Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 25 (2017). Themenschwerpunkt: Recht und Ethik der Migration / Law and Ethics of Migration [1 ed.] 9783428553129, 9783428153121

Die nicht erst seit dem Herbst 2015 andauernden Migrationsbewegungen nach Europa und auch innerhalb Europas lassen es an

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Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 25 (2017). Themenschwerpunkt: Recht und Ethik der Migration / Law and Ethics of Migration [1 ed.]
 9783428553129, 9783428153121

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Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 25 (2017) Herausgegeben von Joachim Hruschka Jan C. Joerden

Duncker & Humblot · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 25

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Im Jahre 1993 begründet von B. Sharon Byrd †, Joachim Hruschka und Jan C. Joerden

Herausgegeben von J o a c h i m H r u s c h k a ∙ J a n C. J o e r d e n

Band 25

Duncker & Humblot  · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 25 (2017) Themenschwerpunkt:

Recht und Ethik der Migration Law and Ethics of Migration Herausgegeben von Joachim Hruschka Jan C. Joerden

Duncker & Humblot  · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Empfohlene Abkürzung: JRE Recommended Abbreviation: JRE Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0944 – 4610

ISBN 978 – 3-428-15312-1 (Print) ISBN 978 – 3-428-55312-9 (E-Book) ISBN 978 – 3-428-85312-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die nicht erst seit dem Herbst 2015 andauernden Migrationsbewegungen nach Europa und auch innerhalb Europas lassen es angeraten erscheinen, den damit aufgeworfenen ethischen und rechtlichen Fragen auch in einem Themenschwerpunkt des Jahrbuchs näher nachzugehen. Der vorliegende Band stellt dabei in einem ersten Teil die rechtsethischen Grundfragen der Migration zur Diskussion. In einem zweiten Teil werden demgegenüber rechtliche Spezialfragen der Migration untersucht. Das Jahrbuch enthält weiterhin wieder ein „Diskussionsforum“, in dem in diesem Jahr Fragen des Zusammenspiels von logischer Analyse und Juristischer Argumentation zur Debatte stehen. Abgeschlossen wird das Jahrbuch mit einem Tagungsbericht und einer Rezension. Für ihre Mitwirkung bei der Herstellung der Druckvorlagen für diesen Band ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), insbesondere Frau Susen Pönitzsch, Frau Florina Polutta, Frau Carola Uhlig, Frau Monique Vollbrecht, Frau Luisa Wittner und Herrn Vladyslav Rak zu danken. Frau Florina Polutta und Frau Carola Uhlig danken wir zudem wieder sehr für die sorgfältige Erstellung der Register. Für die zuverlässige technische Betreuung der Drucklegung im Verlag Duncker & Humblot sind wir Frau Susanne Werner zu herzlichem Dank verpflichtet. Die Internet-Seiten des Jahrbuchs für Recht und Ethik finden Sie wie üblich unter folgender Adresse: http://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/_projekte/jre/index.html Dort sind auch weitere Informationen zum Jahrbuch erhältlich – insbesondere die englische bzw. deutsche Zusammenfassung der Artikel und Bestellinforma­ tionen. Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Rechtsethische Grundlagen der Migration – Legal-ethical Foundations of Migration Frank Dietrich:Civic Education in Pluralist Democracies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Andreas Fisch:Skizze einer Migrationsethik für die Reduktion der Zahl von Flüchtlingen. Rechtfertigungsgründe für ein heikles Politikfeld .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Matthias Hoesch:In welchem Sinn kann es ein Recht auf offene Grenzen geben? . . . . . . 49 Rainer Keil:Philanthropie und Weltbürgerrecht angesichts existenzieller Bedrohung: Flüchtlingsschutz als Tugendpflicht, Rechtspflicht und Menschenrecht bei Kant . . . . . 75 Anna Lübbe:Allokation von Flüchtlingsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Paul Tiedemann:Migration im Naturzustand. Überlegungen zum No-Border-Postulat .. . 125

Rechtliche Spezialfragen der Migration – Special Legal Issues of Migration Kathrin Hamenstädt:European Union Citizenship – The Pitfalls of a Fundamental Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Holger Hoffmann:Zur Berücksichtigung des Kindeswohls im deutschen Migrationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Alexander Hoogenboom:The Dworkinian Principle of Legislative Integrity Applied to the Student Migration Regime in the EU: Pass or Fail? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Constanze Janda:Migrationssteuerung durch Recht? Die Abschreckung von armen Zuwanderern am Beispiel von Asylsuchenden aus sicheren Herkunftsstaaten . . . . . . . . . . . 239 Andreas Oberprantacher and Andreas Th. Müller:A Question of Solidarity: Re-Defin­ ing Europe Through the Rights of “Others”? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Sarah Progin-Theuerkauf und Margarite Zoeteweij-Turhan:Die Richtlinien zur Arbeitsmigration von Drittstaatsangehörigen in der EU – Eine Analyse im Lichte der Gleichstellung von Mann und Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Diskussionsforum – Discussion Forum Michael Mauer:Ergänzende Anmerkungen zur Logik rechtlichen Argumentierens .. . . . . 299 Ulfrid Neumann:Formale Logik und juristische Argumentation .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

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Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Tagungsbericht – Conference Report

Marcin Orzechowski / Maximilian Schochow: BMBF-Klausurwoche: „Ethische, recht­ liche und gesellschaftliche Aspekte invasiver und nicht-invasiver genetischer Pränataldiagnostik in Deutschland und Polen“ vom 13. 3. 2017 bis zum 17. 3. 2017 im Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Universität Ulm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Rezension – Recension Stefan Arnold, Erwin Bernat, Christian Kopetzki (Hrsg.), Das Recht der Fortpflanzungsmedizin 2015 – Analyse und Kritik, Wien 2016 (Carola Uhlig). . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Personenverzeichnis / Index of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Sachverzeichnis / Index of Subjects . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Hinweise für Autoren / Information for Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Rechtsethische Grundlagen der Migration – Legal-ethical Foundations of Migration

Civic Education in Pluralist Democracies Frank Dietrich I. Introduction The citizenry of modern democratic states typically holds a plurality of competing religious and moral views. Some minority groups even pursue conceptions of the good that do not allow for any commitment to the existing political order. The already existing diversity of beliefs is increased by the influx of immigrants from a variety of cultural backgrounds as we are currently witnessing. Those who seek access to western democracies do not necessarily appreciate the political institutions and the way of life their host societies offer. Many immigrants primarily seek to escape from violence, poverty and the lack of prospects in their home countries. Minority groups who are not ready to support the present political order pose a potential threat to the stability of democratic states. Therefore, it needs to be discussed how democratic states may deal with persons who withdraw from the wider society and reject to cooperate with their fellow-citizens.1 One of the most disputed areas in pluralist societies is the upbringing of children which affects crucial interests of cultural and religious communities. The state’s claim to regulate – to some extent – educational issues is prone to meeting with the resistance of minority groups. Their members often worry about the imparting of beliefs and values on their children which contradict their own conception of the good. They fear, for instance, that adolescents will be exposed to adverse or even sinful influences if they are compelled to attend public schools. By contrast, citizens who endorse of the present political order are usually concerned about the anti-democratic education some children receive in their families. Thus it has to be clarified how the conflicting interests of both sides – minority groups and the wider society – should be balanced. In this paper I will explore whether and to what extent state interference into parental authorities can be justified by the need to educate democratic citizens. In the next section I will introduce the civic education argument and distinguish it from other reasons given for the restriction of educational liberties. Thereafter, I will deal with the question why democratic institutions may be imposed on persons who are indifferent or even opposed to this political system. In the fourth section I will 1  The current philosophical debate on migration has primarily focused on the legitimacy of entrance restrictions; by contrast, relatively little consideration has been given to ethical issues of integration or assimilation (see Carens 2013; Miller 2016; Wellman / Cole 2011).

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outline a distinction between two kinds of democratic qualifications – those every citizen needs to have and those most citizens must possess. Regarding the latter requirements, I will argue that the state may not interfere with parental authority until a critical threshold for the stability of the democratic order has been reached. As a consequence, democratic societies must widely tolerate the educational practices of fundamentalist religious communities. Subsequently, I will discuss and reject two objections that may be raised to my argument. First, one may criticize the suggested exception of religious minorities from civic education programs as being unfair towards other citizens; second, one may deny that the supporters of a democratic order may exercise political power in order to remain in the majority. In the concluding section I will briefly summarize my main findings and comment on the issue of immigration. II. Civic Education For at least two reasons the justification of state coercion in the field of education poses a serious challenge to liberal theories. First, within a liberal framework parents are typically granted the right to raise their children in accordance with their own ideals. Of course, parents are not accorded unrestricted authority but are seen as trustees who are obliged to act in their children’s best interest. However, since in pluralist societies it is contested what the relevant interests are, they enjoy wide discretion when it comes to deciding on educational goals and practices. Second, liberal political theories do not pursue the goal of realizing social uniformity but endorse of cultural and religious diversity. State policies which aim at gaining extensive control over the educational process in order to accomplish a homogenous community are considered typical of a dictatorial system. Moreover, some thinkers, such as John Stuart Mill (1991), have even argued that a society benefits from the existence of divergent opinions and life schemes. Therefore, proponents of liberal theories usually have strong reservations against the assimilation of minority groups by means of a state’s educational policy. Basically, there are two types of argument that can be advanced in order to vindicate state interference into the educational authority of parents. On the one hand, one may refer to the crucial interests of children, such as their welfare or their future autonomy, which need to be protected (Feinberg 1980). The parents may, for instance, inflict severe corporal punishments on their children or try to indoctrinate them in order to achieve their educational goals. If a child’s health or its capacity to act autonomously later in life is seriously threatened, the state authorities may be entitled to intervene.2 On the other hand, one may base the justification for 2  David Archard (2004, 154) describes the liberal standard view as follows: “(…) It is in the immediate best interests of any child to be reared by her parents as they see fit and within a family context protected against intrusion upon its privacy. However, when a family fails or the child is exposed to serious harm, the parents forgo their rights of autonomy and privacy.

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state educational policies on a society’s interests in the education of democratic citizens. Unless certain dispositions and attitudes are developed, the children may not be able or willing to support the political order after having reached an age of maturity. One may, for instance, regard tolerance against other world views or the propensity to participate in political decisions as important qualifications of democratic citizens. If these qualifications are missing – so one may argue – the viability and continued existence of a democratic society is seriously threatened. The distinction outlined above is complicated by the fact that arguments referring to the interests of children can also be advanced to support the case for civic education policies. Thus one may hold that children benefit from becoming fully participating citizens of the democratic state to which they belong. This interest appears, however, to be less crucial than, for instance, the interest in developing a capacity for autonomous decision-making. While autonomy is an important component of a wide array of different life plans, it is easily imaginable to lead a fully satisfying life without engaging in political activities. A person who is indifferent towards politics may nevertheless pursue worthwhile goals and be capable of realizing her conception of the good. Consequently, although civic education programs may help children to develop valuable life plans, they mainly serve other citizens’ interests in stable democratic institutions. In this paper I will exclusively examine arguments which draw on the importance of educating democratic citizens. I will largely neglect the children’s interest in receiving a kind of education that enables them to lead a good life. The focus of my investigation will mainly be on religious groups whose members are not prepared to support democratic institutions.3 Some faith communities are indifferent towards politics, as they devote their lives to God and eschew any engagement in worldly affairs, while others prefer different political institutions, e.g. a theocratic regime, but refrain from pursuing their objectives by the use of violence. In the following, for the sake of brevity, I will refer to persons falling under one of these categories as religious fundamentalists. I do not consider in much detail religious groups who are prepared to forcibly suppress conflicting opinions and world views. As I will argue shortly, a democratic society need not accept educational practices which aim at imparting – in a strict sense – intolerant values. It may be worth noting that arguments for civic education are based on a number of empirical hypotheses which cannot be discussed within the scope of this paper. First, it has to be assumed that generally individuals are capable of developing stable dispositions which reliably determine their courses of action. If they predominantly responded to situative incentives, any attempt to inculcate specific virtues The guardianship of a child then passes from his parents to the state which, guided by the best interest of the child, determines an appropriate course of action (…).” 3  For an instructive discussion of the specific problems cultural minorities pose for the justification of state educational policies, e.g. regarding the language of instruction, see Kymlicka 2003, 54 – 61.

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would be futile.4 Moreover, it has to be supposed that the functioning of a democratic state depends – to some extent – on individual character and belief. Even the best designed institutions are doomed to failure if they are not sufficiently supported by the citizens concerned. Finally, the argument for civic education presupposes that one cannot rely on a natural development of the required qualities. There is no invisible hand mechanism guaranteeing the cultivation of a democratic personality if education is completely treated as a private matter. Instead, the liberal state must engage in the formation of its future citizens to ensure the continued viability of its political system (Galston 1989, 91 – 92). III. State Authority The civic education argument is based on (mostly implicit) assumptions about the legitimate use of state power that require detailed examination. In this section I will address the question of how, if at all, the exercise of political authority over dissenting minorities can be justified. My analysis sets out from the individual right to overcome anarchy and to organize into a state, which is widely accepted in modern liberal thought. The freedom to form a political association can be seen as a special case of the individuals’ more general freedom to associate with one another. The right to establish and maintain a state includes the entitlement to collectively decide on its political institutions. The state members may opt for a democratic system or any other regime which is consistent with basic individual liberties (Cohen 2006; Altman / Wellman 2011, 11 – 42). Contrary to other types of association, such as sports clubs, Churches, or trade unions, a state presupposes a territorial basis. There must be some clearly defined space over which a state possesses jurisdictional authority, i.e. where its laws apply (Morris 1998, 36 – 38). Almost always some people live on a state territory who prefer a different political system or oppose any form of political subordination. It seems plausible to assume that such dissenters enjoy a right to residence that trumps the others’ right to form a political association. The individuals typically develop their life plans in anticipation of their continued occupancy of a particular area. If they were forcibly removed from their place of residence, it would be extremely difficult or even impossible for them to accomplish their most important goals (Stilz 2013, 334 – 341). Hence, the problem of majority rule must not be solved by expulsing the minority from the state territory. Furthermore, there is reason to think that the laws of a state must be applied to everyone living within its borders. The territorial coexistence of citizens who are subjected to the state’s authority and of persons who are not bound by its rules appears to be impracticable. The same holds for a competition of different political 4  For a situationist critique of civic virtue theories see Mc Ternan 2014; for a defense of this position see Callan 2015.

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systems – democracy, monarchy, theocracy, etc. – within a state between which the individuals may freely choose. The realization of a panarchy, as originally envisioned by Henry de Puydt (1860), appears to meet with massive obstacles. Consequently, given the territorial requirements of state organization, not everybody can satisfy her political preferences. The right to form and maintain a political association must inevitably be exercised by the majority to the minority’s detriment. The imposition of the majority will can only be legitimate if the interests of minority groups are protected as far as possible. Most importantly, individuals who disagree with the existing political system must enjoy a wide range of exit rights. They must be allowed to emigrate and to establish a state of their own in territorial subunits where they are in the majority.5 The right to secede should not depend on a group’s size but has to be granted to any number of persons wishing to separate. Of course, for a variety of reasons dissenters may find the choice between the aforementioned exit options unattractive. They may, for instance, be unable to find a place outside the state where they are not subjected to any political authority or they may be highly skeptical about the economic viability of small secessionist units. Therefore, if the members of a minority group decide to remain in a given state, their specific way of life has to be respected. Unless they violate basic individual liberties or actively attack the political system, thereby encroaching on other person’s right to organize into a state, their conception of the good must be tolerated. Modern liberal theories differ considerably in the way they respond to the challenge of legitimizing majority rule.6 Authors who represent a perfectionist position, such as Joseph Raz (1986), understand liberalism as a specific conception of the good. In their view, liberalism is committed to the ideal of an autonomous person leading a fully independent and self-determined life.7 A liberal state should aim at promoting this conception of the good by supporting the autonomy of its citizens. Most importantly, the state is responsible for providing every child with an education enabling it to act autonomously later in life. Furthermore, state institutions may advocate a liberal conception of the good and prevent the dissemination of competing ideals. From a perfectionist perspective, minority groups which are indifferent or even hostile towards the ideal of individual self-determination need not be tolerated. A liberal state is justified to take assimilationist measures against religious communities which require strict obedience to God’s commands and discourage autonomous deliberation. Since they fail to enable their members to lead a rewarding and 5  The right to secede is conditional on the readiness of the separatists to grant minorities in the newly created state basic liberties, including the aforementioned exit rights (Dietrich 2010, 299 – 314). 6  Important contributions to the debate between perfectionist and neutralist liberal thinkers can be found in Wall / Klosko 2003. 7  It is important to note that Raz’ perfectionist theory is compatible with a wide range of values and objectives. An autonomous person is free to choose between a variety of different life plans – including, of course, religious ones.

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fully-satisfying life, their dissolution is considered to be a legitimate goal. As Raz (1986, 424) states: “In such cases assimilationist policies may well be the only humane course, even if implemented by force of law.” However, autonomy-negating groups do not necessarily pose a threat to the existing state or the basic freedoms of its citizens. They may even be prepared to respect important liberties of their own members, including the right to leave the community. In this case, assimilationist policies are at odds with the requirement to protect the interests of dissenting minorities to the greatest possible extent. A promising alternative to the perfectionist position is a neutralist understanding of liberalism as it has been advocated, most prominently, by John Rawls (1993). Rawls argues for a purely political interpretation of liberalism which does not rely on any comprehensive religious or philosophical doctrine. Contrary to Raz, he emphasizes the independence of liberal political theory from any specific conception of the good. Most importantly, Rawls’ neutral position does not presuppose an ideal of the autonomous person leading a fully independent and self-determined life. Within his theory, autonomy is considered a political value which is realized by granting citizens the protection of their basic liberty rights. According to Rawls (1993, 77 – 78), everybody is free to reject autonomy as an ethical value which applies to every aspect of one’s life. Subsequently, political liberalism does not imply the endorsement of assimilationist policies against fundamentalist religious communities. Rawls (1993, 195 – 199) offers a helpful clarification of the sense in which his theory is neutral towards a plurality of competing comprehensive doctrines. In his view, political liberalism achieves “neutrality of justification” by not arguing on the basis of any particular conception of the good. Moreover, his theory conforms to the “neutrality of aim”, as it has no intention to promote the acceptance of a specific religious or philosophic worldview. However, as Rawls readily admits, in a liberal society some conceptions of the good may not be able to flourish. Since the individuals enjoy basic liberties, they may revise their beliefs and leave a religious community whenever they wish. Subsequently, political liberalism cannot guarantee “neutrality of effect”, as this would require the restriction of the exercising of individual liberty rights. Rawls’ neutralist understanding of liberalism has important implications for a state’s educational policy. A state is, for instance, not permitted to impose a curricu­ lum which can only be justified on the basis of a specific conception of the good. Moreover, a state must not pursue the aim to inculcate religious beliefs or ethical values which are not generally shared. However, according to Rawls, a liberal state may justifiably prepare children for their future role as citizens (Costa 2010, 63 – 68).8 A state’s educational regulations may ensure the imparting of knowledge of the political system, including the most important constitutional and civil rights. 8  The importance of Rawls’ – rather sketchy – reflections on civic education for the contemporary debate is analyzed in Fernández / Sundström 2011.

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Moreover, it is a legitimate educational aim to encourage the development of – as Rawls (1993, 199 – 200) has it – political virtues. These virtues “characterize the ideal of a good citizen of a democratic state – a role specified by its political institutions. In this way the political virtues must be distinguished from the virtues that characterize ways of life belonging to comprehensive religious and philosophical doctrines (…)” (Rawls 1993, 194 – 195). Rawls (1993, 123 and 194) cites, inter alia, tolerance, mutual respect, and a sense of fairness as examples of political virtues.9 Other authors have characterized a good citizen by her law-abidance, her political commitment, or her patriotism (Callan 1997, 132 – 161). Possibly the promotion of these political virtues by means of compulsory schooling has negative effects on some religious communities. For instance, to develop an attitude of mutual respect it may be necessary to learn about a variety of other worldviews. As a consequence, it may be more difficult for fundamentalist groups to convince the younger generation of their teachings.10 However, as outlined above, the fact that a state policy is disadvantageous for some social groups does not mitigate against the neutralist position. From Rawls’ perspective it is decisive that the reasons given for an educational policy do not refer to any specific conception of the good (Macedo 1995, 477 – 491; Boettcher 2014). IV. Political Virtues In the preceding section I have described political virtues as characteristics enabling a person to perform her tasks as a citizen of a democratic state. Contrary to ethical virtues, the relevant qualities and attitudes are not understood as prerequisites for leading a good human life. Rather, political virtues are considered to have an instrumental value for constitutional stability and the functioning of important societal institutions. In the following I will mainly focus on two qualities most theories of civic education include in their lists of political virtues. First, there is good reason to think that a democratic state cannot thrive unless its citizens are able and willing to participate in the decision-making process. To begin with, they must keep themselves informed about matters of public concern and form opinions on the relevant questions. Moreover, they should contribute to the exchange of arguments that – ideally speaking – precedes the enactment of laws and governmental decisions. Engaging in a public debate requires, inter alia, giving one’s reasons in a generally accessible way and being open to different opinions and criticism. In addition, the citizens must be ready to actively participate in democratic de9 Unfortunately, Rawls gives no detailed explanation of the relevant virtues and fails to make clear how, e.g., tolerance and mutual respect are to be distinguished. 10  Rawls (1993, 195, n. 29) states: “Keep in mind that the political virtues are identified and justified by the need for certain qualities of character in the citizens of a just and stable constitutional regime. This is not to deny that the same characteristics, or similar ones, might not also be nonpolitical virtues insofar as they are valued for other reasons within various particular comprehensive views.”

