsformel von Radbruch berufen.40 Ihr zufolge ist der Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zugunsten Letzterer aufzulösen, wenn der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat.41 Unwirksam sollen daher auch nach Ansicht der Rechtsprechung gesetzliche Bestimmungen sein, die den Kernbereich des Rechts betreffen, der bestimmte als unantastbar anzusehende Grundsätze menschlichen Verhaltens umfasst, die sich bei allen Kulturvölkern im Laufe der Zeit herausgebildet haben,42 und die in schlechthin unerträglicher Weise gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen Menschenrechte verstoßen und damit gegen den Kernbereich des Rechts.43 Entsprechend hat der Bundesgerichtshof die Annahme einer Rechtsbeugung auf justizielle Akte beschränkt, durch die seiner Würdigung zufolge offensichtlich Unrecht begangen wurde,44 und die die Menschenrechte in schwerwiegender Weise verletzt haben.45 Es darf freilich nicht unerwähnt bleiben, dass der Bundesgerichtshof in den zitierten Judikaten ungeachtet der Anerkennung überpositiven Rechts die Entscheidung auf eine menschenrechtsfreundliche Auslegung des Rechts der ehemaligen DDR gestützt hat. Dieses nicht unproblematische Vorgehen bedarf aber für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung keiner weiteren Auseinandersetzung. Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Ergebnis gebilligt, dabei aber – wie schon in den Mauerschützenfällen46 – bei der Reichweite des Schutzes vor rückwirkenden Strafgesetzen bei Art. 103 Abs. 2 GG angesetzt.47 Die heute wohl ganz herrschende Auffassung trifft jedoch teilweise auf Widerspruch. Obwohl für die herrschende Meinung respektable Gründe sprechen sollen, wird die Kritik geäußert, dass die Implementierung überpositiver Rechtsnormen   Radbruch (Fn. 34), S. 105 ff.   BGHSt 40, 30 ff.; 40, 169 ff.; 40, 272, 276 ff.; 41, 157 ff.; 41, 247, 257 ff. 39  BGHSt 40, 272, 277. 40  BGHSt 41, 157, 164, 174; 41, 247, 255, 259. 41  Radbruch (Fn. 34), S. 105, 107. 42  BGHSt 40, 272, 276. 43  BGHSt 41, 247, 257. 44  BGHSt 30, 41 ff.; 40, 169, 179; 272, 277; 41, 157, 163 ff. 45  Vgl. BGHSt 40, 30, 41 ff.; 40, 169, 179; 272, 277; 41, 157, 163 ff. 46  BVerfGE 95, 96, 133. 47  BVerfG, NJW 1998, S. 2585 ff.; NStZ 1998, S. 455 ff. 37 38

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in die fremde Rechtsordnung sich von deren Realität entferne. Die Begründung einer strafbaren Rechtsbeugung mit dem Bruch solcher Normen verstoße gegen Art. 103 Abs. 2 GG.48 Des Weiteren wird vorgebracht, dass die Annahme einer Verpflichtung zur Anwendung überpositiven Rechts eine pauschale Vorrangregel etabliere, die dem Rechtsanwender eine alles andere als plausible uneingeschränkte Prüfungs- und Verwerfungskompetenz bezüglich nationaler Normen zugestehen würde. Schließlich wird zu bedenken gegeben, dass die vor einem Systemwechsel geschehene Verletzung jeglicher Art von Normen die Institution Rechtspflege der Bundesrepublik nicht zu diskreditieren vermöge. Allerdings betrifft dieser Einwand nicht das hier zur Diskussion stehende rechtsphilosophische Problem.49 b) Die Mauerschützenfälle Der letzte Kontext betrifft ebenfalls die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Bekanntlich hat die höchstrichterliche Rechtsprechung eine Rechtfertigung vorsätzlicher Tötungen von „Grenzbrechern“ verneint. Der Bundesgerichtshof hat im Rahmen der Mauerschützenfälle betont, dass ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtlich bleiben könne, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck komme. Der Verstoß müsse so schwer wiegen, dass er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze.50 Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit – so heißt es wiederum unter Berufung auf Radbruch – müsse so unerträglich sein, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe.51 Schon im vorangehenden Abschnitt wurde erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung gehalten hat. III. Auswertung und Würdigung Vergegenwärtigt man sich noch einmal überblickweise den dargelegten Meinungsstand, so kann man die aufschlussreiche Diagnose stellen, dass von der herrschenden Meinung im Hinblick auf die eigene Rechtsordnung rechtspositivistische Standpunkte vertreten werden, im Hinblick auf fremde Rechtsordnungen jedoch naturrechtliche Standpunkte. Der rechts- bzw. kriminalpolitische Impetus dieser widersprüchlichen Haltung ist offensichtlich. Was die eigene Rechtsordnung anbe48  Kuhlen, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 5, Baden-Baden, Nomos, 5. Auflage, 2017, § 339 Rn. 40. 49  Ebd., § 339 Rn. 40; Stein / Deiters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6, Köln, Carl Heymanns Verlag, 9. Auflage, 2016, § 339 Rn. 37 f. 50  BGHSt 39, 1, 15 f., mit Verweis auf BGHSt 2, 234, 239. 51  BGHSt 39, 1, 15 ff.; 39, 168, 183 ff.; 40, 218, 232; 40, 241, 244 ff.; 41, 101, 105 ff.; BGH, NStZ 1993, S. 488.

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trifft, so will man diese gegenüber externen Einflüssen immunisieren, weil es natürlich nur um Rechtsnormen gehen kann, die von den Rechtsnormen der eigenen positivierten Rechtsordnung abweichen. Andernfalls bedürfte es nicht des Rückgriffs auf nichtpositives Recht. Dabei betreffen die befürchteten Einflussnahmen nicht nur die Rechtsgeltung, sondern auch die Effektivität der Strafrechtspflege. So werden – schneidet man mit Hilfe eines rechtspositivistischen Gültigkeitsbegriffs eine etwaige Berufung auf einen Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB ab – Effektivitätsverluste vermieden. Was die fremden Rechtsordnungen anbetrifft, so will man diese in umgekehrter Weise derartigen externen Einflüssen, die den Vorgaben der eigenen Rechtsordnung entsprechen, gerade zugänglich machen. Sofern Strafrechtsnormen betroffen sind, soll die Effektivität der Strafrechtspflege dadurch gesteigert werden, weil andernfalls unter Umständen die Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten wäre, auch wenn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsnorm in den relevanten Fällen teilweise nicht eingreifen lässt. Konsistent ist dieses „Sowohl-als-Auch“ keinesfalls, weil man natürlich den fremden Rechtsordnungen denselben rechtspositivistischen Standpunkt zubilligen muss, den man für die eigene Rechtsordnung reklamiert. Was die eigene Rechtsordnung anbetrifft, so sieht sich ein naturrechtlicher Standpunkt folgendem Einwand ausgesetzt: Wenn die eigene Rechtsordnung – genauer ihr Urheber – den überpositiven Standpunkt erkannt hat, dann wird das überpositive Recht schon in positives Recht transformiert worden sein. In diesem Fall bedarf es des überpositiven Rechts nicht mehr. Insoweit ist die Relevanz des Naturrechts betroffen. Bedarf bestünde nur dann, wenn das überpositive Recht vom Urheber der eigenen Rechtsordnung nicht erkannt oder beachtet worden wäre. In diesem Fall müsste der Rechtsstab der eigenen Rechtsordnung einen überpositiven Rechtssatz anwenden, der nicht auf den Willen des Urhebers der eigenen Rechtsordnung zurückgeführt werden und daher nicht als Rechtssatz der eigenen Rechtsordnung ausgewiesen werden könnte. Insoweit ist die Stringenz des Naturrechts betroffen. Ein abschließendes Urteil über die Richtigkeit des Naturrechtskonzepts kann und soll in diesem Rahmen jedoch nicht getroffen werden!52 Summary The following essay analyses the impacts of legal positivism as well as natural law on current German Criminal Law. It thereby points out that in this respect German Criminal Law is based upon divergent conceptions depending on the specific context. While German Criminal Law takes the approach of legal positivism as a basis in two of the ensuing examined factual circumstances, it builds upon the notion of natural law in the other ones. 52  Kritisch zum Standpunkt von Hruschka zum Beispiel Renzikowski, Naturrechtslehre versus Rechtspositivismus – nur ein Streit um Worte? in: ARSP 1995, S. 335 ff.

Rechtsphilosophische und straftheoretische Begründungselemente der Verständigung im deutschen Strafverfahren Matthias Jahn und Charlotte Schmitt-Leonardy

Die Verständigung in Strafverfahren bezeichnet ein Verfahren sui generis. In seinen schützenden Formen wird eine Absprache über einen der in § 257 c Abs. 2 S. 1 StPO aufgeführten Gegenstände zwischen Gericht und Angeklagtem unter Zustimmung der Staatsanwaltschaft getroffen. Es soll mithin ein Konsens über den Ausgang des Strafverfahrens erzielt werden. Seit Einführung des Verständigungsgesetzes1 und seiner grundsätzlichen verfassungsgerichtlichen Bestätigung im Jahr 20132 ist die Verständigung – in terminologischer und inhaltlicher Abgrenzung zum unzulässigen „Deal“, also der klandestinen Abrede jenseits der gesetzlichen Leitplanken3 – als gleichberechtigter und -wertiger Ansatz neben dem streitig geführten Strafverfahren anerkannt.4 Nichtsdestotrotz soll, wie der Gesetzgeber in einem vielsagenden Distanzierungsvermerk herausgestellt hat, „keine neue – dem deutschen Strafprozess bislang unbekannte – Form einer konsensualen Verfahrenserledigung, die die Rolle des Gerichtes, insbesondere bei seiner Verpflichtung zur Ermittlung der materiellen Wahrheit, zurückdrängen würde“5 integriert worden sein. Vielmehr gälten im Üb  Verständigungsgesetz (VerstG) v. 29. 7. 2009, BGBl. I, S. 2353.   BVerfGE 133, 168. Ausführlich zum Grundsatzurteil vom 19. 3. 2013, das das Strafverfahrensrecht in dem zu Ende gehenden Jahrzehnt geprägt hat, Jahn / Kudlich, in: Hartmut Schneider u. a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, München: C.H. Beck, 2016, § 257c Rn. 20 – 31. 3  BVerfGE 133, 168 (232 f. Tz. 115). 4  Jahn / Kudlich, in: Hartmut Schneider u. a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, München: C.H. Beck, 2016, § 257c Rn. 60 m. w. N. Das heißt nicht, dass sich diese Anerkennung in der Strafrechtswissenschaft in einer Befürwortung der gesetzlichen Regelung niederschlüge; das Gegenteil ist der Fall. Die gegensätzlichen Auffassungen in der juristischen Literatur tragen, wie der Präsident des BVerfG in der mündlichen Verhandlung über die Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes am 7. 11. 2012 mit Recht bemerkt hat (Nachw. bei Jahn / Kudlich a. a. O., Rn. 9), auch nach Jahrzenten noch Züge eines unversöhnlichen „Glaubenskrieges“. 5  BT-Dr 16/12310, S. 8; aufgegriffen in BVerfGE 133, 168 (206 Tz. 67): „Der Gesetzgeber wollte zwar eine offene, kommunikative Verhandlungsführung des Gerichts stärken, aber gerade kein neues, ‚konsensuales‘ Verfahrensmodell einführen“. 1 2

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rigen weiterhin die tradierten Grundsätze des Strafverfahrens. Das Institut der Verständigung scheint damit kaum in den Strafprozess klassischer Lesart zu integrieren, was nach Auffassung zahlreicher Kritiker schon grundsätzlich aus der mit ihr verbundenen Infragestellung der nach herkömmlicher Lehre6 beiden zentralen Prozesszielparameter Wahrheit und Gerechtigkeit resultiert.7 Der vorliegende Beitrag analysiert diese Position und versucht nachzuweisen, dass eine Anerkennung des Konsenses als legitimatorische Grundlage einer Verfahrensbeendigung im Strafprozess die Postulate Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren nicht nur nicht in Frage stellt, sondern letztlich eine aus der Perspektive eines rechtsfolgenorientierten, an Resozialisierung interessierten Strafrechts eine sinnvolle Weiterentwicklung der Prozessziele darstellt. I. Die Verständigung als ernste Herausforderung für die Grundparameter des Strafverfahrens? Die Verständigung steht, wie die bereits erwähnte Vorschrift des § 257 c Abs. 3 S. 4 StPO erkennen lässt, für die Erledigung eines Strafverfahrens durch Konsens. Sie impliziert die Behauptung, gegenläufige Interessen aller Zustimmenden seien harmonisiert.8 Konsensuale Erledigung – als das Gegenstück zu Zwang9 – scheint in den Bereich des auf Unterwerfung angelegten10 öffentlichen Rechts schon 6  Zur Begründung der hergebrachten Auffassung, nach der die Herstellung von Wahrheit und Gerechtigkeit die Ziele des Strafverfahrens sind, vgl. nur Henkel, Strafverfahrensrecht. Ein Lehrbuch, Stuttgart: Kohlhammer, 2. Aufl. 1968, S. 84; Peters, Strafprozeß. Ein Lehrbuch, Heidelberg: C.F. Müller, 4. Aufl. 1985, S. 80. 7  Vgl. hierzu Kudlich, Konsens und Gerechtigkeit? – Konsens und Gerechtigkeit!, in: Barton / Fischer / Jahn / Park (Hrsg.) Festschrift für Schlothauer 2018, München: C.H. Beck, S. 333 – 342. Nach seiner Analyse ist die Gerechtigkeit im Grundsatzurteil BVerfGE 133, 168 insgesamt dreizehn Mal in Bezug genommen worden, was signifikant mehr sei als in der gesamten übrigen obergerichtlichen Judikatur. Als einen „Verrat am Gebot des Strebens nach Wahrheit und Gerechtigkeit“ bezeichnet das VerstG hingegen Eschelbach, in: Graf (Hrsg.) Beck’scher Online Kommentar StPO, 33. Ed. Stand: 01. 04. 2019, § 257c Rn. 1. Ähnlich Sinn, Die Verständigung im deutschen Strafverfahren, in: Schroeder / Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, Frankfurt a.M.: PL Academic Research, S. 145 – 159 (153 ff.). 8 Vgl. Tschentscher, Der Konsensbegriff in Vertrags- und Diskurstheorien, Rechtstheorie 34 (2002), S. 43 – 59 (47). Da insbesondere der Nebenklage vom Gesetzgeber aus guten Gründen kein Vetorecht eingeräumt wurde, wird man sie – und damit den Verletzten – als nicht von diesem Anspruch erfasst ansehen können; das ist unschädlich (dazu Jahn / Kudlich, in: Hartmut Schneider u. a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, München: C.H. Beck, 2016, § 257c Rn. 78). 9  Zu diesem Verständnis Arth. Kaufmann, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg: C.F. Müller, 6. Aufl. 1994, S. 30 (143) m. w. N. 10  Vgl. zu dieser klassischen Lesart und den Alternativen F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, § 2 (S. 55 ff.).

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grundsätzlich nicht zu passen. Wie Hassemer noch ein Jahr vor Erlass des Verständigungsgesetzes formuliert hat, scheint „die rechtliche Bedeutung von Konsens […] an den Grenzen des Privatrechts zu enden. Das Strafrecht ist das beste Beispiel für solche Konstellationen, die Autonomie nicht als Prinzip von Rechtsbegründung zulassen, die Rechtsbegründung nicht in die Hände von Subjekten legen“11. Jedenfalls zur Legitimation eines Eingriffs wie der Kriminalstrafe reiche er nicht aus.12 Insbesondere scheint das Ziel der Wahrheitsfindung, das als das epochenübergreifende allgemeine Kriterium ein „ungerechtes“ Strafverfahren von einem gerechten oder überhaupt nur legitimen Strafverfahren abgrenzt,13 durch die Verständigung in Frage gestellt. Der Gesetzgeber hat daher in § 257c Abs. 1 StPO klargestellt, dass der Amtsaufklärungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO „unberührt“ bleibe. Gemeint ist, dass das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme ungeachtet der Verständigung von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken habe, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.14 1. Wahrheit im Strafprozess – die klassische Lesart Die in jenem Wortlaut des § 244 Abs. 2 StPO eingekapselte Wahrheit beruht nach heute noch überwiegender Ansicht15 auf einem korrespondenztheoretischen 11  Hassemer, Konsens im Strafprozeß in: Michalke / Köberer / Pauly / Kirsch (Hrsg.), Festschrift für Rainer Hamm, Berlin: de Gruyter, 2008, S. 171 – 189 (175). Er ergänzt später, der Strafprozess sei als „formalisierter Dissens“ (S. 187) zu begreifen; „Strafrecht entsteht prinzipiell nicht aus der Übereinkunft derer, auf die es Anwendung findet. Es entsteht bis in seine Einzelheiten aus dem Willen des Souveräns, es ist die hoheitliche Bestimmung der Grenzen autonomen Handelns und der Folgen von Grenzverletzung“ (S. 176). Kritisch gegenüber dem Konsens im Strafrecht – für viele – auch H.-L. Schreiber, Die Bedeutung des Konsenses im Strafprozeß, in: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, Berlin: Duncker & Humblot, 1976, S. 71 – 85 (S. 79 ff.) m. w. N. 12  Hassemer, Konsens im Strafprozeß in: Michalke / Köberer / Pauly / Kirsch (Hrsg.), Festschrift für Rainer Hamm, Berlin: de Gruyter, 2008, S. 171 – 189 (189). 13 Vgl. Ignor, Wahrheit und Gerechtigkeit als Ziele des Strafverfahrens in Geschichte und Gegenwart, in: Müßig (Hg.) Ungerechtes Recht, Tübingen 2013, S. 1 – 21 (3). Ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen Rationalisierung des Verfahrens und inquisitorischem Prozess als Offizialverfahren mit dem Ziel der Wahrheitsfindung weisen Lüderssen / Jahn, Einl. M (Zur Methode der Rechtsanwendung im Strafverfahren), in: Erb / Esser u. a. (Hrsg.), Löwe / Rosenberg, Großkommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 1, Berlin: de Gruyter, 27. Aufl. 2016, Rn. 12, hin. 14  Treffend als „kontrafaktisches Besänftigungsbemühen“ bezeichnet von Kühne, Einl. B, in: Erb / Esser u. a. (Hrsg.), Löwe / Rosenberg, Großkommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 1, Berlin: de Gruyter, 27. Aufl. 2016, Rn. 31. 15  Müller-Dietz, Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 15 (1), 1971, S. 257 – 272 (257); U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, 73 – 83; Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Baden-Baden: Nomos, 1998, S. 37 ff.; Trüg, Erkenntnisse aus der Untersuchung des US-amerikanischen plea bargaining-Systems für den deutschen Absprachendiskurs, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 120 (2008), S. 331 – 374 (334). Weitere Nachw. im Überblick von Kühne, Einl. B, in: Erb / Esser

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Wahrheitsverständnis: Die Wahrheit ist hiernach die Übereinstimmung der Erkenntnis mit einem außerhalb ihrer selbst liegenden Gegenstand, also die Korrespondenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Dahinter steht die klassische Lesart nach Aristoteles16 – adaequatio intellectus et rei.17 Eine solche ontologische Wahrheitstheorie,18 wonach die Wahrheit von der Übereinstimmung mit einer externen Realität abhängt, die unabhängig vom menschlichen Erkennen existiert,19 hat eine relativ hohe Plausibilität, solange es um physikalische Sachverhalte geht, die unmittelbarer Beobachtung oder sonst sinnlicher Wahrnehmung durch Menschen zugänglich sind. Sofern es sich aber um Gegenstände komplexerer sozialer Wirklichkeit handelt, deren Beschreibung in einem gewissen Umfang Interpretation und Konstruktion erfordern,20 ist die Bestimmung der Wahrheit nach diesem Begründungsansatz schon a priori voraussetzungsreicher. Weiterhin ist zu kritisieren, dass nur eine Definition von Wahrheit angeboten wird, nicht aber Kriterien ihrer Bestimmung.21 Zudem erscheint es grundsätzlich problematisch, die Korrespondenz von Aussage und Wirklichkeit zum Maßstab zu erheben, weil nicht klar wird, wie die nicht-sprachliche Realität mit sprachlich gefassten Aussagen über diese Realität verglichen werden können soll. Zudem wäre eine solche Aussage nur dann ein valides Kriterium für die Wahrheit, wenn jenseits aller denkbaren Sprachspiele eine Metaperspektive für ihre Überprüfung eingenommen werden könnte. Doch das ist aufgrund der Selbstbezüglichkeit der sprachlichen Aussagen im Sprachspiel nicht möglich.22

u. a. (Hrsg.), Löwe / Rosenberg, Großkommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 1, Berlin: de Gruyter, 27. Aufl. 2016, Rn. 13 ff. 16  „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-seiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder ein Nicht-sein prädiziert, muß Wahres oder Falsches aussprechen“: Aristoteles, Metaphysik (Übersetzung A. Lasson, 1907), Berlin: Hofenberg, 2. Aufl. 2016, 4. Buch, 1011b. 17  Diese – bekanntere – lateinische Formulierung stammt von T. v. Aquin, Summa theologica, Heidelberg u. a.: Kerle, 1933, qu. 1, art. 16 ad 2. 18 Kritisch gegenüber dieser Bezeichnung, den Terminus „realistische Wahrheitstheorie“ vorziehend Beckermann, Die realistischen Voraussetzungen der Konsenstheorie von J. Habermas, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie III/1 (1972), S. 63 – 80 (63). 19  Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Baden-Baden: Nomos, 1998, S. 33 ff.; Stuckenberg, Die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafprozess, in: Schroeder / Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, Frankfurt a.M.: PL Academic Research, 2014, S. 39 – 52 (40); Toepel, Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises im Strafprozessrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, S. 70 ff. 20 Vgl. U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 16 mit Verweis auf Watzlawik, Wie wirklich ist Wirklichkeit?, Piper: München, 1977. 21 So auch Stuckenberg, Die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafprozess, in: Schroeder / Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, Frankfurt a.M.: PL Academic Research, 2014, S. 39 – 52 (41) m. w. N., der unterstreicht, dass sie nur Aussagen (Propositionen), nicht aber Normen als Wahrheitsträger anbietet.

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Des Weiteren ist auch die suggerierte Präzision des korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnisses mit Rücksicht auf die begrenzte menschliche Erkenntnisfähigkeit schon grundsätzlich in Frage zu stellen.23 Wegen der im Strafprozess eingesetzten Erkenntnismittel, die aus aussagepsychologischer und soziologischer Perspektive schon grundsätzlich als unzureichend kritisiert werden,24 vertieft sich diese praktisch orientierte Kritiklinie noch. Weiterhin wird der Wahrheits-„Findungs“-Anspruch im Strafverfahren normativ nicht absolut statuiert. Er ist aus rechtsstaatlichen Gründen vielmehr von einer Reihe restriktiver oder relativierender Parameter wie insbesondere den Beweisverwertungsverboten abhängig.25 Der Konflikt zwischen Wahrheitssuche und rechtlichen Garantien wird nicht selten zugunsten letzterer aufgelöst – Wahrheit darf nicht um jeden Preis erforscht werden.26 Insofern ist es ohnehin „nur“ eine prozessual-forensische Wahrheit, die nach den Regeln des Strafprozesses konstruiert ist und rekonstruiert wird.27 Schließlich ist die Wahrheitssuche im Hinblick auf die Komplexität des in der Tat zum Ausdruck kommenden sozialen Konflikts notwendig asymmetrisch, da nach der „Wahrheit“ nur mit dem gelenkten Blick auf die Schuldspruch- und Rechtsfolgenrelevanz gesucht wird. In Müller-Dietz’ lehrreichem Sprachbild: „Die Tat als Momentaufnahme aus dem Leben des Täters: der Film als Ganzes bleibt unterbelichtet“28. Die Idee, dass man im Strafprozess „die“ Wahrheit durch angestrengtes Suchen mit dem Richter als führendem „Geschichtsforscher“29 rekonstruieren könne, ist

22 Vgl. Chr. Becker, Strafprozessuale Verständigung und philosophische Wahrheitstheorien, in: Barton / Eschelbach / Hettinger / Kempf / Krehl / Salditt (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München: C.H.Beck, 2018, S. 603 – 612 m. w. N.; U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 23 ff., zu den semantischen Wahrheitstheorien und ihrer Kritik. 23  So schon RGSt 61, 202 (206); 66, 163 (164); ebenso schon früher RGZ 15, 338 (339). Zusf. Kargl, Wahrheit, Überzeugung und Wissen im Strafverfahren, ARSP 105 (2019), S. 171 – 204 (176 f.). 24  D. Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, in: Grünwald (Hrsg.), Festschrift für Schaffstein, Göttingen: Schwartz, 1975, S. 411 – 431 (413 ff.). Kritisch ebenfalls Malek, Abschied von der Wahrheitssuche, StV 2011, S. 559 (561). 25  Gegen korrespondenztheoretische Modelle deshalb schon im Ausgangspunkt Jahn, Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen den Garantien des Rechtsstaates und der effektiven Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag 2008, München: C.H. Beck, 2008, S. C 24. 26  BGHSt 14, 358 (365); ein „Satz, der auf der Schiefertafel verfahrensrechtlicher Maximen heute an führender Stelle steht, … Es gibt wohl keine Sentenz aus einem BGH-Urteil, die in der strafprozessualen Literatur häufiger zitiert worden ist“: Jahn, Strafverfolgung um jeden Preis?, StraFo 2011, S. 117. 27 Überzeugend Volk, Diverse Wahrheiten, in: Eser / Kullmann / Meyer-Gossner / Odersky / Voß (Hrsg.), Festschrift für Salger, Köln: Carl Heymanns, S. 411 – 419 (412 ff.); Stuckenberg, Die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafprozess, in: Schroeder / Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, Frankfurt a.M. : PL Academic Research, 2014, S. 39 – 52 (45). 28  Müller-Dietz, Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 15 (1), 1971, S. 257 – 272 (266, 270).

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nach alledem ein Narrativ, dem eine gewisse – mit Blick auf das Publikum: wohlberechnete – Naivität nicht abgesprochen werden kann. 2. Wahrheit durch Verständigung? – Der rechtsphilosophische Bezugsrahmen Die immer noch herrschende Auffassung,30 nach der die Feststellung „der“ Wahrheit als unumstößliche Größe durch die Verständigung im Strafverfahren in Gefahr gerate, erscheint angesichts der aufgezeigten zahlreichen Defizite der Korrespondenztheorie nicht überzeugend. Zudem legen erfahrungsgesättigte Denkanstöße aus der Praxis31 nahe, dass diese Wahrheit im Strafprozess nicht auf Objektivität, sondern bestenfalls auf Intersubjektivität ausgerichtet ist – ein Blick auf diese Begründungslinie der Wahrheitstheorien erscheint insofern lohnend: Intersubjektivitätstheorien der Wahrheit, die maßgeblich durch die Arbeiten von Peirce in die Diskussion eingebracht wurden und später u. a. von James und Dewey wesentlich weiterentwickelt wurden,32 wenden sich von der Bestimmung der Wahrheit in einer abstrakten Form ab. Sie sehen die Wahrheit stattdessen als regulatives Prinzip der Überprüfung von Überzeugungen.33 Aussagen mit Anspruch auf universelle Geltung werden als sinnlos angesehen. Stattdessen wird auf ihre praktische Bedeutung abgestellt, die vor einem bestimmten Publikum gerechtfertigt werden muss.34 Wenn eine Aussage die Zustimmung eines kompetenten Publikums erhalte, sei es 29  Niethammer, Der Kampf um die Wahrheit im Strafverfahren, in: Sauer (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Sauer, Berlin: de Gruyter, 1949, S. 26 – 43 (27). 30 Repräsentativ Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer, Alternativ-Entwurf Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 166 (2019), 1 – 128 (49 ff.) m. w. N. 31  Hamm / Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl. 2019, Rn. 22 m. w. N. 32  Vgl. hierzu Hickman, in: Hickman / Neubert / Reich (Hrsg.), John Dewey. Between Pragmatism and Constructivism, New York: Fordham Univ. Press., 2009, S. 195. 33  Peirce, The Fixation of Belief, 1877, 1/V, 375, Anm. 2 (2/I, S. 127 bzw. 319). Vgl, dens., Collected Papers, Band 5, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1935, S. 394 – 5: „Truth is that concordance of an abstract statement with the ideal limit towards which endless investigation would tend to bring scientific belief.“ = „Wahrheit ist die Übereinstimmung einer abstrakten Feststellung mit dem idealen Grenzwert, an den unbegrenzte Forschung die wissenschaftliche Überzeugung anzunähern die Tendenz haben würde; jene Übereinstimmung kann die abstrakte Feststellung vermöge des Bekenntnisses ihrer Ungenauigkeit und Einseitigkeit besitzen; dieses Bekenntnis ist ein wesentliches Ingrediens der Wahrheit“ (Übersetzung von Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, S. 143). 34  Die Positionen von Pierce, Dewey und James unterscheiden sich freilich in ihren konkreten Ausgestaltungen. Vgl. James, Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1907/1979; Dewey, Logic: The Theory of Inquiry, New York: Henry Holt and Company, 1939 und den Überblick bei Stuckenberg, Die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafprozess, in: Schroeder / Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, Frankfurt a.M.: PL Academic Research, 2014, S. 39 – 52 (42) m. w. N.

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überflüssig, nach einer Beziehung zu einer Realität oder etwas namens Wahrheit zu suchen. Mit diesem Verständnis von Wahrheit als „warranted assertibility“ („gerechtfertigte Behauptbarkeit“35) wird zugleich die Grundlage für konsenstheoretische Begründungsansätze geliefert,36 die die Beziehung zwischen dem Anspruch auf Wahrheit und dem Anspruch auf Konsensfähigkeit einer Äußerung betonen.37 Wegweisend sind hier die philosophischen Arbeiten von Habermas. Eine konsenstheoretische Grundlage strafprozessualer Verfahrensbeendigung wird indes bislang nur vereinzelt erwogen.38 Mit dieser Perspektive verbunden ist die These, dass die Kommunikation in der Hauptverhandlung als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses begriffen werden kann, woraus wiederum resultiert, dass § 244 Abs. 2 StPO Bezugspunkt für die Offenheit des deutschen Verfahrensrechts gegenüber einem prozeduralen Legitimationstypus – hier entlang der Konsensmaxime – sein kann.39 Diese Position impliziert (mindestens) zwei grundsätzlich zu klärende Fragen, nämlich ob (1) die Konsenstheorie als Theorie der Wahrheit zu überzeugen vermag und (2) sie für den in Blick genommenen strafprozessualen Kontext eine taugliche Entscheidungsgrundlage darstellen kann. Beides wird vielfach und zum Teil außerordentlich heftig bestritten. Das ist Grund genug, den heutigen Diskussionsstand zu rekonstruieren und die Debatte mit neuen Argumenten fortzuführen. a) Wahrheit allein durch Konsens? Nach Habermas bedeutet Wahrheit nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen diskursiv einlösbaren Geltungsanspruch:40 „Die Bedingung für die Wahrheit von 35  Neubert, in: Hickman / Neubert / Reich (Hrsg.), John Dewey: zwischen Pragmatismus und Konstruktivismus, Münster: Waxmann, 2004, S. 169. 36  Eine weitere, moderne Variante des intersubjektiven Ansatzes ist die dialogische, konstruktivistische Theorie der Wahrheit wie sie von der Erlanger Schule bei Kamlah oder Lorenzen vertreten wird, vgl. hierzu den Überblick bei Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, S. 144, 164 ff. Diese Begründungslinie muss hier trotz des reizvollen Anknüpfungspunktes Erlangen aus Raumgründen auf sich beruhen. 37  U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 24 ff. 38  Erstmals diesen theoretischen Rahmen im Kontext der Verständigung – freilich zeitbedingt nicht in der heute aktuellen, durch das Verständigungsgesetz von 2009 demokratisch legitimierten Form – auslotend Jahn, Zurück in die Zukunft – Die Diskurstheorie des Rechts als Paradigma des neuen konsensualen Strafverfahrens, GA 2004, S. 272 – 287 (280) sowie ders., Die Konsensmaxime in der Hauptverhandlung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006) S. 427 (454). Die Denkmuster fanden sich bereits bei Lüderssen, Die Verständigung im Strafprozess – Überlebensstrategie oder Paradigmawechsel?, StV 1990, S.  415 – 420 (418). 39  Jahn, Zurück in die Zukunft – Die Diskurstheorie des Rechts als Paradigma des neuen konsensualen Strafverfahrens, GA 2004, S. 272 – 287 (272). 40  Habermas, Wahrheitstheorien, in: Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion: W. Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen: Neske, 1973, S. 211 – 265 (212).

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Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen“41. Diskurstheoretische Ansätze müssen – sofern Sie einen universellen Wahrheitsanspruch behaupten – die Frage beantworten, ob die im Rahmen des Diskurses erhobenen Behauptungen aufgrund ihrer Konsensfähigkeit wahr sind oder aufgrund ihrer Wahrheit konsensfähig sind.42 Dieses gemeinsame Strukturproblem prozeduraler Theorien43 lässt schon mit Blick auf die Frage nach der Wahrheit normativer Aussagen Erklärungsbedarf entstehen. Denn der ideale Diskurs mag zwar Verzerrungen ausschließen, die aus „Asymmetrie der Kommunikationssituation, aus einer strukturbedingten Unterdrückung oder Fehlgewichtung von Argumenten“ resultieren. Aber selbst er vermag nicht zu gewährleisten, dass die besten Argumente erwogen und angemessen berücksichtigt werden – er trägt noch nicht positiv dazu bei, relevante von irrelevanten Gesichtspunkten zu unterscheiden.44 Insofern wird zu Recht kritisch eingewandt, dass eine konsequent durchgeführte rein prozedurale Theorie keinen Inhalt mehr zulässt.45 Überdies stellt die Konsenstheorie im Hinblick auf die Wahrheit von Aussagen letztlich allein die diskursive Begründbarkeit, also auf die mögliche Beibringung von Argumenten für und wider ab,46 womit sie sich dem insoweit berechtigten Vorwurf aussetzt, die Entstehung einer Aussage (wichtig für den Beweiswert) mit ihrem Inhalt (wichtig für den Wahrheitswert) zu verwechseln.47 Diese breit aufgearbeiteten48 Schwächen der klassischen Diskurstheorie der Wahrheit akzentuieren sich weiter, wenn der Rahmen des idealen zugunsten des praktischen Diskurses verlassen wird.

41  Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas / Luhmann (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971, S. 101 – 141 (124). 42 Ausführlicher U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 25 m. w. N.; Arth. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, München: C.H. Beck, 1989, S. 16 ff. 43 Richtig U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 26. 44  U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 28. In Beckermanns zu weitgehender Schlussfolgerung so zugespitzt, dass die Konsenstheorie „an der Unmöglichkeit [scheitere – die Verf.], im Rahmen einer [Konsenstheorie] eine tragfähige Unterscheidung von vernünftiger und nicht vernünftiger Verständigung anzugeben“ (ders., Die realistischen Voraussetzungen der Konsenstheorie von J. Habermas, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie III/1 [1972], S. 63 – 80 [80]). 45  Arth. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, München: C.H. Beck, 1989, S. 11. 46  Beckermann, Die realistischen Voraussetzungen der Konsenstheorie von J. Habermas, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie III/1 (1972), S. 63 – 80 (67). 47  Arth. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, München: C.H. Beck, 1989, S. 19. 48  Differenzierte Zusammenfassung der Kritik bei Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, S. 144 ff.

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b) Konsens im Strafprozess – Habermas’ Werk und Alexys Beitrag Die vom Erstverfasser dieses Beitrags entwickelte Auffassung, dass der Diskurs im Strafprozess einen Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses darstelle, „bei dem auch Kompetenzen wie geschickte Argumentation, Kenntnis der relevanten Problemgesichtspunkte im Bereich des materiellen Rechts, der Beweiswürdigung und der Strafzumessung, die Antizipation von Gegenargumenten im Prozess des Aushandelns einer Absprache und die Wahrung von Kohärenz integriert werden müssen – und können“49 , ergänzt die wechselnden Perspektiven von Habermas auf das Strafverfahren50 um die belastbaren Inhalte von Alexys Sonderfallthese.51 Letzterer differenziert den Richtigkeitsbegriff in einen absoluten und einen relativen prozeduralen Begriff der Richtigkeit weiter aus, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die erfolgreiche Einlösung eines problematischen Geltungsanspruchs allein im Diskurs noch nicht garantiert werden kann.52 Rechtfertigungsbedürftig ist aber in der Tat, ob der Strafprozess einen prozeduralen Rahmen vorhält, der einen Sonderfall des Diskurses ermöglicht. Das Strafverfahren rekurriert tatsächlich auf einige institutionelle Parameter, die diese Option zunächst als problematisch erscheinen lassen. So setzt die Kommunikationssituation des Strafverfahrens in der Hauptverhandlung an der Pflicht an, sich mit einem bestimmten Gegenstand – der Tat (§§ 160 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO) – zu einem Zeitpunkt zu befassen, in dem ein hinreichender Verdachtsgrad im Prinzip nicht mehr disponibel und durch den vom Gericht zugelassenen Anklagevorwurf (§§ 170 Abs. 1, 203 StPO) zu einem normativ verbindlichen Anknüpfungspunkt für alle Diskursteilnehmer geworden ist. Der Gegenstand des Diskurses ist jetzt also nicht mehr ohne Weiteres herrschaftsfrei zu vereinbaren.53 Die Teilnahme steht für den Angeklagten (vgl. § 230 Abs. 2 StPO), aber auch Zeugen (§ 70 Abs. 1 StPO) und andere Verfahrensbeteiligte nicht zur 49  Jahn, Die Konsensmaxime in der Hauptverhandlung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), S. 427 (455). 50  Habermas selbst hat für die Kommunikation in der Hauptverhandlung zunächst keinen Anwendungsbereich für die Prinzipien der Diskurstheorie gesehen (Exklusionsthese), in ihr später einen Sonderfall des Anwendungsdiskurses erblickt (Sonderfallthese), allerdings diese These in Faktizität und Geltung nochmals zugunsten einer Richterzentrierung seines Verfahrensmodells variiert (modifizierte Sonderfallthese). Vgl. zur Entwicklung Jahn, Zurück in die Zukunft – Die Diskurstheorie des Rechts als Paradigma des neuen konsensualen Strafverfahrens, GA 2004, S. 272 – 287 (280). 51  Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie, Beiheft 2, 1981, S. 177 ff. (178). 52 Vgl. Tschentscher, Der Konsensbegriff in Vertrags- und Diskurstheorien, Rechtstheorie 34 (2002), S. 43 – 59 (48) mit Hinweis auf Alexy, Nachwort: Antwort auf einige Kritiker, in: ders., Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 399 – 435 (415). 53 Vgl. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, München: C.H. Beck, 2. Aufl. 1990, S. 121 f.

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freien Disposition und kann notfalls sogar mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Weiterhin sind weder Beginn noch Ende und auch nicht die Dauer des Verfahrens beliebig bestimmbar, sondern durch normative Rahmenbedingungen und verfassungsrechtlich abgesicherte Parameter wie den Beschleunigungs- und Konzentrationsgrundsatz eingefasst. Schließlich sind auch die Folgen einer Teilnahme am Diskurs einseitig determiniert und der Bezug auf diese dritte Größe – das materielle Strafrecht mit den inhärenten Sanktionsvorgaben – hat einen dominanten Einfluss auf die Kommunikation.54 Jedenfalls nach zwar mit Recht angefochtenem, aber klassischem Verständnis ist der Strafprozess zudem von einer richterzentrierten, monologischen Struktur gezeichnet und typischerweise von einem Machtgefälle zwischen den staatlichen Strafverfolgungsorganen und dem Angeklagten bestimmt. Den zahlreichen kritischen Stimmen55 zu der diskurstheoretischen Rekonstruktion des deutschen Strafverfahrens ist deshalb im Ausgangspunkt zuzugeben, dass das Strafverfahren sich nicht ohne einen gewissen Begründungsaufwand mit einem diskurstheoretischen Ansatz verknüpfen lässt – das freilich ist, wie die wenig stringente Behandlung des gerichtlichen Verfahrens in der Habermas’schen Diskurstheorie gezeigt hat, kein Alleinstellungsmerkmal gerade des Strafprozesses. Bezogen auf die hier interessierende Verständigung ist zudem zu berücksichtigen, dass mit diesem Institut die Verkürzung der Beweisaufnahme bezweckt ist und der Unmittelbarkeitsgrundsatz sowie das Mündlichkeitsprinzip dadurch zwangsläufig ebenfalls ins Hintertreffen geraten, mithin prozedurale Aspekte eher abgebaut werden. Die Genese der Wahrheit im Kontext der Verständigung auf eine rein prozedurale Theorie zu gründen erscheint deshalb um eine weitere inhaltliche Verknüpfung ergänzungsbedürftig. Dies gilt umso mehr, als die hier erwähnten Alternativen zum klassischen korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis sich auf normative Aussagen beziehen und es im Kontext der Verständigung um 54 Vgl. Arth. Kaufmann, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, (Hrsg.) ders./Hassemer, Heidelberg: C.F. Müller, 6. Aufl. 1994, S. 30 (171); Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, München: C.H. Beck, 2. Aufl. 1990, S. 134. 55  Sprachlich überzogen teilweise abgetan als „eine Veranstaltung ausschließlich guter Menschen ohne Zeitdruck“ (Rüthers / Chr. Fischer / Birk, Rechtstheorie, München: C.H. Beck, 9. Aufl. 2016, Rn. 590) oder „Diskurs-Träumerei“ (Haba, Standortbestimmung zeitgenössischer Rechtstheorie – Rawls, Dworkin, Habermas und andere Mitglieder der „Heiligen (Rede-) Familie“, Rechtstheorie 27 [1996], S. 277 – 327 [307, 309 und passim]). Abgewogen kritisch hingegen Radtke, Das Strafverfahren als Diskurs?, Festschrift für Schreiber, 2003, S. 375 (385); Duttge, Möglichkeiten eines Konsensualprozesses nach deutschem Strafprozeßrecht, ZStW 115 (2003), S. 539 (549 ff.); U. Neumann, Zur Interpretation des Forensischen Diskurses in der Rechtsphilosophie von Jürgen Habermas, Rechtstheorie 27 (1996), S. 415 (417 ff.); Gössel, Über die Pflicht zur Ermittlung der materiell-objektiven Wahrheit und die Zuständigkeiten zur Eröffnung eines Strafverfahrens und zu dessen Durchführung, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 187 (200); Kargl, Wahrheit, Überzeugung und Wissen im Strafverfahren, ARSP 105 (2019), S. 171 – 204 (187 ff.); Kühne, Einl. B, in: Erb / Esser u. a. (Hrsg.), Löwe / Rosenberg, Großkommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 1, Berlin: de Gruyter, 27. Aufl. 2016, Rn. 28; Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform?, Baden-Baden: Nomos, 2002, S. 31 ff.; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, Frankfurt: Klostermann, 2008, S. 575 ff.

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die Klärung der Tatfrage geht, also eines geschichtlichen Vorgangs, der einen oder mehrere Straftatbestände erfüllt haben soll. Nicht dargestellt wurde im Vorstehenden die Kohärenztheorie, wonach eine Aussage (schon) dann wahr ist, wenn sie sich widerspruchsfrei in ein System wahrer Aussagen integrieren lässt und über diese formallogische Konsistenz hinaus auch eine systemische Stimmigkeit und Geschlossenheit gegeben ist. Gegen die auf bloße Widerspruchsfreiheit reduzierte Version der Kohärenz wird mit Recht eingewandt, dass sie zwar ein Kriterium wahrer Aussagen anbietet, dieses jedoch lediglich notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung für Wahrheit sein kann, weil die parallele Existenz mehrerer kohärenter Systeme nicht ausgeschlossen werden kann. Überdies ist dieser begründungstheoretische Ansatz als universale Wahrheitstheorie in unserem strafprozessualen Zusammenhang bei Weitem zu schwach, weil der im Bereich raumzeitlicher Gegebenheiten zentrale Aspekt der Relation von Aussage und Sachverhalt nicht erfasst werden kann. Insofern erscheint dieser Ansatz lediglich für den Bereich normativer Aussagen weiter verfolgenswert.56 c) Zur Funktion von Wahrheit im Strafprozess Wie hat die Ergänzung des bisherigen Diskursmodells für die Erfassung des Strafverfahrens konkret auszusehen? Im Strafverfahren geht es darum, über die Anwendbarkeit materieller Strafnormen zu entscheiden – also ob und, bejahendenfalls, wie ein Angeklagter zu bestrafen ist. Im Falle einer Verurteilung ist notwendiger Zwischenschritt eine assertorische Aussage über die Wirklichkeit.57 Wahrheit im strafprozessualen Kontext ist also kein Selbstzweck, sondern „Voraussetzung für ein gerechtes Urteil“58, weil sie Legitimationsgrundlage für die mit der Anwendung des materiellen Rechts einhergehende Sanktionsverhängung darstellt. 59 Fokussiert man die Funktion von 56 Vgl. hierzu Kargl, Wahrheit, Überzeugung und Wissen im Strafverfahren, ARSP 105 (2019), S.  171 – 204 (177  ff.); U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 28 mit Hinweis auf K. Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz. Für eine Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 20 (1989), S. 163 ff. und Bracker, Kohärenz und juristische Interpretation, 2000. 57 So auch Stuckenberg, Die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafprozess, in: Schroeder / Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, Frankfurt a.M.: PL Academic Research, 2014, S. 39 – 52 (50). 58  Müller-Dietz, Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 15 (1), 1971, S. 257 – 272 (260 ff.); Hassemer, Prozeduralisierung, Wahrheit und Gerechtigkeit, in: ders. (Hrsg.) Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007, S. 153 (155). 59 So auch Stuckenberg, Die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafprozess, in: Schroeder / Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, Frankfurt a.M.: PL Academic Research, 2014, S. 39 – 52 (50 f.).

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Wahrheitsansprüchen im Strafrecht, geht es im Kern um die Frage, wie wir mit der Vorstellung rechtlicher Wahrheit (Richtigkeit), mit dem Denkmuster der wahren (richtigen) Rechtserkenntnis praktisch umgehen.60 Es ist – ironischerweise, bedenkt man die prägende Funktion seiner Kontroverse mit Habermas für den deutschen rechtsphilosophischen Diskurs im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – ausgerechnet Niklas Luhmann, der die Frage stellt, „ob der Gewinn von Wahrheit überhaupt die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren ist“61. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die soziale Funktion des Verfahrens. Er argumentiert, dass die Legitimität der Entscheidung – im Sinne einer faktischen Anerkennung – weniger auf die sachliche Richtigkeit des Urteils zurückgehe und vielmehr eine Leistung des Verfahrens selbst sei. Statt sich auf absolute Setzungen von Wahrheit und Gerechtigkeit zu beziehen, sei die Beachtung von Verfahrensregeln und die daraus resultierende faktische Anerkennung des Verfahrens zentral: Erforderlich sei insofern lediglich die Überzeugung der Betroffenen, dass „alles mit rechten Dingen zugeht, daß in ernsthafter, aufrichtiger und angestrengter Bemühung Wahrheit und Recht ermittelt werden und daß auch sie gegebenenfalls mit Hilfe dieser Institution zu ihrem Recht kommen werden“62. Dieses rein funktionale Verfahrensverständnis der Systemtheorie ist in der Rechtswissenschaft bekanntlich weit überwiegend auf Ablehnung gestoßen, was wohl auch damit zusammenhängen dürfte, dass Luhmanns sozialwissenschaftliche Analysen oft – und trotz der expliziten Erklärung des Gegenteils63 – als normative Aussagen missverstanden wurden.64 Dies erscheint im Rückblick als Vergeudung des kritischen Potentials seiner Perspektive: Obgleich es nämlich eine Legitimation durch Verfahren im normativen Sinne – selbstverständlich – nicht geben kann, da die Feststellung sozialer Effekte durch Verfahren für die Legitimität im normativen Sinne erst einmal irrelevant ist,65 lenkt Luhmanns Ansatz den Blick darauf, dass nicht der Gewinn von Wahrheit um seiner selbst Willen die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren ist, sondern die Lösung des sozialen Problems.66 Ausgehend von der These, dass es um die soziale Funktion des Verfahrens geht, distanziert sich Luhmann mit Fug von den absoluten Setzungen Wahrheit und Gerechtigkeit und lenkt den Blick auf die faktische Anerkennung des Verfahrens. Erforderlich sei lediglich die Überzeugung 60 Ähnlich U. Neumann, Wahrheit im Recht, Baden-Baden: Nomos, 2004, S. 9 f., 58, 63 mit Bezügen zur Funktionalisierung von Wahrheit. 61  Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), Frankfurt: Suhrkamp, 1983, S. 22. 62  Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 123. 63  Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. VII f. 64  Vgl. auch U. Neumann, Funktionale Wahrheit im Strafverfahren, in: Scholler / Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, Heidelberg: Decker & Müller, S. 73 – 83 (73 m. w. N.). 65  Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2 (1739/1978), Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 211 ff. 66  U. Neumann, Funktionale Wahrheit im Strafverfahren, in: Scholler / Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, Heidelberg: Decker & Müller, S. 73 – 83 (80 f.).

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der Betroffenen, dass „in ernsthafter, aufrichtiger und angestrengter Bemühung Wahrheit und Recht ermittelt werden“67. Den beiden zentralen Verfahrensbegriffen kommt damit fortan nurmehr symbolische Funktionen zu: „Sie dienen dazu, gute Absichten zu beteuern und an guten Willen zu appellieren, vorausgesetzten Konsens auszudrücken und Verständigungsmöglichkeiten zu postulieren“68. II. Verständigung und folgenorientiertes Strafrecht 1. Wahrheit und Straftheorie Wird der absolute Wahrheitsanspruch in einem materiellen Sinne derart „entzaubert“69, wird zugleich deutlich, wie eng die Funktion von Wahrheit im Strafverfahren mit dessen straftheoretischer Präferenz verbunden ist. Die ursprüngliche Zielsetzung, den wahren Schuldigen zu ermitteln, um die Gesellschaft und den Täter mit Gott zu versöhnen, erlaubte eine auf das Ziel der gerechten Vergeltung fixierte Wahrheitssuche, die sich bekanntlich bis weit jenseits der heute rechtsstaatlich gesellschaftlich auferlegten Grenzen erstreckte.70 Die Weiterentwicklung des Strafverfahrens im säkularen Staat hin zu einem rechtsstaatlichen Institut, das durch Bestrafung des Schuldigen auch general- und spezialpräventive Zwecke verfolgt, verändert auch die irrige Perspektive der Absolutheit der Wahrheitsfindung. Diese Interdependenz zwischen Telos und Funktionalität der Wahrheitssuche im Strafverfahren, die Müller-Dietz mit Recht griffig als „Finalstruktur der Wahrheit im Prozeß“71 bezeichnet, scheint bis heute dennoch nicht ausreichend berücksichtigt.72 Weil die Beweisaufnahme gem. § 244 Abs. 2 StPO auf alle Tatsachen und Be  Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt: Suhrkamp, 1983, S. 123.   Luhmann, Soziologische Aufklärung I, 7. Aufl., Wiesbaden: Springer, 2005, S. 248. Zu diesem Ausgangspunkt bereits Jahn, Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen den Garantien des Rechtsstaates und der effektiven Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag 2008, München: C.H. Beck, 2008, S. C 18. 69  Lüderssen / Jahn, Einl. M, in: Erb / Esser u. a. (Hrsg.), Löwe / Rosenberg, Großkommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 1, Berlin: de Gruyter, 27. Aufl. 2016, Rn. 100; Jahn, Zurück in die Zukunft – Die Diskurstheorie des Rechts als Paradigma des neuen konsensualen Strafverfahrens, GA 2004, S. 272 – 287 (279). 70  Vgl. den Überblick bei Ignor, Wahrheit und Gerechtigkeit als Ziele des Strafverfahrens in Geschichte und Gegenwart, in: Müßig (Hrsg.) Ungerechtes Recht, Tübingen: Mohr, 2013, S.  1 – 21 (15); ders., Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846, Paderborn: Schöningh, S. 191 ff., 289. 71  Müller-Dietz, Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 15 (1), 1971, S. 257 – 272 (264). 72 Ebenso D. Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, in: Grünwald (Hrsg.), Festschrift für Schaffstein, Göttingen: Schwartz, S. 411 – 431 (423). „Es zeigt sich, daß jede mögliche Straftheorie den Begriff der Wahrheit im Verfahren in ganz spezifischer Weise prägt und voraussetzt.“ 67 68

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weismittel erstreckt werden muss, „die für die Entscheidung von Bedeutung sind“, gilt es mehr als bislang in den Blick zu nehmen, dass die Entscheidungsrelevanz primär durch das materielle Strafrecht gestiftet wird. Durch diese Ausrichtung entsteht die dominante diskursive Bedeutung des materiellen Strafrechts und eine gänzlich retrospektive Perspektive, die im Spannungsverhältnis zu der Bedeutung der – im Übrigen breit konsentierten – präventiven Strafzwecklehre steht. Würde man hingegen in Erwägung ziehen, dass die Suche nach der Wahrheit kein Selbstzweck ist, sondern letztlich mit Funktionen und Zweck des Strafrechts in engem Zusammenhang steht, könnte das Strafverfahren „als soziales System mit originären Aufgaben“73 begriffen werden, in dem präventionstheoretische Überlegungen einen größeren Raum einnehmen. Wenn Wahrheitserkenntnis im Strafverfahren eine finale Struktur hat, also das Prozessziel die konkrete Auswahl und Wertung von Fakten mitbedingt, dann macht es einen Unterschied, ob es Gerechtigkeitsund Schuldzentriert ist – Vergeltungstheorien – oder eben präventionsorientiert.74 2. Konsens und ein folgenorientiert-resozialisierendes Strafrecht Verständigungen im Strafverfahren können deshalb an Legitimation gewinnen, wenn Konsensorientierung und Legitimation der Strafe nicht auseinanderstreben.75 Insbesondere der Umstand, dass die Verständigung im Strafprozess eine demokratietheoretisch noch nicht76 ausgelotete Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Bürger darstellt, das sich von der traditionellen Über- und Unterordnung wegbewegt und auf horizontale Aushandlungsprozesse hin entwickelt, wird hier eine entscheidende Rolle spielen. Einen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt findet dieser Ansatz in der Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 GG i. V. m. 28 Abs. 1 GG, die über eine unverbindliche programmatisch-politische Aussage hinausgeht und als Staatszielbestimmung für die öffentliche Gewalt verpflichtend ist.77

73  U. Neumann, Funktionale Wahrheit im Strafverfahren, in: Scholler / Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, Heidelberg: Decker & Müller, 1989, S. 73 – 83 (81). 74 Ähnlich Müller-Dietz, Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 15 (1), 1971, S. 257 – 272 (270); D. Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, in: Grünwald (Hrsg.), Festschrift für Schaffstein, Göttingen: Schwartz, S.  411 – 431 (423). 75  So bereits Lüderssen, Die Verständigung im Strafprozess – Überlebensstrategie oder Paradigmawechsel?, StV 1990, S. 415 – 420 (417) mit Verweis auf dens., in: Abweichendes Verhalten II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 16 f.; dens., Juristische Topik und konsensorientierte Rechtsgeltung, in: Festschrift für Coing, München: C.H. Beck, 1982, S. 549 ff. (554); ders., Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, S. 65 u. 78 m. w. N. 76  Vgl. aber die Skizze bei Ignor, in: SSW-StPO, 3. Aufl. 2018, § 257c Rn. 3. 77  BVerfGE 1, 97 (105); 9, 124 (131); 27, 253 (283); BGHZ 25, 186 (192). Nach feststehender Spruchpraxis (BVerfGE 33, 303 [330 ff.]; 59, 231 [262]) richtet sich deshalb vor allem die Auslegung einfachen Gesetzesrechts durch Gerichte und Verwaltung nach der Sozialstaats-

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Hier trennen sich nun die Wege. Für eine – nämlich unsere78 – Perspektive, die den Resozialisierungsgedanken zum Bezugspunkt eines folgenorientierten Strafrechts wählt, bietet die Verständigung im Gegensatz zum klassischen Strafprozess zahlreiche zielführende Anknüpfungspunkte. Wo das gerichtszentriert-vertikale, inquisitorische Verfahrensmodell die Komplexität der Tat und ihrer Entstehungsbedingungen sowie die daraus erwachsende Komplexität der Resozialisierungsbedürftigkeit nicht zu integrieren vermag,79 weil es auf eine asymmetrische Wahrheitssuche entlang der Tatbestandsmerkmale und die Untermauerung eines stigmatisierenden – und damit die Re-Sozialisierung erschwerenden – Schuldspruchs ausgerichtet ist,80 bietet die Verständigung die Chance auf ein offeneres Kommunikationsforum. In ihm kann das Eruieren des in der Tat zum Ausdruck kommenden Resozialisierungsbedürfnisses im Mittelpunkt stehen. Zudem hängt die Resozialisierung des Straftäters ganz wesentlich davon ab, wie er selbst seine Behandlung im Strafverfahren erfahren hat.81 Die erforderliche Zustimmung des Angeklagten im Verständigungsdiskurs kann hier maßstabsbildende Kraft entfalten, weil der Angeklagte diese Erklärung auf gleicher Augenhöhe mit der Staatsanwaltschaft abgibt und das Gericht ohne diese Zustimmung das Verfahren der Verständigung nicht erfolgreich zum Abschluss zu bringen vermag. Überdies klausel. Als Maxime gilt dabei der Satz, daß der Einzelne zwar der öffentlichen Gewalt unterworfen, „aber nicht Untertan, sondern Bürger“ ist (BVerwGE 1, 159 [161]). 78  Jahn / Schmitt-Leonardy, Reintegration durch Strafe? – Die neuere Diskussion um den Strafzweck der Resozialisierung, in: Safferling / Kett-Straub / Chr. Jäger / Kudlich (Hrsg.), Festschrift für Streng, Heidelberg: C.F.Müller, 2017, S. 499 – 518; dies., Auch wenn bei Ihnen der Sinn ja nicht greift: Ein Blick auf moderne Straftheorien, in: Bartsch / Görgen / Hoffmann-Holland / Kemme / Stock (Hrsg.), Mittler zwischen Recht und Wirklichkeit. Festschrift für Kreuzer zum 80. Geburtstag, Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 265 – 280. Auch nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung ist Resozialisierung mehr als ein beliebiges Instrument der Verbrechensbekämpfung. Zunächst wurde die „Eingliederung des Verurteilten in die Rechtsgemeinschaft“ als Ziel des Strafvollzugs ausgewiesen: BVerfGE 33, 1 (8), aufgriffen z. B. in BVerfGE 116, 69 (89 f.) m. w. N. Später wurde im Lebach-Urteil der Verfassungsrang der Resozialisierung gestärkt: BVerfGE 35, 202 (235 f.), hierauf zurückgreifend BVerfGE 117, 71 (112); 130, 372 (390), je m. w. N. Auf die frühere Praxis hinweisend N. Leyendecker, (Re-) Sozialisierung und Verfassungsrecht, Berlin: Duncker & Humblot, 2002, S. 141 ff. m. w. N. 79 Siehe Lüderssen, Resozialisierung, Tat und Schuld, Bonn: Bouvier, 2015, S. 99 ff. 80 Ebenso D. Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, in: Grünwald (Hrsg.), Festschrift für Schaffstein, Göttingen: Schwartz, S. 411 – 431 (423 f.), freilich mit sehr weitgehenden, keinesfalls zwingenden Folgerungen: „Ein spezialpräventives Verfahren müßte darauf angelegt sein, das Problemfeld zu erweitern, statt Komplexität zu reduzieren, es müßte dogmatische Regelkreise aufbrechen und empirische Methoden integrieren, es müßte erstarrte Dialogschemata preisgeben und psychologisch und soziologisch geschulte Vernehmungsfachleute einsetzen, es müßte schließlich die Symbolfigur des Richters, der nicht nur das Gesetz kennt, sondern in abgeschlossenen Beratungen mit sich selbst oder wenigen Richterkollegen das Recht zu finden weiß, ersetzen durch das Gremium von Sozialisierungsfachleuten, die ohne Robe am runden Tisch zusammen mit dem Angeklagten Bestandsaufnahme machen und das im konkreten Fall Zweckmäßige anstreben“. 81  Jahn, „Konfliktverteidigung“ und Inquisitionsmaxime, Baden-Baden: Nomos, 1998, S. 215 mit Fn. 306.

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Matthias Jahn und Charlotte Schmitt-Leonardy

können Angeklagte nach den Ergebnissen der empirischen Studien von Altenhain et. al. Urteile nach einem Verständigungsverfahren besser nachvollziehen und akzeptieren, was neben der durchschnittlich niedrigeren Strafe auch an der besseren Verständlichkeit des Verfahrens für den Angeklagten liegen dürfte.82 Nicht zuletzt bieten Verständigungen die Chance einer im Ergebnis milderen Strafe sowie einer zügigeren Erledigung, womit auch ein weniger einschneidender Eingriff in die Privat- und Intimsphäre verbunden sein dürfte.83 3. Zwischenergebnis Die Verständigung ist mit Blick auf den innerhalb der Vereinigungstheorie vorzugswürdigen Strafzweck der Resozialisierung das prozessuale Instrument der Wahl. Ob dies im gleichen Maße auch für andere moderne straftheoretische Ansätze gilt,84 muss die weitere Diskussion erweisen. III. Fazit Die Diskussion um die Integration der Verständigung in den Strafprozess macht deutlich, dass das Strafverfahren trotz der sich vermeintlich einstellenden Aufgeklärtheit in der vorherrschenden Grundhaltung immer noch von einem absoluten Wahrheits- und Richtigkeitsbegriff getragen wird. Entfernt man sich, wie der Strafprozessgesetzgeber des Jahres 2009, von dieser Praxis durch Implementierung des Konsenses, bedarf es einer differenzierteren Analyse jenseits der Chiffren Wahrheit und Gerechtigkeit durch einen inhaltlichen Rekurs auf die Perspektive eines folgenorientierten materiellen Strafrechts – dann aber kann der Konsens eine gleichwertige Legitimationsbasis für die Urteile in Strafsachen darstellen. * Ein Diskurs mit Joachim Hruschka über diesen und viele andere Gegenstände, der dem Erstverfasser an manchem Nachmittag in der kleinen Erlanger Denkschule des Juridicums bei einer Tasse Tee vergönnt war, ist nicht mehr möglich. Wir wären gespannt gewesen, was er, mit mildem Lächeln und scharfem Verstand, zu 82 Vgl. Altenhain / Dietmeier / May, Die Praxis der Absprachen im Strafverfahren, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 170. 83 Vgl. Kudlich, Erfordert das Beschleunigungsgebot eine Umgestaltung des Strafverfahrens?, Gutachten C zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. C 30 f.; Jahn / Kudlich in: Hartmut Schneider (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, München: C.H. Beck, 2016, § 257c Rn. 7. 84 Vgl. etwa Schmitz-Remberg, Verständigung und positive Generalprävention, 2014, S. 79 ff., 118 mit dem Fazit, § 257c scheine „mit der positiven Generalprävention vereinbar, wenn nicht sogar in Einzelheiten der positiven Generalprävention insgesamt zuträglich zu sein“.

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unseren Überlegungen gesagt hätte. So müssen wir uns damit begnügen, ihm diese Zeilen zum Gedächtnis zuzueignen. Summary Negotiated agreements in criminal proceedings seem to challenge the criminal proceeding “in the traditional sense”, which aims to establish “the truth” proprio motu, which is achieved by means of a comprehensive ex officio-inquiry into the facts conducted by the court during the trial. Especially the streamlining of the extensive inquiry into the facts that the court would normally have to conduct, effected via the consensual process of negotiation, has long been the subject of vivid controversies in Germany. The paper focuses on the question whether “the material truth” really exists and, if so, whether it can, and may be investigated (both in general and with the means that are available in criminal proceedings in particular). The authors propose an alternative approach to the notion of “procedural truth” that is reconstructed under the rules of criminal procedure and conclude that more consideration should be given to the fact that “procedural truth” in a criminal proceeding seem to take the shape that is relevant for the criminal punishment in the interplay with provisions of substantive criminal law.

Rechtsethische Grundüberlegungen zum Wirtschaftsstrafrecht* Dorothea Magnus

I. Einleitung In Zeiten von Abgasskandal, unzulässigen Preisabsprachen zwischen Unternehmen, Umweltverschmutzungen durch Großkonzerne, Auslagerung von Arbeit in Billiglohnländer ohne Arbeitsschutz, Untreue von Vorstandsmitgliedern, Steuerhinterziehungen in Millionenhöhen, Betrugs- und Bestechungsvorwürfen, satten Boniauszahlungen trotz Fehlverhaltens etc. stellt sich die Frage nach einer Wirtschaftsethik. Ist derartiges Verhalten mit wirtschaftsethischen Vorstellungen vereinbar? Lässt sich unternehmerisches Handeln und Handeln Einzelner so steuern, dass die Folgen gegenüber allen Betroffenen ethisch vertretbar sind? Ist von Wirtschaftsakteuren ethisches Handeln zu erwarten, gar zu verlangen? Was ist in der Wirtschaft noch als ethisches Verhalten einzustufen? Auch wenn sich viele Unternehmen zu ethischen Grundsätzen verpflichten, sei es durch interne Richtlinien oder nach außen durch eine propagierte Unternehmensphilosophie, hat diese Praxis doch offenbar weder die geschilderten Zustände und Normbrüche verhindert noch zu grundlegenden Änderungen im System geführt. Obgleich Compliance und interne Revision Haftungsrisiken in Unternehmen minimieren können, kann als wirksamste, gleichwohl letzte Steuerungsinstanz hier nur das Recht, insbesondere das Wirtschaftsstrafrecht fungieren. Dieser Bereich soll daher im Folgenden in den Blick genommen werden, auch wenn die Thematik weit darüber hinaus reicht. Da (Wirtschafts)Strafrecht ultima ratio ist, müssen die Normbrüche, so die Ausgangsthese, von einem solchen Gewicht sein, dass sie schlichtweg sozial unerträglich sind und ein friedliches Miteinander massiv stören. Die Normbrüche müssen mithin die Grenze von bloß ethischem Unrecht zu strafbarem Unrecht überschritten haben. Welche Verhaltensweisen im Wirtschaftsverkehr sind strafwürdig, welche hingegen noch tolerabel? Vor dem Hintergrund einer Wirtschaft, die stark an Wettbewerb und Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, ist offensichtlich, dass die Grenze nicht zu eng gezogen werden darf, will man den Marktmechanismus nicht unbillig behindern. Andererseits sind Verstöße, die strafrechtlich geschützte Rechtsgüter verletzen, *  Der Beitrag ist dem Gedenken des geschätzten Professors Dr. Joachim Hruschka gewidmet.

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rechtlich nicht zu akzeptieren, sondern zu sanktionieren. Lassen sich jedoch darüber hinaus auch Verletzungen ethischer Pflichten mit dem Wirtschaftsstrafrecht sanktionieren? Decken Strafrechtsnormen bereits ein genügendes ethisches Minimum ab oder sind bislang nur ethische Pflichtverletzungen inzwischen so gravierend und gemeinschädlich, dass sie strafwürdig geworden sind? Als schutzwürdig sind hier nicht nur die unmittelbar Geschädigten einer solchen Pflichtverletzung einzustufen; auch die Erhaltung der Umwelt und das Leben künftiger Generationen sind Werte, die eine möglichst sozial und ökologisch ausgerichtete Marktwirtschaft nicht gefährden sollte. Allgemeine Kriterien wie das verletzte oder gefährdete Rechtsgut, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die Grundsätze des Schuldausgleichs und der Prävention etc. entscheiden hier über die Möglichkeit der Bestrafung.1 Da Wirtschaftsstraftatbestände in verschiedenen Gesetzen verstreut zu finden sind 2, sollten zu beachtende ethische Pflichten ggfs. übergesetzlich für alle Normen des Wirtschaftsstrafrechts gelten. Zunächst ist die Frage zu untersuchen, ob es rechtsethische Überlegungen gibt, die Anspruch erheben können, zum Wirtschaftsstrafrecht allgemein zu gelten. Dann ist die Frage zu klären, ob und inwieweit sich diese Kriterien zur Bestimmung strafwürdigen Verhaltens, zur Auslegung von Straftatbeständen und bei der Strafzumessung heranziehen lassen. II. Ethische Grundsätze und das Verhältnis zum Recht Die Abgrenzung von Recht und Ethik beschäftigte seit jeher Philosophen wie Rechtswissenschaftler. Die völlige Trennung von Recht und Ethik bzw. Moral3 haben bereits Kant4 , Thomasius5 und Fichte6 vertreten. Für Kant zeigt sich die Un  Vgl. dazu auch Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2017, § 1 Rn. 10.  S. zB § 263, § 266, 331 ff. StGB; §§ 331 ff. HGB, §§ 399 ff. AktG, §§ 82 ff. GmbHG, § 38 f. WpHG, §§ 16 ff. UWG. Zur Problematik eines fehlenden abgeschlossenen Regelwerks im Wirtschaftsstrafrecht s. nur Kudlich / Oğlakcıoğlu, Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2014, 1 ff.; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht 5. Aufl. 2017, AT Rn. 1 ff., 170 ff; Wittig ­Wirtschaftsstrafrecht, § 1 Rn. 9; vgl. zum Wirtschaftsstrafrecht allg. Momsen / Grützner, Wirtschaftsstrafrecht, Handbuch für die Unternehmens- und Anwaltspraxis, 2013; Achenbach / Ransiek /  ­­Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2017; Graf / Jäger / Wittig, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2017; Leitner / Rosenau, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2017; Mansdörfer, Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011. 3  Im Folgenden wird aufgrund des Kontextes des vorliegenden Beitrags Moral als ein intrinsisch akzeptiertes Regelungssystem verstanden, nach dem Handlungen in Gut und Schlecht eingeteilt werden kö̈ nnen, während (angewandte) Ethik insbesondere die methodisch systematische Reflexion über die Moralvorstellungen beinhaltet, aus der sich praktische Handlungsanleitungen ableiten lassen. Vgl. hierzu Holzmann, Wirtschaftsethik, 2. Aufl. 2019, 3 ff., 15 f. Zur Frage, was Wirtschaftsphilosophie ist, vgl. auch Adomeit / Mohr, Rechts-und Wirtschaftsphilosophie, 4. Aufl. 2017, 256 ff. 4  Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, AA VI, 231 sowie 395. 5  Thomasius, Fundamenta iuris naturae et gentium, 1705, I, 5, § 34. 1 2

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terscheidung von Recht und Moral in seinem allgemeinen Rechtsgesetz einerseits („Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“)7 sowie dem obersten Prinzip der Tugendlehre andererseits („Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“)8. In deutlich radikalerer Form sprechen sich Vertreter des Rechtspositivismus, an erster Stelle Kelsen in seiner „Reinen Rechtslehre“, für eine Trennung und sogar Polarität von Recht und Moral aus.9 In die andere extreme Richtung gehen die meisten Naturrechtslehren, die eine Identität von Moral und Recht fordern.10 Beide Strömungen sind jedoch in ihrer Ausschließlichkeit zu extrem und nicht überzeugend. Recht und Moral haben sowohl Überschneidungen und damit identische Punkte als auch Unterschiede und damit trennende Punkte. Betrachtet man Recht und Moral von ihrem Zweck her, so lässt sich unterscheiden, dass Recht Handlungen von Menschen als richtig oder falsch bezeichnet, die ihr Zusammenleben betreffen (ad alterum), während Moral Handlungen als an sich gut oder schlecht (ab agenti), also ohne Beziehungskontext bezeichnet.11 Indem das Recht mithin immer den sozialen Bereich miteinbezieht und das soziale Miteinander der Menschen regelt, schafft es erst den Raum äußerer Freiheit. Eine moralische Pflichterfüllung kann das Recht hingegen nicht erzwingen, will es nicht zur Diktatur werden, in der Staatsmoral verordnet wird. Es kann jedoch durch die Sicherung äußerer Freiheit die Möglichkeit schaffen, dem Einzelnen Raum für die Entfaltung seiner inneren Freiheit und damit Verwirklichung seiner eigens gewählten Moral zu geben. Auch wenn Recht an ein äußeres Verhalten anknüpft, das notfalls mit Zwang durchgesetzt werden kann, und Moral eine innere stärker autonom gewählte Haltung ist, spielt doch die Gesinnung auch im Recht eine Rolle. Zwar interessiert sich das Recht – wie Kaufmann zutreffend ausführt – anders als die Moral „für das Innere nur insoweit, als es in Äußerem zur Geltung kommt“,12 doch zeigen andere Aspekte, dass die Gesinnung von Bedeutung ist. Im Strafrecht bspw. dient der Sinn der Strafe neben Sühne, Vergeltung und Schuldausgleich auch präventiv dazu, die Gesinnung in der Bevölkerung durch Normtreue (positive Generalprävention) zu stärken und den Täter zu bessern, der künftig fähig werden soll, ein Leben ohne Straftaten zu führen (positive Spezialprävention).13 Auch bei der Strafzumessung ist „die Gesinnung des Täters, die aus der Tat spricht“, ein strafschärfender bzw. strafmildernder Umstand (s. § 46 Abs. 2 StGB). Gleichwohl wäre die Forderung   Fichte, Grundlage des Naturrechts 1796/97, Einleitung II.5, 11.   Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 231. 8  Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 395. 9  Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 2. Aufl. 1960. 201. 10  S. dazu Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, 214 ff. 11  Kaufmann, Rechtsphilosophie, 214 ff. 12  Kaufmann, Rechtsphilosophie, 225. 13 Auf materieller Seite freilich darf ein „Gesinnungsstrafrecht“ nicht zur Bejahung einer Normverletzung herangezogen werden. 6 7

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nach einem „Gesinnungsstrafrecht“ unvereinbar mit unseren rechtsstaatlichen Garantien und die staatliche Verordnung einer bestimmten sozialethischen Gesinnung Ausdruck einer staatlichen Diktatur. Das Recht kann durch die Garantie der äußeren Freiheit nur ein „ethisches Minimum“14 absichern und mit diesem die Einhaltung elementarer moralischer Grundsätze. Anders wäre die Ermöglichung der Freiheit und Verhinderung der Unfreiheit aller nicht denkbar. Ein völlig wertfreies Recht, das also nicht auf Moral zielt, wie etwa von strikten Rechtspositivisten gefordert, würde das soziale Miteinander nicht gerecht regeln können. So führt die Begründung des Rechts allein über Macht, d.h. die Zwangsmittel des Staatsapparates, und den Konsens, d.h. die Anerkennung des Rechts durch die Bevölkerung, dazu, dass auch schlechthin Ungerechtes als verbindliches Recht akzeptiert werden müsste.15 Eine echte normative Geltung können solche Gesetze nicht haben. Vielmehr enthält das Recht bereits einen moralischen Grundwert in sich selbst, die Gerechtigkeit. Damit ist das Recht von der Moral nichts strikt zu trennen, sondern stellt sich als eine Ordnung moralischer Mindestbedingungen dar. Freilich kann eine Rechtsordnung nicht alle Elemente einer moralischen Ordnung enthalten, sondern muss zwingend fragmentarisch sein. Zudem kann sie, da sie sich an alle richtet, nur ein Mindestmaß an Moral voraussetzen, nämlich genau das, was von jedem Bürger für ein friedliches und soziales Miteinander erwartet werden kann. Rechtspflichten sind damit stets auch sittliche Pflichten.16 Andererseits unterliegen sie einem steten Wandel – je enger sie mit Moralvorstellungen verknüpft sind, desto stärker. Es lässt sich festhalten, dass über Rechtsnormen ein Mindestmaß an moralischen Standards verwirklicht werden kann. Dies gilt im Wirtschaftsstrafrecht ebenso wie in anderen Rechtsgebieten. Es stellt sich freilich die Frage, welchen Inhalt diese Standards gerade im Wirtschaftsstrafrecht haben bzw. haben sollen und ob dieser Mindeststandard nicht angehoben werden sollte. III. Ethischer Code of Conduct und seine Bedeutung für das Wirtschaftsstrafrecht Eine „Ökonomie ohne Ethik“, die paradigmatisch von einem sich selbst regulierenden Wirtschaftssystem ausgeht, fordern nur noch Vertreter eines mehr oder weniger vollständigen Liberalismusgedankens.17 Die wirtschaftsliberale Auffassung im Sinne Adam Smiths, dass die Verfolgung des ökonomischen Prinzips zu Freiheit und Wohlstand führt und eine „unsichtbare Hand“ den Markt lenkt18, kann indes   Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1908, 45.   Ein verheerendes Beispiel dieser Art war etwa die Rassegesetzgebung im Nationalsozialismus. 16  Im Ergebnis ebenso Kaufmann, Rechtsphilosophie, 219. 17  Vgl. hierzu Holzmann, Wirtschaftsethik, 26 ff., 29. 18  A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, 5. Aufl. 1789, deutsche Übersetzung von Recktenwald, IV. Buch, Kap. 2., 370 f. 14 15

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bei einer unbeschränkten Ökonomie zu erheblichen sozialen und ökologischen Misständen führen. Wenn mithin jeder „danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch dieses so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird“, dann fördert der Einzelne unbewusst das Allgemeinwohl und wird „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag“.19 Eine alleinige Verfolgung dieses ökonomischen Prinzips birgt jedoch die Gefahr, zu einer kapitalorientierten Machtkonzentration und letztendlich sozialen Ungerechtigkeit sowie zur Ausbeutung der ökologischen Ressourcen mit völliger Unterordnung unter das Wirtschaftsprinzip zu führen. Unsere heutige Soziale Marktwirtschaft versucht unter Anerkennung des wirtschaftlichen Prinzips die sozialschädlichen Folgen bei dessen Verfolgung zu mildern.20 1. Codes of Conduct Viele nationale und multinationale Unternehmen haben sich daher im Sinne einer „Ökonomie mit Ethik“ zu einem Verhaltenskodex (Code of Conduct) verpflichtet, der ein ethisches Verhalten der Unternehmen absichern soll. Auf internationaler Ebene gibt es insbesondere den Verhaltenskodex der Vereinten Nationen zur Gestaltung der globalisierten Wirtschaft (Global Compact) sowie die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen. Auf nationaler Ebene ist z. B. der Deutsche Kodex zur Führung börsennotierter Aktiengesellschaften (Deutscher Corporate Governance Kodex) oder die Vereinbarung über Standesregeln zur Sorgfaltspflicht von Banken u. a. zu nennen. a) Keine Bindungswirkung Diesen Verhaltenskodices ist gemein, dass sie im Gegensatz zu rechtlichen Regelungen die Unternehmen nicht mit Zwangsmitteln zu ihrer Einhaltung zwingen wollen und können. Die Kodices basieren vielmehr auf dem Prinzip der freiwilligen Selbstkontrolle. Diese Form der Selbstverpflichtung legt es weitgehend in die Hände der Unternehmen, darauf zu achten, dass die Standards eingehalten werden und sich niemand durch Umgehung einen Vorteil verschafft. Darin zeigt sich bereits die Schwäche der Codes of Conduct. Eine wirksame, von staatlicher Seite angeordnete Sanktionierung von Verstößen gibt es nicht. Ohne Zwangscharakter entfalten diese Standards keine Zwangswirkung. Ihre moralische Verbindlichkeit   A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, IV. Buch, Kap. 2, 370 f.   S. zum Ursprung der Sozialen Marktwirtschaft schon den Ordoliberalismus, der u. a. von Eucken, Böhm, L. Ehrhard und Mü̈ ller-Armack vertreten wurde. Zum Zusammenhang von Wirtschaft und Recht vgl. auch Adomeit / Mohr, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 258 ff. 19 20

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führt zu keiner unmittelbaren Verpflichtung, so dass deren Verletzung weitgehend folgenlos ist. Die gewaltige Überlegenheit, die das Recht durch den Einsatz von Zwangsmitteln hat, um den Widerstand von möglichen Tätern zu brechen bzw. bereits durch die Androhung von Rechtsfolgen oder Strafsanktionen die Rechtsunterworfenen zu einem normgemäßen Verhalten anzuhalten, hat ein Code of Conduct nicht. Er ist als sog. „soft law“ allerdings auch nicht wirkungslos. Der Verhaltenskodex ist als Teil eines Compliance Management Systems anerkannt und ist insoweit für die Mitarbeiter eines Unternehmens bindend. Grundsätzlich entwickeln, implementieren, kontrollieren und überwachen die Compliance Abteilungen von Unternehmen die von ihnen in interne Richtlinien und Vorgaben übersetzten normativen Vorgaben.21 Auch kann die Interne Revision die Compliance zum einen durch die Mitwirkung oder Übernahme von Ermittlungshandlungen im Unternehmen, zum anderen durch die systematische Prüfung der ordnungsgemäßen Implementierung und Umsetzung von Compliance-Regelungen in Niederlassungen oder verbundenen Unternehmen vor Ort sicherstellen.22 Auch wenn sich die Compliance von Unternehmen als ein wirkungsvolles Instrument der Selbstkontrolle und -regulierung erwiesen hat, sind die eigenen Sanktionierungsmöglichkeiten beschränkt und auch die eigenen Ermittlungsbefugnisse bleiben deutlich hinter denen der staatlichen Strafverfolgung zurück. Zudem reicht die Eigenkontrolle keineswegs an die Fremdkontrolle heran, selbst wenn man eine nicht-operative Verantwortlichkeit anerkennt, die allerdings auch bei externer Revision nicht mit faktischer Unabhängigkeit gleichzusetzen ist. Eine Sicherung ethischer Grundsätze allein über Compliance-Vorschriften ist daher nicht gewährleistet. b) Inhalt Was beinhalten Codes of Conduct im Wirtschaftssektor? Zunächst ist festzuhalten, dass ein Code of Conduct nicht ausschließlich das regelt bzw. regeln soll, was bereits ohnehin durch Gesetze oder aber durch eigene Verträge geregelt ist. Er soll mithin einen eigenen Anwendungsbereich haben, auch wenn sich viele der Moralund Sozialstandards auch in anderer Form in Gesetzen wiederfinden. Durch die Fülle an Verhaltenskodexes gibt es auch keinen alleinigen Standard, sondern je nach Sparte verschiedene Standards. Als Beispiele sollen hier die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen sowie der Deutscher Corporate Governance Kodex dienen.