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cision-making, especially by casting their votes in elections and referenda. They should also be willing – at least occasionally – to act as representatives or to hold other public offices. If the here sketched participation is missing, the democratic decision-making process will lack legitimacy and will most likely produce dissatisfying results. Second, citizens of a democratic state must accept the continued existence of a plurality of irreconcilable worldviews. At the minimum, they must be prepared to tolerate religious and moral views they deem wrong or even sinful. The virtue of tolerance, as I use the term here, only implies the renunciation of coercion and vio­ lence against the adherents of opposing doctrines. A tolerant person in this sense need not appreciate the beliefs and values of differently minded citizens. She may avoid contact with citizens who do not belong to her own faith group and even openly show her aversion to outsiders. One may, however, think that tolerance is not enough to guarantee a sufficient degree of social cooperation in a pluralist society (Gutman 1995, 560 – 565). Instead, one may consider it necessary to promote a more demanding virtue of civility which is not confined to nonviolence. Civility requires treating people with respect whose concepts of a good life radically differ from one’s own convictions. It is based on an acknowledgement that members of other faith groups hold sincere beliefs and make valuable efforts in pursuing their specific life goals. If citizens fail to develop the virtue of civility, they will not be prepared to collaborate beyond the boundaries of their communities and will weaken cohesion within society. For the justification of a state’s civic education it is important to distinguish whether a political virtue has to be possessed by most citizens or by every citizen. In my view, participation in the decision-making process and an attitude of civility, like most other political virtues, fall under the first category. It seems evident that democratic institutions can stand a certain degree of political passivity and indifference among the citizenry. Even in the most stable democracies a considerable part of the population does not engage in public debates and abstains from voting. Likewise, democratic institutions are not immediately threatened if some minority groups fail to show an attitude of civility. Of course, by withdrawing from the wider society a faith community weakens the social cooperation needed to sustain the political system. However, as long as the number of persons trying to avoid any relations to other-minded citizens remains small, the viability of a democratic state is not at risk. For two reasons it is difficult to determine exactly what percentage of citizens may be exempted from the possession of these virtues. First, the notion of stable (viable, functioning, etc.) political institutions on which theories of civic education rely is rather vague. Hence, it is not fully clear which criteria for success a democratic state has to satisfy in order to be viewed as being stable. Although one can cite indubitable examples of state failure, there is also a gray area where one can hold different opinions. Second, the effects of political virtues on the functioning of important societal institutions depend on a variety of different factors. There-

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fore, it is difficult to state in general terms how many citizens need to possess certain qualities in order to maintain the political system. However, for the argument I will advance in this paper it is not necessary to specify a precise threshold. It suffices to establish that a democratic state is not at risk if a limited number of its citizens fail to develop political virtues, such as civility or willingness to participate in democratic decisions. Arguably, tolerance does not allow for any exception and falls, therefore, under the second category of political virtues. Contrary to civility, tolerance – in the above specified sense – only implies the readiness to refrain from exerting force on other-minded citizens. Therefore, a person who has failed to develop the virtue of tolerance poses a potential threat to adherents of opposing doctrines. Of course, the stability of a liberal state is not immediately endangered if a few citizens are prepared to use violence against – whom they consider to be – heretics. Even murderous attacks by a small minority do not necessarily undermine the population’s loyalty to the political institutions. However, as outlined in the last section, the right to create and maintain a state must be understood as an individual entitlement. Individuals are permitted to establish a democratic state to which they transfer the authority to protect their lives, bodily integrities, and basic liberties. Consequently, the state is warranted (or rather obliged) to protect their rights against foreseeable violations by its civic education policy. The general promotion of tolerance is a legitimate goal, as each intolerant person is, in principle, prepared to encroach on its fellow-citizens’ rights. The above proposed distinction between two kinds of political virtues has important consequences for the normative assessment of a state’s educational policy. The restriction of parental rights is justified to a much lesser extent than Rawls – and many other liberal writers – believe. According to the view advanced here, a democratic state may legitimately pursue two goals by its civic education policy. First, it may seek to inculcate political virtues, such as tolerance, which every future citizen needs to possess. Second, it may try to ensure that a sufficient proportion of the emerging generation develops a participatory attitude and other characteristics most citizens need to possess. However, regarding this type of political virtues, a democratic state may only intervene in parental authority if the viability of the political system is actually threatened. Provided that the number of persons lacking the required qualities is still below a critical threshold, the dissenters’ educational liberties must not be violated. As I have argued in the last section, the majority’s right to live in a state and to decide on its political institutions is limited by crucial minority interests. The specific beliefs and values of religious or other minority groups have to be respected to the largest possible extent. State authority may only be exerted on members of minority groups if this is absolutely necessary for the realization of other individuals’ right to political association. If my empirical assumptions on the viability of a liberal state are correct, most political virtues need not be developed by every citizen. Thus minority groups failing to promote otherwise important qualities and

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attitudes do not prevent the majority from upholding their preferred political system. Consequently, the majority has no right to impose educational regulations on dissenters who disapprove of the virtues in question. If there is no real threat for the stability of a democratic state, fundamentalist religious parents may, for instance, teach their children to abstain from any political activity. Some minority groups regard any involvement in worldly affairs as a distraction from their religious duties. The educational goal of developing a willingness to participate in the democratic decision-making process directly contradicts their conception of a good life. Moreover, minority faith groups need not cultivate any attitude of civility but are free to propagate disrespect of certain life styles. Fundamentalist religious parents may, for instance, consider living in a homosexual partnership a sin which deserves strong moral condemnation. Provided that they have a clear commitment to the virtue of tolerance – i.e. reject the use of coercion and violence – the state is not authorized to intervene in their educational authority. In particular, the state is not warranted to impose an educational policy in order to impart the appreciation of life styles their religious doctrine repudiates. Difficult questions arise if the percentage of citizens who lack the relevant political virtues exceeds a critical threshold. As I have argued above, in this case a liberal state is authorized to impose a civic education policy on fundamentalist religious minorities. At a first glance, the principle of equality before the law seems to militate against the preferential treatment of some groups. However, the subjection of every fundamentalist community to a civic education program cannot be justified by the goal to ensure the viability of the political system. The interests of minority groups have to be respected as long as other individuals are capable of exerting their right to organize into a state. Evidently, the educational liberties of the members of some fundamentalist communities can be left untouched without jeopardizing the stability of the political institutions.11 Of course, the here given argument for the preferential treatment of certain faith groups does not provide any specific selection criteria. In my view, a liberal state enjoys wide discretion in deciding on the communities which may be exempted from its civic education policy. The government may, for instance, privilege religious minorities which have already demonstrated their tolerance or have suffered from historic injustice within this state. Consequently, anti-liberal faith groups who have immigrated relatively recently to the country would not be exempted from the civic education policy. At this point it may be worth recalling that in this paper I examine only arguments which refer to other citizens’ interests in the viability of the established institutions. As noted in the introductory section, I leave possible justifications for compulsory state education which draw on a child’s best interest out of consideration. Thus my conclusions here are only provisional – it may be possible to vindi11  It may be worth noting that compared to a situation where everybody is subjected to a civic education policy the preferential treatment of some fundamentalist groups leads to a Pareto improvement, i.e. the privileged groups are better off but no group is worse off.

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cate more extensive interventions in parental authorities by focusing on child protection. One may, for instance, argue that having reached maturity a child should be able to question its parent’s beliefs and to autonomously decide on its own life goals.12 A child’s capacity for autonomy requires – so one may assert – knowledge of its basic liberties, including participation rights, and of competing religious and moral doctrines, including those which approve of homosexuality. Note, however, that a state, by imparting this knowledge to its future citizens, does not necessarily promote the formation of relevant political virtues. Even if a child is aware of its basic liberties and a variety of different worldviews, the development of the hopedfor attitudes towards democratic participation or homosexuality is not guaranteed. V. Two Objections The argument for civic education is based on the assumption that the viability of a democratic state depends on the prevalence of certain qualities and attitudes within its population. Unless a sufficient percentage of the citizenry develops political virtues, such as the disposition to participate in the democratic process, its institutions cannot adequately function. In the preceding section I have argued that fundamentalist religious communities must be exempted from the inculcation of political virtues that need not be possessed by everyone. Only if a critical threshold is reached, i.e. only if the stability of the political system is imperiled, state interventions into parental liberties can be justified. My position may, however, be challenged by two – very different – objections which I will examine in the remainder of this paper. The first objection criticizes the preferential treatment of fundamentalist parents as being unfair to other citizens; the second objection denies that the state may legitimately encroach on educational liberties if the viability of its institutions is threatened. 1. The Fairness Principle The principle of fair play on which the first objection draws has been explained by John Rawls (1999, 122) as follows: “Suppose there is a mutually beneficial and just scheme of social cooperation, and that the advantage it yields can only be obtained if everyone, or nearly everyone, cooperates. Suppose further that cooperation requires a certain sacrifice from each person, or at least involves a certain restriction of his liberty. Suppose finally that the benefits produced by cooperation are, up to a certain point, free: that is, the scheme of cooperation is unstable in the sense that if any one person knows that all (or nearly all) of the others will continue to do their part, he will still be able to share a gain from the scheme even if he does not do his part. Under these conditions a person who has accepted the benefits of 12  For a critical assessment of compulsory school attendance laws which are justified by reference to the so called open future argument see Dietrich 2017.

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the scheme is bound by a duty of fair play to do his part and not to take advantage of the free benefit by not cooperating.”13 According to Rawls, a liberal state can be understood as a just scheme of cooperation which works to the advantage of every participant. The citizens contribute to the cooperation by paying taxes and, more generally, by abiding to the laws and other regulations. Thereby, they enable the state to provide public goods, such as protection from external aggression, law and order, and transport infrastructure. Persons who benefit from the efforts of their fellow-citizens but fail to do their part, for instance by evading taxes, violate the duty of fair play. Concerning the provision of public services, George Klosko (2005, 4 – 9) has introduced a helpful distinction between “indispensable goods” and “discretionary goods”.14 “Indispensable goods”, such as physical security, are thought to be of general importance because they form an integral part of every reasonable life plan. The provision of “discretionary goods”, on the other hand, immediately satisfies only the needs of part of the population. A well-developed infrastructure, for instance, is of little value for members of fundamentalist religious groups who lead an anti-modern life and reject the use of cars. Apparently, citizens who do not benefit from a “discretionary good” cannot be bound by a duty of fairness to support the state in the provision of this good. In response to this challenge, Klosko (2004, 86 – 95 and 2005, 102 – 105) argued that “discretionary goods” can be instrumentally important for the creation of “indispensable goods”. For instance, without an extensive road network a state’s armed forces would be unable to protect its citizens from external aggression. He admits, however, that this argument does not apply to the whole range of activities in which modern states typically engage. Welfare programs or subsidies for cultural institutions, such as museums, libraries and opera houses, do not help to provide every citizen with indispensable goods. Therefore, the fairness principle is restricted in scope and must, in Klosko’s view (2005, 105 – 120), be complemented by other moral principles. The argument for civic education presupposes that to some extent the functioning of a democratic state depends on individual character and belief. Accordingly, a state can only provide “indispensable goods” if a sufficient part of its citizens possesses the relevant political virtues. Thus the fairness principle seems to apply to the provision of civic education in the same way as it applies to the provision of a road network. The citizens need not only contribute to the scheme of cooperation by conforming to the law and paying taxes but must also support the development of important qualities and attitudes in the next generation.15 Consequently, the members   The fairness principle was originally introduced by Herbert Hart (1955, 185 – 187).  Formerly Klosko (2004, 39 – 48) referred to “indispensable goods” as “presumptively beneficial goods”. 15  Klosko (2005, 104) states: “I believe obligations to support various requisites of demo­ cratic decision-making can be justified. Democracy is necessary to determine the form of gov13 14

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of fundamentalist religious communities can be seen as free riders who take unfair advantage of other citizens’ cooperation. Although they benefit from the provision of public goods, they fail to contribute to their production in all relevant aspects. Of course, the success of cooperation is not endangered if some religious minorities refuse to promote the shaping of political virtues. However, the point of the objection at hand is not a possible shortage of public goods but the unfairness of not sharing the burdens their production requires. Likewise, a small number of citizens who evade tax paying do not put the functioning of important state institutions at risk. Nevertheless, they deserve moral criticism because they take advantage of other citizens’ tax payments without fulfilling their own duties of fair play. In my view, the fairness objection to the preferential treatment of some faith groups is unpersuasive for – at least – two reasons. First, although members of fundamentalist communities attach importance to goods, such as physical security, they are not indifferent towards the way of their provision. Typically they do not wish to entrust a state which is committed to liberal principles with the task of protecting them from violence and aggression. Instead they aspire to a different political system or the realization of a peaceful communal life without any state intervention. The correctness of the statement that the members of a religious minority benefit from the existing scheme of cooperation very much depends on the point of reference. If one compares the liberal state with a situation where physical security is at risk, one can plausibly conclude that everybody benefits from social cooperation. However, if the basis of comparison is an alternative way of providing protection, from the perspective of fundamentalist groups the given political order may not be preferable. Second, according to Rawls, only a person who has accepted the benefits of social cooperation is bound by a duty of fair play. Unfortunately, the central notion of “acceptance” is ambiguous and allows for different interpretations.16 If the acceptance of a benefit presupposes a person’s voluntary consent to a social cooperation, the members of fundamentalist religious groups fail to have fairness obligations. Evidently, they have never agreed in any substantive sense with the state organization the majority has established on the territory where they happen to live. If, on the other hand, acceptance merely means that one has received a benefit, the concept of a fairness-based duty is unconvincing. As already Robert Nozick (1974, 90 – 95) has argued, the bestowal of a benefit one cannot evade fails to impose ­moral obligations on the recipients. The acceptance (in this sense) of the public goods a state provides for its citizens can only be avoided by leaving the country – which is in many cases a prohibitively costly option. One may, however, argue that immigrants who deliberately entered the state territory thereby accepted the benefits bestowed on them. Since they made a volernment services. Thus some level of education, especially civic education, is also required throughout society.” 16  For an excellent analysis of the notion of acceptance see Simmons 1979.

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untary decision for settling within the state’s borders, they cannot claim that they were unable to evade the provision of public goods. Consequently, there seems to be a significant difference between the members of established minorities and newcomers. It is, however, important to note that a voluntary acceptance of the benefits received can only be assumed for part of the immigrants. The argument applies neither to refugees who fled from violence or political persecution nor to persons who experienced severe economic deprivation in their countries of origin. Moreover, minors who were dependent on their parents’ decisions and the members of the second (or any further) generation of immigrants did not voluntarily accept the benefits received. 2. The Limits of Majority Rule The second objection that may be raised to my position does not doubt that the majority in a given territory has the right to organize into a state. What the objection denies is rather that the adherents of a democratic state are entitled to exercise political power in order to remain in the majority. To explicate this concern it may be helpful to consider an analogy to the individual freedom of expression. Imagine a fundamentalist community whose members publicly advocate their religious ideals and criticize a modern secularized life style. Suppose that more and more people feel attracted by their doctrine and stop participating in the democratic decision-making process. After a while the percentage of persons having a disposition to support the political system is at risk to fall below a critical threshold. The members of the faith group concerned – so let us assume – are fully tolerant, i.e. they try to persuade their fellow-citizens to share their beliefs but they strictly reject the exertion of pressure or force. Moreover, they can be expected to respect the basic interests of dissenters should they obtain a majority in the state. Although they will organize political institutions and decisions in a non-democratic way, they are ready to grant far-reaching exit rights and other basic liberties, including the freedom to desist from any religious activity. Thus the protection of other individuals from violence or suppression gives the democratic state no reason to prohibit the group’s activities. In this situation the question arises whether a demo­ cratic state may restrict the expressionist freedom of fundamentalists in order to secure sufficient support for its institutions. In the second section I started out from the assumption of an individual right to form a political association. I argued that the members of the majority in a given territory are entitled to create and maintain a state if they are prepared to respect crucial interests of the dissenters. The right to organize into a state is robust in the sense that it may be defended against persons who violently try to overturn the political system. However, it seems questionable whether the state authorities may legitimately restrict the freedom of speech in order to avert a shift in public opinion. Of course, the members of the majority group may endeavor to convince other citizens to support the democratic order. They may publicly argue for the advantages of

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participatory institutions and warn of the dangers of fundamentalist religious doctrines. However, the right to form a political association does not readily justify the use of coercive state power for the purpose of preserving their majority position.17 If one thinks that a democratic state is not authorized to encroach on the expressionist freedoms of fundamentalists, one has to explain why their educational liberties do not deserve the same protection. The imposition of a civic education policy intends to keep the percentage of citizens failing to develop political virtues below a critical threshold. Evidently, this intervention into parental liberties pursues the goal to prevent the given majority from being outnumbered. As in the case of the fundamentalists’ freedom of speech, one may doubt whether the use of coercive state power can be justified. Possibly the educational decision on the inculcation of political virtues should be entirely left to the parents. If the number of parents who are prepared to promote the development of the relevant qualities and attitudes decreases, a change of majority has to be accepted. The same holds – so one may argue – if the birth rate in fundamentalist communities is significantly higher than in the rest of society. In response to the second objection, the common features and differences of a person’s expressionist and educational liberties need to be considered more closely. As I have argued above, fundamentalist parents have a legitimate interest in imparting their beliefs and values to their offspring. In my view, the individual right to pursue one’s own conception of the good extends to the sphere of child rearing. Everybody is entitled to practice her faith in the family and elsewhere and may instruct her children according to her own religious convictions. Therefore, other citizens are normally not justified in using state power in order to intervene in fundamentalist parent’s educational authority. However, if the viability of the democratic institutions is threatened because an increasing number of persons lack the relevant political virtues, weighty interests are at stake. As a consequence, a significant part of the population may no longer be able to live in its preferred political system. In my view, the majority’s interests in functioning democratic institutions fail, however, to trump the interests of fundamentalist parents. As I have claimed above, the right to form a political association does not imply an entitlement to permanently remain in the majority on a given territory. Although the supporters of a democratic order are not protected from being outnumbered by other groups, they are free to advocate their convictions. They may, for instance, try to counteract a fundamentalist community’s missionary activities by publicly challenging their religious doctrine. However, in the case of an immature child still unable to comprehend complex arguments they cannot protect their interests by engaging in discussions. They can only exert influence on a child’s future dispositions and attitudes if they are allowed to bring their beliefs and values to bear on its education. 17  Jonathan Quong (2011, 299 – 305) has tried to justify a right of liberal states to prevent the spread of “unreasonable views” which contradict their basic values.

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Here it is important to note that civic education policies typically aim at supplementing the private education provided by the parents. Consider, for instance, the enactment of a compulsory school attendance law in order to support the development of important political virtues. Children who are forced to attend a public or state licensed private school are not completely separated from their families. Outside school hours parents still have ample opportunity to exert significant influence on their children’s character formation. The state’s civic education policy merely counterbalances the impact of fundamentalist communities on their children’s qualities and attitudes. Thus it is roughly analogue to the confrontation of religious doctrines in public debates I have referred to in the context of expressionist freedoms.18 VI. Conclusion In this paper I have left justifications of state interventions into the educational liberties of fundamentalist parents which refer to the child’s interests out of consideration. I have exclusively dealt with arguments which draw on other citizens’ interests in the continued existence of democratic institutions. As regards a state’s civic education policy, I have proposed a distinction between two kinds of political virtues – those that need to be possessed by every citizen and those that allow for exceptions. If my reasoning has been correct, restrictions of educational authorities in order to promote political virtues of the latter kind are mostly illegitimate. Unless the number of citizens possessing the relevant qualities and attitudes falls below a critical threshold, the imposition of a civic education policy cannot be vindicated. Since most political virtues need not be possessed by every citizen, arguments for civic education are only of limited relevance. They fail to support permanent and far-reaching state interventions into the educational liberties of fundamentalist religious communities. Finally, it seems worth noting that the findings of my examination also apply to immigrants who adhere to fundamentalist ideals. For the argument presented above it is irrelevant for how long a minority group has been residing on the state territory. If the group members have a moral right to live within the state borders, their interests must be protected to the widest possible extent.19 Regarding the need 18  Here the question may arise why a democratic state is not generally – independent of any threat to its stability – entitled to counterbalance the influence of fundamentalist communities. If one starts out from the assumption that educational authority rests with the parents, the answer seems to be straightforward. State interference in the private sphere can only be justified if crucial interests of other citizens (or the children concerned) are at stake. In other words, unless fundamentalist groups pose a real threat to the democratic order, infringements of the educational rights of their members cannot be justified (see Quong 2011, 303 – 304). 19  Within the scope of this paper I cannot discuss the controversial question of under which conditions a person is entitled to enter and settle in the state of her choice. The most influential ethical theories of migration agree, however, that persons who have been admitted by the host society are henceforth justified in staying on the territory.

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to justify majority rule, there is no difference between long-established and newly arrived minorities. Of course, the obligation to widely accept the educational practices of fundamentalist communities may negatively affect a host society’s readiness to take their members in. Given that a host society is morally entitled to discriminate between applicants, it will be inclined to reject persons who do not share their democratic ideals. However, as soon as fundamentalist immigrants are accepted on a permanent basis they must enjoy the same protection as everyone else. Zusammenfassung Moderne pluralistische Gesellschaften sehen sich typischerweise mit Minderheiten konfrontiert, die nicht dazu bereit sind, die demokratische Grundordnung aktiv zu unterstützen. Die aktuellen Migrationsbewegungen können dieses Problem verstärken, wenn sich ein Teil der Neuankömmlinge nicht mit dem westlichen Lebensstil im Allgemeinen und den politischen Institutionen im Besonderen identifiziert. Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, ob und ggf. inwieweit ein demokratischer Staat die Erziehungsbefugnisse von Minderheiten einschränken darf, um die Ausbildung politischer Tugenden zu fördern. In Hinblick auf die staatliche Stabilität wird zwischen Befähigungen oder Haltungen unterschieden, über die jeder Bürger verfügen muss, und solchen, die nur eine hinreichend große Anzahl von Bürgern besitzen sollte. Ein demokratischer Staat ist dazu autorisiert, politische Tugenden der ersten Art, z. B. eine minimale Toleranz, verbindlich als Erziehungsziel vorzuschreiben. Zur Förderung von politischen Tugenden der zweiten Art, wie etwa Partizipationsbereitschaft, darf er aber erst dann Zwang anwenden, wenn die Anzahl antidemokratisch eingestellter Bürger einen kritischen Schwellenwert zu überschreiten droht. Da die meisten politischen Tugenden unter die zweite Kategorie fallen, steht die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in die private Erziehung von Minderheiten vor größeren Herausforderungen als gemeinhin angenommen. References Altman, Andrew / Wellman, Christopher H.: A Liberal Theory of International Justice, Oxford: Oxford University Press, 2011. Archard, David: Children. Rights and Childhood 2nd ed, London / New York: Routledge, 2004. Boettcher, James: “Political Virtues”, in: Jon Mandle / David A. Reidy (eds.), The Cambridge Rawls Lexicon, Cambridge: Cambridge University Press, 2014, 631 – 634. Callan, Eamonn: Creating Citizens. Political Education and Liberal Democracy, Oxford: Oxford University Press, 1997. –– Debate: Liberal Virtues and Civic Education, The Journal of Political Philosophy 23, 2015, 491 – 500.

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Skizze einer Migrationsethik für die Reduktion der Zahl von Flüchtlingen Rechtfertigungsgründe für ein heikles Politikfeld

Andreas Fisch

Anfang der 1990er-Jahre empörten sich Teile der bundesrepublikanischen Bevölkerung über die massiv ansteigenden Asylbewerberzahlen. Fremdenfeindliche Aktivisten schreckten nicht vor kriminellen Brandanschlägen mit jungen Frauen und Mädchen als Todesopfern zurück. Die Reaktion der Politik auf die steigenden Bewerberzahlen und die politische Stimmung im Land war die tiefgreifende Änderung des Grundgesetzes 1993, der sog. „Asylkompromiss“, um weniger Flüchtlingen Asyl zu gewähren. 2015 erreichen erneut viele Schutzsuchende Deutschland, die Zahl krimineller Brandanschläge steigt. Die gesellschaftliche Stimmung spaltet sich in eine Willkommenskultur, die sich bis heute vor allem in ehrenamtlichem und dauerhaftem Einsatz für Geflüchtete auszeichnet, und in Gegenbewegungen, die in regionalen zivilgesellschaftlichen Bewegungen und in einer neuen, rechtspopulistischen Partei ihren Unmut äußern. Zahlreiche Regierungen in Europa reagieren auf die verstärkte Aufnahme in Deutschland, steigende Asylbewerberzahlen und die flüchtlingsfeindliche Stimmung in ihren Ländern. Sie machen 2016 zu einem Jahr sich schließender Grenzen und behinderter Fluchtwege, um die Zahl der Flüchtlinge in Europa zu reduzieren. In dieser Skizze reflektiere ich, wie Maßnahmen, die Flüchtlingszahlen reduzieren sollen, ethisch bewertet werden können;1 in späteren Beiträgen werden die hier entwickelten Kriterien auf eine Auswahl aktueller Reduktionsmaßnahmen angewandt.

1  Zu einer Migrationsethik für Asylsuchende vgl. Tremmel, Hans, Grundrecht Asyl. Die Antwort der christlichen Sozialethik, Freiburg / Basel / Wien: Herder, 1992; eine Migrationsethik, konkretisiert für den Umgang mit irregulären Einwanderern vgl. Fisch, Andreas, Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität. Reformvorschläge und Folgenabwägungen aus sozialethischer Perspektive. Mit einem Vorwort von Georg Kardinal Sterzinsky, Berlin: LIT, 2007, sowie eine Fülle derzeit erscheinender Publikationen.

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I. Drei Auffassungen von Reduktion und die korrelierenden Maßnahmen und Alternativen Das Schlagwort deutscher Politiker, die Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden zu reduzieren, lässt sich in dreifacher Weise auslegen: die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland und in Europa zu reduzieren, wobei die Zahl der Schutzbedürftigen in beiden Fällen weltweit gleich bleibt, und die Zahl der Schutzbedürftigen weltweit tatsächlich zu reduzieren. 1. Das Ziel, die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland zu reduzieren … a) … als Reduktion derjenigen, die sich in Deutschland befinden Das erste Verständnis einer „Reduktion der Flüchtlingszahlen“ versucht, die Anzahl der in Deutschland befindlichen Schutzsuchenden zu vermindern. Die vorgeschlagenen Maßnahmen, sich ausschließlich diesem Ziel zu nähern, sind –– die Abschreckung durch (noch stärker) verminderte Sozialleistungen, deren Vergabe als Gutschein oder Sachleistung statt frei verfügbarem Geld usw. –– und die Verminderung durch mehr Abschiebungen, unter anderem durch die Ablehnung von Asylgesuchen aus mehr sog. „sicheren Drittstaaten“, Abschiebungen nach dem Dublin-Verfahren und eine insgesamt effektivere Abschiebepraxis der Bundesländer. Als ethisch begründete Alternativen zu bedenken sind –– eine Änderung der Abschiebemodalitäten, die darüber insgesamt eine größere Akzeptanz von Abschiebungen erreichen kann, etwa Familien bei erfolgreicher Integration und langjährig gewachsenen Wurzeln ein Bleiberecht zu erteilen (Kapitel II.3.) und andere, die Staatsordnung gefährdende Gruppen konsequenter abzuschieben (Kapitel III.2.). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Gefährder-Problematik gegebenenfalls eine übernationale Regelung und Kooperation erfordert und nicht durch die Abschiebung, zum Beispiel nach Tunesien, schon gelöst ist, erst recht nicht, wenn Europa an der positiven Entwicklung der nordafrikanischen Nachbarländer gelegen ist. –– Rückkehrhilfen zur Motivation abgelehnter Asylbewerber / innen sind ethisch leichter zu legitimieren und werden bereits praktiziert. –– Ein zentraler Punkt, so lässt sich vielfältig begründen, sind sehr viel schnellere, aber ordnungsgemäße Asylverfahren.

Skizze einer Migrationsethik für die Reduktion der Zahl von Flüchtlingen

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b) … als Minderung der Zahl der Flüchtlinge in Deutschland durch Umverteilung Als weitere Maßnahmen zur Reduktion der Flüchtlinge in Deutschland wird eine Änderung der Verteilungsmodalitäten in Europa angestrebt. Bei einer gerechteren Verteilung der Schutzsuchenden in europäischen Ländern würden diejenigen Länder mit einer hohen Aufnahmequote, unter anderem eben Deutschland, ihre Zahlen von Geflüchteten durch Umverteilung reduzieren können. Zu diesen Maßnahmen zählen –– neue Verteilungsschlüssel in der Europäischen Union –– und Obergrenzen je Land. Als ethisch begründete Alternative angesichts der politisch gescheiterten Angebote etwa der EU-Kommission bietet sich –– der Reformvorschlag des Sachverständigenrats für Migration und Integration (SVR) an, ein reguliertes free choice-Modell als Lösung für Sekundärmigration, das Elemente der finanziellen Beteiligung statt der Aufnahme enthält, die eine höhere Akzeptanz begründen könnte und jenseits einer ethisch vorzugswürdigen Variante einer gleichmäßigeren Aufnahme dennoch wesentliche Elemente einer fairen Verteilung beinhaltet.2 2. Das Ziel, die Zahl der Schutzsuchenden zu reduzieren, die Europa überhaupt erreichen Versteht man die „Reduktion der Flüchtlingszahlen“ als Verminderung der Anzahl der Schutzsuchenden, die überhaupt Europa erreichen, ist das Ziel, dass Schutzsuchende entweder trotz gefährdeter Lebenslage von einem Aufbruch absehen oder in ihrer Weiterreise nach Europa bzw. an der Einreise nach Europa gehindert werden. a) Verhinderung des Aufbruchs Als Maßnahme, den Aufbruch zu verhindern, können Regierungen –– in bestimmten Herkunftsländern intensiviert über geringe Chancen von Asylanträgen aufklären. Diese Aufklärung richtet sich wider die Werbung von geschäftstüchtigen Dienstleistern zur Überfahrt und wider die beschönigenden Versprechen von kriminellen Schleppern und Schleusern. Sofern die Aufklärung redlich und zuverlässig über Sachverhalte und Asylverfahren informiert, 2  SVR – Sachverständigenrat für Migration und Integration, Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Jahresgutachten 2017, S. 41 – 46, online unter: https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2017/04/SVR_Jahresgutachten_ 2017.pdf

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also nur jene abhält, die tatsächlich keine Chancen haben, und im Zweifelsfall niemandem den Aufbruch gewaltförmig verwehrt wird, besteht kein Bedarf für eine ethische Alternative. b) Verhinderung der Weiterreise in Transitländer Als Maßnahmen, die Weiterreise durch das Abriegeln von Grenzrouten (und die Bekämpfung von Schleusern) zu verhindern, gelten –– die Abriegelung der Grenzen auf dem Fluchtweg der sogenannten “Balkanroute“, –– das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei –– und die Migrationspartnerschaften mit Mali, Nigeria, Niger, Äthiopien, Senegal und weiteren Ländern.3 Als ethisch begründete Alternative bietet sich hier (nur?) –– eine Weltflüchtlingskonferenz zu einer neuen Flüchtlingsdekade –– und legale Wege der Umsiedlung durch Verteilungsschlüssel an (vgl. Kapitel II.1.). Allerdings ist festzuhalten, dass diese Alternativen eine noch höhere politische Kooperationsbereitschaft erfordern als die bereits gescheiterte Neuregelung der Verteilung innerhalb der Europäischen Union. c) Verhinderung der Einreise in die EU Zu den Maßnahmen, die Einreise in die EU zu verhindern, die bereits in die öffentlichen Debatten eingeführt worden sind, zählen die Vorschläge, –– vor den Grenzen der EU neue Auffangzentren einzurichten, –– die Boote von Schleusern und Schleppern zu zerstören –– und im Mittelmeer aufgegriffene Geflüchtete direkt nach Afrika zurückzuschiffen bzw. zurückzuführen („Australisches Modell“) –– oder Boote in Seenot passiv versinken zu lassen oder aktiv mit Schießbefehl Flüchtende an den Grenzen abzuhalten. Als ethisch begründete Alternativen zu prüfen wären –– Auffangzentren in einer „rechtsstaatlich-einladenden Variante“, 3  Die konkrete Bewertung des „Türkei-Abkommens“ und der Migrationspartnerschaften ist für einen eigenen Fachartikel 2018 geplant. Beachten Sie hierzu bitte meine Publikationsliste auf: http://www.kommende-dortmund.de/kommende_dortmund/5-Fachbereiche/43-Wirtschafts ethik/46-Dozent.html

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–– verbunden mit einer besseren Finanzierung von bestehenden Flüchtlings- und Auffanglagern –– und (aus)bildungspolitische und unternehmerische Investitionen4.

3. Das Ziel, die Zahl der Schutzsuchenden zu reduzieren, durch die Überwindung von Fluchtursachen und Migrationsmotiven Ein drittes Verständnis einer „Reduktion der Flüchtlingszahlen“ versucht, die Zahl der Flüchtlinge zu vermindern, indem die Ursachen zur unfreiwilligen Migration und zur erzwungenen Flucht beseitigt werden, um Menschen von vornherein die Not als Flüchtling zu ersparen. Als Maßnahmen, Ursachen von Flucht und Zwangsmigration zu bekämpfen, können je nach den konkreten Umständen –– eine verstärkte Katastrophenhilfe, –– Entwicklungszusammenarbeit im Inneren von Herkunftsländern –– und die Bekämpfung wirtschaftlicher Fluchtursachen im Weltwirtschaftssystem erwogen werden. Dazu zählt auch die Identifikation von Mitverantwortlichkeiten für Fluchtursachen und Reform dieser Strukturen in Weltwirtschaft und Weltpolitik. –– Angesichts der Hauptursache der Flüchtlingsbewegungen in Kriegen und Konflikten liegt der entscheidende Zugang in der Konfliktprävention und Diplomatie, die in alle anderen Politikbereiche eingreift, –– sowie in der Deeskalation und Beendigung von Kriegen, ggf. auch durch militärische Interventionen. Ethisch begründete Weiterführungen und Zuspitzungen dieser Ansätze könnten –– in einer ringförmigen sich erweiternden Entwicklungsförderung der umliegenden Nachbarländer der Industrieländer, –– einer länderübergreifenden Zuordnung bei der Entwicklungsförderung –– und Reformen der Weltwirtschaft und -politik liegen, die auf Stabilisierung, Frieden und Erreichen von Versöhnung zielen und dabei die Verflechtung von wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Ursachen bedenken, vom Waffenhandel bis zur Rolle wirtschaftlicher Interessen und des Zugangs zu Ressourcen.

4  Etwa nach dem Vorbild der Initiativen der im Schweizer Kanton Genf ansässigen Stiftung „Weltwirtschaftsforum“ (World Economic Forum), vgl. Rösler, Philipp, „Werte im globalen Wirtschaftsleben“, in: Die Reden auf dem 10. Unternehmertag ‚Erfolgreich nachhaltig‘, hrsg. von der Kommende Dortmund, Dortmund: Eigenverlag, 2016, S. 11 – 28, hier: 23 – 25.

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–– Sorgfältig sind weltpolitische Konfliktlagen im Hintergrund aktueller Brennpunkte, „Stellvertreterkriege“ sowie die Eignung militärischer Interventionen abzuwägen.5 II. Verpflichtet wozu? Differenzierungen nach der Schutzwürdigkeit der Geflüchteten, gestufter Verantwortlichkeit und der Art der Lösungsansätze Die Quintessenzen zu allgemeinen, globalen Hilfsverpflichtungen werde ich in diesem Kapitel nur knapp darstellen, weil sie eher bekannt sind, aber gleichwohl Kriterien für die Bewertung von Reduktionsmaßnahmen liefern, bevor ich mich in Kapitel III. möglichen Rechtfertigungsgründen für Reduktionsmaßnahmen zuwende, die zugleich Orientierungen für die Ausgestaltung solcher Maßnahmen geben. 1. Menschenrechtliche Verpflichtungen I: Ein utopisches Ideal zum Umgang mit Flüchtlingen weltweit Die grundlegende Hilfspflicht, das ethisch geforderte Sollen, schöpft aus Menschenwürde und Menschenrechten und begründet sich nach sehr unterschiedlichen philosophischen Ansätzen. In der Durchsicht der großen philosophischen Konzeptionen, die sich um stimmige Begründungen verdient machen, ist auffällig, dass bei allen Differenzen keine unter ihnen zu einer überzeugenden Abwehr der Hilfe für Menschen in großer Not findet.6 Ein Ideal im Umgang mit Flüchtlingen gewich5  Zum Bereich ethisch begründeter Weiterführungen und Zuspitzungen langfristiger Maßnahmen mit tatsächlicher Reduktion Hilfsbedürftiger, vgl. Fisch, Andreas, „Über Entwicklung zur Eindämmung der Fluchtgründe? Einschätzungen zum ,Marschallplan mit Afrika‘ und seinen Alternativen“, in: Fisch, Andreas / Ueberbach, Myriam / Patenge, Prisca / Ritter, Dominik (Hrsg.), Zuflucht – Zusammenleben – Zugehörigkeit? Kontroversen der Migrations- und Integrationspolitik interdisziplinär beleuchtet, Münster: Aschendorff, 2017, S. 63 – 94. 6  Joseph Carens vertritt einen egalitären Liberalismus als vertragstheoretischen Ansatz im Anschluss an John Rawls, diesen aber beim „Recht der Völker“ übersteigend, Peter Singer einen modernen Utilitarismus. Der Kommunitarist Michael Walzer und der Kritische Ratio­nalist David L. Miller vertreten in zwei Varianten eines liberalen Nationalismus mit einer stärkeren Gewichtung der nationalen Interessen Ansätze Nationaler Selbstbestimmung. Doch sogar Miller befürwortet eine Hilfspflicht gegenüber Flüchtlingen in gravierenden Notlagen (Armut, Unterdrückung). Walzer spricht sich ebenfalls für die Aufnahme von politischen Flüchtlingen aus und weist darauf hin, dass die zweifelsfrei bestehende Pflicht gegenüber Menschen in materieller Not durch den Export von Ressourcen erfüllt werden kann. Christopher H. Wellman kommt in einer zweiten Variante eines liberalen Nationalismus als „Freiheit der ­Assoziation“ mit einer starken Gewichtung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit in seiner Abwägung ebenfalls zu diesem Ergebnis. Vgl. hierzu die Übersicht in: Dietrich, Frank / Zanetti, Véronique (Hrsg.), „Philosophie der internationalen Politik zur Einführung“, Hamburg: Junius, 2014, Kapitel 4 „Migration“; ergänzt um Rawls und Walzer vgl. Fisch (Fn.  1), S.  249 – 269, sowie Walzer, Michael, „Universalismus, Gleichheit und das Recht auf Einwanderung“, in: Herlinde Pauer-Studer (Hrsg.), Konstruktionen praktischer Vernunft: Philosophie im Gespräch, Frank-

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tet Hilfsbedürftigkeit nach der Schwere der Not. Regierungen, die diesen Hilfspflichten entsprechen, müssten dann dafür Sorge tragen, dass weltweit alle in Not geratenen Personen, gestaffelt nach ihrer individuellen Bedürftigkeit, mit den für sie passenden Hilfsmaßnahmen unterstützt werden. Für Flüchtlinge würde dazu eine faire, weltweite Verteilung der Lasten und Gewinne nach der Leistungsfähigkeit gehören. Zu den Lasten zählen die Aufnahme schwer Integrierbarer, die Versorgung Alter und Kranker, die Finanzierung dieses Aufwands sowie der Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung. Zu den Gewinnen zählen die Aufnahme gut Qualifizierter bzw. Qualifizierbarer, bei verminderter Konfliktwahrscheinlichkeit eine regionale „Friedensdividende“ als Chance zur Entwicklung und wirtschaftliche Effekte zirkulärer Migration7. Ein Schritt zur Umsetzung (vgl. Kapitel I.2.b) wäre eine Weltflüchtlingskonferenz und die Ausrufung einer Dekade der Flüchtlinge, ähnlich wie die Entwicklungsdekade mit ihren Millennium Development Goals 2000 ausgerufen und bis 2015 umgesetzt worden ist.8 Beschlossen werden könnten auf einer solchen Weltflüchtlingskonferenz neben Maßnahmen zur Reduktion der Fluchtursachen auch Fragen der weltweiten Lastenverteilung bei Aufnahme und bei zukunftsgerichteten Maßnahmen über die reine Versorgung hinaus (Schule, Ausbildung, Integration usw.) und sogar Visa zur Flucht und anderes mehr, um die Ärmsten auf der Flucht zu erreichen. Realpolitisch ist eine solche „große Lösung“, deren Ansprüche sich schon nicht auf Ebene der Europäischen Union verwirklichen lassen, derzeit als utopisch einzuschätzen. Die Skizzierung eines ethisch gebotenen idealen Umgangs mit Geflüchteten markiert jedoch, wann utopische Orientierungen über derzeit umsetzbare Politikoptionen hinausgehen und belegen etwa für die Reduktionsansätze durch das Türkei-Abkommen, Migrationspartnerschaften und Sperrung von Fluchtrouten (Kapitel I.2.c), dass die dort angebotene ethisch vorzugswürdigere Alternative den Anspruch an die Bandbreite der Beteiligten und deren Lösungswillen noch weit über den gescheiterten Versuch einer neuen Verteilungspolitik in der Europäischen Union hinaus anhebt. Unter der Voraussetzung des normativen Prinzips „Sollen setzt Können voraus“ bzw. „Über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet“ („Ultra posse nemo obligatur“) muss dieser Umstand in seiner normativen Bedeutung neu reflektiert werden und kann die Bewertung der dort aufgezählten ethisch „minderwertigen“ bzw. zu verwerfenden Reduktionsansätze beeinflussen. Nach furt: suhrkamp, 2000, S. 260 – 285, hier: 274 – 275. Anders stellt sich die Debatte dar, wenn Rezipienten der verschiedenen Philosophien diese von vornherein nur für den nationalen Kontext einsetzen und globale ethische Ansprüche von vornherein ausblenden, vgl. hierzu den Überblick in Lesch, Walter, „Kein Recht auf ein besseres Leben? Christlich-ethische Orientierung in der Flüchtlingspolitik“, Freiburg / Basel / Wien: Herder, 2017, S. 101 – 114. 7 Vgl. Fisch, Andreas, „Zirkuläre Arbeitsmigration und entwicklungspolitische Ansprüche“, in: Barwig, Klaus / Beichel-Benedetti, Stephan / Brinkmann, Gisbert (Hrsg.), Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht 2009, Baden-Baden: Nomos, 2010, S. 79 – 96. 8  http://www.unric.org/html/german/mdg/index.html. Von 2015 bis 2030 setzen die Ziele für nachhaltige Entwicklung diese Kampagne fort, vgl. https://www.globalpolicy.org/images/pdfs/ GPFEurope/Agenda_2030_online.pdf

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gründlicher Untersuchung könnten sich sogar ethisch „minderwertigere“ Maßnahmen temporär rechtfertigen lassen, wenn diese das Maximum des derzeit politisch Erreichbaren und keine reinen Abwehrmaßnahmen darstellen, sondern auch ethische Ansprüche in komplexen Gemengelagen verwirklichen. 2. Menschenrechtliche Verpflichtungen II: Aufnahme und Ursachenbekämpfung Mehrfach verweisen die philosophischen Ansätze auf die Alternative (oder Ergänzung) zur akuten Nothilfe (Aufnahme und Versorgung) hin, nämlich strukturelle Ursachen für die Flucht zu beheben, die sich als ungerecht qualifizieren lassen. Konkretisieren lassen sich begründete Hilfspflichten durch faktisch bestehende Einflussbereiche und -möglichkeiten. Die Identifikation dieser Einflussbereiche ist über eine differenzierte Analyse des nationalstaatlichen Zuständigkeitsbereichs hinaus auch in inter- und multinationalen Institutionen sowie durch politische, wirtschaftliche, militärische und andere Formen effektiver Machtausübung zu verstehen. Die eigene (nationalstaatliche) strukturelle, wirtschaftliche, politische, finanzielle und anders geartete Involvierung in Fluchtursachen ist sichtbarer Ausdruck der eigenen Verantwortung und bestärkt eine weiter gehende Übernahme von Verantwortung bei der Ursachenbekämpfung.9 Normativ ist es – wenig überraschend – ethisch vorzugswürdig, Flüchtlingszahlen weltweit zu senken, indem die zur Flucht nötigenden Gründe im Heimatland beseitigt werden, gegenüber Maßnahmen zur Umverteilung oder gar Abwehr von Flüchtlingen. Fluchtgründe zu beseitigen, verhindert die Verletzung von Menschenrechten in Not, Elend und Unterdrückung und ermöglicht ein Leben in Würde, anders als die Reduktionsmaßnahmen, die bei gleichbleibenden Gesamtzahlen von Flüchtlingen nur die Ankommenden in bestimmten Ländern oder Regionen mindern ohne automatisch einen ethisch qualifizierbaren Mehrwert zu erzielen. Die effektiven Auswirkungen auf den gebotenen Schutz sind ein Kriterium, wenn Staaten Fluchtursachen bekämpfen, Flüchtlinge unterwegs in andere, schutzgewährende Staaten umleiten oder ihre Flucht abwehrend verhindern. Neben der Aufnahme von Flüchtlingen sind auch Finanzierung und Aufwendungen zur Ursachenbekämpfung als relevante Beiträge bei einer fairen Verteilung der Lasten zu berücksichtigen.

9  Eine ausführlichere Begründung dieser These erfolgt in Fisch (Fn. 5) sowie Fisch, Andreas et al., „Zur Diskrepanz zwischen ehtnischer Reflexion und politischen Sachzwängen“, in Fisch et al. (Fn. 5), S. 431 –458.