21  Momsen / Grützner / Jakob, Wirtschaftsstrafrecht, Handbuch für die Unternehmens-und Anwaltspraxis, Kap. 2 B Rn. 4 ff.; zur Compliance s. auch Hauschka / Moosmayer / Lösler, Corporate Compliance, Handbuch der Haftungsvermeidung in Unternehmen, 3. Aufl. 2016; Makowicz (Hrsg.), Praxishandbuch Compliance Management, 18. Aktual. 2019; Benz / Heißner / John /  Mö̈ llering, in: Dölling (Hrsg.), Handbuch der Korruptionsprävention für Wirtschaftsunternehmen und öffentliche Verwaltung, 2007; Jakob, CCZ 2010, 61ff. 22  Momsen / Grützner / Jakob, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, Handbuch für die Unternehmens- und Anwaltspraxis, Kap. 2 B Rn. 6 ff.

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aa) OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen Die OECD hat Leitsätze für weltweit verantwortliches Handeln von multinationalen Unternehmen aufgestellt. Die Leitsätze sind Empfehlungen der Regierungen der derzeit 36 OECD Staaten und einiger weiterer Staaten an multinationale Unternehmen, die in und von den Teilnehmerstaaten aus operieren.23 Die Staaten sind dadurch stärker in die Unternehmensregulierung eingebunden und können über eine nationale Kontaktstelle und ein Vermittlungs- und Beschwerdesystem Verstöße gegen die Leitsätze kontrollieren und ggfs. Empfehlungen für ein Einhalten der Grundsätze aussprechen.24 Die Unternehmen müssen dafür die OECD-Leitsätze nicht selbst unterzeichnet haben oder sich zu diesen bekennen. Gleichwohl fehlen ein Sanktions- als auch ein Revisionssystem. Die OECD-Leitsätze sind daher ähnlich anderen freiwilligen Grundsätzen der Unternehmensverantwortlichkeit (Corporate Social Responsibility) rechtlich unverbindlich.25 Inhaltlich legen die Leitlinien u. a. fest, dass „die Unternehmen die Menschenrechte in jedem Land achten sollten, in dem sie ihre Geschäftstätigkeit ausüben. Die Unternehmen sollten z. B. auch Umwelt- und Arbeitsstandards respektieren und über angemessene Due-Diligence-Vorkehrungen verfügen, um dies zu gewährleisten. Dies betrifft u. a. Fragen wie die Zahlung angemessener Löhne, die Bekämpfung von Bestechungsgeldforderungen und Schmiergelderpressung sowie die Förderung eines nachhaltigen Konsums“.26 Ferner enthalten die Leitsätze neben allgemeinen Grundsätzen auch Grundsätze zur Offenlegung von Informationen, zu Menschenrechten, zur Beschäftigung und den Beziehungen zwischen den Sozialpartnern, zur Umwelt, zu den Verbraucherinteressen, zu Wissenschaft und Technologie, zum Wettbewerb und zur Besteuerung. Die Grundsätze entsprechen dem geltenden Recht und international anerkannten Normen. Sie sollen ein verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln in einem globalen Kontext ermöglichen. So heißt es in den OECD-Leitsätzen: „Die Empfehlungen der Leitsätze bringen die gemeinsamen Werte der Regierungen der Länder zum Ausdruck, aus denen ein Großteil der internationalen Direktinvestitionen stammt und in denen viele der größten multinationalen Unternehmen ansässig sind. Die Leitsätze zielen darauf ab, den positiven Beitrag zu fördern, den die Unternehmen zum ökonomischen, ökologischen und sozialen Fortschritt weltweit leisten können“.27 Die OECD fordert die Unternehmen auf, mit den Regierungen auf transparente Weise bei der Konzipierung und 23  OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, OECD, 2011, einsehbar unter: http:// dx.doi.org/10.1787/9789264122352-de sowie www.ilibrary-oecd.org. 24  So hat bspw. die im deutschen Bundeswirtschaftsministerium angesiedelte nationale Kontaktstelle u. a. Beschwerden gegen Bayer, Adidas, Continental, Ratiopharm und andere Unternehmen erhoben. 25 Die im deutschen Bundeswirtschaftsministerium angesiedelte Kontaktstelle hat zwar Beschwerden z. B. gegen Bayer, Adidas, Continental, Ratiopharm und andere Unternehmen erhoben, jedoch ohne strafrechtliche Konsequenzen. 26  OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, www.ilibrary-oecd.org. 27  OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, 2011, 3.

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Umsetzung politischer Maßnahmen und gesetzlicher Bestimmungen zusammenzuarbeiten.28 bb) Deutscher Corporate Governance Kodex Der von der Regierungskommission „Deutscher Corporate Governance Kodex“ erstmals 2002 erarbeitete Kodex stellt nicht nur wesentliche gesetzliche Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften dar, sondern er enthält international und national anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung: „Der Kodex hat zum Ziel, das deutsche Corporate Governance System transparent und nachvollziehbar zu machen. Er will das Vertrauen der internationalen und nationalen Anleger, der Kunden, der Mitarbeiter und der Öffentlichkeit in die Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften fördern. Der Kodex verdeutlicht die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat, im Einklang mit den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen (Unternehmensinteresse). Diese Prinzipien verlangen nicht nur Legalität, sondern auch ethisch fundiertes, eigenverantwortliches Verhalten (Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns)“.29 Der Kodex enthält Regelungen, wie Vorstand und Aufsichtsrat zum Wohle des Unternehmens eng zusammenarbeiten, Interessenkonflikte vermeiden und Transparenz erreich können. So gilt bspw. für die Transparenz des Unternehmens, dass die Gesellschaft „die Aktionäre bei Informationen unter gleichen Voraussetzungen gleichbehandeln (soll). Sie soll ihnen unverzüglich sämtliche wesentlichen neuen Tatsachen, die Finanzanalysten und vergleichbaren Adressaten mitgeteilt worden sind, zur Verfügung stellen“; „im Rahmen der laufenden Öffentlichkeitsarbeit sollen die Termine der Veröffentlichungen der Geschäftsberichte und unterjährigen Finanzinformationen sowie der Hauptversammlung, von Bilanzpresse- und Analystenkonferenzen in einem „Finanzkalender“ mit ausreichendem Zeitvorlauf auf der Internetseite der Gesellschaft publiziert werden“.30 Gerade diese Transparenzrichtlinien sind jedoch nur Empfehlungen, d.h. die Gesellschaften können hiervon abweichen. Allerdings sind sie dann verpflichtet, dies jährlich offenzulegen und die Abweichungen zu begründen („comply or explain“). Ob dies – wie vom Kodex unterstellt – wirklich den Gesellschaften die Berücksichtigung branchenoder unternehmensspezifischer Bedürfnisse ermöglicht, ist fragwürdig. Gerade diese Flexibilisierung und Selbstregulierung kann dazu führen, dass die Gesellschaften die für sich sehr sinnvollen Reglungen des Kodexes nicht einhalten. Außerhalb der Empfehlungen und Anregungen enthält der Kodex weitgehend nur   OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, 2011, 24.   Deutscher Corporate Governance Kodex, 2017, 1, einsehbar unter: www.dcgk.de. Die am 9. 5. 2019 aktualisierte Version ist noch nicht im Bundesanzeiger veröffentlicht, so dass solange noch die Fassung aus dem Jahr 2017 gilt. 30  Deutscher Corporate Governance Kodex, 2017, 13. 28 29

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Beschreibungen schon bestehender gesetzlicher Vorschriften und Erläuterungen. Börsennotierte Aktiengesellschaften müssen durch ihren Vorstand und Aufsichtsrat jährlich erklären, inwieweit sie den Kodex befolgen (s. § 161 AktG). Erklärt der Aufsichtsrat oder die Hauptverhandlung wahrheitswidrig, der Kodex werde in einem bestimmten Punkt erfüllt, so kann dieser Beschluss von einem Gericht für nichtig erklärt werden.31 So hat das OLG München entschieden, dass „wenn der Aufsichtsrat der Hauptversammlung einen Beschlussvorschlag unterbreitet, der inhaltlich im Widerspruch zu den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex steht, denen er sich durch veröffentlichte Erklärungen uneingeschränkt unterworfen hatte, er verpflichtet ist, die geänderte Absicht auch unterjährig, zumindest gleichzeitig mit dem Beschlussvorschlag bekannt zu machen. Dies gebietet der Vertrauensschutz der Aktionäre. Ein Verstoß hiergegen verletzt die Vorschrift des § 161  AktG, begründet die Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses und die Anfechtbarkeit des auf dieser Grundlage gefassten Beschlusses der Hauptversammlung“.32 Der Kodex wurde am 9. Mai 2019 aktualisiert und beinhaltet nun u. a. neue Regelungen zur Vorstandsvergütung sowie Konkretisierungen der Anforderungen an die Unabhängigkeit von Anteilseignervertretern im Aufsichtsrat.33 2. Die Bedeutung der Codes of Conduct für das Wirtschaftsstrafrecht Bislang spielen die Codes of Conduct wie etwa die OECD-Leitsätze und der Deutsche Corporate Governance Kodex im Wirtschaftsstrafrecht keine wesentliche Rolle. Die Strafverfolgungsbehörden können Verletzungen der Codes of Conduct nicht selbstständig verfolgen, solange nicht die Grenze zur Strafbarkeit überschritten ist. Ist allerdings diese Grenze überschritten, gehen mit der verfolgbaren Straftat idR auch Verletzungen der ethischen Grundsätze einher. Das ist in einigen Fällen geschehen. So hat VW in dem aktuellen Abgasskandal neben Betrugs-und Untreuestraftaten auch unverhältnismäßige Umweltverschmutzungen begangen, die gegen die ethischen Grundsätze der OECD-Guidelines zum Schutz der Umwelt und des Klimas, der Nachhaltigkeit und des Erhalts der Lebensbedingungen für zukünftige Generationen verstoßen. VW ist ein multinationales Unternehmen, das global agiert und für das die OECD-Grundsätze gelten, da Deutschland als Mitgliedstaat diese unterschrieben hat. Gleichwohl spielte die Verletzung der OECD-Grundsätze bei der in Deutschland verhängten Geldbuße zumindest explizit keine Rolle. Ob die möglicherweise zu erwartenden Strafurteile gegen die Vorstandsmitglieder   OLG München NZG 2009, 508.   OLG München NZG 2009, 508 = EWiR 2009, 259 mit Bespr. Pluskat / Sorika; FD-MA 2009, 274908 mit Bespr. Buhmann/ Todorova. 33  Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, 2019, www.dcgk.de. 31 32

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von VW die Verletzung des Code of Conduct mit aufgreifen, bleibt mehr als ungewiss. In einem großen Wirtschaftsstrafverfahren, dem sog. Siemens-ENEL-Fall, in dem bei Siemens ein Netz von geheimen Konten im Ausland (schwarze Kassen) existierte, um dort Bestechungsgelder für lukrative Aufträge zu zahlen, kam es zwar zu einer Verurteilung mit der kaufmännischen Leitung betrauter Personen, welche trotz Kenntnis die schwarzen Kassen nicht in die offizielle Buchhaltung der Siemens-AG einstellten, den Vorstand des Unternehmens nicht informierten, sondern sie für „nützliche Aufwendungen“ zur Erlangung von Aufträgen nach eigenem Gutdünken verwendete.34 Dass dieses Verhalten gegen die Grundsätze einer guten Unternehmensführung nach dem Deutscher Corporate Governance Kodex ebenso wie gegen eigene interne Anweisungen des Unternehmens selbst (schwarze Kassen waren nach der Geschäftspolitik strikt verboten) und damit die Selbstverpflichtung zu ethischen Grundsätzen verstießen, kommt weder bei der Begründung der Pflichtverletzung der einschlägigen Untreue noch im Rahmen der Strafzumessung im Urteil zum Ausdruck. In einem weiteren bedeutenden Wirtschaftsstrafverfahren, dem sog. Mannesmann-Fall, kam es zu einer Anklage der Aufsichtsratsmitglieder der Mannesmann-AG, u. a. des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank Ackermann, da sie kompensationslose Anerkennungsprämien der früheren Mannesmann AG bewilligten und dadurch einen Schaden von ca. 58 Millionen Euro verursachten.35 Grund dafür waren die Leistungen im Hinblick auf den Übernahmekampf mit der vodafone plc, die gute Ertragslage des Unternehmens und die Steigerung des Aktien- und Unternehmenswertes, die durch die Prämie gewürdigt werden sollten. Kompensationslose Anerkennungsprämien sind im Dienstvertrag nicht vereinbarte Sonderzahlungen für eine dienstvertraglich geschuldete und durch das vertragliche Entgelt an sich abgegoltene Leistung, die ausschließlich belohnenden Charakter haben und der Mannesmann-Gesellschaft keinen zukunftsbezogenen Nutzen bringen konnten; sie sind bereits dem Grunde nach – unabhängig von der Höhe – unzulässig. Sie verstoßen nach heutigem Recht nicht nur gegen Gesellschaftsrecht, sondern auch gegen den jetzigen Deutschen Corporate Governance Kodex und die OECD-Grundsätze zur fairen Vergütung. Trotz des rechtswidrigen und unethischen Verhaltens kam es zur Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen, insbesondere gegen eine Zahlung von 5,8 Millionen, was den Vorwurf laut werden ließ, dass sich hier „Wirtschaftsbosse freikauften“. Obgleich die Voraussetzungen der mittäterschaftlichen Untreue gem. § 266 I, 25 II StGB (Aufsichtsratsmitglieder) bzw. Beihilfe zur Untreue gem. § 266 I, 27 StGB (begünstigter Vorstandsvorsit34  BGHSt 52, 323, Urteil v. 29.. 8.. 2008, NStZ 2009, 95 mit Anm. Knauer; NJW 2009, 89 mit Anm. Ransiek; JuS 2009, 173 mit Anm. Jahn; EWiR 2009, 253 mit Bespr. Marxen; JA 2009, 233 mit Bespr. Bosch; FD-StrafR 2008, 271138 mit Bespr. Knierim. 35  BGHSt 50, 331, Urteil v. 21.. 12.. 2005, NJW 2006, 522; NStZ 2006, 214 mit Anm. Rönnau; JZ 2006, 560 mit Anm. Hocke / Vogel; EWiR 2006, 187 mit Anm. Geuter / Reiner; JA 2006, 171 mit Anm. Kudlich; JuS 2006, 379 mit Anm. Jahn.

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zender der Mannesmann-AG) vorlagen, wurden die Verstöße gegen die Codes of Conduct weder bei der Pflichtverletzung der Untreue noch bei der Strafzumessung thematisiert oder besonders berücksichtigt. Die Reihe von Wirtschaftsstrafverfahren, in denen die Täter neben den Strafvorschriften auch in Codes of Conduct fixierte, ethische Grundsätze massiv verletzt haben, ließe sich beliebig fortsetzen. Gleichwohl werden die ethischen Pflichtverstöße im Wirtschaftsstrafrecht nicht gesondert sanktioniert, sondern allenfalls mit der Strafbarkeit des begangenen Delikts mitsanktioniert. Ein ethisches Minimum ist zwar bereits durch die Strafrechtsnormen mit abgedeckt, doch über die Wirtschaftsdelikte hinausgehende Verletzungen ethischer Standards bleiben bislang ohne Bedeutung. Das liegt nicht zuletzt an der fehlenden Rechtsverbindlichkeit der Grundsätze der Codes. Geht man jedoch – wie oben ausgeführt – davon aus, dass Recht von der Moral nichts strikt zu Trennendes, sondern eine Ordnung moralischer Mindestbedingungen ist, dann sollten schwerwiegende Verletzungen fixierter und weithin anerkannter moralischer bzw. ethischer Standards, die mit der Wirtschaftsstraftat verbunden sind, auch im Recht nicht gänzlich folgenlos bleiben. Wie können jedoch Verletzungen moralischer Grundsätze wie in den aufgeführten Fällen bei Wirtschaftsstraftaten stärker geahndet werden? Wie lässt sich erreichen, dass die Codes of Conduct kein zahnloser Tiger und ihre Anerkennung durch Wirtschaftsunternehmen nicht nur ein Lippenbekenntnis sind, sondern dass sie im Wirtschaftsstrafrecht Berücksichtigung finden? Hierzu bieten sich vor allem drei Wege an, die im Folgenden erwogen werden sollen. IV. Übertragung der ethischen Prinzipien auf das Wirtschaftsstrafrecht 1. Berücksichtigung ethischer Standards bei der Bestimmung des Rechtsgutes und der Schaffung neuer Vorschriften Zum einen ist eine Berücksichtigung ethischer Prinzipien bei der Bestimmung des Rechtsgutes zu erwägen. Hier sei noch einmal daran erinnert, dass aufgrund des ultima ratio-Prinzips und seiner fragmentarischen Natur das Strafrecht nur zum Schutz derjenigen Rechtsgüter eingesetzt werden darf, die für das Miteinander der Menschen unentbehrlich sind und die auf andere Weise als durch das Strafrecht nicht wirksam geschützt werden können. Insoweit ist der Einsatz des Strafrechts nur dort, wo es zum Schutz der Gesellschaft unbedingt notwendig ist, Ausdruck eines Subsidiaritätsprinzips.36 Eine Garantie „sozialethischer Gesinnungswerte“ hingegen, wie dies in Diktaturen und totalitären Staaten vorkommt, ist mit einem solchen Verständnis von Strafrecht nicht vereinbar. Im Wirtschaftsstrafrecht darf es daher nicht um den Schutz bloß ethischer Gesinnungen als solcher gehen. 36

  Kaufmann, Rechtsphilosophie, 225.

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Die (moralischen) Gesinnungen gehen das Recht nur insoweit etwas an, als sie im Verhalten nach außen getreten sind.37 Daher kann der Staat über den Rechtsgüterschutz nur mittelbar Moralität gewährleisten und zwar nur im Hinblick auf ein solches Verhalten, das sich als sozialschädlich erweist. Somit scheiden auch solche ethischen Grundsätze zur Bestimmung von Rechtsgütern aus, die nicht für das friedliche Miteinander der Menschen unbedingt notwendig sind. Vielmehr muss es auch hier um solche Prinzipien gehen, die für den Rechtsfrieden unentbehrlich sind und auf andere Weise als durch das Strafrecht nicht geschützt werden können. Daraus folgt, dass aus den Codes of Conduct im Wirtschaftssektor, wollte man diese als Grundlage für ethische Pflichten nehmen, eine Auswahl der Grundsätze getroffen werden muss, die als unbedingt notwendig anzuerkennen sind. Eine denkbare Möglichkeit wäre, dass der Strafgesetzgeber dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Grundsätze aus den Codes of Conduct zur Bestimmung neuer Strafvorschriften heranzieht und neue Schutzgüter anerkennt. So sind z. B. Menschenrechtsverletzungen bei der Verfolgung von Wirtschaftsinteressen bspw. in den Rohstoffherkunftsländern oder den Ländern, welche die Waren produzieren, strafwürdiges Unrecht und sollten, sofern nicht bereits geschehen, unter Strafe gestellt werden. Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Arbeit ohne sichere und gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen, Überschreitung der zulässigen und gesundheitlich erträglichen Arbeitszeitdauer, Diskriminierung bei der Einstellung in die Arbeit, Verbote der Gründung von Arbeitnehmerorganisationen etc. sind ethisch verwerflich und strafwürdiges Unrecht. Doch stellen sich in zweierlei Hinsicht Probleme. Zum einen sind Verletzungen ethischer Prinzipien, die ein Maß an Strafwürdigkeit erreicht haben, in der Regel schon von Strafvorschriften erfasst. Nur wo noch Lücken bestehen, können und sollten diese geschlossen werden. In vielen Fällen ist es eher ein Problem der mangelnden Strafverfolgung, wenn solche Taten folgenlos bleiben.38 Hinzu kommt ferner häufig eine internationale Komponente: die Verletzungen ethischer Standards ereignen sich oft in Staaten mit anderer Rechtsordnung, in die nicht ohne weiteres hineingewirkt werden kann.39 In anderer Hinsicht ist es ebenso problematisch, die Rechtsgüter schon bestehender Vorschriften zu erweitern. Auch wenn eine innere Verknüpfung zwischen der Ausübung von Wirtschaftsmacht und der Verletzung ethischer Standards bestehen kann, lassen sich nicht einfach Rechtsgüter zu bestehenden Vorschriften wie bspw. Vermögensdelikten addieren. Eine Berücksichtigung ethischer Prinzipien auf der Ebene des Rechtsgüterschutzes ist daher kaum zielführend. Zur Schaffung neuer Vorschriften lassen sich im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips ethische Prinzipien nur berücksichtigen, sofern die Grenze zu einem noch nicht erfassten strafwürdigen Verhalten überschritten ist. Dass man hier allerdings die Grenze allgemein etwas absenken sollte, sofern die Verletzung ethischer Standards gravierend und sozialschädlich ist, ist ein Gedanke, der sich durchaus dis  Kaufmann, Rechtsphilosophie, 225.   S. sogleich unter IV.2. 39  S. dazu noch unten IV.2.b). 37 38

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kutieren lässt. Auf diesem Wege könnte der Gesetzgeber nicht nur das ethische Minimum in Rechtsvorschriften absichern, sondern im beschränkten Umfang auch darüber hinaus gehen. 2. Berücksichtigung ethischer Standards bei der Auslegung und Anwendung von Strafvorschriften a) Mögliche Heranziehung der Codes of Conduct bei der Anwendung von Vorschriften des Wirtschaftsstrafrechts Angesichts der Schwierigkeit, ethische Aspekte auf der Ebene des Rechtsgüterschutzes und bei der Schaffung neuer Vorschriften zu berücksichtigen, ist zu überlegen, ob sie sich jedoch zur Auslegung bestehender Strafvorschriften heranziehen lassen. Die Rechtsprechung könnte bei der Auslegung wirtschaftsstrafrechtlicher Vorschriften eine Verletzung der vom Gesetzgeber nach dem Subsidiaritätsprinzip ausgewählten ethischen Grundsätze heranziehen. Als Beispiel sei hier als zentrale Vorschrift des Wirtschaftsstrafrechts die Untreue gem. § 266 StGB angeführt. Als Tatbestandsvoraussetzung setzt die Untreue eine Pflichtverletzung voraus. § 266 StGB konkretisiert die zu verletzende Pflicht jedoch nicht näher, so dass sich diese auch aus zivil- oder öffentlich-rechtlichen Normen ergeben kann und im Einzelfall zu bestimmen ist. Pflichtwidrig sind jedoch nur Verstöße gegen vermögensschützende Normen oder Obliegenheiten.40 Auch spezifisch geregelte Sorgfaltsmaßstäbe können nachrangig in Betracht kommen wie zB die im Verkehr übliche Sorgfalt (bspw. §§ 665, 677, 27 III, 713 BGB).41 Nun gibt es in den Codes of Conduct im Wirtschaftssektor, wollte man auch diese wieder zur Grundlage für ethische Standards nehmen, auch eine Reihe an Grundsätzen, die dem Vermögensschutz dienen. So enthalten bspw. die OECD-Grundsätze Vorschriften über eine faire Vergütung der Arbeitnehmer im In- und Ausland oder der Deutsche Corporate Governance Kodex Vorschriften über eine angemessene und transparente Vergütung der Vorstandsmitglieder etc. Verstößt ein Unternehmen dagegen, kommt es etwa zu einer satten Boni-Auszahlung trotz Fehlverhaltens oder werden die Mindestlöhne in den Zulieferländern nicht gezahlt, kann und sollte eine solche Verletzung dieser Grundsätze bei der Pflichtverletzung im Rahmen von § 266 StGB mitberücksichtigt werden. Einschränkend ist jedoch eine gravierende Pflichtverletzung zu fordern. So bejaht die jüngere Rechtsprechung bei § 266 StGB eine Pflichtverletzung nur dann, wenn sie gravierend ist.42 Dieses 40  BGH NJW 3253, 3256; BGHSt  56, 203, 211 = NJW 2011, 1747 = NStZ 2011, 403; BGH NJW 2016, 2585 = wistra 2016, 314, 324. 41  MK-StGB / Dierlamm, 3. Aufl. 2019, § 266 Rn. 170; Spickhoff / Schuhr, 3. Aufl. 2018 Medizinrecht § 266 Rn. 20. 42  Vgl. BGHSt 47, 148, 152 f. = NJW 2002, 1211; BGHSt 47, 187, 197 = NJW 2002, 1585; s. aber auch BGHSt 50, 331, 343 ff. = NJW 2006, 522; BGH NStZ 2006, 221; BGHSt 56, 203, 213 = NJW 2011, 1747 = NStZ 2011, 403; BGH NJW 2016, 2585 = wistra 2016, 314, 321.

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Erfordernis dient dem notwendigen Zweck, den weiten Tatbestand sinnvoll einzuschränken.43 Auf diese Weise lassen sich die gesetzlichen, vertraglichen oder hoheitlichen Pflichten, welche die Gerichte zur Auslegung der Pflichtverletzung bei § 266 StGB heranziehen, erweitern um den Verstoß gegen Pflichten aus den Codes of Conduct. Dass die Codes of Conduct zum Teil auch bereits bestehende gesetzliche Regelungen aufgreifen, steht dem nicht entgegen, sondern verstärkt noch einmal das Gewicht, eben diese Standards bei der Auslegung des Untreuetatbestandes und anderer wirtschaftsstrafrechtlicher Vorschriften zu beachten. Auch beim zentralen Wirtschaftsdelikt des Betruges gem. § 263 StGB ließe sich im Rahmen seiner Voraussetzungen eine Täuschung annehmen, wenn der Verantwortliche eines Unternehmens vorgespiegelt hat, die ethischen Standards einzuhalten, zu denen sich das Unternehmen verpflichtet hat, und die im Vertrauen darauf vorgenommene Vermögensverfügung der betroffenen Vertragspartei, z. B. deren Arbeitsleistung bei Auslagerung von Arbeit ohne Arbeitsschutz und ohne Einhaltung von Sozialstandards in Billiglohnländer, zu einem wirtschaftlichen Schaden bei den Arbeitnehmern der Vertragspartei geführt hat. Dasselbe muss etwa auch bei unzureichender Zahlung von Löhnen gelten, die die Lebenshaltungskosten nicht decken, oder bei Lohnkürzungen, die als Disziplinarmaßnahme getarnt verhängt werden. Die Reihe weiterer Vorschriften des Wirtschaftsstrafrechts, bei deren Auslegung oder Anwendung die Codes of Conduct herangezogen werden können, ließe sich ohne weiteres fortsetzen. Es zeigt sich folglich, dass grundsätzlich bei der Auslegung und Anwendung von Wirtschaftsvorschriften ethische Standards berücksichtigt werden können. Allerdings ist zu betonen, dass für eine solche Berücksichtigung recht hohe Hürden zu beachten sind: es muss sich um Verstöße gegen fixierte und weithin anerkannte Pflichten handeln; diese Pflichten müssen für den jeweiligen Bereich grundlegende Bedeutung haben; der Verstoß gegen sie muss gravierend sein. Die inhaltlichen Vorgaben lassen sich auch hier wieder den genannten Codes of Conduct entnehmen. b) Fehlende Durchsetzung der Codes of Conduct wegen Unabhängigkeit der Kapitalgesellschaften Doch häufig dürfte die mögliche Durchsetzung ethischer Grundsätze auf der Ebene der Strafverfolgung scheitern. Gerade bei Taten von Unternehmen, die mit Subunternehmen oder Zulieferfirmen im Ausland kooperieren und die ein besonders Potential der Verletzung ethischer Standards aufweisen, ist die grundsätzliche Unabhängigkeit der Kapitalgesellschaften voneinander zu beachten. Halten etwa Firmen im Ausland die Arbeitsschutzbedingungen oder Sicherheitsauflagen nicht ein, kann dieser Verstoß nicht (ohne weiteres) dem deutschen Unternehmen, das 43  So BVerfG NJW 2010, 3209, 3215; vgl. dazu auch Esser / Rübenstahl / Saliger / Tsambikakis / Saliger, Wirtschaftsstrafrecht § 266 Rn. 46 ff.; vgl. aber auch Schünemann, NStZ 2005, 473, 475.

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seinen Sitz in Deutschland hat und sich der ausländischen Firma als Zulieferer bedient, zugerechnet werden. So hat sich zum Beispiel bei dem sog. KiK-Verfahren, bei dem erstmals ein deutsches Unternehmen (zivilrechtlich!) in Haftung für Sicherheitsmängel bei seinem ausländischen Lieferanten genommen werden sollte, die Schwierigkeit dieses Unterfangens gezeigt. Ein Brand in der pakistanischen Näherei Ali Enterprises aufgrund von Sicherheitsmängeln im September 2012 und der Zusammenbruch der Fabrik Rana Plaza in Bangladesch im Jahr 2013 hat zu über 1100 Toten geführt.44 Hauptauftraggeber war die deutsche Textilfirma KiK. Das Verfahren sollte in Deutschland nach pakistanischem Recht abgewickelt werden. Aufgrund Verjährung wurde die zivilrechtliche Klage letztendlich abgewiesen. KiK zahlte symbolisch eine Summe als Schmerzensgeld an die Betroffenen und Hinterbliebenen. Ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung wurde nicht eingeleitet. Ob ein solches erfolgreich sein würde, lässt sich aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Selbständigkeit der deutschen und pakistanischen Firma und der damit einhergehenden Trennung der Verantwortlichkeitsbereiche bezweifeln.45 Gerade bei multinationalen Unternehmen, die mit Zulieferunternehmen in Ländern kooperieren, in denen andere Standards und anderes Recht gelten, kann die Durchsetzung der hiesigen Standards und eine Strafverfolgung schwierig sein. Ist das Unternehmen indes auf Deutschland beschränkt, besteht diese Schwierigkeit hingegen nicht. Auch sei die Überlegung zulässig, die multinationalen Unternehmen nicht völlig von ihrer – ggfs. auch strafrechtlichen – Verantwortlichkeit für die Firmen freizustellen, mit denen sie kooperieren. 3. Berücksichtigung ethischer Standards im Rahmen der Strafzumessung Fraglich ist, ob sich ethische Standards bei der Strafzumessung heranziehen lassen. Im Rahmen schuldangemessenen Strafens ist eine „uneingeschränkte Orientierung an den gesellschaftlich anerkannten Grundwerten und Normen, wie sie sich angesichts der konkreten Tat und der jeweiligen Täterpersönlichkeit in der Gerechtigkeitswertung der Allgemeinheit deutlich machen“46, unverzichtbar. Eine systematische oder wiederholte Nichtbestrafung von Verletzungen der gesellschaftlich anerkannten Grundwerte birgt im Sinne eines sozialen Schuldverständ44  Jabir ua / Kik Textilien und Non-Food GmbH (LG Dortmund, Beschl. v. 29. 8. 2016 – 7 O 95/15, BeckRS 2016, 125771); Heinlein, NZA 2018, 276. 45  Vgl. darüberhinaus zu Haftungsstrukturen im Unternehmen einerseits und spezifischen Strafbarkeitsrisiken bei Gründung, Betrieb und Beendigung eines Unternehmens sowie beim Unternehmenskauf andererseits Momsen / Grützner / Momsen, Wirtschaftsstrafrecht, Handbuch für die Unternehmens-und Anwaltspraxis, Kap. 1 C. 57 ff. sowie D. 87 ff. 46  Kindhäuser / Neumann / Paeffgen / Streng, StGB, 5. Aufl. 2017, § 46 Rn. 20; s. auch Streng, ZStW 101 (1989), 273, 286 ff.; ders. FS Schünemann, 2014, 827, 840; Jescheck / Weigend, 5. Aufl. 1996, AT § 82 IV Nr. 2; Frisch FS Kaiser, 1998, 765, 768; LK-StGB / Theune, 12. Aufl. 2006, § 46 Rn. 36; LK-StGB / Weigend, 12. Aufl. 2007, Einl. Rn. 64 ff.

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nisses die Gefahr, dass die allgemeine Bereitschaft in der Bevölkerung, Normen zu befolgen, in Frage gestellt wird.47 Die anerkannten Grundwerte lassen sich auf einen Konsens über ein Mindestmaß an moralischen Standards zurückführen. Sofern dieser Konsens nicht ohnehin schon in Gesetzen seinen Ausdruck gefunden hat, stören auch nicht von Gesetzen erfasste Verletzungen von Grundwerten das Normbewusstsein der Allgemeinheit empfindlich. Ist der Verstoß gegen eine ethische Norm gravierend, sollte dieser daher nicht folgenlos bleiben. Dies wäre bei Verstößen gegen zentrale ethische Grundsätze der Codes of Conduct im Wirtschaftssektor der Fall. Deren Prinzipien sind entweder von den Regierungen der Mitgliedstaaten (wie etwa bei den OECD-Grundsätzen oder dem Verhaltenskodex der Vereinten Nationen zur Gestaltung der globalisierten Wirtschaft (Global Compact) etc.) oder von den Wirtschaftsunternehmen (wie etwa dem Deutschen Corporate Governance Kodex von allen börsennotierten Unternehmen) allgemein anerkannt. Eine Nichtbestrafung bei wiederholtem und systematischem Verstoß gegen die Grundsätze würde, zumindest im Bereich der Wirtschaft, die Gefahr in sich bergen, dass auch andere Akteure des Wirtschaftssektors die Grundsätze missachten. Dieser Nachahmereffekt hat sich bereits in verschiedenen Fällen gezeigt wie z. B. in dem Abgasskandal, in den nicht nur VW, insb. Audi, Porsche, Seat, Škoda und Volkswagen, sondern auch Mercedes-Benz und Opel verwickelt sind (benutzt ein Hersteller eine manipulierte Software, um Abgaswerte zu verändern und sich dadurch einen Marktvorteil zu verschaffen, ziehen andere Hersteller nach). Unabhängig von den Möglichkeiten, ethische Prinzipen bei der Auslegung und Anwendung von Strafvorschriften zu beachten, kommt auch in Betracht, ihre Verletzung auf der Ebene der Strafzumessung mitzuberücksichtigen. Dazu müssen die Prinzipen zum einen Gegenstand der Strafzumessung und damit der Strafzumessungsschuld iSd § 46 Abs. 1 StGB sein und zum anderen auch von den Strafzumessungsumständen des § 46 Abs. 2 StGB erfasst werden. a) Ethische Prinzipien als Gegenstand der Strafzumessungsschuld Zu der Frage, ob die ethischen Prinzipien Gegenstand der Strafzumessungsschuld iSd § 46 Abs. 1 StGB sind, lässt sich folgendes sagen: Versteht man mit dem BGH Schuld als persönliche Vorwerfbarkeit48, an welcher der BGH auch in Hinblick auf die Schuld als Grundlage der Strafzumessung festhält, so enthält dieser Begriff bereits moralisierende Vorwurfselemente. 49 Gegenstand dieses Vorwurfs können, so lässt sich annehmen, gerade auch als Teil dieser moralisierenden 47  S. zu diesem in der Lehre herrschendem sozialen Schuldverständnis Venzlaff / Foerster /  Schreiber / Rosenau, Psychiatrische Begutachtung, 2015, 89, 92 ff.; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 2012, Rn. 14 ff.; ferner Krümpelmann,  GA 1983, 337 ff.; MK-StGB / Radtke,  3. Aufl. 2016, Vor § 38 Rn. 22.  48  Vgl. BGHSt 2, 194, 200; ferner BGH StV 1982, 335. 49  Kindhäuser / Neumann / Paeffgen / Streng, StGB, 5. Aufl. 2017, § 46 Rn. 19.

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Vorwurfselemente, gravierende ethische Verfehlungen sein. Allerdings darf nach bislang hM die Strafzumessung nicht etwa nur allgemein moralisierende Vorwürfe im Sinne einer Charakterschuld oder Lebensführungsschuld erfassen.50 Ob und inwieweit die Schuldbewertung die Täterpersönlichkeit (und damit dessen Charakter) und sein Vor- bzw. Nachtatverhalten (und damit seine Lebensführung) überhaupt miteinbeziehen kann, ist, abgesehen von den nicht eindeutigen Hinweisen in § 46 Abs. 2 StGB unklar und vom Gesetz nicht festgelegt.51 Allgemein tendiert die vorherrschende Meinung jedoch zur Tatschuld, also dazu, die Täterpersönlichkeit allenfalls in die Schuldbewertung mit einzubeziehen, sofern sie sich in der Tat unmittelbar ausgewirkt hat.52 Ob man nun dem Schuldbegriff der persönlichen Vorwerfbarkeit des BGH oder dem sozialen Schuldverständnis der hM folgt, welche die anerkannten Grundwerte und die Normbefolgungsbereitschaft der Allgemeinheit in den Blick nimmt und die Tatschuld zur Grundlage des Schuldbegriffs macht, in allen Fällen lassen sich gravierende ethische Verletzungen durchaus als Gegenstand der Strafzumessungsschuld verstehen und erklären. Obgleich selbstverständlich, sei doch an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass der Schuldvorwurf nur natürliche Personen treffen kann. Solange in Deutschland das Schuldstrafrecht in jetziger Fassung weiter existiert, können juristische Personen und damit Wirtschaftsunternehmen als solche nicht strafbar sein. Die Strafe und damit auch die angemessene Strafbemessung trifft allein die hinter ihnen stehenden verantwortlichen Täter. b) Ethische Prinzipien als Gegenstand der Strafzumessungsumstände Zur anderen Frage, ob die ethischen Prinzipien auch von den Strafzumessungsumständen des § 46 Abs. 2 StGB erfasst sind, ist folgendes anzumerken: Es treffen mehrere strafschärfende Strafzumessungsumstände und einige ggfs. entlastende Strafzumessungsumstände auf die Verletzung von ethischen Prinzipien im Wirtschaftsbereich zu. Zunächst können die „Beweggründe und die Ziele“ der verantwortlichen Täter als Motive des Täters auf deliktische und nicht-deliktische Handlungsfolgen gerichtet sein.53 Wie schon betont, ist ein Minimum ethischer 50  S. hierzu Engisch  Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 1963, 44 ff.; Burkhardt in: Lüderssen / Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht. Erster Teilband, 1980, 103 ff.; Ebert, FS Kühl, 2014, 137 ff. 51  Kindhäuser / Neumann / Paeffgen / Streng, StGB, § 46 Rn. 19 mit Verweis u. a. auf Schaffstein, FS Gallas, 1973, 99, 109 ff. 52  S. nur Stratenwerth Tatschuld und Strafzumessung,1972, 29 ff.; auch Hönig, Die strafmildernde Wirkung des Geständnisses im Lichte der Strafzwecke, 2004, 121 ff., 125; ­Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung. Eine kritische Untersuchung über das Verhältnis von Schuld und Prävention, 2008, 192 ff., 201 f.; Maurach / Gössel / Zipf / Dölling,  8. Aufl. 2014, AT 2 § 63 Rn. 6 ff. 53  Kindhäuser / Neumann / Paeffgen / Streng, StGB, § 46 Rn. 52.

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Prinzipien bereits in den Rechtsnormen enthalten und damit bei Rechtsverletzungen ebenfalls verletzt. Es gibt jedoch auch ethische Prinzipien, die nicht von der jeweiligen Rechtsnorm erfasst sind und damit nicht-deliktische Handlungsfolgen sind. Von den für die Strafzumessung relevanten Beweggründen und Zielen sind sie nach der hier vertretenen Auffassung gleichwohl umfasst. Auch auf diese ethischen Prinzipien können sich die Ziele und Beweggründe des Täters beziehen. Im Wirtschaftsbereich könnten Motive der verantwortlichen Täter bspw. die Vermehrung des eigenen oder des Firmenvermögens sein. Dieses Ziel ist für sich genommen nicht anstößig. Wird es jedoch auf Kosten des Geschädigten verwirklicht, d.h. radikale Gewinnmaximierung um jeden Preis ohne Rücksicht auf die Gesundheit, Güter oder sonstigen Rechte der Betroffenen oder auf Kosten der Umwelt, sollte das strafschärfend berücksichtigt werden. Zeigen sich diese Motive weniger in der Phase des Tatentschlusses, etwa als interne Anweisungen im Vorfeld der Tat, sondern stärker in der Ausführungsphase, sind sie auch dem Strafzumessungsumstand der „Gesinnung, die aus der Tat spricht“ und dem „bei der Tat aufgewendeten Willen“ zuzuordnen. Ein weiterer Strafzumessungsumstand sind die „Auswirkungen der Tat“. Diese können bei Wirtschaftsstraftaten erheblich sein. Treten Schäden bei dem Opfer ein, die über den ggfs. vom Tatbestand voraus gesetzten Schaden wie bei den Vermögensdelikten i.e.S. hinausgehen, kann dieses Erfolgsunrecht strafschärfend wirken. Dabei ist zu beachten, dass entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes und im Sinne des Schuldprinzips dem Täter nur verschuldete Folgen angelastet werden können, mithin nur solche, die er zumindest vorhersehen konnte.54 Auch außertatbestandliche Folgen – z. B. der Bankrott des durch einen Betrug ruinierten Unternehmens – können Teil dieses Strafzumessungsumstandes sein.55 „Das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ können insbesondere dann als Strafzumessungsumstände relevant werden, wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der Tat aufweisen, etwa indem sie sie als Anzeichen für den Umfang von Schuld oder Präventionsbedürftigkeit des Täters von Belang sind. Durchaus entlastend kann es indes wirken, wenn der Vorstand eines Wirtschafsunternehmens stets ein tadelloses und zudem gemeinschaftsbezogen engagiertes Verhalten gezeigt hat, bspw. indem er Arbeitsplätze geschaffen und sich sozial engagiert hat.56 Bedeutsamer ist jedoch das direkt auf die Straftat bezogene Vorverhalten, z. B. Investitionen in den Aufbau von Infrastruktur und Sub54  Vgl. BGH NStZ-RR 2006, 372 f.; BGH NJW 2007, 384, 389; LK-StGB / Theune, § 46 Rn. 157 ff.; Lackner / Kühl / Heger, StGB, § 46 Rn. 34; Kindhäuser / Neumann / Paeffgen / Streng, StGB, § 46 Rn. 57; modif. Schönke / Schröder / Stree / Kinzig, StGB 30. Aufl. 2019, § 46 Rn. 26b. 55 Schäfer / Sander / van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl. 2012, Rn. 594 ff.; Schönke / Schröder / Stree / Kinzig, § 46 Rn. 19, 26a. 56  BGH NJW 2014, 645, 646; BGHSt 53, 71, 86; Wittig, GS M. Walter, 2014, 1241, 1246 ff. Kindhäuser / Neumann / Paeffgen / Streng, StGB, § 46 Rn. 65.

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unternehmen in Dritte-Welt-Ländern, wenn diese nur als Vorbereitung für daran anschließende Wirtschaftsstraftaten dienen. Sofern dieses Verhalten nicht schon über die Beweggründe und Ziele mittelbar erfasst ist, kann es hier relevant werden.  Weitere Strafzumessungsumstände wie z. B. die „Art der Tatausführung“ und das „Nachtatverhalten“ können sich be- bzw. entlastend auf die Strafzumessung auswirken, je nachdem ob der Täter sich besonders rücksichtlos oder nicht bei der (z. B. wiederholten) Tatbegehung gezeigt hat oder einen Ausgleich mit dem Opfer nach der Tat gesucht hat oder nicht etc. Auf der Ebene der Strafzumessung lassen sich ethische Standards folglich am ehesten berücksichtigen. Auch hier ist freilich die Warnung angebracht, dass eine strafschärfende Berücksichtigung nur in Betracht kommen sollte, wenn es sich um Verstöße gegen fixierte und weithin anerkannte ethische Prinzipien wie in den Codes of Conduct handelt. V. Ausblick Es hat sich gezeigt, dass über Rechtsnormen ein Mindestmaß an moralischen Standards verwirklicht werden kann. Der große Vorteil moralischer Standards ist, dass sie nicht an nationale Grenzen gebunden sind, sondern länderübergreifend gelten. Nicht umsonst gelten die UN- Grundsätze weltweit, die OECD-Grundsätze für alle Mitgliedländer der OECD etc. Über ethische Grundsätze, gerade wenn sie nur aus einem ethischen Minimum bestehen, lässt sich leichter ein überregionaler Konsens finden, als dies bei Rechtsvorschriften der Fall ist. Der große Nachteil ist indes, dass die existierenden ethischen Standards, die in Codes, Empfehlungen und Richtlinien existieren, rechtlich unverbindlich sind. Ihre Verletzung bleibt deshalb idR ohne einschneidende Sanktion. Der Beitrag hat Wege aufgezeigt, die Verletzungen ethischer Standards und zwar solcher, die nur das ethische Minimum repräsentieren, als auch solcher, die darüber hinausgehen, im Wirtschaftsstrafrecht zu erfassen. Dies kann sowohl im begrenzten Umfang bei der Schaffung von Strafvorschriften sowie bei der Auslegung und Anwendung von Strafvorschriften als auch in deutlich größerem Umfang bei der Strafzumessung geschehen. Eine inhaltliche Grundlage für die Beachtung ethischer Standards bieten die vorhandenen Codes of Conduct. Doch auch unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, stellen Verstöße gegen einen Code of Conduct ein unerwünschtes Phänomen dar. Hier wäre zu fordern, dass Organisationen wie die OECD, die UN (Global Compact), die Selbstregulierungseinrichtungen der Wirtschaft wie die Regierungskommission „Deutscher Corporate Governance Kodex“ etc. ein wirksameres Beschwerde-und Reaktionssystem einrichten, so dass Verstöße nicht folgenlos bleiben, selbst wenn sie keine (straf)rechtliche Sanktion nach sich ziehen. Da in Deutschland das Schuldstrafrecht gilt, können sich juristische Personen nach wie vor nicht strafbar machen. Auch hier wäre – Vorbildern wie etwa den USA insoweit folgend – in Zukunft an

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die Einführung einer Strafbarkeit juristischer Personen zu denken. Es mutet schon merkwürdig an, dass US-amerikanische Gerichte deutsche Unternehmen wie VW in den USA in einem Strafverfahren bestrafen und eine Geldstrafe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar verhängen können, es in Deutschland jedoch allein bei einer hinter diesem Betrag deutlich zurückbleibenden Geldbuße für das Unternehmen selbst im Sinne des Ordnungswidrigkeitenrechts bleibt. Für eine wirksamere Sanktionierung von Wirtschaftsstraftaten wäre trotz der allgemein vorgebrachten Bedenken die Strafbarkeit juristischer Personen ein großer Schritt in die richtige Richtung. Unabhängig davon bleibt aber die Möglichkeit, im geltenden deutschen Wirtschaftsstrafrecht fixierte und weithin anerkannte ethische Prinzipien in der hier vorgeschlagenen Weise insbesondere bei der Strafzumessung, aber auch bei der zulässigen Tatbestandsauslegung stärker zu berücksichtigen. Summary In times of environmental pollution by large corporations, unacceptable price agreements between companies, outsourcing of work to low-wage countries without occupational safety, tax evasion in the millions, accusations of fraud and bribery of board members, lavish bonus payments despite misconduct, etc., the question of business ethics arises. Can actions of individuals and companies be managed in such a way that the consequences are ethically acceptable to all concerned? Can we expect or even demand ethical action from business actors? Even if many companies commit themselves to ethical principles, either through internal guidelines or externally through a propagated corporate philosophy, this practice has obviously neither prevented norm breaches nor led to fundamental changes in the system. The most effective, yet final, controlling authority here can only be the law, in particular economic criminal law. The article has shown that a minimum of moral standards can be achieved through legal norms. Since (economic) criminal law is ultima ratio, the initial thesis is that the norm breaches must be of such weight that they are simply socially intolerable and massively disturb peaceful coexistence. The breaches of norms must therefore have crossed the line from merely ethical injustice to punishable injustice. However, the article has shown ways of recording violations of ethical standards, both those that represent only the ethical minimum and those that go beyond it, in economic criminal law. This can be done both to a limited extent in the creation of criminal provisions and in the interpretation and application of criminal provisions, and to a much greater extent in the sentencing of offences. The existing Codes of Conduct provide a substantive basis for compliance with ethical standards and could and should be more strongly included in the sentencing.

Rechtsphilosophische Überlegungen zur Begründung des Instituts der Verfolgungsverjährung im Strafrecht* Bettina Noltenius

Sowohl im Zivilrecht als auch im Öffentlichen Recht und im Strafrecht wird darauf hingewiesen, dass eine nähere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der Verjährung fehle.1 Für das Zivilrecht erklärt beispielsweise Birr, Fragen der Verjährung haben bislang „in der juristischen Literatur das Dasein eines nützlichen, aber ungeliebten Mauerblümchens geführt“2. Zugleich wird – jedenfalls von denjenigen, die sich mit Verjährungsfragen näher beschäftigen – ihre eminent praktische Bedeutung betont. Denn die Verjährung3 setzt einer Rechtsausübung zeitliche Schranken, sei es z. B. im Zivilrecht der Geltendmachung von Ansprüchen zwischen Privatpersonen4, sei es im öffentlichen Recht der Geltendmachung von Ansprüchen aus einem Steuerschuldverhältnis5 oder sei es im Strafrecht der Verfolgung begangener Straftaten. Im Verjährungsrecht spiegelt sich damit allgemein auch die zeitliche Dimension des Rechts wider.6

*  Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung meines im Juni 2014 an der Universität Bonn gehaltenen Habilitationsvortrags. Er ist Joachim Hruschka in Verehrung in memoriam gewidmet 1  Asholt, Verjährung im Strafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016, S. 1: „Das zeitliche Ende der Berechtigung zur Strafe nach Ablauf einiger Jahre wird selten und vielfach nur am Rande behandelt.“; Birr, Verjährung und Verwirkung, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2006, S. 23; Guckelberger, Die Verjährung im öffentlichen Recht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, S. 1: „mäßiges Interesse“ an Verjährungsfragen im öffentlichen Recht. 2  Birr (Fn. 1), S. 23. 3  Der deutsche Ausdruck „verjähren“ stammt aus dem Begriff der Frist von Jahr und Tag; auch vertagen bei Tagesfristen. Loening, „Die Verjährung“, in: v. Birkmeyer / Netter (Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bd. 1, Berlin: O. Liebmann, 1908, S. 379 (387); Piekenbrock, Befristung, Verjährung, Verschweigung und Verwirkung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 118 f. 4  Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, München: C.H. Beck, 1997, § 17 Rn. 1. 5  Vgl. z. B. §§ 47, 228 AO (Zahlungsverjährung). Näher hierzu Guckelberger (Fn. 1), S. 48 ff. 6  Deutlich auch Saliger, in: Nomos Kommentar StGB, Baden-Baden: Nomos, 2017, Vor §§ 78, Rn. 6.

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Nach einer Einführung (I.) sollen kurz die verschiedenen Ansätze zur Rechtsnatur der Verjährung vorgestellt werden (II.). Im Anschluss daran sind die in § 78 Abs. 1 StGB enthaltenen Begriffe „Tat“ und „Ahndung der Tat“ näher zu untersuchen (III.). Darauf aufbauend soll der eigene Ansatz zur Rechtsnatur der Verjährung dargelegt werden (IV.). Schließlich ist der Frage nachzugehen, ob auch Tötungsdelikte verjähren können (V.). I. Einführung Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Verfolgungsverjährung im Strafrecht und ihre Rechtsnatur. Die Strafverfolgungsverjährung ist geregelt in § 78 StGB. Nach Abs. 1 S. 1 1. Alt. schließt die Verjährung die Ahndung der Tat aus. Das Gesetz nennt damit die Folge der Verjährung, nicht aber ihren Grund, also warum infolge eines bestimmten Zeitablaufs die Verfolgung einer Straftat ausgeschlossen sein soll. Der Gesetzgeber hat die Frage nach der Rechtsnatur bewusst offengelassen und sie der Klärung durch Rechtslehre und Rechtsprechung überlassen.7 Bemerkenswert ist, dass in strafrechtlichen Lehrbüchern zwar die Begründung staatlicher Strafe ausführlich diskutiert wird, jedoch Überlegungen zur Frage nach dem zeitlichen Ende des Strafrechts kaum zu finden sind. Insgesamt werden Fragen, warum beispielsweise die Verjährungsfrist der Strafverfolgung bei einem Totschlag zwanzig Jahre beträgt, während Mord nach § 78 Abs. 2 StGB gar nicht verjährt, nur selten grundlegend erörtert. Bestenfalls wird die Verjährung mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründet. Prinzipielle Ausführungen zum Institut und seiner Begründung finden sich demgegenüber kaum.8 Fragen der Verfolgungsverjährung werden vielmehr lediglich dann intensiv erörtert, wenn sie aufgrund aktueller Fälle, in denen die Verfolgung bestimmter Delikte zu scheitern droht, ins öffentliche Bewusstsein rücken.9 Infolge der anlassbezogenen Verjährungsdebatten wird der Gesetzgeber oft schnell aktiv, um eine angemessene, „gerechte“ Lösung für die akut betroffenen Fälle zu finden. Als Beispiel seien zunächst die Diskussionen um die Verfolgungsverjährung von schweren NS-Verbrechen genannt. Es erschien unerträglich, ungesühnte Massentötungen und Völkermord in der NS-Zeit verjähren zu lassen. Als Ergebnis der Debatte von 196910 zu Verjährungsfragen des NS-Unrechts wurde die Verjährung für Völker-

7  BT-Drucks. V/4095, S. 43. Die Regelung hat sich an den Entwurf E 1962 angelehnt, vgl. daher auch BT-Drucks. IV/650, S. 258; AE 1966, AE-StGB, AT, 1966, S. 174 ff. 8  Grundlegend jetzt Asholt (Fn. 1). 9  Vgl. auch Hörnle, „Sollen Verjährungsfristen für den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen verlängert werden?“, in: GA 2010, S. 388. 10  Zur Verjährungsdebatte im Deutschen Bundestag am 10. März 1965, Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 4. Wahlperiode. Stenografische Berichte Band 57: 170. Sitzung vom 10. März 1965 (S. 8516 – 8571); vgl. auch Schmid, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Berlin: de Gruyter, 2008, § 78 Rn. 5.

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mord11 aufgehoben und die Verjährungsfrist für mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Straftaten von 20 auf 30 Jahre verlängert.12 Als Ende der siebziger Jahre wieder die Verjährung von schweren NS-Taten drohte, wurde die Verjährung bei Mord vollständig aufgehoben (§ 78 Abs. 2 StGB).13 Anfang der 90iger Jahren des letzten Jahrhunderts kam eine erneute Debatte über die strafrechtlichen Verjährungsregelungen auf, als es um die Frage der Verjährung von SED-Unrecht ging. Auch hier wurde der Gesetzgeber aktiv.14 Eingeführt wurde unter anderem Art. 315a EGStGB, wonach eine Unterbrechung der Verfolgungsverjährung für diejenigen Taten fingiert wurde, die nach dem Recht der DDR am 3. 10. 1990 noch nicht verjährt waren.15 Seit 2010 werden schließlich sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Verjährungsfragen hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zur öffentlichen Diskussion gestellt, nachdem zahlreiche Fälle über den Missbrauch durch Lehrer und Erzieher in Schulen und Heimen bekannt wurden. Auch hier ist der Gesetzgeber inzwischen tätig geworden: Schadensersatzansprüche, die auf der vorsätzlichen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung beruhen, verjähren nach dreißig Jahren (§ 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB; vorher nach drei Jahren). Zudem wurde der Zeitpunkt der Verjährung nach hinten verschoben. Während früher die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Verletzten ruhte, wurde die Grenze zunächst auf die Vollendung des 21. Lebensjahres hochgesetzt16 und wenig später nochmals bis zum 30. Lebensjahr (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB).17

11  Damals § 220a StGB, der durch Gesetz vom 9. 8. 1954 in das StGB eingefügt wurde und der Umsetzung der in Art. V der Völkermordkonvention enthaltenen Bestrafungspflicht diente. 12  BGBl. I 1969, S. 1065 (9. StRÄndG). Vgl. zur Verjährungsdebatte im Deutschen Bundestag am 29. März 1979, 8. Wahlperiode. Stenografische Berichte Band 109: 145. Sitzung vom 29. März 1979 (S. 11561 – 11650). Vgl. zur Diskussion Benda, Verjährung und Rechtsstaat, Berlin: Colloquium-Verlag, 1965; Grünwald, „Zur verfassungsrechtlichen Problematik der rückwirkenden Änderung von Verjährungsvorschriften“, in: MDR 1965, 521; Klug, „Die Verpflichtung des Rechtsstaates zur Verjährungsverlängerung“, in: JZ 1965, 149; Schreiber, „Zur Zulässigkeit der rückwirkenden Verlängerung von Verjährungsfristen früher begangener Delikte“, in: ZStW 80 (1968), 348; Willms, „Zur Frage rückwirkender Beseitigung der Verjährung“, in: JZ 1969, 60. 13  BGBl. I 1979, S. 1046 (16. StRÄndG). Der Verjährungsausschluss galt nach Art. 2 des 16. StrÄndG rückwirkend für alle Taten, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des 16. StRÄndG am 22. 7. 1979 noch nicht verjährt waren. 14  Ansonsten gelten nach Art. 8 des Einigungsvertrages die Regelungen der §§ 78 ff. StGB für die Strafverfolgungsverjährung auch für diejenigen Taten, die zuvor auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begangen worden sind. 15  Vgl. insgesamt Asholt (Fn. 1), S. 57 ff.; Letzgus, „Unterbrechung, Ruhen und Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsvorschriften für im Beitrittsgebiet begangene Straftaten“, in: NStZ 1994, 57 ff.; vgl. König, „Zur Verfolgungsverjährung von SED-Unrechtstaten – Anmerkung zu OLG Frankfurt / M. vom 10. 7. 1991 – 2 Ws 88/91“, in: NStZ 1991, 566. 16  Vgl. auch BT-Drucks. 17/5774, S. 4 f. 17  Vgl. auch BT-Drucks. 18/2601, S. 22f unter Bezugnahme auf die „Istanbul-Konvention“.

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Die Brisanz der jeweils in Rede stehenden Fälle führt dazu, dass die Diskussion nicht selten emotional geführt und ein schnelles Handeln des Gesetzgebers gefordert wird. Angesichts der (akut) drängenden Beantwortung der Verjährungsfragen ist für eine rational-sachliche Debatte keine Zeit. Das Institut der Verjährung als Rechtsinstitut im Strafrecht ist zudem verhältnismäßig neu. Es hat sich in Deutschland vollständig erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt.18 So hat Binding noch 1885 kritisch festgestellt, dass die Strafklagenverjährung19 „ein dem deutschen Recht ganz fremdes Institut (ist), dessen Ursprung im römischen Rechte nicht klar zu Tage liegt, dessen Ausgestaltung nicht frei von Willkür und Widerspruch geblieben ist, das wegen der Unsichtbarkeit seiner Entstehungs- und Rechtfertigungsgründe dazu bestimmt schien, das Opfer der sinnlosesten Erklärungen zu werden und dem dieses Schicksal in der Tat nicht erspart worden ist.“20 Auch im englischen common law gilt im Grundsatz die Nichtverjährbarkeit von Straftaten,21 es sei denn eine gesetzliche Regelung bestimmt ausdrücklich eine Verjährungsfrist.22 II. Verschiedene Ansätze zur Rechtsnatur der Verjährung und Kritik Heute wird – jedenfalls in Deutschland – die Verfolgungsverjährung von Straftaten (mit Ausnahme des Mordes und des Völkermordes) nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Es herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, welche Rechtsnatur ihr zukommt. Handelt es sich bei Strafverfolgungsverjährung um ein materiell-rechtliches, ein rein prozessrechtliches Institut oder stellt sie eine Mischform dar? Eine Kategorisierung der Straftatverfolgungsverjährung erscheint deshalb von großer Bedeutung, um klären zu können, ob sie dem Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG unterfällt. Insbesondere im Rahmen der drohenden Verjährung von NS-Verbrechen wurde die Frage nach der verfassungsrechtlichen Möglichkeit einer rückwirkenden Verlängerung der ablaufenden Verjährungsfrist sowohl in der strafrechtlichen als auch in der öffentlich-rechtlichen Literatur lebhaft erörtert.23 Stellt sie vornehmlich ein verfahrensrechtliches Institut dar, soll diese Möglichkeit   Asholt (Fn. 1), S. 21 ff.  Vgl. näher zum Begriff der Strafklage, H. Kaufmann, Strafanspruch – Strafklagrecht, Göttingen: Otto Schwartz & Co, 1968, S. 9 ff. 20  Binding, Handbuch des Strafrechts, Aalen: Scientia, 1885, S. 817. 21  „No lapse barst he king“ oder „nullum tempus occurit regi“. Zitat nach Forster, „Verjährung in England und Wales“, in: Sieber / Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, AT, Bd. 5, Berlin: Duncker & Humblot, 2010, S. 566 ff. 22  Vgl. zu England und Wales ebd., S. 566 ff. 23 Näher Schreiber (Fn. 12), S. 348 ff.; Benda (Fn. 12). 18 19

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nicht bestehen. Ist ihre Rechtsnatur primär eine materiell-rechtliche, soll sie dem Rückwirkungsverbot unterliegen. 1. Verjährung als Institut des materiellen Rechts Teile der älteren Literatur und auch die frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts sahen das Institut der Verjährung als eines des materiellen Rechts an: Folge der Verjährung sei der Wegfall des staatlichen Strafanspruchs selbst, der damit zur Aufhebung der Strafbarkeit der an sich von dem Gesetz unter Strafe gestellten Tat führe.24 Die strafrechtliche Verjährung hebe das Dasein des Verbrechens als solchen auf, so Feuerbach.25 Nach v. Liszt ist sie Strafaufhebungsgrund, sie tilgt das staatliche Strafrecht.26 Gegenüber der Verjährung als Institut des materiellen Rechts wurde insbesondere eingewendet, dass sie weder grundsätzlich die Entscheidung des Gesetzgebers zur Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens noch das gesellschaftliche Unwerturteil hinsichtlich dieser Handlungen beeinflusse.27 Teilweise wurde unter Rückgriff auf Kant erklärt, die Verjährung könne nur verfahrensrechtliche und keine materiell-rechtliche Bedeutung haben.28 Kant hat in seiner Metaphysik der Sitten darauf verwiesen, dass die Verjährung ein sich selbst widersprechender Begriff sei, da aus dem Nichtgebrauch eines Rechts auf den Verzicht eben dieses Rechts geschlossen werde.29

  RGSt 12, 434, 436.   Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts, Giessen, 1801, § 76: „Der Verbrecher muss daher in seine bürgerlichen Rechte wieder eingesetzt werden. Keine Zunft hat ein Recht, ihm die Wiederaufnahme zu versagen und wer ihm das Verbrechen vorwirft, um ihn dadurch zu beschimpfen, begeht eine Ehrenverletzung. Die privatrechtlichen Folgen werden aber durch keinen dieser Gründe getilgt. Diese sind nur den Grundsätzen von den Veränderungen der Rechte im Privatrechte unterworfen.“ Vgl. zu Feuerbach auch Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, Berlin: Duncker & Humblot, 1976, S. 201, der darauf hinweist, dass Feuerbach die Existenz des Verbrechens mit der Strafe gleichsetze. Wenn er daher der Verjährung die Wirkung zuspreche, der geschehenen Tat die Eigenschaft als Verbrechen zu nehmen, mache er über den Unrechtsgehalt des Verhaltens selbst im modernen Sinn keine Aussage. 26  v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Berlin: de Gruyter, 1932 (Nachdruck 1995), § 75, S. 451 f. s. a. Lorenz, Die Verjährung in der deutschen Strafgesetzgebung, München [u. a.]: C. H. Beck, 1955, S. 55 ff., Kaufmann (Fn. 19), S. 154. 27  Saliger (Fn. 6), § 78 ff. Rn. 6 m. w. N.; BVerfGE 25, 269 (287). 28  So z. B. Klug (Fn. 12), S. 150, der allerdings kurze Zeit später den „Abschied von Kant und Hegel“ für Begründungsfragen im Strafrecht gefordert hat, in: Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, Bd. 2: Materielle und formelle Strafrechtsprobleme, Berlin u. a. 1981, S. 149 ff. 29  Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, B 173 f. 24 25

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2. Verjährung als prozessuales Rechtsinstitut Der BGH sieht im Anschluss an die späte Rechtsprechung des Reichsgerichts die Verfolgungsverjährung ausschließlich oder jedenfalls vornehmlich als Verfahrenshindernis an. Ein mögliches Fortbestehen eines öffentlichen Strafanspruchs bleibe davon unberührt.30 Großteile der derzeitigen Strafrechtsliteratur ordnen die Verjährung ebenfalls primär dem Prozessrecht zu. Die Verjährungsregelungen werden dabei zumeist funktional begründet. So wird einerseits der Beweismittelschwund angeführt, andererseits werden verfahrensökonomische Aspekte vorgebracht.31 Danach sollen die Verjährungsregeln der Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden vorbeugen, indem diese angehalten werden, möglichst zügig den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen.32 Zudem solle die Nichtverfolgbarkeit verjährter Taten zu einer Entlastung der Justiz beitragen.33 Auch der prozessuale Ansatz der Verjährung ist angreifbar. Der Beweismittelschwund ist schon aufgrund des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts zweifelhaft. Durch DNA-Proben können beispielsweise auch Jahrzehnte später noch Taten aufgeklärt werden. Ebenso wenig sind verfahrensökonomische Zweckmäßigkeitserwägungen in der Lage, die Verjährung als ein Institut des Rechts zu erklären. Um Ressourcen der Justiz zu schonen, müssten die Verjährungsfristen insgesamt möglichst kurz bemessen werden. Eine Begründung, warum überhaupt Verjährungsregeln existent sind und bestimmte schwere Delikte eine besonders lange Verjährungsfrist aufweisen oder überhaupt nicht verjähren, die aber in der Regel besonders verfolgungsintensiv sind und damit die Justizressourcen stark belasten, vermag dieser Ansatz ebenfalls nicht zu geben.34 3. Doppelnatur der Verjährung Schließlich wird der Verjährung zum Teil eine sog. Doppelnatur zugeschrieben. So hat das Reichsgericht in einer Übergangszeit die Ansicht vertreten, dass die Verjährung einerseits den Wegfall des materiellen Strafanspruchs bewirke, andererseits aber auch prozessrechtlich ein Hindernis des Strafverfahrens darstelle. Ihr Nichtablauf sei daher eine Prozessvoraussetzung.35 Ebenso sehen Teile der Litera  BGHSt 2, 300 (306 ff.); ebenso BVerfGE 1, 418 (423).   Vgl. bereits Binding (Fn. 20), S. 823: Die Beweisvergänglichkeit sei der allein zwingende Grund, die Verjährung des Strafverfolgungsrechts anzuerkennen; s. a. Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, 2. Aufl., Berlin 1949, S. 268. 32  Saliger (Fn. 6)., Vor § 78 ff. Rn. 6; BGHSt 11, 393 (396); Mitsch, in: Münchener Kommentar zum StGB, München: C. H. Beck, 3. Aufl. 2016, § 78 Rn. 4. 33  Mitsch (Fn. 32), § 78 Rn. 4; Saliger (Fn. 6), Vor § 78 ff. Rn. 6. 34  Vgl. zu den prozessual orientierten Ansätzen und ihrer Kritik ausführlich Asholt (Fn. 1), S. 91 ff. 35  RGSt 41, 167 f.; ebenso RGSt 66, 328. 30 31

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tur in der Verjährung eine Mischform.36 Neben dem Beweisschwund bewirke die Verjährung das allmähliche Erlöschen des Strafbedürfnisses durch Zeitablauf. 37 Der Ansatz einer Doppelnatur der Verjährung scheint die Schwächen der jeweils extremen Ansätze aufzufangen und einen Mittelweg zu gehen. Zu beachten ist jedoch, dass – wenn grundsätzlich von der Trennung des materiellen Rechts und des Prozessrechts ausgegangen wird –, diese Trennung nicht einfach im Rahmen der Verjährung aufgehoben werden kann. Dies wäre eine bloße Addition von an sich getrennten Sphären, die die Möglichkeit ihrer Verbindung offen lassen würde. Vielmehr wäre – umgekehrt – zunächst aufzuweisen, dass materielles Strafrecht und Prozessrecht ihrem Grunde nach miteinander in Verbindung stehen. Ist das der Fall, hat dies auch Auswirkungen für die Bestimmung des Rechtsgrundes der Verjährung. Es soll daher im Folgenden versucht werden, die Strafverfolgungsverjährung dogmatisch-grundlegend in das Strafrecht einzuordnen. Dies soll zunächst anhand einer Analyse der Begriffe „Tat“ und „Ahndung der Tat“ im Sinne des § 78 StGB geschehen. III. Die Begriffe der „Tat“ und der „Ahndung“ Auch wenn das Gesetz nicht ausdrücklich den Grund der Verjährung benennt, sondern nur erklärt, die Verjährung schließe die „Ahndung der Tat“ aus, lassen sich aus dem Gesetzestext zumindest Ansätze für ihren Grund finden. Die Begriffe „Tat“ und „Ahndung der Tat“ sind daher insbesondere unter Beachtung der zeitlichen Dimension des Rechts näher zu beleuchten. 1. Der Begriff der Tat a) Mit „Tat“ im Sinne von § 78 Abs. 1 StGB ist eine solche gemeint, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, beispielsweise eine Körperverletzung, ein Totschlag oder ein Diebstahl.38 Allerdings kann das Unrecht der jeweiligen Gesetzesverletzung nicht auf einen bloßen Normwiderspruch seitens des Täters 36  Satzger, „Die Verjährung im Strafrecht“, in: Jura 2012, S. 433 (435 ff.). Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, Berlin: Duncker & Humblot, 1996, § 86 I 1, S. 912; Kühl, in: Lackner / Kühl (Hrsg.), Strafgesetzbuch, München: C. H. Beck, 2018, § 78 Rn. 1; Wolter, in: Rudolphi / Wolter, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Köln: Carl Heymanns, 2016, Vor § 78 Rn. 13. 37  Welzel, Das deutsche Strafrecht, Berlin: de Gruyter, 1969, S. 262; Satzger (Fn. 36), S. 425 f.; Kühl (Fn. 36), § 78 Rn. 1; Wolter (Fn. 36), Vor § 78 Rn. 13; Rosenau, in: Satzger / Schluckebier / Widmaier (Hrsg.), StGB, Köln: Carl Heymanns, 2016, § 78 Rn. 4. 38  Ebenso umfasst die Verjährung auch die Teilnahme an einer Tat, die sich aufgrund der Akzessorietät der Teilnahme nach der Haupttat richtet. Die Verjährung der versuchten Tat bemisst sich nach der Strafdrohung des vollendeten Delikts. Nach § 78a StGB beginnt die Verjährung, sobald die Tat beendet ist. Tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später ein, so beginnt die Verjährung ab diesem Zeitpunkt.