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3. Pflicht zur Inklusion langfristig aufhältiger Personen als ethische Konsequenz für aufnehmende Staaten Auch die weitergehenden Pflichten gegenüber aufgenommenen Menschen ergeben sich als Konsequenz aus der gewährten Hilfe und können helfen, Reduktionsmaßnahmen ausdifferenziert zu gestalten. Die Staatsform der Demokratie rechtfertigt sich als vorzugswürdig gegenüber ihren Alternativen, weil sie Menschen- und Beteiligungsrechte verwirklicht. Schon Paul VI.10 forderte jedoch angesichts einer „faktischen Zugehörigkeit“ von langfristig anwesenden Immigranten eine formelle Anerkennung dieser Rechte. Ethische Kriterien für eine solche ethisch gebotene Anerkennung sind aus Kooperationsgemeinschaften entwickelt worden, die sich über vertragstheoretische Gerechtigkeitskonzeptionen begründen lassen. Einerseits ist eine demokratische Beteiligung erforderlich, um den gemeinsam erwirtschafteten Ertrag dieser Kooperation gerecht zu verteilen, und zwar durch demokratische Entscheidungen aller Beteiligten. „Die faktische Verbundenheit in wirtschaftlichen Zusammenhängen belegt einen Willen zur Kooperation um des gegenseitigen Vorteils willen.“11 Eine Verweigerung dieser Konsequenz, etwa bei langjährigen sog. „Gastarbeitern“, würde Menschen auf ihre Arbeitskraft als einzigen Zweck unzulässig reduzieren. Neben diesem Argument für einen fortschreitenden Prozess hin zur Verleihung der Staatsbürgerrechte im Kooperationszusammenhang eines Gemeinwesens sprechen auch die diversen steuerlichen Beitrage (Umsatzsteuer, Einkommenssteuer, Sozialabgaben usw.): „No Taxation Without Representation!“. Ferner unterliegen langfristig im Land lebende Menschen den Gesetzen des Landes in unmittelbarer Betroffenheit („Was alle betrifft, ist von allen zu entscheiden!“). Als pragmatisches Kriterium hat sich die Dauer des Aufenthalts etabliert. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass aus ethischer Perspektive der normative Anspruch auf eine formelle Anerkennung gewachsener Zugehörigkeit zur Gesellschaft durch die Verleihung der Bürgerrechte mit zunehmendem zeitlichem Aufenthalt und fortschreitender Integration wächst als sich ereignende „Verwurzelung“, gegebenenfalls gekoppelt an bestimmte Ausschlusskriterien wie Straffreiheit und verstärkt durch positive Attribute wie bestimmte Integrationsleistungen (Schulbesuch der Kinder, selbstständige Versorgung der Familie usw.).12 10  Paul VI., „Octogesima adveniens“, in: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmerbewegung, Kevelaer: Ketteler, 1985, S. 487 – 524, hier: Nr. 17. 11  Fisch, Andreas, „Inklusion von Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Lässt sich ein Recht auf Legalisierung für bestimmte ‚Statuslose’ begründen?“, in: Eckstein, Christiane / Filipović, Alexander / Oostenryck, Klaus (Hrsg.), Beteiligung – Inklusion – Integration. Sozialethische Konzepte für die moderne Gesellschaft, Münster: Aschendorff, 2007, S. 189 – 202, hier: 191. 12  Vgl. auch Farahat, Anuscheh, „Progressive Inklusion: Zugehörigkeit und Teilhabe im Migrationsrecht“, Berlin / Heidelberg: Springer, 2013; Gornig, Gilbert H./Horn, Hans-Detlef/ Murswiek, Dietrich (Hrsg.), „Nationales Wahlrecht und internationale Freizügigkeit“, Berlin: Duncker & Humblot, 2014; die Beiträge in Kapitel III. „Staatsbürgerschaft und politische Par-

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Das ethisch gebotene Angebot der Einbürgerung bzw. abgeschwächt eines beständigen Aufenthaltsrechts und Formen der politischen Beteiligung an Wahlen entspricht offensichtlich demokratischer Legitimation.13 Diese Verpflichtung erstreckt sich auch auf zunächst temporäre Aufenthalte, die sich de facto als langfristig erweisen.14 Eine formelle Anerkennung dieser „Verwurzelung“ kann sich nach den genannten Voraussetzungen und einer entsprechenden Aufenthaltsdauer als verlässliche Aufhebung der drohenden Abschiebung für diese Geduldeten und ihre Familien auswirken. Dieser Umstand kann die Abschiebepraxis insgesamt gesellschaftlich plausibler machen, während die jetzige Gesetzeslage und Praxis immer wieder das Unverständnis ganzer Stadtviertel provoziert, wenn sehr gut integrierte Familien samt Kindern, die erfolgreich deutsche Schulen besuchen, ins Gemeindeleben aktiv eingebunden sind usw., abgeschoben werden. Weiter unten wird ergänzt, bei welchen Gruppen von Zuwandernden sich eine Abschiebung ausdrücklich als geboten erweist (Kapitel III.2.). III. Unter welchen Umständen lassen sich Maßnahmen zur Reduktion von Geflüchteten rechtfertigen? Es soll nun aus ethischer Perspektive überlegt werden, welche Gründe für eine Reduktion als legitim erachtet werden können. Die Beschäftigung mit diesen Fragen will sich redlich den ethischen Fragen in diesem Grenzbereich stellen und dies ganz bewusst nicht aus einer Haltung, die Asyl und Fremde prinzipiell ablehnt. Ferner sollen die Kriterien dazu dienen, vorgeschlagene und praktizierte Reduktionsmaßnahmen ethisch überprüfbar zu machen und eine redliche Bilanz bestehender Aufwendungen und Strategien zu ziehen. Daraus lassen sich auch Orientierungen entwickeln, unter politischen Bedingungen, die ideale oder ethisch vorzugswürdige politische Strategien augenblicklich nur mit hohem Einsatz einzelner Länder zulassen, ethisch minderwertige Reduktionsmaßnahmen graduell zu verbessern und legitime(re) Ausgestaltungen von Reduktionsmaßnahmen zu entdecken.15 Erster Ansatzpunkt ist der legitime Zweck eines Gemeinwesens, Menschenrechte konkret zu verwirklichen (III.1.) und die Stabilität des Gemeinwesens dauerhaft zu erhalten (III.2.). Darüber hinaus lassen sich Rechtfertigungsgründe für Abwehrmaßnahmen gegenüber jenen Zuwanderern ohne Anspruch auf Unterstützung getizipation“ in: Cassee, Andreas / Goppel, Anna (Hrsg.), „Migration und Ethik“, Münster: mentis, 22014, S. 255 – 306, und Fisch (Fn. 11). 13 Vgl. Fisch, Andreas, „Ausgrenzung und Leitkultur. Zur integrativen Funktion von ,Pa­ rallelgesellschaften‘“, in: Ethik und Gesellschaft 1/2007, S. 12 – 15; online unter: http://www. ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/article/download/1-2007-art-5/68, mit weiteren Quellen. 14  In Deutschland leben etwa 25.000 Geduldete 8 Jahre und länger, nach: http://dipbt.bun destag.de/dip21/btd/18/111/1811101.pdf 15  Diese Punkte werden in späteren Veröffentlichungen ausgeführt.

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winnen (III.3.). Die ergriffenen Reduktionsmaßnahmen müssen sich jedoch vor den ausgelösten Nebenwirkungen rechtfertigen oder delegitimieren lassen (III.4.). 1. Die Funktionsfähigkeit von Nationalstaaten zur Sicherung der Menschenrechte a) Die Legitimation von Nationalstaaten über die Sicherung der Menschenrechte Der Schutz von Nationalstaaten und ihren Ordnungen gewinnt seine überzeugendste Legitimation aus dem effektiver realisierten Schutz von öffentlichen Gütern wie Menschenrechten, politischer Partizipation, Systemen sozialer Sicherung usw. Daraus lassen sich die stärksten Argumente für ein sich gegen zu viele Einwanderer abgrenzendes Gemeinwesen nationalstaatlicher Prägung gewinnen, wenn es diesen Schutz der Menschenrechte tatsächlich realisiert.16 Dem Schutz menschenrechtlich qualifizierter Güter dient in einer global lebhaft vernetzten Welt eine Vielzahl über- und internationaler Organisationen. Nationalstaaten bleiben in diesem Konglomerat wesentliche Akteure auch des Menschenrechtsschutzes. Es erscheint derzeit nur schwer vorstellbar, dass der in Nationalstaaten gewährte Schutz menschenrechtlich wesentlicher Güter in anderen Systemen mit einer solchen Effektivität gewährleistet werden kann. Selbst bei fehlendem Schutz lässt sich eine konkrete Regierung als Adressat von Veränderungsforderungen identifizieren. Allerdings bleibt es legitim, verbleibende Defizite in Nationen zu kritisieren und übernationale Institutionen dort zu erfinden, wo Menschenrechte durch sie besser geschützt werden können als durch Nationalstaaten. Sichtbar wird die Relevanz von Systemen sozialer und menschenrechtlicher Sicherung daran, dass eine Vielzahl von Fluchtgründen gerade der Mangel an diesen Gütern ist: Sicherheit des eigenen Lebens und des Lebens der eigenen Familie, Schutz vor Diskriminierung und struktureller Benachteiligung als Minderheit ethnischer, religiöser und anderer Art, fehlende materielle Absicherung des (Über-) Lebensnotwendigen, keine Perspektive für die (Aus-)Bildung und Berufstätigkeit der eigenen Kinder, unzulänglicher Zugang zu Krediten für die berufliche Selbständigkeit, fehlende soziale Sicherungssysteme für Notlagen wie Arbeitslosigkeit, Behinderung, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter.17 Wenn in einem aufnehmenden Land diese wesentlichen und menschenrechtlich qualifizierten Funktionen eines Gesellschaftssystems durch eine Überbeanspruchung durch Zuwandernde in ihrer Funktionsfähigkeit in Gefahr stehen, ist eine überfordernde Grenze erreicht. Der Schutz der eigenen Rechtsordnung begründet spätestens dann (auch gegen die im Grundgesetz festgelegte Unbegrenztheit bei der Aufnahme von Asylsuchenden und Asylberechtigten) normativ eine Begren Vgl. Fisch (Fn. 1), S. 186 – 214.   Vgl. die Quintessenz der Analysen der empirischen Literatur in Fisch (Fn. 1), S. 23 – 34.

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zung. An diesem nicht leicht zu erreichenden Punkt einer gesellschaftlichen Überbeanspruchung ist dann auch eine ansonsten unstrittige Prämisse wie „Die Person hat Vorrang vor jeder gesellschaftlichen Institution“18 in Frage zu stellen, weil Institutionen dann nicht in ihrer Selbsterhaltung um ihrer selbst willen, sondern in ihrer Dienstfunktion für den Menschen gefährdet sind. Die Grenze gesellschaftlicher Überforderung ist damit sehr hoch angesetzt, doch nur dann, wenn diese ethisch ausgewiesene Funktionalität zusammenzubrechen droht, ist in einer Abwägung mit den gravierenden Notlagen von Flüchtlingen ein Verhältnis erreicht, das eine Abwehr legitimieren kann. b) Überlegungen, wann eine gesellschaftliche Überforderung eintritt Zu diskutieren sind wenigstens die folgenden Aspekte einer gesellschaftlichen (Über-)Beanspruchung: die Logistik der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung; der Aufwand für die Bürokratie des Asylverfahrens sowie für Integrationsmaßnahmen und Rückführungen, aber auch Abwägungen zur Absicherung und Versorgung einheimischer Gruppen Bedürftiger, die zu diesen Anspruchsgruppen möglicherweise in Konkurrenz stehen.19 Die Frage nach der Rolle der Kultur im Einwanderungsland wird im nachfolgenden Kapitel bedacht. Um den Übergang von starker gesellschaftlicher Beanspruchung zur Überforderung zu bestimmen, kann es wegen der Komplexität des Sachverhalts nur darum gehen, bestmögliche Anhaltspunkte zu identifizieren und unzulängliche zu verwerfen.20 Einige Kommentatoren des Zeitgeschehens diagnostizierten während der außergewöhnlich angespannten Lage in Deutschland im November 2015 ein Gefühl von Überforderung beim Aufwand für Asylsuchende durch Aufnahme, Registrierung, Verwaltung und Logistik bei Unterbringung, Asylanträgen, Integrationskursen usw.21 Festzumachen ist dies auch an der langen Bearbeitungszeit von Asylverfahren im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von im Durchschnitt gut 7 Monaten pro Antrag 2016.22 Ferner haben Entscheider in Kommunen unter dem 18  So zum Beispiel Heimbach-Steins, Marianne, „Menschheitsfamilie und globales Gemeinwohl – mehr als schöne Worte? Migrationsethische Kriterien“, in: Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg / Basel / Wien: Herder, S. 94 – 107, hier: 96. 19  Vgl. hier erhellend Brugger, Michael / Reichert, Wolf-Gero, „Ruhe auf den billigen Plätzen? Sozialethische Überlegungen zu Konkurrenzen auf niedrigen sozialen Positionen“, in: Fisch et al. (Fn. 5), S. 293 – 324. 20 Zu dieser Diskussion empfehlenswert: Grundmann, Thomas / Stephan, Achim (Hrsg.), „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? Philosophische Essays“, Frankfurt: suhrkamp, 2016. 21  Das zeigt beispielsweise die öffentliche Stellungnahme Position des Deutschen Städtetags im Januar 2016, online unter: http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/positions papier_fluechtlingspolitik_160105.pdf 22  http://www.migazin.de/2017/02/24/bamf-immer-laengere-wartezeiten-bei-asylentscheiden/.

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Druck, viele Flüchtlinge in kurzer Zeit menschenwürdig unterbringen zu müssen, erwogen und teilweise in die Tat umgesetzt, etablierte Standards abzusenken. Dazu gehören etwa bestimmte energetische und den Brandschutz betreffende Verordnungen für zu errichtende Wohnräume. Die für die Gemeinschaft und Erholung wichtigen Ruhe- und Gesellschaftsräume sind vielerorts für Unterbringung und Schlafgelegenheit verwendet worden. Sinnvolle Schutzkonzepte wie die separate Unterbringung von Männern und Frauen, von Kindern (ggf. mit ihren Eltern) und Erwachsenen sowie von verfeindeten Gruppen und Ethnien sind zunehmend nicht umsetzbar gewesen. Geschweige denn konnten mit gleichen Personal- und Finanzressourcen Sprach- und Integrationskurse eingerichtet werden. Unter enormem Handlungsdruck fand eine Abwägung zwischen der Unterstützung einer geringeren Zahl von Flüchtlingen rechtlich und pädagogisch auf gutem Niveau und der Ermöglichung der Aufnahme einer größeren Zahl bei gleichzeitiger Senkung dieses Niveaus statt. Ähnlich stellt sich das Problem einer Abschätzung der Relevanz von Verantwortlichkeiten gegenüber eigenen problembelasteten Bevölkerungsgruppen dar. Indikatoren können beispielsweise eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, hohe Armutsraten in absoluten Maßstäben, eigene Belastungen wie Wiedervereinigung, Strukturwandel usw. sein. Diese Herausforderungen einer gerechten Gesellschaftsgestaltung sind normativ relevant. Die legitimen Hilfsansprüche Einheimischer und Geflüchteter sind jedoch in gleicher Weise nach dem Grad der Not und nicht nach dem Grad der Verfestigung von Aufenthaltstiteln zu bewerten. Normativ problematisch an einer Gegenüberstellung von unterschiedlichen Gruppen von Bedürftigen ist, dass interne Gerechtigkeitsprobleme und lösbare Umverteilungsdefizite vernachlässigt werden. In Griechenland etwa offenbart die fehlende Besteuerung wohlhabender Eliten und breiter Schichten, dass Finanzierungsprobleme (teils) hausgemacht sind. Zu Recht als ungerecht empfundene Zustände erweisen sich in Deutschland als gestaltbare soziale Probleme und im Vergleich zum vorausgegangenen (fehlenden) Regierungshandeln als unabhängig von den Kosten für aufzunehmende Flüchtlinge. Selbst wenn ein Sinn für Ungerechtigkeit die ausgebliebene Lösung einheimischer sozialer Probleme mit dem Aufwand für Geflüchtete abgleicht, so liegt die Ungerechtigkeit nicht in der Hilfe für Geflüchtete, sondern darin, sich um den sozialen Wohnungsbau, die Förderung von „Globalisierungsund Technisierungsverlierern“ und andere politische Maßnahmen zu Gunsten Bedürftiger im eigenen Land nicht ausreichend gesorgt zu haben. Insofern stellen solche Symptome „nur“ eine temporäre lokale Überforderung von (vielen) Kommunen, Ämtern wie dem BAMF (Bund, Nürnberg), dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso, Berlin) usw., aber keine dauerhafte gesellschaftliche Überforderung dar. Zu bedenken ist ebenfalls, dass es im nationalen Kontext – anders als bei hanebüchenen Vergleichen mit der Aufnahme im Privathaushalt – meistens zur gleichen Zeit an anderen Orten gegenläufige Anzeigen gibt, etwa leer stehender Wohnraum, entvölkerte Landstriche wegen des demografischen Wandels, unbesetzte Facharbeiter- und Ausbildungsstellen usw. Auch lässt

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sich bei den beschriebenen Gegebenheiten im November 2015 einwenden, dass bei entsprechender Vorsorge und zumutbaren Investitionen solche Engpässe hätten abgemildert werden können. Bei einer normativen Betrachtung ist es wesentlich, wie die politischen Entscheidungen für die langfristige Planung, Ausstattung, Finanzierung usw. ausgefallen sind. Es wäre ein Widerspruch, wenn hilfsstarke Akteure, die ihre Kapazitäten trotz vorhandener Mittel aus Fahrlässigkeit oder bewusstem politischen Kalkül knapp halten, bescheinigt bekämen, dass ihre Fähigkeit zur Hilfe eingeschränkt sei, während Länder mit vergleichsweise weniger Finanz- und Wirtschaftskraft besser planen und mehr Ressourcen vorhalten und daher von der gleichen Aufgabe nicht überfordert werden.23 Politisch betrachtet war zumindest ein Ansteigen der Flüchtlingszahlen angesichts der neu entflammten Konflikte weltweit absehbar und auch im BAMF bekannt, selbst wenn die Regierung nicht bei Kriegsbeginn eines Landes irgendwo auf der Welt augenblicklich die Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen ausbauen muss. Insofern sind punktuelle Bestandsanzeigen als Kriterium zur Bestimmung einer gesellschaftlichen Überforderung nicht geeignet, weil sie stark beeinflussbar und von politischen Entscheidungen abhängig sind, die die Fähigkeit zur Hilfe hintertreiben können.24 c) Indizien für eine extreme gesellschaftliche Beanspruchung Statt der temporären Überforderung von vielen Kommunen und Ämtern erweist sich die allgemeine Wirtschaftskraft eines Landes als angemessenerer Maßstab. Von daher wäre es zur Bestimmung von Überforderung pragmatisch, die vorhandene Wirtschaftskraft als Maßstab heranzuziehen. Stärke und Defizite einer internen Verteilung sind bei grundsätzlich vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten zu ignorieren, weil diese nicht ursächlich mit der Flüchtlingsaufnahme zusammenhängen. Der Einbezug angemessener Mittel und Möglichkeiten eines Staates, unter Umständen durch eine einmalige Vermögensabgabe,25 vermeidet auch Konkurrenz zwischen Bedürftigen, entlarvt hingegen manche Auseinandersetzung als Konflikt um Teilen und Umverteilen. Es gab in Folge der verstärkten Flüchtlingsaufnahme seit 2015 in Deutschland keinen flächendeckenden „Substanzverlust in der Lebensführung“ bei Einheimischen, der deren Versorgung unter das gebotene 23  Gegen andere Positionen argumentierend, etwa Brezger, Jan, „So viele wie nötig und möglich! Die Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen und die Spielräume politischer Machbarkeit“, in: Grundmann / Stephan (Hrsg.) (Fn. 20), S. 57 – 69. 24 Hierzu ist es aufschlussreich die Forderungen und Lösungsansätze der (Ober)Bürgermeister(innen) zu lesen, die mehrheitlich vor allem die Übernahme der Kosten fordern: http:// www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/presse/2015/ausgew%C3%A4hlte_zitate_fl%C3% BCchtlinge_.pdf. 25 Vgl. Fisch, Andreas, „Gerechtfertigte Besteuerung von Vermögen und Erbschaften? Leitbilder für eine Steuerpolitik angesichts sozialer Ungleichheiten“, in: Ethik und Gesellschaft 1/2016, 34 – 35; online unter: http://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/article/ download/1 – 2016-art-6/435.

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Niveau menschenrechtlicher Versorgung gesenkt hätte.26 Tatsächlich wurden die materiellen Lebensverhältnisse fast gar nicht berührt; das kulturelle Lebensgefühl wird im folgenden Kapitel bedacht. In diesem Punkt erweist sich die Abwehrreaktion eher als Besitzstandswahrung auf hohem Niveau. Eine Beeinträchtigung der menschenrechtlich gebotenen Funktionalität der sozialen Sicherungssysteme stand zu keinem Zeitpunkt in Frage. Einschränkungen betrafen lediglich die Unterbringungsbedingungen der aufzunehmenden Flüchtlinge und logistische Engpässe. Die betroffenen Flüchtlinge hätten bei einer Abwägung gewiss für die Aufnahme unter diesen Bedingungen gestimmt, weil dies gleichwohl bessere Lebens- und Aufenthaltsbedingungen waren als in manch anderen Durchreiseländern, geschweige denn bei dem sie gefährdenden Aufenthalt im Herkunftsland. Es kann pessimistisch spekuliert werden, wie ein kontinuierlicher Zuzug von jährlich nahezu 890.000 Geflüchteter sich mittelfristig ausgewirkt hätte. Anhaltspunkte für eine objektiv extrem starke Beanspruchung können dann gegeben sein, wenn eine Regierung sich gezwungen sieht, gesellschaftlich stark umstrittene Maßnahmen zu erlassen. Eine historische Suche nach solchen Präzedenzfällen als Indizien führt möglicherweise zur Anwendung der gesetzlich erlaubten, einmaligen konfiskatorischen Vermögensbesteuerung.27 Anhaltspunkt für eine nah an der gesellschaftlichen Überforderung liegende Situation kann exemplarisch die flächendeckende Zwangszuweisung von Flüchtlingen in aufnehmende Privathaushalte darstellen, wie dies bei den Migrationsbewegungen im Anschluss an den 2. Weltkrieg erfolgt ist. Damals ist es geschafft worden, 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in Deutschland aufzunehmen,28 die trotz ihrer kulturellen Nähe auch als ungebetene Gäste erlebt worden sind.29 d) Folgerungen für die Rechtfertigung von Reduktionsmaßnahmen Ist ein in diesem Sinne sehr hoch gelegter Maßstab einer gesellschaftlichen Überforderung identifiziert, dann lassen sich sogar Reduktionsmaßnahmen zur Abwehr Schutzbedürftiger rechtfertigen, weil eine überfordernde Aufnahme die Grundlagen der Möglichkeit, Hilfe zu gewähren, nämlich die Aufrechterhaltung von die Menschenrechte absichernden Institutionen, zerstören würde. 26  Es gab jedoch regionale Konkurrenz um günstigen Wohnraum, bei „Tafeln“ für Bedürftige und Mittelzuweisungen karitativer und unternehmerisch organisierter Einrichtungen. 27  Das Bundesverfassungsgericht legitimierte dies bei „staatlichen Ausnahmesituationen“, etwa beim Reichsnotopfergesetz von 1919 zur Finanzierung der Kosten aus dem Versailler Vertrag oder beim Lastenausgleichsgesetz von 1952, vgl. Fisch (Fn. 25), S. 34. 28 Vgl. Oltmer, Jochen, „Zwangswanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg“, Bonn: bpb, 2005; online unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56359/nachdem-2-weltkrieg. 29  Das lässt sich in anderen Erdteilen genauso beobachten, etwa bei den japanischen Binnenflüchtlingen aus Hiroshima und Nagasaki nach den Atombombenabwürfen im August 1945.