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reduziert werden.39 Ohne den konkreten Inhalt der Norm, ihrem materiellen Gehalt, ließe sich beispielsweise nicht erklären, wie sich Strafnormen von solchen des Zivilrechts unterscheiden.40 Warum wird z. B. ein Vertragsbruch nicht unter Strafe gestellt, während ein Betrug als Straftat angesehen wird? Es wird zu zeigen sein, dass die Straftatbestände nicht zufällige Produkte eines jenseits des Einzelnen stehenden Gesetzgebers sind, sondern – jedenfalls ihrem Grunde nach – manifeste Rechtsverletzungen beinhalten. Der Begriff des Unrechts muss damit den Begriff des Rechts in sich aufnehmen und ist insofern ein sekundärer Begriff. Für das bessere Verständnis werden kurz die wesentlichen Aspekte des zugrunde gelegten Rechtsbegriffs vorangestellt, um dann zur Bedeutung des Unrechts überzugehen.41 b) Seit der Aufklärung kann das Recht nicht mehr als bestehend aus willkürlich vom Herrschenden festgeschriebenen Gesetzen begriffen werden, sondern das Recht muss seinen Ausgang vom freien (autonomen) Subjekt nehmen. Gegenstand des Rechts ist allgemein die Verhältnisbestimmung miteinander handelnder freier Subjekte. Insofern kann man das Recht mit Hegel auch als „das Reich der verwirklichten Freiheit“42 bezeichnen. Mit Wirklichkeit ist nicht eine geistige Wirklichkeit gemeint. Der Begriff der „verwirklichten Freiheit“ macht vielmehr deutlich, dass das Recht nicht unabhängig von handelnden Personen in ihrer Wirklichkeit gedacht werden kann. Es betrifft konkrete Handlungen einzelner Subjekte, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort miteinander in Beziehung stehen. Die Rechtsbestimmung selbst weist damit eine zeitliche Dimension auf. Denn es geht um das freiheitliche Miteinander zeitlich bedingt handelnder Subjekte. Dieses Miteinander muss dabei (ideal gedacht) so geartet sein, dass die äußere Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit des anderen zusammen bestehen kann.43 Die präventiven 39  So aber Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, Baden-Baden: Nomos, 2017, § 5 Rn. 3; dens., „Zum strafrechtlichen Handlungsbegriff“, in: Paeffgen / Böse u. a. (Hrsg.), Festschrift Puppe, Berlin: Duncker & Humblot, 2011, S. 39, 59 ff.; Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, Paderborn / München u. a.: Schöningh, 2012, S. 20. 40  So zutreffend Paeffgen, „Das „Rechtsgut“ – ein obsoleter Begriff?“, in: Zöller / Hilger u. a. (Hrsg.) Festschrift Wolter, Berlin: Duncker & Humblot, 2013, S. 125 (129). 41  Vgl. zu dem vorliegenden Begründungszusammenhang von Freiheit, Recht, Unrecht und Strafe insgesamt insbesondere Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht, Berlin: Duncker & Humblot 2013, S. 247 ff.; Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, Freiburg / München: Karl Alber, 2015, S. 89 ff.; 115 ff.; M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2017, 20 ff. Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, Frankfurt a.M. 2007, S. 288 ff.; E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalrecht zu anderen Unrechtsformen, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, Frankfurt a. M. u. a. 1987, S. 137 ff.; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, Berlin: Duncker & Humblot 2013, S. 194 ff.; Verf., Die Europäische Idee der Freiheit und die Etablierung eines Europäischen Strafrechts, Berlin: Duncker & Humblot 2017, S. 288 ff. 42  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4. 43  Kant hat das Recht prägnant formuliert als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“, Metaphysik der Sitten, Frankfurt / M.: Suhrkamp, 1977, AB 33.

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Straftheorien übersehen diesen notwendigen Ausgangspunkt eines freiheitlichen Strafrechts, indem sie den Einzelnen als grundsätzlich tatgeneigtes Wesen ansehen, der durch Sanktionsnormen zu rechtstreuem Verhalten animiert werden müsse. Das widerspricht jedoch schon den tagtäglichen Rechtshandlungen. Der Käufer zahlt nicht nur allein deswegen sein Brot, weil er sonst vom Verkäufer verklagt würde. Er zahlt vielmehr aus eigener Einsicht.44 Nimmt man diesen Ausgang vom freien Einzelnen und einem von ihm – basal betrachtet – konstituierten Rechtsbegriff ernst, rückt auch der Täter nicht erst im Moment seiner Unrechtstat in den Blick, sondern ist selbst Teil des Rechts, er konstituiert es mit. Das Recht bildet damit das konkrete Anerkennungs- oder Gleichheitsverhältnis der praktisch frei handelnden, endlichen Subjekte in einer Zeit und in einem gemeinsamen Raum ab. Aufgabe des Staates und der positiven Gesetze ist es dann nicht, erst Rechtsverhältnisse überhaupt materiell nach seinem Gutdünken zu konstruieren, sondern er hat die in Raum und Zeit existenten Rechtsverhältnisse von Subjekten zu strukturieren und zu festigen.45 Dass der Gesetzgeber dem nachkommt, zeigt sich auch in einzelnen Bestimmungen des Verjährungsrechts, wie später noch darzulegen ist. c) Vorerst soll jedoch der Begriff der Unrechtstat näher aufgewiesen werden, indem er aus den unterschiedlichen Perspektiven der mit der Unrechtstat im Zusammenhang stehenden Personen betrachtet wird. Das ist neben dem Täter und dem Verletzten, die von ihnen mit konstituierte Allgemeinheit. Die gedankliche Trennung der Perspektiven dient der Verdeutlichung. Sie ist nicht so zu verstehen, dass Täter, Opfer und Allgemeinheit beziehungslos nebeneinander stünden. Die von der Tat Betroffenen befinden sich vielmehr in einem Wechselverhältnis zueinander; sie sind notwendig miteinander verschränkt. aa) Aus der Perspektive des Täters kann sich nach dem vorgestellten materiellen Rechtsbegriff die Rechtsverletzung seitens des Täters nicht in einer bloßen Gutsverletzung erschöpfen, wie beispielsweise in der Verletzung der körperlichen Integrität, sondern sie ist mehr: Der Täter erkennt sein Gegenüber nicht mehr als Gleichen an, sondern degradiert ihn durch die Verletzungshandlung zum Objekt. Die Negation des grundsätzlich auch zwischen Täter und Opfer bestehenden Rechtsverhältnisses bestimmt damit die besondere interpersonale Qualität des Unrechts.46 bb) Auch aus der Perspektive des Opfers liegt die ihm zugefügte Verletzung nicht allein in der Gutsverletzung, z. B. in der Höhe des bei ihm eingetretenen materiellen Schadens. Dieser kann bei einem Vertragsbruch wesentlich höher sein als bei einem Betrug. Bedingt durch das ursprünglich gemeinsame Rechts- bzw. Anerkennungsverhältnis vertraut der Verletzte zu Recht darauf, dass sich die anderen ihm gleichen Personen gegenüber vernünftig verhalten und ihn nicht für seine Zwecke benutzen, ihn zum Objekt degradieren. Die Tat ist nicht zufällig pas44  Vgl. hierzu insgesamt auch deutlich Zaczyk, „Kritische Bemerkungen zum Begriff der Verhaltensnorm“, in: GA 2014, S. 73 (78). 45  Näher zum Begriff des Rechtsstaates insbesondere bei Kant Hruschka (Fn. 41), S. 13 ff. 46  Köhler (Fn. 41), S. 20 ff.

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siert, sie ist kein Unglück, sondern Akt eines grundsätzlich mit dem Verletzten im Rechtsverhältnis stehenden Subjekts. Das besondere Moment der Unrechtstat ist damit auch für den Verletzten die durch den Täter erfolgte Negation des Anerkennungsverhältnisses.47 cc) Neben der Verletzung des Anerkennungsverhältnisses gegenüber dem Opfer negiert der Täter aber zugleich das von der Allgemeinheit und d. h. auch von ihm mitkonstituierte staatlich verfasste Rechtsverhältnis, in dem die Freiheitsrechte des Einzelnen gefestigt und garantiert sind.48 Damit ist nicht nur das Verhältnis zwischen Täter und Opfer gestört, sondern das allgemein anerkannte und festgesetzte Rechtsfriedensverhältnis im Staat.49 Die verfassten Rechtsverhältnisse im Staat führen aber auch dazu, dass die geschehene Unrechtstat als Einzeltat eines fehlbaren Subjekts erscheint. Die Tat stellt nicht insgesamt alle bestehenden Rechtsverhältnisse in Frage, sondern erweist sich in einer gefestigten Gemeinschaft als Rechtsfriedensbruch eines Einzelsubjekts. Hegel hat das deutlich zum Ausdruck gebracht. „Wenn es aber einerseits für die Gesellschaft unmöglich wäre, das Verbrechen unbestraft zu lassen, weil es alsdann als Recht gesetzt würde, so ist doch, weil die Gesellschaft ihrer selbst sicher ist, das Verbrechen immer nur eine Einzelheit gegen sie, ein Unfestes und Isoliertes. Durch die Festigkeit der Gesellschaft selbst erhält das Verbrechen die Stellung eines bloß Subjektiven (…)“.50 Die Unrechtstat erschüttert damit nicht die gesamte Rechtsordnung, die durch diese Handlung gleichsam kollabiert, sondern bleibt eine Einzeltat. Das wird auch noch Bedeutung für die Verjährung haben. Zusammenfassend ist daher ausgehend von einem materiellen Unrechtsbegriff mit Tat im Sinne des § 78 StGB die konkrete Negation eines konkreten Rechtsverhältnisses zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum zu begreifen, auf dessen Bestehen der Verletzte vertrauen konnte. Sie ist zugleich eine Störung des Rechtsfriedens der Gemeinschaft, bleibt dabei aber Einzeltat eines Subjekts. 2. „Ahndung“ der Tat „Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat […] aus“, heißt es in der jetzigen Fassung des § 78 Abs. 1 StGB. Die heutige Regelung der Verjährung ist 1975 in Kraft getreten.51 Ursprünglich war die Verfolgungsverjährung gemeinsam mit der   Köhler (Fn. 41), S. 22 f.   Zu den Rechtsgütern als zeitlich bedingte Elemente Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, Berlin: Duncker & Humblot, 1989, S. 178 ff. 49  Zaczyk, „Staat und Strafe  – Bemerkungen zum sogenannten ‚Inselbeispiel‘“, in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999, S. 73 (82 ff.); Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, Berlin: Duncker & Humblot, 2005, S. 123 ff. 50  Hegel (Fn. 42), § 218 Zusatz. 51  BGBl I 1969 Nr. 52. 47 48

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Strafvollstreckungsverjährung in § 66 Abs. 1 StGB geregelt, der lautete: „Durch Verjährung werden die Strafverfolgung (und die Strafvollstreckung) ausgeschlossen.“ Das Wort „Ahndung“ tauchte in dieser Gesetzesbestimmung also nicht auf. Auffällig ist, dass der Begriff der „Ahndung“ auch sonst weder im StGB noch in der StPO zu finden ist. Demgegenüber wird er im Ordnungswidrigkeitenrecht verwendet. Dort heißt es z. B. in § 1 Abs. 1 OWiG: „Eine Ordnungswidrigkeit ist eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, die den Tatbestand eines Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße zulässt“. Ahndung meint damit also hier die Sanktion einer Tat. Demgegenüber könnte man den Begriff der „Ahndung“ im StGB in Verbindung mit dem ersten Titel des fünften Abschnitts, der mit „Verfolgungsverjährung“ überschrieben ist, anders als im Ordungswidrigkeitenrecht als „Verfolgung“ der Tat verstehen. Denn die Verjährung soll gerade die Unzulässigkeit eines auf Ahndung der Tat gerichteten Verfahrens zur Folge haben.52 Das bringt das Gesetz aber mit seiner Formulierung „schließt die Ahndung der Tat aus“ nur indirekt zum Ausdruck.53 Denn es soll gerade kein Strafverfahren mehr eingeleitet oder fortgesetzt werden können, wenn die Sanktionierung der verfahrensgegenständlichen Tat bereits ausgeschlossen ist.54 Die Verjährung bezieht sich damit – systematisch betrachtet – nicht erst auf die Sanktion selbst, sondern ist schon im Rahmen des Verfahrens von Bedeutung und von Amts wegen zu berücksichtigen.55 Ein Strafverfahren wird nur eingeleitet oder fortgesetzt, wenn die Sanktionierung der Tat nicht ausgeschlossen ist. Stellt sich heraus, dass die Verjährung der Tat eingetreten ist, so ist das Verfahren einzustellen (§ 170 Abs. 2 StPO). Nach Rechtshängigkeit der Sache erfolgt in der Regel56 die Einstellung durch Beschluss gemäß § 206a StPO (Zwischenverfahren) oder durch Prozessurteil (§ 260 Abs. 3 StPO).57 Es stellt sich daher die Frage, ob mit „Ahndung“ der Tat das Verfahren bezogen auf die Tat gemeint ist oder ob Ahndung im Sinne von Sanktion, konkret: Bestrafung zu verstehen ist. In Grimms Wörterbuch stößt man auf zwei unterschiedliche Begriffsbestimmungen. Zum einen auf den Begriff der Ahndung als strafen, rächen usw., ahnden als „vindicare“. Zum anderen wird der Begriff auch als Ahnung bestimmt, „praesagire“. So heißt es bei Bettina von Arnim z. B. : „der verschlossene same und die blüte, die aus ihm erwächst, sind einander nicht vergleichbar, und doch ist sein erstes keimen die ahndung dieser blüte.“ In diesem Zusammenhang steht er mit dem Begriff des „Atmens“ (Seele, Geist) in Verbindung. Sicherlich wird der damalige Gesetzgeber bei seiner Gesetzesfassung weder auf das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm noch auf Bettina von Arnim zurück  Mitsch (Fn. 32), § 78 Rn. 7.   Ebd., § 78 Rn. 7. 54  Ebd., § 78 Rn. 7. 55  BGHSt 8, 269 (270); Saliger (Fn. 6), Vor §§ 78 ff. Rn. 12 m. w. N. 56  Es sei denn, eine Sachentscheidung ist ohne weiteres möglich, so BGHSt 36, 340; 50, 30. 57  BGHSt 13, 128.; vgl. auch Mitsch (Fn. 32), § 78 Rn. 7. 52 53

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gegriffen haben, jedoch kann die Herkunft des Begriffs eine zusätzliche Hilfestellung zur näheren Ausdeutung des Ahndungsbegriffs bieten, denn er verweist auch auf etwas sich im Prozess zukünftig Entwickelndes hin. Setzt man den Begriff der Ahndung mit Sanktion gleich, müsste § 78 StGB so gelesen werden, dass die Verjährung die Bestrafung der Tat ausschließt. Die Rechtsnatur der Verjährung wäre dann eine materiell-rechtliche. Die Verjährung bildete einen Strafausschließungsgrund. Unabhängig welchem Sinn man der Strafe gibt, ob sie generalpräventiv zu begründen ist oder als Wiederherstellung des Rechts zu verstehen ist, so erfolgt aber auch die Verhängung von Strafe – nach allen Ansätzen – nicht unmittelbar nach begangener Tat, sondern durch einen Prozess.58 Die Tat selbst führt nicht automatisch zum Vollzug der Strafe.59 Darin unterscheidet sich die Strafe von bloßen Racheaktionen. Das Strafrecht grenzt sich dadurch auch vom Zivilrecht ab. Im Zivilrecht funktioniert das materielle Recht auch ohne Prozess.60 Wie bereits erwähnt, werden geschlossene Verträge in der Regel auch erfüllt. Selbst wenn es zu Meinungsverschiedenheiten über die Entstehung des Vertrages, seine Bedingungen usw. kommen sollte, heißt es noch nicht, dass es auch zwangsläufig zu einem Prozess kommen muss. Die Parteien können zivilrechtliche Fragen vielmehr auch unter sich klären. Im Strafrecht hat demgegenüber der Staat die alleinige Strafkompetenz.61 Erst durch das Urteil des Richters wird die Tat als Straftat konkretisiert.62 Darin zeigt sich das notwendige Wechselverhältnis von materiellem Strafrecht und Prozessrecht.63 Die Verhängung von Strafe ist mit dem Strafverfahren verbunden. Das kommt in dem Begriff der „Ahndung“ und seiner systematischen Stellung im Gesetz auch zum Ausdruck.

58 Ebenso Gärditz, Strafprozess und Prävention, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, S. 52: „Es bedarf zur Verwirklichung des materiellen Rechts jedoch eines geordneten Verfahrens, mit dessen Hilfe das Vorliegen einer solchen Handlung ermittelt, Sanktionen gefunden und durchgesetzt werden.“; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, Köln / München u. a.: Carl Heymanns, 1986, S. 15; Stuckenberg, „Die normative Aussage der Unschuldsvermutung“, in: ZStW 111 (1999), S. 422 (452): „In den heutigen Rechtsordnungen mit Ausnahme des kanonischen Rechts ist nicht die ‚Existenz‘ einer Straftat (materielle oder reale Schuld), sondern einzig die Feststellung einer Straftat in einem vorgesehenen Verfahren legitime Grundlage strafrechtlicher Sanktion.“; Kindhäuser (Fn. 39), § 1 Rn. 12: „Die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion als Antwort auf einen sozialen Konflikt ist nur im Rahmen eines Strafverfahrens möglich.“ 59  Vgl. zur Kritik gegenüber dem Begriff „Strafanspruch“ Gärditz (Fn. 57), S. 70. 60  Vgl. insgesamt Volk/ Engländer, Grundkurs StPO, München: C. H. Beck, 2018, § 2 Rn. 2. 61  Vgl. insgesamt ebd., § 2 Rn. 2. 62  Zaczyk, „Strafjustiz oder Präventivjustiz“, in: Fahl / Müller u. a. (Hrsg.), Festschrift Beulke, Heidelberg: Müller, 2015, S. 69; s. a. Remmert, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 2018, Art. 103 Abs. 2 Rn. 40. 63 Ebd. (Fn. 58).

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IV. Die Bedeutung der Begriffsbestimmung für die Rechtsnatur der Straftatverfolgungsverjährung Aus den dargelegten Begriffsbestimmungen kann der hier entwickelte Gedankengang für die Rechtsnatur der Verfolgungsverjährung fruchtbar gemacht werden. Dabei wird sich zum einen zeigen, dass diese mehrdimensional zu begreifen ist. Sie lässt sich nicht einfach entweder dem materiellen oder dem Prozessrecht zuordnen. Denn wie dargelegt, hängen materielles Recht und Prozessrecht aufgrund ihres gleichen Gegenstandes bereits unmittelbar zusammen. Die Verhängung von Strafe setzt ein Strafverfahren voraus, das mit einem Urteil endet. Zum anderen wird im Institut der Strafverfolgungsverjährung deutlich, dass das Recht mit der Lebensrealität der betroffenen endlichen, raum- und zeitlich eingebundenen Subjekte in direkter Verbindung steht. Das Recht ist nicht als ein zeitloses denkbar. Es unterliegt selbst Wandlungen. Das Recht nimmt die konkrete Lebensrealität der Einzelnen und so z. B. auch die mit ihr verbundenen technischen oder medizinischen Entwicklungen in sich auf. Damit ist nicht eine historische Beliebigkeit des Rechts und seiner Grundsätze gemeint. Denn seine Basis bleibt das freie Subjekt. Da das Subjekt selbst nicht statisch ist, sondern im Fluss der Zeit steht, ist von ihm ausgehend auch die zeitliche Dimension des Rechts zu bestimmen. Für die Fragestellung nach der Straftatverfolgungsverjährung ist also zu untersuchen, welcher Bedeutung der Ablauf der Zeit für das geschehene Unrecht zukommt. Aus den für das Unrecht aufgewiesenen drei Perspektiven: Täterseite, Verletztenseite und Allgemeinheit ist im Folgenden ihr jeweiliges Verhältnis zu einer in der Vergangenheit liegenden Tat näher zu betrachten. Zu beachten ist dabei, dass kein konkreter Stichtag angegeben werden kann, an dem die Verjährung einer Tat eintreten muss. Es handelt sich vielmehr um einen allmählichen Vorgang.64 Je größer der zeitliche Abstand zur begangenen Tat ist, desto mehr ändert sich auch das Verhältnis zur Tat. Wie zu zeigen sein wird, nehmen die Verjährungsvorschriften diese zeitliche Dimension des Unrechts auch im Grundsatz in sich auf. 1. Zunächst zur Perspektive des Täters: Durch den Ablauf einer gewissen Zeit ändert sich auch die Beziehung des Täters zu seiner Tat. Das Leben des Täters steht nicht still, sondern geht weiter. Denn der Mensch entwickelt sich im Laufe der Zeit sowohl in biologischer als auch in persönlicher Hinsicht weiter (vom Kind, zum Jugendlichen und zum Erwachsenen). Der Mensch ist nur noch bedingt der Mensch, der er früher einmal war.65 Bei Jugendlichen und Heranwachsenden zeigt sich das besonders deutlich.66 Radke hat daher überlegt, ob nicht im Jugendstrafrecht ge64  Vgl. auch Frisch, „Strafkonzept, Strafzumessungstatsachen und Maßstäbe der Strafzumessung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs“, in: Roxin / Widmaier, 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band IV, München: C. H. Beck, 2000, S. 269 (299 f.). 65  Deutlich auch Vormbaum, „Mord sollte wieder verjähren“, in: Schulz / Vormbaum (Hrsg.), Festschrift Bemmann, Baden-Baden: Nomos, 1997, S. 481 (498). 66  Vgl. auch Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin u. a.: de Gruyter, 1991, S. 17/22.

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sonderte Verjährungsregelungen gelten müssten. Denn bei Jugendlichen habe ein kürzerer Zeitablauf wesentlich mehr Bedeutung als bei Erwachsenen. Zudem sollen die jugendstrafrechtlichen Sanktionen auf den Jugendlichen erzieherisch einwirken. Durch das Verstreichen einer längeren Zeit könne dieser Zweck aber nicht erreicht werden.67 Denn eine mit großem zeitlichem Abstand zur Tat erfolgte jugendstrafrechtliche Reaktion würde von Jugendlichen letztlich nicht mehr mit der Tat in Verbindung gebracht, so dass der Erziehungsgedanke leerliefe.68 Nach Radke erscheint daher insbesondere eine Verlängerung der Verjährungsfristen, z. B. durch die Anwendung der Regelungen über die Unterbrechung der Verjährung (§ 78c StGB) im Jugendstrafrecht problematisch.69 Aber auch im Erwachsenenalter entwickelt sich das Verhältnis des Einzelnen sowohl hinsichtlich der von ihm begangenen Tat als auch bezogen auf das Konstitu­ tionsverhältnis zu anderen Mitsubjekten weiter. Eine Beteiligung beispielsweise mit 20 Jahren an einer Körperverletzung würde man mit 40 oder 50 Jahren nicht mehr als Teil der eigenen, jetzigen Identität betrachten, sondern eher als „jugendliche“ Verfehlung. Auf Täterseite zeigt sich damit bereits die Bedeutung des Zeitflusses für dessen Verhältnis zu einer länger zurückliegenden Tat. 2. Auch für den Verletzten ist der zeitliche Abstand zu einer Tat von Belang. Die Zeit bewirkt zwar nicht die Aufhebung des Unrechts selbst. Denn ein Unrecht wird nicht dadurch, dass es lange gewährt hat, ein Recht.70 Beispielsweise bleibt die Tat eine Körperverletzung und sie bleibt auch Strafunrecht. Mit der Zeit „heilen jedoch die Wunden“. Der Begriff der Wunde ist nach dem vorgetragenen Zusammenhang nun nicht auf die konkrete Gutsverletzung zu reduzieren, sondern schließt die fundamentale Verletzung des Anerkennungsverhältnisses mit ein. Die Tat verliert zwar nicht ihre Bedeutung, jedoch verblasst die Bedeutung der Tat.71 Denn auch der Verletzte ist nun in einer anderen Lebenssituation. Dabei hängt die Zeitdauer zwischen Tat und Verjährung von der Qualität der Verhältnisverletzung ab. § 78 Abs. 3 StGB sieht daher bei verschiedenen Delikten unterschiedliche Verjährungsfristen vor. So verjährt ein einfacher Diebstahl nach fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB), während ein Raub erst nach zwanzig Jahren verjährt (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB). Denn eine Eigentumsverletzung wirkt auch für das Vertrauen seitens des Verletzten in das Rechtsverhältnis nicht so schwer und damit nicht so lange nach, wie die zusätzliche Anwendung von Nötigungsmitteln bei Ausführung der Tat. Ebenso weisen § 78a und § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB auf die Perspektive des Verletzten hin. So beginnt die Verjährung nach § 78a S. 1 StGB, sobald die Tat be67  Radke, Bestrafungshindernisse aufgrund des Zeitablaufs, Aachen: Shaker, 2001, S. 143 ff., 147. 68  Ebd., S. 143 f. 69  Ausführlich ebd., S. 145 ff. 70  Kant, (Fn. 29), B 174. 71  Murmann, „Strafzumessung und Strafverfahren“, in: Freund / Murmann u. a. (Hrsg.), Festschrift Frisch, Berlin: Duncker & Humblot, 2013, S. 1133 (Fn. 60).

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endet ist. Nach S. 2 soll die Verjährung – wenn ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später eintritt – erst ab dem Zeitpunkt des Erfolgseintritts beginnen. Unabhängig von der strittigen Frage, wie sich § 78a S. 1 und S. 2 StGB zueinander verhalten,72 macht die Norm insgesamt deutlich, dass der Zeitpunkt der Verjährung vom Abschluss der Tat abhängig ist. Bildlich gesprochen: Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Wunden überhaupt heilen können und das Opfer in der Lage ist, das verlorene Vertrauen in das Recht wieder zu gewinnen, beginnt die Verjährungsfrist zu laufen. Auch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nimmt die besondere Situation des Verletzten auf. Danach ruht die Verjährung beispielsweise bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei einer Straftat, die den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen zum Gegenstand hat. Die zum Zeitpunkt der Tat noch sehr jungen Opfer begreifen das eigentliche Unrecht der Tat oft erst längere Zeit nach der Tat und stehen zudem in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter. Eine freie Entscheidung darüber, Strafanzeige zu stellen, ist daher oft nicht möglich.73 Die Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch Zeitablauf weist damit auch eine subjektive Komponente auf, die in einzelnen Regelungen der §§ 78 ff. StGB ihren Ausdruck finden. 3. Nun zur dritten Dimension des Strafunrechts, dem Bruch des allgemein anerkannten Rechtsverhältnisses. Auch die Notwendigkeit der Wiederherstellung des Rechts hat eine zeitliche Dimension.74 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass durch die Festigung und Verstetigung der freien Interpersonalitätsverhältnisse im Staat eine Einzeltat nicht das gesamte Recht in Frage stellt, sondern das Handeln einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit ist. Die Nichtverfolgung einer einzelnen Unrechtstat stellt das Recht nicht insgesamt in Frage.75 Durch den Ablauf von Zeit sollte zudem in der Regel eine Beruhigung des Rechtsfriedens eintreten, auch wenn das Unrecht selbst bestehen bleibt. Denn der Blick auf das vergangene Unrecht erfolgt aus der Gegenwart und nicht aus der Perspektive der gerade erst geschehenen Tat. Die Allgemeinheit ist aber nun nicht mehr in dem Maße verletzt, wie sie es unmittelbar nach der Tat war. Vielmehr schwindet die Bedeutung der Tat. Das Unrechtsgeschehen ist nicht mehr aktuell und spielt für das gegenwärtige Rechtsleben keine Rolle mehr. Damit ist nicht ge Näher Asholt (Fn. 1), S. 523 ff.   Saliger (Fn. 6), § 78b Rn. 6. 74  Frisch (Fn. 63), S. 299 f. 75  Vgl. auch Hegel (Fn. 42), § 218: „Indem Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit haben, so ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat. Es tritt damit der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft ein, wodurch einerseits die Größe des Verbrechens verstärkt wird; andererseits aber setzt die ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung herunter und führt daher eine größere Milde in der Ahndung desselben herbei.“ 72 73

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meint, dass tatsächlich das Verbrechen selbst beseitigt würde. Es handelt sich vielmehr, wie Bloy treffend festgestellt hat, um einen Distanzierungsvorgang, der nicht auf Restitution, sondern auf Überwindung des begangenen Unrechts gerichtet ist.76 Ein erneutes Aufrollen einer lange zurückliegenden Tat kann daher eher zu einer Rechtsbeunruhigung führen, als dass sie dem Rechtsfrieden dient. Zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass die Verletzung des Rechtsfriedens durch die Tat unterschiedliche Qualitäten hat. Bei einem Raub sitzt die Verletzung wesentlich tiefer und benötigt daher auch eine längere Zeit, um zu einer Rechtsberuhigung zu führen als beispielsweise bei einer Beleidigung. § 78 Abs. 3 StGB nimmt daher – wie bereits dargelegt – notwendig Abstufungen bei den Verjährungsfristen in Abhängigkeit von der Qualität des materiellen Unrechts vor. Zudem führt die Tat selbst – wie gezeigt – nicht automatisch zum Strafanspruch des Staates, sondern bedarf eines Prozesses. Erst durch das Urteil des Richters wird die Tat als Straftat konkretisiert und es besteht ein Strafanspruch des Staates. Eine lange Zeit zurückliegende Tat stellt dann eher einen historischen Vorgang dar. Die Redewendung „über die Sache ist Gras gewachsen“ bringt dies treffend zum Ausdruck. Die Bewertung eines solchen unterliegt jedoch nicht dem Richter, sondern ist Aufgabe eines Historikers.77 Das Strafrecht dient nicht der Aufarbeitung lange zurückliegender historischer Vorgänge. In diesem Zusammenhang kann auch ein möglicher Beweismittelschwund als empirisches Phänomen zum Tragen kommen. Folgerichtig sieht § 78c StGB auch Unterbrechungsmöglichkeiten der Verjährung vor, wenn das Strafverfahren gegen den Beschuldigten oder bereits Angeklagten in der Schwebe ist. So beginnt beispielsweise durch die richterliche Vernehmung des Beschuldigten oder die Eröffnung des Hauptverfahrens die Verjährung von neuem. Denn solange das Verfahren in der Schwebe ist, kann auch kein „Gras über das Geschehen wachsen“. Es bleibt vielmehr aktuell. Allerdings sieht das Gesetz in § 78c Abs. 3 StGB eine absolute Verjährungsgrenze vor. Danach ist die Verfolgung u. a. spätestens dann verjährt, wenn das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist verstrichen ist. Damit trägt das Gesetz dem Umstand Rechnung, dass das Verfahren nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne aus den oben genannten Gründen ein Ende finden muss und nicht beliebig in die Zukunft wirken kann. V. Erste Überlegungen zu Folgerungen hinsichtlich der Verjährung von Mord und Totschlag Abschließend soll anhand des dargelegten Begründungszusammenhangs gewissermaßen die „Gretchenfrage“ der Verjährung erörtert werden, nämlich ob Mord 76  Bloy (Fn. 25), S. 189; vgl. Schäfer, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Bd. AT, 1958, S. 333. 77  Vormbaum (Fn. 64), S. 498; Jakobs (Fn. 65), S. 17/22.

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zu Recht keiner Verjährungsfrist unterliegt,78 anders gewendet: Kann die Zeit wirklich alle Wunden heilen? Folgender Fall soll der Beantwortung dieser Frage vorangestellt werden: In der Eifel verschwand am 4. November 1982 die damals 18-jährige schwangere L. Sie galt 30 Jahre als vermisst, bis ihre Leiche auf einer Müllkippe aufgrund eines Zeugenhinweises entdeckt wurde. Es stellte sich heraus, dass der damalige Ex-Freund (J), L im Winter 1982 getötet und auf der Müllkippe verscharrt hatte. Es wurde vermutet, dass er sich zu der Tat deswegen entschlossen hatte, weil L das von ihm stammende Kind nicht abtreiben lassen wollte und er um das Ansehen seiner Familie fürchtete. Das Landgericht Trier sprach 2012 den Angeklagten J frei, da ihm eine Tötung aus niedrigen Beweggründen nicht nachgewiesen werden konnte. Der von ihm begangene Totschlag war aber bereits 10 Jahre verjährt. Um die grundsätzliche Frage der Verjährbarkeit von Mord zu beantworten, sind nochmals die drei unterschiedlichen Perspektiven der von der Unrechtstat Betroffenen in den Blick zu nehmen. 1. Zunächst zur Perspektive des Täters: Für eine notwendige Verjährung auch von Mord könnte nach dem vorliegenden Konzept die Täterperspektive sprechen. Denn es fragt sich, ob nach Ablauf von dreißig oder vierzig Jahren der nun Tatverdächtige noch identisch ist mit dem Menschen zum Zeitpunkt der damaligen Tat. Beispielsweise stellt sich im Hinblick auf die NS-Täter die Frage, ob sie noch die Personen sind, die sie zur Zeit der Tat waren. Denn sie leben nun seit langer Zeit in einem gänzlich anderen Rechts- und Staatssystem und in einer anderen Gesellschaft. Sie sind inzwischen hochbetagt und würden vermutlich als jetzt erst Tatverdächtigte das Ende des Prozesses nicht mehr erleben. Auch in dem oben genannten Fall stellt sich die Frage, ob ihr damaliger Ex-Freund, der zur Zeit der Tat zwanzig Jahre alt war und zum Zeitpunkt des Prozesses bereits 50 Jahre alt ist, nicht in einer völlig anderen persönlichen Lebenssituation ist, als damals. Allerdings wurde auch dargelegt, dass die Perspektive des Täters nur eine ist. Hinzukommen die Perspektive des Verletzten und der Allgemeinheit. Beide Perspektiven legen es nahe, bei einem vorsätzlich begangenen Tötungsdelikt, also sowohl bei Mord, aber ebenso auch de lege ferenda bei einem Totschlag, eine Unverjährbarkeit anzunehmen. 2. Aus der Perspektive des „Verletzten“ kann im Gegensatz zu anderen Rechtsverletzungen die Verletzung des Rechtsverhältnisses zwischen endlichen Personen bei einer vollendeten vorsätzlichen Tötung nicht mehr überwunden werden. Damit unterscheidet sich die vorsätzliche Tötung eines Rechtssubjekts in seiner Qualität 78  Als die Unverjährbarkeit des Mordes 1979 eingeführt wurde, wurden seitens des Gesetzgebers angeführt: der Schutz des Lebens als eines Höchstwertes der Verfassung, die Verwerflichkeit der schwersten Tötungsdelikte und die Entschlossenheit der Rechtsordnung, das höchste Rechtsgut besonders zu schützen. BT-Drucks. 8/2653, S. 4.

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von anderen Rechtsverletzungen. Das Bild der Wunde passt – wenn überhaupt – nur auf die Angehörigen des Opfers und nicht auf das Opfer selbst. Denn sein Leben wurde vernichtet. Es gibt keine Wunde, die heilen könnte. Auch wenn bei dem Gros der Bevölkerung die Tat faktisch in Vergessenheit geraten sein mag, bleibt sie bei den Angehörigen ihr Leben lang präsent. Das Unverständnis und die Ohnmacht gegenüber der Tat bleiben bestehen, da ein ihnen nahestehendes Rechtssubjekt bewusst vernichtet und damit ein unumkehrbarer Zustand geschaffen wurde. Letzteres ist zwar auch bei einer fahrlässigen Tötung der Fall. Denn auch hier geht es um den Verlust eines Menschenlebens. Jedoch besteht auch aus der Sicht des Verletzten bzw. der Angehörigen zur vorsätzlichen Tötung insofern ein Unterschied, als es bei der fahrlässigen Handlung nicht um die willentliche Negation des Lebens eines Subjekts geht, sondern um ein Handeln aus Unbedachtsamkeit. Hinsichtlich der Qualität der Verhältnisverletzung, der bestehenden Ohnmacht und dem damit verbundenen Restitutionsbedürfnis besteht damit ein maßgeblicher, qualitativer Unterschied zur vorsätzlichen Tötung. Dieser Unterschied manifestiert sich nicht nur im Strafmaß, sondern auch in den Verjährungsregelungen. 3. Bezogen auf die Perspektive der Allgemeinheit bleibt der begangene Mord oder der begangene Totschlag nur eine Einzeltat. Nach dem vorgestellten Bedeutungszusammenhang hat das Leben des Einzelnen in der Wirklichkeit jedoch eine konstitutive Bedeutung für das Recht, für die Allgemeinheit und damit auch für die Rechtsgeltung. Das bewusste Auslöschen des Individuums; die vorsätzliche Totalnegierung des Subjekts bedarf daher auch einer strafrechtlichen Aufarbeitung der Rechtsgemeinschaft. Das könnte man nur dann anders sehen, wenn man die Allgemeinheit nicht von den einzelnen Personen her begreift, sondern vom Interesse der Gesellschaft aus denkt.79 Solange neue für die Gesellschaft bedeutende Gesellschaftsmitglieder nachwachsen, könnte die durch eine vorsätzliche Tötung entstandene Lücke ohne Weiteres durch sie geschlossen werden. Nach dem hier zugrunde gelegten Gedankengang kann jedoch bei einer vorsätzlichen Vernichtung des Rechtssubjekts auch durch Zeitablauf keine Beruhigung des Rechtsfriedens eintreten. Denn das das Recht mitkonstituierende Subjekt wurde vernichtet. Insofern wird auch die vorsätzliche Tötung nicht zu einem historischen Ereignis, wie bei anderen Taten, sondern ist für das gegenwärtige Rechtsleben weiterhin von Bedeutung. Das zeigt sich auch gerade in dem Eifeler-Fall, in dem die Frau dreißig Jahre als vermisst galt. Eine Rechtsberuhigung konnte gar nicht eintreten, da noch nicht einmal sicher war, ob die Frau noch lebt oder tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Würde Mord verjähren, wäre die Akte irgendwann geschlossen und jede weitere Ermittlung unterlassen worden. Der Fall wäre nie zum Abschluss gekommen, obwohl das Leben eines konstitutiven Rechtsmitgliedes der Gemeinschaft durch ein Verbrechen beendet wurde. Eine Rechtsberuhigung hätte gar nicht eintreten können. 79  So aber Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1972, S. 350 ff.

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In dem dargelegten Fall zeigt sich weiter, dass Mord und Totschlag hinsichtlich der Verjährung gleich zu behandeln sind. Denn unabhängig von der Art und Weise der Begehung oder den Motiven der Tat, geht es in beiden Fällen um das bewusste Auslöschen eines Menschenlebens, das auch eine strafrechtliche Aufarbeitung verlangt. Der Eifeler-Fall mag faktisch zum Schluss gekommen sein, rechtlich jedoch nicht. VI. Zusammenfassung Das Recht hat bedingt durch das Ansetzen beim freien Einzelnen eine zeitliche Dimension, weil dieser eben auch zeitlichen Bedingungen unterliegt. Diese anthropologische Seite hat das Strafrecht in sich aufzunehmen und nimmt sie auch in den Verjährungsvorschriften auf. Hinzukommt, dass sich im gefestigten Zustand, im Staat, die Tat als eine Einzeltat darstellt, so dass nach Ablauf einer gewissen Zeit auch eine Rechtsberuhigung seitens der Allgemeinheit eintreten kann. Zugleich wurde darauf verwiesen, dass die Verhängung von Strafe eines Prozesses bedarf. Strafe entsteht nicht gleichsam automatisch. Im Strafrecht sind vielmehr materielles Recht und Prozessrecht notwendig miteinander verbunden. Für die Rechtsnatur der Straftatverfolgungsverjährung ergibt sich daraus, dass sie mehrdimensional zu begreifen ist. Sie unterliegt nicht entweder dem materiellen Recht oder dem Prozessrecht, sondern in den Verjährungsvorschriften findet der sich im Strafrecht notwendig ergebende Zusammenhang von Unrecht, Strafgesetz und Strafe seinen Ausdruck. Nach dem vorgestellten Begründungszusammenhang der Straftatverfolgungsverjährung kann die Zeit zwar „Wunden heilen“ und ist daher auch im Rahmen des Rechts und damit des Strafrechts zu berücksichtigen. Jedoch ist eine Verjährung von solchen Taten ausgeschlossen, die das Rechtssubjekt als solches bewusst beseitigt. Die Zeit heilt damit Wunden, aber nur solche die noch existent sind und damit auch verheilen können. Summary The law has temporal dimensions, because it is based on the free individual, which itself is subject to temporal conditions. This anthropological aspect must be considered by the criminal law and is actually considered by the statutes of limitation (§§ 78 ff. StGB). In Addition, within the tightened status, the state, the offense is just an individual one. Thus, pacification of law can occur in the general public. Moreover, a matter of importance is the fact, that the imposition of sunction requires a trial. Penalty does not arise automatically. Rather, in the criminal law the substentive law and procedural law are connected. Therefore the legal nature of the limitation of criminal proceedings must be understood multidimensional. It does not subject to the substentive law or the procedural law. Within the statutes of limitation, the expression of the necessary connection between injustice, criminal law and penalty is found.

Überlegungen zur Strafe und Vergeltung bei Kant Carlos Pérez del Valle I. Einleitung1 „Kant ist der erste, der den Rechtstaat denkt, und infolgedessen denkt er auch die rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafrechts“2. Mit diesen Worten weist Hruschka etwas bezüglich zu Kant auf: es ist nicht möglich die Grundlagen des Strafrechts der Rechtsstaatlichkeit zu erörtern, ohne sich an Kant zu wenden, und diese Ressource an Kant erfordert eine Querschnittsansicht verschiedener Quellen. Das zeigt aber auch etwas, das mit Hruschka selbst zu tun hat und in der Lesung der Texte zu finden ist, die er Kant gewidmet hat: heute ist die Erörterung zu den Grundlagen des Strafrechts in Kant ohne Hruschka nicht möglich. In einem Brief an Johann Benjamin Erhard vom 21. Dezember 1792 erklärt Kant was er unter der „pœna meremoralis“ versteht, „die darum vielleicht vindicatiua genannt worden ist, weil sie die Göttliche Gerechtigkeit rettet“. Die Erklärung ist wie folgt: „Strafen sind in einer Welt, nach moralischen Principien regirt (von Gott) categorisch nothwendig (so fern darinn Übertretungen angetroffen werden)“3. Hier 1 Kants Texte werden gemäß der Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Schriften, (hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: G. Reimer, 1902; Berlin & Leipzig: Walter de Gruyter, 1922f) mit der Abkürzung AA, gefolgt von der Bandnummer zitiert. Der Verweis auf die betreffende Schrift von Kant wird ebenfalls vorab abgekürzt wie folgt hinzugefügt: ApH: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798); BBG: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen; Bw-II: Briefwechsel-Bd. II (1789 – 1794); GMS: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785); KpV: Kritik der praktischen Vernunft (1788); KrV-1: Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage (1781); KrV-2: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage (1787); MdS: Metaphysik der Sitten (1797); SdF, Der Streit der Fakultäten (1798). 2  Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, Freiburg / München: Karl Alber, 2015, S. 89. 3  Kant, Bw-II, AA-XI (Briefwechsel-Bd. II, 1789 – 1794), S. 398 f. In dem Brief macht er sich Notizen zu einigen mit Klein behandelten strafrechtlichen Themen („die mit Hrn. Klein verhandelte Materien aus dem Criminalrecht betreffend“). Erhard bezieht sich in dem Brief, auf den Kant antwortet, auf ein Gespräch mit Kammergerichtsrath Klein („einer von den seltnen Männern deren Enthusiasmus ihrer Einsicht untergeordnet ist, ohne erkaltet zu seyn“) über das Criminalrecht (BW-II, AA-XI, S. 305). Obwohl es einige andere Klein-Briefe gibt, die sich mit den Grundlagen des Naturrechts oder mit den Prinzipien des Rechts oder der Moral befassen (z. B.: die Frage von Klein an Kant: „Ob ein Fürst schuldig sey, sein Volk wohl zu regieren?“, in BW-II, AA-XI, S. 117). Wie bekannt ist, war Klein innovativ bei der Gestaltung von Sicherheitsmaßnahmen als ein zweites Mittel des Strafrechts und Widersacher der Thesen von

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stellt Kant klar, dass er sich darauf bezieht, worauf die Theologen hinweisen, die „die Strafe durch malum physicum ob malum morale illatum“ definieren: die pœna meremoralis ist so „categorisch“. „So fern sie aber von Menschen regiert wird ist die Nothwendigkeit derselben nur hypothetisch“ und die Strafe ist nach „den Regenten“ blos medicinalis für den Verbrecher, aber exemplaris für Andere4. Jedoch in seiner bekannten Grundlage des Strafrechts (Metaphysik der Sitten, 1797) macht Kant geltend, dass die verhängte Strafe eines Richters (pœna forensis) niemals einfach als Mittel zur Förderung des Wohls des Anderen, des Straftäters oder der Bürgergesellschaft auferlegt werden kann, sondern immer, weil er das Verbrechen begangen hat; „das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem!“5. Mit dieser Grundlage zeigt Kant eine andere Sichtweise als die, die sich der strafrechtlichen Lehre vom 18. Jahrhundert widersetzte, die meistens die These der Einschüchterung möglicher Verbrecher oder des sozialen Nutzens der Strafe verteidigt hatte6, und dies scheint eindeutig von Anfang an so zu sein7. Grolman gibt über die Vergeltungslehre in der Metaphysik der Sitten an: Kant „hat sogar vergessen, sein Princip der Wiedervergeltung zu deducieren“ von dem „keinen Grund werden kann, (…), als Kants Auctorität“8. Diese sehr zeitnahen Reaktionen auf Kants Straftheorie lassen eine gewisse Überraschung erkennen, wenn nicht einen klaren Widerspruch zu seinen eigenen Voraussetzungen9: sie beschuldigen Kants Vorstellung der Strafe als „altmetaphysische“10 oder, sehr grafisch gesehen, als „alttestamentliche“11. Der Grund für dieFeuerbach (vgl. Kleinheyer, „Klein, Ernst Ferdinand-Jurist“, Neue deutsche Biographie-11 Bd, Berlin: Duncker & Humblot,, 1977, S. 734f). Auf diesen Brief spielen an: Dyroff, „Zu Kants Strafrechtstheorie“, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie-XVII (1923/1924), S. 357; Schild, „Die staatliche Strafmaßnahme als Symbol der Strafwürdigkeit. Zur Verbrechens- und Strafphilosophie von Immanuel Kant“, in: Zaczyk / Köhler / Kahlo (Hrsg.), Festschrift für E.A. Wolff, Berlin: Springer, 1998, S. 439. 4  Kant, Bw-II, AA-XI, S. 399: „die poena meremoralis (die darum vielleicht vindicatiua genannt worden ist, weil sie die Göttliche Gerechtigkeit rettet“. 5  Kant, MdS, AA-VI, S. 331. 6  Höffe, Immanuel Kant, 2. Aufl., München: Beck, 2007, S. 235. 7 Vgl. N / N, Abhandlung über die neueste Bearbeitung des Criminalrechts und der Strafgesetzgebung, in: Neue Leipziger Literaturzeitung, 1. Stück (1805), S. 4: während der Autor der Rezension „eine unvergleichbare Scharfsinne“ in der „allgemeinen Rechtslehre“ erkennt, schätzt er in einer „unerhörten Theorie des Strafrechts“ zahlreiche „Willkührlichkeiten“ und „klaren Inconsequenzen“. 8  Grolman, „Rezension der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“, in: Almendigen / Feuerbach / Grolman (Hrsg.), Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde 1. Theil, Gießen: Tasché und Müller, 1804, S. 130. 9 Vgl. Hüning, „Kants Strafrechtstheorie und das Jus talionis“, in: D. Hüning / K. Michel /  A. Thomas, Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 2004, S. 333 ff. Der Aufsatz von Dieter Hüning enthält eine akribische Liste bibliographischer Quellen in diesem Sinne. 10  Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Kriminalrechts, Tübingen: H. Laupp, 1845, S. 7.

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se Vision liegt natürlich in der Beziehung zu dem ius talionis, das als Ausdruck des Gleichheitsprinzips bei der Verhängung der Strafe verstanden wird: „nur das Wiedergeltungsrecht (ius talionis), aber wohl zu verstehen vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturteil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben“12. Ius talionis und Gleichheitsprinzip sind in diesem Sinne eine Bezeichnung des Grundsatzes der Gerechtigkeit der Staatsstrafe, die Kant von dem Privaturteil klar abgrenzt, ohne auf Rache anzuspielen. Tatsächlich berührt diese Kritik diesen Ausgangspunkt der Gerechtigkeit nicht, den sie teilen, trotz Uneinigkeit über die konkrete Art und Weise, in der Kant dies in der Metaphysik der Sitten ausbaut. Genaugenommen kann die Frage umgekehrt gestellt werden: Kant kritisiert die damals vorherrschende Straflehre, nach der sich die staatliche Strafe nur von ihrem Nutzen für die Gesellschaft rechtfertigen lasse, weil für ihn „die Gerechtigkeit eine uneingeschränkt gültige Forderung ist“13. Diese Kritik stellt den Vorschlag seiner Straftheorie dar, die meiner Meinung nach nur Vergeltung ist. Aus dieser Perspektive, in der der Vorschlag als Kritik erachtet wird, werde ich versuchen, einige wesentliche Aspekte auszulegen, deren Grundlage nicht ausschließlich in der Metaphysik der Sitten erscheint: die pœna forensis als staatliche Strafe (II.); die pœna forensis als gerechte (absolute) Strafe (III.); die pœna forensis und das ius talionis (IV.); und die pœna forensis als Folge des kategorischen Imperativs (V.). II. Pœna forensis als staatliche Strafe (Vergeltung versus Rache) Im eingangs zitierten Text, wird der Unterschied zwischen pœna meremoralis (vindicatiua) und pœna forensis hervorgehoben14. Aber etwas Ähnliches erfolgt, wenn Kant zwischen pœna forensis (richterliche Strafe) und pœna naturalis unterscheidet, „auf welche der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt“15. Kants Interesse ist offensichtlich, die staatliche Strafe von anderen Folgen des Verbrechens zu unterscheiden, so erklärt es Hruschka eindeutig in seiner Kritik an Klug: für Kant sind die Gerichte die Adressaten des Strafrechts16, die eine Strafe gegen jeden verhängen, der ein Verbrechen begeht; und ein Verbrechen ist die „Übertretung eines öffentlichen Gesetzes“17. 11  Stephani, Anmerkung zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, Erlangen: Johann Jakob Palm, 1797: „Das kantische oder vielmehr alttestamentische (Bestrafungs) Prinzip“, S. 124. 12  Kant, MdS, AA-VI, S. 332. 13  Höffe, (Fn. 6), S. 241. 14  Kant, Bw-II, AA-XI, S. 398. 15  Kant, MdS, AA-VI, S. 331. 16  Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, S. 236. 17  Kant, MdS, AA-VI, S. 331.

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Im Rahmen seiner Kritik an Kant stellt Schopenhauer jedoch folgende Überlegungen an: „Das Gesetz also und die Vollziehung desselben, die Strafe, sind wesentlich auf die Zukunft gerichtet, nicht auf die Vergangenheit. Dies unterscheidet Strafe von Rache, welche letztere lediglich durch das Geschehene, also das Vergangene als solches, motiviert ist. Alle Vergeltung des Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes ohne Zweck für die Zukunft ist Rache und kann keinen anderen Zweck haben, als durch den Anblick des fremden Leidens, welches man selbst verursacht hat, sich über das selbst erlittene zu trösten. Solches ist Bosheit und Grausamkeit und ethisch nicht zu rechtfertigen“18. Diese Worte enthalten die Überzeugung, dass „Kants Theorie der Strafe als bloßer Vergeltung, um der Vergeltung Willen, eine völlig grundlose und verkehrte Ansicht“ ist, denn für Schopenhauer gibt es keinen Unterschied zwischen Vergeltung und Rache. Beide haben mit der Vergangenheit zu tun, und nur eine Strafe mit einem Endzweck in der Zukunft kann von der Rache unterschieden werden19. Im Gegensatz zu Hegel20 berührt Kant weder die Unterscheidung zwischen Vergeltung und Rache, noch nimmt er in seiner Rechtsgrundlage ausdrücklich Bezug auf Rache. Rache wird von Kant in der Tugendlehre berücksichtigt, und zwar in einem bestimmten Kontext: nach einer Einstufung von den „Liebespflichten“, die er wie die „Wohlthätigkeit“, die „Dankbarkeit“ und die „Theilnehmung“21 definiert, entwickelt er die entgegengesetzten Laster, die aus Hass entstehen: der Neid, die Undankbarkeit und die Schadenfreude22. In diesem letzten Laster tritt Rache auf: „Von dieser Schadenfreude ist die süßeste und noch dazu mit dem Schein des größten Rechts, ja wohl gar der Verbindlichkeit (als Rechtsbegierde), den Schaden Anderer auch ohne eigenen Vortheil sich zum Zweck zu machen, die Rachbegierde“23. 18  Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), in: Zürcher Ausgabe-Werke in zehn Bänden, Bd. 1, Zürich: Diogenes, 1977, 1. Teil, Buch 4, § 62, S. 432. 19  Schopenhauer, Ibid., S. 433: „Zweck für die Zukunft unterscheidet Strafe von Rache“. 20  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Frankfurt a. M: Suhrkamp, 1970, § 102 und § 103; auch Hegel, in Dieter Henrich (Hrsg.), Hegels Philosophie des Rechts (Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S. 89. 21  Kant, MdS, AA-VI, S. 452. Kant bestreitet, dass Mitleid („Mitleid“: den Schmerz teilen) eine Pflicht im engeren Sinne ist (S. 457, am Anfang von § 35 der Tugendlehre) und versucht die sympathia moralis zu trennen, die das Teilen von Freude und Schmerz umfasst („Mitfreude und Mitleid“, S. 456, Anfang § 34), weil er das bloße Gefühl trennt und weil er es für naturgebunden und daher nicht frei hält (unfrei: communio sentiendi illiberalis, servilis). Da es nicht an die praktische Vernunft gebunden ist und daher nicht von der Freiheit abhängt, kann diese Form des Mitgefühls keine Tugendpflicht sein; dies ist in § 35 angegeben: wenn wir uns auf das „Mitgefühl“ beziehen, weil „wir das schmerzliche Mitleid vermeiden müssen, von dem man sich nicht helfen kann“, „weil dieses doch einer der in uns von der Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu thun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde“ (S. 457). Das „schmerzliche Mitleid“ ist hier nicht „Mitleid“, sondern „Mitgefühl“ und deshalb das Mitgefühl von Schmerz. 22  Kant, MdS, AA-VI, S. 460 f.: Diese Laster sind „von der Menschenliebe gerade (Contrarie) entgegengesetzten“, (S. 458). 23  Kant, MdS, AA-VI, S. 460.

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Hruschka interpretiert in seiner Kritik an Klug die Fortsetzung des Textes der Tugendlehre, auf den ich mich bisher bezogen habe24: „Eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächt (...) wird“25. In diesem Text stellt Kant fest, dass die Strafe nicht „ein Akt der Privatautorität des Beleidigten“ ist, „sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über Alle, die demselben unterworfen sind, Effect giebt“. Offensichtlich schließt er Rache als etwas Spezifisches von den „Menschen in einem rechtlichen Zustande“ aus, und mit der Unterstützung des biblischen Textes („Die Rache ist mein; ich will vergelten“)26 behauptet er auch mit Bestimmtheit, dass nur der „oberste moralische Gesetzgeber“ (Gott) diese rächende Vergeltung besitzt. Hruschka kommt zu dem Schluss, dass genau dies bedeutet, dass das Ziel der Strafe für Kant darin besteht, potentielle Straftäter von Straftaten abzuhalten 27, und stützt sich zusätzlich auf die bekannte Passage vom Brett des Karneades (über das ius necessitatis), worauf ich später noch eingehen werde28. Meiner Meinung nach, ist der Text der Tugendlehre eine Ergänzung zu einer parallelen und sehr zeitbedingten Erklärung, die Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) entwickelt hatte, wo er sich auf die „Rachbegierde als Leidenschaft“29 bezieht: die Begierde nach Rache ist der Hass, der aus dem Leiden einer Ungerechtigkeit resultiert („Haß aus dem erlittenen Unrecht“). Gerade hier zeigt Kant, dass er sich des von Schopenhauer aufgeworfenen Problems bewusst ist, und erkennt, dass es eine gewisse Analogie („Analogon“) zwischen dem Wunsch nach Rache und der „erlaubten Rechtsbegierde“ gibt. Diese Frage scheint jedoch gelöst zu sein: wenn man nicht nur, was das Richtige ist, will, sondern dies „ein Bestimmungsgrund der freien Willkür durch reine praktische Vernunft“ ist30. Die Begierde nach Rache als Leidenschaft besteht nur „durch bloße Selbstliebe, d. i. nur zu seinem Vortheil, nicht zum Behuf einer Gesetzgebung für jedermann, ist sinnlicher Antrieb des Hasses, nicht der Ungerechtigkeit, sondern des gegen uns Ungerechten“31. Dieser Text ist meiner Meinung nach von grundlegender Bedeutung für die Art und Weise wie er „die Selbstliebe“ präzisiert: wer zu seinem eigenen Vorteil handelt, ist jemand, der dies ohne den Zweck einer „Gesetzgebung für jedermann“ macht. Die Aussage ist in der Tat eine Anspielung auf den kategorischen Imperativ, in dem die Maxime des Willens: „jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen   Hruschka, (Fn. 2), S. 238.   Kant, MdS, AA-VI, S. 460. 26 Vgl. Paulus, Röm. 12, 19; Paulus verweist auf den alttestamentlichen Text von Dtn. 32, 35. 27  Hruschka, (Fn. 2), S. 239. 28  Ibid., S. 239. 29  Kant, ApH, A.A-VII, S. 117 ff. 30  Kant, ApH, AA-VII, S. 270 f. 31  Kant, ApH, AA-VII, S. 271. 24 25

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Gesetzgebung gelten könne“32. Diese Charakterisierung des Rachegedankens als Ausdruck einer Leidenschaft, die sich den Liebespflichten widersetzt, hat auch eine Bestätigung im Text, die in der Analogie zwischen der Rachbegierde und der Rechtsbegierde zurückkehrt. Kant erkennt erneut die Nähe zwischen der Rachbegierde und der Rechtsbegierde, wenn er auf die Möglichkeit anspielt, dass die Verfolgung eines selbstsüchtigen Ziels die „Rechtsbegierde“ in eine „Leidenschaft der Wiedervergeltung (…), die oft bis zum Wahnsinn heftig ist“33 verwandelt. Er hat jedoch von Anfang an die Rechtsebene zum Ausdruck gebracht: Hass ist eine Leidenschaft und daher eine Neigung „nur von Menschen auf Menschen gerichtet“34; „der Rechtsbegriff aber [ist], weil er unmittelbar aus dem Begriff der äußern Freiheit hervorgeht, weit wichtiger und den Willen weit stärker bewegender Antrieb …, als der des Wohlwollens“35. Diese Überlegungen zur Unterscheidung von Rache und Gerechtigkeit in der Anthropologie zeigen meines Erachtens die Klarheit, mit der Kant die Staatsstrafe auf Vergeltung stützt. Aufschlussreich ist auch der Text, der dem von Hruschka kommentierten folgt: „Es ist also Tugendpflicht nicht allein selbst blos aus Rache die Feindseligkeit Anderer nicht mit Haß zu erwidern, sondern selbst, nicht einmal den Weltrichter zur Rache aufzufordern; theils weil der Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen hat, um der Verzeihung selbst sehr zu bedürfen, theils und zwar vornehmlich, weil keine Strafe, von wem es auch sei, aus Haß verhängt werden darf“36. Der Richter ist nicht dazu berufen, und daher wird eine pœna forensis nicht als Rache verhängt, weil Rache eine unsittliche Neigung ist; aber aus diesem Grund kann es vom Richter eine auferlegte Vergeltung ohne Rache geben. An dieser Stelle ist Hruschka jedoch erneut von wesentlicher Bedeutung, da diese Staatsstrafe ohne Rechtsstaatlichkeit nicht zu verstehen ist: „der Rechtstaat ist sogar der einzige absolute (äußere) Wert, den wir auf dieser Erde hervorbringen können“37. Die Frage ist demzufolge: worauf beruht diese staatliche Strafe, die für den rechtlichen Zustande charakteristisch ist und von einem Gericht verhängt wird?38: wenn eine Strafe verdient ist. In diesem Verhältnis zwischen Bestrafungswürdigkeit und Rechtsstaatlichkeit ist an Kants Überlegungen zu erinnern: „Die bloße Idee einer   Kant, KpV, AA-V, S. 30.   Kant, ApH, AA-VII, S. 271: „da ihr eine Idee, obzwar freilich selbstsüchtig angewandt, zum Grund liegt, die Rechtsbegierde gegen den Beleidiger in Leidenschaft der Wiedervergeltung verwandelt, die oft bis zum Wahnsinn heftig ist, sich selbst dem Verderben auszusetzen, wenn nur der Feind demselben nicht entrinnt, und (in der Blutrache) diesen Haß gar selbst zwischen Völkerschaften erblich zu machen“. 34  Kant, ApH, AA-VII, S. 270. 35  Kant, ApH, AA-VII, S. 270. 36  Kant, MdS, AA-VI, S. 460 f. 37  Hruschka, (Fn. 2), S. 238. 38  Kant, MdS, AA-VI, S. 460: „Nun ist aber Strafe nicht ein Act der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über Alle, …, Effect giebt“. 32 33

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Staatsverfassung unter Menschen führt schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich, welche der obersten Gewalt zusteht“39. III. Pœna forensis als gerechte (absolute) Strafe Kant enthüllt die Idee der verdienten Strafe als eine Idee der praktischen Vernunft, die mit der Verletzung eines moralischen Gesetzes verbunden ist40. „In jeder Strafe als solcher muß Gerechtigkeit sein, und diese macht das Wesentliche dieses Begriffs aus“: es ist „ein physisches Übel, welches, wenn es auch nicht als natürliche Folge mit dem moralisch Bösen verbunden wäre, doch als Frage nach Principien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden müßte“41. Diese Erklärung geht der bekannten strafrechtlichen Grundlage in Die Metaphysik der Sitten neun Jahre voraus und erscheint in der Kritik der praktischen Vernunft, die bekanntlich nicht die Grundlagen des Rechts zu legen vorgibt, sondern vielmehr darauf abzielt, klar darzustellen „was im Bewußstsein des moralisch Handelnden immer schon, wenn auch undeutlich, enthalten ist“42. Die Frage der Strafgerechtigkeit wird im Zusammenhang mit den Konflikten des Moralprinzips behandelt, insbesondere zum „Princip der Glückseligkeit“. Kant führt hier das Thema Strafe ein – in ­Dyroffs Worten – „Um zu zeigen, daß Glückseligkeit nicht das wesentliche Prinzip des sittlichen Verhaltens sein könnte“43. Gerade die Strafe kann nicht mit der Freude am Glück in Verbindung gebracht werden44, weil es ein Übel ist, eine Folge des moralischen Übels45, dessen wesentliche Voraussetzung, wie bereits angedeutet, die Gerechtigkeit ist.   Kant, MdS, AA-VI, S. 363.   Kant, KpV, AA-V, S. 37. 41  Kant, KpV, AA-V, S. 37. 42  Höffe, (Fn. 6), S. 172. Diese Aussage bezieht sich auch auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Es ist wahr, dass die Metaphysik der Sitten sich in ihrem zweiten Teil mit der Theorie der Tugend befasst; wie Höffe jedoch ausführt, versucht letzterer, den Vorwurf des Formalismus, der sich mit der Ethik von Kant befasst, zu überwinden. 43  Dyroff, (Fn. 3), S. 354; dieser Aspekt war bereits verworfen worden von Döhring (Feuerbachs Straftheorie und ihr Verhältnis zur Kantischen Philosophie, Berlin: Reuter & Reinhard, 1907, S. 10). Höffe ist jedoch der Ansicht, dass es keine völlige Ablehnung von Eudaimonia (dem Prinzip des Glücks) gibt, sondern vielmehr „erhält [sie] als höchstes Gut im Rahmen der Postulatenlehre einen festen Platz“ (Fn. 6), S. 173. 44  Kant, KpV, AA-V, S. 37: „Nun läßt sich mit dem Begriffe einer Strafe, als einer solchen, doch gar nicht das Teilhaftigwerden der Glückseligkeit verbinden“. 45  Die Spannung zwischen Glück und Güte ist offensichtlich und die Vision des Guten in Kant wurde anders betrachtet: während Cohen in der Assoziation zwischen Platon und Kant einen strengen Gegensatz im Konzept des Guten zu Aristoteles sieht (in Platon existiert das Gute und in Aristoteles das Gut: Cohen, Kants Begründung der Ethik, 1. Aufl., Berlin: Ferd. Dümmler, 1877, S. 4; in der zweiten Ausgabe, spezifiziert er mehr über Aristoteles: die Güter des Guten, in Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl., Berlin: Bruno Cassirer, S. 4), Gadamer (Die Idee des guten zwischen Plato und Aristoteles, Heidelberg: Winter, 1978) denkt, dass das Gute in Platon nur symbolisch vorweggenommen wird (S. 101), was Aristoteles kritisiert und 39 40

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Gewiss ist der absolute Charakter der Straftheorie mit zwei Ideen verbunden, die, wie wir gesehen haben, von der Grundlage der Moral ausgehen: die Vorstellung der Gerechtigkeit und die Vorstellung des Strafrechts als kategorischer Imperativ. Kant selbst hat auf die bekannte Unterscheidung hingewiesen, die Seneca46 in dem eingangs zitierten Brief Platon zuschreibt (nam ut Plato ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur) 47, wenn er sich auf die poena vindicatiua bezieht, von der die Theologen sagen: „sie würde zugefügt, nicht ne peccetur, sondern quia peccatum est“48. Es ist jedoch klar, dass das Paradigma der absoluten Theorien Kants Straftheorie49 zugeschrieben wird, da es als unbedingt angesehen wird. Die Erklärung von Jellinek ist illustrativ und basiert auf der Idee der Notwendigkeit: was die absoluten Theorien von den relativen Theorien unterscheiden würde, ist der Grund, warum diese Notwendigkeit besteht. „Die erste betrachtet die Strafe als eine ethische, die zweite als eine sociale Nothwendigkeit“50. Was Jellinek unter ethischer Notwendigkeit versteht, zeigt seine Beschreibung der Vergeltungstheorien: „Die methodisch mit dem praktischen Grund modifiziert (S. 99 – 100); und dass Kant in seiner Moralphilosophie die Perspektive der aristotelischen Praxis der Philosophie folgt (S. 99), obwohl er später darauf hinweist, dass die Unterscheidung zwischen dem praktischen moralischen Imperativ und den aus dem gesunden Menschenverstand abgeleiteten Imperativen in die platonisch-aristotelische Perspektive gestellt wird. 46  Seneca, De ira, 1, 19 – 7. Gewiss ist es, dass sich die Begriffe von Seneca auf Platon mit dem Ausdruck „ut Plato ait“ beziehen, weil es sich um den Protagoras-Dialog handelt. 47  Platon, Protagoras, 324 a: „Denn Niemand bestraft die welche Unrecht getan haben darauf seinen Sinn richtend und deshalb, weil einer eben Unrecht getan hat, außer wer sich ganz vernunftlos wie ein Tier eigentlich nur rächen will. Wer aber mit Vernunft sich vornimmt einen zu strafen, der bestraft nicht um des begangenen Unrechts willen, denn er kann ja doch das Geschehene nicht ungeschehen machen, sondern des zukünftigen wegen, damit nicht auf ein andermal wieder, weder derselbe noch einer der diesen bestraft gesehen hat, dasselbe Unrecht begehe. Und indem er dieses beabsichtiget, denkt er doch wohl, daß die Tugend kann angebildet werden; denn der Ablenkung wegen straft er ja“. Es ist jedenfalls ungewiss, dass sich Platon so deutlich über die Strafe geäußert hat (vgl. Noll, Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1962, S. 4, Fußnote 3). In jedem Fall wird nicht in Betracht gezogen, dass Protagoras diese Behauptungen aufstellt, wenn es darum geht, ob Tugend gelehrt werden kann, denn unmittelbar vorher bekräftigt er: „Hier also schilt und zürnt einer auf den andern offenbar als werde diese allerdings durch Achtsamkeit und Unterricht erworben“. 48  Kant, Bw-II, AA-XI, S. 398. In der Metaphysik der Sitten werden diese lateinischen Ausdrücke jedoch erst in der zweiten Ausgabe zitiert: in diesem Sinn, Hruschka (Fn. 2), S. 94Fn. 21, S. 97. 49  Hepp (Darstellung und Beurteilung der deutschen Strafrechts-Systeme, Heidelberg: J.C.B. Mohr, 1843, § 1, III) gibt an, dass „die Theorien der Vergeltung oder (vorzugsweise) der Gerechtigkeit“ seit Zachariä absolute Theorien genannt werden. Er meint Karl Salomo Zachariä von Lingenthal (1769 – 1843), politischer Philosoph und Rechtswissenschaftler, und nicht den bekannten zeitgenössischen Straf- und Verfahrensrechtler (und auch Politiker) Heinrich Albert Zachariä (1806 – 1875). 50  Jellinek, Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien: Alfred Hölder, 1878, S. 91. Vgl. praktisch mit den gleichen Worten, Noll, Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen: Mohr, 1962, S. 19 f., obwohl er auch bei einem Zitat von Max Scheler (Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4ª Aufl., Bern: Francke, 1954, S. 374) Unterstützung sucht.

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Strafe wird von ihnen aufgefasst entweder als unmittelbarer Inhalt eines kategorischen Sittengesetzes oder als dialectisches Moment in dem Processe, welche das Recht durch seine Negation hindurch zu seiner Wiederherstellung zu machen hat, als ein Gebot der göttlichen Autorität oder als Aufhebung eines absoluten Missfallens an der durch das Verbrechen hervorgerufenen Ungleichheit zwischen Verletzer und Verletzem“. Und er fügt hinzu, dass trotz der Unterschiede in den ethischen Grundsätzen, die ihnen die Grundlage geben, „so stimmen diese Lehren doch alle darin überein, dass das Wesen der Strafe in der Vergeltung gesetzt wird“51. In diesem Zitat ist eindeutig, dass die beiden Aspekte der retributiven Vorstellung der Strafe implizite Remissionen zu den Vorstellungen der Strafe von Kant und Hegel sind; Kant verweist auf das kategorische Sittengesetz; Hegel verweist auf die dialektische Wiederherstellung des Rechts, die durch seine Negation erforderlich ist. Jellinek gibt zu, dass Vergeltung als Veredelung der Rache eine große Rolle spielt, kritisiert aber die „naive“ Auffassung von Bestrafung als bloßes Vernunftgebot52. Ahrens versucht jedoch eine Interpretation von Kant, die vorgibt, außerhalb dieses Paradigmas zu sein, obwohl er nicht leugnet, dass es in Kant einen absoluten Rahmen gibt, der auf der Idee der Gerechtigkeit beruht53. In seiner Kritik an den absoluten Theorien54, die er in einem Postulat der praktischen Vernunft unterstützt, kommt Ahrens zu dem Schluss, dass die Unannehmbarkeit der absoluten Theorien genau ihre absolute Natur ist. In der Tat glaubt Ahrens, dass die absoluten Theorien auf einer falschen Abstraktion beruhen, die die Strafe von einem rationalen Zweck trennt, auf dem alle menschlichen Handlungen beruhen sollten oder sie betrachten die Strafe als bloße Folge der gesetzeswidrigen Handlung55. Die absoluten Theorien 51  Ibid, S. 91. Eine Klassifikation mit Anspruch auf Vollständigkeit unter Bezugnahme auf die konkreten Autoren, die die absoluten Theorien verteidigen, führt Hepp ein (Fn. 47, S. XVII ff.), Bauer folgend, der ausdrücklich anerkennt, dass er die Theorien der Strafe und des Strafrechts vollständig eingestuft hat („eine erschöpfende Classification“). Zuvor hatte Hepp zwischen absoluten oder bezahlten Systemen und relativen- oder Versorgungssystemen unterschieden (Fn. 47, S. XIII). 52  Ibid, S. 92 f. 53  Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates, Bd. II, Wien: Carl Gerold’s Sohn, 1871, S. 449 ff. 54  Tatsächlich ist die grundlegende Kritik an relativen Theorien, dass sie das Ziel der Strafe zum größten Teil nicht als Ganzes betrachten, sondern nur Teile desselben Zwecks (Ahrens, Ibid, S. 450); und, trotz Kritik, steht er dem Gedanken der Korrektur als Ziel der Strafe positiv gegenüber, insbesondere mit der These, dass Strafe ein Gut sein kann („nur moralischer Schmerz kann den Verbrecher zur Reue führen“), weil das Strafrecht auf das „Princip der ­Uebelzufügung“ verzichten muss , worauf er zum ersten Mal bestanden hat, nach Krause, Röder (Naturrecht, S. 456). Ahrens war Schüler von Krause gewesen, genau wie Röder (vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, München: Beck, 2017, S. 427). Krause und Röder sind jedenfalls nicht darauf beschränkt, die Berichtigung als das Ziel der Strafe zu betrachten und „die staatliche Strafe ganz auf diesen Aspekt zu reduzieren“ (Reulecke, Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 295). 55  Ahrens, (Fn. 53), S.  450 – 451.

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der Strafe können sich entweder von einer von Gott festgelegten Ordnung der Welt ableiten, die ein Restbild der göttlichen Strafe hinterlässt; oder von einem Auftrag bedingungsloser Vernunft (wie in Kant, der kategorischer Imperativ); oder von der Idee der Gerechtigkeit, die auf dem formalen Prinzip der Gleichheit basiert. In jedem dieser Fälle tritt „ein unheilbares Gebrechen“ der Wiedervergeltungstheorie hervor, wenn eine Analogie zwischen Straftaten und der verdienten Strafe für diese Straftaten gesucht wird56. Ahrens unterscheidet zwischen der „roheste Form“ der Theorie von Kant, als Reaktion „in einer gleichen äussern Richtung“, die sich als „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ auszeichnet; und die höchste Ebene, in der nicht nur das externe Ereignis berücksichtigt wird, sondern auch „die innere Bösartigkeit des Verbrechers“57. Meiner Meinung nach gibt es nur eine Interpretation von Ahrens: wenn die Strafe die Aufmerksamkeit auf „die innere Bösartigkeit des Verbrechers” zieht, dann ist es möglich, einen rationalen Zweck zu finden. Dies steht natürlich im Einklang mit seiner Auffassung, dass die Strafe eine Reaktion auf die Gesamtheit sei: die Wiederherstellung der Überlegenheit der Norm über den verbrecherischen Willen, die die Wiederherstellung des verletzten Rechts impliziert, und die „Wiederherstellung des subjectiven guten rechtlichen Willens durch Zurückgehen auf den in der rechtlich-sittlichen Gesinnung liegenden Grund allen Wollens und Handelns“58. Was Ahrens von Kant akzeptiert, ist eine subjektivistische Lesart, die die Idee der Strafe der Umwandlung des schlechten Willens in das Gute und damit seiner Besserung unterordnet59; was Ahrens einräumt, ist ein Kant, der nicht als Grundlage der Theorie der Vergeltung verstanden werden kann, sondern als Rechtfertigung für eine Besserung desjenigen, der das Verbrechen begangen hat. Offensichtlich berücksichtigt Ahrens Vorschlag Kant nicht so sehr wegen einer Ablehnung der ethischen Notwendigkeit der Strafe, sondern weil er vor allem nicht die Vorstellung der Gerechtigkeit in Betracht zieht, die bei Kant in der Behandlung des Strafthemas seit der Kritik der praktischen Vernunft konstant war; wie Hüning betont hat: in der Idee der „reinen und strengen Gerechtigkeit“ besteht also das Spezifikum der Kantischen Straftheorie und die Strafbarkeit selbst liegt nicht in der bösen Gesinnung des Täters, weil die Gerechtigkeit der Strafe nur eine äußere ist 60.   Ahrens, Ibid., S. 451.   Ahrens, Ibid., S. 451. 58  Ahrens, Ibid., S. 451. 59  Diese subjektivistische Lesung war in Krause bereits sehr deutlich vorhanden (Das Urbild der Menschheit: ein Versuch, Dresden: Arnold, 1811, S. 15 ff.); Röder (Die herrschenden Grundlehren vom Verbrechen und Strafe in ihren inneren Widersprüchen, Wiesbaden: Julius Niedner, 1867) fügt dieser Perspektive von „Besserungsstrafe“ eine soziale Dimension hinzu: die „sittliche Besserung Gefangener“ (S. 114) kann „das böse Beispiel seiner That durch das Gute Beispiel seiner Umkehr zum Guten als völlig getilgt“S. 113). 60  Hüning, „Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis“, in Hüning / Michel / Thomas (Hrsg.), Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 2004, S. 355 f. 56 57

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IV. Pœna forensis und ius talionis Die mehr oder weniger expliziten Kritikpunkte seiner Zeitgenossen – manchmal auch Strafrechtler – gegenüber Kant liegen nämlich in ihrer Konkretion nach dem ius talionis61, welches Kant als „die einzige a priori bestimmende (…) Idee als Prinzip des Strafrechts“62 charakterisiert. Das ius talionis wird von Kant als Wiedervergeltungsrecht bezeichnet, und nur das Wiedervergeltungsrecht „kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben“ gemäß dem „Prinzip der Gleichheit“63. Die Relevanz des ius talionis als Wiedervergeltungsrecht wird insbesondere betont, wenn seine Analyse sich vom eigentlichen Zweck der Strafe trennt. Byrds These beschränkt das ius talionis auf die Bestimmung von Art und Maß der Strafe und schreibt ihm die Legitimation der Erfüllung des öffentlichen Zwangsrechts der Abschreckung zu64. Eine ähnliche Interpretation verteidigt Hruschka, der sich auf den Text der Tugendlehre bezieht, in dem Kant die Rache auf den obersten moralischen Gesetzgeber beschränkt, worauf ich bereits hingewiesen habe65: hier greift das Wiedervergeltungsrecht ein, das die Höhe der Strafe beschränkt 66. Es ist auf jeden Fall gewiss, dass Byrd und Hruschka die Bedeutung von ius talionis beibehalten, wenn auch in begrenzter Form. Schild hingegen hat eine Interpretation der Strafe in Kant als staatliche Präventionsmaßnahme verteidigt und dem ius talionis einen symbolischen Charakter zugeschrieben67. Eine Nuance auf dem ius talionis hat Merle jedoch zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie Ahrens veranlasst: die Strafe wird als besondere Prävention verstanden, die auf einer Interpretation von Kant beruht, die der Bedeutung des ius talionis entsagt 68. Merles Ausgangspunkt ist eine Trennung69 zwischen ius talionis als Wiedervergeltung („die Bestrafung der Kriminellen stellt eine Vergeltung für das begangene Verbrechen dar“) und die bloße Vergeltung („das Strafmaß muss dem Verbrechen gleich sein“)70. Im bekannten Absatz über die pœna forensis (richterli61  Hüning, Ibid. (S. 333 ff.) enthält eine akribische Liste bibliographischer Quellen in diesem Sinne. 62  Kant, MdS, AA-VI, S. 362. 63  Kant, MdS, AA-VI, S. 332. 64  Byrd, „Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in its Threat, Retribution in its Execution“, Law and Philosophy Volume 8, Issue 2 (1989), S. 151 ff. 65  Zitiert in (Fn. 24). 66  Hruschka, (Fn. 2), S. 240. 67  Schild, (Fn. 3), S. 434 f. 68  Merle stellt seine These der These von Byrd gegenüber, von der er meint, sie sei „in brillanter Formulierung“ präsentiert worden (Merle, Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde: Eine Kritik aus der Perspektive des deutschen Idealismus, Berlin: de Gruyter, 2007, S. 36). 69  Merle, (Fn. 68), S. 41. 70 Vgl. von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften: 3. Materielle Politik, Stuttgart: Hallberger, 1834, S. 231 f.: „Die Idee unserer Strafrechtstheorie ist also die der gerechten, d.h. der Schwere des Verbrechens entsprechenden Vergeltung. Ist diese Lehre

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che Strafe)71 auf den bereits Bezug genommen wurde72, betont Merle, dass nichts über die Vergeltung im engeren Sinne gesagt wird, und dass nur die Ablehnung einer utilitaristischen Rechtfertigungstheorie der Strafe gewiss ist73. Die einzige Vergeltung ist jedoch die Ablehnung, die Merle in den Worten betrachtet, die Kant dem Diebstahl widmet: „Wer da stiehlt, macht aller Anderer Eigenthum unsicher; er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der Sicherheit alles möglichen Eigenthums“74. Das Recht der Wiedervergeltung tritt in Kraft, weil der Täter aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen ist und in den Naturzustand zurückkehrt75. Die Wiederherstellung des Bürgerstatus erfordert „gleichzeitig die Suspendierung und die baldmöglichste Resozialisierung des Verbrechers als Mitglied der Rechtsgemeinschaft“76. Die Übereinstimmung mit Ahrens ist in einigen Aspekten eindeutig; aber vor allem in der Ablehnung des ius talionis als wesentlichem Bestandteil von Kants Straftheorie77. Meiner Meinung nach ist diese radikale Aufgabe des ius talionis – oder der Wiedervergeltung – in der Interpretation von Kant nicht akzeptabel78. Es kann eine Unterscheidung zwischen einem Grundsatz der allgemeine Vergeltung akzeptiert werden, der die Frage beantwortet, warum und gegen wen eine Strafe verhängt werden soll, und einem Grundsatz der speziellen Vergeltung oder Wiedervergeltung, der die Frage nach der Form und dem Maß der Strafe beantwortet, die das Subjekt verdient79. Wie bereits erwähnt, bestreiten Byrd oder Hruschka den ersten Grundsatz, um zu akzeptieren, dass Kant die allgemeine Vergeltung nicht ausschließt; aber die Wiedervergeltung ist ein wesentlicher Aspekt in der öffentlichen Gerechtigkeit und im Verständnis des Rechtsprinzips und des Rechtszustands in Kant. Wie Zaczyk hervorhebt: das formale Prinzip der Möglichkeit eines rechtlichen Zustand heiße die öffentliche Gerechtigkeit.80 gleichbedeutend mit jener von der Wiedervergeltung? – Durchaus nicht, wiewohl gar oft von der Oberflächlichkeit einer Verwechslung der beiden begangen oder eine unter die andere gemischt wird“. 71  Kant, AA-VI, S. 331: „Richterliche Strafe (poena forensis) (...) kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat.“ 72  Vgl. Fn. 6. 73  Merle, (Fn. 68), S. 42. 74  Kant, MdS, AA-VI, S. 333. 75  Merle, (Fn. 68), S. 42. 76  Merle, (Fn. 68), S. 42. 77  Merle, (Fn. 68), S. 47: „Das jus talionis kann nicht aus Kants Rechtsbegriff hergeleitet wird, vielmehr es widerspricht diesem“; und auch S. 48: „Vor allem aber ist es möglich, Kants Strafrecht ohne das jus talionis direkt aus seinem Rechtsbegriff zu rekonstruieren“. 78  Kritisch auch Pawlik, „Buchbesprechung”, ZStW 120 (2008), S. 13: „Merle begründet seine Option für die Spezialprävention mit einer waghalsigen rechtsphilosophischen Konstruktion“. 79  Höffe, (Fn. 6), S. 237 ff. 80  Zaczyk, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 56 (1994), S. 120.

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Dies zeigt sich meines Erachtens deutlich in der Analyse der Fälle, die nach Merle Kant als „Ausnahmen“ von der Wiedervergeltung akzeptiert hätte81. Der erste Text ist die kommentierte Passage über das Brett des Karneades und das ius necessitatis, auf die sich auch Hruschka bezieht, obwohl in seinem Fall, wenn er behauptet, dass es in Kant auch einen Zweck der allgemeinen Prävention gibt82. Ich glaube nicht, dass diese Passage als direkt verbunden mit dem Rechtsprinzip interpretiert werden kann. Im Gegenteil, Kant betrachtet dieses ius necessitatis als ius æquivocum – auch die æquitas – und daher aus einer anderen Perspektive. Hruschka betont zu Recht die Unterscheidung zwischen Strafgesetz und Strafurteil83, denn es befindet sich in der Basis der æquitas (Billigkeit), „weil diese vor das Gewissensgericht ( forum poli) allein gehört“84. Auch in dem ius necessitatis, ist der Strafausschluss eine „bloß subjective“ Sentenz und nicht eine „objective“ allgemeine Rechtsvorschrift 85. Kant erklärt, dass die Tat nicht mit einer Strafe bestraft werden sollte, aber unterscheidet diesen Fall von anderen Fällen: „nicht etwa als unsträflich (inculpabile), sondern nur als unstrafbar es (impunibile) zu beurtheilen“, und fügt hinzu, dass es sich um eine „subjective Straflosigkeit“86 handelt. Die Bedeutung des Subjektiven oder eines „Rechts im subjektiven Sinne“ ist eine nicht einfache Frage und hat meines Erachtens dogmatische strafrechtliche Konsequenzen87; aber vor allem ist die Aussage wesentlich, mit der Kant die Argumentation abschließt: „der Sinnspruch des Nothrechts heißt: Noth hat kein Gebot (necessitas non habet legem)“. Hruschka verweist auf den Fall und bekräftigt: „das ‚Notrecht‘ ist also kein Notrecht, sondern ein Nicht-Recht“88. In diesem Fall ist das Argument von Merle angemessen: es gibt kein Mandat, weil die Regeln des Rechtszustandes das Dilemma nicht lösen können; und Hruschka hat auch Recht: sogar Kant spricht ausdrücklich von dem Strafrecht als Bedrohung: „die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist, (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch)“89. Dies geschieht aber gerade deshalb, weil das Recht des Rechtszustandes, das von der öffentlichen Gerechtigkeit geregelt wird, das Dilemma nicht lösen kann, das Kant in das ius æquivocum stellt. Die Frage wird in Merles zweitem Beispiel bestätigt, das Kant auch casus necessitatis nennt: wenn bei einem Mord „die Zahl der Complicen (correi) zu einer solchen That so groß ist, daß der Staat, um keine solche Verbrecher zu haben, bald   Merle, Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde, S. 43.   Hruschka, (Fn. 2), S. 239; zum Brettfall, auch in: Pawlik / Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs, Carl Heymann, Köln, 2007, S. 190. 83 Ibid. 84  Kant, MdS, AA-VI, S. 235. 85  Kant, MdS, AA-VI, S. 235. 86  Kant, MdS, AA-VI, S. 235 f. 87  Pérez del Valle, „Impunibilitas y el derecho en sentido subjetivo“, Indret penal (Revista para el análisis del Derecho) 3/2017, S. 3 ff. 88  Hruschka, (Fn. 82), S. 190. 89  Kant, MdS, AA-VI, S. 235. 81 82

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dahin kommen könnte, keine Unterthanen mehr zu haben, und sich doch nicht auflösen … will“, kann der Souverän eine Abschiebung statt Todesstrafe verhängen, denn es ist ein Notfall, um die Menge einzudämmen90. In dieser Passage spricht Kant ausdrücklich von der Gefahr, in den „aller äußeren Gerechtigkeit entbehrenden Naturzustand über[zu]gehen“, und davon, dass dieser Akt nicht „nach einem öffentlichen Gesetz, sondern durch einen Machtspruch“91 angenommen wird. In diesem Fall bezieht sich Kant auf ein Ausbleiben des Rechtszustands oder eine Rückkehr zum Naturzustand. Aber Hruschka selbst hat argumentiert, dass es bei Kant möglich ist, von zwei Naturzuständen zu sprechen: ein Naturzustand des Subjekts, das sich in keine der Gesellschaften integriert; und ein Naturzustand des Subjekts, das sehr wohl in Gesellschaften lebt, „von denen kein Gesetz a priori gilt“92. Dieses Gesetz a priori ist das, was im Notfall nicht existiert. Diese Ausnahmen bestätigen meines Erachtens, dass es sich bei der Strafe nach Kant in jedem Fall im Rechtszustand um eine Vergeltung handelt. Der Hinweis auf die Bedrohung ist im Notfall ein Merkmal des vor-rechtlichen Zustandes. Die Unterscheidung zwischen der respublica noumenon und der respublica phænomenon in Der Streit der Fakultäten kann in diesem Sinne aufklärend sein: Vergeltung in der bürgerlichen Verfassung der respublica noumenon und Vorbeugung gegen Gefahren durch die Zerstörer (auch Bedrohung für potentielle Zerstörer) alles Guten in der respublica phænomenon93. V. Pœna forensis als Folge des kategorischen Imperativs Kants Behauptung, dass das Strafrecht ein kategorischer Imperativ sei94, ist entscheidend, denn vor allem ist die Strafe eine Frage der praktischen Philosophie. Die Argumentation über die Strafe in der Kritik der praktischen Vernunft, auf die ich früher Bezug genommen habe, zeigt inwieweit das so ist: Kant spricht das Problem der Strafe an, als wäre es eine Folge des moralischen Übels aufgrund eines sittlichen Prinzips in der Perspektive des Sollens95. Diese moralische Notwendigkeit, die mit der Strafe und der Gerechtigkeit unvermeidlich in Verbindung gebracht wird –   Kant, MdS, AA-VI, S. 334.   Ibid, S. 334. 92  Kant, MdS, AA-VI, S. 306: „denn es kann auch im Naturzustande echtmäßige Gesellschaften (z. B. eheliche, väterliche, häusliche überhaupt und andere beliebige mehr) geben, von denen kein Gesetz a priori gilt: ‚Du sollst in diesen Zustand treten‘, wie es wohl vom rechtlichen Zustande gesagt werden kann“. Dazu, Hruschka, JZ 2004, S. 1086; auch Pérez del Valle, Jakobs-FS, (Fn. 82), S. 521. 93  Kant, SdF, AA-VII, S. 91. Im Sinne des Textes, Pérez del Valle, (Fn. 92), S. 527. 94  Kant, MdS, AA-VI, S. 331. 95 Vgl. Cohen (Fn. 45), 1. Aufl., S. 4: „Die Ethik hat nach Kant zu lehren, was sein soll“ , weil die Frage der Ethik „die Möglichkeit einer andern Art von Realität, die Art der Giltigkeit eines Uebersinnlichen“ ist; und noch deutlicher in der zweiten Auflage: „Die Ethik hat nach Kant zu lehren, nicht was ist, sondern was sein soll“ (Cohen, (Fn. 45), 2. Aufl., S. 5). 90 91

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die Strafwürdigkeit wegen der Verletzung eines moralischen Gesetzes – wird „in der Idee unserer praktischen Vernunft“ gefunden und leitet sich gerade aus dem kategorischen Imperativ als moralischem Prinzip ab96. Diese Analyse könnte jedoch modifiziert oder zumindest nuanciert werden, wenn man die Relevanz der Trennung in Kant zwischen Moral und Recht oder zwischen Recht und Tugend betrachtet. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Bedeutung des moralischen Prinzips und damit die Bedeutung des kategorischen Imperativs zu untersuchen und zu überprüfen, in welcher Beziehung es zum Recht steht. Natürlich nimmt der kategorische Imperativ den ersten Platz in der Hierarchie der moralischen und politischen Prinzipien ein, die modifiziert oder zumindest nuanciert werden sollten, wenn die Relevanz der Trennung berücksichtigt wird97, obwohl es nicht immer selbstverständlich ist zu wissen, was es bedeutet, und es nicht selten falsche Erklärungen für seine Bedeutung gibt98. Ausdrücklich ist der kategorische Imperativ das „Princip der Sittlichkeit“99 und es ist ein „synthetisch-praktischer Satz a priori“100: dies bedeutet im Kontext von Kant, dass der kategorischer Imperativ nicht durch Erfahrung bestimmt wird101, obwohl im Ge96  Kant, KpV, AA-V, S. 37. Der zitierte Ausdruck von Kant (S. 37), wie die vorherigen Zitate aus KpV, findet sich in der Anmerkung II zu Lehrsatz IV (§ 8), nach §  7 über den kategorischen Imperativ als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft. Die Anmerkung II thematisiert das Verhältnis zwischen dem Prinzip der Moral und dem Prinzip der Glücklichkeit: „Dieses Princip schreibt also nicht allen vernünftigen Wesen eben dieselbe praktische Regeln der Moral vor, ob sie zwar unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glückseligkeit, stehen. Das moralische Gesetz wird aber nur darum als objectiv nothwendig gedacht, weil es für jedermann gelten soll, der Vernunft und Willen hat“ (S. 36). Und zur Strafe: („Nun läßt sich mit dem Begriffe einer Strafe, als einer solchen, doch gar nicht das Teilhaftigwerden der Glückseligkeit verbinden“ (S. 37). 97  Ewald, „Comparative Jurisprudence (I); What Was it Like to Try a Rat?“, University of Pennsylvania Law Review 143 (1995), S. 142, S. 201. 98 Vgl. Höffe, (Fn. 6), S. 181: „Der kategorische Imperativ gehört zu den bekanntesten, aber auch gründlich verfälschten Elementen im Denken Kants“. 99  Kant, KpV, AA-V, S. 32. Kant betrachtet als „Princip der Sittlichkeit“ die Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV, AA-V, S. 30). Es ist die erste Formulierung des kategorialen Imperativs, wie er in Grundlegung der Metaphysik der Sitten erschien: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, AA-IV, S. 421). Vgl. Auch GMS, AA-IV, S. 392: „Gegenwärtige Grundlegung ist aber nichts mehr, als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“), wie Kersting unterstreicht („Der kategorische Imperativ, die vollkommenen und die unvollkommenen Pflichten“, Zeitschrift für philosophische Forschung-37 (1983), S. 404). Döhring, (Fn. 43), S. 6 nennt den kategorischen Imperativ: „das oberste Prinzip der ethischen Vernunft“. 100  Kant, GMS, AA-IV, S. 420. 101  Dies ist eine Folge eines a priori Satzes: Diese Unterscheidung erscheint deutlich in der zweiten Auflage der KrV-2 (AA-III, S. 28). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten war sie jedoch bereits in KrV-1, in der Einleitung zur Idee der Transscendental=Philosophie (AA-IV, S. 17 ff.) präsent. In der Vorrede zur zweiten Auflage, wenn er zwischen theoretischem und praktischem „Erkenntniß“ unterscheidet, sagt

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gensatz zu den bloßen synthetischen Urteilen a priori102, er selbst noch kein Urteil enthält, wohl aber ein moralisches Urteil über die Handlung ermöglicht103. Der kategorische Imperativ ist durch Opposition das Gegenteil des hypothetischen Imperativs104: ein hypothetischer Imperativ ist einer, der ein notwendiges Mittel zur Erreichung eines Ziels vorschreibt, während ein kategorischer Imperativ universell und geltend „für alle vernünftigen Wesen“105 ist, weil er keinem zufälligen Zweck untergeordnet ist106. Wie Patzig klargestellt hat, ist die verwendete sprachliche Formulierung gleichgültig, denn die Unterscheidung zwischen einem kategorischen und einem hypothetischen Imperativ hängt nicht davon ab, wie sich seine Verpflichtung in Worten ausdrückt, sondern von dem Ursprung der zwingenden Anforderung, aus der der Imperativ besteht107. Die Frage ist also, welche Position der kategorische Imperativ gegenüber dem Recht einnimmt. Natürlich bezieht Kant in die Einführung in die Metaphysik der Sitten den kategorischen Imperativ zwischen den „Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten“ ein, die er für beide Teile des Werkes für gemeinsam hält: für die Rechtslehre und die Tugendlehre108. In der Tat, wenn man auf die Reihenfolge der Quellen zurückgreift, ist die Erklärung von Höffe vernünftig, für den die erste Theorie der Ethik (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, erste Auflage von 1785) ein allgemeiner Teil wäre, der in zwei spezielle Teile spezifiziert ist, die den beiden Teilen von der Metaphysik der Sitten (1797) entsprechen: die Rechtslehre Kant: „Von beiden muß der reine Theil (…) nämlich derjenige, darin Vernunft gänzlich a priori ihr Object bestimmt“ (KrV-2, AA-III, S. 8). 102  Die Unterscheidung ist relevant: „Erfahrungsurtheile als solche sind insgesammt synthetisch“ (KrV-2, S. 34), und darin geht es nicht um Erfahrungsurteile. 103  Wittmann, „Der Begriff des allgemeinen Gesetzes in Kants kategorischen Imperativ“, in: Haft / Hassemer / Neumann / Schild / Schroth (Hrsg.), Strafgerechtigkeit-Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 364. 104  Kant, GMS, AA-IV, S. 414: „Aller Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch“. 105  Dieser häufig in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verwendete Ausdruck versucht, die Möglichkeit eines universellen moralischen Gesetzes herauszustellen, und zwar besonders in dieser Frage: „ist es ein nothwendiges Gesetz für alle vernünftige Wesen, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maxime zu beurtheilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen?“ (GMS, AA-IV, S. 426). 106  Willascheck, „Recht ohne Ethik? Kant über die Gründe, das Recht nicht zu brechen“, in: Gerhart (Hrsg.), Kant im Streit der Fakultäten, Berlin: de Gruyter, 2005, S. 197 f.. Vgl. Kant: „Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objectiv=nothwendig vorstellte“ (GMS, AA-IV, S. 414), aber „die Zwecke, die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Handlung nach Belieben vorsetzt, (materiale Zwecke) sind insgesammt nur relativ“ und „alle diese relative Zwecke nur der Grund von hypothetischen Imperativen“ (GMS, AA-IV, S. 427 f.). 107  Patzig, „Der kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart“, in: Lorenz (Hrsg.), Konstruktionen versus Positionen. Bd. II (Allgemeine Wissenschaftstheorie), Berlin: de Gruyter, 1979, S. 232 f. 108  Kant, MdS, AA-VI, S. 227: „Gesetz (ein moralisch praktisches) ist ein Satz, der einen kategorischen Imperativ (Gebot) enthält“.

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und die Tugendlehre, die jeweils den kategorischen Imperativ im Recht und den kategorischen Imperativ in der Tugend als spezifische Bereiche entwickelt109. Aber wenn Kant vom kategorischen Imperativ im Recht spricht, kann man sagen, dass er es in einem anderen Sinne macht. Patzig versteht, dass es keinen Widerspruch in diesem Aspekt bei Kant gibt, dessen Absicht ist: „eine theoretische Grundlage zu finden, von der aus die immer schon vorausgesetzten moralischen Verhaltensregeln in einer Gemeinschaft von Menschen mit bestimmten sozialen Institutionen und Gepflogenheiten verständlich gemacht werden können“110.Tatsächlich würde man auf diese Weise das Rechtsprinzip in Kant als ein Kriterium für die Fähigkeit zur Verallgemeinerung der Maximen des Einzelnen verstehen, wenn jeder Einzelne sein Verhalten in Form eines Verhaltens gegenüber den Institutionen und sozialen Bräuchen als wirksam in seiner Gesellschaft sieht.111 Kant verweist auf die gemeinsame Einleitung, auf die ich mich zuvor bezogen habe, und wiederholt den Begriff, der aus der Theorie der Moral hervorgeht112: „der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann! - Deine Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjectiven Grundsatz betrachten“. Das Prinzip des Rechts kommt sogleich: „ob aber dieser Grundsatz auch objectiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualificire“. Dies ist der allgemeine Grundsatz des Rechts, der in nachfolgenden Seiten als die Möglichkeit des Fortbestehens verschiedener Maximen von freien Menschen nach einem allgemeinen Gesetz festgelegt wird113; und das ist das allgemeine Gesetz des Rechts: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“114. Ich kehre jedoch zum Strafrecht zurück: als Kant bestätigt, dass das Strafrecht ein kategorischer Imperativ ist, gibt er keine Nuancen über das allgemeine Prinzip des Rechts an, auf das ich mich gerade bezogen habe. Dyroff deutet darauf hin, dass Kants Strafrechtslehre „eine eigene fremde Wurzel gegenüber der übrigen Rechtslehre besitzt“115. Ich denke jedoch, die Erklärung ergibt sich wiederum aus einer Interpretation von Hruschka in seiner Untersuchung von Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ. Hruschka beobachtet am Ursprung des kategorischen Imperativs einen Text von den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das 109  Höffe, „Der kategorische Imperativ als Grundbegriff einer normativen Rechts- und Staats­philosophie“, in Löw (Hrsg.), ΟΙΚΕΙΩΣΙΣ-Festschrift für Robert Spaemann, Weinheim: VCH, 1987, S. 91. 110  Patzig, (Fn. 107), S. 234. 111  Patzig, (Fn. 107), S. 235. 112  Kant, MdS, AA-VI, S. 225. 113  Kant, MdS, AA-VI, S. 230. 114  Kant, MdS, AA-VI, S. 231. 115  Dyroff, (Fn. 3), S. 356.

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Gefühl des Schönen und Erhabenen, in dem der Unterschied zwischen „voluntas communis“ und „voluntas propria“116 dargestellt wird. Die „voluntas communis“ ist eine Anlage des Menschen, die zum richtigen Handeln lenkt; die „voluntas propria“ meint den individuellen Willen in einer neutralen Beschreibung und das ist mein eigener Wille, wobei offen bleibt, was ich mit meinem eigenen Willen will117. Bei Hruschka entspricht die Gegenüberstellung von „voluntas communis“ und „voluntas propria“ der späteren Gegenüberstellung von „Wille“ und „Willkür“118. Der Rechtsgrundsatz würde dann wie folgt formuliert: handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner „voluntas propria“ mit der „voluntas communis“ nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könnte. Meiner Meinung nach ist die Bedeutung des Strafrechts als kategorischer Imperativ genau die moralische Notwendigkeit, die sich aus dem Widerspruch zwischen der „voluntas communis“ und der „voluntas propria“ ergibt, zwischen „Wille“ und „Willkür“. Hruschkas Darstellung von dem Früchtediebstahl ist aufschlussreich119. Ich muss mit der „voluntas communis“ wollen, dass das Eigentum als Institution erhalten bleibt, dann müsste der Diebstahl verboten bleiben120. Aus diesem Grund ist der Diebstahl ein Selbstwiderspruch, denn der Dieb will das Eigentum („voluntas communis“) erhalten und gleichzeitig verstößt er bewusst („voluntas propria“) gegen die von der Institution abgeleiteten Regeln. Die notwendige Folge dieses Selbstwiderspruchs ist nach der praktischen Vernunft bei Kant die Anwendung des Strafrechts. Auf diese Weise wird das Verhältnis zwischen dem kategorischen Imperativ, dem allgemeinen Rechtsprinzip und dem Erfordernis der Strafe eingehalten. VI. Fazit In der Einleitung habe ich darauf hingewiesen, dass eine rationale Betrachtung der Strafe ohne Berücksichtigung von Kants Überlegungen unmöglich ist. Aber es ist zutreffend zu meinen, die Kant Lektüre unterschiedliche Interpretationen zugelassen hat, sofern seine Sicht des Strafrechts in besonderem Maße von der Beziehung zur Gesamtheit seines Denkens abhängt, und auch, weil es Texte mit einer gewissen Mehrdeutigkeit gibt. Aus diesem Grund habe ich deshalb nur versucht, meine Meinung in einer transversalen Perspektive von Kants Denken zu äußern. Ich glaube, dass die Strafe in Kant als staatliche Strafe (pœna forensis) eine Vergeltung ist, die notwendig ist, um den Selbstwiderspruch zu überwinden, den die Willkür des Täters gegen das Gesetz darstellt; und diese kann nur notwendig   Kant, BBG, AA-XX, S. 161. Über diesen Text, Hruschka, (Fn. 2), S. 194 f.   Ibid, S. 203 f. Auch „voluntas propria“ und „voluntas singularis“ sind nicht dasselbe: „voluntas singularis“ ist durch ihren moralischen Solipsismus gekennzeichnet (S. 204). 118  Ibid, S. 204. 119  Ibid, S. 208. 120  Ibid, S. 209. 116 117

Überlegungen zur Strafe und Vergeltung bei Kant

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sein, wenn es eine Wiedervergeltung ist. In dieser Perspektive ist ein angemessenes Verständnis der Bedeutung von Naturzustand und Rechtszustand unerlässlich: Vergeltung ist nur im Rahmen des Rechtszustandes möglich, da es sich genau um die Reaktion auf Straftaten im Rechtszustand handelt. Die Texte, in denen Kant andere Zwecke der Strafe angibt, weisen grundsätzlich auf Situationen hin, in denen kein Rechtszustand vorliegt. Vergeltung ist die Bedeutung der Strafe für den homo noumenon und damit für die respublica noumenon; andere Reaktionen sind nur typisch für einen vor-rechtlichen Zustand. Gewiss, meine Schlussfolgerungen unterscheiden sich von denen von Hruschka121; diese Diskrepanz beeinflusst jedoch die Schlussfolgerung, die ich nur anhand einiger interpretativen Kriterien von Kant erreiche, die ich in Hruschka entdeckt habe und die ich für wesentlich halte. Summary The retributive theories of punishment find in Kant one of their paradigmatic expressions, especially in the foundation of the penal law contained in The Metaphysics of Morals. However, some authors, such as Hruschka, have rejected this interpretation, have formulated alternative theses on the basis of punishment in Kant and have relied on The Metaphysics of Morals, but also on other sources, such as Anthropology from a pragmatic point of view, Groundwork for the Metaphysics of Morals or Critic of Practical Reason. These interpretations are examined at three different levels in which punishment is contemplated by Kant: punishment as state punishment (punishment versus revenge); punishment as ius talionis; and punishment as a categorical imperative. The interpretation of each of these levels requires recourse to other texts by Kant, different from The Metaphysics of Morals. The differentiation between the noumenon and the phænomenon, the conception of civil status or the moral necessity of punishment confirm, however, the idea that, in Kant, punishment is retribution.

  Hruschka, (Fn. 2), S. 239.

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Wenn Täter und Richter dasselbe wissen, aber unterschiedlicher Meinung sind Weshalb Irrtümer über Wertungen den Vorsatz nicht berühren Tobias Rudolph

I. Beweis und Zurechnung innerer Tatsachen 1. Findet Vorsatz im Kopf des Richters oder im Kopf des Täters statt? Im Jahr 1985 widmete Joachim Hruschka Theodor Kleinknecht in dessen Festschrift einen Beitrag mit dem Titel „Über Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes“.1 Darin setzte sich Hruschka mit dem Fall auseinander, dass ein Mann ein geladenes Jagdgewehr auf sein Opfer richtet, den Abzug bedient und ins Herz trifft. Vor Gericht behauptet der Täter später, er habe nicht gewusst, „daß er mit der Abgabe des Schusses sein Opfer töten oder verletzen würde.“2 Eine solche Einlassung hat vor Gericht wenig Aussicht auf Erfolg. Wohl jeder Strafverteidiger musste schon die ernüchternde Erfahrung machen, dass Vorsatz eher „im Kopf des Richters“ als im „Kopf des Täters“ stattzufinden scheint. Das kann zum einem damit zu tun haben, dass der Richter der Einlassung des Angeklagten nicht glaubt. Dabei handelt es sich um eine Beweisfrage. Vorrangig ist jedoch zu klären, was es überhaupt zu beweisen gilt. Der Richter kann die Einlassung des Angeklagten auch glauben, aber dennoch für irrelevant halten. Dann handelt es sich um eine Rechtsbzw. eine Zurechnungsfrage. Hruschka arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass die Differenzierung zwischen Beweis- und Zurechnungsregeln historisch nicht immer klar vorgenommen wurde.3 Er gelangt zu der Überlegung, dass es sich beim Vorsatz nicht um eine „Tat1  Hruschka, „Über Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes“, in: FS für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag, Gössel / Kauffmann (Hrsg.), München: Beck, 1985, S. 191 ff. 2  Ebd., S. 194. 3  Hruschka zitiert (ebd., S. 193) in diesem Zusammenhang § 369 der Preußischen Criminal­ ordnung von 1805: „Zum Beweise des böslichen Vorsatzes ist es hinreichend, wenn der Verbrecher eine gesetzwidrige That mit Bewußtseyn vorgenommen hat.“ Derartige Beweisregeln sind

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sache“ handelt, die bewiesen werden müsse. Vielmehr handele es sich um etwas „Geistiges“, das nicht „festgestellt und bewiesen“, sondern „zugerechnet“ werde. Die Feststellung, jemand habe vorsätzlich gehandelt, sei demnach kein deskriptives, vielmehr ein „askriptives Urteil“.4 Ich halte diese Schlussfolgerungen Hruschkas nicht für zielführend.5 Zwar trifft es zu, dass alle Zurechnungsurteile – beginnend damit, dass ein Mensch „frei“ ist, zu „handeln“ – letztlich auf einer bloßen „Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgendeiner Erfahrung, dargetan werden kann“,6 gründen. Das gilt auch für den Vorsatz. Schon Kant wies indes den Weg auf, wie mit den Grenzen menschlicher Erkenntnis umzugehen ist: Der transzendentalen Idee der Freiheit ist die „praktische Freiheit“ gegenüberzustellen. Praktische Freiheit liegt vor, wenn die Entscheidungen einer Person durch „Beweg­ ursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden“ bestimmt werden.7 Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden.8 Dieses Verständnis der praktischen Freiheit liegt auch der Rechtsanwendung zu Grunde. Vereinfacht ausgedrückt: Wir tun so, als ob wir freie Wesen wären. Das bedeutet, dass die tatsächlichen Kriterien herauszuarbeiten sind, unter denen wir mancher Menschen Verhalten als „frei handelnd“ oder als „vorsätzlich handelnd“ bezeichnen, das anderer hingegen nicht. Im Gegensatz zu einer Handlung oder einem tatbestandlichen Erfolg handelt es sich beim Vorsatz um eine „innere Tatsache“. Dieser kann man sich nur durch Rückschlüsse aus äußerlich erkennbarem Verhalten annähern. Das kann im Strafprozess Schwierigkeiten bereiten. Die prozessualen Herausforderungen sind jedoch nicht der einzige Grund, weshalb der Beweis des Vorsatzes häufig Kopfzerbrechen bereitet. Ein anderer Grund liegt darin, dass es sich beim Vorsatz als „innerer Tatsache“ um ein Faktum handelt, das aus der Sicht des Richters bewertet werden muss. Das Urteil des Richters ist ein Wertungsakt, also normativ.9 Das Beweisproblem entpuppt sich daher vielfach als ein Abgrenzungsproblem zwischen Tatsachen und Wertungen. Die Gedanken Hruschkas lassen sich vor diesem Hindem modernen Strafprozess, in dem der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung gilt, grundsätzlich fremd, vgl. § 261 StPO. 4  Ebd., S. 201 (Hervorhebung im Original). 5  Vgl. dazu Rudolph, Das Korrespondenzprinzip im Strafrecht, Berlin: Duncker & Humblot, 2006, S. 37. 6  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1797), Akad. Ausg., Bd. 4, S. 459; vgl. dazu Rudolph (Fn. 5), S. 34. Man könnte statt von einer „Idee“ auch von einer „Fiktion“ sprechen. Dies würde allerdings implizieren, dass man sicher wüsste, dass es so etwas wie menschliche Freiheit nicht „gibt“. 7  Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), Akad. Ausg., Bd. 3, S. 521. 8  Ebd., S. 521. 9  Der Begriff „normativ“ ist nicht misszuverstehen in dem Sinne, dass er der Beliebigkeit Raum gibt. Vielmehr geht es darum, das richtige Maß anzulegen, wenn man sich den Fakten nähert. Dieses Maß zu entwickeln und einheitlich anzuwenden ist (eine) Aufgabe der Rechtswissenschaft. Vgl. dazu Rudolph (Fn. 5), S. 38 ff.

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tergrund in einem anderen Sinne weiterverfolgen. Sie weisen den Weg zu folgender These: Für den Vorsatz ist es irrelevant, ob der Täter die Wertungen des Richters teilt bzw. nachvollzieht. Im Folgenden wird eine Rückkehr zur konsequenten Unterscheidung zwischen Rechts- und Tatsachenirrtümern, wie sie schon das Reichsgericht10 vorgenommen hat, im Rahmen der Irrtumslehre befürwortet. Eine Differenzierung zwischen Irrtümern über Wertungen des Strafrechts und außerstrafrechtlichen Normen ist dabei entbehrlich. Ebenfalls entbehrlich ist es, den Vorsatz mit Formeln wie der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ zu belasten. Im Ergebnis wird eine sich im Vordringen befindliche Auffassung11 durch ein Vorsatz-Konzept bestätigt, das auf einer konsequenten Umsetzung des Vorrangs von ex-ante-Betrachtungen gegenüber ex-post-Betrachtungen bei der strafrechtlichen Zurechnung12 beruht. 2. Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale a) Wertungen und Tatsachen Das von Hruschka gebildete Beispiel beschreibt die Zuspitzung einer Konstellation, bei der sich Richter und Täter trotz übereinstimmender Tatsachenkenntnis nicht über die Gefährlichkeit einer Handlung einig sind. Eine derartige Abweichung der Vorstellung des Täters von derjenigen des maßgeblichen Urteilers (= Irrtum) kann verschiedene Ursachen haben. Beruht die Abweichung darauf, dass der Täter bestimmte Tatsachen übersehen hat (beispielsweise, dass ein Gewehr geladen war), handelt es sich um einen typischen Fall fehlenden Vorsatzes, der de lege lata unter § 16 StGB fällt. Problematisch wird es, wenn die Abweichung der Vorstellungen ihre Ursache in einer anderen rechtlichen Bewertung hat. Das lässt sich an einem Fall veranschaulichen, bei dem Täter und Richter exakt 10  RGSt 1, 368; 2, 268; vgl. dazu Papathanasiou, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Berlin: Duncker & Humblot, 2014, S. 71 ff., m. w. N. 11  Ähnliche Gedanken finden sich beispielsweise bei Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, Frankfurt a.M.: Lang, 1987; Dopslaff, „Plädoyer für einen Verzicht auf die Unterscheidung in deskriptive und normative Tatbestandsmerkmale“, in: GA 1987, S. 1 ff.; Hotz, „Untauglicher Versuch und Wahndelikt bei Fehlvorstellungen über rechtsinstitutionelle Umstände“, in: JuS 2016, 221 ff.; Kindhäuser, „Zur Unterscheidung von Tat- und Rechtsirrtum“, in: GA 1990, S. 407 ff.; Puppe, „Tatirrtum, Rechtsirrtum und Subsumtionsirrtum“, in: GA 1990, S. 145 ff.; Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau, Berlin: Duncker & Humblot, 2000, S. 323 ff.; Safferling, Vorsatz und Schuld, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, S. 118 ff.; Wissmann, Der Irrtum im Urheberstrafrecht, Berlin: Duncker & Humblot, 2007, S. 189 ff., Heinrich, B., „Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale“, in: Heinrich, M./Jäger / Schünemann et al. (Hrsg.), FS für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, Bd. I, Berlin: De Gruyter, 2011, S. 449 ff., 451; Glandien, Fehlvorstellungen im Markenstrafrecht, Baden-Baden: Nomos, 2018, S. 74 ff. 12  Ich habe dieses Verhältnis von ex-ante-Betrachtungen zu ex-post-Betrachtungen als „Korrespondenzprinzip im Strafrecht“ bezeichnet, vgl. Fn. 5.

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dieselbe Kenntnis aller relevanten Tatsachen haben, jedoch von unterschiedlichen Wertungen ausgehen:13 T sammelt und verbreitet über das Internet Aufnahmen des Fotografen David Hamilton aus den 1970er Jahren. Diese zeigen halbnackte Mädchen. T ist der Auffassung, es handele sich um Kunstwerke. Der maßgebliche objektive Urteiler (er sei hier Richter R1 genannt) ist hingegen der Auffassung, dass die abgebildeten Körperhaltungen in „unnatürlich geschlechtsbetonter“ Weise erfolgen und damit den Tatbestand des § 184c StGB erfüllen.14

T und sein Richter sehen und bewerten dieselben Bilder. Eine Abweichung ihrer Wahrnehmungen im Tatsächlichen ist auszuschließen.15 Die Gedanken des T lassen sich als „Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale“ bezeichnen. Den Tatsachen des gesetzlichen Tatbestandes sollen nach der h.M. die Wertungen der normativen Tatbestandsmerkmale grundsätzlich gleichgestellt sein.16 Ein Irrtum über Wertungen des Tatbestandes müsste demnach den Vorsatz ausschließen. Diese Konsequenz – nämlich Straflosigkeit oder nur Bestrafung wegen Fahrlässigkeit (vgl. § 16 Abs. 1 S. 2 StGB) – wird jedoch nahezu nie gezogen. Vielmehr soll nach der h.M. ein Irrtum über Wertungen den Vorsatz dann – ausnahmsweise (!?) – doch nicht ausschließen, wenn es dem Täter nach einer „Parallelwertung in der Laien­ sphäre“ möglich gewesen sein soll, das Unrecht seiner Tat zu erkennen.17 Dabei komme es, so Roxin, darauf an, ob der Handelnde den „sozial-normativen Bedeutungsgehalt“ des Tatbestandsmerkmals erkannt habe.18 Ob das der Fall ist, lässt sich dem oben geschilderten Sachverhalt nicht entnehmen. Dies liegt nicht etwa daran, dass die tatsächlichen Tätervorstellungen in der Sachverhaltsbeschreibung unzureichend formuliert wurden. Vielmehr geht es überhaupt nicht um die tatsächlichen Vorstellungen des Täters. Die „Parallelwertung“ vollzieht nämlich der Richter. Hierbei von einer „Wertung“ zu sprechen, ist   Ein ähnliches Beispiel findet sich bei Kindhäuser (Fn. 11), S. 408.   Gemäß § 184c des geltenden deutschen StGB ist es strafbar, wer eine jugendpornographische Schrift verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht. Dazu gehören gemäß § 184c Abs. 1 Nr. 1 lit. b) StGB auch Abbildungen, die die Wiedergabe einer ganz oder teilweise unbekleideten vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alten Person in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung zeigen. 15  Selbstverständlich ist auch ein Irrtum über Tatsachen im Bereich des § 184c StGB denkbar, beispielsweise wenn T davon ausgeht, die Modelle seien über 18 Jahre alt, diese jedoch in Wirklichkeit jünger sind. 16  Vgl. etwa Sternberg-Lieben / Schuster, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 16, Rn. 43 f., m. w. N. 17  Der Topos der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ geht zurück auf Mezger, Anm. zum Urteil des RG vom 7. April 1927, in: JW 1927, S. 2006 f. Welzel, „Der Parteiverrat und die Irrtumsprobleme“, in: JZ 1954, S. 276 ff., 279, spricht von einer „Parallelbeurteilung im Täterbewusstsein“. 18  Roxin, „Über Tatbestands- und Verbotsirrtum“, in: Sieber / Dannecker / Kindhäuser / Vogel / Walter (Hrsg.), FS für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, Köln / München: Carl Heymanns, 2008, S. 375 ff., 377. 13 14

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gleichwohl euphemistisch. Denn einen gesetzlichen Maßstab dafür, was in der Laiensphäre „parallel gewertet wird“, gibt es nicht. Auf einen allgemeinen Maßstab, der für jedermann gilt, abzustellen, ist nicht sinnvoll. Denn strafrechtliche Verhaltensnormen richten sich potenziell an jedermann19 – und damit auch und gerade an den „Laien“. Zwar gibt es Fälle, bei denen von einem Laien nicht erwartet werden kann, das Recht konkret zu kennen. Auf die individuelle Vermeidbarkeit des Rechtsirrtums abzustellen macht indes (zumindest de lege lata) ebenfalls keinen Sinn. Denn gemäß § 17 StGB ist dieser Maßstab im Rahmen der Schuld anzulegen.20 Was bleibt, ist die Beliebigkeit des jeweiligen Richters21 – die im Ergebnis fast immer dazu führt, dass Wertungsirrtümer für irrelevant erklärt werden.22 Der Regel-Ausnahme-Mechanismus der h.M. ist nicht nur praktisch bedeutungslos, sondern auch dogmatisch fragwürdig. Denn die ohnehin schwierige Aufgabe, zu ermitteln, welche Tatsachen ein Täter tatsächlich erkannt hat, wird durch die Überlagerung mit pseudo-objektiven Maßstäben („Laiensphäre“) zusätzlich erschwert. Überzeugender und konsequenter erscheint es daher, als Ausgangspunkt die auf das Reichsgericht zurückgehende Unterscheidung von Tatsachen- und Rechtsirrtümern zu nehmen. Danach unterfallen § 16 StGB nur solche Irrtümer, die Tatsachen betreffen. Irrtümer über Wertungen sind hingegen allein am Maßstab des § 17 StGB zu messen. Diese Unterscheidung ist nicht immer leicht. Im obigen Beispiel führt sie jedoch zu einem eindeutigen Ergebnis: Es liegt zwar kein Irrtum i.S.v. § 16 StGB vor, dafür aber ein solcher i.S.v. § 17 StGB.23 Es kommt dann darauf an, ob der Irrtum des T vermeidbar war – was angesichts des Umstandes, dass es sich um einen Grenzfall handelt, durchaus nahe liegt.

19  Ausnahmen hierzu stellen Sonderdelikte wie § 356 StGB (Parteiverrat) oder § 339 StGB (Rechtsbeugung) dar, die nur für einen bestimmten – rechtskundigen – Personenkreis gelten. Ausgerechnet beim Parteiverrat, bei dem es eine Vielzahl von ungelösten Auslegungsproblemen gibt (vgl. dazu Rudolph / Gerson, „Ist es ein Parteiverrat nach § 356 Abs. 1 StGB, wenn ein Mandant kein Kronzeuge sein will? – Zur Strafbarkeit der gleichzeitigen Verteidigung bei potenziellen Interessenkonflikten“, in: StV 2019, S. 210 ff.), sollen Rechtsirrtümer unbeachtlich sein (vgl. etwa BGH, Urt. v. 21. 07. 1999, Az.:  2 StR 24/99). Demgegenüber werden bei Richtern – unangemessen – milde Maßstäbe angelegt (vgl. etwa OLG München, Beschl. v. 04. 06. 2014, Az. 3 Ws 656, 657/13 KI; kritisch dazu die Anm. von Strate, in: StraFo 2014, S. 423 f.). 20  Den §§ 16, 17 StGB liegt die sog. Schuldtheorie zu Grunde, zu der sich der BGH schon 1952 bekannt hat, vgl. BGHSt 2, 194 ff. 21 Vgl. Kindhäuser (Fn. 11), S. 418: „Die Parallelwertung ist bezogen auf das zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung erforderliche Tatwissen keine parallele, sondern eine schlicht falsche Wertung.“ 22  Vgl. dazu auch Rinck (Fn. 11), S. 345; Heinrich (Fn. 11), S. 456 ff., jeweils m. w. N. 23  Ähnlich der Fall, bei dem ein Autofahrer ein Verkehrszeichen optisch wahrnimmt, aber fehlerhaft interpretiert, vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 27. 01. 2017, Az. 3 Ss OWi 50/17, das einen Verbostirrtum annimmt.

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b) Selbstbelastende Wertungsirrtümer Die Schwächen der h.M. werden noch deutlicher, wenn es um selbstbelastende Irrtümer geht. W sammelt und verbreitet Bilder, die halbnackte Jugendliche zeigen. Er geht davon aus, dass er sich damit strafbar macht. Der maßgebliche objektive Urteiler (er sei hier Richter R2 genannt)24 ist indes der Auffassung, es handele sich um natürliche Darstellungen künstlerischer Art, die sich unter keinen Straftatbestand subsumieren lassen.

Diese Konstellation lässt sich auf der Grundlage der hier favorisierten Unterscheidung von Wertungen und Tatsachen leicht lösen: Da sich W nur über Wertungen irrt, liegt ein sog. umgekehrter Verbotsirrtum vor – und damit ein strafloses Wahndelikt.25 Die Lehre von der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ hingegen stößt spätestens hier an ihre Grenzen. Denn nimmt man die These ernst, dass der Vorsatz sich auch auf die Wertungen des Tatbestandes beziehen muss, hat dies auch für den Tatentschluss im Rahmen eines Versuchs zu gelten.26 Eine „Parallelwertung in der Laiensphäre“ lässt sich aber im Rahmen des Tatentschlusses nicht sinnvoll unterbringen.27 Würde W in dem o.g. Umkehr-Beispiel eine Parallelwertung in der Laiensphäre zutreffend in dem Sinne vornehmen, dass er das Recht richtig erkennt, bliebe von seinem Irrtum nichts mehr übrig. Die Wertung des Täters und die des Richters liefen dann tatsächlich „parallel“. Wenn der Täter zutreffend – d.h. in Übereinstimmung mit dem objektiven Urteiler – davon ausginge, dass sein Verhalten die Schwelle zur Strafbarkeit noch nicht überschritten hat, stellte sich die Frage nach einer Anwendung der §§ 16 oder 17 StGB nicht mehr. Andererseits bliebe auch vom Sachverhalt nichts mehr übrig. Die Floskel von der „Parallelwertung“ hätte dann i. E. nur den Effekt, einen eindeutigen Sachverhalt in sein Gegenteil zu verkehren. Die Annahme, dass die „Parallelwertung in der Laiensphäre“ dazu führt, dass W das Recht falsch erkennt, führt ebenfalls nicht weiter. Da W in seiner rechtlichen Wertung ohnehin fehlgeht, laufen die Vorstellungen des „Laien“ auch nach ihrer Objektivierung nicht „parallel“ zu denen des Richters. Die „Parallelwertung“ wirkte dann nicht mehr als Korrektiv der tatsächlichen Tätervorstellungen. Es findet schlicht überhaupt keine „Parallelwertung“ mehr statt. Dann ist es aber auch nicht sinnvoll, einen selbstbelastenden Wertungsirrtum einem selbstbelastenden 24  Es geht hier nicht darum, dass verschiedene Richterpersönlichkeiten verschiedener Meinung sein können. Der ideale objektive Urteiler hat immer recht, da sein Urteil maßgeblich ist. 25  Ein solches ist nach einhelliger Auffassung grundsätzlich nicht strafbar, vgl. dazu Zaczyk, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Auflage 2017, Rn. 40 ff.; s.a. Rudolph, „Der Nürnberger Zahngold-Fall“, in: JA 2011, S. 346, 347 f. 26 Vgl. Hotz (Fn. 11), S. 222: „Will man das Umkehrprinzip korrekt anwenden, muss man Tatsachen- und Bedeutungskenntnis zugleich umkehren.“ 27  In diesem Zusammenhang auch Kindhäuser (Fn. 11), S. 420: „Unter der falsch gewählten Prämisse ist keine Möglichkeit ersichtlich, einer der beiden Ansichten den Vorzug zu geben; ex falso sequitur quodlibet.“

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Tatsachenirrtum gleichzustellen. Andernfalls würde W wegen (untauglichen) Versuchs28 bestraft, weil er das Recht zu seinen Lasten falsch auslegt. Das hat mit „Parallelwertung“ nichts zu tun, sondern stellte lediglich eine – fragwürdige29 – Ausweitung der Versuchsstrafbarkeit auf reine Wertungsirrtümer dar. c) Deskriptive und normative Tatbestandsmerkmale Probleme tauchen in der Praxis regelmäßig auf, wenn der Übergang zwischen Wertungen und Tatsachen fließend ist. Die von der h.M. vorgenommene Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Tatbestandsmerkmalen30 hilft dabei nicht weiter.31 Diese Begriffs-Differenzierung verschleiert vielmehr den Blick für die maßgebliche Abgrenzung von Tatsachen und Wertungen. Denn bei genauerer Betrachtung enthält jedes (!) Tatbestandsmerkmal auch normative Elemente.32 Selbst die scheinbar universellen Begriffe „Mensch“ (§ 212 StGB) oder „Person“ (§ 223 StGB) können in den Grenzbereichen (Einsetzen der Eröffnungswehen, Herztod usw.) Abgrenzungsprobleme bereiten, die wertend gelöst werden müssen.33 d) Irrtum über die Gefahr Nach der Lehre von der objektiven Zurechnung34 setzt die Zurechnung bei Erfolgsdelikten eine „rechtlich missbilligte Gefahr“ voraus – also ein wertendes Urteil. In diesem Bereich sind Irrtümer über Wertungen nicht nur denkbar, sondern praktisch höchst relevant. Das lässt sich am Beispiel der aktuell vieldiskutierten Raser-Fälle35 veranschaulichen. Wenn ein Porschefahrer in der Nacht mit 220 km / h Fahrtgeschwindigkeit in einer Großstadt auf einer Hauptverkehrsstraße über eine rote Ampel fährt, und es dadurch zu einer tödlichen Kollision mit einem Radfah  § 184c Abs. 5 StGB.   Vgl. dazu Eser / Bosch, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 22, Rn. 89, m. w. N. 30  Nachweise bei Safferling (Fn. 11), S. 126 ff. 31  So auch Kindhäuser (Fn. 11), S. 409. 32  In diesem Sinne beispielsweise auch Wolf, „Der Sachbegriff im Strafrecht“, in: Schreiber / Otto (Hrsg.), Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. V, Berlin / Leipzig: de Gruyter, 1929, S. 44 ff.; Gössel, „Über Normativismus und Handlungslehre im Lehrbuch von Claus Roxin zum Allgemeinen Teil des Strafrechts“, in: GA 2006, S. 279 ff., 281; Herzberg / Hardtung, „Grundfälle zur Abgrenzung von Tatumstandsirrtum und Verbotsirrtum“, in: JuS 1999, S. 1073; Dopslaff (Fn. 11), S. 1 ff.; weitere Nachweise bei Papathanasiou (Fn. 10), S. 45 ff. 33  Diese Bsp. nennen auch Herzberg / Hardtung, ebd., S. 1073. 34  Vgl. etwa Eisele, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, Vorbem. zu den §§ 13 ff., Rn. 90 ff., m. w. N. 35  Vgl. dazu etwa Hörnle, „Vorsatzfeststellung in ‚Raser-Fällen‘“, in: NJW 2018, S. 1576 ff.; Bechtel, „Die Raser-Fälle als Katalysator vorsatzdogmatischer Diskussion“, in: JuS 2019, S. 114 ff. 28 29

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rer kommt, tendiert die Rechtsprechung zur Annahme von Vorsatz.36 Dies gilt auch dann, wenn der Fahrer subjektiv tatsächlich glaubt, das Risiko, dass es zu einer tödlichen Kollision kommt, beherrschen zu können. Die Zurechnung von Vorsatz ist nach der hier vertretenen Auffassung meist richtig. Denn die Ursachen der Selbst­ überschätzung des P dürften ihre Wurzeln regelmäßig im Bereich einer fehlerhaften (genauer: von derjenigen des Richters abweichenden) Wertung haben. Aus Sicht des objektiven Urteilers ist die Vorstellung des P, die Situation beherrschen und kontrollieren zu können, maßlose Selbstüberschätzung. Sofern P nicht an kognitiven oder geistigen Mängeln leidet, wird man ihm unterstellen können, dass er die Tatsachen, die dem richterlichen Urteil über die Gefährlichkeit der Situation – und damit über die Erfolgszurechnung – zu Grunde lagen, zutreffend erkannt hat. Zwar konnte P aus der maßgeblichen ex-ante-Perspektive nicht genau wissen, ob und wann ein Radfahrer auftaucht. Das konnte der Richter aus der für ihn ebenfalls maßgeblichen (!) ex-ante-Perspektive37 indes auch nicht. Gerade der Umgang mit der Unsicherheit darüber, was passieren wird, ist ein zentrales wertendes Element bei der Beschreibung dessen, was unter „rechtlich missbilligter Gefahr“ zu verstehen ist. e) Irrtümer im Vorfeld des Tatbestandes Die hier vertretene Auffassung steht in der Tradition der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Auch dieses ging davon aus, dass Wertungsirrtümer, die sich auf Tatbestandsvoraussetzungen des StGB (bzw. damals des RStGB) beziehen, grundsätzlich unbeachtlich für den Vorsatz sind. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts wurden jedoch Rechtsirrtümer, die sich auf Vorschriften außerhalb des StGB beziehen, dem vorsatzausschließenden Tatirrtum gleichgestellt.38 Eine solche Differenzierung ist heute entbehrlich.39 Denn eine Vorschrift wie § 17 StGB in der aktuellen Fassung, die es ermöglicht, bei vermeidbaren Verbotsirrtümern von Strafe abzusehen, gab es noch nicht, als das Reichsgericht seine Differenzierung vorgenommen hat.40 Um der Härte des error iuris nocet zu entkommen, sah sich das Reichsgericht gezwungen, Irrtümer über außertatbestandliche Merkmale dem Vorsatzbegriff zuzuordnen.41 Da § 17 StGB durch die „Vermeidbarkeits-Klausel“ die Möglichkeit bietet, auf Wertungsirrtümer schuldangemessen zu reagieren, besteht keine Notwendigkeit mehr für diese Differenzierung des Reichsgerichts.42   So etwa BGH, Beschl. v. 16. 01. 2019, Az. 4 StR 345/18.   Vgl. dazu umfassend Rudolph (Fn. 5), insbes. S. 51 ff. 38  Vgl. RGSt 1, 368; 57, 235; 72, 305 ff. 39 Anders Puppe, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Auflage 2017, Rn. 66 f., die in weiten Teilen mit dem hier vertretenen Ansatz übereinstimmt, bezüglich Blankettnormen jedoch Wertungsirrtümer im Rahmen des Vorsatzes für relevant hält. Safferling (Fn. 11), S. 134, bezeichnet dies als „etwas überraschend“. 40  Das Kriterium der Vermeidbarkeit war insbesondere nicht in § 59 StGB a.F. angelegt. 41  Safferling (Fn. 11), S. 135. 42  Im Steuerstrafrecht gilt nach dem BGH heute noch die sog. Steueranspruchstheorie. Diese kann als ein Relikt aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts angesehen werden (vgl. dazu 36 37

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f) Verfassungsrechtliche Vorgaben Papathanasiou begründet die These, dass Wertungskenntnis zum Vorsatz gehöre, mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips.44 Das überzeugt nur bedingt. Dem Verfassungsrecht lässt sich nicht entnehmen, ob Vorstellungen eines Täters über Wertungen Bestandteil des Vorsatzes sind oder nicht.45 Wenn eine Norm den Anforderungen an die Bestimmtheit nicht genügt, ist das außerdem keine Frage des Vorsatzes. Vielmehr ist diese dann als verfassungswidrig aufzuheben46 – oder zumindest verfassungskonform auszulegen. 43

3. Zwischenfazit Entscheidungen, bei denen ein Irrtum über Wertungen aufgrund einer nicht vorgenommenen „Parallelwertung in der Laiensphäre“ zu einem Ausschluss des Vorsatzes geführt hat, lassen sich kaum finden.47 Die Formulierung der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ scheint de facto nur die Funktion zu erfüllen, zu begründen, dass kein relevanter Irrtum i.S.v. § 16 StGB vorliegt. Der dogmatische Aufwand, der um diese Rechtsfigur betrieben wird, steht in keinem Verhältnis zu ihrer praktischen Relevanz.48 Die Lehre, wonach der Täter in irgendeiner Weise die Wertungen des Richters nachvollziehen muss, hat kaum praktische Funktion. Sie könnte jedoch dogmatisch begründet sein. Im Folgenden (II.) wird aufgezeigt werden, dass dies nicht etwa Bülte, „Der Irrtum über das Verbot im Wirtschaftsstrafrecht“, in: NStZ 2013, S. 65 ff., 68 f.; der eine Verallgemeinerung dieses Ansatzes im Wirtschaftsstrafrecht erwägt, sowie Safferling (Fn. 11), S. 150 ff., der auf Widersprüche mit der h.M. zur Behandlung sog. Blankettgesetze hinweist, jeweils m. w. N.). In einem Beschluss v. 08. 09. 2011 (Az. 1 StR 38/11) hatte der BGH noch erwogen, die Steueranspruchstheorie aufzugeben, um gleiche Maßstäbe hinsichtlich § 370 AO und § 266a StGB anzulegen. In einer neueren Entscheidung v. 24. 01. 2018 (Az. 1 StR 331/17) wurde der Widerspruch indes – zumindest vorläufig – in die andere Richtung aufgelöst. In beiden Entscheidungen handelte es sich bei den hier interessierenden Passagen um obiter dicta – was ein Indiz dafür ist, dass der Streit eher theoretische denn praktische Bedeutung hat. 43  Papathanasiou (Fn. 10), S. 202. 44  Es kann hier dahingestellt bleiben, ob bzw. wie die von ihr entwickelte Formel, wonach zum Vorsatz eine „Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters“ (ebd., S. 268) gehört, sich von der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ inhaltlich unterscheidet. 45  BVerfG, Beschl. v. 17. 12. 1975, Az. 1 BvL 24/75. 46  So beispielsweise zuletzt die Blankettnorm des Rindfleischetikettierungsgesetzes (RiFl­ EtikettG), vgl. BVerfG, Beschl. v. 03. 11. 2016, Az. 2 BvL 1/15. 47  Ohne Aufwand lassen sich Beispiele finden, bei denen das „laienhafte“ Verständnis für nicht relevant erklärt wird, vgl. etwa BGH, Urt. v. 07. 08. 2003, Az. 3 StR 137/03; Urt. v. 21. 02. 2017, Az. 1 StR 223/16. 48  In diesem Sinne auch Heinrich (Fn. 11), S. 456.

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der Fall ist. Insbesondere die Prämisse, dass die Vorstellungen des Täters denen des Richters entsprechen müssen (hier sog. Spiegelbild-Theorie), ist aufzugeben. Den rechtsstaatlichen Vorgaben des Schuldprinzips wird man durch eine konsequente Anwendung der Vermeidbarkeits-Klausel des § 17 StGB eher gerecht (III.). II. Abschied von der Spiegelbild-Theorie 1. Warum sollten Irrtümer des Täters über Wertungen überhaupt relevant sein? Eine selten hinterfragte Grundannahme der modernen Strafrechtsdogmatik ist die Hypothese, dass der subjektive Tatbestand (d.h. die Vorstellungen des Täters) sich auf den objektiven Tatbestand (d.h. das, was nach dem Urteil des Richters relevant ist) beziehen muss. Safferling spricht in diesem Zusammenhang von der „Spiegelbildfunktion“ des Vorsatzes: „Wichtig ist zunächst, dass der Vorsatz auf sämtliche Elemente des objektiven Tatbestandes bezogen sein muss. Das ergibt sich zwingend aus § 16 Abs. 1 S. 1 StGB, wo der gesamte Tatbestand vom Vorsatz in Bezug gesetzt wird.“49 Ich halte diese – hier sog. – „Spiegelbild-Theorie“ für falsch. Die gesetzliche Formulierung des § 16 Abs. 1 StGB ist keinesfalls „zwingend“. So ist beispielsweise schon die Verwendung des Wortes „kennen“ problematisch. „Kennen“ kann man nur etwas, das bereits existiert bzw. bereits eingetreten ist. Wörtlich genommen „kennt“ ein Täter daher so gut wie nie den tatbestandlichen Erfolg, da dieser regelmäßig zeitlich nach der relevanten Handlung liegt.50 Im Übrigen richten sich die Formulierungen der gesetzlichen Deliktstatbestände des StGB nicht an potenzielle Täter, sondern an Richter. Dort steht nicht etwa „Du sollst nicht töten!“, sondern „Wer einen Menschen tötet (…) wird bestraft“. Die maßgeblichen Verhaltensnormen lassen sich folglich ohnehin nur mittelbar den gesetzlichen Tatbeständen entnehmen.51 49  Safferling (Fn. 11), S. 119. Ein ähnlicher Gedanke wurde schon vor über 100 Jahren beispielsweise von Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. III, Tübingen: Mohr Siebeck, 1905, S. 322, geäußert, der davon ausging, dass „jeder Irrtum über ein wesentliches Stück des Tatbestandes“ den Vorsatz ausschließe, „gleichviel, ob er seinen Grund hat in der ungenügenden Kenntnis rein tatsächlicher oder vielmehr rechtlicher Verhältnisse“. Papathanasiou (Fn. 10), S. 268, formuliert als Grundlage ihrer WGVT-Formel (=Widerspiegelung der gesetzgeberischen Grundentscheidung im Verständnishorizont des Täters): „Die gesetzgeberische Grundentscheidung über materiell wertwidrige Verhaltensweisen ist ein allen Straftatbeständen immanentes Merkmal und muss deswegen Gegensatz des Vorsatzes sein.“ 50  Die Frage, ob ein Täter vorsätzlich handelt, lässt sich bei Erfolgsdelikten i. d. R. schon zeitlich vor der Frage beantworten, ob auch ein Erfolg eintreten wird – d.h. vor der Frage, ob der objektive Tatbestand vollendet wird. Unterbleibt der Erfolgseintritt, bleibt eine Strafbarkeit wegen („tauglichen“) Versuchs. 51  In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, sich den Unterschied zwischen Verhaltens- und Zurechnungsregeln sowie Sanktionsregeln zu vergegenwärtigen. Verhaltensregeln richten sich

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Unabhängig von der – historisch eher zufälligen – Formulierung des Gesetzestextes52, sprechen grundlegende dogmatische Gründe gegen die „Spiegelbild-Theorie“. Das zeigt sich schon daran, dass diese in Bezug auf die jedem Tatbestand innewohnenden Wertungen nicht konsequent durchgehalten wird. Niemand behauptet, dass der Täter die Wertungen, die für den Richter relevant sind, zu 100 Prozent nachzuvollziehen hat, um vorsätzlich zu handeln. Selbst diejenigen Autoren, die sich dafür aussprechen, Wertungsirrtümer (zumindest im Wirtschaftsstrafrecht) in der Regel für vorsatzausschließend zu halten53, halten die „Spiegelbild-Theorie“ nicht konsequent durch.54 Insbesondere sind auch nach dieser Ansicht sog. Subsumtionsirrtümer unbeachtlich55 – wie auch immer diese abzugrenzen sind. Die Lehre von der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ ist noch inkonsequenter. Denn der Täter nimmt gerade keine eigene Wertung vor, die zu derjenigen des Richters „parallel“ läuft. Vielmehr wird durch den Topos „Laiensphäre“ eine Wertung des Richters in die Vorstellungen des Täters hineinprojiziert. De facto wird damit anerkannt, dass es Wertungsirrtümer des Täters gibt, die irrelevant für den Vorsatz sind. Es ließe sich somit allenfalls noch von einer „eingeschränkten Spiegelbild-Theorie“ sprechen. Konsequenter ist es, die Spiegelbild-Theorie vollständig aufzugeben.56 Hat man sich von der Vorstellung gelöst, dass der Vorsatz des Täters sich auf den objektiven an jedermann, also insbesondere an den potenziellen Täter. Sie beschreiben die Ge- und Verbote eines Normensystems. Ausformuliert würden sie beispielsweise lauten: „Du sollst nicht töten“, „Du sollst keine jugendpornografischen Bilder verbreiten“ oder „Du sollst ein ertrinkendes Kind retten“. Tatbestände des Strafrechts sind regelmäßig nicht als Verhaltensregel formuliert, sondern als Sanktionsregel. Sanktionsregeln richten sich an den Richter bzw. Rechtsanwender. Sie lauten abstrakt formuliert: „Wenn ein Täter in zurechenbarer Weise gegen eine Verhaltensregel verstößt, sollst du ihn bestrafen“. Dementsprechend finden sich in den Deliktstatbeständen des StGB Formulierungen wie etwa „Wer einen Menschen tötet (…) wird (…) bestraft“. Von den Verhaltensregeln und den Sanktionsregeln zu unterscheiden sind die Zurechnungsregeln. Sie setzen früher an, nämlich bei der Frage, ob überhaupt ein menschliches Verhalten vorliegt, das als Anknüpfungspunkt einer rechtlichen (oder moralischen) Bewertung taugt. Auch die Zurechnungsregeln richten sich an den objektiven Urteiler, d.h. den Richter. Vgl. zu den Unterscheidungen Rudolph (Fn. 5), S. 29 ff., m. w. N. 52  Kindhäuser (Fn. 11), S. 407 f., weist auf eine weitere Schwäche in der aktuellen Formulierung des § 16 StGB hin: In § 16 Abs. 1 StGB („zum gesetzlichen Tatbestand gehört“) werden andere Begriffe – und damit andere Maßstäbe! – verwendet, als in § 16 Abs. 2 StGB („den Tatbestand (…) verwirklichen“). 53  Vgl. etwa Bülte (Fn. 43), S. 65 ff., m. w. N. 54  Bezüglich Tatbestandsmerkmalen, die sog. negative Wertprädikate wie etwa „pornographisch“ ausdrücken, wird nach ganz überwiegender Meinung – inkonsequenterweise – im Fall eines Irrtums keine Relevanz für den Vorsatz angenommen, vgl. dazu Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, 29. Auflage 2018, § 15, Rn. 17. 55  Vgl. dazu etwa Puppe, in: Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, Strafgesetzbuch 5. Auflage 2017, § 16, Rn. 42 f. 56  In diesem Sinne auch Kindhäuser (Fn. 11), S. 419: „Man kann nicht einerseits prinzipiell für den Vorsatz verlangen, daß der Täter seinem Handeln den Sinn des Tatbestandes beimißt, also alle zum Tatbestand gehörenden Inhaltsmerkmale kennt, und dies dann, wenn es zum

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Tatbestand beziehen muss, besteht kein Anlass mehr, sich über eine „Parallelwertung in der Laiensphäre“ Gedanken zu machen.57 Der Umstand, dass im objektiven Tatbestand normative Merkmale zu finden sind, zwingt dann nicht dazu, solche auch im subjektiven Tatbestand zu suchen. Der Topos der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ verliert damit jeden Sinn – und seinen Schrecken. 2. Abschied von der Spiegelbild-Theorie Der Abschied von der Spiegelbild-Theorie orientiert sich an der Vorgehensweise, für die Hruschka mit seinem akademischen Wirken stand. Ausgangspunkt der Strafrechtswissenschaft ist die Zurechnungslehre bzw. die Unterscheidung zwischen „imputatio facti“ und „applicatio legis ad factum“. Diese Differenzierung zwischen Zurechnungs- und Verhaltensregeln geht auf Pufendorf (1632 – 1694) und Daries (1714 – 1791) zurück58 und wurde von Hruschka für die moderne Strafrechtswissenschaft adaptiert.59 Daneben existiert eine zweite Stufe der Zurechnung. Dabei geht es – in der heute üblichen Terminologie – um die Zurechnung zur Schuld, die imputatio iuris. In diesem Sinne unterscheidet auch Joerden zwischen der „Freiheit in Bezug auf die Tat“ und der „Freiheit in Bezug auf die Bewertung der Tat“.60 In einem Punkt folge ich dem Ansatz meines verehrten akademischen Vorbildes und Doktorvaters nicht: Nach Hruschka, der insoweit in der Tradition der finalen Handlungslehre61 steht, handelt es sich beim aktuellen „Wissen“ um die Handlungsmöglichkeiten um ein konstitutives Merkmal einer strafrechtlich zurechenbaren Handlung.62 Fahrlässigkeit ist nach diesem Maßstab ein Fall außerordentlicher Zurechnung.63 Nach dem hier vertretenen Konzept ist jedoch nicht das „Wissen“ Schwur kommt, auf die unwiderlegliche Vermutung reduzieren, der Täter sei zur Sinnerkenntnis durch Introspektion fähig.“ 57  In der irreführenden Spiegelbild-Theorie liegt übrigens auch der Grund dafür, dass es bis heute weder Wissenschaft noch Rechtsprechung gelungen ist, einen relevanten „Irrtum über den Kausalverlauf“ ausfindig zu machen. Denn es ist ex ante nicht relevant, ob der Täter die Art und Weise des (späteren) tatsächlichen Kausalverlaufs in irgendeiner Weise voraussieht, geschweige denn nachvollzieht. Relevant kann allenfalls sein, dass ein Täter die tatsächlichen Umstände nicht kennt, die die Grundlage für das objektive ex-ante-Urteil darüber sind, dass eine gefährliche Situation vorliegt. Vgl. dazu Rudolph (Fn. 5), S. 124. 58  Vgl. zur historischen Entwicklung Hruschka, „Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf“, in: ZStW 96 (1984), S. 692 ff. 59  Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin: de Gruyter, 1976, S. 35. 60  Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 33. 61 Deren bekanntester Vertreter ist Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., Berlin: de Gruyter, 1969, S. 33 ff. 62  Hruschka (Fn. 57), S. 17 f.; ders., Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl., Berlin: de Gruyter, S. 327; ähnlich Joerden (Fn. 60), S. 32. 63  Vgl. dazu Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode (Fn. 62), S. 188.

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bzw. das „Erkannt-Haben“ der Ausgangspunkt strafbaren Verhaltens. Zu den notwendigen Bedingungen einer (strafbewehrten) Pflicht gehört lediglich, dass ein Täter aufgrund seiner körperlichen Fähigkeiten in der Lage ist, pflichtgemäß zu handeln („Möglichkeit“) und dass er darüber hinaus die kognitiven Fähigkeiten hat, dies auch zu tun („Erkennbarkeit“).64 Das potenzielle Wissen genügt für die ordentliche Zurechnung. Auf dieser Grundlage lässt sich Vorsatz als ein „Plus“ gegenüber der Fahrlässigkeit begreifen. Die notwendigen Bedingungen von Fahrlässigkeit entsprechen den notwendigen Bedingungen pflichtgemäßen Handelns. Sie liegen vor, wenn ein Täter aus der ex-ante-Perspektive eines objektiven Urteilers die Möglichkeit hatte, eine Situation in der Außenwelt zu verändern und dies erkennen konnte. Die hinreichenden Bedingungen einer Pflicht liegen vor, wenn es ein Gesetz gibt, aus dem sich ein konkreter ex-ante-Handlungs- oder Unterlassungsbefehl ableiten lässt (also beispielsweise: „Du darfst keinen anderen Menschen dadurch in Lebensgefahr bringen, dass du mit einem geladenen Gewehr auf ihn zielst“). Hat ein Täter aus einer ex-post-Perspektive die Möglichkeit der Pflichtverletzung erkannt, liegt Vorsatz vor. Entscheidend für den Vorsatz in diesem Modell ist, dass das, was der Täter gemäß dem ex-post-Urteil tatsächlich erkannt hat, mit dem korrespondiert, was nach dem ex-ante-Urteil des objektiven Urteilers maßgeblich war. Mit anderen Worten: So wie eine Pflichtverletzung nur dann vorliegt, wenn sich ex ante eine entsprechende Pflicht formulieren lässt, kann von Vorsatz nur dann die Rede sein, wenn bereits ex ante für den Täter erkennbar war, dass er die Möglichkeit hatte, in einem bestimmten Sinne von seinen körperlichen Fähigkeiten Gebrauch zu machen. Entscheidend für die Zurechnung ist, dass das ex-ante-Urteil und das ex-postUrteil in den zugrunde gelegten Fakten und in dem Maßstab, der zur Beurteilung angelegt wird, miteinander korrespondieren. Dieses Korrespondenzprinzip liegt auch der Lehre von der objektiven Zurechnung zugrunde: Ein tatbestandlicher Erfolg ist objektiv einer bestimmten Handlung zuzurechnen, wenn durch diese Handlung genau diejenige rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen wurde, die sich dann auch realisiert hat.65 3. Zurechnung und Pflicht Die Bedenken Safferlings, wonach bei einer „Aufweichung der strengen Spiegelbildfunktion“ es „den Gerichten anheim fallen“ würde, „die subjektiven Erfordernisse für die objektiven Elemente jeweils selbständig festzulegen“66, sind unbegründet. Die Verknüpfung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand ist   Näher dazu Rudolph (Fn. 5), S. 84 ff.  Vgl. dazu etwa Sternberg-Lieben / Schuster, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 15, Rn. 156 ff. 66  Safferling (Fn. 11), S. 119. 64 65

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nicht willkürlich. Sie entsteht dadurch, dass beiden Urteilen die einheitliche Frage zugrunde liegt, ob ein Subjekt eine bestimmte Pflicht verletzt hat. Sowohl das objektive Urteil darüber, ob eine „Handlung“ bzw. ein „Erfolg“ vorliegt, als auch das Urteil über das subjektive „Erkannt-Haben“ – also den Vorsatz – korrespondieren einem ex-ante-Urteil darüber, ob und weshalb der Betroffene in der konkreten Situation einer strafrechtlichen Handlungs- oder Unterlassungspflicht unterliegt.67 Besonders anschaulich lässt sich dies am Beispiel der Handlungspflichten, d.h. der strafrechtlichen Unterlassungsdelikte, verdeutlichen. Wenn ein Vater zusieht, wie sein Kind im See ertrinkt, kann er dabei in verschiedenster Weise „handeln“ und dies auch „vorsätzlich“ tun – beispielsweise sich eine Zigarette anzünden. Vorsatz im strafrechtlichen Sinne wird daraus erst dadurch, dass aus der strafrechtlichen Verhaltensregel „Du sollst nicht töten“ bzw. „Du sollst dein Kind vor dem Tod bewahren“ in der aktuell gefährlichen Situation die konkrete Pflicht erwächst, sofort tätig zu werden. Eine solche Pflicht erwächst nur dann, wenn alle notwendigen Bedingungen einer Pflicht erfüllt sind. Das bedeutet, dass der Vater aus einer ex-ante-Perspektive über die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten verfügt, das Kind zu retten. Verkennt er die Gefahr, weil er beispielsweise laute Musik hört, dann handelt er u.U. fahrlässig. Erkennt er die Gefahr und bleibt dennoch untätig, handelt (bzw. unterlässt) er vorsätzlich im strafrechtlichen Sinne. Die Auswahl der Fakten – und damit die Auswahl dessen, was für eine „Handlung“ bzw. für „Vorsatz“ relevant ist – obliegt alleine dem Richter, der sich dabei von den gesetzlichen Verhaltensregeln leiten lässt. Dementsprechend wird dem Täter in dem eingangs geschilderten Gewehr-Fall eine aktive Tötungshandlung zugerechnet, da er genau das getan hat, was ihm in dieser konkreten Situation verboten war – nämlich den Abzug zu drücken. Wenn er – davon wird ausgegangen – dabei genau diejenigen tatsächlichen Umstände erkannt hat, die den objektiven Urteiler dazu veranlassen, ex ante von einer Gefahr auszugehen, liegt vorsätzliches Handeln vor. Der hier vertretene Ansatz basiert auf einer Korrespondenz zwischen dem ex-ante-Urteil darüber, ob eine strafrechtlich relevante Pflicht vorliegt (primäres Zurechnungsurteil) und dem ex-post-Urteil darüber, ob bzw. wie gegen diese Pflicht verstoßen wurde (sekundäres Zurechnungsurteil).68 Die Zusammenhänge lassen sich zusammengefasst wie folgt veranschaulichen:

67  Ich bezeichne die ex-post-Urteile über den „Erfolgseintritt“, den „Vorsatz“ – und auch das aktive „Tun“ als Komplementärbegriff zum Unterlassen – als „sekundäre Zurechnung“. Vgl. Rudolph (Fn. 5), S. 17 ff. 68  Näher dazu Rudolph (Fn. 5), insbes. S. 17 ff.; s. a. oben, Fn. 67.