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2. Nationalstaaten zur Sicherung einer demokratischrechtsstaatlichen Grundordnung a) Erhalt der demokratisch-rechtsstaatlichen Grundordnung, nicht der Kultur Mitunter wird als Grenze der Aufnahmefähigkeit eine nicht näher definierte „Integrationsfähigkeit“ von kulturell fremden Zuwanderern genannt. Eine solche Herangehensweise teilt Zuwanderer und Geflüchtete nach ihrer „Fremdheit“ oder ihrer „Ähnlichkeit“ zu Menschen im Aufnahmeland ein und wertet den Schutz einer bestimmten „Kultur“ als Grund für die Abweisung von „kulturell unähnlichen“ Zuwanderern. Doch das zugrunde liegende Konzept einer zu schützenden „homogenen Kultur“ ist bereits fragwürdig. Weder ist die Religion noch die Kultur eines Landes noch ein Männer-, Frauen- oder Familienbild in freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaften derart homogen noch ist Kultur in ihren Grundzügen unveränderbar. Zudem ist es nicht vermittelbar, eine bloß behauptete „homogene Kultur“ gegenüber Veränderungen zu immunisieren, weil dies im dynamischen Veränderungsprozess von Kulturen gleichzeitig die legitimen Interessen von einheimischen Minderheiten mit ihren abweichenden Einstellungen und Sichtweisen berührt. Unberücksichtigt sind zudem bezogen auf zuwandernde Personen alle Aspekte einer sich langsam vollziehenden Integration von Menschen, die sich an die Mehrheitsverhältnisse zugleich anpassen als auch diese modifizieren und über beide Wege eine anfangs vorhandene kulturelle Fremdheit relativieren. Und selbst, wenn man diese Einwände allesamt ignoriert, dann führen in den oben angeführten Philosophien die angebrachten Abwägungen der Hilfe in gravierenden Notlagen mit dem Recht auf Assoziationsfreiheit, der Beibehaltung kultureller Eigenheiten usw. ausnahmslos zur höheren Gewichtung von existenzieller Not. Sogar Ansätze Nationaler Selbstbestimmung weisen „kulturbezogene“ oder gar „kulturabsolutistische“ Rechtfertigungen, Hilfe mit dem Verweis auf die Bewahrung einer spezifischen Kultur zu verweigern und Menschen in gravierender Not abzuweisen, entschieden zurück. Ansätze mit Bezügen auf die Kultur überzeugen vor dieser Problemstellung schlussendlich nicht.30 Anders verhält es sich mit dem Erhalt der demokratisch-rechtsstaatlichen Grundordnung. b) Schutz der demokratisch-rechtsstaatlichen Grundordnung eines Gemeinwesens durch Abwehr bestimmter Gruppen? Geht man konsequent vom Schutz von Gemeinwesen aus, dann sind es nicht kulturelle Eigenheiten oder Wertvorstellungen, die eine Gefahr für die wesentlichen Grundlagen einer Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit darstellen, sondern der aktiv kämpfende Widerstand mit gewaltförmigen Mitteln oder eine strategisch 30 Vgl. Fisch, Andreas, „Gesetzestreue – Verfassungspatriotismus – Leitkultur. Wie entwickelt sich Zusammenhalt in einer Einwanderungsgesellschaft?“, in: Fisch et al. (Fn. 5), S. 325 – 356.

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und systematisch organisierte Verbreitung der Gegnerschaft zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Folgt man Böckenförde, dass eine freiheitliche Demokratie die überzeugte Befürwortung dieser Grundlagen nicht selber mit Mitteln staatlichen Zwangs herstellen kann, so bleibt sie auf Gewinnung und Überzeugung aus vielfältigen Quellen angewiesen.31 Selbst eine diese Grundlagen aktiv bekämpfende Gegnerschaft von Gruppen von Einheimischen (etwa einige Angehörige der sog. „Reichsbürger“) und von Zuwanderern (etwa einige Angehörige der Salafisten und Wahhabiten) vermag eine Demokratie auszuhalten, sofern diese nicht zur Mehrheit anwachsen und Grundrechte und Grundgesetz auf gesetzgeberischem Weg abschaffen. Insofern darf ein Nationalstaat, dem an seinem langfristigen Funktionieren gelegen ist, die Anzahl der Personen, die unverbesserlich demokratische und rechtsstaatliche Grundlagen aktiv bekämpfen, zahlenmäßig gering halten.32 Dies lässt sich bei Zuwandernden, die sich noch nicht verwurzelt haben (vgl. Kapitel II.3.), durch Ausweisung und Nicht-Aufnahme oder eben durch Maßnahmen zur Reduktion der Zuwanderung dieser Personengruppen gewährleisten.33 Die Abwehr von militanten Gegnern einer freiheitlichen Demokratie rechtfertigt sich mit dem Schutz der genannten Güter, die nur dann erhalten werden können, wenn die Bevölkerung mehrheitlich Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützt. Da weder eine unfreie Meinung erzwungen werden soll, noch Bürger / innen aufgrund ihrer Präferenzen das Wahlrecht entzogen werden darf, bleibt als einzig verbliebene Stellschraube nur die Abwehr und Ausweisung von militanten Gegnern, die noch über kein Wahlrecht verfügen, um diese Gruppe gering zu halten. Dieses Instrument kann als Element einer wehrhaften Demokratie verstanden werden und zielgerichtete Reduktionsmaßnahmen rechtfertigen. Ähnlich gewichtet werden kann die Abweisung von Terroristen und Gefährdern. Die Abwehr von terroristischen Gefährdern rechtfertigt sich damit, Leben und Lebensweise der einheimischen und zugewanderten Bevölkerung abzusichern. Voraussetzung dafür ist, den Begriff des Gefährders rechtlich sauber anhand von klaren Kriterien zu füllen und in der Anwendung des Rechts diesen Tatbestand anhand eindeutiger Beweise nachzuweisen. In analoger, wenn auch weit weniger gewichtigen Weise dürfte dies plausibel zu machen sein, wenn es sich um Zuwan31  Böckenförde, Ernst-Wolfgang, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ (erweiterte und überarbeitete Fassung von 1967), in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München: Siemens Stiftung, 2006, S. 43 – 72. 32  Böckenförde, Ernst-Wolfgang, „Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert“ (Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen Bd. 86), München: Siemens Stiftung, 2006, S. 11 – 42, hier: 39. 33  Bei Einheimischen wäre als ein – zu Recht! – höchst umstrittener letzter Akt der Notwehr ohne die Option einer Abschiebung in ein aufnehmendes Land der Entzug der Staatsbürgerschaft. Der angemessene Umgang etwa mit sogenannten „Reichsbürger(inne)n“ ist ein noch ungelöstes Problem in dieser Hinsicht, das jedoch erst brisant wird, sollte die Zahl derer, die anti-demokratisch und anti-rechtsstaatlich denken und handeln, so anwachsen, dass sie Mehrheitsverhältnisse verändern.

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derer handelt, die vorrangig mit der Absicht einreisen, Straftaten zu begehen, wie beim Organisierten Verbrechen oder kriminellen Banden zu beobachten ist. Grund ist die starke Beeinträchtigung der Funktionalität des Gemeinwesens. Plausibel machen lässt sich dies, weil gerade Organisierte Kriminalität auf die Unterwanderung von Institutionen des Staates durch Einflussnahme auf Politik, öffentliche Verwaltung, Justiz und Wirtschaft zielt. Im Recht schlägt sich dies in § 129 StGB für die Bildung krimineller Vereinigungen nieder, wenn von diesen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, und in § 129a StGB für die Bildung terroristischer Vereinigungen, die darauf gerichtet sind, Mord, Totschlag, Völkermord oder andere schwere Verbrechen zu begehen. Hier verlagert der Gesetzgeber mit guten Gründen eine vorbereitende Handlung in den Straftatbestand und ermöglicht die Strafverfolgung in einem vorbeugenden zeitlichen Horizont. Aber nur durch klare Definitionen und eine gesetzliche Regelung ist es möglich, eine Willkür- und Verdachtspraxis zu vermeiden und legitime Ausweisungsgründe zu schaffen. Der Schutz des Bestands des Gemeinwesens würde dies in diesen extremen Fällen rechtfertigen. Von solchen schwerwiegenden Beweggründen sind kriminelle Einzeltaten zu unterscheiden, einerseits weil sie weniger schwer wiegen und andererseits weil sie vielfältig von sozialen Umständen, aufenthaltsrechtlichen Arbeitserlaubnissen und -verboten und zahlreichen anderen Umständen abhängen. Alltagskriminalität ist als ein soziales Problem über typische polizeiliche und sozialpolitische Maßnahmen in den Griff zu bekommen, wie es auch deutsche Kriminelle erfordern.34 Entsprechend sind auch in den genannten Paragrafen des Strafgesetzbuchs sich verbarrikadierende Hausbesetzer, bestimmte eine Straftat planende Wirtschaftskriminelle in Unternehmen und andere ausgenommen worden. c) Folgerungen für die Rechtfertigung von Reduktionsmaßnahmen Nach diesen Überlegungen lässt es sich rechtfertigen, Reduktionsmaßnahmen darauf auszurichten, die genannten Gruppen von Personen abzuwehren bzw. abzuschieben. Normativer Knackpunkt bleibt, wenn die Erfüllung der obigen Personenmerkmale zugleich mit der Schutzwürdigkeit oder einem Abschiebeschutz einhergeht. Hier behalten die individuellen Rechte einen systematischen Vorrang, so dass alternative Formen der Abwehr dieser Gefährdung angewandt werden müssen, etwa die Inhaftierung wegen des begründeten Vorwurfs der Bildung einer terroristischen Vereinigung, keine Verleihung von Staatsbürgerrechten trotz dauerhaften Aufenthalts usw.

34 Vgl. Walburg, Christian, „Flucht und Kriminalität – zwischen Ressentiments und realen Problemlagen“, in: Fisch et al. (Fn. 5), S. 269 – 292.

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3. Abwehr derjenigen, die keinen Anspruch auf Schutz haben Angesichts von politischen Maßnahmen zur Fluchtverhinderung und angesichts politisch motivierter juristischer Definitionen, bestimmte Notlagen als nicht schutzwürdig ausweisen, ist die Forderung, Schutzbedürftige tatsächlich zu schützen, keine triviale Aussage mehr und eigens hervorzuheben. a) Differenzierungen nach der Schutzbedürftigkeit Bei folgenden Gruppen ist zu erwägen, welcher Hilfe und welchen Schutzes sie bedürfen. Ausgehend von rechtlichen und ethischen Kriterien lassen sich die folgenden drei Kategorien bilden: –– Nach geltendem Recht soll denjenigen Schutz gewährt werden, die in einem (als fehlerfrei angenommenen) Asylverfahren als berechtigte Asylsuchende anerkannt werden können, solche mit subsidiärem Schutz und solche, die Abschiebehindernissen wie drohender Folter, akuter Krankheit, Schwangerschaft usw. unterliegen, und zwar in Deutschland, bei Fällen anderer Zuständigkeit als Ersteinreiseland in einem anderen Land Europas. –– Ethisch betrachtet lassen sich zusätzlich Flüchtlinge aus extremen wirtschaftlichen Notlagen von Hunger bis zur drohenden Unterversorgung von Kindern und Verwandten als schutzwürdig ausweisen. –– Eine dritte Kategorie bilden diejenigen, die weder nach geltendem Recht noch nach ergänzenden ethischen Reflexionen einen moralischen Anspruch auf Anerkennung ihrer Schutzwürdigkeit in Form der Anerkennung als Flüchtling geltend machen können und nach Abschluss des Asylverfahrens ausreisepflichtig werden, darunter Motive, sich in unterschiedlichen Belangen des Lebens zu verbessern (Verbesserung einer ausreichenden Lebenslage, private Motive, Forschungs- und Berufsinteressen usw.). Die ersten beiden Kategorien haben als nötigende Fluchtgründe (politische Verfolgung und Unterdrückung; gravierende Notlagen, wirtschaftliche Not) gegenüber den freiwilligen Migrationsgründen normativ das größere Gewicht, weil es sich um elementare Menschenrechte handelt, deren Ziel die Sicherung von Leben und körperlicher Unversehrtheit ist, die auch durch Hungersnöte und andere prekäre Lebensumstände beeinträchtigt werden. Währenddessen zielt die freiwillige Migration auf Verbesserung der eigenen Lebensumstände ohne gravierende, menschenrechtlich qualifizierte Not. Die Gründe von Reisenden der dritten Kategorie sind sehr wohl legitim, rufen aber keine Hilfspflichten anderer Staaten auf. Die ersten beiden Kategorien werden derzeit asylpolitisch und asylrechtlich nach der Art der Not unterschieden. Die getroffene Unterscheidung, warum sich jemand in gravierender Not befindet, lässt sich normativ jedoch nicht halten. Die Pflicht zur Hilfeleistung gilt in beiden Fällen, ob jemand nun Not leidet wegen politischer Verfolgung oder wegen einer Hungersnot. Unterschiede gibt es jedoch mögli-

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cherweise in der Form der denkbaren Hilfeleistung, denn während bei politischer Verfolgung nur der Sturz des Regimes oder die Aufnahme verfolgter Personen in ein anderes Land die Not behebt, kann eine temporäre wirtschaftliche Not unter bestimmten Umständen durch humanitäre Hilfe und ins Herkunftsland gelieferte Finanz- oder Nahrungsmittel gelindert werden. Einsichtiger ist es daher, nicht die Art der Schutzbedürftigkeit prinzipiell zu unterscheiden, sondern innerhalb dieser beiden Kategorien nach dem Grad bzw. der Schwere der Not oder der Verfolgung abzustufen.35 Der normative Knackpunkt liegt freilich darin, dass in der ersten Kategorie erst ein individuelles und ordentliches Asylverfahren die Schutzwürdigkeit rechtlich gesichert feststellen kann. b) Empirische Befunde zur Schutzbedürftigkeit während der Flucht Die geminderte Wehrhaftigkeit von Flüchtlingen weckt oft die kriminelle Energie von unbescholtenen Einheimischen und organisierten Banden, die gezielt bedrohen, schikanieren, diskriminieren und die Schutzlosigkeit Geflüchteter wirtschaftlich ausbeuten, also unter tariflichem Lohnniveau entlohnen, Arbeitsrechte, etwa Arbeitsschutzvorschriften, umgehen usw.36 – empirisch reicht dies gegenwärtig von Schutzgelderpressungen sogar in Asylheimen in Deutschland bis zu Entführungen in nordafrikanischen Ländern, bei denen Druck auf Familienangehörige ausgeübt wird, indem per Telefon Angehörige live der Folterung beiwohnen, und zu ausgeübter sexueller Gewalt von Belästigungen bis zur Vergewaltigung.37 Indizien für diese verminderte Wehrhaftigkeit fern des eigenen Heimatlandes sind die vermehrten Kinderehen vor der Flucht, die den Zweck verfolgen, Mädchen auf der 35  Wie verhält sich die Pflicht zur Hilfe, gestuft nach der Schutzwürdigkeit, gegenüber jenen, die es gar nicht nach Europa schaffen? Diejenigen, die Europa erreichen, konnten die finanziellen Mittel für die Flucht aufbringen und von der Konstitution die beschwerliche Reise durchstehen. Dies sind selten die mehrfach Benachteiligten ohne Netzwerke, ohne Kontakte, ohne Geld, gehindert durch Alter, körperliche Behinderungen, eine schwache körperliche Verfassung usw. Letztere schaffen es als Binnenvertriebene oft nur in eine sichere Region im krisengeschüttelten Herkunftsland oder als Flüchtling gerade einmal über die Grenze ins Nachbarland, unerreichbar vom europäischen Asylsystem. Diejenigen fernen, manchmal unerreichbaren Flüchtlinge gehören eher zu den „Ärmsten der Armen“ und ihnen gebührt in einer idealen Theorie (Kapitel II.1.) der prinzipielle normative Vorrang nach der größeren Hilfsbedürftigkeit. Bezieht man jedoch ein, dass das Erreichen des europäischen Kontinents – und auch nur die Nähe hiervon – überhaupt erst Möglichkeiten schafft, diesen Geflüchteten effektiv helfen zu können, bekräftigt dieser Umstand die Hilfsverpflichtung ihnen gegenüber nach der Leitlinie „Sollen setzt Können voraus“. 36 Vgl. Fisch (Fn. 1), S. 36 – 83, zu irregulären Einwanderern. 37 Vgl. Fisch, Andreas, „Flüchtlingsunterkünfte mit höherem Risiko. Interview zum Schulungsmodul ‚Prävention in der Flüchtlingsarbeit‘ des Erzbistums Paderborn angesichts der traumatisierenden Erfahrungen von Flüchtlingen“ (Interview vom 7. März 2016), Paderborn / Dortmund 2016; online: http://www.erzbistum-paderborn.de/38-Nachrichten/19495,Fl% FCchtlingsunterk%FCnfte-mit-h%F6herem-Risiko.html.

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Flucht unter die Obhut eines möglichst erwachsenen Ehemanns zu geben, der quasi vertraglich verpflichtet wird, das minderjährige Mädchen während der Flucht zu schützen. Diese Kinderehen sind zugleich eine Form der Ausnutzung besonderer Verletzlichkeit von Eltern und Mädchen. International anerkannte Feststellungen einer besonderen Verletzlichkeit von Menschen außerhalb ihres Heimatlandes sind die spezifizierenden Menschenrechtskonventionen. Sie betreffen Flüchtlinge (1954, ergänzt 1967) und Wanderarbeitnehmer und ihre Familien (2003) sowie Gruppen innerhalb der Flüchtlingsbewegungen wie Frauen (1981) und Kinder (1990).38 Die Intention dieser Menschenrechtskonventionen deckt sich auch mit den Erfahrungen von Flüchtlingen nicht nur in Transitländern, sondern auch in europäischen Ländern wie Bulgarien (Vergewaltigungen, gewalttätige Angriffe), Griechenland (menschenunwürdige Unterbringung) und Ungarn (willkürliche Internierungen). In den Fällen Griechenlands und Ungarns führten Gerichtsverfahren dazu, dass Deutschland (Bundesverfassungsgericht) bzw. Baden-Württemberg (Verwaltungsgerichtshof) in diese Länder wegen gravierender Asylmängel nicht mehr rückführen.39 c) Konsequenzen für vermeintliche Wirtschaftsflüchtlinge Nun hat beispielsweise der Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph Chris­ tian Hillgruber juristisch zu definieren versucht, dass politische Flüchtlinge außerhalb ihres primären Verfolgungsortes zu freiwillig Weiterreisenden und somit zu Wirtschaftsflüchtlingen mutieren, die lediglich eine Verbesserung ihres Lebensstandards (im Sinne der obigen dritten Kategorie) erreichen wollen, aber keine gravierenden Nöte am eigenen Leib erfahren. Folglich bestünde kein Anspruch auf Aufnahme und Hilfeleistung.40 Dieser Denkrichtung ist teilweise Recht zu geben, sie muss jedoch erheblich differenziert werden, um redlich gegenüber realen Verhältnisse während der Flucht zu bleiben. Einen wahren Kern beinhaltet die Argumentation bei Abstufung der Dringlichkeit der Schutz- und Hilfsbedürftigkeit. Diese lässt sich mit triftigen Gründen nach der Sicherheit der Aufenthaltsorte abstufen. Ist die Bedrohung im Herkunftsland am größten, so ist sie in weiteren Durchreiseländern genauer zu untersuchen (vgl. das vorangegangene Kapitel III.3.b)). 38  Minderjährige Flüchtlinge machten 2016 und die Jahre davor über 50 % der Geflüchteten aus, vgl. UNHCR, „Global Trends. Forced Displacement in 2016“, Genf 2017, S. 3; online unter: http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/5943e8a34/global-trends-forced-displacement2016.html. 39  Das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht 2011 wurde eingestellt, weil das Innenministerium präventiv die Rückführungen nach Griechenland aussetzte und damit ein Urteil verhindert hat; zur Rückführung nach Ungarn siehe Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 05. 07. 2016 - A 11 S 974/16. 40 Vgl. Hillgruber, Christian, „Flüchtlingsschutz oder Arbeitsmigration. Über die Notwendigkeit und die Konsequenzen einer Unterscheidung“, in: Depenheuer, Otto / Grabenwarter, Christoph (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, Paderborn: Schöningh, 2016, S. 185 – 196.