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4. Vorsatz und Irrtum de lege ferenda Das vorgestellte Konzept lässt sich mit den aktuellen Formulierungen der §§ 15, 16 StGB vereinbaren. Diese lassen bewusst einiges offen.69 Der in § 16 StGB verwendete Begriff „Umstand“ kann insbesondere sowohl als „Spiegelbild des objektiven Tatbestandes“ als auch als „für die Pflichtverletzung relevante Tatsache“ verstanden werden. Gleichwohl ist das Recht ständig im Fluss. Für künftige Gesetzesfassungen wird folgende Formulierung vorgeschlagen:70 § 15 StGB: Pflichtwidriges Verhalten wird als fahrlässige Tat bestraft, sofern diese ausdrücklich unter Strafe gestellt ist. Pflichtwidrig handelt, wer einen Tatbestand verwirklicht, obwohl er die für ihn erkennbare Möglichkeit hatte, dies nicht zu tun. § 16 StGB: Wer alle Tatsachen erkennt, die für die Erfüllung eines objektiven Deliktstatbestandes erforderlich sind (und gleichzeitig davon ausgeht, dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungstatbestandes nicht vorliegen),71 handelt vorsätzlich. Eine Änderung des Wortlauts von § 17 StGB ist nicht veranlasst. 69  Zur historischen Zurückhaltung des Gesetzgebers vgl. Vogel, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2006, Bd. I, vor § 15, , Rn. 1 ff.; zu den Formulierungsschwächen des § 16 StGB s.a. Kindhäuser (Fn. 11), S. 407 f. sowie oben, II. 1. und Fn. 52. 70  Einen positiven Formulierungsvorschlag für eine Vorsatz-Definition macht auch Safferling (Fn. 11), S. 189. Da er für die „Kenntnis“ das „Bewusstsein der sozialen Relevanz“ voraussetzt, scheint der von ihm eigeschlagene Weg nicht mit der gebotenen Konsequenz verfolgt zu werden. Vgl. dazu die Rezension von Pawlik, in: ZIS 2010, S. 339 ff., 340. 71  Mit der in Klammer gesetzten Passage wird ein zweistufiger Deliktsaufbau zu Grunde gelegt, vgl. dazu Hruschka (Fn. 60), S. 197; Rinck (Fn. 11), S. 309 ff., m. w. N.

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III. Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern In der täglichen Gerichtspraxis spielt die komplizierte Vorsatz-Dogmatik so gut wie keine Rolle. Eine Verteidigungsstrategie, die darauf aufbaut, dass ein Beschuldigter das Recht verkannt habe, ist schwach. Im Zweifel würde ein Richter dem Angeklagten – so wie in dem Ausgangsfall Hruschkas – ohnehin nicht glauben.72 Den Vorsatz-Begriff durch „Normativierungen“ bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen, führt daher nicht zu gerechteren Ergebnissen.73 Stattdessen ist eine „Verstärkung der Schuldstation“ von Nöten.74 Die Frage der „Unvermeidbarkeit“ von Verbotsirrtümern tritt in den Vordergrund und muss neu definiert werden.75 Saf­ ferling76 und Glandien77 entwickeln in ihren Monografien hierzu starke Ansätze.78 Insbesondere in Konstellationen, in denen Rechtsfragen besonders komplex, umstritten oder ungeklärt sind, sind Rechtsirrtümer häufig „unvermeidbar“. Konstellationen, bei denen auch ein „Profi“ nur schwer prognostizieren kann, wie sie im Streitfall bewertet werden, sind keinesfalls auf das Nebenstrafrecht beschränkt.79 Ein Richter, der dies anerkennt, beweist die für die Ausübung seines Amtes erforderliche Demut: Er ist nur ein Mensch, dem in einer besonderen Situation die Aufgabe zukommt, sich der Perspektive eines idealen objektiven Urteilers anzunähern. Summary In German criminal law, it is often assumed that the intent of the perpetrator must refer to the legal description of the offence. Nevertheless, cases in which errors of law or interpretation lead to the absence of intent are rarely assumed. This is due to the fact that in the case of er-rors of law a perpetrator is assumed to have been able to comprehend the evaluations of the law by way of a “parallel evaluation in the lay sphere” (“Parallelwertung in der Laienspähre”). 72  Vgl. etwa BGH, Beschl. v. 08. 09. 2011, Az. 1 StR 38/11: „Die bloße Berufung eines Angeklagten auf einen derartigen Irrtum nötigt das Tatgericht nicht, einen solchen Irrtum als gegeben anzunehmen.“ 73  Nicht selten werden „schwierige Fälle“ in der Praxis ohnehin nach den §§ 153 ff. StPO eingestellt. Dies trägt nicht zur Rechtsfortbildung bei. 74  Safferling (Fn. 11), S. 146. 75  Ebd., S. 146. 76  Ebd., S. 224 ff. 77  Glandien (Fn. 11), S. 339. 78  Rinck (Fn. 11), S. 349 f., schlägt einen Katalog gesetzlich festgeschriebener Kriterien für die Vermeidbarkeit nach dem Vorbild des § 46 StGB vor. 79  Aktuell ist es beispielsweise schwer voraussagbar, welche Maßstäbe sich in der Rechtsprechung zur Konkretisierung der Strafbarkeit gemäß den §§ 299a, 299b StGB bei Koopera­ tionen im Gesundheitswesen herauskristallisieren werden. Die Möglichkeit einer verbindlichen Auskunft, wie sie beispielsweise das Steuerrecht vorsieht (§ 89 AO), existiert im Strafrecht nicht. Ein solches Rechtsinstitut wäre durchaus hilfreich.

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There are no legal standards for the demarcation problems that arise as a result. This is sur-prising, since German criminal law, with its distinction between injustice („Unrecht“) and guilt („Schuld“), offers the possibility of reacting appropriately to unavoidable individual errors about the prohibited nature of an act. The article shows that errors of law should always be located only at the level of guilt. They do not affect the intention which is located at the level of injustice. This solution is in line with an imputation model based on a consistent primacy of ex ante versus ex post considerations in criminal law (the so-called correspondence principle).

Die drei Gebiete der Strafrechtsdogmatik Eine kritische Ehrung Joachim Hruschkas Jesús-María Silva Sánchez

I. Einleitung Joachim Hruschka haben wir als Strafrechtler einen sehr bedeutenden Beitrag zur Strafrechtsdogmatik zu verdanken. Aber für einige wird Hruschka in erster Linie für seinen Beitrag zur Wissenschaftlichkeit der Dogmatik geschätzt, die von diesen mit einer weitestgehend wertfreien Ausgestaltung dieser assoziiert wird.1 Tatsächlich bilden für diese Lehrmeinung die wertenden – und insbesondere die teleologisch-wertenden – Richtungen, welche in der Straftatdogmatik vorherrschen, das Paradigma ihrer Unwissenschaftlichkeit. Für diese Gruppe von Autoren ist das Werk Hruschkas ein Meilenstein in der Reihe ihrer (vermutlich endgültigen) Aufarbeitung gewesen. Die Diskussion über die formale und die wertende Methode in der Rechtswissenschaft stellt jedoch nicht nur eine aktuelle, sondern auch eine ständig wiederkehrende Frage dar. Sie kam spätestens im Rahmen des Vernunftrechts des 17. und 18. Jahrhunderts auf. Später trat sie häufig im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Erscheinung. Obwohl die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert mehrheitlich dem Formalismus zugeneigt war, gab es bemerkenswerte Ausnahmen. Die wichtigste Ausnahme im Strafrecht war zweifellos diejenige, welche durch die philosophische Ausrichtung der strafrechtlichen Hegelianer vertreten wurde. Diese Spannungen bestanden offensichtlich Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Debatte über die Methode der Human- und Sozialwissenschaften (der sog. Werturteilstreit). Damals wie heute gab es die Auffassung, dass die Straftrechtsdogmatik das positive Recht – die Gesetze – zum Ziel habe und dass ihre Methode in der Beschreibung und Systematisierung ihres Inhalts läge. Andererseits jedoch schrieben andere ihr die Aufgabe zu, die Inhalte des richtigen Rechts zu erkennen. Adolf Merkel bezeichnete Erstere als positive Konzeption der Rechtslehre. Zweitere nannte er philosophische Konzeption, womit idealistische und konstruktive gemeint war.2 Diese 1  Z. B. etwa Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 311, der seinen strafrechtlichen Ansatz im Sinne von „Wertungen durch deskriptive Kriterien abbilden“ definiert. 2  Merkel, Über „das gemeine deutsche Strafrecht“ von Hälschner und den Idealismus in der Strafrechtswissenschaft, ZStW 1 (1881), S. 553 ff., 556: „der alte Dualismus einer sogenann-

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vertrat die Ansicht, es existiere ein ideales Recht oder ein Recht an sich, und dass es möglich sei, es kennenzulernen, auch wenn sich dies offensichtlich als schwierig erwies. Die entscheidende Frage dabei war daher die nach dem an sich Rechten. Nach Auffassung Merkels setzt dies jedoch voraus, dass wir uns in den Bereich Ethik und darüber hinaus in eine Ethik idealistischer Ausprägung vertiefen.3 Einhundertvierzig Jahre später hat sich nichts Wesentliches geändert. In diesem Zeitraum wurde die reduktionistische Position beispielhaft von keinem geringeren als Hans Kelsen vertreten.4 Allerdings war unter den Strafrechtsdogmatikern eine erweiterte Perspektive vorherrschend. Nur damit lässt sich erklären, dass die von der Strafrechtsdogmatik verfassten Texte in ihrer aktuellen Form – ebenso wie in der Vergangenheit – analytisch-begriffliche, empirische und normative (sinngebende, wertende und zurechnende) Urteile in nahezu unumgänglicher Weise enthalten.5 Wie bereits erwähnt, gibt es eine ständige Diskussion darum, ob die Bewertungen (und die normativen Zurechnungsurteile) auch weiterhin eine Rolle dabei spielen müssen. Merkel vertrat die Auffassung, die Strafrechtsdogmatik müsse sich um Fragen der Logik, des Sprachgebrauchs und auch der Absichten des Gesetzgebers kümmern.6 Dagegen lehnte er den wissenschaftlichen Wert jeglicher „ethischer“ Erwägung der Strafrechtswissenschaftler ab, die versuchten, über ihren Status als Deuter des „geschichtlichen Verhaltens der sittlichen Kräfte“ hinauszugehen.7 Heute lässt sich dieser Reduktionismus in mehr oder weniger großem Umfang bei Autoren mit höchst unterschiedlichem Profil beobachten. Diese argumentieren aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln: einerseits aus der Perspektive eines Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit, die davon ausgeht, dass die Strafrechtsdogmatik auf Werurteile verzichten soll, sowie andererseits aus der Perspektive einer vermeintlich erforderlichen „Demokratisierung“ der Werturteile im Bereich des Strafrechts.8 In der Tat verfügt der nun wieder aktuelle wissenschaftsgläubige Reduktionismus der Strafrechtslehre über neue Verbündete: diejenigen, die die „Deten „positiven“, d.h. hier: beschreibenden und äußerlich systematisierenden, und einer „philo­ sophischen“, d.h. hier: idealistisch, konstruktiven Rechtslehre“. 3  Merkel, ZStW 1 (1881), S. 557. 4  Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl., 1960, S. 347 ff., 350 – 351. 5 Vgl. Kuhlen, in: Hilgendorf / Kuhlen, Die Wertfreiheit in der Jurisprudenz, 2000, S. 35, 40. 6  Merkel, ZStW 1 (1881), S. 585. Nur geringfügig unterscheidet sich die Einsicht Hilgendorfs (Fn.  5), S.  19 – 20: Beschreibung, Systematisierung, Herausarbeitung möglicher Interpretationsvarianten, Folgenanalyse. 7  Merkel, ZStW 1 (1881), S. 587. 8  Vogel, Strafrecht und Strafrechtswissenschaft im internationalen und europäischen Rechtsraum, JZ 2012, S. 25 ff. Schon Vogel, Europäische Kriminalpolitik – europäische Strafrechtsdogmatik, GA 2002, S. 517 ff., 534, kritisierte, die Lehre befinde sich „im Elfenbeinturm dogmatischer, der politischen Öffentlichkeit unzugänglicher Diskurse“. Kritisch Silva Sánchez, Straftatsystematik deutscher Prägung. Unzeitgemäß?, GA 2004, S. 679 ff.

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mokratisierung“ des Strafrechtsdiskurses gegenüber den „elitären“ Ansprüchen der Professoren anstreben.9 Nach Aussage dieser Meinung fehlt den Werturteilen der Dogmatik der wissenschaftliche Status. Grund dafür ist, dass nur beschreibende Urteile in Bezug auf einen bestehenden und als bekannt geltenden Gegenstand (in diesem Fall: die Gesetze) einen solchen Status besitzen. Darüber hinaus verfügen die Werturteile der Dogmatik jedoch über keinerlei politische Legitimität, denn diese hilft nur denjenigen, die demokratisch entstanden sind. Das sind auch hier: die Gesetzestexte.10 Natürlich akzeptieren die Kritiker, dass die Richter notwendigerweise mit Werturteilen operieren müssen. Ihrer Ansicht nach sind Gerichtsentscheidungen autoritative Werturteile, die als interpretative Anwendung der Gesetze, d.h., als interpretative Urteile im engeren Sinne erscheinen.11 Diese verfügen über rechtliche und verfassungsrechtliche Legitimität, jedoch nur, wenn sie innerhalb bestimmter Grenzen stattfinden. Die wichtigste Grenze ist die, dass nicht auf die teleologisch-objektive Auslegung zurückgegriffen werden darf, welche in der Regel stark kritisiert wird.12 Die Position der Strafrechtslehrer in Bezug auf Werturteile ist jedoch eine andere. Sie müssen unter allen Umständen davon absehen, Werturteile vorzunehmen. Berechtigterweise dürfen sie höchstens die verschiedenen möglichen Auslegungen eines Textes beschreiben und hinzufügen, welche dieser Auslegungen zur Erreichung des jeweiligen Zwecks die zutreffendste ist. Wenn die Strafrechtslehrer allerdings Wertungen vornehmen – und diese müssen sie unter allen Umständen klar von den von ihnen formulierten, beschreibenden Urteilen trennen – äußern sie lediglich persönliche Ansichten zu ethischen oder politischen Fragen.13 Bei diesen Fragen fehlt ihnen eine besondere wissenschaftliche oder akademische Kompetenz. Daher verdienen ihre Kriterien keine höhere Glaubwürdigkeit als diejenigen eines Berufspolitikers oder irgendeines Bürgers.14 9 Beispielsweise Gärditz, Demokratizität des Strafrechts und Ultima Ratio-Grundsatz, JZ 2016, S. 641 ff., 650. 10  Armin Kaufmann, Probleme rechtswissenschaftlichen Erkennens am Beispiel des Strafrechts (1962), in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S. 7 ff., 8, verdeutlicht, wie das Festhalten daran letztlich ein Beweis für die Annahme der reinen Rechtslehre von Kelsen ist. 11  Hilgendorf (Fn. 5), S. 19. 12  Beispielsweise geht Hilgendorf (Fn. 5), S. 17 – 18, davon aus, dass die grammatikalische, historische und systematische Auslegung ohne Wertung des Auslegenden vorgenommen werden kann. Dagegen ist die sogenannte teleologisch-objektive Auslegung „ein Mysterium: Wie soll ein Gesetz, ein bloßer Text also, einen eigenen „telos” oder „Zweck” besitzen…“. Gegen diese Sichtweise Silva Sánchez, Zur sogenannten teleologischen Auslegung, FS f. G. Jakobs, 2007, S. 645 ff., 648 ff. 13  Hilgendorf (Fn. 5), S. 11: „Das Werturteil selbst ist Ausdruck der Persönlichkeit des Wertenden und nicht überprüfbar, sondern mehr oder weniger nachvollziehbar.“ Etwas nuancierter bezüglich des Gesamtzusammenhangs zwischen Wissenschaft, Bewertung und Politik, Engi, Wissenschaft und Werturteil – Wissenschaft und Politik, Ancilla Iuris, 2009, S. 25 ff. 14  Hilgendorf (Fn. 5), S. 28: „Es gibt grundsätzlich keine wissenschaftliche Sonderkompetenz für Werturteile.“

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Gegenüber dem reduktionistischen Ansatz stellt sich jedoch die ewige Frage, die keinen Strafrechtswissenschaftler gleichgültig lassen kann: Sollte man sich Werten möglicherweise nicht rational nähern, damit eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger zutreffenden Werturteilen möglich ist?15 II. Die Methode der Strafrechtsdogmatik 1. Die Position Hruschkas Hruschka erkennt drei Bereiche intellektueller Tätigkeit der Strafrechtsdogmatik an. Einerseits (i) die Analyse der dem strafrechtlichen Normensystem zugrunde liegenden Strukturen; andererseits (ii) die Durchführung von ethisch-normativen und rechtlich-politischen Studien zum strafwürdigen Verhalten; und schließlich (iii) die Formulierung von Kommentaren zum geltenden positiven Strafrecht. Nach seiner Auffassung stehen die unter (iii) genannten Kommentare im Zusammenhang mit den unter (i) und (ii) genannten Urteilen. Die unter (i) und (ii) genannten, von jeglichem positiven Strafrecht unabhängigen Urteile wiederum stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: die ethisch-normativen Erwägungen unter (ii) sind der Analyse unter (i) nachgeordnet. Die Letztgenannte ist vorrangig und unabhängig von allen anderen.16 Für Hruschka erklärt der Primärcharakter der Urteile der Gruppe (i) die Tatsache, dass er diesen den wesentlichen Teil seines Werkes gewidmet hat. Die Vorbemerkung zur ersten Auflage seines Strafrechts nach logisch-analytischer Methode listet dessen Inhalte auf. Dies sind beschreibende Urteile: sie beschreiben die Probleme des Strafrechts, die den wahren Gegenstand dieser Wissenschaft darstellen. Tatsächlich führt die Formulierung solcher Probleme, der unter ihnen bestehenden Beziehungen und der für sie geltenden vorjuristischen Grundsätze17 zu den der Sprache des Strafrechts eigenen Urteilen.18 Die Leitsätze dieser Sprache sind ihrerseits grundsätzlich logisch oder von einem rationalen Sprachgebrauch geprägt, d.h., sie sind nahezu völlig formal.19 Der Formalismus und die Abstraktion der daraus resultierenden Urteile zeigen sich sehr deutlich darin, dass Hruschka sie mit denen der Geometrie gleichsetzt.20 Der Idee der Philosophia practica universalis, mathematica methodo conscripta von Christian Wolff 21 fol15  Arth. Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, 1990, S. 20: „Das ist die Kernfrage jeder nicht nur rein formalen Rechtsphilosophie.“ 16  Hruschka, Das Strafrecht neu durchdenken!, GA 1981, S. 237 ff. 17  Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1983, S. IX – X. Diese Grundsätze habe er „nicht erfunden, sondern vorgefunden.“ 18  Ibid., S. XVI. 19  Hruschka (Fn. 17), S. X – XI. 20  Hruschka (Fn. 17), S. XVI, XVIII. 21  Sowie die Ethica geometrico ordine demonstrata von Spinoza. Sowie die Forderungen von Leibniz, usw.

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gend, bezeichnet er seine Analyse und Systematisierung in der Tat als Dogmatik more geometrico.22 Somit hat der Gegenstand der Strafrechtswissenschaft keinen sachlich-konkreten (es geht nicht um das System gerechter Lösungen für Strafrechtsfälle), sondern einen formal-abstrakten Charakter. In diesem Bereich erhält man die Ansätze und strafrechtlichen Urteile auf analytisch-deduktivem Weg. Gewiss rechnet sich Hruschka den Status des Naturrechtlers zu – und dieser wird ihm auch zuerkannt. Allerdings gleicht dieses Naturrecht dem von Wolff. Seiner Auffassung nach ist die Ontologie des Rechts (seinen Worten zufolge: die Sache Recht) formal. Und diese Ontologie bildet den hermeneutischen Horizont, von dem aus man seines Erachtens die Strafgesetzgebung betrachten muss. Folglich ist das Vorverständnis, von dem aus man mit den Gesetzestexten in Dialog tritt, formaler Art.23 Die rationale Grammatik des Strafrechts bildet den Lektüreleitfaden für die Strafgesetze. Allerdings gibt Hruschka nur wenige Hinweise auf die „ethisch-normativen“ und „rechtlich-politischen“ Urteile, die die Gruppe (ii) bilden. Entscheidend ist, dass eine materialrechtliche Lösung der Probleme des Strafrechts seiner Ansicht nach nicht Gegenstand der Strafrechtswissenschaft im engeren Sinne ist. „Werturteile“, anhand derer man solche Probleme zu lösen versucht, bergen seines Erachtens das Risiko, zu bequem zu sein.24 Darüber hinaus führen sie tendenziell zu intellektuell zusammenhanglosen, wechselhaften Meinungsäußerungen oder zu einer kompletten Ideologisierung.25 Daher besteht das Ansinnen Hruschkas in der Reduktion und Kontrolle der Werturteile durch Betrachtungen der Logik und des rationalen Diskurses.26 Im Hinblick auf die Urteile der Gruppe (iii) lässt sich feststellen, dass die Gesetze auch für Hruschka nicht Hauptgegenstand der Strafrechtswissenschaft sind. Dennoch stellt er fest, dass sie dort, wo es sie gibt, beim Wort genommen werden müssen.27 Dies bedeutet, dass man sich an den Bedeutungen des normalen Sprachgebrauchs orientieren und das Gesetz „wie es ist“ darlegen muss. In keinem Fall sollte das Gesetz einer berichtigenden Auslegung unterzogen werden.28 So wird bezüglich seiner Studie zur Straftat der Nötigung seine Ehrfurcht vor dem Text und seine Bezeichnung der „teleologischen“ Auslegung (im Original in Anfüh22  Hruschka, Kann und sollte die Strafrechtswissenschaft systematisch sein?, JZ 1985, S. 1 ff. 23  Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, passim. 24  Hruschka (Fn. 17), S. XIX. Die Vorstellung, Werturteile seien „Entscheidungen“, ist ein wesentliches Kennzeichen des Formalismus: Kelsen (Fn. 4), S. 442. Er lässt diesbezüglich keine Art von Erkenntnis gelten (S. 347, 351); vielmehr hält er sie für schlichtweg unwissenschaftlich. 25  Hruschka (Fn. 17), S. XVII; GA 1981, S. 243 f.: diese dürfen nicht mit den strukturellen Analysen vermengt werden. 26  Hruschka, GA 1981, S. 244. 27  Hruschka (Fn. 17), S. XII – XIII. 28  Hruschka (Fn. 17), S. XIV – XV.

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rungszeichen) als vorgefasste Meinung deutlich, die den Text nicht verdeutlicht, sondern ihn verändert.29 Daher neigt Hruschka bezüglich des Inhalts der Gesetze zu einem semantischen Realismus.30 Für ihn dürfte die Auslegung ein Akt logischsprachlicher Art sein, der ohne jede Bewertung stattfinden kann und muss.31 Nach dieser Konkretisierung seiner Position bestätigt sich allerdings der ursprüngliche Gedanke, dass die Urteile der Gruppe (i) in ihrem Ansatz den – analytisch-logischen und sprachlichen – Rahmen für die Urteile sowohl der Gruppe (ii) als auch der Gruppe (iii) bilden. Dagegen wird in keinster Weise erklärt, wie die Werturteile der Gruppe (ii) zudem die interpretativen Urteile der Gruppe (iii) bedingen. Wenn ich die Bedeutung des Werkes von Hruschka richtig verstehe, entwickelt sich dieses von einem anfänglichen – trotz alledem bereits formalistischen –32 Ansatz einer phänomenologischen Hermeneutik hin zu einem ausdrücklich formalistisch-analytischen Ansatz. Zwar stellte er in Das Strafrecht neu durchdenken! noch fest, dass „die zweite Aufgabe der kommenden Jahrzehnte [...] in der Entwicklung einer normativen Rechtsethik [besteht], die sich um die maßgeblichen Wertungen als solche kümmert“.33 Doch in seinem Spätwerk finden sich keinerlei – nicht einmal andeutungsweise – Sätze dazu, wie diese Lehre der richtigen strafrechtlichen Inhalte – die normative Straftatlehre – aufzubauen ist.34 Will heißen: darüber, was nach der in der Rechtsphilosophie vorherrschenden Terminologie gemeinhin als normative Strafrechtsethik bezeichnet wird. In seinem Werk ist der Formalismus eine Konstante, die es ermöglicht, diesen sowohl mit der philosophia practica universalis von Wolff als auch mit der Methode des logischen Positivismus des 20. Jahrhunderts zu verknüpfen.35 Bekanntlich neigt diese letzte philosophische Strömung dazu, ethische Urteile mithilfe der formalen Logik und 29  Hruschka, Die Nötigung im System des Strafrechts, JZ 1995, S. 737 ff.. Sein Grundgedanke besteht darin, dass ab einem gewissen Punkt der Gesetzgeber (S. 743) tätig werden muss. 30  Vgl. eine Position des radikalen epistemologischen Realismus bezüglich des Inhalts der Gesetze in Meyer, Bestimmtheit und Normativität des Rechts. Eine Erwiderung auf das Paradigma diskursiver Rechtserzeugung, ARSP Beiheft Nr. 114, 2007, S. 81 ff. 31  Haas (Fn. 1), 34: „Dieses Rechtsverständnis hat keineswegs die Konsequenz, vertreten zu müssen, dass jeder Fall deduktiv entscheidbar ist. Das Recht mag durchhaus in einigen Fällen in einem Maße unbestimmt sein, das eine Wertung des Rechtsanwenders erforderlich macht. Diese Wertung impliziert eine (Entscheidungs-)Freiheit des Rechtsanwenders und damit aber gerade das Fehlen rechtlicher Bindung“. (!) 32  Hruschka (Fn. 23), S. 52, 54, in dem das „Rechtsphänomen“ oder „die Sache Recht“ (das Naturrecht), die die Bedeutung des positiven Rechts liefert, komplett formal verstanden wird. Vgl. auch die Beschreibung und Kritik von Alwart, Recht und Handlung, 1987, S. 97 ff. 33  Hruschka, GA 1981, S. 244. 34  Genau dieser „Sollzustand des Strafrechts“ ist für die meisten Strafrechtslehrer der Gegenstand der Dogmatik. So beispielsweise Zaczyk, Was ist Strafrechtsdogmatik?, Festschrift für W. Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 723 ff., 727. Bezüglich dieses Gegenstands besitzt das geltende Recht die Eigenschaft des Zufälligen und Provisorischen. 35 Die Rezension von Strafrecht nach logisch-analytischer Methode im Cambridge Law Journal: Lipstein, C.L.J. 1984, S. 207, weist auf den deutlichen Einfluss des logischen Positivismus auf Hruschka hin.

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der Sprachanalyse zu erörtern. Auf diesem methodologischen Weg versteigen sich die logischen Positivisten gar zu der Behauptung, Werturteilen mangele es an sachlichen Inhalten. Doch ist vielleicht die Zuschreibung von Verantwortung nach dem Ausnahmemodell der actio libera in causa ein logisch-analytisches Urteil? In Das Strafrecht neu durchdenken! bekundet Hruschka zweifellos, dass die Urteile der Gruppe (iii) – die Auslegung der Gesetze – mit denen der Gruppe (ii) – den ethisch-normativen Urteilen – verknüpft sind.36 Dieser Ansatz kann jedoch sodann widerlegt werden. Tatsächlich scheint es in Hruschkas Werk, dass das hermeneutische Vorverständnis des Strafrechtsdogmatikers keine rechtlich-normativen Postulate beinhalten kann. Das einzige Vorverständnis beim Zugang zu den Gesetzestexten scheint laut Hruschka logisch-analytischer Art zu sein. Doch ist nicht vielleicht die Integration des Ausnahmemodells der actio libera in causa in die positive Gesetzgebung eine teleologische Reduktion?37 2. Die klassischen Einflüsse im methodischen Vorschlag Hruschkas Wie bereits erwähnt, knüpft Hruschka an die Tradition des juristischen Formalismus an, der sehr viel offenkundiger im Zivil- als im Strafrecht ist und den Übergang vom Naturrecht zum Positivismus überdauert hat. Dies ermöglicht die Einordnung und Auslegung seines Werks. Tatsächlich behielt der Formalismus die abstrakt-rationale Methode des Vernunftrechts (von Grotius und Pufendorf, in erster Linie jedoch von Wolff) bei und wendete sie auf das positive Recht an. Dabei zerlegte er das positive Recht in zwei Elemente, die aus der Tradition des rationalistischen Naturrechts stammen. Auf der einen Seite der Stoff, d.h., die Elemente sachlichen Inhalts – jurisprudentia particularis –, die von der Rechtswissenschaft außen vor gelassen und den Rechtspraktikern überlassen wurden. Auf der anderen Seite die Form, d.h. die Kategorien und Strukturen – die jurisprudentia universalis –, die als der wahre Gegenstand der Rechtswissenschaft galten.38 Diese Strukturen – das Notwendige und Beständige in jedem positiven Recht – erhält man durch Abstraktion aller möglichen Positivrechte. Dies unterstreicht, dass die Bezeichnung eines Ansatzes als natur- oder positivrechtlich innerhalb des Formalismus praktisch keine Rolle spielt.39

36  Praktisch würde dies bedeuten, die Praxis einer teleologisch-objektiven Auslegung ausgehend von den einbezogenen Wertprämissen zuzulassen. 37  Vogel, Juristische Methodik, 1998, S. 136 ff. 38  In diesen Zusammenhang muss John Austin (1790 – 1859) eingeordnet werden, der deutlich von der deutschen Lehre der damaligen Zeit beeinflusst war, auf die die sogenannte „analytical jurisprudence” (oder classificatory jurisprudence) zurückgeht. In angelsächsischen Akademikerkreisen ist diese funktionale Teilung zwischen praktischen Strafrechtslehrern und (analytischen) Strafrechtsphilosophen auch heute noch sehr klar. 39 Vgl. Alwart (Fn. 32), S. 100 f., zur paradoxen Nähe zwischen Hruschka und Kelsen.

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Der Formalismus hat seine Blütezeit im Zivilrecht bei Savigny,40 Puchta und dem frühen Jhering erlebt. Sie bildeten den Kern der Begriffsjurisprudenz, in deren Mittelpunkt die dem in Deutschland geltenden Zivilrecht zugrunde liegenden, dauerhaften Strukturen und Begriffe stehen, die more geometrico als Grundgerüst jedes möglichen Rechts verstanden wurden. Ebenso nutzte Jhering die Grammatik und die Chemie als Paradigmen für die Analyse, welche die Rechtswissenschaft durchzuführen hat.41 Bei Hruschka finden sich dieselben Ausdrücke, die sie verwenden. Diese verdeutlichen, dass seiner Auffassung des „Phänomens Recht“ eine ethisch-normative Dimension fremd ist. Letztendlich ist der Ontologie des Rechts bei Hruschka die Vorstellung von Gerechtigkeit fremd. Ebenso wie im Zivilrecht gilt es, im strafrechtlichen Formalismus nach dem Naturrecht auf die Unterscheidung Feuerbachs zwischen Stoff und Form hinzuweisen.42 Der Stoff ist durch den Inhalt der positiven Gesetze bedingt. Die Form jedoch bildet den wahren Gegenstand der Wissenschaft und umfasst die Rechtsbegriffe, die inneren Zusammenhänge zwischen diesen Begriffen innerhalb der Rechtsurteile und das System der Rechtsurteile. Der Formalismus, der sich aufgrund der Rolle der strafrechtlichen Hegelianer im Strafrecht anfangs nicht entfalten konnte, wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus angenommen.43 Allerdings nur für kurze Zeit. Wie bereits erwähnt, wurde das 20. Jahrhundert vollständig vom materiell-teleologischen Denken im Strafrecht beherrscht. Ist die Position Hruschkas wegweisend für die Entwicklung der Dogmatik im 21. Jahrhundert? III. Strafrechtsdogmatik und Werturteile 1. Die verschiedenen Urteilsarten der Dogmatik Es steht außer Zweifel, dass die Analyse der Begriffe und Strukturen – die sogenannte Protodogmatik – in der Strafrechtsdogmatik von großer Bedeutung ist.44 Diese Analyse ermöglicht, in der Dogmatik das einer Wissenschaft Eigene im engeren Sinne festzustellen. In der Tat kann gesagt werden, dass die Erläuterung und 40  Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 22, verwendet die geometrische Metapher des Dreiecks. 41  Vgl. dazu die Ausführung von Larenz, Metodología de la ciencia del Derecho (Übers. Rodríguez Molinero, in der 4. deutschen Aufl.), 2001, S. 39 ff. 42  Feuerbach, Ueber Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft (1804), 2002, S. 16 ff., 22. 43  Teilweise. Insbesondere beim Grundgerüst für das Modell der Strafrechtslehre von von Liszt / Beling / Radbruch, jedoch auch in einigen Aspekten des Werks von Binding. Der Formalismus entwickelte sich mit den Autoren der Allgemeinen Rechtslehre wie Merkel oder Bierling bis hin zu Kelsen weiter. 44  Silva Sánchez, GA 2004, S. 680 f.; Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, 2007, S. 36: „axiologisch neutrale Analyse strafrechtlicher Zurechnungsformen.“

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Systematisierung der sprachlichen Tiefenstrukturen des Strafrechts eine theoretische Wissenschaft ist. Mit den Worten von Kindhäuser handelt es sich um eine „exakte Wissenschaft“45 mit einem globalen Diskurs. Für jede zusätzliche Tätigkeit der Strafrechtsdogmatik entfalten die Analysen dieselbe bindende Kraft wie einerseits die formale Logik und andererseits die Beiträge der Naturwissenschaften. Anders ausgedrückt: alle diese Urteile zeigen die Beständigkeit der Begriffsformen der Wirklichkeit und schaffen Sicherheit. Dabei gibt es allerdings mindestens zwei Probleme: (a) dass einige Urteile das, was tatsächlich Vorschläge wertenden oder zuschreibenden Inhalts sind, als bloße Übersetzung der Fortschritte der empirischen Wissenschaften in das Strafrecht darlegen; und (b) dass das logische Argument missbraucht wird und tatsächlich wertende oder zuschreibende Vorschläge dargelegt werden, als handele es sich um deduktiv-analytische Vorschläge.46 Tatsache ist, dass die Strafrechtsdogmatik sich, sobald der Bereich der analytisch-deduktiven Urteile47 ausgeschöpft ist, in Bezug auf die übrigen Urteile wie eine praktische – normative48 – und nicht wie eine theoretische Wissenschaft verhält.49 Als normative Strafrechtslehre50 formuliert sie sinngebende, wertende und zuschreibende Urteile: sie hat vor, bezüglich der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung ein System gerechter transnationaler Lösungen zu bilden.51 Selbstverständlich muss erörtert werden, wie viele der Urteile, die die herrschende Lehre als normativ darstellt (bei der Wertung von Verhaltensweisen und bei deren subjektiven Zurechnung) dies auch tatsächlich sind. Gerade deshalb lässt sich auch darüber streiten, inwieweit sie als zur Ebene der logisch-sprachlichen 45  Kindhäuser, Zu Gegenstand und Aufgabe der Strafrechtswissenschaft, in: Rechtsstaatliches Strafen. FS f. K. Yamanaka zum 70. Geburtstag, 2017, S. 443 ff., 446 f.: „kraft analytischer Wahrheit“. 46  Armin Kaufmann (Fn. 10), S. 10 Fn. 2, verwies bereits darauf, dass selbst einfachere, beschreibende Formulierungen einer „mühsamen teleologischen Interpretation, ganz zu schweigen von unbestimmten Rechtsbegriffen“, bedürfen. 47  Zur Begrenztheit dieser Methode, Arth. Kaufmann (Fn. 15), S. 18; Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, FS f. H. Jung zum 65. Geburtstag, 2007, S. 231 ff., 236, 238. 48  Hilgendorf, Was heiβt „normativ”? Zu einigen Bedeutungsnuancen einer Modevokabel, Gesellschaft und Gerechtigkeit. FS f. R. Rottleuthner, 2011, S. 45 ff., 48 f., unterteilt die Urteile des Rechts in drei Gruppen: begrifflich-analytisch, deskriptiv und praktisch-normativ. 49  Silva Sánchez, GA 2004, S. 681. 50  Hilgendorf, FS f. Rottleuthner, S. 61, führt aus, dass das Wort „normativ“ ein „Bluff“ sei, das vorgibt, den Makel fehlender Rationalität, insbesondere fehlende Begründetheit, zu umgehen, ohne über das völlige Fehlen von Seriosität nachzudenken. Hier wird diese Auffassung nicht geteilt. 51 Vgl. Robles Planas, Das Wesen der Strafrechtsdogmatik, ZIS 2010, 357 ff., 360, hebt die unzureichende Behandlung dieses Aspekts der Dogmatik in Hruschkas Ansatz hervor: „So ist neben der analytischen Dimension noch die normativ-ethische Dimension der Dogmatik hervorzuheben, denn letztlich ist die Hauptfrage der Dogmatik die nach der Richtigkeit eines Urteils, das Verantwortung zuschreibt. Und ähnlich wie die logisch-analytische Dimension ist diese normativ-ethische Dimension übernational.“

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Analyse gehörende Urteile neu formuliert werden sollten. Ein wichtiger Schritt in dieser Hinsicht ist die schrittweise Entnormativierung und Konkretisierung der abstraktesten Werturteile.52 Gewiss ist es möglich, die Ermittlung der Merkmale, Fälle oder Sachverhalte, welche die Abgabe eines normativen Urteils bestimmen, voranzutreiben. Doch diese Methode ist begrenzt. Es ist anzuerkennen, dass ein Strafrechtslehrer, der die Strafrechtsdogmatik bearbeitet, außerhalb des Bereichs der analytischen Urteile nicht die externe – theoretische, neutrale – Perspektive des Beobachters (d.h. des Dritten), sondern die interne – praktische – Perspektive des Teilnehmers (die sich jeweils an eine zweite Person wendende erste Person) einnimmt.53 Tatsächlich beschränkt sich die Beobachterperspektive auf die Formulierung von Urteilen der Gruppe (i) der Dreiteilung von Hruschka. Wie bereits erwähnt, finden sich diese Urteile inmitten der Resistenz, die sowohl von den Begriffen als auch von der dem Regelungsgegenstand innewohnenden Struktur ausgeübt wird. Die Urteile der Gruppe (ii) dagegen sind normativ – sinngebend, wertend oder zuschreibend – und werden von einem Subjekt formuliert, das mit anderen an einem praktischen Diskurs über die konkreten Lösungen für die Probleme des Strafrechts teilnimmt. Jedes in diesem Bereich formulierte Urteil spiegelt gleichzeitig und notwendigerweise auch einen eigenen Standpunkt wider und ist Ausdruck eines persönlichen Anliegens im Hinblick auf die Suche nach dem richtigen Recht. 54 Der normative Diskurs der Strafrechtsdogmatik entwickelt sich unter diversen beträchtlichen Einschränkungen. Diese mögen den Diskurs nicht zu einer wissenschaftlichen Disziplin (was auch immer dies bedeuten mag), jedoch zu einer qualifiziert rationalen Disziplin machen. Dabei handelt es sich einerseits gerade um die aus den Urteilen der Gruppe (i) abgeleitete Einschränkung. Diese Urteile bilden neben den allgemeinen Regeln der Logik und den formalen Regeln jedes Diskurses das formale Gerüst für die praktische Argumentation. Andererseits jedoch kann auf weitere Einschränkungen verwiesen werden, die ich erwähnen möchte: (a) die Einschränkung, die aus der dogmatischen Tradition hervorgeht, die seit vielen Jahrhunderten einen geistigen Rahmen bildet;55

52  Schünemann, Einführung, in: derselbe (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 60. 53 Dies führt zu einer Abkehr vom Schema Subjekt-Objekt: Arth. Kaufmann (Fn. 15), S. 25 ff.; derselbe, Entre iusnaturalismo y positivismo hacia la hermenéutica jurídica (Übers. Ollero), Anales de la Cátedra Francisco Suárez 50 (2016), S. 133 ff. 54  Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance, 2017, S. 63: „jede dogmatische Äußerung [erhält] den Anspruch, die beste aller in Betracht kommenden Deutungsvarianten zu dem behandelten Problem vorzulegen.“ 55  Pawlik, Ibid., S. 62: ist eine „komplexe Begründungskultur.“ Zur Rolle der Tradition beim praktischen Wissen und zum fehlenden Widerspruch zwischen jener und der Vernunft, vgl. Arth. Kaufmann (Fn. 15), S. 41 f.

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(b) die Einschränkung, die aus der Integration des Strafrechtsdogmatikers in einer Diskursgemeinschaft hervorgeht, welche den allgemeinen Regeln der vernünftigen Diskurse weitere, aus ihrer eigenen argumentativen Praxis abgeleitete Regeln hinzufügt; (c) die sich aus dem Zeitgeist ergebende Einschränkung.56 Der Zeitgeist manifestiert sich sowohl in einer bestimmten gesellschaftlichen Kultur als auch in der Werteordnung ihrer Verfassung.57 Beide Größen können sich jedoch in einem mehr oder weniger deutlichen Spannungsfeld befinden. Und schließlich weisen die Urteile der Gruppe (iii) – die „Kommentare“ zur Gesetzgebung –58 eine über alle vorgenannten Einschränkungen hinausgehende Einschränkung auf: den Text. Wie vorstehend dargelegt, gilt es selbstverständlich, sich dem Text aus anderen Perspektiven als aus derjenigen der wortwörtlichen Beschreibung zu nähern.59 So kann dies einerseits aus einer semantisch-realistischen Perspektive geschehen, die davon ausgeht, dass der besagte Text eine bestimmte Bedeutung innehat. Sie versucht, mithilfe von interpretativen – im engeren Sinne exegetischen – Urteilen zu operieren. Andererseits gilt es jedoch, sich auch aus einer grundsätzlich pragmatischen Perspektive heraus zu nähern, die erkennt, dass die Bedeutung in erster Linie aus der interpretativen Praxis einer Gemeinschaft entsteht.60 Diese interpretative Gemeinschaft besteht im Wesentlichen aus den Strafrechtsspezialisten: aus Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Hochschullehrern. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft teilen ein hermeneutisches Vorverständnis der Texte und stehen dem Diskurs gleichzeitig offen gegenüber.61 Trotz der gegensätzlichen Perspektiven der beiden allgemeinen Ansätze besteht ein Minimum an Übereinstimmung: der Text zeigt „Resistenz”, und man kann nicht alles in ihn hineininterpretieren.62 Diese Resistenz ist in Wahrheit lediglich eine andere Art der Bezeichnung für das Gesetzlichkeitsprinzip.

56  Vgl. dagegen Hruschka, Vorpositives Recht als Gegenstand und Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 1992, S. 429 ff., 437 f., der die Abhängigkeit der Rechtspolitik von der Historizität oder der ideologischen Konditionierung kritisiert. 57  Wer beide Rahmen verlässt, kann eine transtemporale normative Strafrechtslehre umsetzen, muss jedoch im Gegenzug den Preis der Selbstausschließung aus der Diskursgemeinschaft zahlen. 58 Für Kindhäuser, FS f. Yamanaka, S. 455 ff., die Dogmatik im engeren Sinne, die seiner Auffassung nach eine interpretative Disziplin ist. 59  Einen mittleren Standpunkt nimmt Hassemer ein, FS f. Jung, S. 240 ff., 248. 60  Pawlik (Fn. 54), S. 59 ff. 61  Dies bedeutet, dass die hermeneutische und die pragmatische Dimension sich zwar nicht ohne Spannungen, aber keineswegs in widersprüchlicher Weise integrieren lassen: vgl. für den nicht-juristischen Bereich Buschmeier, Was ist pragmatische Hermeneutik? in: Buschmeier / Hammer (Hrsg.), Pragmatismus und Hermeneutik. Beiträge zu Richard Rortys Kulturpolitik, 2011, S. 21 ff. 62  Zambrano, La inevitable creatividad en la interpretación jurídica, 2009, S. 59 ff., 64.

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2. Normative Urteile Laut einer von Hruschka festgelegten Klassifizierung existieren in der Rechtswissenschaft lediglich drei Arten von Urteilen63: beschreibende, vorschreibende64 und zuschreibende Urteile.65 Auf die wertenden Urteile (und auch nicht auf die interpretativen Urteile) wird nicht hingewiesen. Ein Grund dafür kann sein, dass eine den Werturteilen eigene sprachliche Autonomie von einigen verneint wird. Die Negation der Autonomie der Werturteile weist einen deutlichen Zusammenhang zum Empirismus und zum ethischen Emotivismus auf. So ist ein Werturteil nach einer in der Sprachphilosophie weit verbreiteten Ansicht in Wirklichkeit ein beschreibendes beziehungsweise ein vorschreibendes Urteil. Es wird festgestellt, dass das als beschreibendes Urteil begriffene Werturteil, das richtig oder falsch sein kann, einen Wunsch oder eine Präferenz desjenigen beschreibt, der das Urteil äußert. Und dass die als eigentlich vorschreibendes Urteil begriffene Bewertung, die weniger aussagekräftig ist als eine Norm, eine Aufforderung oder Empfehlung an den Adressaten darstellt.66 Meiner Ansicht nach lassen sich Werturteile zweifelsohne aus der Perspektive empirischer Beschreibungen oder schwacher Gebote analysieren. Entscheidend für die Straftatlehre ist jedoch ihre normative Dimension: die Zuweisung eines positiven oder negativen Wertes zu einer Handlung.67 In dieser Hinsicht sind wertende Urteile von beschreibenden, vorschreibenden und zuschreibenden Urteilen zu unterscheiden.68 Gegenstand der normativen Urteile kann die Bewertung einer Tat beziehungsweise die Zuschreibung einer Tat zu einem Subjekt sein.69 Folglich sind Werturteile eine der drei Unterarten der normativen Urteile. Die zweite Unterart umfasst die zuschreibenden Urteile. Die dritte, die sinngebenden Urteile. Hinsichtlich der normativen Urteile ist wichtig festzustellen, welcher Art ihr Maßstab ist. Sie können (a) einen metaphysischen Maßstab haben. Sie können jedoch auch (b) eine praxis-immanente Normativität als Maßstab haben. Diese besteht aus metasprachlichen Urteilen, die die Praxis (d.h. die sprachlichen Urteile)  Vgl. Hruschka (Fn. 17), S. 415 ff.   Zur Unterscheidung zwischen beschreibenden und vorschreibenden Urteilen, die auf Austin und Hare zurückgehen, vgl. beispielsweise Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, § 4, Rdn. 109 ff. 65  Hart, The Ascription of Responsibility and Rights. Proceedings of the Aristotelian Society 1949, S. 171 ff. Zur Rolle, die Hruschka im Zusammenhang mit der Entwicklung der zuschreibenden Urteile zukommt, vgl. Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006, S. 50. 66  Hilgendorf (Fn. 5), S. 11 f.; von den Pfordten, Normative Ethik, 2010, S. 260: Normen „sind als deontische Qualifikation handlungsleitend“; „Wertungen können menschliches Handeln lediglich empfehlen, leiten es aber nicht wie Normen (…)“. 67  Tatbestandmässigkeits- und Rechtfertigungsurteile im Strafrecht sind eindeutig Werturteile. 68  Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 20 ff. 69  Zu dem gemeinsamen Aspekten und den Unterschieden zwischen beiden, Puppe, Ibid., S. 33 ff. 63 64

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beschreiben, die im Hinblick auf die Bewertung von Handlungen und auf deren Zuschreibung zu bestimmten Personen in einer Gesellschaft vermeintlich besteht. Oder aber sie können (c) eine praxis-transzendente aber nicht metasoziale (jedenfalls postmetaphysische) Normativität haben. Dann besteht sie aus metalinguistischen Urteilen, deren Inhalt eine Beschreibung der Kriterien der Bewertung von Handlungen und die Zuschreibung von Verantwortung zu den Handelnden ist, die im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Strafrechtszwecken oder mit einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung stehen.70 Wenn Hruschka Bewertungen macht, bewegt er sich nach meiner Auffassung in den Bereichen (b), und (c). So nimmt er gewiss die von der Vernunftrechtslehre der Aufklärung erarbeiteten Grundsätze und Regeln an.71 Doch er stellt die Werturteile als reinen – pragmatischen – Ausdruck eines bestehenden sprachlichen Geflechts aus Zuschreibungen von Rechten und Pflichten dar. In der Folge argumentiert er ausschließlich mit formalen Grundsätzen wie dem der Kohärenz oder der Generalisierung.72 3. Grundlagen der wertenden Strafrechtslehren Im Strafrecht ist besonders diejenige Lehre von Relevanz, die versucht, die bestehenden Bewertungen zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer Gesellschaft zu beschreiben und auf dieser Grundlage deduktiv ein funktionales Strafrechtssystem aufzubauen. Der Ausgangspunkt ist hier die Beschreibung einer immanenten Normativität73 oder, anders ausgedrückt, einer sozialen Praxis der Zuschreibung von Verantwortung – letztlich also einer institutionellen Tatsache –. Bei dieser Beschreibung gilt es selbstverständlich, die Beobachterperspektive einzunehmen, wenn auch – unvermeidlicherweise – die eines Beobachters, der vom (Straf-) Rechtssystem aus beobachtet und der darüber hinaus dem der Tradition dieses Systems eigenen Vorverständnis unterliegt. Diskutiert werden sollte, ob damit auf die Teilnehmerperspektive vollständig verzichtet werden kann. Jemandem, der behauptet, er vertritt eine normativ-funktionale Strafrechtsdogmatik, könnte nur 70  Robles Planas, ZIS 2010, S. 362: „eine bestimmte Vorstellung von der Legitimität des Strafrechts.“ 71  Hruschka, JZ 1992, S. 429. 72  Um nur ein Beispiel zu geben: Hruschka, Der Gegenstand der Debatte über die Abtreibung, in: Bottke / Lampert / Rauscher (Hrsg.), Schutz des menschlichen Lebens. Ethische, rechtliche und sozialpolitische Aspekte, 1997, S. 97 ff. 109: „Personen schreiben wir Würde zu …“; S. 110: „Ob wir aber dem Foetus oder Embryo Ko-Subjektivität zuzuschreiben haben oder nicht, darüber kann im Rahmen einer Debatte über die richtigen Verhaltensregeln nicht gesprochen werden.“ 73 „die wahre Benennung der normativen Verfassung der Gesellschaft“: So, Jakobs, Strafrecht als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel / Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 103, 105 f., 133. Zu diesem Aspekt äußerte sich kürzlich Stuckenberg, Neukantianismus, in: Kindhäuser / Kreβ / Pawlik / Stuckenberg (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft, 2019, S. 125 ff., 152 ff.

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folgende intrasystematische Kritik entgegengehalten werden: (i) die Ungenauigkeit in der Beschreibung (Auslegung!) des Gesellschaftsmodells und konkret ihrer Vorgehensweisen im Hinblick auf die Bewertung von Verhaltensweisen sowie die Zuschreibung von Verantwortung; (ii) die Unrichtigkeit seiner Inferenzen in Bezug auf die Bestimmung, welche rechtlichen Institutionen mit welchen Inhalten diesem Gesellschaftsmodell funktional sind oder nicht; und schließlich (iii) die Übersetzungsfehler des Vorstehenden in die Sprache der Straftatlehre oder die fehlerhafte Systematisierung dieser Lehre.74 Von den drei Punkten besitzt nur der zweite einen erklärtermaßen „wertenden“ Inhalt. Doch dieser Inhalt wird seinerseits durch das Merkmal der Funktionalität neu definiert, d.h. durch seine Fähigkeit, zur Aufrechterhaltung des Sozialsystems beizutragen.75 Ein anderer Ansatz ist derjenige, der von dem ausgeht, was er als grundlegende Bewertungen erachtet, die dem positiven Recht (Verfassungs- und Gesetzesrecht) innewohnen, welches in einem bestimmten Staat gilt.76 So stützt sich beispielsweise Roxin auf die Vorstellung des positiven Gesetzgebers über die kriminalpolitischen Strafrechtszwecke. Die normativen Urteile des Strafrechts entstehen danach aus einer teleologischen Perspektive, die sich an ihrem zu diesen Zwecken besten Beitrag orientiert. Auch wenn Einschränkungen existieren, welche sich aus der Realität (Stoff ) ergeben,77 befindet sich das Richtigkeitskriterium für diese Urteile in einem Mittel-Zweck-Verhältnis. Es ist jedoch möglich, normative Urteile des Strafrechts nicht auf der Grundlage irgendeiner teleologischen Ausrichtung zu erarbeiten, sondern vielmehr auf der Grundlage einer Gerechtigkeitsvorstellung. Es stellt sich die Frage, wie sich der Gerechtigkeitsbegriff, auf dessen Grundlage später die konkretesten wertenden oder zuschreibenden Urteile entstehen, rekonstruieren lässt.78

  Oder alle vorangegangenen. Oder zwei der drei …   Diese Postion scheint Kindhäuser, FS f. Yamanaka, angenommen zu haben, S. 444 – 445, 447, 463, der, nachdem er die Strafrechtswissenschaft als Verwalterin des Rechts oder Gerechtigkeitswissenschaft bezeichnet hat, das Legitimitätskriterium für das Strafrecht mit der normativen Struktur der Gesellschaft oder dem normativen Selbstverständnis der Zeit ermittelt; überdies bezeichnet er die Institution des Strafrechts als funktionales Element der sozialen Realität. 76  Roxin, Strafrecht AT, I, 4. Aufl., 2006, § 7 E, Rn. 72 ff. 78. Teilweise kritisch Silva Sánchez, Ein kIeiner Dialog mit Claus Roxin zum heutigen Strafrecht, GA 2011, S. 312 ff., 315 – 316. 77  Zum Ansatz von Roxin und mehr noch zum Ansatz von Schünemann, Silva Sánchez, Kriminalpolitik bei der Strafrechtsdogmatik: Einige Bemerkungen zu Inhalt und Grenzen, in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002, S. 1 ff., 15 ff. 78  Neumann, Hat die Strafrechtsdogmatik eine Zukunft? in: Prittwitz / Manoledakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, 2000, S. 119 ff., 122, 125. 74 75

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4. Bewertungen und Begründungen Was Werturteile anbelangt, so können zwei Feststellungen getroffen werden, auf die man sich möglicherweise einigen kann: (i) dass es einige wertende Evidenzen gibt,79 dass jedoch (ii) darüber hinaus ein großer Raum der Unbestimmtheit existiert.80 In diesem Raum jenseits der Evidenz gibt es sicherlich bereits bei den Prämissen einen Entscheidungsspielraum. Beispielsweise bei der Einnahme einer liberaleren oder kommunitaristischeren Perspektive, oder bei der Annahme einer deontologischen, oder, in unterschiedlicher Ausprägung, einer konsequentialistischen Perspektive.81 Auf dieser Grundlage besteht die Herausforderung gerade darin, die Räume der Relativität durch Begründetheit zu verkleinern.82 Wie bereits erwähnt: niemand argumentiert für sich allein. Diejenigen, die über die gleichen Probleme räsonnieren, bilden hermeneutische Gemeinschaften. Die hermeneutischen Gemeinschaften zeichnen sich durch ihre Beständigkeit und ihre gleichzeitige Dynamizität aus. Einerseits leben sie von der Tradition, andererseits verändern sie diese allmählich. Eine dieser Gemeinschaften ist seit vielen Jahrhunderten die Gemeinschaft der Strafrechtswissenschaftler. Daher ist die Hermeneutik im Strafrecht nicht subjektivistisch, sondern beruht auf einer eigenen rationalen Intersubjektivität. Angesichts der Forderung nach Begründetheit bleibt zu hoffen, dass das Vorhandensein unbegründeter Positionen zutage tritt und dass unter den begründeten Positionen die Macht des besseren Arguments obsiegt. Doch möglicherweise ist dies nicht der Fall. Demnach bedingt die Erlangung eines faktischen Konsenses nicht zwangsläufig, dass die geäußerten Werturteile eines Subjekts, welches diesen Konsens erzielt hat, die richtigen sind. Die richtige Position kann daher nur diejenige sein, die das beste Argument auf ihrer Seite hat oder in der Summe die besten Argumente für sich verbuchen kann, also die plausibelste Position darstellt. Dies zu behaupten heißt einerseits, eine objektivistische, kognitivistische Position einzunehmen. Und – andererseits – sich der Historizität und Fehlbarkeit jeder praktischen Argumentation bewusst zu sein. Entscheidend ist dabei die Betrachtung der Gründe als objektive Plausibilitätskriterien für normative Urteile jenseits des faktischen Konsenses. Die Frage ist sicherlich, warum man sich beim Argumentieren an Gründe, die man nicht selbst geschaffen hat, gebunden fühlt. Die reizvolle Annahme, derzufolge Gründe eine normative Dimension der Welt im Verhältnis zu unseren Handlungsmöglichkeiten widerspiegeln, verdient eine größere Aufmerk  Silva Sánchez (Fn. 77), S. 18 ff.   Dies darf keinesfalls zu einer Bekräftigung der Unmöglichkeit der Kenntnis des konkreten Rechts führen: im Sinne des Textes Armin Kaufmann (Fn. 10), S. 12 ff., der dem axiologischen Relativismus kritisch gegenüber steht. 81 Vgl. Neumann, Moralphilosophie und Strafrechtsdogmatik, ARSP Beiheft 44, 1991, S. 248 ff.; derselbe, Die Moral des Rechts. Deontologische und konsequentialistische Argumentationen in Recht und Moral, JRE 1994, S. 81 ff. 82  Puppe (Fn. 68), S. 25 ff. 79 80

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samkeit, als es hier möglich ist.83 Es scheint jedoch in jedem Fall offenkundig, dass Werturteile nicht nur der „Resistenz von Dritten“, sondern auch – und mehr noch – einer „Resistenz der Gründe“ unterliegen. Diese Resistenz der Gründe wird sogar als Selbstbeschränkung erlebt: konkret ausgedrückt, wenn die Unmöglichkeit festgestellt wird, die eigene „persönliche“ Meinung als „akademisches“ Werturteil zu stützen. Die Existenz der strafrechtsdogmatischen Gemeinschaft gewährleistet vor allem, dass diese Resistenz der Gründe in erster Linie offener und transparenter ist. Werturteile sind – ebenso wie die logisch-analytischen Urteile – Bestandteil des hermeneutischen Horizonts (des Vorverständnisses) der Gemeinschaft, die sich mit den Texten der Strafgesetze befasst. Die Folge ist natürlich, dass die Strafrechtsdogmatik bei Kenntnis des Rechts dieses ständig konstruiert und wieder dekonstruiert.84 Diese Aussage klingt paradox und ist vielfach kritisiert worden. Der Verlust der Neutralität, die von jeder Wissenschaft eingefordert werden kann, die Unklarheit zwischen dem Recht wie es ist und dem Recht wie es sein soll, zwischen Rechtswissenschaft und Moralphilosophie, sind nur einige dieser Kritiken. Dennoch gehen alle Kritiken von einer reduktionistischen Ontologie des Rechts aus – les paroles de la loi –, die nicht in der Lage ist, darüber Auskunft zu geben, was es eigentlich ist und wie es funktioniert. Für denjenigen, der das Recht als soziale Praxis begreift, ist die Tatsache, dass die Suche danach und ihre Entstehung Hand in Hand gehen, etwas, das Evidenz aufweist. IV. Schlussfolgerungen (1) Hruschka hatte hinsichtlich des Wertes der Begriffsanalyse der Strafrechtsdogmatik Recht. Seine Herausforderung, die axiomatisch-deduktiven Urteile maximal zu erweitern, bleibt bestehen. Es steht jedoch außer Zweifel, dass es nicht möglich ist, alle Wertungsfragen des Strafrechts auf analytisch-logische Probleme zu reduzieren. (2) Hruschka hatte hinsichtlich des Problems der Verbreitung ethisch-normativer und rechtlich-politischer Urteile Recht, die in der Tat mit Willkür und / oder Ideologisierung behaftet sind. Doch ist gerade seine eigene Position, die eine nicht formale Rationalität nur widerwillig akzeptiert, davon nicht zu trennen. Wenn allerdings jedes Werturteil einfach nur die Meinung oder Entscheidung desjenigen ist, der sie äußert, dann sind all diese Werturteile prima facie ebenso (un)gerechtfertigt. Der Trend, die ethisch-normativen Fragen – darunter die Diskussion über das richtige Recht – aus dem Bereich des Vernünftigen herauszulösen und diese dem Volitiv-Emotionalen zuzuführen, ist vielmehr eines der Unterscheidungsmerkmale des aktuellen wertenden „Demokratismus“. Gleichwohl verkennt der Kampf 83  Wichtig ist dazu meiner Ansicht nach Larmore, Der Zwang des besseren Arguments, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, 2001, S. 106 ff. 84  Pawlik (Fn. 54), S. 61 f.

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des Demokratismus gegen eine vermeintliche „Expertokratie“85 der Professoren die Mahnung von Arthur Kaufmann.86 Diesem zufolge wird der Diskurs der akademischen Gemeinschaft von der Vernunft bestimmt, obwohl er auch von anderen Motiven bestimmt sein kann. In anderen sozialen Diskursen dagegen sind von der wertenden Vernunft unabhängige Gründe – Ideologie, Interessen, Suche nach gesellschaftlichen Mehrheiten usw. – inhärent und stehen dieser üblicherweise vor. Hinzu kommt der große Unterschied bezüglich der in der jeweiligen Diskursgemeinde vorhandenen technischen Instrumente. Die Kritik am vermeintlichen wertenden Dezisionismus der Strafrechtslehrer führt dann dazu, dass die wertenden Fragen des Strafrechts dem sozialen Dezisionismus überlassen werden, der sich durch eine Mischung aus wechselnder und manipulierbarer Intuition und Emotion auszeichnet.87 So kann man vorgeben, dass sich die Entscheidung des Volkswillens nicht nur durchsetzt, sondern eo ipso auch richtig ist. Im Hinblick auf die Aufgabe der Dogmatik bevorzugt m. E. der wissenschaftliche Reduktionismus von Hruschka daher genau das, was er vermeiden wollte: den Dezisionismus bei wertenden Fragestellungen und die Ausgrenzung der praktischen Vernunft auf diesem Gebiet.88 (3) Hruschka hatte auch hinsichtlich der Notwendigkeit, den Gesetzestext zu respektieren, offenbar Recht.89 Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die Rekonstruktion seiner Teleologie in Abrede gestellt wird. Erstens, weil die gesetzgeberische Handlung wie jede Handlung einen Zweck hat, der sich in der Bezugnahme auf einen Wert äußert.90 Zweitens, weil die Bedeutungszuschreibung zu dieser Handlung sich nicht mit dem subjektiven Anspruch des Handelnden – in diesem Fall der historische Gesetzgeber – identifizieren muss. Diese Bedeutungszuschreibung hat vielmehr mit ihrer Kontextbedeutung zu tun, die von der Gemeinschaft der Auslegenden festgelegt wird. Damit ist natürlich nicht Willkür gemeint. Zwar muss man sich einerseits die Beiträge einer referentiellen Semantik vor Augen führen, die eine statische Bedeutung des Textes beisteuert. Doch erst durch die Betrachtung der inferenziellen Semantik und des teleologischen Verständnishorizontes andererseits kann die diskursive Bedeutung erschlossen werden. Tatsächlich ist die systematisch-teleologische Auslegung nicht einfach nur eine weitere Auslegungsart. Sie ist die für jede – nicht nur gesetzliche – Auslegung unumgängliche Methode.91   Dass er nicht existiert, weil es diesen Zustand – „κρατία“ – nicht gibt.   Arth. Kaufmann, Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden, 1986, S. 122 ff. 87  Silva Sánchez, Zur Beziehung zwischen Strafgesetzgebung und Strafgerechtigkeit, in. Zabel (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 2018, S. 79 ff., 80 – 81, 88 ff. 88  Vgl. jedoch im gleichen Sinne wie Hruschka, Kindhäuser, FS f. Yamanaka, S. 465. 89  In diesem Zusammenhang ist viel von einem Bereich der heutigen Lehre die Rede: beispielsweise Lagodny, Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsdidaktik auf der Suche nach dem Wortlaut des Gesetzes, FS f. K. Amelung, 2009, S. 51 ff. 90 Vgl. Zambrano (Fn. 62), S. 62; dem gegenüber die Negierung der Existenz von Werten nach den Gesetzen in Bouvier, Reglas y razones subyacentes, Doxa 27 (2004), S. 393 ff., 403, 407 f. 91  Zambrano (Fn. 62), S. 59 ff., 73. Bereits Silva Sánchez, FS f. Jakobs, S. 660 f. 85 86

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Summary This paper distinguishes three areas of intellectual activity of the criminal law doctrine, following a proposal made by Joachim Hruschka. There are consequently three kinds of sentences in the doctrine of criminal law: the analytic ones, those related to issues of normative ethics and legal policy, and those of legal interpretation. Formalism and legalism inherent in Hruschka‘s dogmatic model, as well as his skepticism regarding the rationality of value statements, are criticized. The need for normative statements in the doctrine of criminal law – those of attribution of meaning, evaluation, and imputation – is shown.

Kategorische Sanktionsnormen, kategorische Verhaltensregeln Jan C. Schuhr

I. Vorbemerkung und Fragestellung Bei Joachim Hruschka war ich in den Strafrechtsvorlesungen, im rechtsphilosophischen Seminar, Mitarbeiter und habe bei ihm promoviert. Wir haben viel miteinander gesprochen. Ich habe viel von ihm gelernt und etliche Ratschläge von ihm erhalten, die oft sehr nützlich waren. Einen Ratschlag, den er mir immer wieder gegeben hat, habe ich allerdings bis heute nicht befolgt. Er sagte immer wieder zu mir: „Schreiben Sie doch einmal etwas über Kant.“ Gemeint war damit nicht, in Arbeiten zu anderen Themen auch Überlegungen von Kant zu berücksichtigen; das habe ich immer wieder getan. Gemeint war, einmal eine Bemerkung oder einen gedanklichen Zusammenhang von Kant in den Mittelpunkt eines Aufsatzes zu stellen. Das hat sich bei mir bislang nicht ergeben, und ich wollte es nie forcieren. Ich arbeite normalerweise nicht so, dass es mir primär um die Interpretation eines Textes oder eines Gedankengangs eines bestimmten Autors geht (abgesehen vom „Gesetzgeber“, wenn man ihn als solchen ansehen will). Mir geht es eigentlich immer primär um einen thematischen Zusammenhang, und dort oft – was auch zu tun hat mit Joachim Hruschka, aber einem anderen Aspekt seiner Arbeit – um letztlich logische Strukturen. Diese Gedächtnisschrift ist allerdings Anlass, doch einmal einige Gedanken zu Papier zu bringen, die dem näher kommen, was Joachim Hruschka mir immer wieder geraten hat. Auch hier ist ehrlicherweise einzuräumen, dass mein Interesse wieder nicht einer Passage bei Kant nur um ihrer (oder seiner) selbst willen gilt, sondern einen anderen Hintergrund hat. Primär interessieren mich strafbewehrte Verhaltensregeln, ihre Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, denen sie zu folgen haben. Welchen Hintergrund dieses Interesse seinerseits hat, kann hier nicht vertieft werden, ohne den Rahmen zu sprengen. Im Hinblick auf mein Interesse an Verhaltensregeln aber stellt sich mir die Frage, wie Kants Feststellung zu verstehen ist: „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ […].“1 Und ihr möchte ich im Folgenden nachgehen.

1  Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, Akademie-Ausgabe Bd. VI (zit. MdS) S. 331 Z. 31 – 32 (Rechtslehre, Allgemeine Anmerkung E.).

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II. Stellung in der „Allgemeinen Anmerkung“ 1. Diese Feststellung steht bei Kant in der Metaphysik der Sitten unter der Überschrift „E. Vom Straf- und Begnadigungsrecht“2 als Teil der „Allgemeine[n] Anmerkung [—] von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins.“3 Als „bürgerliche[n] Verein (unio civilis)“4 bezeichnet Kant die Menschen im Staat unter dem Aspekt, dass es unter ihnen die Rollen eines Befehlshabers und von Untertanen gibt, weshalb er dieser Unterordnung wegen nicht von einer (staatlich verfassten) „Gesellschaft“ sprechen möchte.5 Dass die Menschen einen solchen Verein bilden, ist ein zentraler Aspekt dessen, als Staat verfasst zu sein. Man kann auch sagen, „bürgerlicher Verein“ sei eine Bezeichnung für den Staat, die diesen Aspekt der zu ihm gehörenden Unterordnungsverhältnisse hervorhebt,6 denn der Staat ist für Kant gerade „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“.7 Dabei treten die einzelnen Personen sowohl als Teil des Souveräns, d. h. des Gesetzgebers, der Herrschergewalt,8 die dem vereinigten Willen des Volkes zukommen muss9, als auch als Untertan auf 10 – ganz anders als im Hobbesschen Modell, also keineswegs als im Staat schlechthin Beherrschte. Die Rolle des Befehlshabers ist nach Kant indes von der des Beherrschers notwendig unterschieden. Befehlshaber ist der Regent, der die „ausübende Gewalt (potestas executoria)“11 inne hat,12 „Beherrscher des Volkes“ hingegen der Gesetzgeber, der nicht zugleich Regent sein kann.13 Diese Verhältnisse erläutert Kant im ersten Teil (§§ 43 – 49) seiner Ausführungen zum Staatsrecht, und an sie schließt seine „Allgemeine Anmerkung“ sich an. Dabei hat er die Vorstellung, nicht etwa verfassungspositivistische Ausführungen zu machen, sondern rechtlich notwendige Verhältnisse jedes Staates und jeder Rechtsordnung darzustellen, was schon die Titel Metaphysik der Sitten und Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre ausdrücken.14 Der „bürgerliche Verein“ und das zu ihm gehörende Unterordnungsverhältnis sind also eine Idee, die nach Kant immer verwirklicht sein soll – und wenn sie es nicht ist, dann verwirklicht werden soll. Es soll ein „rechtlicher Zustand“ herbeige  Ebd. Zeile 1 – 2.   MdS S. 318 Z. 15 – 17. 4  MdS S. 306 Z. 36 (Rechtslehre § 41). 5  Ebd. bis S. 307 Z. 6, vgl. auch MdS S. 323 Z. 32 (Rechtslehre, Allgemeine Anmerkung B.). 6 Vgl. Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, 2015, S. 133 Fn. 15. 7  MdS S. 313 Z. 10 f. (Rechtslehre § 45). 8  Ebd. Z. 17 f. 9  Ebd. Z. 29 f. (Rechtslehre § 46). 10  MdS S. 315 Z. 24 ff. (Rechtslehre § 47) und insg. S. 313 – 318 (Rechtslehre §§ 46 – 49). 11  MdS S. 316 Z. 25 f. (Rechtslehre § 49). 12  Ebd. Z.  24 – 34. 13  MdS S. 317 Z. 9 f. 14  Dazu auch Zaczyk, FS Eser 2005, S. 207, 211 ff. Speziell zur hier interpretierten Feststellung Forschner, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, 1982, S. 376, 383 f. 2 3

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führt werden und erhalten bleiben, in dem „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“15. Jede Person ist verpflichtet, mit allen anderen, deren Freiheitssphären die eigene berührt, in einen solchen Zustand zu treten, und d. h. einen Staat zu gründen und zu erhalten.16 Durch die darin liegende Unterordnung, insbesondere die Anerkennung einer Instanz, die im Streit um Rechtspositionen entscheidet, leisten die Bürger einander Sicherheit dafür, die Rechtspositionen der jeweils anderen Bürger nicht zu verletzen; schon darin, diese Sicherheit nicht zu leisten, läge eine Verletzung des Anderen, weshalb dieser die gemeinsame Staatsgründung sogar erzwingen dürfte.17 Kant entwirft eine relativ weitreichende Vorstellung davon, wie Staaten zu sein und wie Menschen Staaten zu gründen und einzurichten haben. Nun verhalten sich Menschen nicht immer genau so, wie sie sollen, und nicht alle Staaten sind genau so, wie Kant die Idee als praktisch notwendig, nämlich verpflichtend, entwickelt. Dadurch entstehen Fragen danach, wie die Menschen sich in defizitären Zuständen zu verhalten haben, nämlich dann, wenn es zwar einen Staat gibt, dieser aber den Ansprüchen Kants an einen rechtlichen Zustand nicht genügt, nämlich nicht schlicht jedem das rechtlich Seine sichert. 2. Diesen Fragen ist die „Allgemeine Anmerkung“ gewidmet. Es geht also zunächst um Vorrangverhältnisse zwischen einzelnen Aspekten der Pflicht, einen rechtlichen Zustand herbeizuführen. Sie konkretisieren diese Pflicht, und zwar, indem sie einzelne Aspekte der praktisch notwendigen Idee des rechtlichen Zustands konkretisieren. Dabei geht es gerade um die Unterordnung, die Kant auch in problematischen staatlichen Zuständen für erforderlich hält. Ohne sie würde letztlich jeder Einzelne darüber zu entscheiden haben, ob der Staat den praktisch notwendigen Ansprüchen genügt, und hätte ggf. dem als defizitär erkannten Staat die Gefolgschaft zu verweigern und die Gründung eines anderen, „richtigen“ Staates zu verfolgen. Dann aber würde sich durch keine Staatsgründung die angestrebte Sicherheit erreichen lassen. Nach Kant ist es daher schon nicht Sache der Mitglieder des Volkes, über den „Ursprung der obersten Gewalt … werkthätig [zu] vernünfteln“, vielmehr sei dieser Ursprung für das Volk „in praktischer Absicht unerforschlich“.18 Damit befasst sich Teil A der Allgemeinen Anmerkung. Danach geht es näher um Aspekte der Stellung des Beherrschers (B.) und des Befehlshabers (ab C.). Namentlich werden eine Stellung als Obereigentümer des Bodens (B.), die Befugnis, Abgaben zu erheben (C.), sowie seine Befugnis, Ämter und Würden zu verteilen (D.), behandelt.19 Der gemeinsame Gesichtspunkt dieser Themen besteht weiterhin darin, dass sie unter dem Aspekt des rechtlichen 15  MdS S. 305 Z. 35 – S. 307 Z. 1 (Rechtslehre § 41). Dazu auch Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, 2015, S. 14 ff., 93. 16  MdS S. 305 – 308, insb. S. 307 Z. 9 – 11 (Rechtslehre § 42). 17  MdS S. 307 f. (Rechtslehre § 42). 18  MdS S. 318 Z. 19 f., 22 f. (Allgemeine Anmerkung A.). 19  MdS S.  323 – 330.

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Zustands, nämlich dem Aspekt, dass gerade jedem das rechtlich Seine gesichert werden soll, problematisch sind: Hat der Eigentümer von Boden, der man nach Kant auch bereits ohne Staat zumindest provisorisch sein kann,20 im Staat einen Obereigentümer zu akzeptieren, oder verletzt dies das zu schützende Recht? Hat man Abgaben zu leisten, auch wenn diese als solche das eigene, vom Staat gerade zu schützende Vermögen schmälern? Hat man es zu akzeptieren, dass gerade eine bestimmte, möglicherweise missliebige Person zum Beamten, Richter etc. und zuständig für den eigenen Fall und damit zur Entscheidung über die eigenen Rechte gemacht wurde, und dass jemand Würden erhält, die man selbst nicht erhält? In den Zusammenhang dieser Fragen stellt Kant seine Bemerkungen zum Strafrecht. Man muss also zunächst einmal konstatieren, dass sein eigentliches Interesse gar nicht dem Strafrecht, Strafen oder sanktionierten Verhaltensregeln gilt. Sein Interesse gilt der Frage, was genau der Inhalt der Pflicht ist, einen Staat zu gründen, und was in einem Staat von den Bürgern zu akzeptieren ist, damit jedem möglichst das rechtlich Seine gesichert wird, auch wenn sich dies nicht unmittelbar in Reinform erreichen lässt. Es geht also darum, die unbedingte Pflicht, d. h. den kategorischen Imperativ, in einen rechtlichen Zustand zu treten, näher auszubuchstabieren. 3. Die Überlegungen zum Strafrecht beginnt Kant schon unter „D.“. Neben die „wohlthätige“ Befugnis, Stellungen als Amts- oder Würdenträger zu verteilen, tritt auch die Befugnis zur belastenden Entscheidung, jemanden in die Stellung eines Verurteilten zu versetzen. Das Bild, das Kant dabei von den Wirkungen einer Straftat zeichnet, ist einigermaßen düster. Durch das Verbrechen bringt man sich um Würde und macht sich – je nach Tat, was aber nur vorausgesetzt und nicht näher ausgeführt wird – „zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines Anderen“21. Dieser darf dann zwar außer in den Fällen der Todesstrafe nicht über das Leben des Verbrechers verfügen, ferner nicht über seine Gliedmaßen und ihn nicht zu schandbaren Zwecken einsetzen, im Übrigen aber grundsätzlich „über seine Kräfte“ verfügen 22 (was den damaligen Strafen mit teils schwerer Arbeitsleistung zumindest grundsätzlich entsprach und die Fortschritte des Zurückdrängens der Leibesstrafen aufgreift23). Diese eher schemenhafte Skizze gibt aber nur den Hintergrund für die Hauptaussagen des Textes: Im Grundsatz kann kein Mensch im Staate ohne Würde sein, und auch der Befehlshaber kann sie ihm nicht aberkennen; die eigene Würde kann jeder nur selbst schmälern, und dies nur, indem er andere Personen oder den Staat als solchen in strafbarer Weise verletzt.24 Im Grundsatz kann sich auch kein Mensch zum bloßen Werkzeug der Willkür eines Anderen machen, sondern bleibt immer Person, und kein Vertrag – was an diversen Extremkonstellation verschie  Vgl. MdS S. 262 (Rechtslehre § 13) und S. 264 – 266 (§ 15).   MdS S. 330 Z. 2. 22  Ebd. Z.  1 – 10. 23  Eingehend dazu Foucault, Surveiller et punir (Überwachen und Strafen), 1975. 24  MdS S. 329 Z. 36 f. – S. 330 Z. 1. 20 21

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dener Vertragstypen näher behandelt wird – kann wirksam einen anderen Inhalt haben; nur durch ein Verbrechen macht man sich zum Werkzeuge der Willkür eines Anderen.25 Wie und weshalb man durch ein eigenes Verbrechen selbst die angeführten Folgen herbeiführt, erläutert Kant nicht. Insbesondere folgt dies nicht aus seiner Definition des Verbrechens als vorsätzlicher Übertretung26 (d. h. pflichtwidriger Tat). Hinweise auf seine Vorstellungen dazu gibt Kant später in einer Reaktion auf eine Rezension seiner Rechtslehre, die ihr daraufhin als Anhang beigegeben wurde. Aus ihr ergibt sich, Strafarten müssten mindestens „als Mittel dazu taugen, das Verbrechen (als Verletzung der Staatssicherheit im Besitz des Seinen eines jeden) zu entfernen“27. Auch wie man sich das vorzustellen hat, führt Kant nicht selbst aus. Es lässt sich aber vermuten, dass er eine Vorstellung von Reziprozität etwa in der folgenden Weise hatte: Im Verbrechen wird der Andere als bloßes Werkzeug gebraucht, und dadurch macht der Verbrecher sich selbst (als rechtliche Folge seiner Tat) im selben Maße eben diesem Verletzten zum Werkzeug. Eine solche Vorstellung ließe sich vor dem Hintergrund des Kategorischen Imperativs folgendermaßen konstruieren:28 Ausgehend vom Prinzip, dass die „vernünftige Natur“ (d. h. Menschen) als Zweck an sich selbst existiert,29 hatte Kant den Kategorischen Imperativ schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – neben anderen Formeln – in die Form gebracht: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“30 Wer sich eines Anderen als bloßes Werkzeug bedient, verletzt diesen Imperativ, nämlich die Selbstzweckhaftigkeit des Anderen als Folge der Selbstzweckhaftigkeit der Menschheit in seiner Person. Über Konsequenzen dieser Verletzung sagt der Kategorische Imperativ erst einmal nichts. Er sagt auch keineswegs, dass man andere Menschen nicht auch als Mittel gebrauchen und sich selbst ihnen als deren Mittel zur Verfügung stellen dürfte. Zulässig ist das aber eben nur, soweit es dabei zumindest auch um den Anderen und einen selbst als Selbstzweck geht. Zulässig ist es also insbesondere, sich gegenseitig in einem Austauschvertrag zu Mitteln zu machen und dabei durch die gegenseitige Verschaffung von Vorteilen die beiderseitige Selbstzweckhaftigkeit anzuerkennen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die Hoheit der jeweils anderen Person anzuerkennen, selbst zu bestimmen, was sie für sich als vorteilhaft ansieht. Wenn sich nun – was Kant   MdS S. 330 Z. 2 ff.   MdS S. 224 Z. 5 – 7 und zur Übertretung zuvor Z. 2 – 3 (Einleitung in die MdS IV.). 27  MdS S. 362 Z. 34 f. Dazu auch Zaczyk FS Eser 2005, S. 207, 218. 28  Vgl. dazu auch Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. 72. 29  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Akademie-Ausgabe Bd. IV (zit. GMdS) S. 429 Z. 2 f. 30  Ebd.  Z.  9 – 12. 25 26

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vorauszusetzen scheint, aber nicht näher ausführt – bestimmen lässt, in welchem Maße die durch eine Straftat verletzte Person als bloßes Werkzeug missbraucht wurde, und im Austausch der Täter zu ihrem Werkzeug wird, wobei sie selbst bestimmen darf, worin ihr Vorteil liegt, diesen aber nur in dem Umfang verfolgen darf, in dem der Täter mit der Tat seinen eigenen Vorteil verfolgt hat, so beseitigt dies den ursprünglichen Gebrauch des Verletzten durch den Täter als bloßes Werkzeug und führt ihn in ein Austauschverhältnis über, in dem insgesamt keine Verletzung des Kategorischen Imperativs mehr besteht. Wie plausibel die Annahme ist, dass sich der Missbrauch einer Person als bloßes Werkzeug und eine spätere Reaktion des Verletzten so bemessen lassen, dass sie einander ausgleichen, und dass eine solche Reaktion einem Austauschverhältnis unter einander achtenden Personen entspräche, sei hier nicht weiter vertieft. III. Stellung in den Ausführungen zum Straf- und Begnadigungsrecht: Legalitätsprinzip Vor der Feststellung, dass das Strafgesetz31 ein Kategorischer Imperativ sei, führt Kant das Strafrecht als ein Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen ein,32 unterscheidet Verbrechen von anderen Übertretungen33 sowie öffentliche Verbrechen von Privatverbrechen34 und klassifiziert beide noch etwas näher.35 Zudem stellt er klar, nur von richterlicher Strafe zu sprechen, im Gegensatz zur „natürlichen (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft“.36 Der unmittelbare Kontext der Feststellung ist der der Darlegung notwendiger und hinreichender Bedingungen für Strafe. Vor dem Satz gibt Kant notwendige Bedingungen an: Der Verurteilte muss „verbrochen“ haben, und nur dieses Verbrechen darf der Grund für die Strafe sein.37 Zudem muss er (von einem Gericht) vor der Bestrafung für strafbar befunden worden sein.38 Beides leitet Kant daraus ab, dass sonst, wenn auch unter anderen Bedingungen eines Nutzens wegen gestraft würde, der Bestrafte „bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“39 würde (und zwar über die eben dargestellte Reziprozität hinaus).

31  Zu Verwechslungen von Strafgesetz und Strafe Byrd / Hruschka, JZ 2007, 957, 961 und Hruschka ZStW 124 (2012), 232, 234. 32  MdS S. 331 Z. 4 f. (Allgemeine Anmerkung E.). 33  Ebd. Z.  7 – 10. 34  Ebd. Z.  10 – 11. 35  Ebd. Z.  12 – 19. 36  Ebd. Z. 20 f. 37  Ebd. Z.  24 – 25. 38  Ebd. Z. 29. Zu beiden Bedingungen auch Byrd / Hruschka, JZ 2007, 957, 960 ff. 39  Ebd. Z. 26 f.

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Nach der Feststellung erfolgen längere Ausführungen dazu, dass Nutzenerwägungen bzw. der Blick auf Konsequenzen auch nicht geeignet seien, von Strafe zu entbinden oder sie zu mildern.40 Hier fallen die pathetischen Ausdrücke von den „Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre“ und „dem pharisäischen Wahlspruch“. 41 Sich strafbar zu machen, ist nach Kant also auch hinreichende Bedingung für eine Bestrafung. Seine Ausführungen gehen danach in eine mehrseitige Passage über Art und Grad der Bestrafung42 über, in der er aber auch den Gedanken der gerade dargestellten notwendigen und hinreichenden Bedingung immer wieder aufgreift. Diese Kombination aus notwendiger und hinreichender Bedingung ist nichts anderes als ein strenges Gesetzlichkeitsprinzip. Zum einen enthält es den das Strafrecht beschränkenden Aspekt „nulla poena sine crimine“, wie Feuerbach es nur wenig später als eine von drei zusammenhängenden Formeln formuliert,43 die die Strafrechtsentwicklung wesentlich geprägt haben.44 Zum anderen enthält es ein strenges Legalitätsprinzip, also einen Verfolgungszwang. Beides ist heute grundsätzlich Gesetzeslage (Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB sowie §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO), der Verfolgungszwang durch das Opportunitätsprinzip aber durchaus erheblich eingeschränkt (§§ 153 ff. StPO).45 Kants Ausführungen stellen sich insbesondere gegen die Vorstellung, die wir heute so formulieren würden, dass auch der strafrechtliche Schuldspruch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterliege. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mag an vielerlei Stellen einschlägig sein: Bei der Aufstellung von Verhaltensregeln, bei der Verabschiedung einer gesetzlichen Strafdrohung, bei Beginn und Durchführung von Strafverfahren, bei der Auslegung einzelner Regeln des Strafrechts im Kontext verfassungsrechtlicher Vorgaben und bei der Vollstreckung von Strafe. Die Verhängung von Strafe als solche folgt hingegen dem Schuldprinzip, und soweit das Legalitätsprinzip reicht, ist für Verhältnismäßigkeitsfragen ebenso wenig Raum, wie wenn ein Zivilgericht über das Bestehen eines Anspruchs aus § 985 BGB zu urteilen hat. Begnadigung, Straferlass und Milderung erteilt Kant ausdrücklich eine weitgehende Absage.46

  Ebd. Z. 32 bis S. 332 Z. 10.   Ebd. (S. 331) Z. 32 f. und 35. 42  Vgl. hierzu insbesondere unter dem Aspekt der Vergeltungstheorie z. B. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 1990, S. 215 ff. Ergänzend dazu die Einordnung des Abschreckungsgedankens bei Byrd, LaP 8 (1989), 151 ff. 43  Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 2. Aufl. 1803 (und später) § 20 (S. 20 f.), in der 1. Aufl. 1801 § 24 (S. 20). Ähnlich bereits Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil 1, 1799, S. 148. Näher dazu Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, 2015, S. 90 ff.; Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 49 ff., zu Gründen und Hintergründen auch S. 253 ff. 44  Dies freilich nicht ohne prompten Widerspruch, vgl. etwa Grolman, Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung, 1799, S. 216 ff. 45  Byrd / Hruschka, JZ 2007, 957, 961. 46  MdS S. 337 Z. 9 – 10. 40 41

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IV. Kategorizität der Verhaltensregeln Die Bedeutung des Satzes in seinem Kontext ist also ziemlich eindeutig, nämlich diejenige, das Gesetzlichkeitsprinzip auszudrücken und auf ihm zu insistieren. Es sei betont, dass es für ihn alles andere als einfach war, dieses Prinzip auszudrücken, denn es gab zu seiner Zeit die darauf bezogene Theorie noch nicht. Sogar wir verwenden heute eine eigentümliche Terminologie, die nüchtern betrachtet wörtlich nicht mehr sagt, als dass das Strafgesetz ein Gesetz ist. Das Gesetzlichkeitsprinzip sagt, dass das Gesetz als Gesetz zu behandeln ist, das Legalitätsprinzip, dass die lex als lex zu behandeln ist, was dasselbe ist. Erst indem diese Ausdrücke mit einer komplexen und ausdifferenzierten Bedeutung versehen wurden, wurde es sinnvoll, sie überhaupt zu verwenden. Kants Ausdruck sagt zwar nichts anderes, enthält aber Wörter, die schon für sich genommen die Bedeutung eigentlich besser treffen: Es geht um einen unbedingt zu befolgenden Gesetzesbefehl. Bezogen ist die Feststellung Kants auf die Situation der Strafrechtsanwendung vor Gericht (sowie darauf, dass nur der Richter Strafe verhängen darf). Sie ist damit auf die Sanktionsnorm bezogen, nämlich die Umsetzung der zuvor im Gesetz ausgesprochenen Drohung.47 Von den Verhaltensregeln, auf die die Sanktionsnormen sich beziehen und die zurechenbar verletzt worden sein müssen, damit überhaupt ein Verbrechen besteht, spricht Kant im angegebenen Kontext nicht (bzw. nur indem er von verschiedenen Verbrechen und deren Sanktionen spricht, aber eben nicht über die Regeln und ihre Verletzung als solche). Das Strafgesetz muss aber auch die Verhaltensregeln umfassen oder wenigstens voraussetzen, denn die Sanktionsnorm setzt gerade eine Pflichtverletzung voraus. Wenn das Strafgesetz wirklich kategorisch ist, muss das daher mehr bedeuten als ein Legalitätsprinzip zum Zeitpunkt der Strafverfolgung. Kant behandelt – worauf oben bereits hingewiesen wurde – den „richtig“ eingerichteten Staat und geht daher sicherlich davon aus, dass das Strafgesetz nur solche Verhaltensweisen unter Strafe stellt, die ihrerseits seinen Kategorischen Imperativ verletzen.48 Die von den Sanktionsnormen in Bezug genommenen Verhaltensregeln sind dann konkretere Ausformungen des Kategorischen Imperativs. Im gleichen Sinne wie er gelten sie kategorisch. Bei ihnen ist aber viel weniger offenkundig, was das bedeutet: Der Kategorische Imperativ hat zwar verschiedene Formulierungen erhalten, wird von Kant aber doch immer nur als ein und derselbe vorgestellt.49 Eine einzelne Regel kann ausnahmslos gelten, unter keinen weiteren Bedingungen stehen und von keinem weiteren Zweck abhängig sein, also kategorisch gelten.50 Weil   Vgl. auch Küper, FS Jung 2007, S. 485, 496 f.   Weiterführend etwa Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 193 ff. 49  Vgl. GMdS S. 421 Z. 6 – 8. 47 48

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dies die Voraussetzungen sind, verwendet Kant als Test dafür, ob eine Maxime dem Kategorischen Imperativ entsprechen kann, auch die Prüffrage, ob man, indem man sich die Maxime setzte, zugleich wollen könnte, dass sie ein allgemeines Naturgesetz würde, in ihrem Anwendungsbereich also die Entschlussfreiheit der Menschen durch einen unwiderstehlichen Zwang, genau dieser Maxime zu folgen, ersetzt werde.51 Ein solches Bild passt indes recht wenig für einzelne Regeln, die nicht nur unter den Bedingungen ihres Anwendungsbereichs stehen (was kein Problem wäre, so ist das bei jeder Regel), sondern auch Ausnahmen kennen (Rechtfertigungsgründe) und zumindest in der Rechtswirklichkeit (was Kant sich anders vorgestellt haben mag) vielfach doch so formuliert sind, dass ihr Inhalt sich nur im Hinblick auf mit der Vorschrift verfolgte Zwecke überhaupt in hinreichend bestimmter Weise verstehen lässt. Mehr noch: Das Strafgesetz knüpft an Absichten und „Zwecke“ an, etwa eine Zueignungsabsicht oder Bereicherungsabsicht. Das gilt auch für Vorschriften, die Kant ausdrücklich anführt. So spricht er z. B. vom Diebstahl,52 und der setzte auch schon im ihm bekannten ALR eine besondere Absicht voraus.53 In welchem Sinne aber ist dann die strafbewehrte Verhaltensregel kategorisch? Sie muss es letztlich im gleichen Sinne sein, wie die Sanktionsnorm. Bezogen auf den Adressaten, der sie anzuwenden und sein Verhalten an ihr auszurichten hat, dürfen ihre Geltung und ihr Inhalt nicht von Zwecksetzungen, unter anderem nicht von Nutzenerwägungen abhängen. Bei den Sanktionsnormen ist dieser Adressat der Richter, und die Unabhängigkeit von Zwecksetzungen54 wird im Gesetzlichkeitsprinzip ausgedrückt. Bei den Verhaltensregeln ist der Adressat jedermann, der Bürger, aber nicht in seiner Eigenschaft als Teil des Souveräns und damit Mit-Gesetzgeber, sondern in seiner Eigenschaft als den Gesetzen und den Befehlen der Regierung Unterworfener, in Kants Begrifflichkeit also als der „Unterwürfige“. Die strafbewehrten Verhaltensregeln dürfen in Geltung und Inhalt ebenso wenig von seinen Zwecksetzungen abhängen, wie das Strafurteil von den Zwecken des Richters. Auch das ist nichts anderes, als das Gesetzlichkeitsprinzip, hier aber nicht das strafprozessuale Legalitätsprinzip, sondern ein allgemeines. Einen Aspekt dieses Zusammenhangs behandelt Kant ausdrücklich, und zwar im Zusammenhang mit dem, was wir heute entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) 50  Zum Begriff vgl. GMdS S. 414 Z. 12 ff., S. 416. Erläuternd dazu Patzig, Kant-Studien 56 (1965), 237 ff.; Küper FS Jung 2007, S. 485, 486. 51  GMdS S. 421 Z. 6 – 8 und Z. 14 – 20. Vertiefend zum Prinzip der Verallgemeinerung Höffe, ZPhF 31 (1977), 354, 356 ff.; Hruschka, Kant und der Rechtsstaat, 2015, S. 205 ff. Zur Naturgesetzformel vgl. Schöndorf, ZPhF 39 (1985), 549, 554 ff. und Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns, 1989, S. 110 ff., ins. 112 f. 52  Im hier interessierenden Kontext MdS S. 331 Z. 15. 53  ALR II 20 14 § 1108 „Wer um seines Gewinns, Vortheils, oder Genusses willen, eine bewegliche Sache aus dem Besitze eines Andern ohne dessen Vorbewußt (!) oder Einwilligung entwendet, der macht sich eines Diebstahls schuldig.“ 54  Vgl. auch Zaczyk FS Eser 2005, S. 207, 219.

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nennen. Kant spricht von „Nothrecht“ als einem „vermeinte[n] Recht“55 und insistiert, dass eine Tat wie die am Brett des Karneades56 ohne Recht57 und keineswegs „unsträflich“,58 sondern nur „unstrafbar“59 begangen werde. Sie könne nicht unter einer Strafdrohung stehen60 und habe straflos zu bleiben, soweit es darum geht, „wie vor Gericht die Sentenz gefällt werden würde“61. Diese „Straflosigkeit“ sei aber nicht „objectiv, nach dem, was ein Gesetz vorschreiben“ könnte,62 keine „objective (Gesetzmäßigkeit)“63. In der Sache unterscheidet er dabei also zwischen Verhaltensregeln und Sanktionsnormen. Während er eine Grenze der letzteren aufzeigt, insistiert er auf der Kategorizität der ersteren, und zwar auch für den Fall, dass jemand sich allein die Erhaltung seines eigenen Lebens zum Zweck setzt.64 Die Gesetze, auch die strafbewehrten Verhaltensregeln, können ihrem Adressaten allerdings durchaus verbieten, mit seinem Verhalten bestimmte Zwecksetzungen zu verfolgen. Solche Regeln hängen nicht von seinen Zwecksetzungen ab. Ihre Geltung und ihr Inhalt sind von seinen Zwecksetzungen unabhängig; sonst könnten sie ihm darüber ja gar nichts vorschreiben. Eine Regel, die verbietet, eine fremde bewegliche Sache in Zueignungsabsicht wegzunehmen, wird zwar nur dann verletzt, wenn der Handelnde eine solche Sache wegnimmt und dabei Zueignungsabsicht hat, dies sind aber nur die Kriterien, die gleichermaßen zur Tatzeit zur Bildung eines pflichtgemäßen oder pflichtwidrigen Tatentschlusses zur Verfügung stehen, wie auch zum Zeitpunkt einer späteren Beurteilung des Verhaltens als pflichtgemäß oder pflichtwidrig. Ein bloß hypothetischer Imperativ hingegen entstünde, wenn man die Strafdrohung als Information an den Täter, die er in eine abwägende Entscheidung über sein Verhalten einzustellen hätte, verstehen würde. In diese Richtung lassen sich Formulierungen leicht missverstehen, das Gesetzlichkeitsprinzip verlange, dass das „Risiko einer Bestrafung“ für den Bürger vorhersehbar bzw. erkennbar ist, damit er sein Verhalten danach ausrichten kann.65 Wenn es aber darum ginge, dann hätte z. B. § 212 StGB letztlich die Bedeutung: „Wenn 55  MdS S. 235 Z. 13 und 15 (Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre II.), vgl. auch Kant, Über den Gemeinspruch, 1793, AA Bd. VIII (zit. Gemeinspruch) S. 300 Fußnote Z. 19 ff. 56  Zur Entwicklung und Behandlung dieser Fallkonstellation in und nach der antiken griechischen Philosophie Aichele, JRE 11 (2003) 247 ff. 57  Ebd. (Gemeinspruch) Z. 30 f. 58  MdS S. 236 Z. 1. 59  Ebd. Z. 1 f. 60  MdS S. 235 Z. 26 ff. Entspr. Gemeinspruch S. 300 Z. 36 ff. 61  Ebd. (MdS) Z. 25 f. 62  Ebd. Z. 24 f. 63  MdS S. 236 Z. 4. 64  Vertiefend auch zu den Grenzen der Entsprechung mit heutigen Entschuldigungsgründen Küper, Immanuel Kant und das Brett des Karneades: Das zweideutige Notrecht in Kants Rechtslehre, 1999, insb. S. 13 ff., 47 ff. 65  Vgl. in diesem Sinne etwa BVerfGE 73, 206, 243 (Rn. 79). Sehr deutlich das Sondervotum von Haas, BVerfGE 104, 92, 123 (Rn. 93 = Juris-Rn. 98).

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Du das Risiko, mit Freiheitsstrafe über fünf Jahren bestraft zu werden, meiden möchtest, dann töte niemanden.“ Zugespitzt ließe sich formulieren: „Bringe ruhig einen anderen Menschen um; sei dann aber auch bereit, für mindestens fünf Jahre ins Gefängnis zu gehen!“ Das aber ist gerade nicht gemeint. Die Strafdrohung ist kein Abwägungsgesichtspunkt, und die strafbewehrte Verhaltensregel hängt nicht von Zwecksetzungen des Täters ab, insbesondere nicht davon, wie wichtig es ihm ist, ein Bestraftwerden zu vermeiden. Die Strafdrohung markiert vielmehr eine unbedingt einzuhaltende Verhaltensregel. In diesem Sinne ist auch sie kategorisch. Summary In this paper I’m discussing the meaning of Kant’s remark “Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ […]” (the penal code is a categorical imperative). Analysing the context in the Metaphysics of Morals, Doctrine of Law, shows that Kant’s main interest was to understand the status iuridicus and the duties to enter and maintain a state – rather than to develop a theory of criminal law. Nevertheless he exhibits a principle of legality, and said remark summarizes that principle. Kant focuses on rules of sanctioning (Sanktionsnormen), however his remarks have consequences for rules of conduct (Verhaltensregeln) as well. In essence they need to be independent of the ends the agent sets for him- or herself. Furthermore, the principle of legality is not about informing the agent of a risk of punishment: the rules of conduct apply regardless of whether and how much he or she wants to avoid punishment.

Erschütterungen in Recht und Moral Das große Erdbeben von Chile, ein Menschenopfer und die interkulturelle Herausforderung des Strafrechts Sascha Ziemann* und Francisco Acosta** „Nein, diese hier waren Verbrecher genannt, und das geschmähte Gesetz war wie die donnernden Granaten als unergründliches Rätsel übers Meer zu ihnen gekommen.“ — Joseph Conrad, Herz der Finsternis, 18991

I. Ein Erdbeben und ein Todesfall Die Naturschönheiten Chiles lassen schnell vergessen, dass das südamerikanische Land durch seine Lage an einer Nahtstelle tektonischer Platten, dem sogenannten „Pazifischen Feuerring“, eines der am meisten von Erdbeben bedrohten Länder der Erde ist. Die Katastrophe allerdings, die den Süden Chiles am 22. Mai 1960 traf, war nicht alltäglich und auch nach chilenischen Maßstäben außergewöhnlich.2 Das Erdbeben (span. „terremoto“) erstreckte sich über eine Länge von tausend Kilometern und ging mit einer Stärke von 9,5 auf der Magnituden-Skala als das stärkste jemals gemessene Erdbeben in die Geschichte ein (sog. Valdivia-Erdbeben). Die Folgen waren wahrhaft apokalyptisch: heftige Erdstöße verwüsteten die Küstenstreifen und verursachten Gebirgsrutschungen, haushohe Flutwellen überspülten die Küstenlandstriche und richteten im gesamten Pazifik-Raum Zerstörungen an, Vulkane brachen aus und sorgten in manchen Gegenden für einen tagelangen Ascheregen. Das große Chile-Erdbeben von 1960 forderte über ein  Sascha Ziemann, Dr. jur., Universitätsprofessor an der Leibniz Universität Hannover.   Francisco Acosta, LL.M., Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Promotionsstipendiat von DAAD und CONICYT (Comisión Nacional de Investigación Científica y Tecnológica de Chile, Chilenische Staatliche Kommission für Wissenschaft und Technologie). 1  Joseph Conrad, Herz der Finsternis, in: ders., Jugend. Herz der Finsternis. Das Ende vom Lied. Erzählungen, Übers. durch Manfred Allié, Frankfurt am Main 2007, S. 59 – 190, 82 f. 2  Zu Ablauf und Folgen des Jahrhundertbebens, das von zahlreichen Vor- und Nachbeben begleitet wurde, siehe Wolfgang Weischet, Eine Landschaft verändert ihr Antlitz: Die Naturkatastrophe in Chile, in: Umschau in Wissenschaft und Technik 62 (1962), S. 33 – 36, 78 – 81; aus der spanischsprachigen Literatur sieht zudem Steven J. Benedetti, El Terremoto Más Grande De La Historia. Valdivia-Chile, 22 de mayo, 1960, Santiago de Chile 2011.  * **

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tausend Menschenleben, verletzte weitere dreitausend und machte zwei Millionen Menschen obdachlos.3 Dass nicht noch mehr Todesopfer zu beklagen waren, war dem Umstand zu verdanken, dass die betroffenen Regionen dünnbesiedelt waren und viele der Bewohner durch vorangegangene Erdstöße vorgewarnt worden waren und sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten. Einige Tage nach dem großen Erdbeben und den in der Wirkung noch verheerenderen Flutwellen (span. „maremoto“) machte sich ein kleiner Polizeitrupp auf den Weg in das Katastrophengebiet. Sein Ziel war die kleine Ansiedlung Collileufu am Budi-See, einem Salzwassersee in der Region Araukanien (Araucanía) in kurzer Entfernung zum Pazifik, zehn Kilometer südlich der Hafenstadt Puerto Saavedra. Die dort siedelnde indigene Volksgruppe der Mapuche hatte den Naturgewalten wenig entgegenzusetzen gehabt, da sie mehrheitlich nicht in gemauerten Häusern lebten, sondern in sog. „rucas“, traditionellen Holzhütten mit Schilfdächern. Immerhin hatten sich viele der in verstreuten Gehöften lebenden Mapuche auf den nahegelegenen Hügeln vor den Fluten in Sicherheit gebracht. Der Auftrag der Polizei hatte dabei nur indirekt mit dem Erdbeben zu tun. Denn es galt, ein Verbrechen zu untersuchen, da die Polizei Hinweise erhalten hatte, dass die Mapuche während des Erdbebens ein fünfjähriges Kind in einer religiösen Zeremonie auf einem Hügel am Strand getötet und den Göttern geopfert hätten. Die Polizei verhaftete vier Mapuche wegen des Verdachts eines Tötungsdelikts und setzte damit ein Verfahren in Gang, das zwei Jahre später mit einer überraschenden Entscheidung des Gerichts von Nueva Imperial endete. Das Gericht sprach die Angeklagten vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung des fünfjährigen Kindes frei, da es ihnen zugestand, unter Umständen gehandelt zu haben, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ausnahmsweise ausschlössen.4 Wie sollte das Strafrecht mit Tätern umgehen, die aufgrund ihres unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes nicht von der Appellfunktion des Strafgesetzbuches erreicht werden, ja sich sogar aufgrund einer kulturellen Tradition berechtigt sehen, dessen Verbote nicht zu befolgen? Dem aufgeklärten Menschen dürfte die Vorstellung, die Naturgewalten durch Gebete und ein rituelles Menschenopfer zu besänftigen, als Rückfall in einen Zustand vorzivilisatorischer Barbarei erschei3 Noch im über 15.000 Kilometer entfernten Japan waren Todesopfer zu beklagen. Die Schätzungen der Gesamtopfer variieren. Siehe z. B. United States Geological Survey https:// web.archive.org / web/20140326074340/http://earthquake.usgs.gov / earthquakes / world / events/ 1960_05_22.php (nicht mehr online, archiviert 2014). 4  Juzgado de Letras de Nueva Imperial (Gericht von Nueva Imperial), Urteil v. 02. 10. 1962, Nr. 24.228 (Einzelrichterin Ester Valencia Durán), unveröffentlicht. Das Urteil ist in einer Abschrift im Archiv der „Defensoría Penal Pública“, dem chilenischen Büro der öffentlichen Strafverteidigung, überliefert (Die Verf. danken Herrn Rechtsanwalt Rodrigo Lillo Vera für die Zugänglichmachung einer Abschrift). Die Originalakte ist verloren gegangen. Die Zitierweise orientiert sich an der Untergliederung des Urteilstexts in Sachverhalt („vistos“) und Erwägungsgründe („considerandos“). Die Urteilsbegründung ist nicht leicht zu verstehen, da sie, der französischen Urteilstradition der „phrase unique“ folgend, aus einem einzigen zusammenhängenden Satzgefüge besteht und zum Teil in einem altertümlichen Spanisch verfasst ist.

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nen. Die vier Mapuche, die die Polizei vor Ort festnahm, waren gleichwohl und erwiesenermaßen genau hiervon überzeugt und sahen angesichts der Dramatik der Ereignisse keinen anderen Ausweg, um sich, ihre Gemeinschaft und vielleicht sogar die ganze Welt vor dem Untergang zu bewahren. II. Die Mapuche – Ureinwohner ohne Land Die vier Personen, die die Polizei wegen des Verdachts der Tötung des fünfjährigen Luis Quimen Painecura verhaften ließ, waren allesamt Angehörige der in der Gegend lebenden indigenen Volksgruppe der Mapuche, der größten indigenen Bevölkerungsgruppe Chiles.5 In den südlichen Regionen Provinzen Chiles (und des angrenzenden Argentiniens) stellen die Mapuche bis heute die Bevölkerungsmehrheit. In Gesamtchile bilden die Mapuche die größte indigene Gruppe und machen rund zehn Prozent der Bevölkerung aus.6 Mapuche und Chile verbindet eine wechselvolle und konfliktgeladene Geschichte. Die Mapuche sind die Nachfahren eines der wehrhaftesten indigenen Völker Südamerikas, das zunächst den mächtigen Inkas und dann den Konquistadoren erbitterten Widerstand leistete und der spanischen Krone schließlich durch den Vertrag („Parlamento“) von Quilín aus dem Jahr 1641 die Anerkennung der Unabhängigkeit des Mapuche-Territoriums („Wallmapu“) abtrotzte.7 Diese für die koloniale Welt einmalige Vereinbarung hatte im Wesentlichen bis zum Ende der Kolonialzeit Bestand und wurde nach der Loslösung Chiles von Spanien auch im Jahre 1825 durch die Republik Chile anerkannt. Erst im Zuge der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Armee und Siedler in Angriff genommenen Besiedlung des Landes, beschönigend als „Befriedung“ („Pacificación“) bezeichnet, flammte der 5  „Mapuche“ ist ein zur Selbstbezeichnung der ethnischen Identität entstandener Oberbegriff für verschiedene lokale Volksgruppen Araukaniens und bedeutet wörtlich „Menschen der Erde“. Er wird der Einfachheit halber und wegen der Unüblichkeit des alten Begriffs „Araukaner“ im folgenden Text beibehalten. Über Kultur und Gesellschaft der Mapuche siehe: Olaf Kaltmeier, Marichiweu! – zehnmal werden wir siegen! Eine Rekonstruktion der aktuellen Mapuche-Bewegung in Chile aus der Dialektik von Herrschaft und Widerstand seit der Conquista, Münster 2004; ders., Die Mapuche: Brüche und Einbrüche zwischen Widerstand und Eroberung, in: Peter Imbusch u. a. (Hrsg.), Chile heute, Frankfurt am Main 2004, S. 191 – 206; Helmut Schindler, Bauern und Reiterkrieger. Die Mapuche-Indianer im Süden Amerikas, München 1990; Elke Rahausen, Die Comunidad im Wandel: zur Situation und Integration der Mapuche-Kleinbauern in der chilenischen Wirtschaft und Gesellschaft, Aachen 2003, insbes. S. 48 ff., 84 ff.; aus dem spanischsprachigen Schrifttum siehe zudem: Pedro Cayuqueo, Historia secreta mapuche, Providencia, Santiago de Chile 2017; José Bengoa, Historia del pueblo mapuche (siglo XIX y XX), 7. Aufl. Santiago de Chile 2008. 6  Nach den aktuellsten Daten der chilenischen Volkszählung von 2017 geben 12,8 % der chilenischen Bevölkerung an, einem indigenen Volk anzugehören. Von diesen nennen 79,8 % als Zugehörigkeit „Mapuche“, das sind eine Million Menschen, was 9,9 % der Gesamtbevölkerung Chiles entspricht. Vgl. Instituto Nacional de Estadísticas (dt. Nationales Statistikinstitut von Chile), Síntesis de Resultados Censo 2017, Santiago de Chile 2018, S. 16. 7  Kaltmeier, Die Mapuche (Fn. 5), S. 194.

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Konflikt wieder auf. Nach einer blutigen Auseinandersetzung, die zwei Jahrzehnte dauerte und Zehntausende Mapuche das Leben kostete, wurde der Widerstand der Mapuche im Jahre 1883 endgültig gebrochen und ihr Territorium gewaltsam in den chilenischen Nationalstaat integriert.8 Die Mapuche wurden in der Folge in weiten Teilen gezwungen, ihre angestammten Siedlungsräume zu verlassen und sich in den ihnen zugewiesenen Reservaten („comunidades“) oder in den Städten anzusiedeln. Die Vertreibung und Enteignung des Mapuche-Volkes, dessen Angehörige heute weitgehend in Armut und am Rande der chilenischen Gesellschaft leben, bildet bis heute eine offene Wunde Chiles.9 III. Die Hexer vom Budi-See Noch während der Aufräumarbeiten nach der Jahrhundertkatastrophe nahmen die Justizbehörden Ermittlungen wegen des Verdachts eines Tötungsdelikts auf. Zuständig für die Ermittlungen war das Gericht in Nueva Imperial, eine Kleinstadt dreißig Kilometer landeinwärts und auf halber Strecke zur Provinzhauptstadt Temuco gelegen.10 Der Fall sorgte landesweit für großes Aufsehen11 und schaffte   Kaltmeier, Die Mapuche (Fn. 5), S. 195 f.   Zum Mapuche-Konflikt im gegenwärtigen Chile siehe Kaltmeier, Marichiweu! (Fn. 5); Joanna Crow / Robert C. Stebbins, The Mapuche in Modern Chile: A Cultural History, Florida 2013. 10  Das Verfahren folgte der alten Strafprozessordnung Chiles („Código de Procedimiento Penal“) und sah ein reines inquisitorisches Verfahren vor, das dem Gericht sowohl die Funktion des Ermittlers und Anklägers als auch des Entscheiders zuwies. Das Verfahren war zweigeteilt. Die erste Phase („sumario“, Ermittlungsverfahren) bestand aus einem von Gericht und Polizei betriebenen, nicht-öffentlichen Ermittlungsverfahren mit begrenzten Verteidigungsmöglichkeiten. Daran schloß sich eine zweite Phase („plenario“, Hauptverfahren) an, die der Verteidigung und den Vertretern des Staates die Möglichkeit eröffnete, schriftlich zu den Ergebnissen der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen. Eine echte mündliche Verhandlung im Sinne einer deutschen Hauptverhandlung war hingegen nicht vorgesehen. Zum alten chilenischen Strafverfahren siehe Cristián Riego, Chile, in: Julio B.J. Maier / Kai Ambos / Jan Woischnik u. a. (Hrsg.), Las reformas procesales penales en América Latina, Buenos Aires 2000, S. 167 – 195. Das chilenische Strafverfahren wurde ab dem Jahr 2000 nach und nach in einer großangelegten Strafprozessrechtsreform („Reforma Procesal Penal“) reformiert und folgt heute einem reformiert-inquisitorischen Verfahrenstyp nach kontinentaleuropäischem (insbes. deutschem) Vorbild. 11  Diario Austral de Temuco v. 21. 06. 1960 (En ceremonia indígena habrían sacrificado a niño de siete; dt.: Bei einer indigenen Zeremonie opferten sie ein siebenjähriges Kind); Diario Austral de Temuco v. 28. 06. 1960 (Se entregó declaración sobre presunto sacrificio ceremonial en P. Saavedra; dt.: Eine Erklärung zum mutmaßlichen Zeremonienopfer in Puerto Saavedra); Revista Vea v. 30. 06. 1960, Santiago de Chile (Arauco revive un rito de muerte; dt. Araukanien belebt einen Todesritus); Revista Ercilla v. 12. 07. 1960, Santiago de Chile (Ritos macabros a orillas del mar; dt. Makabre Riten an der Küste). Alle genannten Artikel wurden 2011 in einem Sonderheft der „Anales de la Universidad de Chile“ wiederabgedruckt (Séptima Serie, N°1, mayo 2011, S. 207 ff.). Wichtige Hinweise aus zeitgenössischer Sicht enthält auch der Bericht einer Forschergruppe aus Santiago de Chile, die die behördlichen Ermittlungen aus nächster Nähe erlebte, vgl. Ingeborg Lindberg / Eliana Pineda Rodriguez / Lautaro Nuñez Atencio, Algu8 9

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es sogar in das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Time12. Einige Anthropologen erwirkten sogar die Erlaubnis, die inhaftierten Mapuche im Gefängnis zu besuchen, um sie interviewen zu können.13 Die chilenische (Mehrheits-)Bevölkerung zeigte hingegen Unverständnis bis hin zur offenen Feindseligkeit. Als man die Festgenommenen in das Untersuchungsgefängnis nach Nueva Imperial überführte, versuchte eine aufgebrachte Menge, die „Hexer“ zu lynchen, was nur durch das Eingreifen von Polizei und Militär verhindert werden konnte.14 Als der Fall schließlich zur Verhandlung vor Gericht kam, richtete sich der Vorwurf nur noch gegen zwei der ursprünglich vier festgenommenen Mapuche. Beschuldigt wurden Juan José Painecura Paineo, der Großvater des Opfers, in dessen Obhut der Junge gestanden hatte, und Juan Paillán Huenchumán, der den Jungen abgeholt und zum Opferplatz auf einem Hügel am Meer gebracht hatte. Beide waren einfache Bauern und Analphabeten. Das Verfahren gegen die Mapuche-Schamanin („Machi“), die nach übereinstimmenden Zeugenaussagen die Opferzeremonie geleitet hatte, und ihren Ehemann, die beide ebenfalls zunächst verhaftet worden waren, wurde hingegen aus nicht näher bekannten Gründen eingestellt. Der Fall hielt einige Hindernisse für das Gericht bereit. Ein erstes Problem war der Nachweis der Tat, da die Leiche des Kindes nicht gefunden wurde und die Verteidigung zudem die Möglichkeit eines Unfalltodes geltend machte. Ein weiteres Problem bestand darin, dass die Angeklagten ihre zunächst gegenüber der Polizei abgegebenen Geständnisse im weiteren Verlauf des Verfahrens widerriefen und die meisten der Mapuche, die bei der Zeremonie anwesend waren, sich im Zeugenstand nicht mehr an den genauen Ablauf der Ereignisse erinnern konnten oder wollten. Trotz dieser Schwierigkeiten gelangte das Gericht am Ende des Verfahrens zu der Überzeugung, dass der fünfjährige Luis während einer religiösen Zeremonie („Nguillatún“) am Tag des großen Erdbebens gewaltsam getötet worden sei und dass die beiden Beschuldigten wesentliche Beiträge dazu geleistet hätten. Den genauen Ablauf der Opferzeremonie ließ das Gericht offen. Eine realitätsnahe Rekonstruktion des dramatischen Geschehens dürfte das Buch des US-Amerikanischen Journalisten Patrick Tierney enthalten, der Anfang der 1980er Jahren Recherchen vor Ort durchführte und dabei auch mit einigen Tatbeteiligten, darunter mit dem Großvater und der „Machi“, sprach.15 nos aspectos de la vida material y espiritual de los araucanos del lago Budi, in: Anales Chilenos De Historia De La Medicina II (1960), vol. I, S. 11 – 30, insbes. 26 ff. 12  Time Magazine v. 04. 07. 1960 (Asking for Calm). 13  Eine Textfassung der damals von den Anthropologen Alberto Medina, Francisco Reyes und Luis Peña vom „Centro de Estudios Antropológicos“ der Universidad de Chile durchgeführten Interviews konnte nicht ermittelt werden. 14  Jorge Araya Anabalón, Sacrificio e identidad en el contexto del maremoto del año sesenta: reducción de Collileufú, Puerto Saavedra, in: Lengua y Literatura Mapuche N°8 (1998), S.  269 – 282, 279. 15 Vgl. Patrick Tierney, Zu Ehren der Götter: Menschenopfer in den Anden, München 1989, S. 104 ff. (Originaltitel: The Highest Altar). Für weitere Materialsammlungen und Analysen

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Das Gericht legte seiner rechtlichen Bewertung folgenden Ablauf der dramatischen Geschehnisse zu Grunde: „Am Tag des Erdbebens, etwa um 19:00 Uhr, als die Mapuche-Gruppe von Collileufu eine Zeremonie des Nguillatún durchführte, um gemäß ihres Glaubens die Stürme des Meeres zu besänftigen und Böses zu vermeiden, ging er [Juan Paillán Huenchumán, erg. d. Verf.] zur Adresse von Juan José Painecura Painén [dem Großvater des Opfers], um den fünfjährigen Luis Quimén Painecura zu holen, während dessen Mutter Rosa Painecura Aulao in Concepción war. (…) Er brachte ihn zum Ort der Zeremonie und stürzte später das Kind ins Meer, wo es von den Wellen fortgetragen wurde und ertrank; auf diese Weise erfüllte man den Auftrag von María Juana Namoncura, der machi und Leiterin des Treffens“.16

Die religiösen Hintergründe der zeremoniellen Tötung erlangten dabei nur eine überraschend geringe Bedeutung. Das Gericht stellte zwar im Laufe der Ermittlungen den Ablauf der Opferzeremonie am Tatort nach, verzichtete aber ansonsten auf eine nähere Untersuchung der religiösen Tathintergründe17, obwohl die Möglichkeit bestanden hätte, anthropologischen Sachverstand in das Verfahren einzu-

siehe Natalia Caniguan, Relatos del Sacrificio en el Budi, Santiago de Chile 2013; Ronny Alejandro Leiva Salamanca, Maremoto de 1960, sacrificio humano y restablecimiento del equilibrio en el Wallmapu, in: Revista Investigaciones Sociales Vol. 17 N°30 (2013), S. 35 – 45; Sonia Montecino, Mito, sacrificio y políticas de la diferencia: el terremoto del 60 en el lago Budi, in: Anales de la Universidad de Chile, Séptima Serie, N°1, mayo 2011, S. 201 – 206; Myriam Ríos / Viviana Vargas, Deconstrucción de un caso ritual de sacrificio en la comuna de Collileufú, Puerto Saavedra (5 de junio de 1960), Tesis de Licenciatura en Comunicación So­ cial. Universidad de la Frontera, Temuco 2001; Rossel Echagüe, Crimen y Costumbre en la Sociedad Mapuche Contemporánea, aaO., S. 80 ff.; Jorge Araya Anabalón, Sacrificio e identidad en el contexto del maremoto del año sesenta: reducción de Collileufú, Puerto Saavedra, in: Lengua y Literatura Mapuche N°8 (1998), S. 269 – 282; Eduardo Medina Cárdenas, Violencia y sacrificio en los grupos humanos: reflexiones a propósito de lo ocurrido en La Araucanía durante el terremoto y maremoto de mayo de 1960, in: Revista Chilena de Historia y Geografía 2017, S. 89 – 112; aus der Zeitungsliteratur siehe zudem Arturo Zúñiga, El Niño Inmolado, in: Diario El Mercurio v. 15. 08. 2001; Daniel Carrillo / Rodrigo Obreque, El cristo mapuche se perdió en el mar, in: El Austral v. 24. 05. 2010; Pedro Cayuqueo, La furia de kay kay, in: Punto Final v. 02. 04. 2010, wiederabgedruckt in: ders. (Hrsg.), La voz de los Lonkos, Santiago de Chile 2013, S. 216 – 220. 16  Gericht von Nueva Imperial (Fn. 4), Sachverhalt, freie Übersetzung durch Verf. Acosta: „(…) más o menos a las 19:00 hrs., mientras la reducción de mapuches de Collileufu efectuaba un guillatún, con el objeto de apaciguar las tempestades del mar y evitar los males, según sus creencias, fue al domicilio de Juan Jose Painecura a buscar al menor Luis Quimén Painecura de 5 años de edad, que se encontraba a su cuidado mientras su madre Rosa Painecura Aulao, trabajaba en Concepción (…), procedieron a lanzar al menor al mar siendo este arrastrado por las olas y pereciendo ahogado, se cumplió así con el mandato de Maria Juana Namoncura, machi o jefe de la reunión.“ (Fehler des Orig. korrigiert, Stil im Orig.). 17  Die zuweilen getätigte Behauptung des Tätigwerdens einer amtlichen Sachverständigenkommission unter der Federführung des Mediziners und Anthropologen Alejandro Lipschutz und der Archäologin Grete Mostny konnte bislang nicht bestätigt werden (vgl. Zúñiga [Fn. 15]).

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beziehen, wie es zuvor in einem Präzedenzfall18 aus dem Jahr 1953 erfolgt war. Das Gericht verzichtete auch auf eine Befassung mit der rechtlichen Bedeutung der indigenen Sitten und Bräuche.19 IV. Die Sünden der Menschen und ein Opfer für die Götter Entscheidende Bedeutung für den religiösen Hintergrund kam zunächst dem Tatort zu, einem flachen Hügel am Strand zehn Kilometer südlich von Puerto Saavedra. Der Hügel, der im Aussehen einem Opfertisch ähnelte und „Cerro La Mesa“ („Tischberg“) genannt wurde, galt den in der Region lebenden Mapuche als ein heiliger Berg. Er war ein sog. Zufluchtsberg, dem die magische Fähigkeit zugeschrieben wurde, in Zeiten von Gefahr in die Höhe zu wachsen und den Menschen Schutz vor den Wasserfluten zu bieten. Der Mythos stand in enger Verbindung mit dem mythischen Kampf zwischen den göttlichen Schlangenwesen „Kai-Kai“ (Wasser) und „Tren-Tren“ (Land), der einen zentralen Bestandteil der auf der Vorstellung einer beseelten Natur beruhenden Mapuche-Mythologie bildet.20 Um die Hilfe der höheren Mächte zu erbitten, führten die Mapuche mehrtägige religiöse Zeremonien („Nguillatún“) durch, die unter der Leitung der Gemeinschaftsältesten und der Machi-Schamanin stattfanden und neben rituellen Handlungen (Tanz, Gesang) auch die Opferung von Tieren oder Nahrung beinhalteten.21 Ein erfolgreiches 18 Segundo Juzgado de Letras de Valdivia (dt. zweites Gericht von Valdivia), Urteil v. 04. 07. 1953, Nr.  37872 (Einzelrichterin María Mardones Montenegro). In der Entscheidung ging es um eine Mapuche-Frau, die ihre Großmutter, eine Machi-Schamanin, getötet hatte, weil sie diese für den Tod ihres Neugeborenen verantwortlich gemacht hatte. Das Gericht sprach die Beschuldigte frei und stützte sich dabei unter anderem auf ein Sachverständigengutachten des „Instituto Indigenista de Chile“. Als Gutachter wurde unter anderem der Mediziner und Anthropologe Alejandro Lipschutz (1883 – 1980) tätig. Das Gutachten wurde in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht (eine englische Fassung findet sich in: Boletín Indigenista 15 [1955], S. 160 ff.; siehe zudem Alejandro Lipschutz, Perfil de Indoamérica de Nuestro Tiempo. Antología 1937 – 1962, Santiago de Chile 1968, S. 288 ff.). Zu diesem Fall siehe Pablo Rossel Echagüe, Crimen y Costumbre en la Sociedad Mapuche Contemporánea, Tesis Para Optar Al Grado De Antropólogo Social, Universidad de Chile, Santiago de Chile 2010, S. 36 ff. 19  Dies entsprach der damaligen Geringschätzung indigener Rechts- und Sozialordnungen in Rechtspraxis und Sozialwissenschaften. In der Ethnologie ergab sich eine intensivere Beschäftigung erst im Zuge des Aufkommens rechtspluralistischer Forschungen in den 1970er Jahren (hierzu Ralf Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, Tübingen 2015, S. 58 ff.). 20 Vgl. Caniguan, Relatos del Sacrificio en el Budi (Fn. 15), S. 32 ff.; Rolf Foerster, Introducción a la Religiosidad Mapuche, Santiago de Chile 1995, S. 80 ff.; José Fernando Díaz, El mito de „Treng-Treng Kai-Kai“ del Pueblo Mapuche, in: Revista CUHSO 14 (2007), S. 43 – 53. Zur Sagenwelt der Mapuche siehe die Sammlung von Bertha Kössler-Ilg (Hrsg.), Indianer-Märchen aus den Kordilleren. Märchen der Araukaner, Düsseldorf 1973. 21  Foerster (Fn. 20), S. 92 ff.; Hans Gundermann Kröll, El sacrificio en el ritual mapuche: un intento analítico, Chungara: Revista de Antropología Chilena, No. 15 (Dez. 1985), S. 169 –  195.

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Ritual stellte nach Mapuche-Vorstellung das kosmische Gleichgewicht wieder her und versöhnte den Menschen mit der Natur.22 Die Naturkatastrophe vom 22. Mai 1960 stellte die Mapuche vom Budi-See allerdings vor eine besondere Herausforderung. Nicht nur, dass die Naturgewalten durch die wiederkehrenden Erdstöße und insbesondere die verheerenden Flutwellen besonders hart zuschlugen. Es zeigte sich auch, dass die bislang durchgeführten Opferzeremonien keine Wirkung entfalteten. Die Welt war aus Sicht der Mapuche aus den Fugen geraten und es brauchte ein besonderes „Mittel“, um die „Wut des Meeres“ zu besänftigen23 und das kosmische Gleichgewicht wiederherzustellen. Von der „Machi“ ist in diesem Zusammenhang die Aussage überliefert: „Die Katastrophen sind Strafen für die Sünden der Menschen (…). Tieropfer können Erdbeben lindern und verschieben (…). Aber jetzt sind die Sünden der Menschen zu groß, um sie mit normalen Opfern zu bezahlen.“24 Die Auswahl von Luis Quimén war kein Zufall, da er als Sohn einer alleinerziehenden Mutter ein sog. „huacho“ war, womit elternlose, aber auch illegitime Kinder bezeichnet wurden, die in der Mapuche-Gemeinschaft eine mindere soziale Stellung einnahmen.25 Der kleine Luis, der in der Obhut seines Großvaters lebte, war doppelt „elternlos“: der Vater hatte die Familie verlassen und die Mutter arbeitete die meiste Zeit als Haushaltshilfe in der Stadt, um die Familie über die Runden zu bringen. Als die Dorfgemeinschaft die Herausgabe von Luis forderte, war es dessen eigener Großvater, der ihn seinen Häschern übergab und sein Schicksal besiegelte.

22  Foerster (Fn. 20), S. 99. Zu kulturellen Bewältigungsstrategien der Mapuche im Umgang mit Naturkatastrophen, inbes. in Bezug auf das Jahrhundertbeben von 1960, siehe Edmundo Kronmüller / Devin G. Atallah / Ignacio Gutiérrez / Patricia Guerrero / Manuel Gedda, Explor­ ing indigenous perspectives of an environmental disaster: Culture and place as interrelated resources for remembrance of the 1960 mega-earthquake in Chile, in: International Journal of Disaster Risk Reduction, Vol. 23, August 2017, S. 238 – 247, insbes. 242 ff.; aus der älteren Literatur siehe schon Rodolfo Lenz, Tradiciones e ideas de los araucanos acerca de los terremotos, Santiago de Chile 1912. 23  Gericht von Nueva Imperial (Fn. 4), Erwägungsgrund 5: „medio de ‚calmar la furia del mar‘“. 24  Ríos / Vargas, Deconstrucción de un caso ritual de sacrificio (Fn. 15), zitiert nach Caniguan, Relatos del Sacrificio en el Budi (Fn. 15), S. 76. Das spanische Originalzitat lautet: „Los cataclismos son penas por los pecados de la gente (…). Los sacrificios de animales pueden aliviar los terremotos y posponerlos si se ofrecen cada cuatro años. Pero ahora los pecados de la gente son demasiado grandes para pagarlos con sacrificios normales“. 25  Dem „huacho“ wird vereinzelt zentrale Bedeutung für die südamerikanische Identität zugesprochen (vgl. Gabriel Salazar, Ser niño „huacho“ en la historia de Chile (siglo XIX), Santiago de Chile 2006). Die chilenische Anthropologin Sonia Montecino sieht im „huacho“ sogar weitergehend eine Grundursache für die Herausbildung der in Südamerikas verbreiteten „machismo“-Kultur“ (Sonia Montecino, Madres y huachos: alegorías del mestizaje chileno, Santiago de Chile 1991).

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V. Unwiderstehliche Naturgewalten War damit der Nachweis der Tatbeteiligung geführt, stellte sich die Frage nach der strafrechtlichen Bewertung. Dass die Voraussetzungen einer vorsätzlichen Tötung gegeben waren, stand außer Zweifel. Allerdings befand das Gericht, dass die Angeklagten nicht zu verurteilen seien, da ihnen ein Umstand zu Gute komme, der die strafrechtliche Verantwortlichkeit entfallen lasse („circunstancias que eximen la responsabilidad criminal“). Gesetzliche Grundlage war Artikel 10 Nummer 9 des chilenischen Strafgesetzbuches („Código Penal“, CP).26 Danach sollte von der strafrechtlichen Verantwortung ausgenommen sein, wer durch eine „unwiderstehliche Gewalt“ getrieben („fuerza irresistible“) oder von „unüberwindlicher Furcht“ bewogen („miedo insuperable“) gehandelt habe.27 Das Gericht bejahte dies und attestierte den Beschuldigten, angesichts „der drohenden Gefahr“ durch die „Naturgewalten“ nicht in der Lage gewesen zu sein, „rational“ zu handeln.28 Die Beschuldigten hätten das Kind getötet, um „die Naturgewalten auf diese Weise zu beschwichtigen“ und hierdurch das „eigene Leben zu retten“.29 Dies alles lasse am Ende die strafrechtliche Verantwortlichkeit entfallen und führe zum Freispruch der Beschuldigten. Obwohl Art. 10 Nr. 9 CP eine große Ähnlichkeit mit dem entschuldigenden Notstand besaß (der im chilenischen Strafrecht nicht gesetzlich geregelt war30), wurde die Regelung nach dem damaligen Verständnis nicht als Entschuldigung, sondern als Grund der „Schuld- bzw. Unzurechnungsfähigkeit“ angesehen.31 Auch war die 26  Die chilenische Regelung geht auf das spanische Strafrecht zurück (z. B. Art. 8 Nr. 9 span. StGB v. 1870, heute Art. 20 Nr. 6 span. StGB) und hat Aufnahme in einige lateinamerikanischen Strafgesetzbücher gefunden (u. a. Peru, Guatemala). Zur Entstehungsgeschichte des chilenischen StGB siehe Rafael Fontecilla Riquelme, Das chilenische Strafrecht, in: Edmund Mez­ger u. a. (Hrsg.), Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, Bd. 2, Berlin 1959, S. 7 – 132, 17 ff.; Kurt Madlener, Einleitung, in: Strafgesetzbuch der Republik Chile, Übersetzung durch Jörg Martin, Berlin u. a. 1988, Reihe: Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, S. 1 – 17. 27  Deutsche Übersetzung nach Alfredo Hartwig (Strafgesetzbuch der Republik Chile, Berlin 1900, Reihe: Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung). 28  Gericht von Nueva Imperial (Fn. 4), Erwägungsgrund 6. 29  Gericht von Nueva Imperial (Fn. 4), Erwägungsgrund 6. 30 Vgl. Enrique Cury, Derecho Penal. Parte General. 7. Aufl. Santiago de Chile 2005, S. 456 ff. Im Zuge der Reform des Art. 10 Nr. 11 CP durch das Gesetz Nr. 20.480 v. 2010 hat die Rechtsfigur des entschuldigenden Notstandes mittlerweile Eingang in das chilenische Recht gefunden. 31  Silvia Peña Wassaf, Der entschuldigende Notstand, Tübingen 1979, S. 198 mit weiteren Nachweisen auf die ältere Literatur; siehe auch Fontecilla Riquelme, Das chilenische Strafrecht (Fn. 26), S. 41; Die üblichen Fälle der Unzurechnungs- bzw. Schuldfähigkeit wegen Geisteskrankheit etc. (Art. 10 Nr. 1 CP) blieben davon unberührt. Seit den 1970er Jahren tendiert die strafrechtliche Literatur Chiles zur Interpretation als Entschuldigungsgrund (vgl. Cury, Derecho Penal [Fn. 30], S. 454 ff.; Alfredo Etcheberry Orthustéguy, Derecho Penal Parte General, Bd. 2, 3. Aufl. Santiago de Chile 1997, S. 347 ff.; siehe auch Silvia Peña Wassaf, Der entschuldigende Notstand, Tübingen 1979, S. 193 ff., 196 ff.).

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chilenische Notstandsregelung – anders als etwa der entschuldigende Notstand des deutschen Strafrechts32 – rein subjektiv zu bestimmen.33 Es war entsprechend unerheblich, ob die furchtauslösende Bedrohung tatsächlich existierte oder nur eingebildet war und ob die Abwehrhandlung tatsächlich oder nur nach der Tätervorstellung geeignet war, die Bedrohung abzuwehren. Anders als in anderen lateinamerikanischen Strafrechtsordnungen der damaligen Zeit gab es in Chile keine Sonderregelungen für Indigene im Strafrecht.34 Eine verbreitete, in ihrer Wirkung paternalistische und diskriminierende Regelung35 auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts war die Normierung einer generellen oder vom „Zivilisationsgrad“ abhängigen relativen Unzurechnungs- bzw. Schuldunfähigkeit („inimputabilidad“) von indigenen Tätern. So unterteilte beispielsweise das peruanische Strafgesetzbuch von 1924 indigene Täter in schuldfähige „Halb-Zivilisierte“ („semicivilizados“) und schuldunfähige „Unzivilisierte“ („salvajes“). Die Klassifizierung ermöglichte differenzierte Sanktionsmöglichkeiten: während „halb-zivilisierte“ Täter eine Strafmilderung erhalten konnten (Art. 45), konnten „unzivilisierte“ Täter an Stelle einer Bestrafung in eine landwirtschaftliche Strafkolonie eingewiesen werden (Art. 44, Letztere wurden allerdings nie in Betrieb genommen).36 Die Vorstellung der Notwendigkeit einer Sonderbehandlung von indigenen Tätern war auch in der Strafrechtswissenschaft weit verbreitet, wie ein Zitat des spanisch-argentinischen Strafrechtslehrers Jiménez de Asúa (1889 – 1970) belegt, der 32  Ulfrid Neumann, in: NomosKommentar. Strafgesetzbuch, hrsg. von Urs Kindhäuser u. a., 5. Aufl. Baden-Baden 2017, § 35 StGB Rn. 8. 33  Peña Wassaf, Der entschuldigende Notstand (Fn. 31), S. 199. 34  Die auf das Konzept der „persona miserabilis“ (schutzbedürftige Person) des spanischen Kolonialrechts zurückgehende Sonderbehandlung der Indigenen in den verschiedenen Strafrechtsordnungen der lateinamerikanischen Staaten wäre eine eigene Abhandlung wert. Für eine informative Übersicht siehe René Paul Amry, Das Recht auf kulturelle Identität als Schranke für das Strafrecht in Lateinamerika, in: Journal für Entwicklungspolitik, Vol. XX No. 4 (2004), Themenheft „Multikulturelle Autonomie in Lateinamerika“, hrsg. von Leo Gabriel und René Kuppe, S.  8 – 24, 10  ff.; ders., Defensa cultural y pueblos indígenas: propuestas para la actualización del debate, in: José Hurtado Pozo (Hrsg.), Derecho penal y pluralidad cultural. Anuario de Derecho Penal 2006, S. 73 – 100, 75 ff. Zu den Ursprüngen des ursprünglichen Konzepts der „persona miserabilis“ siehe zudem Thomas Duve, La condición jurídica del indio y su conside­ ración como persona miserable en el Derecho indiano, in: Mario G. Losano (Hrsg.), Un giudice e due leggi. Pluralismo normativo e conflitti agrari in Sud America, Mailand 2004, S. 3 – 33. 35  Über die geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser kolonialen Vorstellung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Deckmantel der Wissenschaft auch rassistisch-biologistische Formen annahm, siehe Amry, Das Recht auf kulturelle Identität (Fn. 34), S. 10 ff. 36 Vgl. Amry, Das Recht auf kulturelle Identität (Fn. 34), S. 14; vertiefend Lior Ben David, „Where does the Indian begin and where does it end?“: Legal-Criminal Categories in Peru, 1920s-1940s, and two Bolivian cases from the 1940s, in: Estudos Ibero-Americanos, Porto Alegre, v. 43, n. 1 (Januar-April 2017), S. 21 – 36; Tamar Herzog, Percibir el otro: El código penal de 1924 y la división de los peruanos en personas „civilizadas“, „semicivilizadas“ y „salvajes“, in: Johannes Michael Scholz / Tamar Herzog (Hrsg.), Observation and Communication: The Construction of Realities in the Hispanic World, Frankfurt am Main 1997, S. 399 – 414.

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in seinem Lehrbuch einmal fragte: „Ist der Indigene in der Lage, die Normen der Kultur, in der Weiße und Mestizen leben, zu kennen, und die Bedeutung seiner Akte in der für den Vorsatz erforderlichen Weise zu verstehen? Es scheint, dass dies zu verneinen ist“.37 Obwohl das chilenische Strafrecht zu der Gruppe von Rechtsordnungen gehörte, die keine Sonderregelungen für Indigene enthielten, hat sich die „Indigenen-Frage“ gleichwohl in einigen Formulierungen der Urteilsbegründung niedergeschlagen. So führte das Gericht beispielsweise aus, dass sich ein Teil der Mapuche „in einem Stadium der Zivilisation“ befunden habe, das es unmöglich gemacht habe, „sie für die begangene Aktion verantwortlich zu machen“.38 Die Beschuldigten seien zudem „von atavistischen [also rückständigen, Erg. d. Verf.] Instinkten getrieben“ gewesen und hätten „ihre Vernunft nicht kontrollieren“ können.39 Die Anklänge an die frühere (diskriminierende) Vorstellung einer generellen Schuldunfähigkeit indigener Täter liegen auf der Hand.40 Auch die chilenische Gesellschaft der 1960er Jahre war nicht frei von der in ganz Südamerika verbreiteten kolonialen Vorstellung von der (vermeintlichen) kulturell-zivilisatorischen Überlegenheit der europäisch geprägten Gesellschaften gegenüber den indigenen Kulturen.41 VI. Kulturelle Differenz und Verbrechensaufbau Die Vorstellung einer generell indigenen Schuldunfähigkeit wurde in den 1980er und 1990er Jahren unter dem Eindruck der Anerkennung von Rechten indigener Völker in lateinamerikanischen Verfassungen und internationalen Normen 37  Luis Jiménez de Asúa, Tratado de derecho penal: Concepto del derecho penal y de la criminología, historia y legislación penal comparada, Bd. 1, 3. Aufl. Buenos Aires 1964, S. 956 (Orig.: „¿Es capaz el indio de conocer las ‘normas’ de cultura en que el blanco y el mestizo viven, y de conocer la significación de sus actos exigidos para el dolo? Parece que no.“, Übers. durch Verf. Acosta); ähnlich bereits ders., El derecho penal de los indios, in: El Criminalista, Bd. IV, Buenos Aires 1944, S. 251 – 257. 38  Gericht von Nueva Imperial (Fn. 4), Erwägungsgrund 5. 39  Gericht von Nueva Imperial (Fn. 4), Erwägungsgrund 5. 40  Rossel spricht in diesem Zusammenhang von „Stereotpyen ethnorassischer Diskriminierung“ („estereotipos de la discriminación etno-racial“), vgl. Pablo Rossel Echagüe, Entre la Criminalización y el Diálogo Intercultural, in: Tomo I Actas del 6º Congreso Chileno de Antropología (VI Congreso Chileno de Antropología. Colegio de Antropólogos de Chile A.G., Valdivia 2007), S. 502 – 510, 507. Das bolivianische StGB normierte noch 1973 die generelle ­Unzurechnungs- bzw. Schuldunfähigkeit des „Dschungelindianers“ („indio selvático“), der in keinem Kontakt zur Zivilisation stand. 41  Zu dem von Vorurteilen und Stereotypen geprägten Mapuche-Bild der europäisch geprägten chilenischen Gesellschaft, das die Mapuche als unzivilisiert, arbeitsscheu und alkoholabhängig etc. beschreibt, siehe Maria E. Merino / Daniel Quilaqueo, Ethnic Prejudice against the Mapuche in Chilean Society as a Reflection of the Racist Ideology of the Spanish Conquistadors, in: American Indian Culture and Research Journal 27 (2003), S. 105 – 116; siehe zudem José L. Saiz / M. Eugenia Rapimán / Antonio Mladinic, Estereotipos sobre los mapuches: Su reciente evolución, in: Psykhe: Revista de la Escuela de Psicología 17 (2008), S.  27 – 40.

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zunehmend für diskriminierend und für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit gehalten.42 Eine besondere Bedeutung kommt dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der UN über „eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ zu, das 1991 in Kraft trat und 2008 von Chile ratifiziert wurde. Es normiert u. a. das Recht der indigenen Völker, ihre „Bräuche und Einrichtungen zu bewahren“ (Art. 8 Abs. 1), solange diese in Einklang stehen „mit den durch die innerstaatliche Rechtsordnung festgelegten Grundrechten oder mit den international anerkannten Menschenrechten“ (Art. 8 Abs. 2). Um gleichwohl der besonderen Situation kulturell determinierter indigener Täter gerecht zu werden, wurden diverse strafrechtliche Konzepte entwickelt, die auf verschiedenen Ebenen des Verbrechensaufbaus angesiedelt sind.43 Neben der Forderung nach Anerkennung eines echten gewohnheitsrechtlichen Unrechtsausschlusses44 hat insbesondere das von dem argentinischen Strafrechtswissenschaftler Eugenio Raúl Zaffaroni entwickelte Konzept des kulturell bedingten Verbots­ irrtums („error de comprensión culturalmente condicionado“) große Beachtung gefunden.45 Danach sollte nicht nur die mangelnde Kenntnis einer Verbotsnorm, sondern auch die Unzumutbarkeit ihrer „Verinnerlichung“ („internalización“) durch den Täter taugliche Grundlage für einen Verbotsirrtum sein. Ein beachtlicher und die Schuld ausschließender Verbotsirrtum sei entsprechend auch dann anzunehmen, wenn der Täter das Unrecht der Tat zwar kannte, aber das Verbot 42  Amry, Das Recht auf kulturelle Identität (Fn. 34), S. 16. Im chilenischen Recht gewinnt vor allem das Ley Indígena 19.253 v. 1993 Bedeutung, das es unter anderem erlaubt, in einem Strafverfahren einen indigenen Brauch („costumbre“) strafmildernd zu berücksichtigen (Art. 54). In die chilenische Verfassung wurden indigene Rechte bislang nicht aufgenommen. Über die Anerkennung indigenen Gewohnheitsrechts in Chile siehe Ingo Gentes, Zwischen Gewohnheitsrecht und positivem Recht: Zur Diskussion von indigenem Recht. – Das Beispiel Chile, in: INDIANA 19/20 (2002/2003), S. 197 – 228, 212 ff. 43  Hierzu z. B. Felipe A. Villavicencio Terreros, Tratamiento penal de la diversidad cultural por la justicia estatal del Perú, in: Revue internationale de droit pénal Vol. 82 (2011), S.  559 – 573; Myrna Villegas Díaz, Entre la exculpación y la justificación. Apuntes de legislación comparada latinoamericana sobre pluralismo jurídico y derecho penal, in: Revista de Derecho Valdivia, Vol. XXV N°2, 2012, S. 177 – 205, insbes. 192 ff.; José Luis Guzmán Dalbora, Derecho penal y minorías étnicas: Planteamiento y liquidación criminalista de un problema político, in: Revista de Derecho Penal y Criminología, 3.ª Época, n.º 11 (2014), S. 93 – 118, insbes. 114 ff. 44  Z. B. Amry, Das Recht auf kulturelle Identität (Fn. 34), S. 21. 45  Siehe z. B. Eugenio Raúl Zaffaroni / Alejandro Alagia / Alejandro Slokar, Derecho Penal. Parte General, 2. Aufl. Buenos Aires 2002, S. 736 ff. („error de comprensión culturalmente condicionado“). Zur Rechtsfigur des kulturell bedingten Verbotsirrtums siehe Amry, Das Recht auf kulturelle Identität (Fn. 34), S. 17 ff.; ders., Defensa cultural y pueblos indígenas, aaO., S. 89 ff.; Fabio Basile, Multikulturelle Gesellschaft und Strafrecht: die Behandlung der kulturell motivierten Straftaten, Wien u. a. 2015, S. 416 ff.; José Hurtado Pozo, Schuld, individuelle Strafzumessung und kulturelle Faktoren, in: Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht: Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen. Festschrift für Klaus Tiedemann, Köln u. a. 2008, S. 359 –  373, 363.

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aus kulturellen Gründen („razones culturales“) nicht erfassen konnte. Der Verbots­ irrtum erwies sich vor allem deshalb als anschlussfähig, weil er sich von dem für diskriminierend gehaltenen Konzept der generellen Schuldunfähigkeit indigener Täter löste und die Problematik kultureller Normkonflikte einer Regelung unterwarf, die alle kulturellen Akteure im Grundsatz gleich behandelte.46 Das Konzept des kulturell bedingten Verbotsirrtums fand in der Folge auch vereinzelt Eingang in das Gesetz. So wurde 1991 in Gestalt von Art. 15 eine Regelung in das peruanische Strafgesetzbuch eingeführt, die den Ausschluss der Strafe anordnete, wenn der Täter aufgrund seiner „Kultur oder Brauchtums“ eine Straftat begangen hatte und dabei nicht in der Lage war, das „Unrecht der Tat (…) einzusehen“ oder „gemäß dieser Einsicht zu handeln“.47 VII. Zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung Was ist von diesen Lösungsansätzen zu halten und wie wäre der Fall nach deutschem Strafrecht zu beurteilen? Die Anerkennung eines unrechtsausschließenden gewohnheitsrechtlichen „Rechts auf kulturelle Praxis“ wäre zwar wegen der Unabgeschlossenheit der Unrechtsausschließungsgründe48 und der grundsätzlich zulässigen Analogiebildung zu Gunsten des Täters theoretisch denkbar, würde seine Grenze aber zwingend in den Rechten der von dem Eingriff betroffenen, notwehrberechtigten Dritten finden.49 Denn: Die Anerkennung eines die Tötung legitimierenden „Rechts auf Kultur“ auf Seiten des Täters darf nicht dazu führen, dem Opfer im gleichen Atemzug das Recht auf Verteidigung seines Lebens abzusprechen (sog. „Notwehrprobe“).50 Diese Lösung hätte auch am Maßstab des deutschen Strafrechts Bestand. So wäre beispielsweise eine Rechtfertigung wegen   Amry, Das Recht auf kulturelle Identität (Fn. 34), S. 18.  Dazu Hurtado Pozo, Schuld, individuelle Strafzumessung und kulturelle Faktoren (Fn. 45) S. 362 ff.; ders., Art. 15 del Código penal peruano: ¿incapacidad de culpabilidad por razones culturales o error de comprensión culturalmente condicionado?, in: Anuario de derecho penal 2003, S.  357 – 380; Felipe A. Villavicencio Terreros, Tratamiento penal de la diversidad cultural por la justicia estatal del Perú, in: Revue internationale de droit pénal Vol. 82 (2011), S.  559 – 573; ders., Código Penal Comentado, Bd. I, Lima 2004, S. 490 ff. 48  Für die Rechtfertigungsgründe des deutschen Strafrechts siehe z. B. Hans-Ullrich Paeffgen / Benno Zabel, in: NomosKommentar (Fn. 32), Vor § 32 ff. StGB Rn. 2. 49  Anders mag dies bei nicht-drittschädigenden Verhaltensweisen sein, wie z. B. bei der Zulassung des Kauens von Koka-Blättern („acullico“). Dazu Ignacio Barrientos, Licitud del porte y uso de la hoja de coca, in: Política Criminal, Vol. 3, No. 5, 2008, S. 1 – 30. 50 Eine weitergehende Gefahr für das Prinzip der Rechtsgleichheit wird gesehen von: Andreas Popp, Cultural Defense und Allgemeine Verbrechenslehre, in: Rudolf Rengier / Rikizo Kuzuhara (Hrsg.), Globalisierung und kulturelle Gegensätze im gegenwärtigen Rechtsstaat, Konstanz 2017, S. 85 – 100, 92; Winfried Hassemer, Vielfalt und Wandel eines interkulturellen Strafrechts, in: Otfried Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Ein philosophischer Versuch, Frankfurt am Main 1999, S. 157 – 180, 163 f.; Heike Jung, Pluralismus und Strafrecht – ein unauflösbarer Widerspruch?, in: JZ 2012, S. 926 – 932, 927. 46 47

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rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB ausgeschlossen. Zwar können auch Naturkatastrophen notstandsfähige Gefahren im Sinne der Norm sein, doch würde es bei dem eingesetzten übernatürlichen Mittel (die rituelle Opfer des Kindes) an einer geeigneten Abwehrhandlung fehlen.51 Auch wäre im Rahmen der Interessenabwägung eine Abwägung zwischen den Lebensinteressen des Kindes und denen der übrigen Mapuche-Gemeinschaft aus rechtlichen Gründen unzulässig, weil sich das Rechtsgut Leben jeder quantitativen und qualitativen Abwägung entzieht.52 Die vielversprechendsten Lösungen dürften damit nicht auf Unrechtsebene, sondern auf Ebene der Schuld zu suchen sein. Lässt sich für den konkreten Fall eine Schuldunfähigkeit der indigenen Täter nach § 20 StGB, etwa aufgrund von Rauschzuständen oder psychischer Erkrankungen, ausschließen, könnte auf Schuldebene zunächst ein entschuldigender Notstand nach § 35 StGB in Betracht kommen. Dieser würde allerdings wie schon der rechtfertigende Notstand daran scheitern, dass die zur Abwehr getroffene Maßnahme (die Opferung eines Kindes) von vornherein nicht dazu geeignet war, die Gefahr abzuwenden (nämlich die Naturgewalten zu besänftigen).53 Weitaus schwieriger ist dem gegenüber die Frage zu beantworten, wie ein etwaiger Irrtum über die Abwehreignung des eingesetzten Notstandsmittels einzuordnen ist. Wäre er ein Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen einer Entschuldigung nach § 35 StGB, könnte zu Gunsten des Täters die Irrtumsregelung des § 35 Abs. 2 StGB zur Anwendung kommen, die den „Entschuldigungsumstandsirrtum“ den für den Verbotsirrtum geltenden Regeln unterstellen würde und im Fall der Unvermeidbarkeit zum Schuldausschluss käme. Wäre der Irrtum hingegen als ein Irrtum über die rechtliche Reichweite einer Entschuldigung anzusehen, was wegen der offensichtlichen Untauglichkeit der Rettungshandlung wohl nahe läge, wäre dieser als „Entschuldigungsirrtum“ nach allgemeiner Ansicht unbeachtlich und könnte allenfalls auf Ebene der Strafzumessung zu Gunsten des Täters berücksichtigt werden.54

51  Die Lehre verlangt üblicherweise, dass eine Rettung „nicht ganz unwahrscheinlich“ erscheint. Vgl. z. B. Neumann (Fn. 32), § 34 StGB Rn. 60; Theodor Lenckner, Das Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbarkeit“ der Gefahr in den §§ 34, 35 StGB, in: Wilfried Küper (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987, Berlin u. a. 1987, S.  95 – 112, 99. 52  Neumann (Fn. 32), § 34 StGB Rn. 74; Claus Roxin, Strafrecht. Allg. Teil, 4. Aufl. München 2003, § 16 Rn. 33 f. 53  Zum Erfordernis der Geeignetheit der Abwehrhandlung siehe Neumann (Fn. 32), § 35 StGB Rn. 22. 54  Roxin (Fn. 52), § 22 Rn. 65: Gefahr der „eigenmächtige(n) Verschiebung der Entschuldigungsgrenze“; Neumann (Fn. 32), § 35 StGB Rn. 64; Hans-Heinrich Jescheck / Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allg. Teil, 5. Aufl. Berlin 1996, § 48 I 1 (S. 507).