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Insofern ist oberflächlichen und pauschalen Klassifizierungen entschieden zu widersprechen, weil sie offensichtlich rein theoretisch konstruiert jenseits faktischer Lebenswirklichkeiten liegen, die wegen der verletzten Menschenrechte normative Relevanz besitzen. Ein differenzierter und der Lebenslagen kundiger Ansatz eröffnet Möglichkeiten, abgestuft über unterschiedliche Grade von Schutzwürdigkeit nachzudenken. Er differenziert bei der Wahrung der Schutzrechte je nach positiver und angemessener Aufnahme oder diskriminierender und menschenunwürdiger Ablehnung trotz offizieller Aufnahme in bestimmten Ländern. Darin liegt ein zutreffender Kern des Konzepts der „Sicheren Drittstaaten“, sofern die politischen Festlegungen redlich gegenüber den vorfindlichen Verhältnissen und Bedrohungslagen bleiben. In der Regel handelt es sich um Notlagen, die sich auch bei der Weiterreise zumindest indirekt als Folge der ursprünglichen Verfolgung ergeben. Von den eingangs aufgeführten zwei Kategorien schutzwürdiger Personen vermengen sich politische Verfolgung und wirtschaftliche Not in der Praxis oft untrennbar miteinander: Unterdrückungsmechanismen unterbinden wirtschaftlichen Erfolg als Schikane oder wirtschaftliche Not stellt sich erst während der Flucht vor politischer Verfolgung ein.41 d) Folgerungen für die Rechtfertigung von Reduktionsmaßnahmen Über die aus den Schutzansprüchen eines Gemeinwesens entwickelten Kriterien hinaus, kann es – zunächst freilich theoretisch – ethisch gerechtfertigt werden, Zuwandernde an der Einreise zu hindern, die ohnehin kein Anrecht auf den dort angebotenen Schutz würden geltend machen können und nach Abschluss eines Verfahrens ausreisepflichtig werden würden und gegebenenfalls sogar abgeschoben werden müssten. Ethisch gerechtfertigt wäre jedoch, Menschen in Not, die im jetzigen Asylsystem keine Aufnahme fänden, sich aber gleichwohl in gravierender Not befinden, Aufnahme zu gewähren und nicht abzuwehren. Dagegen dürften Menschen unterwegs abgewehrt werden, deren legitime Gründe für den Aufbruch normativ nicht gleichwertig mit der Schutzbedürftigkeit anderer sind und somit einen Anspruch auf Aufnahme weder juristisch noch ethisch gelten machen können. Für Reduktionsmaßnahmen markiert dies eine relevante Differenz.42 41 Vgl. Kopp, Judith, „Flucht(ursachen)bekämpfung im Kontext der Krise des europäischen Grenzregimes 2015 – Anmerkungen zu einem die Ursachen verschleiernden Diskurs“, in: Fisch et al. (Fn. 5), S. 121 – 146. 42 Die Verhinderung der Zuwanderung dieser begrenzten Gruppe, so sie sich praktisch durchführen lässt, bestärkt sich durch einige zusätzliche, im Interesse der Gesellschaft und der betroffenen Personen liegenden Argumente, die hier nur ergänzend skizziert werden: – die mitunter langwierige Situation der Ausreisepflichtigkeit, gar Haft im Abschiebegefängnis ist nicht wünschenswert für die betroffenen Personen, für den Staat ist die Unterhaltung eines Abschiebegefängnisses mit Menschen, denen außer ihrer Ausreisepflicht keine Straftaten zur Last gelegt werden, ethisch in der Angemessenheit der Mittel umstritten, – die Schwierigkeiten, anstehende Abschiebungen zu vollziehen, bestärken darin, diese Gruppe präventiv zu verhindern,

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4. Beachtung der Aus- und Nebenwirkungen von Maßnahmen zur Reduktion der Flüchtlingszahlen Zu notwendigen Abwägungen bei der Bewertung von Reduktionsmaßnahmen zählt die Verantwortung für die Folgen einer Handlung. Dabei sind wenigstens folgende Aspekte zu überprüfen: Wird das selbst gesetzte Ziel erreicht oder handelt es sich um Symbolpolitik? Ein wesentliches Kriterium zur Bewertung von Maßnahmen zur Reduktion von Flüchtlingen ist, ob die öffentlich verkündeten Erfolge bei der Zielerreichung tatsächlich eintreffen oder ob sich die Maßnahmen selbst als Symbolpolitik43 entlarven. Welche Auswirkungen auf Schutz und Lebensbedingungen der Flüchtlinge haben die Maßnahmen? Manche Zwangsmaßnahmen wirken als Reduktion von Flüchtlingsbewegungen letztlich als aktive Fluchtverhinderung aus primär gefährdenden Ländern (dem Ursprungsort der Verfolgung) oder sekundären Gefahrenquellen (wie unsichere Transitländer während der Flucht). Sie führen dazu, dass Menschen sich nicht mehr in Sicherheit bringen können und bringen Flüchtlinge in menschenrechtlich problematische Lebenslagen im Herkunftsland oder auf der Fluchtroute oder belassen sie dort. Bei den Auswirkungen ist zu fragen, ob anderswo ausreichender Schutz erreichbar bleibt, selbst wenn Geflüchtete zusätzlichen Aufwand und Beschwernis auf sich nehmen müssen, um dorthin zu gelangen. Eine aktive Fluchtverhinderung ist ethisch hochproblematisch, weil sie Menschen in Not in ihrer Initiative, sich aus dieser Not zu befreien, aktiv behindert und je nach Ausgestaltung der Maßnahme sogar mitverantwortlich für entstehende oder bleibende Notlagen bis hin zum vermehrten Tod von Flüchtenden wird. Dann gibt es Umleitungen in andere Zielländer, um bewusst und mit wirksamen Maßnahmen die Flucht in ein bestimmtes Zielland bzw. eine Zielregion zu verhindern, aber die Schutzsuche nicht verhindert, sondern in andere, sichere Länder umlenkt. Umleitungen lassen sich rechtfertigen, besonders wenn die entlasteten Aufnahmeländer bereits einen verhältnismäßig hohen Anteil an Geflüchteten aufnehmen; die Umleitungen dürfen jedoch auch in anderen Ländern nicht zu einer Überforderung führen. Welche Wirkung wird auf das Schlepper- und Schleuserwesen erzielt? Auch diese Auswirkungen einer Umleitung auf gefährlichere Routen sind zu beachten: – die fehlende Perspektive beim Aufenthalt als Station „zwischen zwei Welten“ bewegt nach kriminologischen Untersuchungen einige dieser Personen dazu, Straftaten zu begehen, vgl. Walburg (Fn. 34). –  es finden sich unter diesen Personenkreisen neben vielen anderen auch Einzel-, oft sogar Intensivtäter und organisierte Banden bis hin zur organisierten Kriminalität, die die Zeit des Asylverfahrens gezielt anstreben oder nutzen, um einträgliche Verbrechen wie Taschen- und Kfz-Diebstahl und Hauseinbrüche zu begehen. An der Vermeidung solcher Zustände hat eine Gesellschaft ein legitimes Interesse. 43  Symbolpolitik sei hier verstanden als aufwändige, oft teure Maßnahme ohne tatsächliche Wirkung in der Sache, also ohne ihr Ziel zu erreichen, oder als Form hochtrabender Ankündigungen, um Wählerstimmen zu erhalten, ohne zu planen, diese unrealistische Politik umzusetzen. 

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Gefährlichere Ausweichrouten schaffen häufig Monopole für schwerkriminelle Schleuser, die zudem höhere Preise verlangen können, weil diese Passagen nur mit ihrer Hilfe passiert werden können. Nebenwirkungen dieser erzwungenen Kooperation sind Abhängigkeiten und Ausbeutung der Flüchtlinge sowie Gefahren für Leib und Leben.44 Welche weiteren beabsichtigten und unbeabsichtigten Nebenwirkungen der Reduktionsmaßnahme treten absehbar ein? (Un)beabsichtigte Nebenwirkungen sind wiederum schwierig abzuschätzen, wenn sich die Folgen in anderen Ländern einstellen und wiederum von deren (sich wandelnder) Politik abhängen, etwa ob diese Länder menschenunwürdige Aufenthaltsbedingungen bieten, dies nicht eindeutig absehbar ist oder Folgen kausal nicht eindeutig zuzuordnen sind. Hierzu zählen politische Auswirkungen auf das Selbstverständnis einer Nation oder auf Europa, geschaffene oder verstärkte politische Abhängigkeiten, die Unterstützung und Absicherung von Diktaturen und Regimen, aber auch Rückwirkungen auf die Herkunftsländer durch den Wegzug einer demokratisch denkenden und gut ausgebildeten Bevölkerungsschicht, genauso wie die Auswirkungen auf fragile, sich demokratisch öffnende Staaten, wenn Terroristen und Gefährder in erheblicher Zahl dorthin zurückgewiesen werden. Werden Ressourcen effizient und sinnvoll eingesetzt? Es liegt der Verdacht nahe, dass viel Geld und politische Energie in Reduktionsmaßnahmen fließen, die sich in der Breite als ethisch fragwürdig, zumindest minderwertig klassifizieren lassen. Ein verantwortungsvoller Einsatz der vorhandenen Mittel, von der Finanzierung von Maßnahmen bis zum Aufwand für politische Abstimmungen, zwingt dazu, die Aufwendungen und Kosten von Reduktionsmaßnahmen ins Verhältnis zu ihrer alternativen Verwendung für Aufwendungen und Kosten von (manchmal) ethisch vorzugswürdigen Maßnahmen zu setzen und gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären. IV. Ausblick: weder rigide Abschottung noch offene Grenzen Flüchtlinge sind eine weltweite Realität, die die Industrieländer jedoch nur dann direkt betrifft, wenn Geflüchtete es bis an ihre Grenzen schaffen. Mit den vorgestellten Kriterien wurde ein Vorschlag entwickelt, wie sich eine verantwortungsvolle Rechtfertigung für Reduktionsmaßnahmen gegenüber Flüchtlingen auszeichnen müsste. Es bedarf einer Reflexion darüber, was ethisch geboten ist, jedoch auch eines Bezugs zur politischen Realität – und dies gerade dann, wenn der Idealanspruch ethischer Forderungen derzeit politisch unmöglich umzusetzen und 44  Vgl. zu dieser Thematik zum Beispiel die Forschungsergebnisse von Alt, Jörg, „Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex „illegale“ Migration. Neue Erkenntnisse zur Lebenssituation ‚illegaler‘ Migranten aus München und anderen Orten Deutschlands“, Karlsruhe: von Loeper, S.  283 – 315.

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durchzusetzen erscheint, weil die Kooperationsbereitschaft zuständiger Akteure oder der wahlberechtigten Bevölkerung nicht gewonnen werden kann. Manche ethisch minderwertigere Reduktionsmaßnahmen erlangen darüber eine gewisse Rechtfertigung, weil die jeweils ethisch vorzugswürdigeren Maßnahmen eine noch größere Kooperationsbereitschaft erfordern, die derzeit für weniger anspruchsvolle Lösungen schon nicht realisierbar ist. Hier kann eine Grenze des Könnens erreicht sein, die zugleich eine Grenze des Sollens markieren kann. Die schlichte Rechtfertigung sämtlicher Reduktionsmaßnahmen mittels einer behaupteten Überforderung aufnehmender Länder ist nach eingehender Untersuchung anspruchsvoller als der Verweis auf vordergründige Symptome und bedarf einer gründlicheren Analyse, auch weil auf der anderen Waagschale gravierende, menschenrechtliche Nöte von Mitmenschen liegen. Die Kriterien geben jedoch auch zu bedenken, dass normativ eine hohe Hürde der Rechtfertigung zu überwinden ist, wenn Regierungen Zeit, Energie und Geld in Reduktionsmaßnahmen investieren, die weltweit nur eine Verschiebung der Schutzbedürftigen zur Folge haben, obwohl als möglicherweise bessere Alternative die Verwendung der Mittel für Maßnahmen zur Verringerung der Schutzbedürftigkeit durch Beseitigung der Flucht- und Weiterfluchtgründe im Raum steht. Dabei werden auch global prioritär umzusetzende Maßnahmen identifiziert. Gleichwohl bleibt es geboten, manche ethische Orientierungen noch in praktikable Handlungsansätze zu übersetzen. Dies gelingt leichter, wenn Zielvorgaben ihre Legitimität aus ethischen und pragmatischen Erwägungen ziehen und nicht nur kurzfristigen Interessen folgen. In weiteren Veröffentlichungen bewerte ich die in Kapitel I aufgeführten Reduktionsmaßnahmen und ihre ethisch vermeintlich vorzugswürdigeren Alternativen. Die entwickelten Kriterien helfen dabei als Analyselotsen, sich einer redlichen Bewertung von komplexen Sachverhalten anzunähern und dabei die Interessen von Aufnahme-, Transit- und Herkunftsländern sowie die individuellen Rechte der betroffenen flüchtenden und aufnehmenden Menschen in einem größeren Zusammenhang von legitimen Ansprüchen zu gewichten. Ethische Reflexion kann dabei helfen, die einzelnen Elemente von politischen Maßnahmen zu durchleuchten. Gegen grobe Missachtungen ethischer Ansprüche einer zu kurz denkenden Politik offenbart sie innerhalb einzelner Reduktionsmaßnahmen deren Verbesserungspotenziale, um gute und tragfähige Lösungen zu entwickeln, die dem Schutz der Menschenwürde und schützenswerter Güter besser gerecht werden. Summary 2016 is the year of closing borders as far as the European Union is concerned. This article discusses which criteria could be established to evaluate a variety of measures to reduce the number of refugees from an ethical point of view. „Reducing the number of refugees“ can include measures to prevent refugees from reaching Germany / the European Union as well as measures intended to address

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the initial reasons leading to flight worldwide. An overview of specific political measures proposed to reduce the number of refugees is provided, including increased deportations, the refugee arrangement with Turkey, the establishment of international detention centers and a number of other proposals. These are complemented by potentially ethically preferable alternatives. Initially, the author presents the main philosophical approaches arguing in favor of the ethical duty to aid and protect others or to be more committed to the national common good. Subsequently, the author examines four reasons commonly provided as justification for reduction measures: a) overburdening existing social security systems, b) the protection of democracy and the rule of law and c) the legitimacy of deterring people on the move based on differing degrees of protection needed. In the end, d) a list of possible repercussions is proposed which have to be considered when evaluating measures to reduce the number of refugees.

In welchem Sinn kann es ein Recht auf offene Grenzen geben? Matthias Hoesch Die in den letzten zehn Jahren stark angewachsene Debatte zur Migrationsethik kreist nach wie vor um die Frage, die in den 1980er Jahren den Anstoß zu einer philosophischen Beschäftigung mit dem Thema Migration gegeben hat: Sollten Grenzen offen sein, oder haben Staaten das Recht, Einreise und Einwanderung nach ihren jeweiligen Vorlieben zu regeln? Die Debatte hat eine Reihe von Argumentationsstrategien hervorgebracht, die „closed borders“ rechtfertigen oder die Forderung nach „open borders“ stützen sollen.1 Die damit verbundene ‚Lagerbildung‘ zwischen Befürwortern und Kritikern von offenen Grenzen hat zwar nicht grundsätzlich dazu geführt, dass plausible Mittelpositionen übersehen werden. Im Gegenteil gab es in den letzten Jahren durchaus gewisse Annäherungen, die Raum für konkretere Fragen der politischen Ethik eröffnen würden.2 Aber die Lagerbildung führt doch dazu, dass sich eine Gruppe von Autoren zu einem Label bekennt, das in verschiedener Hinsicht missverständlich sein kann, nämlich zu der These, dass es eine Art Menschenrecht auf offene Grenzen gibt. Mögliche Missverständnisse dieser These betreffen zum einen das Verhältnis der philosophischen Theoriebildung zu Forderungen, die in der politischen Debatte vorgebracht werden. Verschiedene politische Akteure berufen sich auf philosophische Theorien, um für eine offenere Grenzpolitik in der Gegenwart zu werben,3 aber es ist sehr fraglich, ob die Theorien solche Schlussfolgerungen tatsächlich zulassen. Zum anderen ist auch innerhalb der philosophischen Debatte unklar, was genau mit dem Menschenrecht auf offene Grenzen gemeint ist. Zwar sind viele Autoren darum bemüht, anzugeben, was dieses Recht umfasst und wie es zu verstehen ist. Aber in der Debatte bleibt in mancher Hinsicht nach wie vor unklar, 1  Ich gehe auf die vielen damit verbundenen Positionen und Fragen nicht weiter ein. Einen Überblick gibt Christopher Wellman, „Immigration“, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Aktualisierung Sommer 2015), https://plato.stanford.edu/ archives/sum2015/entries/immigration/; vgl. auch Frank Dietrich (Hrsg.), Ethik der Migration, Berlin: Suhrkamp, 2017. 2  Ein Beispiel dafür ist etwa Oliviero Angeli, „Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss“, in: Zeitschrift für Politische Theorie 2, 2011, 171 – 184; aber auch David Miller, Strangers in Our Midst, Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 2016. 3 Vgl. Christof Roos / Lena Laube: „Liberal Cosmopolitan Norms and the Border: Local Actors’ Critique on the Governance of Global Processes“, in: Ethnicities 15 (3), 2014, 341 – 361.

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an welchen Stellen unterschiedliche Autoren nur abweichende Begriffsdefinitionen verwenden und an welchen Stellen es inhaltliche Differenzen gibt. Zuweilen scheint selbst innerhalb der Texte eines Autors nicht ganz klar zu sein, in welchem Sinn die These offener Grenzen gemeint ist. Der folgende Beitrag verfolgt ein doppeltes Ziel: Er soll einerseits einen groben konzeptuellen Rahmen vorschlagen, der verschiedene Verständnisse eines Rechts auf globale Bewegungsfreiheit auseinanderzuhalten erlaubt, und dabei zeigen, welche dieser Lesarten tatsächlich vertreten werden. Andererseits möchte ich in dem Beitrag eine der möglichen Lesarten zurückweisen, indem ich zeige, dass nur strittige Zusatzannahmen diese Lesart rechtfertigen können. Mein Interesse gilt dabei innerhalb der Gruppe der Vertreter von offenen Grenzen lediglich denjenigen Theoretikern, die offene Grenzen an der Idee individueller Autonomie festmachen wollen. Zu diesen zählen Joseph Carens, Kieran Oberman, Jan Brezger und Andreas Cassee. Migrationsbeschränkungen der Gegenwart erleben wir insbesondere vor dem Hintergrund globaler Ungleichheiten im Hinblick auf ökonomische Chancen und politische Freiheiten. Diese Situation prägt unsere normativen Intuitionen in massiver Weise, wenn auch sehr unterschiedlich: Während viele von uns einerseits ihren Lebensstandard nicht aufgeben wollen und sich auf die Legitimität des erwirtschafteten kollektiven Vermögens berufen, erleben wir zugleich viele potentielle Einwanderer als in unfairer Weise benachteiligte Personen. Viele Vertreter von offenen Grenzen versuchen, solche Ungleichheiten in ihre Argumentationen miteinzubeziehen. Wer sich dagegen für individuelle Autonomie als Basis für offene Grenzen ausspricht, kann die mit der Ungleichheit verbundenen, zweifellos ethisch äußerst dringlichen Fragestellungen beiseite stellen. Denn die hier zur Debatte stehende These ist, dass es ungeachtet von wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten ein moralisches Recht gibt, sich auf der Erdoberfläche frei zu bewegen, seinen Wohnort (und damit langfristig seine Staatsbürgerschaft) frei zu wählen und vorübergehende Aufenthalte in allen Staaten ohne Angabe von besonderen Gründen antreten zu können. Meine Argumentation folgt vier Schritten, je zwei klärenden und zwei argumentierenden: Zunächst unterscheide ich drei verschiedene Lesarten, was es bedeuten könnte, ein Recht auf offene Grenzen zu haben. Darauf führe ich im Hinblick auf die Anwendung dieser Lesarten die Unterscheidung von idealer und nicht-idealer Theorie ein, die von manchen Vertretern offener Grenzen verwendet wird, und ziehe daraus erste Schlussfolgerungen für meine Fragestellung. Drittens diskutiere ich ein von allen genannten Autoren vertretenes Argument für die These, dass das Recht auf globale Bewegungsfreiheit als Menschenrecht angesehen werden sollte, nämlich der Schluss von innerstaatlicher Bewegungsfreiheit auf globale Bewegungsfreiheit. Viertens gehe ich kurz auf eine Argumentation ein, die globale Bewegungsfreiheit anhand der Autonomiekonzeption von Joseph Raz begründen möchte. Dabei möchte ich jeweils zeigen, dass die vorgebrachten Argumente das Recht auf globale Bewegungsfreiheit nur in der schwächsten der drei Lesarten begründen können.

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I. Das Recht auf Bewegungsfreiheit und die Abwägung zwischen Rechten und anderen normativen Gründen Das Recht auf globale Bewegungsfreiheit wird in der Debatte durchgängig als moralisches Recht aufgefasst. Es steht also nicht die Behauptung im Raum, dass das geltende Recht globale Bewegungsfreiheit impliziert, sondern die These, dass es einen moralischen Grund gibt, das positive Recht unter bestimmten Umständen in Richtung offener Grenzen zu verändern. Das Recht auf globale Bewegungsfreiheit, wie es von seinen Vertretern verstanden wird, impliziert nicht, dass die Staaten die Hoheit über die Grenzpolitik vollständig abgeben müssen.4 Ich gehe hier nicht auf die Frage ein, ob das moralische Recht auf Bewegungsfreiheit einen hinreichenden Grund liefert, gegen das geltende Recht zu verstoßen oder Verstöße gegen das geltende Recht zu unterstützen.5 Das Recht auf Bewegungsfreiheit, wie es hier zur Debatte steht, stellt ein moralisches Recht dar, das Menschen offenkundig nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft oder aufgrund besonderer Fähigkeiten besitzen, sondern allein aufgrund der Tatsache, dass sie Menschen sind. Moralische Rechte dieser Art können als Menschenrechte in einem weiten Sinn bezeichnet werden.6 Diese Bezeichnung lädt allerdings zu Missverständnissen ein. Denn für gewöhnlich werden Menschenrechte mit weit mehr Merkmalen verbunden als diesem ­einen, dass sie Menschen allein aufgrund des Menschseins zukommen.7 Ich kann im Folgenden nicht alle der denkbaren Menschenrechtsbegriffe erläutern, die sich durch Kombinationen der in der Debatte diskutierten Merkmale ergeben würden. Stattdessen möchte ich lediglich drei Stufen unterscheiden, die sich auf die Frage beziehen, wie Menschenrechte gegen andere normative Gründe abzuwägen sind.   Dies wird immer wieder missverstanden, zuletzt von Miller (Fn.  2), 38 – 56.   Hierzu gibt es mittlerweile eine eigene Debatte; vgl. Joseph Carens, The Ethics of Immigration, Oxford / New York: Oxford University Press, 2013, 295 f.; Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin: Suhrkamp, 2016, 281; sowie die dort angegebenen Literaturhinweise. 6  Carens, Oberman und Brezger sprechen ausdrücklich von Menschenrechten. Cassee vermeidet die Rede von Menschenrechten und spricht stattdessen von fundamentalen Rechten. Er ist der Sache nach aber darauf festgelegt, Bewegungsfreiheit in einem bestimmten Sinn als Menschenrecht anzuerkennen. 7  Zum Begriff der Menschenrechte vgl. insbesondere James Nickel, „Human Rights“, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Aktualisierung Früh­ ling 2017), https://plato.stanford.edu/archives/spr2017/entries/rights-human/; Georg Lohmann, „‚Nicht zu viel – nicht zu wenig!‘ Begründungsaufgaben im Rahmen der internationalen Menschenrechtskonzeption“, in: Margit Wasmaier-Sailer / Matthias Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, 181– 205; und Matthias Hoesch / Margit Wasmaier-Sailer, „Die Begründung der Menschenrechte: eine Skizze der gegenwärtigen Debatte“, in: Wasmaier-Sailer / Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, 1– 26. 4 5

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Als absolute Rechte bezeichnet man Rechte, die durch keine anderen normativen Erwägungen aufgewogen werden können. Es kann hier offen bleiben, ob es jenseits von begrifflichen Spielereien – vorstellbar wäre etwa das Recht, nach zumutbarer Abwägung aller Tatsachen angemessen behandelt zu werden – gehaltvolle Rechte dieser Art geben kann. Der Schutz der Menschenwürde ist von der deutschen Rechtsprechung allerdings tatsächlich in diesem Sinn interpretiert worden.8 In der Regel9 geht man aber davon aus, dass die meisten Menschenrechte keine absoluten Rechte sind, auch wenn in der Alltagssprache zuweilen in dieser Bedeutung auf Menschenrechte Bezug genommen wird. Nach einem zweiten Verständnis bilden Menschenrechte eine Klasse von Rechten, die nur durch andere Rechte dieser Klasse aufgewogen werden können oder denen jedenfalls in allgemeinerer Weise eine hohe Priorität gegenüber allen anderen normativen Erwägungen zukommt. Die Binnendifferenzierung ist in meinem Kontext nicht entscheidend. Ob Menschenrechte also nur von anderen Menschenrechten überwogen werden können oder auch von Gründen, die selbst nicht aus dem Menschenrechtsgedanken folgen, wenn sie nur gewichtig genug sind, muss hier nicht eigens unterschieden werden. Im Folgenden gehe ich davon aus, dass nach dem zweiten Verständnis auch etwa ökonomische Vorteile für eine Volkswirtschaft Menschenrechte überwiegen können (jedenfalls sofern daraus keine Würdeverletzung resultiert), aber es müssten schon extrem große Vorteile sein. Wie Griffin prägnant formuliert, sollten Menschenrechte „resistant to trade-offs, but not too resistant“10 sein. Aus dem ersten und dem zweiten Verständnis lässt sich eine wichtige Funktion ableiten, die Menschenrechte typischerweise in Rechtssystemen und in normativen Diskursen übernehmen: Sie setzen Demokratien gewisse Grenzen, innerhalb derer Mehrheitsentscheidungen zulässig sind. In der philosophischen Debatte ist kontrovers diskutiert worden, ob diese Grenzen gewissermaßen von außen an Demokratien herangetragen werden – wie Naturrechtsdiskurse zuweilen unterstellen – oder ob sie sich aus der Logik der demokratischen Entscheidung selbst ergeben. Auch diese Differenz ist hier nicht entscheidend. Über die verschiedenen Rekonstruktionen hinweg ist diese Funktion von Menschenrechten jedenfalls anerkannt. Ein drittes, sehr weitgefasstes Verständnis fasst Menschenrechte einfach in allgemeiner Weise als moralische Rechte auf, die allen Menschen nur aufgrund ihres Menschseins zukommen. Menschenrechte gelten nach diesem Verständnis kategorisch im Sinne von „ohne Zusatzbedingungen“ (man muss also nicht Mitglied einer Gemeinschaft sein oder bestimmte Fähigkeiten aufweisen, um Träger von Menschenrechten zu sein), sie haben aber keine prinzipielle Priorität vor anderen 8 Vgl. Thomas Gutmann, „Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff“, in: Angewandte Philosophie 1, 2014, 49 – 74. 9  So explizit – um prominente Beispiele zu nennen – James Griffin, On Human Rights, Oxford / New York: Oxford University Press, 2008; und Nickel (Fn. 7). 10  Griffin (Fn. 9), 37.

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Erwägungen. Jeder Eingriff in den Schutzbereich solcher Rechte ist allerdings rechtfertigungsbedürftig. Die Kriterien, nach denen eine solche Rechtfertigung zulässig ist, können sehr weit gefasst werden. Alle denkbaren Gründe, die etwa die Kriterien der Allgemeinheit und Reziprozität erfüllen, können zur Rechtfertigung vorgebracht werden, und es ist eine Frage der Urteilskraft, welche Rechte im Einzelfall hinreichend stark sind, um welche anderen Gründe auszustechen. Weil die Abwägung in der Regel strittig sein wird, ist es nach dem Standardverständnis der Demokratie legitim, im Anschluss an eine angemessene inhaltliche Debatte einfach dem Mehrheitsprinzip zu folgen. Dieses dritte Verständnis wird durch den Terminus ‚Menschenrecht‘ zwar begrifflich nahegelegt, denn der Terminus umfasst keine weiteren Spezifizierungen als eben das Menschsein. Er entspricht aber nicht dem gewöhnlichen Sprachgebrauch: Wenn wir Menschenrechtsverletzungen anprangern, spielen wir sehr oft darauf an, dass Menschenrechte Vorrang vor anderen politischen Zielen haben sollten. Ein weites Verständnis von Rechten, wie es hier zur Debatte steht, kennen wir eher aus dem Grundrechtsschutz vieler Verfassungen. In der deutschen Rechtsprechung etwa wird ein weiter Schutzbereich der Grundrechte, in den per Gesetz eingegriffen werden darf, von dem engen Kernbereich der Grundrechte unterschieden, in den nur unter besonders krassen Bedingungen eingegriffen werden darf. Für die Migrationsethik ist eine entscheidende Frage, in welche dieser drei Rubriken das Recht auf globale Bewegungsfreiheit eingeordnet werden sollte. An dieser Frage hängt u. a., in welcher Form wir demokratische Entscheidungen zugunsten von Einwanderungsbeschränkungen kritisieren können; ob wir das Völkerrecht in Richtung eines verbrieften Rechts auf globale Bewegungsfreiheit weiterentwickeln sollten; und welche Argumente für eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit zulässig sein könnten. Kann das Recht auf globale Bewegungsfreiheit sinnvollerweise als ein absolutes Recht aufgefasst werden? Niemand in der Debatte vertritt diese Auffassung11, und sie wäre auch extrem unplausibel, weil sie anderen schützenswerten Gütern, die mit der Bewegungsfreiheit in Konflikt geraten könnten, gar keinen Platz mehr lassen würde. Ich lasse diese Position daher im Folgenden beiseite. Blickt man in die Texte der genannten Verfechter offener Grenzen, so scheinen einige Thesen, die dort formuliert werden, das dritte Verständnis nahezulegen. So ist das zentrale Anliegen von Cassee und von Carens die Zurückweisung der Über11  Explizit zurückgewiesen wird diese Auffassung von Jan Brezger, „Zur Verteidigung des Menschenrechts auf internationale Bewegungsfreiheit. Eine Antwort auf Michael Blake“, in: Zeitschrift für Menschenrechte 8 (2), 2014, 30 (Anm.); Cassee (Fn. 5), 214; Carens (Fn. 5), 255 und Kieran Oberman, „Immigration as a Human Right“, in: Fine / Ypi (Hrsg.), Migration in Political Theory. The Ethics of Movement and Membership, New York: Oxford, 2016, 33 (zuvor in einer ausführlicheren Version online erschienen als Oberman, Immigration as a Human Right, Just World Institute Working Paper, 2013; da in der Literatur oft auf das Working Paper verwiesen wird, wird im Folgenden jeweils zusätzlich die Seitenzahl aus dem Working Paper angegeben).

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zeugung, Staaten seien moralisch befugt, willkürlich festzulegen, wer einreisen darf und wer nicht. Diese Überzeugung präge das derzeitige Völkerrecht und sie gehöre für viele Menschen zu tief verwurzelten Grundannahmen über politische Ethik. Carens definiert die „conventional view“ der Migrationsethik daher wie folgt: „each state is morally entitled to exercise considerable discretionary control over the admission of immigrants“.12 Genau diese Position soll die These der offenen Grenzen in Frage stellen. Cassee möchte in ähnlicher Weise weg von „einem Paradigma, das Einwanderungsbegehren wie Heiratsanträge behandelt“13 oder Einwanderer als „Bittsteller“14 betrachtet. Bewegungsfreiheit dürfe „nicht beliebig eingeschränkt werden“15. Wenn man ein solches Recht der willkürlichen Verfügung über Einwanderungen bestreiten möchte, reicht es aus, das dritte Verständnis zu vertreten. Gezeigt werden muss allerdings zusätzlich, dass es keine dem Recht auf globale Bewegungsfreiheit entgegenstehenden Überlegungen gibt, die für eine solche willkürliche Verfügungsgewalt sprechen würden. Denn das dritte Verständnis würde offenlassen, dass solche entgegenstehenden Überlegungen den Ausschlag geben. Alle Vertreter offener Grenzen erheben den Anspruch, für diese Zusatzbedingung argumentieren zu können. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass die These offener Grenzen bei den von mir in den Blick genommenen Autoren auf mehr abzielt, nämlich auf das zweite Verständnis, dem zufolge nur besonders gewichtige Erwägungen eine Einschränkung der globalen Bewegungsfreiheit erlauben. Oberman geht ausdrücklich auf den Menschenrechtsbegriff in diesem Sinn ein und formuliert etwa: „Restrictions might be justified in extreme circumstances“16; und Oberman zieht daraus die Schlussfolgerung, dass praktische Gründe wie etwa innerstaatliche Gerechtigkeit nicht einmal möglicherweise das Recht auf Bewegungsfreiheit überwiegen können.17 Für Brezger steht fest, dass ein Menschenrecht auf globale Bewegungsfreiheit die Freiheit des Gastlandes, Hilfspflichten gegenüber Fremden zu übernehmen, klarerweise übertrumpfen würde.18 Auch Carens bezieht sich auf den   Carens (Fn. 5), 10 (meine Hervorhebung).   Cassee (Fn. 5), 279. 14  Ebd., 220. 15  Ebd., 233. 16  Oberman (Fn. 11), 33 bzw. Working Paper, 2. An anderer Stelle heißt es, Einschränkungen globaler Bewegungsfreiheit müssten den gleichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen, wie wir sie von anderen anerkannten Menschenrechten wie etwa dem Recht auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit kennen; vgl. ebd., 46 bzw. Working Paper, 25. Allerdings scheint Oberman die globale Bewegungsfreiheit nicht so zu verstehen, dass sie einen Grund böte, ein Grundrecht von Verfassungsrang zu etablieren, das den demokratischen Entscheidungsspielraum rechtlich limitiert, wie das normalerweise bei Menschenrechten der Fall ist; vgl. ebd., 33 f. bzw. Working Paper, 3. 17  Ebd., 47 f. bzw. Working Paper, 27. 18  Brezger (Fn. 11), 43 f. 12 13

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Grundsatz, dass menschenrechtliche Ansprüche nicht von Ansprüchen aus Nahbeziehungen aufgewogen werden dürfen, um Argumente gegen offene Grenzen zurückzuweisen.19 Bei Cassee heißt es, es müssten „starke Gründe“20 gegen das Recht auf Bewegungsfreiheit sprechen, um es einschränken zu dürfen; es müsse „eine reale Gefahr für klar benennbare andere Ansprüche“21 bestehen. Insbesondere ist für Cassee, wie aus einer Fußnote indirekt zu erschließen ist, globale Bewegungsfreiheit als moralische Schranke für Demokratien zu sehen, und zwar auch für eine perfekte globale Demokratie: Selbst wenn sich die Menschheit in einem fairen Verfahren darauf einigen würde, das Recht auf Bewegungsfreiheit über die unbedingt nötigen Formen hinaus einzuschränken, dann wären diese Einschränkungen aus moralischer Sicht nicht legitim.22 Die genannten Autoren nennen allerdings unterschiedlich anspruchsvolle Beispiele für zulässige Einwanderungsbeschränkungen. Der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung würde Beschränkungen klarerweise rechtfertigen.23 Für manche Autoren ist es aber auch schon die massive Gefährdung einer kulturellen Kontinuität24 bzw. die akute Gefahr des Aussterbens einer Kultur25 und für Cassee sogar die Aufrechterhaltung eines bestimmten Niveaus innerstaatlicher Gerechtigkeit. Sollte globale Bewegungsfreiheit tatsächlich als ein Menschenrecht in diesem zweiten Verständnis angesehen werden? Ich bezweifle das. Dagegen erscheint mir das dritte Verständnis als ein äußerst aussichtsreicher Kandidat, zu einer Grundannahme der migrationsethischen Debatte zu werden: Einreise- und Einwanderungsbeschränkungen sind rechtfertigungsbedürftig.26 Autoren wie David Miller,   Carens (Fn. 5), 275.   Cassee (Fn. 5), 279. In ähnlicher Weise spricht Brezger von einer „Abwägung mit schwerwiegenden Rechtsgütern“; Brezger (Fn. 11), 31 Anm. 21  Cassee (Fn. 5), 214. Man kann sich darüber streiten, was genau das heißt. 22  Dies lässt sich erschließen aus dem Hinweis, dass Einwanderungsbeschränkungen dem demokratischen Prinzip genügen könnten, wenn es eine globale Demokratie gäbe; dass das hier vertretene Recht dann aber immer noch gelte (ebd., 210, Fn. 1). 23  Ebd. 262 ff.; Carens (Fn. 5), 277 ff.; bei Oberman lässt sich diese These verschiedentlich aus Formulierungen erschließen. 24  Cassee (Fn. 5), 276 f. 25  Carens (Fn. 5), 286. 26  Mir schwebt vor, noch eine Binnendifferenzierung einzuführen: Einerseits haben wir qua autonome Personen das Recht, dass jede Einschränkung unserer Handlungsfreiheit rechtfertigbar sein muss; andererseits haben wir als „Miteigentümer“ der Erde ein spezielles Recht auf Rechtfertigung des Ausschlusses von der Nutzung der Erdoberfläche. Der letztgenannte Aspekt stellt einen stärkeren Anspruch dar als der erste, aber einen weniger starken als ein Menschenrecht im gewöhnlichen Sinn; vgl. Matthias Hoesch, „Allgemeine Hilfspflicht, territoriale Gerechtigkeit und Wiedergutmachung: Drei Kriterien für eine faire Verteilung von Flüchtlingen – und wann sie irrelevant werden“, in: Thomas Grundmann / Achim Stephan (Hrsg.), Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?, Stuttgart: Reclam, 2016, 15 – 29. Für die Zwecke dieses Aufsatzes verzichte ich auf diese Binnendifferenzierung. 19 20

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der sich explizit zur Gruppe der Befürworter von Einreisebeschränkungen zählt, haben dieses Verständnis globaler Bewegungsfreiheit mittlerweile anerkannt.27 Bevor ich argumentiere, dass sich das zweite Verständnis nicht ohne weiteres aus den Argumentationen der genannten Vertreter offener Grenzen ergibt, möchte ich erläutern, welche gewaltige Reduzierung des Geltungsanspruchs der Bewegungsfreiheit bereits daraus folgt, dass das Recht auf offene Grenzen nicht als absolutes Recht verstanden wird. II. Ideale und nichtideale Theorie Dass im Prinzip Gründe denkbar sind, Einwanderungsbeschränkungen zu erlassen, hat manche Autoren dazu veranlasst, zwischen einer idealen und einer nichtidealen Theorie zu unterscheiden. Die Grundidee ist folgende: Wenn heute ein einzelner reicher Staat seine Grenzen unbeschränkt öffnete, dann hätte das möglicherweise katastrophale Folgen. Millionen Menschen aus der Dritten Welt würden einwandern, die Sozialsysteme kollabieren, die Demokratie zusammenbrechen usw. All das in Kauf zu nehmen, kann nicht eingeschlossen sein, wenn jemand offene Grenzen fordert. Da globale Bewegungsfreiheit nicht absolut gilt, darf sie angesichts solcher Gefahren eingeschränkt werden. Dennoch soll globale Bewegungsfreiheit in irgendeinem Sinn wie ein Menschenrecht gelten; die Einschränkung soll gewissermaßen als vorübergehend nötige Maßnahme begriffen werden. Daher betonen die Autoren, dass die Idee offener Grenzen für eine ideale Theorie konzipiert ist. Geht man davon aus, dass alle Hintergrundbedingungen gerecht sind – dass es also keine unfairen Handelsabkommen gibt und ökonomische Ungleichheiten durch Umverteilungsmechanismen eingedämmt werden –, dann ergibt sich eine Welt, in der nicht mehr viele Menschen migrieren würden, wenn sie es dürften. In einer solchen Welt wären offene Grenzen demnach tatsächlich moralisch gefordert, während unter nichtidealen Bedingungen andere wichtige Güter das Recht auf offene Grenzen übertrumpfen können.28 Having open borders would not lead to mass migration, if the differences between political communities were as limited as justice requires. […] What would a just world look

27  „Of course people nearly always benefit from having greater opportunities, so if border controls are to be justified, some grounds for imposing them must be given – people who are refused entry are entitled to be told why.“; Miller (Fn. 2), 48 f. „More freedom is always better than less, including the freedom to migrate between countries.“ (Ebd., 56). 28 Carens vertritt neben dem Argument individueller Autonomie auch ein Argument für offene Grenzen, das sich auf Chancengleichheit stützt. Durch die Dopplung der Argumentation gerät er in folgende Aporie: Offene Grenzen sind laut Chancengleichheit gefordert, wenn Ungleichheiten vorherrschen, und sie sind laut individueller Autonomie erst dann umzusetzen, wenn die Ungleichheiten verschwunden sind.

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like? Iʼm not sure of all the particulars, but I am reasonably confident of this. If a just world had states, they would be states with open borders.29

Wie Carens an anderer Stelle schreibt, ist die These offener Grenzen daher eher als Element einer Idealvorstellung zu verstehen. In der Welt, so, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, könne sie dagegen keine besonders große Rolle spielen; sie diene eher der indirekten Rechtfertigung von Maßnahmen, die uns langfristig dem Ideal näherbringen, als dass sie direkt eine handlungsleitende Funktion übernehme. Hintergrund ist offenbar, dass die Zusammenhänge in der nichtidealen Theorie zu komplex sind. While I do think that a just world will be one in which people are largely free to live where they choose and in which there is relative economic equality among places and people I am not certain that the best way to move in the direction of that world is to increase immigration to rich democratic states as much as possible.30

Diese Vorstellung steht in einiger Spannung zu Carens’ These, dass offene Grenzen als Menschenrecht anzusehen seien. Rechte, die erst dann Geltung erlangen, wenn ideale Rahmenbedingungen erreicht sind, scheinen kaum die Bezeichnung Menschenrecht zu verdienen, da Menschenrechte nach einer verbreiteten Auffassung ‚kategorisch‘ im Sinn von ‚ohne Zusatzbedingungen‘ gelten. Der Menschenrechtsbegriff, den Carens immer wieder bemüht, lädt daher zu Missverständnissen ein.31 Oberman und Cassee vertreten in diesem Punkt allerdings eine andere Position. Zwar könne es in der Gegenwart eine Reihe von zulässigen Beschränkungen offener Grenzen geben, aber das setze die Geltung des Rechts auf Bewegungsfreiheit nicht grundsätzlich außer Kraft. Auch in der Gegenwart, die am ehesten in einer nichtidealen Theorie eingefangen werde, gelte, dass jede Beschränkung von offenen Grenzen nur mit gewichtigen Argumenten gerechtfertigt werden könne. Es ist grundsätzlich das gute Recht jedes Menschen, sich auf der Oberfläche des Planeten, den wir gemeinsam bewohnen, frei zu bewegen, und jede Ausnahme von diesem Grundsatz bedarf einer Rechtfertigung durch andere entsprechend gewichtige Ansprüche. […] Kleine Schritte in Richtung einer liberaleren Migrationspolitik sind […] nicht nur kleine Reduktionen eines großen Unrechts, sondern bereiten potenziell auch den Weg zur vollständigen Überwindung des ungerechtfertigten Zwangs, der tagtäglich gegen Einwanderungswillige ausgeübt wird.32

  Carens (Fn. 5), 287.   Carens (Fn. 5), 296. 31 Ein solches Missverständnis scheint Miller zu unterlaufen, denn er verkennt die Beschränkung auf die ideale Theorie, wenn er Carens’ Argument für offene Grenzen als ein Argument dafür diskutiert, in der jetzt bestehenden Weltlage Grenzen zu öffnen; Miller (Fn. 2), 49. 32  Cassee (Fn.  5), 279 – 282. 29 30

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Cassee folgert damit aus seiner Argumentation, die zunächst für eine ideale Theorie konzipiert wurde, eine These, die sich auf Recht und Unrecht in der realen Welt bezieht: Es liege gegenwärtig ein großes Unrecht vor, wenn Staaten Einwanderungswillige in großem Umfang abweisen. Meines Erachtens ist diese Schlussfolgerung durch seine Argumentation nicht gedeckt. An dieser Stelle möchte ich wohlgemerkt noch nicht Cassees Prämissen angreifen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass seine Thesen die Forderung nach einer solchen möglichst ‚liberalen‘ Immigrationspolitik in der Gegenwart nicht rechtfertigen. Zwei unterschiedliche Überlegungen stellen die These über das Unrecht der Gegenwart in Frage. Erstens möchte Cassee offenbar nicht ausschließen, dass die Tatsache, dass andere Staaten ihre Grenzen nicht öffnen, ein Argument dafür sein kann, die eigenen Grenzen nicht zu öffnen. Cassee spricht in diesem Zusammenhang von „neuen Fairness-Problemen“33, die sich im Verhältnis zwischen Staaten stellen. Nehmen wir an, es träfe zu, dass die Weigerung anderer Staaten (seien diese nun wohlhabend oder nicht; liberal oder nicht) einen Grund darstellt, nicht in ‚Vorleistung‘ zu treten und die eigene Grenze zu öffnen, obwohl unwahrscheinlich ist, dass die anderen Staaten später nachziehen würden. Wir müssten dann urteilen, dass die Staaten als Kollektiv der gemeinsamen Pflicht nicht nachkommen, sich auf liberalere Einwanderungspolitiken zu einigen. Wir könnten aber keinem einzelnen Staaten vorwerfen, eine zu wenig liberale Einwanderungspolitik zu betreiben; kein einzelner Staat beginge ein „Unrecht“. Daher wären kleine Schritte in Richtung einer liberaleren Politik, die einzelne Staaten beschließen, auch keine Reduktion von Unrecht. Der zweite Punkt ist allerdings bei weitem der gewichtigere. Nichtideale Theo­ rien können in verschiedenen Stufen konzipiert werden, in denen jeweils verschiedene Merkmale idealisiert werden oder eben nicht. Mindestens muss in der nichtidealen Theorie davon ausgegangen werden, dass nicht jeder Einwanderungswunsch erfüllt werden kann. Wie auch Cassee einräumt34, sollte es in solchen Situationen gewisse Priorisierungen unter den Einreisewilligen geben. Solange wir nicht voraussetzen können, dass eine große Zahl von Staaten sich an die moralischen Regeln hält, nach denen wir in der nichtidealen Theorie suchen, sollten wir aber sogar davon ausgehen, dass nicht einmal alle Einwanderungswünsche in der Kategorie der wichtigsten Einwanderungsgesuche – also der Kategorie der Geflüchteten, Vertriebenen oder akuten Gefahren ausgesetzten Personen – erfüllt werden können, und dies über einen langen Zeitraum hinweg. Funktionierende Staaten sollten sich darauf einstellen, auf Dauer möglichst viele Menschen aus dieser Kategorie aufzunehmen, und sie sollten entsprechende Maßnahmen treffen, die dies ermöglichen. Die Idee offener Grenzen umfasst die Vorstellung, dass bei der Einreise nicht gefragt wird, warum und wozu jemand einreisen möchte. Genau das ist die Idee   Ebd., 243.  Vgl. Cassee (Fn. 5), 215.