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VIII. Verbotsirrtum und kulturelle Differenz Eine weitere Rechtsgrundlage für einen Ausschluss auf Schuldebene stellt der schuldausschließende Verbotsirrtum nach § 17 StGB dar, der die Schuld ausschließt, wenn der Täter bei Begehung der Tat in unvermeidbarer Weise die Einsicht fehlte, Unrecht zu tun.55 Die fehlende Unrechtseinsicht kann sowohl auf der Annahme des Täters beruhen, die Tat sei nicht verboten (direkter Verbotsirrtum), als auch darauf, dass die Tat erlaubt sei (indirekter Verbotsirrtum).56 Im vorliegenden Fall könnte ein indirekter Verbotsirrtum in Betracht kommen, wenn und insofern die Mapuche-Täter tatsächlich und erwiesenermaßen der Überzeugung waren, aufgrund ihrer althergebrachten Bräuche zur Opferung des Kindes berechtigt zu sein.57 Entscheidende Frage wäre damit, ob die Täter den Irrtum vermeiden konnten. Dies wäre der Fall, wenn die Täter unter dem Eindruck der konkreten Umstände der Tat und unter Berücksichtigung ihrer individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten Anlass hatten, sich entweder selbst durch Einsatz aller zur Verfügung stehenden „Erkenntniskräfte“ und „sittlichen Wertvorstellungen“58 oder durch das Einholen von Informationen bei kundigen Dritten Kenntnis von den maßstabsetzenden Rechts- und Moralvorstellungen der chilenischen Rechtsordnung zu verschaffen und hierdurch zu der nötigen Rechts- bzw. Unrechtseinsicht zu erlangen.59 Obwohl die Täter ihr ganzes Leben in Chile verbrachten60 (beide waren zum Tatzeitpunkt Mitte vierzig Jahre alt), gibt es einige Gesichtspunkte, die gegen eine 55  Die Anwendung des Verbotsirrtums auf Situationen kultureller Normkonflikte hat bislang nur wenig Beachtung in der deutschen Diskussion gefunden. Siehe aber Neumann (Fn. 32), § 17 StGB Rn. 65 u. 8; Tatjana Hörnle, Kultur, Religion, Strafrecht – neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gutachten für den 70. Deutschen Juristentag, München 2014, S. C 75 ff.; Brian Valerius, Kultur und Strafrecht. Die Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen in der deutschen Strafrechtsdogmatik, Berlin 2011, S. 171 ff.; Tom Frischknecht, „Kultureller Rabatt“: Überlegungen zu Strafausschluss und Strafermässigung bei kultureller Differenz, Bern u. a. 2009, S. 69 ff.; ders., Der Normbruch aus kultureller Verpflichtung – zum Umgang des Strafrecht mit Gewissenstätern, in: Arno Pilgram u. a. (Hrsg.), Einheitliches Recht für die Vielfalt der Kulturen?, Wien 2012, S. 187 – 205, 196 f. 56  Neumann (Fn. 32), § 17 StGB Rn. 47. 57  Anders mag der Fall zu entscheiden sein, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die Mapuche-Täter gleichwohl einen Verstoß gegen staatliches Recht für möglich hielten. In diesem Fall läge ein sog. bedingtes Unrechtsbewusstsein vor, das nach h.M. einen Verbotsirrtum ausschlösse (vgl. zu dieser Diskussion Neumann [Fn. 32], § 17 StGB Rn. 33 f., der sich gleichwohl gegen den Ausschluss des Verbotsirrtums in diesen Fällen ausspricht). Eine etwaige abergläubische „Berechtigung“ zur rituellen Opferung des Kindes wurde seitens des Gerichts nicht in Betracht gezogen; ihre Erfassung im Rahmen von § 17 StGB ist umstritten (dafür Neumann [Fn. 32], § 17 StGB Rn. 47; BGHSt 35, 347, NJW 1989, 912, 913 – Katzenkönig, h.M.; krit. Schönke / Schröder / Sternberg-Lieben / Schuster, 30. Aufl. München 2019, § 17 StGB Rn. 4). 58  BGHSt 4, 1. Auf das in der älteren Rechtsprechung (z. B. BGHSt 2, 194) entwickelte Kriterium der „Gewissensanspannung“ wird zunehmend verzichtet. Hierzu Neumann (Fn. 32), § 17 StGB Rn. 57. 59  Zu den Voraussetzungen der Vermeidbarkeit siehe Neumann (Fn. 32), § 17 StGB Rn. 62 ff.

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vermeidbarkeitsbegründende Lage sprechen. Hierzu gehört insbesondere, dass die Täter durch ihr Aufwachsen in der traditionsverbundenen Mapuche-Gemeinschaft vom Budi-See eine Sozialisation erfahren haben, die Zweifel daran begründet, ob sie die maßstabsetzenden Rechts- und Moralvorstellungen der chilenischen Rechtsordnung in einem ausreichenden Maße internalisiert haben.61 Neben der identitätsstiftenden Bedeutung von Brauchtum und Tradition für die eigene kulturelle Identität dürfte insbesondere der geringe Bildungsstand der Täter (sie waren Analphabeten) und die Lebensweise als einfache Bauern beachtenswerte Hindernisse einen solchen unzureichenden Internalisierung darstellen. Zusammen mit den außergewöhnlichen Tatumständen des apokalyptischen Erdbebens, das die wirkliche und spirituelle Welt der Täter in vielerlei Weise in ihren Grundfesten erschütterte, spricht im vorliegenden Fall vieles dafür, zu Gunsten der Täter anzunehmen, dass diese in der konkreten Tatsituation keinen Anlass hatten, sich durch eigenes Nachdenken oder durch das Einholen von Auskünften aus ihrer internalisierten Fehleinschätzung zu befreien und zu der nötigen Rechts- bzw. Unrechtseinsicht zu kommen. Den Mapuche-Tätern hätte damit in unvermeidbarer Weise die Einsicht gefehlt, Unrecht zu tun, und würde damit zu Schuldausschluss und Freispruch führen.

60  Es kam damit von vornherein kein Verzicht auf Strafverfolgung in Betracht, wie dies vereinzelt für (z. B. dschungelbewohnende) Indigene für möglich gehalten wird, die in keinem Kontakt zur „Zivilisation“ stehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Mapuche vom Budi-See in der Erklärung einer Mapuche-Organisation als extrem rückständige „Urwald-Ureinwohner“ („aborígenes selváticos“, „sumamente atrasada“) beschrieben werden (vgl. Declaración del movimiento de unificación Araucana [gerichtet an den Mediziner und Anthropologen Alejandro Lipschutz], in: Anales de la Universidad de Chile 1960, wiederabgedruckt in: Anales de la Universidad de Chile, Séptima Serie, Nr. 1, Mai 2011, S. 239 – 241). 61 Die Beantwortung dieser Frage setzt ein umfassendes Wissen von den individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten der Täter und von deren Lebensverhältnissen innerhalb der Mapuche-Gemeinschaft voraus. In prozessualer Hinsicht dürfte hier insbesondere der Einbeziehung von (ethnologischen, psychologischen) Sachverständigen eine besondere Rolle zukommen. Die Forderung nach Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise wurde auch seinerzeit durch eine Mapuche-Organisation öffentlich erhoben, um der Entstehung etwaiger Vorurteile gegenüber Indigenen vorzubeugen (vgl. Declaración del movimiento de unificación Araucana [Fn. 60]). Zur Bedeutung der Einbeziehung insbesondere ethnologischer Sachverständiger im Rahmen eines interkulturellen Strafrechts siehe Alison Dundes Renteln, The Cultural Defense, Oxford u. a. 2004, S. 206: „Ascertainment of Cultural Information“; Georgios Sotiriadis, Vorüberlegungen zur kulturellen Differenz und strafrechtlichen Verantwortlichkeit, in: Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft: Jg. 1, H. 2, 2015, S. 143 – 164, 152; allg. zu ethnologischen Gutachten Werner Schiffauer, Zur Problematik ethnologischer Gutachten, in: Gerhard Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Bd. 3, Frankfurt / Oder 2000, S. 93 – 110. Zu den Anforderungen an ein interkulturell aufgeklärtes Strafverfahren siehe zudem Eric Hilgendorf, Kulturelle Pluralisierung und Gerichtsverfahren. Anforderungen an eine interkulturell aufgeklärte Justiz – eine Skizze unter besonderer Berücksichtigung der Strafjustiz, in: Eric Hilgendorf / Rudolf Rengier (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Heinz zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2012, S. 857 – 870.

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IX. Unvermeidbarer Verbotsirrtum zwischen Schuld und Prävention Obwohl damit eine für den Einzelfall befriedigende dogmatische Lösung gefunden zu sein scheint, bleibt die Frage offen, ob und ggf. welche Grenzen es für die von der Strafrechtsordnung schuldausschließend berücksichtigte (unvermeidbare) Unkenntnis rechtlicher Verbote gibt. An der Notwendigkeit einer Grenzziehung ließe sich zweifeln, weil prima facie nicht nur die Verbotsunkenntnis als solche62, sondern auch der Schuldausschluss kraft unvermeidbaren Verbotsirrtums desavouierende Wirkung für den mit der betroffenen Norm bezweckten Rechtsgüterschutz haben kann.63 Gleichwohl lässt sich der Schuldausschluss auch aus positiv-generalpräventiven Gründen stützen: Dies ist insbesondere der Fall, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Freispruch eines wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums zwar tatbestandsgemäß und rechtswidrig, aber schuldlos handelnden Täters den mit der betroffenen Norm bezweckten Rechtsgüterschutz ernsthaft in Frage stellt. Nach Timpe könne eine solche Gefährdung insbesondere dann ausgeschlossen sein, wenn der Täter grundsätzlich „normbefolgungsbereit“ sei und dessen Irrtum „nicht den Geltungsgrund positiven Rechts“ desavouiere, sondern „den Täter“ selbst. In diesen Fällen müsse „zur Bestätigung der Normgeltung nicht auf den Täter zurückgegriffen werden“.64 Die „Gefahr eines Anschlusses an die Tat“ sei hier, so Timpe, „gering“, weil sie „allgemein als (…) individuell sinnloses Unternehmen verstanden“ werden könne und „daher keine Strafe, sondern ‚Nachsicht und … Mitgefühl‘ verdiene.“65 In ähnlicher Weise hält auch Ulfrid Neumann die Anerkennung der Unvermeidbarkeit „im Kernbereich strafrechtlich geschützter Normen“ für möglich, wenn es gelinge, „diese Unkenntnis mit Gesichtspunkten zu erklären, die den Täter als unmaßgeblich erscheinen lassen“.66 Bei der Frage, welche alternativen Verantwortlichkeitszuschreibungen sich denken lassen, nennt Timpe als „funktionale Äquivalente“ die Erklärung des Konflikts als Versagen dritter Personen oder die Erklärung als Zufall.67 In unserem Fall wäre das zum Beispiel das Versagen der 62  Neumann (Fn. 32), § 17 StGB Rn. 6: „norm-destabilisierend(e) Tendenz der Verbotsunkenntnis“. 63  Siehe etwa Neumann (Fn. 32), § 17 StGB: „Jeder Freispruch, der auf einen Verbotsirrtum gestützt wird, schwächt indirekt die Geltungskraft der betroffenen Norm, weil er das Eingeständnis mangelnder Evidenz dieser Norm enthält“ (Rn. 5); ähnl. Hans-Joachim Rudolphi, Das virtuelle Unrechtsbewußtsein als Strafbarkeitsvoraussetzung im Widerstreit zwischen Schuld und Prävention, in: Institut für Konfliktforschung (Hrsg.), Unrechtsbewußtsein. Aus der Sicht des Täters. Aus der Sicht des Richters, Basel u. a. 1982, S. 1 – 29, 22: „gewisses Strafbarkeitsbedürfnis“; Rudolphi sieht in diesen generalpräventiven Gründen auch den Grund für die große Zurückhaltung der Rechtsprechung bei der Anerkennung eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (aaO., S. 26 f.). 64  Gerhard Timpe, „§ 17 ist zu hart“ – Ist § 17 zu hart?, in: HRRS 2016, S. 541 – 549, 547. 65  Timpe (Fn. 64), S. 547 mit Zitat aus der Nikomachischen Ethik von Aristoteles. 66  Neumann (Fn. 32), § 17 StGB Rn. 6; s.a. Frischknecht (Fn. 55), der darauf abstellt, dass „ein anderes System mit dem Konflikt belastet“ werden kann (S. 325). 67  Timpe (Fn. 64), S. 548 Fn. 76.

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chilenischen (Mehrheits-)Gesellschaft bei der Anerkennung und Integration ihrer indigenen Minderheiten.68 Eine Ausnahme des Schuldausschlusses bei der Unkenntnis rechtlicher Verbote wird man wohl nur in (den seltenen und hier nicht einschlägigen) Konstellationen vorwerfbarer Verbotsunkenntnis zulassen können.69 Klassische Topoi solche „belastender“ Gründe sind die vorwerfbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht (sog. Rechtsblindheit; „ignorantia crassa“, d.h. grobe Unkenntnis) und die willentliche Unkenntnis des Rechts (sog. Rechtsfeindschaft, „ignorantia affectata“, d.h. gekünstelte Unwissenheit).70 In beiden Konstellationen ist die Strafbarkeit Ausdruck für das Fehlen der bei jeder Person zu unterstellenden „Normbefolgungsbereitschaft“.71 X. Erinnerungen zwischen Wahrheit und Mythos Die dramatischen Geschehnisse von 1960 sind bis heute Teil des kollektiven Gedächtnisses der Mapuche-Gemeinschaft. Einen Beitrag zur Bewahrung der historischen Tatsachen dieser Erinnerungen, die mittlerweile auch Eingang in die Legendenbildung gefunden haben, hat die Sozialanthropologin Natalia Caniguan, Direktorin des „Instituto de Estudios Indígenas“ der Universidad de La Frontera in Temuco, geleistet. Sie veröffentlichte 2013 unter dem Titel „Relatos del Sacrificio 68  In dem schon erwähnten Fall aus dem Jahr 1953 (o. Fn. 18) hatte eine anthropologische Sachverständigenkommission eine „Mitschuld“ der Gesellschaft proklamiert: „Im Übrigen ist zu ergänzen, dass die Verantwortung für die begangene Tat allein bei unserer Gesellschaft liegt, die über so viele Jahre hinweg verschiedene Kerne indigener Völker in völliger kultureller Abkehr gehalten hat und hält.“ (Orig.: „Nos permitimos agregar que la responsabilidad por el acto perpetrado por la reo es únicamente nuestra, es decir, de nuestra sociedad, la cual a través de tantos años continuaba y continúa manteniendo a diversos núcleos de indígenas en abandono cultural completo.“ (Boletín Indigenista 15 [1955], S. 166, freie Übersetzung d. Verf. Acosta, Fehler des Orig. korrigiert). 69  Hierzu z. B. Teresa Manso Porto, Normunkenntnis aus belastenden Gründen, Baden-Baden 2009, insbes. S. 54 ff., 128 ff. mit Bspr. Ulfrid Neumann, ZIS 2010, S. 454 – 456; s.a. Günther Jakobs, Strafrecht. Allg. Teil: Die Grundlagen und die Zurechnungslehre. Lehrbuch, 2. Aufl. Berlin u. a. 1991, 19. Abschn. Rn. 49; dogmengeschichtlich und materialreich Carl-Friedrich Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht: Versuch einer Elementarlehre für eine übernationale Vorsatzdogmatik, Berlin 2007, Anhang S. 501 ff., passim. 70  Keine Verbots„unkenntnis“ im engeren Sinne betrifft die Gewissens- oder Überzeugungstäterschaft, die nicht auf fehlender Kenntnis, sondern auf der mangelnden Anerkennung eines Verbots aus politischen, religiösen oder sonstigen Gründen beruht. Zu ihr insbes. Michael Köhler, Strafrecht. Allg. Teil, Berlin u. a. 1997, S. 425 ff.; Neumann [Fn. 32], § 17 StGB Rn. 40 ff. 71  Timpe (Fn. 64), S. 545 Fn. 54. Die Implikationen dieser Grundannahme für das System strafrechtlicher Verantwortungszuschreibung kann hier nicht weiterverfolgt werden. Siehe einerseits Roxin (Fn. 52), § 19 Rn. 42: Schuld als deliktisches Handeln trotz „normativer Ansprechbarkeit“; andererseits Günther Jakobs, Gleichgültigkeit als dolus indirectus, in: ZStW 114 (2002), S. 584 – 599, 584: Schuld als „mangelnde Rechtstreue“.

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en el Budi“ (Erzählungen über das Opfer vom Budi-See) eine Quellensammlung aus zeitgenössischen Zeitungsberichten, wissenschaftlichen Aufsätzen und Interviews mit Zeitzeugen und deren Nachfahren.72 Mittlerweile ist der Fall sogar literarisch verarbeitet worden.73 So brachte etwa im Jahre 2018 die chilenische Theatergruppe „Lafamiliateatro“ ein Theaterstück mit dem Titel „Painecur“ auf die Bühne.74 Das Stück, geschrieben und inszeniert von dem chilenischen Theatermacher Eduardo Luna und benannt nach dem Familiennamen des Opfers, handelt von einer Gruppe von Jurastudenten im Chile der Gegenwart, die von ihrem Professor die Aufgabe bekommen, den Prozess um den Ritualmord vom Budi-See zu rekonstruieren. Die Recherchen verlaufen nicht ohne Konflikte und führen den Studenten ihre Vorurteile und Distanz gegenüber der andersartigen Lebenswelt der Mapuche vor Augen. Dramaturg Eduardo Luna stützte sich bei der Ausarbeitung des Drehbuchs auf zeitgenössische Quellen und wissenschaftliche Literatur und führte zur Vorbereitung auch Interviews mit Zeitzeugen wie etwa dem fast 80jährigen Mapuche-Dichter Lorenzo Aillapán, der bereits in den achtziger Jahren den Journalisten Patrick Tierney bei dessen Recherchen unterstützt hatte.75 Die Kritik lobte das Stück und bescheinigte ihm, in geschickter Weise die „Krise“ zwischen der „hegemonialen Rationalität“ des chilenischen Verständnisses von Gerechtigkeit einerseits und der „Art der Wahrnehmung von Realität, Weltanschauung und spiritueller Dimension“ der Mapuche andererseits deutlich werden zu lassen, ohne dabei in den Gestus der „Denunziation oder Bevormundung“ zu verfallen.76 Vielleicht ist es letzten Endes die Literatur, die es mehr als das Recht und alle Wissenschaften vermag, die Barriere zwischen westlich-abendländischer und indigener Weltsicht, zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“, zu überwinden.

 Vgl. Caniguan (Fn. 15).   Erdbeben sind spätestens seit Heinrich von Kleists „Erdbeben von Chili“ (1807) dramaturgisches Requisit. Auch bei Kleist wird ein Kind in einer von einem Erdbeben verheerten Welt (in Chile!) getötet. Anders jedoch als in unserem Fall wird das Kind bei Kleist nicht durch verzweifelte Indigene getötet, sondern durch einen Lynchmob der katholisch-chilenischen Bevölkerung. 74 Hierzu Jorge Letelier, „Painecur“: el racionalismo hegemónico puesto a prueba, in: culturizarte v. 19. 01. 2018; https://culturizarte.cl / critica-de-teatro-painecur-el-racionalismo-hegemonico-puesto-a-prueba/; Meritxell Freixas, „Painecur“: La historia del niño mapuche sacrificado para detener el terremoto de Valdivia de 1960, in: El Desconcierto v. 19. 01. 2019, https:// www.eldesconcierto.cl / new/2018/01/19/painecur-la-otra-version-de-la-historia-del-nino-mapuche-sacrificado-para-detener-el-terremoto-de-valdivia-de-1960/. 75 Aus Aillapáns Feder stammt auch ein Gedicht mit dem Titel „Cerro que da al mar del mundo“ (dt. Der Hügel mit dem Blick auf das Meer der Welt). Vgl. Lorenzo Aillapán, Hombre Pájaro, La Habana 1994; abgedruckt bei Caniguan (Fn. 15), S. 68 f. 76  Letelier (Fn. 74). 72 73

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Summary How should the criminal law deal with perpetrators who, due to of their different cultural background, are not reached by the preventive function of the Criminal Code, and even consider themselves justified for disobeying its prohibitions? This question stands in the focus of a cause célèbre involving a ritual human sacrifice of a child by Mapuche indigenous people during the Great Chile Earthquake of 1960. The Chilean court surprisingly acquitted the indigenous perpetrators from the charge of homicide saying thery were not able to act rationally in a situation of imminent danger. This article examines the historical and legal context behind the famous Chilean criminal case and discusses the limits of intercultural criminal law.

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Paul Gragl, Legal Monism. Law, Philosophy, and Politics, Oxford University Press, Oxford, New York, 2018, 416 pp. Adis Selimi

The relationship between national and international law is a central issue in debates on international relations, law and ethics. Recent political events like the rise of populist movements in the US and Europe that challenge multilateral cooperation and international obligations have again shown the practical necessity to investigate the theoretical foundations of international law. Two concepts have traditionally dominated attempts to clarify the connection between state legal orders and international law: monism, which holds that international law and the legal orders of the individual states are both part of a single comprehensive legal system; and dualism (or pluralism because of the variety of national legal systems), whose proponents argue that national and international law are distinct legal orders with different sources of validity, respectively. As the title suggests, Paul Gragl’s book Legal Monism: Law, Philosophy, and Politics is a detailed elaboration and defense of the former. After the introduction (pp. 3 – 18), Gragl starts his argument in chapter two with a historical and systematic overview of the two theoretical groups that capture the relationship between national and international law quite differently. For both monism (pp. 19 – 34) and dualism / pluralism (pp. 34 – 54), he summarizes the major intellectual roots and most important positions. In the case of monism, for example, Gragl follows the roots of the theory back to the state-centered legal philosophy of Hegel (p. 22 et seq.), who argued that the validity of all laws (including international law) must be traced back to the will of the state. He then moves on to the modern theories of the Vienna School of Jurisprudence, most notably Hans Kelsen’s pure theory of law (pp. 30 – 33), which, contrary to Hegel’s ideas, offers a strictly epistemological-positivist account of international law. For dualism, Gragl focuses on the writings of Heinrich Triepel (pp. 35 – 37) and Dionisio Anzilotti (p. 37 et seq.), who both upheld the principle of state sovereignty. Both figures also represent two distinct approaches to dualism, the radical approach (Triepel), according to which national and international law are two separate spheres that barely interact with each other, and the moderate approach (Anzilotti), whose proponents argue that international legal norms should be and de facto are incorporated into national legislation. For the competing theories, Gragl does not only outline differences between positivist and non-positivist theories of law, but also of different accounts of primacy, namely the question which of the two bodies of law, national and international law, should be considered superior regarding its validity. Chapters three to five offer three distinct arguments in favor of legal monism: a) legal monism is an epistemological necessity; b) legal monism is an adequate theory to describe the actually existing relationships between different bodies of law; c) legal monism is morally superior to both dualism and pluralism. Central for Gragl’s epistemological argument in chapter three is the idea, borrowed from Kelsen, that two norms with opposing contents cannot both be valid in the same system at the same time, as this would make compliance with both norms logically impossible (pp. 74 – 76). According to the legal Stufenbaulehre (theory of hierarchical structure), legal norms form a system in which the validity of all norms is derived from higher norms, and the validity of the entire system itself must be derived from a presupposed Grundnorm (basic norm). The acceptance of the Grundnorm is in turn a necessary and sufficient condition for the validity of the legal system in question (pp. 70 – 74). If one accepts that international law really is law – and Gragl gives good reasons to do that (pp. 102 – 104) – logical non-contradiction when analyzing different bodies of law can only be achieved by uniting the sources for validity of both national and international law, and thereby adopt a monist standpoint. Otherwise, one

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would be forced to use the term validity inconsistently, because its meaning would depend on the subject matter, that is, it would change when referring to either norms of national or international law (p. 106 et seq.). As Gragl outlines in the introduction, advocates of dualist and pluralist theories therefore commit the logical fallacy of equivocation (p. 15). This argument is very much in line with Kelsen’s traditional theory of legal monism. Based on some of his earlier writings, Gragl convincingly defends this position against the classical criticism of H. L. A. Hart (pp. 130 – 139) and Joseph Raz (pp. 139 – 145). The point at which Kelsen’s and Gragl’s concepts of legal monism diverge is the question of primacy. Kelsen famously argued in favor of the Wahlhypothese (choice hypothesis), according to which the question of legal supremacy of either national or international law ultimately rests on the choice of political doctrine (cosmopolitanism vs. nationalism) and cannot be settled by legal arguments, as both the primacy of national and international law can adequately describe the content of both systems and their relationship to each other. Contrary to Kelsen, Gragl argues that only the primacy of international law can be seen as an adequate theoretical foundation of the international legal system (pp. 110 – 112). Besides a political argument, which essentially entails that the primacy of international law would promote pacifism and cooperation, he gives two norm-logical reasons for this: First, if sovereignty implies highest legal authority, then every state regards its own legal system as supreme, and thereby cannot recognize the other states as sovereign equals (p. 111). Second, Gragl argues that if a state considers its own legal system as supreme, it cannot be bound by international obligations, because it would possess the legal power to render such obligations null. The primacy of national law would therefore make it impossible to uphold international treaty law and its corresponding obligations (p. 112). Although I agree with Gragl’s general argument in favor of legal monism, I find his argument for the necessary primacy of international law not convincing. Gragl follows Joseph Starke in adopting Kelsen’s three circles theory of federal constitutions in his analysis of international law (p. 119 et seq.). According to this approach, the federal constitution has to be considered the highest normative sphere, overarching the legal norms of both the federal state and the single states, which are considered to be at the same hierarchical level. The relationship between the bodies of law and the question of supremacy in cases of conflict is governed by norms of the constitution. Similarly, Gragl argues that the relationship between national and international law is governed by the constitutional norms of international law, which have to be accepted as the highest legal authority to adequately describe the phenomena of international obligations and equal sovereignty. But the three circles approach can equally be adopted to describe the relationship between international and national law under the primacy of national law. In this case, the constitutional norms of the state in question are accepted as the highest legal authority, while both state law and international law derive their validity from the state’s constitution. The state as a political actor is bound by its own constitutional norms that it considers authoritative. Just as in the case of international law primacy, the state in question could be legally forced to comply with its international obligations, because its constitutional norms would clarify in which cases the state has to fulfill its legal duties. Fundamental constitutional norms like these are not changed regularly or easily, and that means that there is a good chance that states will comply with their international obligations. Kelsen himself offered such a reading of the primacy of state law in an essay called Sovereignty, arguing that only the state legal order in a broad sense (meaning the fundamental constitutional framework) can be considered sovereign, not the state legal system in the narrow sense. Contrary to Gragl’s criticism, a theory of state law primacy can therefore adequately describe why states are bound to comply with international norms.

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In a similar vein, it is possible to find an answer to Gragl’s second objection, the impossibility of equal sovereignty of states in a theory of state law primacy. While it is true that the pure theory of law can only acknowledge one legal order as sovereign, because sovereignty refers to the highest legal authority (of which there cannot, as the term implies, exist multiple instances), it is possible to argue that plain state law and the legal systems of other states are hierarchically equal, and that their relationship to each other is governed by the state’s constitution. The constitutional norms in question would determine under which conditions international treaties and customary obligations are valid, and this would bind both the state in question as a political actor and other states. This would, in turn, mean that the different states must be considered legal equals, because they are all equally subject to the constitutional norms of the state legal order that is accepted as sovereign. The fourth chapter of Gragl’s book attempts to show that the theory of legal monism fits international legal practice, which means that it can be an adequate framework to analyze how international courts, treaties and conventions conceive the relationship between different bodies of law. Working within a correspondence theory of truth (pp. 151 – 153), Gragl demonstrates how different constitutional provisions and institutional arrangements, especially the law of the European Union (pp. 212 – 290), can be interpreted from a monist standpoint, thereby showing that monism, contrary to classical dualistic and pluralistic criticism, is of practical value. Chapter five makes a moral case for legal monism, arguing that it favors pacifism, democratization and international rule of law, all of which are normally considered morally valuable for themselves. Gragl is aware that it is counterintuitive to offer moral arguments in defense of the pure theory of law, even calling this approach somewhat “heretical” (p. 293). He justifies this line of his argument by referring to the tradition of lex ferenda, the part of jurisprudence that deals with the question of how the law should be (p. 291), and is also quoting Kelsen’s statement that lawyers should engage in other subjects like sociology, history and (presumably) ethics to fully understand the material they work with (p. 296). But while it is true that legal positivism is compatible with the moral critique of existing legal institutions – a point both Kelsen and Hart emphasized in their theories of law – it is not clear whether one can both be a positivist and at the same time accept moral arguments for a certain legal theory, and that is what legal monism fundamentally is. Kelsen himself emphasized that the monistic approach to international law is the consequence of a certain understanding of jurisprudence as a science of norms, not a moral foundation for political cosmopolitanism. This is why Kelsen argued that both monism and dualism can adequately describe the creation of strong international institutions or even a world state (if this is desirable), and that the decision for monism is not motivated by moral arguments. If one chooses a certain legal-theoretical standpoint because of its positive moral consequences, one must abandon the positivist project and adopt a non-positivist view of legal science. Gragl does not make clear what his standpoint on this problem is. Despite my criticism, I recommend this book to everybody interested in the theoretical foundations of international law and the political and moral questions related to this topic. Legal Monism is an elaborate and strong reformulation of one of the classical positions in international legal theory. Adis Selimi

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Michael Köhler, Recht und Gerechtigkeit. Grundzüge einer Rechtsphilosophie der verwirklichten Freiheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, 915 S. Stefan Schick

Michael Köhler entwirft in seinem Werk Recht und Gerechtigkeit ein vollständiges System eines am Begriff der Gerechtigkeit orientierten Rechts. Ein solches Recht wäre dann realisiert, wenn alle interpersonalen Handlungszusammenhänge so durch positives Recht geordnet wären, dass jedem Rechtssubjekt die ihm gemäße Freiheit zur Selbstbestimmung gesichert wäre. Der Gehalt der Gerechtigkeit ist damit ein selbstbestimmter Wille, der sowohl individuell als auch institutionell durch Gesetze bestimmt ist, die er als seine je eigenen begreifen kann. Ein gerechtes Recht muss also am Prinzip der Freiheit als Autonomie orientiert sein (36). Das Recht in all seinen Teilgebieten kann sich nach Köhler deshalb nicht an disparaten Gründen und Prinzipien orientieren, sondern muss sich systematisch aus einer Differenzierung des Prinzips freiheitlicher Selbstbestimmung entwickeln lassen (3). Die rechtliche Institutionalisierung eines derart gerechten Rechts würde letztlich den universalen Freiheitszustand der gesamten Menschheit realisieren. Im Entwurf seines Systems hält sich Köhler dabei strikt an die nach Dieter Henrich „wohl wichtigste Grundmaxime kritischen Philosophierens“: „Irrtümer, die als solche philosophisch sind, dürfen nicht nur abgewiesen werden; es ist vielmehr aufzuklären, woher sie samt der Überzeugungskraft eigentlich aufkommen, die auch ihnen wirklich eignet. Darum ist das Verhältnis der kritischen Integration auch noch zu den Irrwegen des Denkens im Grunde ein Affirmatives.“1 In diesem Sinne integriert Köhler neben zahlreichen aktuellen Positionen auch zentrale historische rechtsphilosophische Ansätze in sein System: von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin über Thomas Hobbes, John Locke und Karl Marx bis hin zu John Rawls und dem gegenwärtigen Kommunitarismus. Seine Hauptgewährsmänner sind allerdings Kant und Hegel. Kant liefert hierbei vor allem das für alles Recht maßgebliche Prinzip subjektiver Autonomie, an Hegel orientiert sich Köhler in seiner systematischen und institutionellen Ausfaltung dieses Prinzips (147). Auch die Auseinandersetzung mit philosophischen Konzeptionen und der Geschichte des Rechts selbst trägt deutlich Hegelsche Züge: Die Geschichte des Rechts begreift Köhler als Fortschritt im Bewusstsein der Idee universaler Freiheit. Hegel depotenziert nach Köhler jedoch Kants Autonomieprinzip zugunsten der Gemeinschaft (59). Hiergegen setzt Köhler ein Rechtssystem, das durch die Struktur wechselseitiger Anerkennung individueller Autonomie geprägt ist. I. Autonomie als Prinzip von Recht und Gerechtigkeit Köhlers Anspruch klingt heutzutage beinahe hybrid: Recht und Gerechtigkeit sollen in ihrer Gesamtheit global durch das Prinzip vernünftiger Selbstbestimmung und nicht durch vernünftelnde Abwägungen begründet werden (5; 7). Die praktische Vernunft, der Wille zur eigenen Freiheit und der aller Anderen, gilt ihm dabei als Grundlage aller im hic et nunc verwirklichten Gerechtigkeit. Gegen Kritiker, die in der Berufung auf eine universale Vernunft ein bloßes Herrschaftsinstrument des Westens sehen, macht Köhler deutlich, dass Vernunft und Freiheit immer noch das beste Gesprächsangebot sind, das Menschen anderen Menschen im Rechtsdiskurs machen können. Das Recht muss nämlich in einer für alle ihm unterworfenen Individuen 1  Dieter Henrich, „Selbstaufklärung der Vernunft“. In: Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, 43 – 64, 50.

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einsichtigen Weise allgemeingültig begründet werden, damit es dem Subjekt nicht bloß als äußere Macht gegenübertritt (109). Ansonsten ist das Recht nicht Organ der Freiheit, sondern ein bloßes Zwangsinstrument faktischer Machtverhältnisse (10). Damit hört es aber auf Recht zu sein. Ein gerechtes Recht wäre gar nicht möglich, wenn der Mensch nicht aufgrund seiner Vernunftnatur nach allgemeinen Freiheitsgesetzen selbstbestimmt handeln, sich von seinen Privatinteressen distanzieren und das Recht der Freiheit des Anderen anerkennen könnte (27 ff.). Die praktische Vernunft ist so für Köhler nicht nur Instrument der persönlichen Nutzenmaximierung, sondern intendiert die allgemeingültige Richtigkeit des eigenen Handelns. Nur in einem durch objektive Allgemeinheit bestimmten normativen Handeln erkennen sich Subjekte wechselseitig als autonome Vernunftwesen an, die Zwecke an sich und nicht nur Mittel zur Realisierung eigener Zwecke sind (31 ff.).2 Vernunft und Freiheit sind dabei bei Köhler nicht bloße „Abstraktionendichtung[en]“,3 sondern verwirklichen sich sozial konkretisiert in allen reziproken, „die Individuen freisetzenden Anerkennungsverhältnissen“ (9; 54). Wie für Hegel ist für Köhler jedes positive Recht, sofern es auf dem Prinzip der Selbstbestimmung gründet, eine Verwirklichung vernünftiger Freiheit. Dabei ist das Prinzip der Freiheit der Anspruch, an dem sich jedes positive Recht messen muss (69; 167). Dieses Prinzip kann sich jedoch nur historisch unter divergierenden empirischen Bedingungen verwirklichen (17). Gerade weil es aber formal und nicht inhaltlich bestimmt ist, gibt es Raum für kulturelle, religiöse etc. Konkretisierung (14). Der Rechtspositivismus anerkennt nach Köhler dieses Moment der notwendigen Konkretisierung des Rechtsprinzips durch die empirischen Bedingungen, in denen Individuen und Institutionen leben. Er kann jedoch nicht die substantielle Normativität und den Sollenscharakter des Rechts begründen (113 f.). Weil dem Positivismus ein Gerechtigkeitsmaßstab fehlt, wird das Recht zum Medium der Durchsetzung machtbewehrter Interessen (116). Demgegenüber muss sich für Köhler im empirisch konkretisierten Recht immer das Prinzip der Selbstbestimmung realisieren. So ist jedes positive Recht einerseits als Realisierungsform des Prinzips der Freiheit anzuerkennen, andererseits unter Bezug auf das Recht subjektiver Freiheit hin zu transzendieren (172). II. Das Recht der Freiheit Aus dem Recht auf individuelle Selbstbestimmung ergibt sich zwangsläufig, dass Gegenstand des Rechts nur äußere, interpersonale Handlungen sein können. Alle Bereiche, in denen das äußere Handeln einer Person mit dem einer anderen kollidieren kann, müssen durch rechtliche Normen organisiert werden. Da jeder Mensch eine besondere Vernunftexistenz mit besonderen Zwecken ist, sind Konflikte selbst ohne bösen Willen unvermeidlich. Diese möglichen Konflikte müssen durch rechtlich organisierte äußere Freiheitsbeschränkungen und entsprechende Handlungsfreiheiten vermieden werden. Das Recht koordiniert nach Köhler also äußere Freiheitssphären und begründet damit gesetzlich personale Freiheitsverhältnisse (124 ff.). Im Prozess der Rechtsentwicklung muss die gleiche Freiheit aller permanent zu sich konkretisierender Freiheitseröffnung vervollkommnet werden (130; 140). Das 2  Habermas Diskurstheorie lebt deshalb für Köhler bereits von Voraussetzungen, die sie in ihrer diskursiven Begründung des Rechts zwar notwendig voraussetzt, aber nicht selbst begründet. Denn der Diskurs setzt für sein Funktionieren bereits vordiskursive Rechtsverhältnisse wie die wechselseitige Anerkennung der Diskursteilnehmer in ihrem Recht auf Freiheit voraus (102). 3  Johann Gottfried Herder, Werke. 10 in 11 Bänden. Bd. 8, Frankfurt am Main: DKV, 1998, 644.

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Recht kann dabei nicht ohne Rechtszwang gegen Freiheitsverletzungen gedacht werden. Hier liegt nach Köhler jedoch keine Heteronomie vor, solange das Recht auf dem Freiheitsprinzip gründet und interpersonales Handeln allgemeingültig regelt. Rechtszwang bringt dann nämlich gerade die Geltung des Rechts und damit das Dasein der äußeren Freiheit auch der Betroffenen zur Geltung (158 f.). Der Betroffene wird damit noch im Zwang als Mitkonsti­ tuent des Rechts anerkannt. Da das Recht nach Köhler nur das Verhältnis äußerer Handlungen im Hinblick auf ihre Kompatibilität mit dem Handeln anderer regeln darf, muss es sowohl von ethischen als auch pragmatischen Zwecken bzw. gesellschaftlichen Interessen abstrahieren (51; 108). Das Recht ist kein Instrument zur Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen, sondern zur Realisierung individueller Selbstbestimmung (142). Jede Kontamination des Rechts mit solchen Zwecken und Interessen lädiert jedoch das Recht dieser Selbstbestimmung (4). Das freiheitliche Recht beschränkt sich deshalb bei Köhler auf die Garantie äußerer Freiheitsbedingungen (51; 133). Es setzt keine Bedürfnisse, Wünsche oder Interessen durch. Aber auch eine zwangsbewehrte Ethik, wie Köhler sie bei Rawls findet (99), würde das Recht des Individuums auf ethische Selbstbestimmung durch ethische Bevormundung ersetzen. Das legitime Recht der Besonderheit und seiner individuellen Interessen bringt nach Köhler besonders der Hobbessche Empirismus zur Geltung, indem er das Wohl aller zum Zweck der Staatsgründung macht. Aber weil er diesen Zweck auf die Selbsterhaltung des Individuums reduziert und nicht als allgemeine Freiheitssicherung bestimmt, kann er keine allgemeingültigen rechtlichen Normen begründen. Das Recht des Individuums geht unter im absoluten Machtstaat (71; 75 f.). Dieses empirische Erbe kontaminiert nach Köhler auch den Utilitarismus und sein Prinzip der allgemeinen Nutzenmaximierung. Seine Berechnungsregel zur Koordinierung von Nutzeninteressen tendiert zum Unrecht, weil sie individuelle Rechtspositionen in einer sozialen Rechnung zu Gunsten der Vielen negiert. Der Nutzen und die Interessen Vieler legitimieren jedoch keinen Eingriff in das Freiheitsrecht des Einzelnen (80 ff.; 145). Eine naturrechtliche oder theologische Begründung des Rechts widerspricht nach Köhler ebenfalls dem Rechtsprinzip freier Selbstbestimmung. Indem das Recht in solchen Begründungen auf einen vorpositiven Maßstab der Realisierung bestimmter Güter bezogen wird, ist zwar bloße Willkür in der Rechtsetzung ausgeschlossen. Jedoch wird das Subjekt illegitimer Weise allgemeinverbindlich auf bestimmte religiöse Handlungen und Überzeugungen, materiale Handlungszwecke oder eine bestimmte Idee guten Lebens verpflichtet. Dies impliziert Zwang gegenüber Abweichlern und negiert das Recht individueller Besonderheit. Ein Recht, das die Autonomie des Einzelnen anerkennt, garantiert dagegen nur die Möglichkeit, gemäß der eigenen Glaubensüberzeugungen und Glücksvorstellungen leben zu können (38 f.; 183 ff.; 196 f.). Gerade die Selbstbescheidung des Rechts gibt also Raum zur selbstbestimmten Verwirklichung dieser Überzeugungen und Vorstellungen (45; 71). Insbesondere die Religionen müssen für Köhler deshalb – eine zugegeben sehr Kantische – Vernunft annehmen und die Vernünftigkeit des freiheitlichen Rechts anerkennen. Indem sie nämlich die rechtliche Garantie religiöser Freiheit und damit die Anerkennung der Besonderheit der Religionsformen durch das Recht in Anspruch nehmen, müssen die Religionen umgekehrt auch das freiheitliche Recht als Bedingung ihrer eigenen Realisierung anerkennen (198 f.; 206). Da das Recht als Regelung äußeren Verhaltens also weder aus der Ethik, noch aus pragmatischen Prinzipien oder einer religiösen Ordnung abgeleitet werden kann, muss es in allen Teilgebieten auf Prinzipien sui generis gründen (117; 132). Nur das Recht garantiert jedem Individuum seine ethische, pragmatische und religiöse Selbstbestimmung, das als „Hindernis eines Hindernisses der Freiheit“ (Kant) ausschließlich Eingriffe in dessen legitime Freiheitssphären verhindert (6; 22; 124). Jedes Rechtssubjekt muss dabei einsehen können,

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dass die rechtlichen Normen seine äußere Freiheit nicht limitieren, sondern selbige unabhängig von seinen Überzeugungen und Interessen erst ermöglichen. Damit anerkennt das Recht die Verschiedenheit der Rechtssubjekte hinsichtlich ihrer ethischen Überzeugungen und pragmatischen Interessen und trägt der Differenz menschlicher Lebenskonzepte Rechnung (119 ff.). III. Das ursprüngliche Menschenrecht der Freiheit In seinem Buch Nichtideale Normativität versucht Christoph Horn zu zeigen, dass Kants einziges angeborenes Menschenrecht der „Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür“ nur der „normativen Grundlegung der Rechtsordnung“ dient.4 Anders als Locke akzeptiere Kant keine unverlierbaren, angeborenen Individualrechte etwa auf Leben, Religionsfreiheit oder körperliche Unversehrtheit.5 Demgegenüber demonstriert Köhler, wie sich aus Kants ursprünglichem und unbedingten Menschenrecht auf gleiche äußere Handlungsfreiheit nach allgemeinen Gesetzen sehr wohl unverlierbare personale Rechte herleiten lassen (87; 229). In diesem Recht ist nämlich das gesamte konkrete Recht potentiell enthalten, das sich zu einem System gleicher, unverlierbarer und unveräußerlicher Grundrechte konkreti­ sieren lässt (213). Das ursprüngliche Recht eines jeden Menschen, seine Persönlichkeit frei zu entfalten, wird so bei Köhler zum Prinzip der Pluralität der Menschenrechte und letztlich der gesamten Rechtsordnung (225 f.). Unmittelbar mit der Freiheit des Menschen ist so für Köhler seine Würde mit ihrer kategorisch-normativen Verpflichtungskraft mitgesetzt. Ohne Freiheit kann einem Wesen deshalb kein ursprüngliches Recht zukommen.6 Zunächst folgt aus dem ursprünglichen Menschenrecht der Freiheit, dass Menschen zwar als Mittel für die eigene Glücksrealisierung in Anspruch genommen werden dürfen, aber nicht in einer Weise, die ihren Status als autonome Selbstzwecke negiert (50). Die Subjekte müssen sich und alle anderen Subjekte reziprok-allgemeingültig als „konstitutive Teilmomente“ eines Rechts anerkennen, das die Selbstbestimmung aller realisiert (210). Der Andere muss im Recht immer als Person, das heißt als konstitutives Subjekt des Rechts und nicht als bloß verfügbarer Gegenstand gedacht werden (128; 216). Hieraus ergeben sich als unmittelbare Pflichten die Anerkennung eigenen und fremden Personseins und die Bildung freiheitlicher Institutionen (225). Dem ursprünglichen Menschenrecht entsprechen so bei Köhler drei ursprüngliche Rechtspflichten, nämlich die 4  Christoph Horn, Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 122. 5  Ibid., 71. 6 Besondere Eigenschaften wie Selbsterhaltungsstreben oder Empfindungsfähigkeit verleihen für Köhler hingegen keinen unmittelbaren rechtlichen Subjektstatus. Der Rechtsschutz anderer empfindungsfähiger Wesen ist deshalb nur vermittelt durch das Menschenrecht zu denken (219 ff.). Freilich tut sich hier ein gewisses Problem auf, wie es sich mit Menschen in Entwicklungs- und Verfallsstadien verhält, bei denen sich die praktische Selbstbestimmung noch nicht (vor der Geburt, Kleinstkinder), nicht mehr (Demenzkranke) oder nie verwirklicht hat. Für Köhler haben auch alle diese Menschen immer schon Anteil an der Personwürde, weil diese mit der Erzeugung des Individuums angeboren ist (217). Die Person, so Köhler, ist im erzeugten menschlichen Leben schon wirklich, nicht nur potentiell (219). Die Frage ist aber, was es heißen soll, dass die Person hier schon wirklich ist, wenn Personalität über autonome Selbstbestimmung bestimmt ist. Vielleicht wären hier ein wenig Aristotelismus und die Unterscheidung von Akt und Potenz doch hilfreich. Dann ließe sich sagen, dass personale Freiheit als Potential bzw. Privation in allen Entwicklungs- bzw. Verfallsformen menschlichen Daseins als Potenz wirklich ist, aber eben nicht aktuell wirklich.

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Affirmation der Freiheit in der eigenen Person, ihre Anerkennung in der anderen Person und ihre Realisierung in rechtlichen Institutionen (exeundum e statu naturali) (260 f.). Die erste Grundpflicht fordert die Selbsterhaltung der eigenen freiheitlich-rechtlichen Existenz (213; 266 f.). Diese Pflicht betrifft aber nur das Verhältnis gegenüber anderen und nicht zu sich selbst: Niemand darf den Anderen zum Mittel der Negation des eigenen Personseins machen – etwa in der Selbsttötung. Denn im Verhältnis zu Anderen beansprucht die Negation der eigenen Freiheit allgemeine Geltung und ist nicht mehr bloß privat. Es ist aber ein Widerspruch, das eigene Handeln zum Rechtsgrund zu machen und andererseits sich selbst als Rechtsgrund zu negieren (271 ff.). Die zweite Rechtspflicht fordert die Anerkennung des Anderen als Person. Sie schließt auch aus, das Dasein der freiheitlichen Existenz des Anderen kontingenten Umständen zu überlassen. Aus ihr ergibt sich also das Gebot zu Hilfe bei schwerer Not, wenn das menschenrechtliche Dasein der Anderen grundsätzlich bedroht ist (280 ff.). Die dritte Pflicht fordert vom Einzelnen, seinen aktiven Bürgerstatus als Mitkonstituent des Rechts etwa im Rahmen der Mitwirkung bei der Verfassung wahrzunehmen (310). Unmittelbar begründet das ursprüngliche Recht freier Selbstbestimmung für Köhler folgende Freiheitsgrundrechte, bei denen jede Interessenabwägung illegitim ist (245; 324): Da das Selbstbewusstsein menschlicher Freiheit das eines organischen Lebewesens ist, folgen unmittelbar das Recht auf äußere Handlungsfreiheit, weil Freiheit sich nur im äußeren Handeln realisieren kann, sowie die Integrität des Körpers und das Recht auf Leben, weil diese Bedingungen menschlicher Freiheit sind (238). Auch die Voraussetzungen eigenständigen Denkens und Zwecksetzens müssen im Recht garantiert sein (Meinungsfreiheit) (292). Aus dem ursprünglichen Menschenrecht ergibt sich zudem das Recht auf gemeinschaftlich zu erbringende soziale Leistungen, da die würdige freiheitliche Existenz jedes Menschen unbe­ dingt zu garantieren ist (215). Anders als für Horn ist der bloß formale Charakter des ursprünglichen Menschenrechts und seine inhaltliche Unbestimmtheit für Köhler nun kein Defizit – im Gegenteil. Denn dieses Recht sei zwar konstitutiver Grund aller rechtlichen Anerkennungsverhältnisse (215), könne aber nicht selbst schon alle Rechtsinhalte bestimmen (219). Das Menschenrecht gesetzförmiger Freiheit ist universell-allgemeingültig und zugleich offen für unterschiedliche Konkretisierungen entsprechend dem freiheitsgesetzlichen Entwicklungsstand einer Gesellschaft (228; 237; 314). Seine konkrete Ausgestaltung fällt unter das Selbstbestimmungsrecht der Völker (330). IV. Das Privatrecht und die Gerechtigkeit Bei Hegel wird das Eigentumsrecht darüber bestimmt, dass die Freiheit sich im Eigentum ihr äußeres Dasein geben muss. Eine ähnliche Gedankenfigur findet sich auch bei Köhler: Die angeborene Freiheit der Person bedarf eines gegenständlichen Korrelats, an dem sie sich realisieren kann (317). Selbstbestimmung ist nur möglich durch den Gebrauch äußerer Gegenstände (365). Das ursprüngliche Menschenrecht der Freiheit begründet deshalb für Köhler auch das Privatrecht, denn das Individuum kann seine Selbständigkeit nur vermittelt über äußere Gegenstände, über die es gemäß seinen selbstgesetzten Zwecken verfügen kann, verwirklichen. Hieraus ergibt sich jedoch die Frage des Privatrechts, wie konkrete Besitzverhältnisse überhaupt legitimiert und Austauschprozesse geregelt werden können (22). In stetem Rekurs auf das „Ideal allgemeiner Selbständigkeit in Gemeinschaftsformen“ (338) entwickelt Köhler deshalb ein System des Privatrechts, das sich in unterschiedliche Gerechtigkeits- und Rechtsformen ausfaltet:

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Erwerbsrecht: Das Privatrecht bestimmt grundsätzlich das Mein und Dein im Bezug auf äußere Gegenstände. Hier liegt kein ursprüngliches, unmittelbares Mein wie etwa beim eigenen Körper vor, sondern ein erworbenes Mein. Somit muss das Recht am Erwerb äußerer Sachen erst begründet werden. Nach Köhler ist hierbei der ursprünglichen Einsicht Kants zu folgen, dass das normative Prinzip des Privatbesitzes nicht aus der Empirie abgeleitet werden kann. Das historisch-empirische Faktum der Inbesitznahme einer Sache legitimiert selbige nicht (404). Anstatt Eigentum bzw. Besitz also aus der empirischen Habe einer Sache zu begründen, muss es über ihren intelligiblen Besitz begründet werden (356): der Anerkennung durch andere Personen, über diese Sache frei verfügen zu können (399). Somit setzt der Erwerb einer Sache immer schon ein Verhältnis zu anderen Personen voraus, da Gegenstandsbesitz nicht bloß faktisches Haben, sondern ein normatives Verhältnis der Anerkennung des Rechts an der Sache und der entsprechenden Gebrauchsbefugnis durch andere Personen bedeutet (363 ff.). Grund für die Anerkennung dieses Rechts ist dabei die Tatsache, dass sich das ursprüngliche Freiheitsrecht des Menschen nur durch den freien Gebrauch angeeigneter Gegenstände verwirklichen lässt. Autonome Selbstbestimmung erfordert den Gebrauch von Gegenständen nach eigenem Belieben (377). Insofern nun die Freiheit jedem Menschen in gleicher Weise ursprünglich angeboren ist, hat im Grunde jeder Mensch das gleiche Recht auf eine ursprüngliche Aneignung der Weltsubstanz. Die Weltsubstanz steht deshalb rechts­ logisch „ursprünglich-ideal der gesamten Menschheit gleichermaßen“ zu (19; 23; 289). Diese „Rechtsgemeinsamkeit an der Weltsubstanz“ begründet das „ursprüngliche Erwerbsrecht“ jedes Menschen (248). Hobbes’ Recht auf alles lässt sich so nach Köhler als Ausdruck die­ ser ursprünglichen, allgemeinen Gleichberechtigung verstehen (340). Jedes Subjekt hat das Recht, sich gemäß seinem praktischen Vermögen die Weltsubstanz ursprünglich anzueignen (394). Hierin liegt die grundsätzliche Erwerbsgleichheit aller Menschen begründet: die gleiche Befugnis, sich gemäß dem eigenen Vermögen einen Teil der Weltsubstanz selbständig anzueignen. Da die Menschen nun aber Individuen mit unterschiedlichen Interessen und praktischen Fähigkeiten sind, kann die gerechte Aufteilung der Weltsubstanz nicht in mathematischer Gleichheit bestehen, sondern das Recht auf Selbstbestimmung legitimiert selbst die Differenz zwischen den Menschen in der Aneignung der brauchbaren Weltsubstanz gemäß ihren unterschiedlichen Vermögen, Interessen und Zwecken (365). Privatrechte an äußeren Gegenständen sind damit kategorial verschieden von unmittelbaren Persönlichkeitsrechten, weil das ursprüngliche Recht auf Freiheit sich in den äußeren Gegenständen nur vermittelt und je nach Individuum unterschiedlich realisiert (246). Privatrechte sind anders als Persönlichkeitsrechte nicht angeboren und dadurch offen für kontingente Bestimmungen (304). Teilhaberecht: Die gesetzmäßige Aneignung von privatem Besitz ist begründet durch das Recht allgemeiner Freiheit zur Selbstverwirklichung und der aus ihr resultierenden Ursprungsgemeinsamkeit des Weltbesitzes (360). Das subjektive Freiheitsrecht begründet und begrenzt so gleichzeitig das Recht auf Weltaneignung (247; 349). Die fundamental ungleiche Aneignung von Weltsubstanz und Produktionsmitteln widerspricht dem Prinzip des Privatbesitzes auf Selbstbestimmung, indem sie abhängige Existenzen hervorbringt (354). Unter dem Begriff der Teilhabegerechtigkeit versteht Köhler so einerseits die Begründung, aber auch die Begrenzung des individuellen Rechts, sich die Weltsubstanz anzueignen. Das Recht muss jedem Menschen die Möglichkeit garantieren, sich gemäß seinem Vermögen in den Prozess der Weltaneignung einzubringen. Die Gesellschaft muss so nicht nur jeder Person das Existenzminimum garantieren, dass sie sich physisch und kulturell in Würde erhalten kann (426). Vielmehr hat jeder Mensch ein Recht auf Teilhabe an der Weltsubstanz entsprechend seinem individuellen Vermögen. Nun steht dieses Prinzip der Teilhabegerechtigkeit

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freilich immer in einem Spannungsverhältnis zu den historisch gewachsenen, naturwüchsig erworbenen privaten Rechten (304). Anders als Locke (340 f.) affirmiert Köhler nun diese Verhältnisse nicht einfach, negiert sie aber auch nicht abstrakt, sondern sieht, dass sie einer permanenten Korrektur unter dem Freiheitsprinzip unterworfen werden müssen (361). Bei Locke wird die historische Okkupation und ungleiche Akkumulation total affirmiert. Das empirische Subjekt kann die Aneignung der Weltsubstanz in einer Weise durchsetzen, die andere entrechtet (349). Diese schrankenlose Akkumulation widerspricht jedoch der Ursprungsgemeinschaft (371). Der historische Erwerb hat für Köhler zwar ein vorläufiges Recht für sich. Gewachsene Aneignungsverhältnisse sind anzuerkennen, müssen aber permanent transzendiert werden (399; 406 f.). Die Teilhabegerechtigkeit behebt deshalb freiheitsne­ gierende Ungleichheiten in den faktischen Besitz- und Eigentumsverhältnissen und eröffnet allen eine freie Lebensführung (134), indem sie die legitime Konkurrenz im Welterwerb in öffentlichen Gesetzen reguliert und damit vom Naturzustand in einen rechtlichen Zustand überführt und Ungleichheiten in den Gebrauchsbefugnissen ausgleicht (368; 372). Diese Teilhabegerechtigkeit muss sich auch auf die gesellschaftlich produzierte Substanz beziehen (391). Jedem Subjekt muss das Recht garantiert werden, sich in das gemeinsame Vermögen seiner Gesellschaft einzubringen (413). Damit wird das Privatrecht anders als im Kommunismus von Köhler nicht negiert, sondern verallgemeinert, indem jeder das Recht besitzt, am gesellschaftlichen Prozess der Vermögensbildung teilzuhaben (419). Dies bedeutet vor allem, dass sich das Teilhaberecht auch auf den gesellschaftlich produzierten Mehrwert bezieht und damit gesellschaftliche Fortschritte in der Arbeitsproduktivität nicht einseitig angeeignet werden dürfen (422; 429). Allerdings ist auch hier nach Köhler keine konkrete Güterzuwei­ sung nach objektiven Maßstäben möglich, sondern die Aufteilung unterliegt selbst dem Prinzip intersubjektiver Selbstbestimmung (393). Teilhabegerechtigkeit unterscheidet sich nun nach Köhler fundamental von der heute gängigen Idee der Verteilungsgerechtigkeit (248). Mit letzterer begründet der Interventionsstaat Eingriffe in das Vermögen nach bloßen Interessenabwägungen, was jedoch der Privatrechtsgarantie widerspricht (374 f.). Die Teilhabegerechtigkeit hingegen ist begründet im ursprünglichen Erwerbsrecht (470). Eingriffe in das Privatrecht können dementsprechend nur dann legitim sein, wenn sie aus dem Prinzip der ursprünglichen Erwerbsgleichheit folgen, die nicht grundsätzlich durch kontingente Faktoren, sondern durch das individuelle Vermögen zur Aneignung von Erwerbszwecken bestimmt sein sollte (424). Der Anteil am gesellschaftlichen Vermögen muss demnach idealiter dem individuellen Vermögen entsprechen, mit dem sich jemand in die Produktion des gesellschaftlichen Vermögens einbringen kann. Die Erwerbsrechte müssen dem Selbstverwirklichungsprozess der Person entsprechen (471). Aber auch in ihren Zwecken sind Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit unterschieden: Die ethisch kontaminierte Verteilungsgerechtigkeit trägt nach Köhler paternalistische Züge, da der Staat nach einem vermeintlich objektiven Maßstab darüber entscheidet, welche Bedürfnisse ein Mensch hat und dementsprechend Güter verteilt. Somit widerspricht sie dem Prinzip der Selbstbestimmung (478 ff.). Das Teilhaberecht hingegen ist ein am Recht auf freie Selbstverwirklichung orientierter Rechtsanspruch (250). Sein Zweck ist die „größtmöglich[e] Entfaltung aller humanen Fähigkeiten, welche die Weltaneignung bestimmen“ (426). Jede Person hat das Recht, die Mittel zur Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und der Ausbildung der eigenen Persönlichkeit zu fordern. Hieraus ergeben sich Rechtsansprüche des Individuums an die Gesellschaft wie das Recht auf Familienlastenausgleich, Bildung und Mindesteinkommen (472). Vertragsrecht: Das Vertragsrecht bestimmt die Prinzipien privatrechtlicher Verträge. Die Möglichkeit des Vertragsschlusses setzt nach Köhler grundsätzlich die wechselseitige

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Anerkennung der Rechtspersönlichkeit der Vertragspartner sowie die Anerkennung der ursprünglichen Erwerbsteilhabe / Selbständigkeit voraus (430 f.). Ohne diese Anerkennung wären keine Verträge möglich, weshalb sie auch konstitutiv für ihren Inhalt sein muss. Inhaltlich darf sich ein Vertrag deshalb nicht gegen die Autonomie der Person als seine eigene Grundlage richten (442). In ihren Austauschbeziehungen müssen sich die Tauschpartner als Mitkonstituenten des allgemeinen Vermögens anerkennen (458). Beiden Parteien muss durch den Leistungsaustausch ein Wertzuwachs entstehen (Anteil an Mehrwert). Dies ist aber nur dann der Fall, wenn im Tausch – sei es der Produkte oder der Arbeit – ein gleichwertiges Maß der Austauschwerte stattfindet. Auch hierbei gibt es für Köhler wiederum keinen objektiven Maßstab, vielmehr realisiert sich im Warenaustausch oder in der individuellen Lohnfindung die Freiheit der Vertragspartner (434 f.; 457). Der Gebrauchswert eines Tauschgegenstandes bestimmt sich dabei über dessen Wert für die konkrete inhaltliche Selbstbestimmung der den Vertrag schließenden Personen. Die rechtlich garantierte Vertragsfreiheit anerkennt diesen Wert für die konkrete subjektive Freiheit. Bei diesem Wert liegt allerdings keine rein subjektive Größe vor, vielmehr ist er in einer Gesellschaft interpersonal objektiviert (446 ff.). Der Freiheitsgrund des Vertrages ist dabei die absolute Schranke des Vertrags (451). Ein Missverhältnis der ausgetauschten Leistungen (laesio enormis) ist Unrecht, weil es die privat­ rechtlich-ökonomische Selbständigkeit eines Vertragspartners lädiert und nicht, weil sie von einem vermeintlich objektiven Tauschwert abweicht (455). Die Vertragsverbindlichkeit und der daraus resultierende Erfüllungsanspruch, die erlauben, die andere Person mittels Zwang an ihren im Vertragsschluss geltend gemachten Willen auch gegen ihre von diesem Willen abweichende aktuelle Willkür zu binden, schränkt die Selbstbestimmung des Gezwungenen nicht als äußerer Zwang ein, sondern anerkennt dessen von kontingenten Umständen und wechselnden Neigungen unabhängige Fähigkeit zur verbindlichen Selbstbestimmung (436 f.). Strafrecht: Strafgerechtigkeit setzt für Köhler die Begehung eines Verbrechens als Negation rechtlicher Freiheit der Person oder ihrer Daseinsbedingungen voraus. Strafe ist nur legitim als restituierende Reaktion, die im Sinne einer Negation der Negation die im Unrecht negierte schützende Gerechtigkeit re-etabliert (467). Das Strafrecht ist so ein System von Gesetzen und Institutionen, die die Persönlichkeit und Privatrechte des Individuums gegen rechtswidrige Eingriffe schützen bzw. wiederherstellen (467). Öffentliches Recht: Das vorinstitutionelle Recht muss nach Köhler in einem öffentlichen Recht institutionalisiert werden. Dies ist notwendig, da die Personen im Naturzustand noch ihren eigenen Vorstellungen von Rechten und Pflichten folgen. Somit können die Rechte nicht allgemeingültig-objektiv sein und einander widersprechen. Dieser Widerspruch in der Rechtsvernunft ist bereits selbst Unrecht (295). Hieraus ergibt sich die Pflicht, in einer öffentlich-objektiven Verfassung die naturzuständlichen Rechtsverhältnisse zu konstituieren (296 f.). Die Verfassung des öffentlichen Rechts ist dabei inhaltlich nicht unterschieden von den subjektiven Rechten, vielmehr werden diese in öffentlich bekannt gemachten Gesetze formal transformiert und inhaltlich bestimmt (293 f.). V. Die Institutionalisierung der Freiheit „Gerechtigkeit“ bedeutet für Köhler die „systematische Verwirklichung gleicher Freihei­ ten“ (464). Eine solche Verwirklichung ist aber nur möglich, wenn das vorinstitutionelle subjektive Recht sich objektiviert (91). Dies ist nur möglich in Institutionen, die Objektivität und Dauerhaftigkeit besitzen und in denen sich Intersubjektivitätsverhältnisse ein äußeres und verlässliches Dasein geben. Der Kommunitarismus setzt deshalb nach Köhler berechtigter Weise die Bedeutung von gemeinschaftlichen Institutionen und Solidarität für die Konstitu-

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tion des Individuums gegen die Konzeption eines bloß atomistischen und egoistischen Individuums (94 f.). Wie Rousseau negiere er damit jedoch das subjektive Recht des Individuums zu Gunsten eines Gemeinschaftsethos (88). Die Gemeinschaft hat aber kein Recht, jemanden zu zwingen auf ihre Weise zu leben oder moralisch zu sein. Das Subjekt darf sich der Identität seiner Gemeinschaft verweigern (137 f.; 147). Rechtliche Institutionen dürfen deshalb nach Köhler nicht auf einem Gemeinschaftsethos gründen, sondern nur auf dem rechtlichem Anerkennungsverhältnis, in dem sich Menschen reziprok als freie Personen anerkennen. Dem­ entsprechend ist es der Zweck institutioneller Rechtsverhältnisse, Freiheit zu eröffnen. Das System der Institutionen muss der Entfaltung der Freiheit des Subjekts in unterschiedlichen Freiheitssphären: Familie – Gesellschaft – Staat entsprechen (501; 505; 508 f.). Ehe und Familie: Die „primäre Institution“ interpersonaler Verhältnisse, in der das Individuum berechtigt ist, seine Freiheit zu verwirklichen, ist nach Köhler die Familie (Ehe / Eltern und Kind) (510; 518). Zwar handelt es sich bei ihr um eine durch Liebe begründete ethische Gemeinschaft, als ursprüngliche Institution individueller Freiheitsverwirklichung und Vermittlung der individuellen Ursprungsteilhabe in unmittelbarer Lebensgemeinschaft (413) ist sie jedoch vom Recht anzuerkennen und zu befördern. Ihre Mitglieder übernehmen Sonderpflichten füreinander, die im Recht als Rechte und Pflichten der Personen- und Vermögenssorge zu institutionalisieren sind. Die Ehe ist dabei für Köhler die Vereinigung zweier Individuen, die sich in einer Geschlechtergemeinschaft zum Zwecke der Freiheitsrealisation zu einer einzigartigen Lebensgemeinschaft verbinden.7 So ist die Ehe über ihren intrinsischen Freiheitswert für die Ehepartner und nicht erst über mögliche Kinder oder ihre gesellschaftliche Funktion legitimiert und durch das Recht zu affirmieren (607). Weil sie freiheitlich legitimiert ist, müssen beide Partner in ihrer ehelichen Autonomie gleichberechtigt sein. Die innere Ausgestaltung dieser Gleichberechtigung muss aber der Selbstbestimmung der Ehe­ partner überlassen bleiben und diese wiederum – etwa steuerrechtlich – affirmiert werden (511 ff.). Für das Kind bildet die Familie das Fundament, damit es seine humanen Fähigkei­ ten und seine Freiheit ausbilden kann (519). Das Familienrecht hat dementsprechend – auch in der Teilhabe an der gesellschaftlichen Substanz – zu garantieren, dass das Kind in der Familie seine Identität ausbilden, erzogen und gebildet werden kann (505). Die „fundamentale Freiheitsbedingung“ (532) der Familie für das Kind impliziert deshalb eine besondere Rechtseinräumung gegenüber der Familie. In der Ausbildung der Autonomie des Kindes hat der Staat den Eltern weitgehende Autonomie zu gewähren, wie sie die Sorge- und Erziehungsverhältnisse ausgestalten (520). Ihre Grenze findet diese Autonomie nur an der zukünf­ tigen Selbstbestimmung des Kindes (620), die anders als etwa in der religiösen Erziehung in der religiösen Indoktrination oder irreversiblen Akten wie der Beschneidung negiert wird.8 7 Für Köhler folgt hieraus die Ablehnung der Homo-Ehe (freilich nicht die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als solcher): Für die Ehe sei die Geschlechterdifferenz wesentlich, weil der Mensch seine Gattungseigenschaften in zwei unterschiedlichen Geschlechtern repräsentiere, die sich bei gleicher Vernunftnatur wechselseitig ergänzen. Dies sei bei einer gleichgeschlechtlichen Verbindung nicht der Fall (512 f.). Nun sind biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau vielleicht unbestreitbar. Die Ehe ist für Köhler aber eine Verbindung freier und vernünftiger Personen zur Freiheitsrealisation (513). Ob sich nun biologische Unterschiede auf die Freiheitsebene und die vernünftige Personalität von selbstbestimmten Individuen übertragen lassen, erscheint dem Rezensenten zumindest fraglich. 8 Abweichend hierzu rechtfertigt Köhler das religiöse Beschneidungsrecht der Eltern gegenüber dem Kind in „Integrität des Kindes und religiöses Gemeinschaftsethos“, in: Martin Heger et al. (Hrsg.), Festschrift für Kristian Kühl zum 70. Geburtstag, München: C. H. Beck, 2014, 295 – 314.

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Der inneren Autonomie der Familie, gerade was die Ausgestaltung der Verteilung von Gelderwerb und Erziehung angeht, widerspricht nun nach Köhler jedoch der gegenwärtige Druck gesellschaftlicher Funktionalisierungsinteressen (521). Dies zeigt sich etwa in der gesellschaftlichen Koordinierung auf eine Familienform hin, in der die Gesellschaft anstelle der Vollzeit arbeitenden Eltern die Erziehung übernimmt. Diesem „Zwang“ liegen nun nicht einmal, wie häufig behauptet, emanzipatorische Intentionen, sondern ökonomische Interessen zu Grunde. In jedem Fall aber, so Köhler, ist er nicht mit einer freiheitlichen Rechtsordnung vereinbar. Köhler zeigt sich in dieser Kritik jedoch als das genaue Gegenteil eines Reaktionären, der sich nach der guten alten Zeit klarer Familienmuster zurücksehnt. Vielmehr war es für ihn die Aufhebung traditioneller Rollenverteilungen der letzten Jahrzehnte, die die freiheitsgesetzliche Bedeutung von Eltern-Kind-Beziehungen erst freilegte (519). Der gesellschaftlichen Bevormundung der Eltern in der Frage der Ausgestaltung ihrer Funktionen setzt Köhler deshalb die rechtliche Forderung einer „familiengerechten Gesellschaft“ (521) entgegen, in der alle Familienmitglieder ihre frei gewählte Selbstbestimmung realisieren können. Insbesondere die Frau muss dabei ihre teilhaberrechtliche Möglichkeit bei gleichzeitiger Mutterschaft rechtlich gesichert wissen, indem ihr Mutterschaft und gleichzeitige Bildung bzw. berufliche Tätigkeit ermöglicht werden (528 f.). Dementsprechend muss die Arbeit in einer Gesellschaft auf die Selbstbestimmung der Eltern hin und nicht umgekehrt koordiniert werden. Den Eltern muss, um sie in ihrem familiären Status anzuerkennen, durch besondere Rechtseinräumung ermöglicht werden, sich familiär und gesellschaftlich zu verwirklichen (parallel oder in getrennten Phasen) (612 f.). Besonders Recht zu geben ist Köhler, dass dieses Recht die breite Allgemeinheit der Frauen betreffen muss, wohingegen sich der gegenwärtige Diskurs vornehmlich auf die sogenannten Eliten der Gesellschaft (Chefetage) reduziert. Gesellschaft: Die Gesellschaft vermittelt für Köhler einen bestimmten Teil der Weltsubstanz an das Individuum (411). In ihr sind Personen mit eigenständigen Glückskonzepten durch abstrakte Verhältnisse – wesentlich durch den Austausch von Arbeitsprodukten – miteinander verbunden. Anders als in der Familie, in der sich ein Gemeinschaftsethos realisiert, manifestiert sich in der Gesellschaft das für die Besonderheit des Subjekts legitime Selbstinteresse des Einzelnen. Sie ist eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich als freie, selbständige Mitglieder anerkennen und als selbstinteressierte Individuen in Austausch- und Produktionsbeziehungen miteinander stehen (535 f.). Der abstrakte Charakter dieser Be­ ziehungen ist nun für Köhler nicht eine Privation gegenüber der liebenden Beziehung der Familienglieder, sondern anerkennt das Recht der Besonderheit und der daraus resultie­ renden Bedürfnisse des Menschen. In dieser Freiheitsbedeutung gründet die Legitimität der Gesellschaft. Die Gesellschaft soll die Person in ihrer subjektiven Besonderheit ermöglichen (541 ff.). Die abstrakten Austauschbeziehungen in ihrer kapitalistischen Form widersprechen jedoch der Selbständigkeit der Person (549). Außerdem widersprechen sie den Grundlagen des Privatrechts und damit den die Austauschbeziehungen legitimierenden Prinzipien: Der freie Wettbewerb, die mit ihm verbundene ungehinderte Vermögensakkumulation und ihre recht­ liche Institutionalisierung garantieren nicht die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Vermögen entsprechend ihres Vermögens. Vor allem die einseitige Aneignung von technischen und logistischen Fortschritten auf Seiten des Kapitals gegenüber der unselbständigen Arbeit negiert die ursprüngliche Substanzteilhabe aller (554). Die abhängige Arbeit negiert die Selbständigkeit des Arbeiters. Hierin sieht Köhler nicht nur ein ethisches Problem, sondern ein eklatantes Unrecht (547). Der Sozialstaat mildert zwar die Effekte dieses Unrechts, vermengt aber dabei Recht und Ethik und konfundiert interpersonale Verhältnisse wie Freundschaft, Liebe, Ehe, Familie und ihre ethischen Solidaritätspflichten mit gesellschaftlichen Rechtsver-

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hältnissen. Er wird zum paternalistischen Interventionsstaat und ignoriert das „Rechtsprinzip der selbstverantwortlichen Besonderheit“ (568). Die staatliche Alimentation anerkennt nicht Recht und Pflicht des Bürgers auf produktive Teilhabe an der Gesellschaft (582). Vor allem aber: Sie lässt die Unrechtsstruktur der Besitzverhältnisse selbst unangetastet: Die Abwertung besitzloser Arbeit gegenüber dem Kapital sowie der massenhafte Ausschluss der Gesellschaftsmitglieder an der selbständigen Teilhabe am Erwerbsprozess negieren die geforderte Verallgemeinerung des Privatrechtsprinzips. Zur Behebung dieses Unrechts muss für Köhler die erwerbsrechtliche Grundstruktur verändert werden. Das freiheitliche Privat­ recht fordert entsprechend die Allgemeinzugänglichkeit zur gesellschaftlichen Produktionsgrundlage und zum gesellschaftlichen Vermögen (556 ff.; 587 ff.). Dies begründet Köhler über das Teilhaberecht: Durch selbiges stehen die Gesellschaftsmitglieder nämlich nicht nur in Austauschverhältnissen, sondern sind vermittelst der gesellschaftlich konkretisierten Grundlage der Weltaneignung durch ein „allgemeingesellschaftliches Rechte-/Pflichtenverhältnis“ (598) miteinander verbunden. Hieraus ergibt sich die Rechtspflicht, dass sich die Gesellschaftsmitglieder gemäß ihren jeweiligen subjektiven Vermögen selbständig in die gesellschaftlichen Produktionsprozesse und das Vermögen der Gesellschaft einbringen können (591 f.). So muss die Gesellschaft für das Bildungswesen,9 die Leistungen werdender Mütter, Familienlastenausgleich, sowie das Existenzminimum ihrer Mitglieder aufkommen. Ein Teil des Unterhalts für das Kind muss gesellschaftlich getragen werden: Existenzminimum, gewisser Aufwand für Bildung, Erziehung, Betreuung (613 f.). Aus der Gebrauchsbefugnis aller Menschen an der Weltsubstanz ergibt sich das Verbot von Umweltschädigungen, Artenvernichtungen etc. (605). Jedes Gesellschaftsmitglied hat zudem ein Recht auf Arbeit, das heißt das Recht, durch Tätigkeit und Austausch gemäß seinem Vermögen am allgemeinen Vermögen teilzuhaben (625). Strukturell muss deshalb die Integration aller in den gesellschaftlichen Vermögenserwerb garantiert sein. Umgekehrt hat der Einzelne die Pflicht zur freiheitlichen Selbsterhaltung seiner Person entsprechend seines Vermögens (599). Unternehmensrecht: Das Unternehmen ist als Teil der Gesellschaft die konkretisierte Form des gesellschaftlichen Vermögens. Es ist eine Vermittlungsinstanz, damit Individuen ihr ursprüngliches Erwerbsrecht realisieren können. Hierdurch ist es rechtlich legitimiert. Deshalb kann zwischen Unternehmenseignern und Arbeitern bei Köhler kein einseitiges Herrschaftsverhältnis vorliegen. Vielmehr ist auch der Arbeiter als Mitkonstituent des Unternehmens rechtlich anzuerkennen, indem ihm ein Recht am Unternehmen zugesprochen wird (641 ff.). Sein Arbeitsvermögen als Moment der Konstitution des allgemeinen gesellschaftlichen Vermögens begründet sein Teilhaberecht hinsichtlich des durch das Unternehmen vermittelten gesellschaftlichen Vermögens (646; 653). Arbeit und Kapital sind wertmäßig gleichberechtigt, weil sie beide konstitutiv für die Erzeugung gesellschaftlichen Mehrwerts sind, so dass beiden ein Maß an Wertteilhabe dieses Mehrwerts zuzusprechen ist (658 ff.). Prekäre Ar­ beitsverhältnisse sind deshalb nicht nur ethisch problematisch, sondern Unrecht. VI. Staat und internationales Recht Staat: Der Staat ist nach Köhler eine Vereinigung von Personen, die auf Dauer angelegt in Privatrechtsverhältnissen miteinander leben. Sein Zweck ist die Verwirklichung subjektiver Freiheiten unter Gesetzen, die von dem souveränen, selbstbestimmten Rechtswillen der Vereinigten getragen werden (686). Der Staat ist so durch den Willen aller konstituiert, 9  Besonders zuzustimmen ist Köhler, dass das Grundrecht auf Bildung dem Recht des Individuums auf Entfaltung seiner theoretischen und praktischen Vermögen entspringt und deshalb nicht auf den Erwerb gesellschaftlich nützlicher Fähigkeiten reduziert werden darf (617 ff.).

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Subjekt staatlicher Souveränität ist entsprechend die Gesamtheit der den Staat konstituie­ renden Personen (690; 704). Ihre Selbstbestimmung ist der Vernunftgrund des Staates (688). In den staatlichen Gesetzen muss sich das Dasein ihrer Freiheit verwirklichen. Deshalb ist nach Köhler nur der republikanische Staat mit demokratischer Verfassungsform wahrer Staat (298). Nur in diesem Staat repräsentiert nämlich die Staatsform den Willen seiner Konsti­ tuenten. In ihm hat jedes Rechtssubjekt Bürgerstatus, weil es den in den Gesetzen objektiv verwirklichten Rechtswillen als seinen eigenen begreifen kann. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn sich jeder Bürger qua Vernunft als Mitkonstituent der Gesetze verstehen kann. Dazu muss sich das einzelne Subjekt von seinen subjektiven Rechtsvorstellungen, Interessen und Wohlvorstellungen distanzieren können (678 ff.). Die Bürger müssen gemeinsam einen allgemeingültigen Rechtswillen formen (710). Hierin ermächtigen sie sich wechselseitig zu allgemeinen Gesetzen (Verfassung) und begründen eine politische Einheit (711). Umgekehrt kann dann aber das Recht nicht der bloßen Interessenkoordination oder -sicherung der Bür­ ger dienen (Locke), sondern nur der allgemeinen Freiheitsrealisation in äußeren Rechtsformen (688; 706). In der Gesetzesallgemeinheit des republikanischen Staatsrechts weiß so der Einzelne sein Recht der Besonderheit im Recht aufgehoben (701). Der Einzelne weiß sich in den Gesetzen von der Verfassung bis zu konkreten Gesetzen je selbst als Souverän repräsentiert. Diese Souveränität muss sich jedoch unter den konkreten Bedingungen unterschiedlicher Staaten in verschiedener Weise verwirklichen. Auf Grund komplexer werdender politischer Systeme ist für die Ausbildung dieser Konkretisierung ein Repräsentationssystem nötig, in dem Abgeordnete den Bürger repräsentieren. Der Abgeordnete hat dabei nur eine Mittlerfunktion, er ist ermächtigt durch die reziproke Selbstermächtigung der Bür­ger und repräsentiert stets das ganze Volk und nicht eine Interessengruppierung bzw. Partei (712 ff.) Insofern stellt die gegenwärtige Parteipolitik in der Legislative für Köhler eine deformierte Repräsentation dar, insofern die durch Parteien bestimmten Abgeordneten jeweils nur gesellschaftliche Interessen vertreten (730). Dies resultiert, so Köhler, in einem Defizit repräsentierter Gesetzesallgemeinheit (734). Völkerrecht: Der Staat ist nicht nur durch innere, sondern vor allem auch durch äußere Souveränität gekennzeichnet (689). Jedes Volk hat deshalb für Köhler das Recht auf die autonome Ordnung der eigenen Verhältnisse (689). Auch in internationalen Beziehungen muss das Dasein der Freiheit verwirklicht werden (681). Dies geschieht nach Köhler im Völkerrecht primär durch das Recht auf staatliche Selbstbestimmung. Die wechselseitige Anerkennung dieses Rechts begründet das internationale Völkerrecht (747). Das gerechte Völkerrecht muss anerkennen, dass die Souveränität innerer Angelegenheiten allein dem jeweiligen Staat zukommt. Entwicklungsdifferenzen in der Realisierung des Prinzips der Freiheit, auch Unrechtsverhältnisse, sind deshalb nach Köhler von anderen Staaten hinzuneh­ men und berechtigen keine Intervention (746). Solange ein Staat noch irgendwie kollektive Selbstbestimmung manifestiert, gilt ein striktes Interventions- und Eroberungsverbot (753). Das Ius ad bellum ist eingeschränkt allein auf Selbstverteidigung und Friedenssicherung (752).10 Diese Rechte, so Köhler, gelten bereits vorkonstitutionell. Institutionalisiert werden 10  Für Köhler müssen deshalb auch Menschenrechtsverletzungen von der internationalen Staatengemeinschaft hingenommen werden. Ein Recht auf humanitäre Intervention existiere deshalb nicht. Ausgenommen sei allein die „Selbstnegation der Souveränität“ eines Staates in Völkermorden, Vertreibungen und ethnischen Säuberungen, weil der Staat hier gewissermaßen seine eigene Legitimitätsgrundlage aufhebt (774 f.). Außerdem werde hier das Recht der Menschheit in einer Gruppe negiert (819). Hier stellt sich dem Rezensenten die Frage: Wenn die Souveränität des Staates mit der Souveränität aller Rechtssubjekte identisch ist, hebt der Staat dann nicht bereits zumindest in krassen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Einzel-

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können sie nur in einem Völkerbund souveräner Staaten, da ein Völkerstaat dem Selbstbestimmungsrecht der Völker widerspräche (756). Der Völkerbund darf deshalb auch keine Souveränität beanspruchen. Die Gesetzgebung kommt den jeweiligen Staaten zu (761). Die verbundenen Staaten gewährleisten sich ausschließlich wechselseitig ihre innere und äußere Selbstbestimmung (761). Dabei unterscheidet Köhler jedoch zwischen einem weiteren institutionalisierten Völkerbund möglichst aller Staaten, der ausschließlich die Friedenssicherung organisiert, und einem engeren Völkerbund freiheitsrechtlich entwickelter Völker wie der EU, der darüber hinaus verbindliche Menschenrechtsgehalte koordinieren sollte (755). Weltbürgerrecht: Beruhend auf dem subjektiven Recht ursprünglicher erwerbsrechtlicher Weltteilhabe, das durch die Staaten nur vermittelt wird, skizziert Köhler mit Kant noch ein über das Völkerrecht hinausgehendes Weltbürgerrecht (764). Es regelt nicht die Beziehungen von Staaten zueinander, sondern das Verhältnis von Bürgern anderer Staaten zu einem Staat (etwa im Asyl- und Besuchsrecht). Über Kant hinausgehend betrifft dieses Recht vermittelt über die ursprüngliche gemeinsame Teilhabe aller Menschen an der Weltsubstanz für Köhler jedoch auch die internationalen Austauschbeziehungen. Aus der gemeinsamen Weltteilhabe resultiert nämlich die Rechtspflicht, zum Zwecke der freien Selbstbestimmung der Weltbevölkerung zumindest eine minimale Teilhabegerechtigkeit international zu verwirklichen. Hierzu ist der gegenwärtige, weitgehend von bloßen Machtinteressen geprägte Naturzustand in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu verlassen und in den Rechtszustand zu transformieren (792 ff.) Resümee Wenn das Klassische das zeitlos Gültige ist, dann hat Michael Köhler mit Recht und Gerechtigkeit einen Klassiker der Rechtsphilosophie verfasst. In scholastischer Termino­ logie müsste man dieses Werk als Summe des Rechts, also als systematische und zugleich enzyklopädische Begründung und Darstellung des gesamten Themenbereichs des Rechts bezeichnen. Die Leistungen, die dieses Buch erbringt, konnten in dieser Rezension deshalb nur skizzenartig angedeutet werden, da sie sich auf die Grundlinien der Schrift beschränken musste. Ausgehend von diesen Grundlinien beantwortet Köhler jedoch zusätzlich zahllose Detailfragen des Rechts. Auch für den Historiker der Rechtsphilosophie ist dieser Text eine wahre Fundgrube. Recht und Gerechtigkeit sollte dementsprechend allen Studierenden und Lehrenden des Rechts und der Rechtsphilosophie als Pflichtlektüre ans Herz gelegt werden. Für dieses Urteil spielt es nur eine sehr untergeordnete Rolle, dass sich der Rezensent Köhlers Begründung des Rechts durch das Prinzip freier Selbstbestimmung und dessen universellem Anspruch sowie der systematischen Entfaltung des Rechts durch Köhler mit kleinen Einschränkungen nur emphatisch anschließen kann. Dass dieses Werk trotz seiner Qualität und Bedeutung wohl dennoch nur von einem kleinen Teil der Lehrenden und Studierenden des Rechts vollständig gelesen werden wird, sagt einiges über den gegenwärtigen akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb und dessen Betriebsamkeit aus, die es nur noch Rezensenten gestatten, sich dem ernsthaften Studium eines so umfangreichen und (zugegeben auch sprach­lich) anspruchsvollen Textes zu widmen. Stefan Schick

nen seine Souveränitätsgrundlage auf? Und kann das Recht der Menschheit nicht genauso in einer Person wie in einer Gruppe negiert werden, gerade wenn man wie Köhler das Freiheitsrecht des Subjekts zum Prinzip des Rechts macht?

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Hartmut Kreß, Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, Band 10, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2018, 294 S., ISBN 978-3-17-026291-1. Wolfgang Erich Müller

Ausgehend von den Erfahrungen gegenwärtigen Staatsversagens, exemplifiziert an der Finanzkrise oder dem Diesel-Skandal, weist der Bonner Ethiker Hartmut Kreß auf weitere Krisenmomente hin, die die Erosion des Rechtsstaates zu einer Alltagserfahrung gemacht haben: nämlich durch den Rückzug des Staates von Funktionen, „die der Staat für die Sicherheit der Bevölkerung und für die Infrastruktur zu leisten hätte“ oder durch „seinen partiellen Rückzug aus Bildung und Wissenschaft“ (10). Die hier deutlich werdende Entstaatlichung wirft die weitergehende Frage nach der zukünftigen „Gewährleistung der Grund- und Freiheitsrechte der Bürger, des inneren und äußeren Friedens und der Rechtssicherheit“ (11) auf. Dieser Problemhorizont führt Kreß zu der generellen Untersuchung des Staatsverständnisses, wie es prominente Theologen, Juristen und Philosophen in der klassischen Epoche des Nationalstaates im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt haben. Die überraschende Einbe­ ziehung der Theologie erklärt sich durch den historisch wirksamen Einfluss des Christentums auf die Kultur und damit auch auf das Staatsverständnis. Die katholischeTheologie mit ihrer zentralistischen Orientierung zum Vatikan nimmt bis heute eine große Distanz zum modernen Staat ein, da sich dieser von der Kirche emanzipiert hat, und beansprucht somit ihre Überlegenheit gegenüber dem Staat. In Folge von Vorschlägen des Reformators Philipp Melanchton werden Staat und Kirche lutherischerseits letztlich als Einheit begriffen. Der konservative Rechtsgelehrte Friedrich Julius Stahl deutet den Staat als eine von Gott eingerichtete Ordnung, die „in der irdischen Welt gemäß Gottes Willen den Sündenfolgen zu wehren habe“ (25). Begründet durch die Bibelstelle Römerbrief 13,1 bezeichnet Stahl die von Gott ebenfalls verordnete Obrigkeit als von Gottes Gnaden. Folglich stehen die Menschenrechte den Personen nicht aufgrund ihres Menschseins zu, sondern aufgrund staatlicher Verleihung. Die hier zugrundegelegte Auffassung vom Staat als einer göttlichen Schöpfungsordnung wird in der lutherischen Theologie bis weit in das 20. Jahrhundert vertreten. Den Staatsgedanken der reformierten Theologie (Calvinismus) stellt Kreß schwerpunktmäßig anhand der Auffassung des einflussreichen Theologen Karl Barth dar, der sich 1934 mit der sog. Barmer Theologischen Erklärung der Gleichschaltung der evangelischen Kirche durch den NS-Staat widersetzt. Er vertritt 1946 eine christologisch ausgerichtete Staatslehre, die er als „Lehre von der Königsherrschaft Christi“ (42) bezeichnet. Kirche und Staat sind hier bildhaft als konzentrische Kreise mit Christus als Mittelpunkt gedacht. Barth hat es nicht vermocht zur Weltanschauungsfreiheit und zu den individuellen Grundrechten aller Menschen vorzudringen, weil wegen ihres Sünderseins nicht von eigenen Rechten der Menschen gesprochen werden könne. Diese vormoderne Staatsauffassung befördert klerikale Denkmuster und versteht die Kirche nicht als Teil einer heterogenen Zivilgesellschaft. Während in den theologischen Positionen eine Prädominanz der Kirche zu vermerken ist, kommt sie im staatsrechtlichen Denken dem Staat zu. So hat bereits Paul Laband dem Staat einen die Menschen überragenden Subjektstatus verliehen, da er die rechtlichen Regeln und Gesetze in sich trägt. Bei Georg Jellinek ermöglicht die Auffassung des Staates als Rechtsperson immerhin die Unterscheidung zwischen der Person des Fürsten und des Staates mit der Folge der Überwindung des Patrimonialstaates, da das Territorium und die Untertanen nicht mehr als Quasi-Eigentum des Herrscherhauses betrachtet werden können. Allerdings führt die Persondeutung des Staates zu einer Staatsverklärung und zu einer Degradierung der Bürger zu Objekten obrigkeitlicher Gewalt. Diese Auffassung des Staates als

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Person basiert philosophiehistorisch auf den naturrechtlichen Vertragstheorien seit Pufendorf und auf Hegels Auffassung vom Staat als weltlicher Manifestation des Absoluten, womit der die Staatsperson versinnbildlichende Monarch überhöht wird, während die persönlichen Grundrechte der Bürger reduziert werden. Eine liberale Zurückweisung des Staates als Person, wie sie im gleichen Zeitraum ausgebildet wird, zeigt Kreß besonders an den Positionen von Hugo Preuß und Hans Kelsen auf. Sie lehnen es ab, den Staat als an sich existierende Entität zu begreifen, da er vielmehr nur Rechtsstaat ist. Gegen diese Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit betonende Position stellt der Autor mit Carl Schmitt und Rudolf Smend zwei nicht-liberale Positionen vor, die die persönlichen Grundrechte, die Volkssouveränität und den Parlamentarismus in Abrede stellen. In diesem Zusammenhang wird auch eine Gleichgerichtetheit von Barth und Schmidt deutlich, denn beide sprechen sich gegen den Gedanken der Säkulari­ sierung wie gegen liberales Denken aus. Die Übertragung des anthropologischen Begriffes der Person auf den Staat bezeichnet Kreß als Metábasis eìs állo génos, also als Denkfehler, der einen Begriff einer anderen Gattung unzulässig verwendet und damit überdeckt, dass der Staat von Menschen für Menschen gemacht ist. Folgerichtig schlägt er vor, den Personbegriff nur univok für den einzelnen Menschen zu verwenden und die Vorstellung vom Staat als Person, als eines aktiven Entscheidungsträgers, zurückzunehmen. Außerdem betont er den zuletzt vermerkten liberalen Denkimpuls als zu bewahrendes Erbe für ein heutiges Staatsdenken. Damit ist auch die Überleitung zum zweiten Teil des Buches gebildet. Hier wird die Grund­ lage für eine liberale Auffassung gelegt, die nicht auf die Staatsperson zielt, sondern die die Rechte des einzelnen Menschen als die den Staat legitimierende Norm versteht. Dazu stellt Kreß fünf Entwicklungslinien des theoretischen Nachdenkens über den Staat heraus, die sich seit der Epochenwende von Renaissance / Reformation ausgebildet haben, aber von vielen Autoren im 19. und 20. Jahrhundert nicht berücksichtigt worden sind:– mit der Säkularisierung die Emanzipation des Staates von Kirchen und Religion; –– mit der Idee der Utopie den Gedanken der Zukunftsgestaltung durch den Staat; –– den Denkweg vom Machtstaat zur ethischen Deutung von Staat und Politik; –– die Abkehr vom staatlichen Paternalismus zur Befähigungsgerechtigkeit; –– mit dem Rechtsstaatsgedanken die Ermöglichung eines Lebens in Freiheit. Diese fünf Unterkapitel beschreiben anhand wichtiger Denkansätze das Entstehen einer säkularen politischen Ethik, die die humane Gestaltung des öffentlichen Lebens in den Blick nimmt. Der moderne säkulare und weltanschaulich neutrale Staat beruht auf der ethischen Grundlage der Menschenwürde und der Menschenrechte, aber nicht mehr auf der der Religion. Die Reflexionen um die Zukunftsgestaltung durch den Staat bedenkt Kreß in der Struktur einer liberalen Utopie, dass nämlich „die staatliche Gestaltung künftiger soziokultureller Lebensbedingungen die persönlichen Grundrechte der Menschen zu beachten und sich (...) auf Kriterien des Menschengerechten zu stützen hat“ (145). Seitens der Beschreibung der Aufgabe der Politiker hält es Kreß mit der politischen Ethik von Max Weber, der mit seinem tatsachenbezogenem und pragmatischem Typus von Politik eine dementsprechende Verantwortlichkeit der Politiker eingefordert hat. Wenn diese nicht wahrgenommen wird, folgt eine Vertrauenskrise in die Politik und den Staat. Gegen den historischen Staatspaternalismus oder den gegenwärtigen Neopaternalismus, wie er sich am Durchgriff des Staates auf persönliche Überzeugungen zeigt, setzt Kreß auf die von Amartya Sen und Martha Nussbaum ausgearbeitete Theorie der Befähigungsgerechtigkeit: die einzelnen Menschen

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sollen in die Lage versetzt werden, gemäß dem eigenen Selbstverständnis und den subjektiven Perspektiven in Eigenverantwortlichkeit zu urteilen und zu handeln. Dem Staat kommt lediglich die Aufgabe zu, entsprechende Rahmenbedingungen für die aktive Ausübung der Freiheits- und Partizipationsrechte aller Bürger zu schaffen. Damit wird der quasi-paternalistische Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat zu einem, der Freiheit ermöglicht. Maßgeblich ist hier die Auffassung, dass jede Person als Zweck an sich auch der gleichen Achtung und Rücksicht würdig ist. Daneben stellt Kreß die Notwendigkeit heraus, Aspekte der Rechts­ staatlichkeit auch im Horizont der Globalisierung zu erwägen, um sicherzustellen, dass staatlicherseits keine Restriktionen oder Pönalisierungen vorgenommen werden, die dem liberalen Rechtsstaatsgedanken und dem Selbstbestimmungsrecht zuwiderlaufen. Beispielhaft weist er auf den unverhältnismäßigen Eingriff in Grundrechte der Betroffen hin, wenn eine Ethikkommission über jedes Fortpflanzungsvorhaben entscheiden muss, das durch eine Präimplantationsdiagnostik gestützt ist, wobei auch die persönlichen Belange der jeweiligen Frau eine Rolle spielen. Statt einer solchen Einzelfallgenehmigung schlägt er eine Ausweitung psychosozialer Beratung als Befähigung zu einem eigenen Entschluss vor. Mit diesen Überlegungen ist die liberale Position des Staatsverständnisses als Ertrag der neuzeitlichen Rechtsgeschichte und Philosophiehistorie erfasst, der nicht als Staatsperson überhöht ist, sondern funktional verstanden wird, da er seine Legitimation daraus gewinnt, „dass er auf die Grundrechte der einzelnen Menschen verpflichtet ist“ (237). Nunmehr kann Kreß im dritten Teil den liberalen Personbegriff zur angemessenen Ausgestaltung heutiger Staatlichkeit darlegen: Zuerst werden die Akteure politischer Gestaltung in den Blick genommen. Zweitens wird der „Personbegriff als normatives Kriterium politischer Ethik“ (239) erörtert. Drittens wird am Beispiel der Kinderrechte die in die Zukunft gerichtete Gestaltungsverantwortung politischer Ethik untersucht. – Kreß befragt am Beispiel des üblichen Fraktionszwanges bei parlamentarischen Abstimmungen die Bedeutung der Gewissensverantwortung der Berufspolitiker. Ausdrücklich weist er das Missverständnis zurück, bei der Gewissensentscheidung gehe es um subjektive ethische Auffassungen. Denn in diesem Fall sind gewissenhafte Entscheidungen „an die ethische Vernunft gebunden, so dass eine rationale Abwägung einschlägiger Werte und der Handlungskonsequenzen zu erfolgen hat und die Willensbildung in der Bevölkerung ernst zu nehmen ist“ (244). Diese Erwägung plädiert also für das Einnehmen der Perspektive des Allgemeinwohles. Außerdem tragen in einer Demokratie nicht nur die Berufspolitiker, sondern alle Bürger aufgrund ihrer Aktivbürgerschaft sowohl zivilgesellschaftliche als auch staatsgestaltende Verantwortung, wie es dem Anliegen einer direkten Demokratie entspricht. – In Wiederaufnahme der Denkfigur der univoken Verwendung des Personbegriffes stellt Kreß ihn als „normatives Kriterium politischer Ethik“ (254) heraus, denn politisches Handeln hat sich daran zu messen, ob es sich an den Kriterien des Menschengerechten bzw. an den legitimen Interessen der Personen orientiert. Dabei bezieht sich der Personbegriff auf die menschliche Person als Vernunftwesen in ihrer Individualität, leiblichen Ganzheit und Reziprozität zu anderen Menschen. Dieser Personbegriff stellt sich kritisch zu einem aktuellen Gebrauch, der ihn auch für Tiere und Roboter verwendet, dabei aber die Differenzen zwischen Menschen, anderen Lebewesen und neuartigen Artefakten einebnet. – Die Zukunftsverpflichtung der Politik konkretisiert Kreß an den Kinderrechten. Durch sie wird über die Gegenwart hinaus der Primat der Einzelperson verdeutlicht und jedem Kind, jedem Menschen das Recht auf positive Entwicklung und das erlangbare Maß an Gesundheit eröffnet, also seine persönliche Zukunftsperspektive. Angesichts der gegenwärtigen Identitäts- und Akzeptanzkrise des Staates hat Kreß mit seiner Konzeption der politischen Ethik als Ethik der Person einen nachdenkenswerten und praktizierbaren Weg aufgezeigt, wie menschengerechte Lebensbedingungen und die Teil-

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Rezensionen – Recensions

habe an der Gesellschaft möglich sind, wobei er aber auch den wichtigen Aspekt der Mit- und Eigenverantwortung herausstellt. Die Bedeutung dieses Ansatzes liegt darin, dass hier ein Kontrapunkt zu gegenwärtigen populistischen Denkweisen aufgebaut wird. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ein (literarisches) Gespräch mit dem gerade erschienenen Buch „Die Politische Ökonomie des Populismus“ von Philip Manow an dieser Stelle interessant wäre. Kreß´ Buch besticht zudem durch seine präzise Argumentation, die Fülle der dargestellten theoretischen Positionen und deren Beziehungen – von denen hier nur wenige Hauptlinien aufgeführt werden konnten. Aber auch die gut gewählten Beispiele zur Erläuterung schwie­ riger Sachverhalte und nicht zuletzt die klare Sprache verdienen eine positive Erwähnung. Wolfgang Erich Müller

Verzeichnis der Schriften von Joachim Hruschka I. Bücher und Herausgeberschaften Kant und der Rechtsstaat: und andere Essays zu Kants Rechtslehre und Ethik, Verlag Karl Alber, München 2015, 264 S. (ebook Herder 2016). Kant’s Doctrine of Right. A Commentary. Cambridge University Press, Cambridge 2010, 346 S. (zusammen mit B. Sharon Byrd). Herausgabe (zusammen mit B. Sharon Byrd): Kant and Law, Hants (Ashgate), 2006 [19 Artikel zu Kants Rechtslehre von verschiedenen Autoren, Bibliographie englisch- und deutsch-sprachiger Publikationen zu Kants Rechtslehre, Indices], XXIX, 571 S. Imputación y derecho penal – Estudios sobre la teroía de la imputación, edición a cargo de Pablo Sánchez-Ostiz. The Global Law Collection, Legal Studies Series, Cizur Menor (Navarra) [Aranzadi, Thomson], 2005, 283 S. Herausgabe (zusammen mit B. Sharon Byrd und Jan C. Joerden): Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Review of Law and Ethics, Bde. 1 – 12 (1993 – 2004) und 14 – 25 (2006 – 2017), Duncker & Humblot, Berlin. Strafrecht nach logisch-analytischer Methode – Systematisch entwickelte Fälle mit Lösungen zum Allgemeinen Teil, Walter de Gruyter: Berlin (de Gruyter Studienbuch), 1. Aufl. 1983, 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. 1988. Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767 – Zur Geschichte der deontischen Grundbegriffe in der Universaljurisprudenz zwischen Suarez und Kant, Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius – Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, Hamburg / Göttingen 1986. Strukturen der Zurechnung, Walter de Gruyter: Berlin 1976. Das Verstehen von Rechtstexten – Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, Münchener Universitätsschriften, Reihe der Juristischen Fakultät, Bd. 22, Beck Verlag: München 1972. Italienische Übersetzung: La comprensione dei testi giuridici. Traduzioni della Scuola di perfezionamento in diritto civile dell’Università di Camerino, Bd. 9, 1983. Die Konstitution des Rechtsfalles – Studien zum Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 4, Duncker & Humblot: Berlin 1965. Italienische Übersetzung: La costituzione del caso giuridico : il rapporto tra accertamento fattuale e applicazione giuridica, Bologna 2009.

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II. Aufsätze Freiheit und Rechtsstaat in Kants Rechtslehre, in: Matthias Kaufmann / Joachim Renzi­ kowski (Hg.), Freiheit als Rechtsbegriff, Duncker & Humblot, Berlin 2016, S. 19 – 30. Der Erwerb von Rechten durch eine letztwillige Verfügung in § 34 von Kants Rechtslehre, in: Stefan Arnold / Stephan Lorenz (Hg.), Gedächtnisschrift für Hannes Unberath, C.H. Beck, München 2015, S. 213 – 221. Die Interpretation von Kants Strafrechtsphilosophie – eine Wissenschaft oder eine Ideologie? in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 124 (2012), S. 232 – 235. Die „Verabschiedung“ Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968: Einige Korrekturen in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 122 (2010), S. 493 – 503. From the State of Nature to the Juridical State of States in: Law and Philosophy 27 (2008), S. 599 – 641 (zusammen mit B. Sharon Byrd). Kant, das Recht zum Kriege und der rechtliche Zustand im Verhältnis der Staaten zueinander, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 94 (2008), S. 70 – 85 (zusammen mit B. Sharon Byrd). Kant zu Strafrecht und Strafe im Rechtsstaat, in: Juristenzeitung 2007, S. 957 – 964. Von Rechten, die keinen Richter haben – Der Notstand im Argumentationszusammenhang von Kants Rechtslehre, in: Michael Pawlik u. a. (Hg.), Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag, 2007, S. 189 – 204. Kriterien eines bürgerlichen Zustandes in Kants Rechtslehre, in: Michael Hettinger u. a. (Hg.), Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 183 – 196. Praktische Vernunftschlüsse und die Dreiteilung der staatlichen Gewalt in Kants ‚Rechtslehre‘ von 1797, in: Juristische Fakultät der Aristoteles Universität Thessaloniki (Hg.), Festschrift für Ioannis Manoledakis Bd. III (Τιμητικός τόμος για τον Ιωάννη Μανωλεδάκη III), Sakkoulas Publications S. A. (Εκδόσεις Σάκκουλα Α.Ε.), Athen / Thessaloniki, 2007, S.  15 – 30. Der ursprünglich und a priori vereinigte Wille und seine Konsequenzen in Kants ‚Rechtslehre‘, Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Review of Law and Ethics 14 (2006), S. 141 – 165 (zusammen mit B. Sharon Byrd). The Natural Law Duty to Recognize Private Property Ownership – Kant’s Theory of Property in his ‚Doctrine of Right‘, University of Toronto Law Journal 56 (2006), S. 217 – 282 (zusammen mit B. Sharon Byrd). Introduction, in: Byrd / H ruschka (Hg.), Kant and Law, 2006, S. XIII – XXIX (zusammen mit B. Sharon Byrd). Kant on „Why Must I Keep My Promise?“, Chicago-Kent Law Review 81 (2006), S. 47 – 74 (zusammen mit B. Sharon Byrd). –– erneut abgedruckt in: Ripstein (Hg.), Immanuel Kant, Routledge, 2008, ebook 2017, Chapter 10. Lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae in Kants ‚Rechtslehre‘, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 91 (2005), S. 484 – 500; (zusammen mit B. Sharon Byrd)

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Die Zurechnungslehre Kelsens im Vergleich mit der Zurechnungslehre Kants, in: Stanley L. Paulson und Michael Stolleis (Hg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 2 – 16. The Permissive Law of Practical Reason in Kant’s ‚Metaphysics of Morals‘, Law and Philosophy 23 (2004), S. 45 – 72 (zusammen mit B. Sharon Byrd). –– erneut abgedruckt in: Ripstein (Hg.), Immanuel Kant, Routledge, 2008, ebook 2017, Chapter 9. Kants Rechtsphilosophie als Philosophie des subjektiven Rechts, in: Juristenzeitung 2004, S.  1085 – 1092. Die goldene Regel in der Aufklärung – die Geschichte einer Idee, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Review of Law and Ethics, Band 12 (2004), S. 157 – 172 The Permissive Law of Practical Reason in Kant’s Metaphysics of Morals, in: Law and Philosophy, Bd. 23 (2004), S. 45 – 72. Auf dem Wege zum kategorischen Imperativ, in: U. Rameil u. a. (Hg.), Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, Walter de Gruyter: Berlin / New York 2004, S. 167 – 181. Das deontologische Sechseck in der Jurisprudenz, in: R. Krause u. a. (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, Duncker & Humblot: Berlin 2004, S. 775 – 788. Die Notwehr im Zusammenhang von Kants Rechtslehre, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 115 (2003) S. 201 – 223. Der Einfluß des Aristoteles und der Aristoteles-Rezeptionen auf die Bildung heutiger Rechtsbegriffe am Beispiel der „actio libera in causa“, in: H. de Wall u. a. (Hg.), Festschrift für Christoph Link zum 70. Geburtstag, Mohr Siebeck: Tübingen 2003, S. 687 – 704. „Actio libera in causa“ und mittelbare Täterschaft, in: D. Dölling u. a. (Hg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag, C.F. Müller Verlag: Heidelberg 2002, S. 145 – 155. Die Würde des Menschen bei Kant, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 88 (2002), S.  463 – 480. Englische Übersetzung: Kant and Human Dignity, in: Byrd / H ruschka (Hg.), Kant and Law, 2006, S. 69 – 84. Bestrafung des Täters trotz Rechtfertigung der Tat? Zu den „Provokations-“ und ähnlichen Fällen, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 113 (2001), S.  870 – 884. Utilitarismus in der Variante von Peter Singer, in: Juristenzeitung 2001, S. 261 – 271. Wieso ist eigentlich die „eingeschränkte Schuldtheorie“ „eingeschränkt“? - Abschied von einem Meinungsstreit, in: B. Schünemann (Hg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, Walter de Gruyter: Berlin 2001, S. 441 – 456. Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhunderts, in: J. Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. September - 1. Oktober 1999 (Contubernium: Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte), Steiner: Stuttgart 2001, S. 203 – 214.

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Existimatio: Unbescholtenheit und Achtung vor dem Nebenmenschen bei Kant und in der Kant vorangehenden Naturrechtslehre, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Review of Law and Ethics, Duncker & Humblot: Berlin, Bd. 8 (2000), S. 181 – 195. Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 112 (2000), S. 285 – 300. Zur Interpretation von Pufendorfs Zurechnungs- und Notstandslehre in der Rechtslehre der Aufklärung, in: M. Beetz u. a. (Hg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, Böhlau Verlag: Köln / Weimar / Wien 2000, S. 181 – 195. Das delictum perfectum zwischen Versuch und Vollendung, in: Karl Heinz Gössel u. a. (Hg.), Gedächtnisschrift für Heinz Zipf, C.F. Müller Verlag: Heidelberg 1999, S. 235 – 253. Supererogation and Meritorious Duties, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Review of Law and Ethics, Duncker & Humblot: Berlin, Bd. 6 (1999), S. 93 – 108. Regreßverbot, Anstiftungsbegriff und die Konsequenzen, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 110 (1998), S. 581 – 610. Spanische Übersetzung: Prohibición de Regreso y Concepto de Inducción. Consecuencias, in: Revista de Derecho Penal y Criminología: Madrid, Bd. 5 (2000), S. 189 – 218. Zurechnung und Notstand – Begriffsanalysen von Pufendorf bis Daries, in: J. Schröder (Hg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 18.-20. April 1996 (Contubernium: Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte), Steiner: Stuttgart 1998, S. 163 – 176. Der Gegenstand der Debatte über die Abtreibung, in: H. Lampert (Hg.), Schutz des menschlichen Lebens – Ethische, rechtliche und sozialpolitische Aspekte (Interdisziplinäre gesellschaftspolitische Gespräche an der Universität Augsburg, Bd. 5), EOS-Verlag: St. Ottilien 1997, S. 97 – 115. Die actio libera in causa bei Vorsatztaten und bei Fahrlässigkeitstaten – Zugleich Anmerkung zur Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH vom 22. 8. 1996 – 4 StR 217/96, in: Juristenzeitung 1997, S. 22 – 27. Ranking der Rechts-Fakultäten und Reform der Juristenausbildung: Was können wir von den Amerikanern lernen?, in: Juristenzeitung 1996, S. 161 – 169. Die Blockade einer Autobahn durch Demonstranten – eine Nötigung?, in: Neue Juristische Wochenschrift 1996, S. 160 – 164. Die actio libera in causa, speziell bei § 20 StGB – mit zwei Vorschlägen für die Gesetzgebung, in: Juristenzeitung 1996, S. 64 – 72. Die Nötigung im System des Strafrechts, in: Juristenzeitung 1995, S. 737 – 745. Spanische Übersetzung: La coacción en el sistema del Derecho Penal, in: Actualidad Penal: Madrid 2000 I, S. 51 – 68. Co-Subjectivity, the Right to Freedom, and Perpetual Peace, in: H. Robinson (Hg.), Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Marquette University Press: Milwaukee 1995, S. 215 – 227.

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Rechtsstaat und Friedenshoffnung, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Review of Law and Ethics, Bd. 3 (1995), S. 235 – 251. Das Opferverhalten als Schlüssel zum System der Sachentziehungsdelikte, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Law Review of Law and Ethics, Bd. 2 (1994), S. 177 – 190. Spanische Übersetzung: La conducta de la víctima como clave para un sistema de los delitos patrimoniales que llevan consigo sustracción, in: Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales: Madrid, Bd. LII (1999), S.  451 – 466. –– auch in: Revista Peruana de Doctrina y Jurisprudencia Penales: Lima 2001, S. 181 – 199. Rechtsstaat, Freiheitsrecht und das „Recht auf Achtung von seinen Nebenmenschen“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Law Review of Law and Ethics, Bd. 1 (1993), S.  193 – 206. Kants Bearbeitung der Goldenen Regel im Kontext der vorangegangenen und der zeitgenössischen Diskussion, in: Fritjof Haft (Hg.), Strafgerechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, C.F. Müller Verlag: Heidelberg 1993, S. 129 – 140. Die Todesschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht, in: Juristenzeitung 1992, S. 665 – 670. Universalization and Related Principles, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 78 (1992), S. 289 – 300. Vorpositives Recht als Gegenstand und Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Juristenzeitung 1992, S. 429 – 438. Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln, in: Rechtstheorie Bd. 22 (1991), S. 449460. Spanische Übersetzung: Reglas de comportamiento y reglas de imputación, Cuadernos de doctrina y jurisprudencia penal. Año IV, Nº 8-A (1998), S. 67 – 82; –– auch in: Diego-Manuel Luzón Peña u. a. (Hg.), Causas de Justificación y de Atipicidad en Derecho Penal: Pamplona 1995, S. 171 – 186; –– sowie in: Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales: Madrid, Bd. XLVII (1994), S.  343 – 356. The Greatest Happiness Principle and Other Early German Anticipations of Utilitarian Theory, in: Utilitas, Bd. 3 (1991), S. 165 – 177. Zum Lebensrecht des Foetus in rechtsethischer Sicht, in: Juristenzeitung 1991, S. 507 – 509. Der Standard-Fall der aberratio ictus und verwandte Fallkonstellationen, in: Juristenzeitung 1991, S.  488 – 492. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe: Das Brett des Karneades bei Gentz und bei Kant, in: Goltdammer’s Archiv 1991, S. 1 – 10. Englische Übersetzung: On the History of Justification and Excuse in Cases of Necessity, in: Werner Krawietz (Hg.), Prescriptive Formality and Normative Rationality in Modern Legal Systems, Festschrift für Robert S. Summers, Duncker & Humblot: Berlin 1994, S. 337 – 349.

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The Hexagonal System of Deontic Concepts according to Achenwall and Kant, in: Ignacio Angelelli u. a. (Hg.) Estudios de Historia de la Logica, Eunate, Pamplona 1990, S.  277 – 294. Die Person als ein Zweck an sich selbst – Zur Grundlegung von Recht und Ethik bei August Friedrich Müller (1733) und Immanuel Kant (1785), in: Juristenzeitung 1990, S. 1 – 15. Probleme der actio libera in causa heute, in: Juristenzeitung 1989, S. 310 – 316. Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ, in: Juristenzeitung 1987, S. 941 – 952. Japanische Übersetzung: The Seinan Law Review, Bd. 31, Heft 4 (1999), S. 1 – 56. Strafe und Strafrecht bei Achenwall – Zu einer Wurzel von Feuerbachs psychologischer Zwangstheorie, in: Juristenzeitung 1987, S. 161 – 169. Supererogation: Vom deontologischen Sechseck zum deontologischen Zehneck – Zugleich ein Beitrag zur strafrechtlichen Grundlagenforschung, (zusammen mit Jan C. Joerden), in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 73 (1987), S. 93 – 123. Imputation, in: Brigham Young University Law Review 1986, S. 669 – 710. Ebenfalls in: Albin Eser u. a. (Hg.), Rechtfertigung und Entschuldigung: Rechtsvergleichende Perspektiven – Justification and Excuse: Comparative Perspectives, Bd. I, 1987, S. 121 – 174, (Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg). Über Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes, in: Karl Heinz Gössel (Hg.), Strafverfahren im Rechtsstaat, Festschrift für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag, 1985, S.  191 – 202. Kann und sollte die Strafrechtswissenschaft systematisch sein?, in: Juristenzeitung 1985, S.  1 – 10. Spanische Übersetzung: ¿Puede y debería ser sistemática la dogmática jurídico-penal? Editorial Mediterránea: Cordoba, Argentina 2003. Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf – Zur Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa , in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 96 (1984), S.  661 – 702. Spanische Übersetzung: La imputación ordinaria y extraordinaria en Pufendorf. Sobre la historia y el significado de la diferencia entre actio libera in se y actio libera in causa, in: Nuria Pastor Muñoz, Universidad Externado de Colombia: Cuadernos de Conferencias y Artículos N.°35 (2006); –– sowie in: Revista de Derecho penal y Criminología, 2003, S. 213 – 252.

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Alternativfeststellung zwischen Anstiftung und sog. psychischer Beihilfe – Zugleich eine Anmerkung zu der Entscheidung BGHSt 31, 136, in: Juristische Rundschau 1983, S.  177 – 181. Pflichtenkollisionen und Pflichtenkonkurrenzen, in: Claus-Wilhelm Canaris (Hg.), Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, Beck Verlag: München 1983, S. 257 – 289. Die Herbeiführung eines Erfolges durch einen von zwei Akten bei eindeutigen und bei mehrdeutigen Tatsachenfeststellungen, in: Juristische Schulung 1982, S. 317 – 325. Das Strafrecht neu durchdenken! Überlegungen aus Anlaß des Buches von George P. Fletcher, Rethinking Criminal Law, in: Goltdammer’s Archiv 1981, S. 237 – 250. Spanische Übersetzung: ¡Repensar el derecho penal! Reflexiones a propósito del libro „Rethinking Criminal Law“ de George P. Fletcher, Revista Chilena de Derecho 31 (2004), S. 89 – 104. Hehlerei und sachliche Begünstigung – Probleme zweier unfertiger Deliktskategorien, in: Juristische Rundschau 1980, S. 221 – 226. Der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsurteils nach heutigem Strafrecht. – Zur Konsistenz möglicher Konzeptionen von der Bedeutung der Tatumstandsirrtümer, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 1980, S. 1 – 22. Rechtfertigung oder Entschuldigung im Defensivnotstand? (Besprechung von BGH NJW 79, 2053), in: Neue Juristische Wochenschrift 1980, S. 21 – 23. Zwei Axiome des Rechtsdenkens, in: Heinrich Ackermann u. a. (Hg.), Aus dem Hamburger Rechtsleben, Walter Reimers zum 65. Geburtstag, Duncker & Humblot: Berlin 1979, S. 459 – 475. Rettungspflichten in Notstandssituationen, in: Juristische Schulung 1979, S. 385- 393. Über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit, in: Arthur Kaufmann (Hg.), Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag, Beck Verlag: München 1979, S. 421 – 436. Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, in: Hans-Heinrich Jescheck (Hg.), Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag, Walter de Gruyter: Berlin 1977, S. 189 – 210. Methodenprobleme bei der Tatzurechnung trotz Schuldunfähigkeit des Täters – Zugleich eine Apologie des Art. 12 SchwStGB, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, Bd. 90 (1974), S. 48 – 77. Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin, in: Günter Stratenwerth (Hg.), Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag, Walter de Gruyter: Berlin 1974, S.  115 – 149. Zum favor traditionis bei der Anwendung von Gesetzen – dargestellt am Beispiel des § 40 Abs. 2 GVG, in: Gotthard Paulus u. a. (Hg.), Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, Beck Verlag: München 1973, S. 181 – 197. Rückkehr zum dolus subsequens? in: Juristenzeitung 1973, S. 278 – 279. Zum Tatvorsatz bei zweiaktigen Delikten, insbesondere bei der Entführung des § 237 n. F. StGB, in: Juristenzeitung 1973, S. 12 – 15. „Wahlfeststellung“ zwischen Diebstahl und sachlicher Begünstigung? in: Neue Juristische Wochenschrift 1971, S. 1392 – 1394.

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Zur Logik und Dogmatik von Verurteilungen aufgrund mehrdeutiger Beweisergebnisse im Strafprozeß, in: Juristenzeitung 1970, S. 637 – 641. Zur Frage des Wirkungsbereichs eines freiwilligen Rücktritts vom unbeendeten Versuch, in: Juristenzeitung 1969, S. 495 – 499. Methodologische Bemerkungen zur Auslegung des § 236 StGB, in: Juristische Rundschau 1968, S.  454 – 456. Die Dogmatik der Dauerstraftaten und das Problem der Tatbeendigung, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 1968, S. 193 – 206. Der Begriff der actio libera in causa und die Begründung ihrer Strafbarkeit – BGHSt 21, 381, in: Juristische Schulung 1968, S. 554 – 559. Zum Problem der Verbindlichkeit von Rechtsnormen – Die Thesen Rupert Schreibers von der „Unverbindlichkeit der Verbindlichkeit“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 54 (1968), S. 159178. Zum Problem der „Wahlfeststellungen“, in: Monatsschrift für Deutsches Recht 1967, S.  265 – 269. Konkurrenzfragen bei den sog. erfolgsqualifizierten Delikten, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 1967, S. 42 – 51. Zum Tatbestandsmerkmal „wider ihren Willen“ in § 236 StGB, in: Juristenzeitung 1967, S.  594 – 597. Anstiftung zum Meineid und Verleitung zum Falscheid, in: Juristenzeitung 1967, S.  210 – 212. Der Begriff der „Tat“ im Strafverfahrensrecht, in: Juristenzeitung 1966, S. 700 – 703. Rechtsanwendung als methodologisches Problem, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 50 (1964/65), S. 485501.

III. Entscheidungsanmerkungen Anmerkung (über die Auslösung einer Ordnungswidrigkeit durch eine falsche Rechtsauskunft seitens eines Anwalts) zum Beschluß des OLG Düsseldorf vom 06. 09. 1983 -2 Ss (OWi) 307/83 – 275/83 I (= Juristische Rundschau 1984, 257), in: Juristische Rundschau 1984, S.  258 – 263. Anmerkung (über die zurechenbare Herbeiführung der Situation einer rechtfertigenden Pflichtenkollision) zum Beschluß des OLG Karlsruhe vom 22. 08. 1983 – 2 Ss 127/83 (= Juristenzeitung 1984, 240), in: Juristenzeitung 1984, S. 241 – 244. Anmerkung (zum Simultaneitätsprinzip) zum Beschluß des BGH vom 14. 06. 1983 – 4 StR 298/83 (= Juristenzeitung 1983, 864), in: Juristenzeitung 1983, S. 864 – 865. Anmerkung (zur Beendigungsproblematik) zum Urteil des BGH vom 10. 08. 1982 – 1 StR 416/82 (= BGHSt 31, 105), in: Juristenzeitung 1983, S. 217 – 218. Anmerkung (über die zurechenbare Herbeiführung einer Situation des rechtfertigenden Aggressivnotstandes) zum Beschluß des BayObLG vom 26. 05. 1978 – 3 Ob OWi 38/78 (= Juristische Rundschau 1979, 124), in: Juristische Rundschau 1979, S. 125 – 128.

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Anmerkung (zur Zurechnung einer Einwilligungserklärung) zum Urteil des BGH vom 22. 02. 1978 - Nr. 2 StR 372/77 (= Juristische Rundschau 1978, 518), in: Juristische Rundschau 1978, S. 519 – 522. Anmerkung (über Diebstahl mit Waffen) zum Urteil des OLG Köln vom 20. 09. 1977 Nr. Ss 514/77 (= Neue Juristische Wochenschrift 1978, 652), in: Neue Juristische Wochenschrift 1978, S. 1338. Anmerkung (zur „Wahlfeststellungs“problematik) zum Beschluß des BayObLG vom 30. 03. 1977 - RReg 5 St 1/77 (= Juristische Rundschau 1978, 25), in: Juristische Rundschau 1978, S. 26 – 28. Anmerkung (zur „Wahlfeststellungs“problematik) zum Urteil des BGH vom 15. 05. 1973 – Nr. 4 StR 172/73 (= BGHSt 25, 182), in: Neue Juristische Wochenschrift 1973, S.  1804 – 1805. Anmerkung (zur Führerscheinbeschlagnahme) zum Beschluß des BGH vom 23. 05. 1969 – Nr. 4 StR 585/68 (= BGHSt 22, 385), in: Neue Juristische Wochenschrift 1969, S.  1634 – 1635. Anmerkung (zur Führerscheinbeschlagnahme durch die Polizei) zum Urteil des OLG Stuttgart vom 11. 12. 1968 Nr. 1 Ss 666/68 (= Neue Juristische Wochenschrift 1969, 760), in: Neue Juristische Wochenschrift 1969, S. 1310 – 1311. Anmerkung (zur Frage der Tatbeendigung) zum Urteil des BGH vom 23. 08. 1968 - Nr. 4 StR 310/68 (BGHSt 22, 227), in: Juristenzeitung 1969, S. 607 – 609.

IV. Miszellen Rezension: Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz von Ulli F. H. Rühl; Jahrbuch für Recht und Ethik / A nnual Review of Law and Ethics 21 (2013), S. 333 – 336. Justifications and Excuses: A Systematic Approach, in: Ohio State Journal of Criminal Law, Bd. 2 (2005), S. 407 – 413. Zurechnung seit Pufendorf. Insbesondere die Unterscheidungen des 18. Jahrhunderts, in: M. Kaufmann u. a. (Hg.), Zurechnung als Operationalisierung von Verantwortung, Peter Lang: Frankfurt am Main 2004, S. 17 – 27. Die Unterscheidung von Pflicht und Obliegenheit, angewendet auf die Selbstberauschung, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Recht auf Rausch und Selbstverlust durch Sucht, Peter Lang: Frankfurt am Main 2003, S. 291 – 303. Achtung und Mißachtung der Würde des Menschen, in: Fritjof Haft u. a. (Hg.), Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat), Nomos Verlagsgesellschaft: Baden-Baden (2001), S. 95 – 100. Gedanken zur amerikanischen Juristenausbildung, in: Juristenzeitung 1999, S. 455 – 457. Zur Auslegung des Tatbestands der Hehlerei – Zugleich eine Anmerkung zu der Entscheidung des BGH vom 25. 7. 1996 - Nr. 4 StR 202/96, in: Juristenzeitung 1996, S. 1135 – 1136. „Abwägende“ Vernunft? – Ein Gegenvorschlag. Stellungnahme zu dem Beitrag „Ethik der abwägenden Vernunft“ von Friedo Ricken, in: Ethik und Sozialwissenschaften Heft 4, 1993, S.  612 – 614.

748

Verzeichnis der Schriften von Joachim Hruschka

Recht und Unrecht bei Norbert Hoerster, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 79 (1993), S. 421 – 424. Jogállam és büntetöjogi elévülés, in: Erhard von der Bank (Hg.), A múlt feldolgozása a jogállam eszközeivel. Jogtudományi konferencia elöadásgyüjteménye, Konrad Adenauer Stiftung: Budapest 1992, S. 53 – 62 (Rechtstaat und strafrechtliche Verjährung, Vortrag im Rahmen der Konferenz: Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den postkommunistischen Ordnungen – Grenzen und Möglichkeiten des Rechtsstaats, Budapest 15.-16. Mai 1992). Der sächsische Jurist Johann Balthasar Wernher und das Prinzip der Verallgemeinerung in der Ethik, in: Juristische Schulung 1992, S. 283 – 284. Zur Ahndung der Nichterfüllung von Steuerabzugspflichten im geltenden und im künftigen Recht, in: Deutsches Steuerrecht 1968, S. 263 – 265. Die Nichterfüllung von Steuerabzugspflichten und die Grenzen ihrer Strafbarkeit nach § 413 Abs. 2 Satz 2 AO, in: Deutsches Steuerrecht 1966, S. 696 – 698.

V. Fallbesprechung Der praktische Fall / Strafrecht: Die Eidesbrüder (zusammen mit Wolfgang Kässer) in: Juristische Schulung 1972, S. 709 – 715.

VI. Artikel in Wörterbüchern und Lexika „Achenwall, Gottfried“, „Axiom der äußeren Freiheit“, „Beccaria, Cesare“, „Eigentum“, „Erlaubnis“, „Erlaubnisgesetz“, „Gerechtigkeit“, „Gerechtigkeit, distributive“, „Gerechtigkeit, göttliche“, „Gerechtigkeit, kommutative“, „Gericht, göttliches“, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, „Kauf / Miete“, „Kauf / Verkauf“, „Lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae (distributivae)“, „Macht“, „Menschenrecht“, „Naturrecht“, „Notrecht“, „Reichtum“, „Sachenrecht“, „Sparsamkeit“, „Sicherheit (rechtlich)“, „Ulpian (Ulpianus, Domitius)“, „Vertrag“, „Wohlhabenheit“, „Zustand, rechtlicher“, in: M. Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr, Stefano Bacin (Hg.), Kant-Lexikon, Berlin 2015 „Notstand“, „Rechtspositivismus“, „Legal Positivism“, in: Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, bzw. Religion Past and Present, Brill Academic Publishers: Leiden 2011, Online 2015 „Unbescholtenheit“, „Vorsatz (juristisch)“, „Zurechnung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Schwabe Verlag: Basel, Schweiz / Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, Bd. 11 (2001) Sp. 120 – 121 und Sp. 1198 – 1200; Bd. 12 (2004) Sp.  1445 – 1448. „Wernher, Johann Balthasar“, „Zurechnung“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Schmidt Verlag: Berlin Bd. 5 (1998), S. 1274 – 1275 und S. 1803 – 1806.

Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Index of Authors and Editors Acosta, Francisco, LL.M., Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft, Theodor-W.-Adorno-Platz 4, D-60323 Frankfurt a.M. E-Mail: [email protected] Aichele, Alexander, Priv.-Doz. Dr., Kleine Ulrichstr. 32, D-06108 Halle E-Mail: [email protected] Alwart, Heiner, Prof. i. R. Dr. Dr. h. c., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Carl-Zeiss-Straße 3, D-07743 Jena E-Mail: [email protected] Arnold, Stefan, Prof. Dr., LL.M. (Cambridge), Westfälische Wilhelms-Universität, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Internationales Privatrecht, Universitätsstraße 14 – 16, D-48143 Münster E-Mail: [email protected] Ast, Stephan, PD Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Juristischer Bereich, LS Prof. Dr. Renzikowski, D-06099 Halle E-Mail: [email protected] Baron, Marcia, Prof. Dr., Indiana University, Department of Philosophy, Sycamore Hall 026, 1033 E. Third St., Bloomington, IN 47405-7005, U.S.A. E-Mail: [email protected] Beck, Susanne, Prof. Dr., Leibniz Universität Hannover, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht, Königsworther Platz 1, D-30167 Hannover E-Mail: [email protected] Becker, Christian, Prof. Dr., Stiftung Europa-Universität Viadrina, Juristische Fakultät, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt / Oder E-Mail: [email protected] Bung, Jochen, Prof. Dr., Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft, Rothenbaumchaussee 33, 20148 Hamburg E-Mail: [email protected] Burchard, Christoph, Prof. Dr., LL.M. (NYU), Goethe-Universität Frankfurt am Main, Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, HPF EXC 15, D-60629 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Cornacchia, Luigi, Prof. Dr., Università degli Studi di Bergamo, Dipartimento di Giurisprudenza, Via Moroni, 255, I-24127 Bergamo, Italien E-Mail: [email protected]

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Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Index of Authors and Editors

Funke, Andreas, Prof. Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Schillerstr. 1, D-91054 Erlangen Email: [email protected] Greco, Luís, Prof. Dr., LL.M., Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, ausländisches Strafrecht und Strafrechtstheorie, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin E-Mail: [email protected] Haas, Volker, Prof. Dr., Universität Heidelberg, Juristisches Seminar, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, 69117 Heidelberg E-Mail: [email protected] Heuser, Martin, Wiss. Mit., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Int. Strafrecht und Rechtsphilosophie (Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M.), Universität Regensburg, Universitätsstr. 31, D-93053 Regensburg E-Mail: [email protected] Heyd, David, Prof. Dr., Chaim Perelman Professor of Philosophy, Department of Philosophy, The Hebrew University of Jerusalem, Mount Scopus, IL-91905 Jerusalem, Israel E-Mail: [email protected] Hoche, Hans-Ulrich, Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum, Institut für Philosophie I, D-44780 Bochum; privat: Emil-Higelin-Straße 15, D-88048 Friedrichshafen E-Mail: [email protected] Jahn, Matthias, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie, Campus Westend, TheodorW.-Adorno-Platz 4, D-60323 Frankfurt a. M. E-Mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. i. R. Dr. Dr. h. c., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), vormals Lehrstuhl für Strafrecht, insbes. Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Kaufmann, Matthias, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, Emil-Abderhaldenstr. 26/27, D-06108 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Kindhäuser, Urs, Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Strafrechtliches Institut, Adenauerallee 24 – 42, D-53113 Bonn E-Mail: [email protected] Koriath, Heinz, Prof. Dr., Universität des Saarlands, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Campus Geb. C3 1, 1. OG Nord, D-66123 Saarbrücken E-Mail: [email protected] Kulenkampff, Jens, Prof. i. R. Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Philosophie, Bismarckstraße 1, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected]

Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Index of Authors and Editors

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Ludwig, Bernd, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Philosophisches Seminar, Humboldtallee 19, D-37073 Göttingen E-Mail: [email protected] Magnus, Dorothea, PD Dr., LL.M., Freie Universität Berlin, Boltzmannstr. 3, D-14195 Berlin E-Mail: [email protected] Mañalich, Juan Pablo, Prof. Dr., Universidad de Chile, Av. Santa María 076, 7520405, Providencia, Santiago, Chile E-Mail: [email protected] Montiel, Juan-Pablo, Prof. Dr., CRIMINT – Centro Virtual de Investigación en Derecho Penal, Dorrego 1488 3º D, CP 1646, Victoria, Provincia de Buenos Aires, Argentina E-Mail: [email protected] Müller, Wolfgang Erich, Prof. Dr., Am Berge 33, D-21335 Lüneburg E-Mail: [email protected] Nenon, Thomas J., Prof. Dr., University of Memphis, Dept. of Philosophy, Memphis TN 38152, U.S.A. E-Mail: [email protected] Neumann, Ulfrid, Prof. em. Dr. Dres. h. c., Goethe-Universität Frankfurt am Main, vormals Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Theodor-W.-Adorno-Platz 1, D-60323 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Noltenius, Bettina, Prof. Dr., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtsphilosophie, Universität Passau, Innstr. 40 (Nikolakloster), D-94032 Passau E-Mail: [email protected] Pérez del Valle, Carlos, Prof. Dr. Dr. h. c., Universidad San Pablo CEU, Facultad de Derecho, Avda. del Valle 21, E-28003 Madrid, Spanien E-Mail: [email protected] Rudolph, Tobias, Dr., Rudolph Rechtsanwälte, Westtorgraben 1, D-90429 Nürnberg E-Mail: [email protected] Sánchez-Ostiz, Pablo, Prof. Dr. Dr., Universidad de Navarra, Edificio Ismael Sánchez Bella, desp. 2750, E-31080 Pamplona, Spanien E-Mail: [email protected] Schick, Stefan, PD Dr., Universität Regensburg, Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie, Universitätsstraße 31, D-93053 Regensburg E-Mail: [email protected] Schmitt-Leonardy, Charlotte, Dr., Goethe-Universität Frankfurt am Main, c / o Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie, Campus West­ end, Theodor-W.-Adorno-Platz 4, D-60323 Frankfurt a. M. E-Mail: [email protected]

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Autoren- und Herausgeberverzeichnis – Index of Authors and Editors

Schuhr, Jan C., Prof. Dr., Universität Heidelberg, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie, Juristisches Seminar, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, D-69117 Heidelberg E-Mail: [email protected] Selimi, Adis, M.A., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Philosophie, Universitätsstraße 1, D-40225 Düsseldorf E-Mail: [email protected] Silva-Sánchez, Jesús María, Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. mult., 40.223 Edifici Roger de Llúria, Facultat de Dret – Universitat Pompeu Fabra, Ramon Trias Fargas, 25 – 27, E-08005 Barcelona, Spanien E-Mail: [email protected] Westphal, Kenneth R., Prof. Dr., Boğaziçi Üniversitesi, Department of Philosophy, 34342 Bebek, TR-Istanbul E-Mail: [email protected] Zabel, Benno, Prof. Dr., Universität Bonn, Strafrecht und Rechtsphilosophie, Professur für Strafrecht, Adenauerallee 24 – 42, D-53113 Bonn E-Mail: [email protected] Ziemann, Sascha, Prof. Dr., Leibniz Universität Hannover, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und ein weiteres Fach, Königsworther Platz 1, D-30167 Hannover E-Mail: [email protected]

Personenverzeichnis / Index of Persons Achenwall, Gottfried  167, 172, 219, 223 Adickes, Erich  192 f., 198 Adorno, Theodor W.  58, 61, 64 Ahrens, Heinrich  637 – 640 Aillapán, Lorenzo  715 Alexy, Robert  579 Altenhain, Karsten  586 Amo, Anton Wilhelm  188 Anscombe, Elizabeth  425 Anzilotti Dionisio  719 Arendt, Hannah  497 Aristoteles  139, 225, 229, 237, 243, 257, 259, 266, 574, 722 Arnim, Bettina v.  619 Asúa, Jimés d.  706 Baumgarten, Alexander Gottlieb  223, 271 – 297 Beling, Ernst v.  305, 311 Benhabib, Seyla  199 Bernasconi, Robert  191 – 195, 200 Béziau, Jean-Yves  178 f. Binding, Karl   317, 387, 393, 401 f., 408, 612 Birr, Christiane  609 Bloy, René  624 Boolos, George  155 Boulogne, Joseph Chevalier de SaintGeorges 188 Boxill, Bernard  201 – 203 Brandom, Robert B.  30–33 Brantingham, Jeffrey  537 Breitkopf, Gottlieb Immanuel  193 Brennan-Marquez, Kiel  538 Byrd, Sharon B.  34, 527, 639 f. Camus, Albert  17 Caniguan, Natalia  714 Caputo, John D.  20 Chiao, Vincent  545 f. Critchley, Simon  42

Daries, Joachim Georg  386, 660 Deciani, Tiberio  356 Dewey, John  576 Dias, Figueiredo  564 Diderot, Denis  142 Dworkin, Ronald  30 f., 37, 78 f., 136 Dyroff, Adolf  635, 645 Engisch, Karl  302, 348, 404 f., 489 Engländer, Armin  559 Eze, Emmanuel Chukwudi  191 Feuerbach, Johann Paul Anselm  483, 613, 674, 691 Fichte, Johann Gottlieb  195, 241, 590 Fletcher, George  412 Forster, Georg  193, 203 Foucault, Michel  135 f., 143, 538 Frank, Reinhard  345, 448 Gadamer, Hans-Georg  15 Garve, Christian  224 Glandien, Julian  664 Goethe, Johann Wolfgang v.  22 f., 25 Gourevitch, Victor  148 Gragl, Paul  719 Griswold, Charles  135 Grotius, Hugo  673 Günther, Johann Christian  23 Haas, Volker  368 f. Habermas, Jürgen  8–10, 19 f., 252 Haffke, Bernhard  549 Hälschner, Hugo  426 Hamann, Johann Georg  224 Harrington, James  205–210 Hart, Herbert Lionel Adolphus  201, 335 – 340, 414 f., 446 Hassemer, Winfried  514, 550, 573 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  30, 55 – 72, 143, 249, 253, 256 – 259, 299 f.,

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Personenverzeichnis / Index of Persons

304 f., 616 f., 632, 637, 719 – 723, 726, 736 Heidegger, Martin  9 Herder, Johann Gottfried  224 Herzberg, Rolf Dietrich  373 Hildebrand, Rudolf  22 f. Hilgendorf, Eric  550 Hobbes, Thomas  44, 52, 66, 136, 143, 146, 183, 219, 686, 722, 724 Honig, Richard Martin   299 Honoré, Tony  446 Horn, Christoph  725 Hörnle, Tatjana  326, 521 Hruschka, Joachim  10, 13 – 17, 20, 21 – 38, 153, 167, 172, 181, 299 – 309, 310 – 323, 361, 383 – 386, 389 f., 399 f., 411, 416 – 420, 422 – 426, 429 – 438, 434  f., 456 – 467, 473 f., 481 f., 489, 508, 515, 527 f., 551 – 555, 557 f., 570. 586, 629, 631 – 636, 639 – 642, 649 – 651, 660 – 664, 670 – 678, 682 f., 685 Hume, David  142 f., 149, 187, 205 – 216, 219, 229, 250 Hüning, Dieter  638 Husak, Doug  330 Jakobs, Günther  302, 316, 319, 370, 444, 490, 498 – 500 Jellinek, Georg  636 f., 735 Jescheck, Hans-Heinrich  401 – 403, 407 Jhering, Rudolf v.  201, 674 Joecks, Wolfgang  564 Joerden, Jan C.  370, 660 Kafka, Franz  39 Kahlo, Michael  560 Kalinowski, Georges  167 – 169 Kant, Immanuel  15 – 19, 25 f., 31, 34 f., 40 – 46, 58, 67, 70, 75 – 80, 85 – 132, 133, 140 – 149, 153, 162  f., 167 – 181, 183 – 204, 217 – 234, 235 – 242, 243, 247 – 266, 280, 299, 305, 477, 494 f., 527, 557 – 561, 590, 613, 629 – 647, 650, 685 – 695, 722 – 727, 734 Katz, Yarden  533 Kaufmann, Armin  309, 311, 561 Kaufmann, Arthur  18, 591, 596, 683

Kelsen, Hans  23 – 29, 35 – 38, 403, 408 f., 591, 668, 719 – 721, 736 Kindhäuser, Urs  317, 319, 368, 437, 675 Kleingeld, Pauline  198 Knoop, Michael  151, 160 – 162 Kobusch, Theo  200 Köhler, Michael  722 – 734 Kreß, Hartmut  735 Küper, Wilfried  368 Lacan, Jacques  42 Lange, Richard  368 Leibniz, Gottfried Wilhelm  167 – 169, 219 Lenk, Hans  167, 169 Lenzen, Wolfgang  154 Levinas, Emmanuel  42 f. Lévi-Strauss, Claude  136 Liszt, Franz v.  486, 507, 613 Locke, John  136, 143, 160, 183, 196, 202 Louden, Robert  192, 203 Luhmann, Niklas  495, 551, 582 Luna, Eduardo  715 Luther, Martin  23 Mackie, John Leslie  420 Marx, Karl  147, 722 Massari, Eduardo  350 Mayer, Max Ernst  346 Mbembe, Achille  183 McLuhan, Marshall  51 Mensch, Jennifer  191 Merkel, Adolf  387, 667 f. Merle, Jean-Christophe  639 – 641 Mezger, Edmund  404 – 407 Mill, Charles  191 Molina, Luis de  188, 196, 201 Mommsen, Theodor  448 Moore, George Edward  42, 165, 426 Morus, Thomas  205 – 207, 212 – 214 Moscatis, Pietro  188 Müller-Dietz, Heinz  575, 583 Neumann, Ulfrid  565, 713 Nietzsche, Friedrich  133 – 136, 142 f., 146 Nussbaum, Martha  189, 736 Pagden, Anthony  198 Papathanasiou, Konstantina  657

Personenverzeichnis / Index of Persons

Parfit, Derek  419 Paton, Herbert James  228 Peters, Karl  561 Pierce, Charles Sanders  576 Platon  205 – 207, 213 f., 636, 722 Prittwitz, Cornelius  549 Puchta, Georg Friedrich  674 Pufendorf, Samuel  299, 321, 348, 352, 477, 600, 673, 736 Puppe, Ingeborg   300, 365 f., 369, 375, 381 Radbruch, Gustav  27, 35 – 37, 305, 316, 567 – 569 Radke, Marc  621 f. Rawls, John  136, 143, 249, 722 f. Renzikowski, Joachim  369 f. Rink, Friedrich Theodor  185 Rocco, Arturo  350 Rousseau, Jean-Jacques  58 f., 67, 133 – 149, 185, 225, 252, 255, 257, 730 Roxin, Claus  300 f., 321, 362, 371 f., 407, 652, 680 Rudolphi, Hans- Joachim  562 – 564 Safferling, Christoph  658 – 664 Sandoval, Alonso de  196 Sassoferrato, Bartolo da  351 Savigny, Friedrich Carl von  674 Sax, Walter  368 Scheler, Max  203, 247 Schmidhäuser, Eberhard  15 Schmidt, Eberhard  302 Schmitt, Carl  183, 243, 248, 253, 260 f., 266, 495, 736 Schopenhauer, Arthur  632 f. Schröder, Jan  368 Schünemann, Bernd  559 f. Searle, John  416, 421

755

Seneca 636 Silva-Sánchez, Jesús María 440 Singer, Peter  202 Smith, Adam  592 Starke, Joseph  720 Steckermeier, Kristina  375 Tarnowski, Hans  380 Thomasius, Christian  557, 590 Thon, August  404 – 407 Tiedemann, Klaus  549 Tierney, Patrick  715 Timpe, Gerhard  713 Traeger, Ludwig  380 Trawny, Peter  9 Triepel, Heinrch  719 Tugendhat, Ernst  15 Vitoria, Francisco de  188 Voltaire  133, 142, 146 Wallace, Robert  205 Weber, Max  61, 243 – 266, 736 Weinberger, Ota  402 Weizsäcker, Carl Friedrich v.  12 Welzel, Hans  13, 355, 408, 560 f. Wernher, Johann Balthasar  557 Williams, Bernard  133, 135, 140 Williams, Garrath  340 f. Wittgenstein, Ludwig  15, 161, 163, 412 – 414, 420, 495 Wolf, Erik  14 Wolff, Christian  281, 670 – 676 Wright, Georg Henrik von  413, 418, 445 Zabel, Benno  565 Zaczyk, Rainer  640 Zaffaroni, Eugenio Raúl  708 Zöller, Mark Alexander  562

Sachverzeichnis / Index of Subjects Abrede, unzulässige  571 actio libera in causa  320, 429 – 453, 456 f., 466, 470 f., 673 Ahndungsbegriff  618 – 620 Aktionismus  507, 515, 521 Akzessorietät  348 f. Algorithmus  530 – 547 Allgemeines, Konkretes  59, 63, 66 Analytizität  151, 156 f., 160 Anerkennung  22 – 24, 30 – 33, 37 applicatio legis ad factum  280, 320, 383 – 386, 399, 434 – 436, 474 – 486, 660 Architektonik der Vernünftigkeit des Staates  60 – 62 Auslegungsmethodik  352, 495 – 498, 508, 669 f., 683 Autonomie  44 f., 48 – 52, 82, 129, 137, 185, 224 – 227, 230 – 234, 251, 255, 257, 260, 449, 454, 532, 564, 573, 591, 616, 678, 722 – 733 Auto-Nomie, Theo-Nomie  223 Bedingung, notwendige, hinreichende 285 – 288, 347 – 359, 470, 661  f., 690 – 692 Bestimmungsnorm  402 – 407 Betrachtungsperspektiven  651 – 656, 661 f. Beweismittelschwund  614, 624 Beweisschwierigkeit  363, 380, 523, 650 Bewertungsnorm  387 – 407 Big Data  530 – 550 Chain novel  30 f. Conduct rule  411 – 414, 420, 422 Criminal liability  325, 328, 332 – 336, 339 Culpable indifference  339, 341 Denken, spekulatives  63, 65 Dimensionalität  621 – 627 Duldungspflicht  81 f. Dynamizität 681

Effekt, rechtlicher  172 f. Entität  355, 451, 533 Erfahrungsregel  306 – 309, 317 Erfolgsdelikt, defektbehaftetes  441 – 450 Erfolgsmitverursachung 362 Ethik, politische  735 – 738 Fairness-Argument  375 – 377 Feelings  237 – 239 Finalursache  352 – 357 Frankfurter Schule  143 Freiheit, komparative  220 f. Freiheit, positive, negative, konkrete 15 – 17, 45, 48  f., 63, 65 – 70, 89 – 95, 115, 127 – 129, 170, 184 f., 190, 200, 202, 208, 219 – 221, 225 – 228, 232 – 234, 278, 280, 284 f., 293, 300 f., 348, 350, 352 – 355, 375, 390, 400, 404, 452, 477, 491 f., 502 f., 507, 512, 515, 522, 531, 549, 591 f., 616, 618, 634, 645, 650, 660, 693, 722 – 734, 737 Freiheitsrecht  723 – 727 Gefährdungsverbot, konkretes  318 f. Geltung  21 – 38 Gerechtigkeit  494, 517 f., 567 – 569, 582, 631 – 640, 722 – 729 Gesinnungsphilosophie  11 f. Gewissheit  271 – 275, 288 – 291 Gleichgültigkeit, vorwerfbare  290, 714 Goldene Regel, universalisierte, singu­läre 151, 153 f. Gottesbeweis  217 f., 222 Gültigkeitsirrtum  560 – 566 Handlungslehre, finale  300 – 306, 355, 660 Hermeneutik  7 – 20, 672 Idiolektanalyse  156 – 161 Imperativ, hypothetischer  437, 461, 644, 694

758

Sachverzeichnis / Index of Subjects

Imperativ, kategorischer  76, 78, 91, 162 f., 222 f., 227 – 233, 459, 630, 636 – 646, 685, 690 imputatio facti  229  f., 318 – 323, 383 – 385, 424 f., 474 – 485, 660 imputatio iuris  318 – 322, 383, 397 – 400, 424, 475 – 485, 660 Imputation rule  411, 420, 422, 426 – 428 Instincts  235 – 237, 239 Irrtumsrisiko  269 – 271 ius talonis  631, 639 – 642 Kausalität, kumulative, alternative 363 – 381 Kausalzusammenhang  346 – 350 Koinzidenz, intersubjektive  29 Kolonialismus  191 – 200 Künstliche Inteligenz (KI/ AI)  528 – 556 Laiensphäre  651 – 660 Legal culpability  327, 331 Legalitätsprinzip  690 – 693 Logik, doxastisch-theletische vs. deon­ tische  154 f. Luftsicherheitsgesetz  73 – 76, 80, 83 Mandat  356, 369, 641 Mauerschützenfälle  568 f. Maxime  78 f. Menschenwürde  73 – 84, 175, 178, 512, 736 Mens rea  325 f., 328, 331 f. Methode, spekulative  57, 61, 63 – 67 Mindestbedingungslehre  381 f., 592 Mittäterschaft, additive, fahrlässige 361 – 382 Mitteleinsatz, übernatürlicher  710 Modell, konditionalistisches  347 Monism, legal  719 Moralprinzipien, analytisch wahre  154, 162 Moraltheologie  218, 220 – 222, 225 Narrative  134 f., 137 f., 141 f. Naturrecht  516, 557 – 560, 565 f., 570, 671 – 674 Negligence  328, 330 – 334 Normativität  29, 40, 69, 495 f., 544 f., 678 f.

Normtheorie, originelle  401 NS-Verbrechen  610 – 612, 625 Objektformel  74 – 76, 78 Obliegenheit  318 f., 430 – 438, 451, 455 – 469 Obliegenheitsverletzung  435 – 451 OECD-Leitsätze  593 – 607 Ontologie  16, 200, 442 – 446, 671 – 674, 682 „Ought implies can“ principle  419, 423 Personenbegriff  200 – 202 Perspektiven, strafrechtliche  500, 512 – 524, 621 – 626, 676  f. poena-Begriff  631 – 646, 690 Popular government  211 Practical syllogism  417 f. Predictive policing  357 – 542 „Prinzip Recht“  26 – 33 Prior fault  440 „Prozess Recht“  7, 18 f. Psychoanalyse  137, 140 Psychologie, spekulative  217 Rache  631 – 639 Rassismus  191 – 202 Rationalität, ökonomische  41, 49 f. Reason in history  237 Reasonable person  329, 332 – 335 Recht, instrumentelles  61 Recht, reflexhaftes  55 f., 61 Recht, reflexives  56, 61, 68 Rechtsbegierde  632 – 634 Rechtsfrieden  623 – 626 Rechtsirrtum  293  f., 653 – 656 Rechtsphilosophie, Verhältnis zur Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung  62 f., 65 Rechtspositivismus  557 – 560, 591, 723 Recklessness  328, 330 Regelanwendungsbewusstsein  314 – 320 Regress of rules  420 Regressverbot  347 – 359, 379 Resozialisierungsgedanke  572, 585, 640 Rhetorik  33 – 37 Rotationsregel 206

Sachverzeichnis / Index of Subjects

„Sache Recht“  7, 10, 13, 16, 19, 21, 26 – 29, 32  f. Sanktion  387, 402 f., 619, 692 – 694 Schuldausschlussgründe, positiv-generalpräventive 713 Schuldbegriff  389, 605 Schuldunfähigkeit, indigene  707 – 709 Sechseck, deontologisches  167 – 182 SED-Unrecht 611 Selbsterhaltung 236 Selbstgefährdung, eigenverantwortliche 463, 471 Sexismus  191 – 202 Sexualstrafrecht  518 – 524 Sicherheitsstrafrecht  530, 553 Simultaneitätsprinzip  438 f. Smart Contracts  534 – 542 Sociability  145 f. Sorge  41 – 45, 52 Sorgfaltspflicht  319, 378, 593 – 601 Souveränität  721, 733 f. Spiegelbild-Theorie  658 – 663 Staatsbürger  184 – 186 Steuerungsfähigkeit  389, 459, 468 Strafgesetz  318, 350, 387, 401 – 403, 465, 478, 486, 507, 512 – 518, 524 f., 557, 568, 600, 615, 627, 630, 641, 671, 682, 685, 690, 692 f., 695, 698, 705 f. Straflosigkeit, subjektive  641, 652, 694 Strafrechtsmethode, logisch-analytische 383, 478, 670 Strafrechtspolitik  493, 507, 525 Strafrechtstheorie  489, 529 – 531, 541 – 550 Straftataufbau, nachklassischer  474 – 485 Strafverfolgungsverjährung  610 – 615, 621 f. Strafzumessung  539 – 545, 603 – 608 Tadel, sozialethischer  501 – 503 Tatbegriff  312, 473 – 484, 615 – 618 Täterbegriff  317, 345, 384 – 390, 560 – 564, 603 – 605 Tatherrschaft, funktionale, negative 371 – 374 Tathintergründe, religiöse  702 Taxonomie, binäre  475 f.

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Teilnahme, wechselseitige  370 Theorieszene  44 – 46 Triebe  67 f. Trolley-Fälle 77 Tugend und Laster, logische Beziehung 173 – 175 Ultima-Ratio-Grundsatz  507, 513, 523, 599 Unparteilichkeit  292, 496 f. Unrechtsbewusstsein   456 – 459, 465, 561 Unrechtsmerkmale, subjektive  484 Unrechtspaktlehre   369 Unsterblichkeit der Seele  217 – 219, 221 – 223 Unternehmensverantwortlichkeit 595 Unvollkommenheit, metaphysische  291 Urteilskraft   270, 491 – 504 Verbotsirrtum  458 – 466, 482 – 485, 560 – 565, 664, 708 – 713 Verbrechenslehre  406 f., 439 Vergeltungstheorie  584, 630, 636 Verhaltenskodex  592  f., 604 – 607 Verhaltensregeln  480  f., 660 – 662, 685 – 696 Vermeidbarkeit  385 – 399, 565, 653, 664 Verpflichtung, moralische  161 f. Verpflichtungsfeststellung  275, 279 Verständigung  571 – 586 Versuchskonzept  311 – 314 Vollrausch  439 – 443 Vorverhalten  462  f., 469 – 471 Wahlfeststellung 378 Wahrheitstheorie, ontologische  574 – 576 Widerspruch, performativer   470 Wiedervergeltungsrecht  638 f. Wirtschaftsstrafrecht   589 – 608 Zurechnung, außerordentliche  317, 430, 450, 470 Zurechnungsdefekt 451 Zurechnungslehre  269 – 280, 299 – 304, 345, 409, 473 – 486 Zweck-Mittel-Beziehung  307 – 310

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