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individueller Autonomie. In der nichtidealen Theorie sollte diese Vorstellung meines Erachtens fallen gelassen werden. Es gibt dringliche moralische Gründe, auf Dauer unter den Einwanderungswilligen diejenigen herauszufiltern, deren Einwanderungsgründe besonders schwer wiegen. Wenn ein Staat bereit wäre, so viele Menschen aufzunehmen, wie es die Idee offener Grenzen laut Cassee für die nicht­ ideale Theorie forderte (Cassee schreibt, es könnte im Fall der Schweiz etwa um die Verdopplung der gegenwärtigen Population gehen), dann gibt es moralische Gründe, keine liberale Grenzpolitik zu betreiben, sondern eine selektive, inklusive strikten Abschieberegelungen für abgelehnte Bewerber. Generelle Forderungen nach einer sofortigen Lockerung von Einwanderungsbeschränkungen, wie sie gegenwärtig von einigen Gruppen in der politischen Debatte vorgebracht werden, sind also von der Idee offener Grenzen, wie sie in der philosophischen Literatur diskutiert wird, nicht impliziert.35 Und Forderungen nach einer Verstärkung der Bereitschaft, Flüchtende aufzunehmen, sind ihrerseits nicht auf die These offener Grenzen angewiesen und erfahren meines Erachtens nicht einmal eine besondere Unterstützung durch diese These. Soweit zur Rekonstruktion dessen, was Vertreter von offenen Grenzen genau behaupten bzw. sinnvollerweise behaupten können. Dabei habe ich angenommen, dass die These offener Grenzen als ein Menschenrecht im zweiten Verständnis anzusehen ist, also als ein Menschenrecht mit hoher Priorität gegenüber anderen Gütern. Im Folgenden möchte ich einen Schritt weitergehen und dafür argumentieren, dass globale Bewegungsfreiheit in diesem zweiten Verständnis von Menschenrechten zu anspruchsvoll ist, um als gerechtfertigtes Prinzip gelten zu können. III. Die Analogie von nationaler und globaler Bewegungsfreiheit In der Debatte spielt ein Argument eine große Rolle, das von dem Menschenrecht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Wohnort frei zu wählen, auf das Recht schließen will, sich auf globaler Ebene in gleicher Weise frei zu bewegen. Dabei setze ich voraus, dass die Autoren den Menschenrechtsbegriff in dem zweiten der oben eingeführten Verständnisse verwenden. Ausgangspunkt ist der im Völkerrecht weithin anerkannte Grundsatz, der im Artikel 13.1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie in vielen weiteren Dokumenten verankert ist: „Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.“ Die Grundidee des Arguments ist die folgende: Wenn dieses Recht zu den Menschenrechten zählt, dann muss auch das Recht auf globale Bewegungsfreiheit zu den Menschenrechten zählen. 35 Und daher ist auch der Untertitel irreführend, den Cassee seinem Buch gegeben hat: „Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen“. Ein Plädoyer ist eine Stellungnahme, die auf eine Handlungsempfehlung zielt. Wenn offene Grenzen im Wesentlichen in der idealen Theorie gelten, kann man ohne anspruchsvolle Zusatzüberlegungen für keine einzige konkrete Handlung plädieren.

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Um dies zeigen zu können, müssen die Autoren freilich einen Umweg in Kauf nehmen, denn klarerweise lässt Artikel 13.1 mit den Mitteln des logischen Schließens keinen Schluss auf globale Bewegungsfreiheit zu. Gezeigt werden soll deshalb letztlich: Jeder, der glaubt, dass Artikel 13.1 zu Recht zu den Menschenrechten gezählt wird, der muss rationalerweise auch globale Bewegungsfreiheit für richtig halten. Weil es zwischen Artikel 13.1 und der globalen Bewegungsfreiheit keine logische Verbindung gibt, kann dies nur gezeigt werden, indem bewiesen wird: Was auch immer rationalerweise für eine Begründung des Artikels 13.1 gehalten werden kann, ist auch eine Begründung für globale Bewegungsfreiheit. Der Vorteil dieser Argumentation liegt auf der Hand: Es muss keine bestimmte Moraltheorie vorausgesetzt werden, die selbst wieder strittig ist, um die Prämissen des Arguments zu stützen. Insbesondere müssen keine Thesen über das Problem globaler Gerechtigkeit vorausgesetzt werden, das bekanntlich seit Jahrzehnten hoch umstritten ist.36 Stattdessen kann man sich auf einen weit geteilten Grundsatz beziehen und von diesem ausgehend eine substantielle These aufstellen. Das Argument wird in der Debatte gerne als „cantilever argument“ bezeichnet, weil sich globale Bewegungsfreiheit an der festen Basis des anerkannten Menschenrechts ohne weitere Annahmen genau so ‚festmachen‘ lässt, wie ein Ausleger (cantilever) am tragenden Bauteil befestigt wird. Die Vertreter des Arguments sehen den Wert der individuellen Autonomie als die Grundlage des Artikels 13.1. Demnach haben wir ein fundamentales Interesse daran, frei wählen zu können, welche Lebenspläne wir verfolgen wollen, mit wem wir zusammenleben wollen, welche Menschen wir treffen wollen, um uns mit ihnen über verschiedenste Dinge auszutauschen etc. Viele dieser Freiheiten sind Gegenstand von anderen Menschenrechten (Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Berufsfreiheit usw.). Alle diese Rechte haben aber zur Grundbedingung, dass wir uns frei bewegen können. Ob ich eine neue Religion kennenlernen möchte, einen Beruf in einer anderen Stadt antreten möchte, eine Demonstration unterstützen will, neue Freunde finden möchte oder einen Ehepartner suche: All das setzt voraus, dass ich mich frei bewegen kann. Und auch wenn ich kein Gut erstrebe, das von einem spezifischen Menschenrecht geschützt wird, habe ich immer noch ein Interesse daran, mich frei bewegen zu können, welchen Zweck auch immer ich dabei anstrebe. Ich habe also eine Art Meta-Interesse daran, überall hinfahren zu dürfen, ohne jemandem meine Gründe vortragen und um Erlaubnis bitten zu müssen. 36 Cassee weist ausdrücklich die Ansicht zurück, dass die Idee globaler Gleichheit grundsätzlich gegen Einwanderungsbeschränkungen spreche; Cassee (Fn. 5), 210; Carens stellt sie als zweites Argument an die Seite der Ausweitung des Menschenrechts auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit; Carens (Fn. 5), 225 – 254.

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Die Idee individueller Autonomie endet aber nicht an der Staatsgrenze. Genauso, wie ich ein Interesse daran haben kann, nach München fahren zu können, um dort beispielweise einen Verwandten zu besuchen, kann ich ein Interesse daran haben, nach Zürich fahren zu dürfen, um dort über Bewegungsfreiheit zu diskutieren. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen meinem Interesse an nationaler und dem an globaler Bewegungsfreiheit. Die Gegner der Idee offener Grenzen scheinen bis hierhin ein leichtes Spiel zu haben. Sie können nämlich entgegnen: Zwar habe ich ein Interesse an größtmöglicher Freiheit, aber den Status eines Menschenrechts im Sinne eines Anspruchs, dessen Beschränkung in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig ist, kann dieses Interesse nicht begründen. Einen menschenrechtlichen Anspruch kann es demnach nur auf einen adäquaten Umfang an Optionen geben – so argumentiert insbesondere David Miller. Ich sollte also ausreichend viele Religionen vorfinden, ausreichend viele Berufschancen haben, ausreichend viele potentielle Ehepartner kennlernen können und die Chance haben, durch einen Umzug meinen sozialen Bezugsrahmen zu wechseln, wenn ich mich mit Menschen an einem Ort verkracht habe. Weil der Nationalstaat mir einen solchen Umfang an Optionen bietet, schützt laut dieser Position Artikel 13.1 zu Recht nur Bewegungsfreiheit im Staat.37 Die Befürworter offener Grenzen wehren sich gegen diese Position auf zwei Arten. Erstens weisen sie darauf hin, dass Staaten über extrem unterschiedliche Mengen an Optionen verfügen. Wer in Belgien wohne, habe einen kleinen Spielraum; wer dagegen in den USA wohne, einen unvergleichbar größeren. Artikel 13.1 schütze aber ausdrücklich das Recht, sich im ganzen Staat frei zu bewegen. Die These eines adäquaten Umfangs an Optionen sei daher keine rationale Begründung des Artikels 13.1. Zweitens geben die Befürworter offener Grenzen an, die Idee stehe insgesamt im Widerspruch zu unserem Verständnis von menschenrechtlich abgesicherten Freiheitsrechten. Zwar sei es plausibel anzunehmen, dass Leistungsrechte den Staat lediglich verpflichten, Optionen in einem angemessenen Umfang bereitzustellen. Aber Freiheitsrechte zielten stets auf eine unbegrenzte Liste von Optionen.38 Mit 37 Vgl. Miller (Fn. 2), 52; ders., National Responsibility and Global Justice, Oxford / New York: Oxford University Press, 2007, 205 – 208; ders., „Einwanderung: Das Argument für Beschränkungen“, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hrsg.), Migration und Ethik, Münster: Mentis, 2012, 49 ff.; und die Angaben in Cassee (Fn. 5), 221. 38  Siehe z. B. Oberman (Fn. 11), 36 bzw. Working Paper, 7: „human rights are to fully protect our freedom to access the full range of life options“; oder Cassee (Fn. 5), 223: „Von einem Common-Sense-Verständnis negativer Freiheitsrechte ist Miller damit weit entfernt. […] Doch ich glaube, dass es gute Gründe gibt, negative Freiheitsrechte zu akzeptieren, die nicht eine angemessene Auswahl, sondern die freie Auswahl unter allen bestehenden Optionen schützen.“ Zumindest die These von Cassee könnte sich als sprachliches Missverständnis entpuppen: Miller redet ausdrücklich von Menschenrechten in dem oben genannten zweiten Verständnis, und Cassee redet von „negativen Freiheitsrechten“, offenbar wie wir sie aus dem Grundgesetz kennen. Solche Freiheitsrechte müssen nicht die moralische Dringlichkeit haben, die wir mit Menschenrechten verbinden.

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e­ iner Reihe von Beispielen soll das gezeigt werden. Oberman konzipiert als Beispiel einen Staat, der die Praktizierung jüdischer Riten verbietet.39 Dieser Staat könnte argumentieren: Bei uns gibt es Religionsfreiheit, man kann sich dem Christentum, dem Islam, dem Hinduismus und den Sonnenanbetern anschließen und obendrein auch areligiös sein – es gibt eine hinreichend große Menge an Optionen, sodass das Verbot des Judentums die Religionsfreiheit nicht einschränkt. Cassee bringt das Gedankenexperiment eines Staates, der festlegt, dass alle Menschen, deren Nachname mit einem Buchstaben beginnt, der im Alphabet zwischen „A“ und „N“ liegt, nur Menschen heiraten dürfen, deren Nachname mit einem Buchstaben beginnt, der zwischen „O“ und „Z“ liegt. Jede Person in diesem Staat hätte ausreichend Optionen, einen Partner zu finden, und dennoch verstehen wir unter der grundrechtlich geschützten freien Partnerwahl etwas anderes. Es sei daher grundsätzlich falsch anzunehmen, dass Freiheitsrechte auf einen adäquaten Umfang an Optionen abzielen. Die Kritiker offener Grenzen müssen daher einen neuen Versuch starten, eine plausible Begründung für Artikel 13.1 vorzulegen, die nur für den Staat gilt. Zu diesem Zweck stellt David Miller neben die Idee des adäquaten Umfangs an Optionen noch die These, der Artikel 13.1 sei eigentlich dazu da, Diskriminierungen zu verhindern. So habe es, wie Miller argumentiert, in der Geschichte der Menschheit viele Beispiele gegeben, wie durch Beschränkungen bei der Wahl des Wohnviertels oder gar des Wohnorts bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminiert worden sind, etwa in der UdSSR, in Südafrika und in den jüdischen Ghettos Europas. Solche Diskriminierungen sollten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wirksam verhindert werden. Cassee weist diese Strategie, die er als instrumentelles Verständnis des Rechts auf nationale Bewegungsfreiheit versteht, vehement zurück. Nehmen wir einmal an, wir lebten in einer ansonsten völlig gerechten Gesellschaft, und jemandem werde ohne guten Grund ein Besuch bei Freunden in einem anderen Landesteil untersagt. Wie könnte der Vorwurf dann lauten? Dass dieses Verbot ein Unrecht darstellt, weil es Tür und Tor öffnet für Unterdrückung und Diskriminierung im Stil der Apartheid? Das scheint reichlich weit hergeholt. […] [Wir kommen] kaum auf die Idee, alle Gefängnisse abzuschaffen, um diskriminierende Haftstrafen zu verhindern, oder den Betrieb von Radiostationen zu verbieten, um die Verbreitung rassistischer Propaganda zu unterbinden. Weshalb genügt es dann nicht auch im vorliegenden Fall, diskriminierende Restriktionen der innerstaatlichen Mobilität zu verbieten?40

Selbstverständlich plädiert Cassee damit nicht dafür, innerstaatliche Bewegungsfreiheit einzuschränken, sondern möchte nur zeigen, dass innerstaatliche Bewegungsfreiheit ihren Wert aus einer anderen Quelle bezieht, nämlich aus der individuellen Autonomie.

 Vgl. Oberman (Fn. 11), 39 bzw. Working Paper, 11.   Cassee (Fn. 5), 229 f.; ganz ähnlich Carens (Fn. 5), 242 f.

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Verstehen wir Millers Argument tatsächlich in diesem instrumentellen Sinn der Verhinderung der massiven Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen, dann mögen Cassees Überlegungen einen wahren Kern haben. Diese Lesart von Millers Argument verfehlt aber, ob sie zutreffen mag oder nicht,41 die Wirkweise von Antidiskriminierungsrechten, die typischerweise in Kombination mit anderen Rechten anzuwenden sind. Eine sinnvolle Argumentation versteht innerstaatliche Bewegungsfreiheit meines Erachtens nicht als Instrument zur Verhinderung eines anderen Tatbestands, sondern als eine notwendige Bedingung der fairen Anwendung anderer Rechte. Ich verlasse daher die Rekonstruktion der Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern offener Grenzen und komme zur Darstellung meiner eigenen Position. Zu den Menschenrechten zählt ein Diskriminierungsverbot, mit dem der Menschenrechtskanon gewissermaßen reflexiv seine eigene Anwendung regelt. In Artikel 2 wird festgehalten: Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.

Blicken wir auf die oben genannten Beispiele zurück, die zeigen sollten, dass Menschenrechte nicht nur einen adäquaten, sondern den größtmöglichen Umfang an Freiheitsrechten schützen, dann lassen sich alle diese Beispiele mit dem Antidiskriminierungsgrundsatz aushebeln. Wir halten die in den Beispielen genannten staatlichen Verbote vor allem deshalb für falsch, weil sie diskriminieren, und nicht, weil sie den größtmöglichen Umfang an Freiheit beschränken. Würde die Praktizierung des Judentums verboten, dann gäbe es zwar immer noch ausreichend viele Optionen religiöser Betätigung, aber eine Religion würde diskriminiert.42 Wäre es untersagt, dass Menschen, deren Name mit einem Buchstaben der zweiten Hälfte des Alphabets beginnt, Andreas Cassee heiraten dürfen, dann wären die Hälfte aller Schweizer Staatsbürger von dieser einzigartigen Chance ausgeschlossen, was wiederum einer Diskriminierung gleichkäme.43 Die in der Literatur vorgebrachten 41  Tatsächlich erwähnt Miller ausdrücklich nur die krassen Formen der Diskriminierung von Gruppen aufgrund von Rasse und Religion; er behauptet nicht wie ich, dass jede relevante Einschränkung eine Diskriminierung wäre. Weiterhin bezieht er sich auf vermeintliche Unterschiede zwischen nationalem und globalem Level, die sehr fragwürdig erscheinen; Miller (Fn. 2), 55 f. 42 Die Analogie mit Gewissens- und Religionsfreiheit scheitert noch aus einem anderen Grund: Es geht hier um „innere“ Freiheiten, bei denen sich im Laufe der Geschichte gezeigt hat, dass es für Menschen von fundamentalem Interesse ist, dass ihnen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten offenstehen. Bei „äußeren“ Freiheiten ist dagegen eine gewisse Bandbreite an Optionen offenbar ausreichend, um in relevanter Weise Lebenspläne entwickeln und umsetzen zu können. Dass es in Sachen Religions- und Gewissensfreiheit um den größtmöglichen Umfang geht, zeigt also noch nicht, dass es bei Menschenrechten grundsätzlich um den größtmöglichen Umfang geht.

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Beispiele zeigen daher mitnichten, was sie zeigen sollen, nämlich dass im gewöhnlichen Verständnis von Menschenrechten diese den größtmöglichen Umfang von negativen Freiheitsrechten sicherstellen sollen. Das heißt natürlich nicht, dass wir kein Interesse daran hätten, Freiheiten im größtmöglichen Umfang zu haben, oder dass es bedeutungslos wäre, ob man etwas mehr oder etwas weniger Freiheit besitzt. Aber der Besitz des größtmöglichen Umfangs ist kein Gut, das mit besonders hohen Schranken geschützt wird. ‚Gewöhnliche‘ Argumente oder Gründe reichen hin, um Beschränkungen des Umfangs zu rechtfertigen. Der größtmögliche Umfang ist aus meiner Sicht lediglich Gegenstand eines Menschenrechts im weiten Sinn des dritten Verständnisses, das ich oben eingeführt habe. Dies lässt sich sogar daran zeigen, wie Staaten das Menschenrecht auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit faktisch interpretieren. Obwohl wir es als Menschenrecht ansehen, sind wir relativ schnell bereit, Einschränkungen in Kauf zu nehmen, wenn diese keine diskriminierende Wirkung haben. Denken wir uns einen Naturpark, der zum Schutz einer seltenen Unterart der Teichmolche nicht besiedelt werden darf und in dem man die Wanderwege nicht verlassen darf. Klarerweise handelt es sich hierbei um Beschränkungen des größtmöglichen Umfangs an Bewegungsfreiheit, aber diese Beschränkung hat keine Auswirkungen auf die Lebenschancen der Menschen eines Staates. In der Logik von Oberman spielt es keine große Rolle, ob jemand tatsächlich Lust darauf hat, sich in diesem Park anzusiedeln oder jenseits der Wanderwege spazieren zu gehen. Die bloße Möglichkeit zu haben, dies zu tun, sei bereits ein fundamentales menschliches Interesse, weil es ja sein kann, dass wir irgendwann eine Idee des Guten ausprägen werden oder ausprobieren wollen, bei der das Leben im Wald, das Sprechen mit Vögeln oder das gemeinsame Sonnen mit Eidechsen wichtig ist. Man kann zum Naturschutz sehr unterschiedliche Haltungen einnehmen, aber es scheint doch klar zu sein, dass der Schutz bestimmter Teichmolche keinen besonders starken Grund darstellt, ein Menschenrecht einzuschränken. Unser normales Verständnis der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit lässt es daher zu, dass Mobilität aus wenig gewichtigen Gründen massiv beschränkt wird, ohne dass der moralische Kern dieses Menschenrechts in Mitleidenschaft gezogen würde. Beschränkungen der innerstaatlichen Mobilität sind demgegenüber besonders problematisch, wenn sie entweder den Zugang zu einem adäquaten Umfang an Optionen verhindern, oder mit Diskriminierungen einhergehen, oder beides zugleich. Wird etwa so viel Fläche eines Staates zum Naturpark erklärt, dass es nur noch Großstädte gibt, aber keine Dörfer mehr, dann ist kein ausreichend großer Umfang 43  Cassee bringt mit Bezug auf Eheschließungen noch ein anderes Beispiel, bei dem nicht klar erkennbar ist, ob es diskriminierend wäre: Man könnte Ehen zwischen wohlhabenden Menschen verbieten, um eine Gleichverteilung an Wohlstand anzustreben. Diesem Beispiel könnte man auf andere Art begegnen, etwa mit einem Konzept von Sphären der Gerechtigkeit, die nicht durchmischt werden dürfen.

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an Optionen mehr vorhanden. Und wenn, wie Cassee in seinem Beispiel erläuterte, einer einzelnen Person der Besuch bei Freunden ohne guten Grund verwehrt wird, dann liegt eben eine Diskriminierung, eine Willkürherrschaft vor: Warum soll gerade diese Person ein bestimmtes Gebiet nicht betreten? Meine These ist daher, dass für so gut wie jede denkbare Beschränkung des Rechts auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit, die über die weithin anerkannten Beschränkungen aufgrund von Eigentumsansprüchen, Sicherheitsvorkehrungen oder Naturschutz hinausgeht, gilt, dass sie gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen würde – und aus diesem Grund innerstaatliche Bewegungsfreiheit als ein Menschenrecht im Sinne eines Rechtes mit prioritärer Geltung angesehen werden muss. Dabei beziehe ich mich nicht auf bestimmte Sorten von Rechten, die diskriminierend gewährt würden,44 sondern es lassen sich in quasi jedem denkbaren Fall irgendwelche Rechte anführen, in die diskriminierend eingegriffen würde. Ohne dass ich ein bestimmtes Diskriminierungskonzept voraussetzen möchte, gehe ich davon aus, dass eine Diskriminierung jedenfalls dann vorliegt, wenn sachfremde Kriterien herangezogen werden, um Unterschiede zwischen Personengruppen zu rechtfertigen. Vier Beispiele sollen hier genügen: –– Stellen wir uns vor, dass unter Touristen einige ausgewählt werden, die Berlin besuchen dürfen, und andere, die Hamburg besuchen dürfen – beispielsweise dürfen Reisende aus den USA nur Berlin und Reisende aus Kanada nur Hamburg besichtigen. Hier werden Kriterien herangezogen, die offensichtlich sachfremd sind: Das Herkunftsland ist für die Frage, welche Stadt man bereisen darf, nicht relevant. –– Betrachten wir dann das immer wieder vorgebrachte Gedankenexperiment, ein Staat würde Bewegungsfreiheit auf den Bereich von Bundesstaaten begrenzen. Chancengleichheit zur Erlangung eines Berufs oder eines öffentlichen Amtes verlangt, dass alle potentiellen Bewerber die Möglichkeit haben, ihren Wohnort an den Ort des Arbeitsplatzes zu verlegen. Wenn mir aufgrund der Tatsache, dass ich in Nordrhein-Westfalen wohne, versagt wird, nach Berlin umzuziehen, kann ich mich auf eine in Berlin ausgeschriebene Stelle faktisch nicht bewerben. Die Tatsache, dass ich in Nordrhein-Westfalen wohne, ist aber irrelevant für die Frage, wer die Stelle bekommen sollte. –– Ein realitätsnäheres Beispiel für innerstaatliche Mobilitätsbeschränkungen wäre, zum Zweck der Vermeidung von Überbevölkerungsszenarien ein Verbot für Bewohner des ländlichen Raumes zu erlassen, in Ballungsgebiete umzusiedeln. Ballungsgebiete sind hier voraussetzungsgemäß besonders begehrte Wohnorte. Mit dem Verbot würde zementiert, welche Personen die Vorzüge 44  So nämlich Adam Hosein, „Immigration and Freedom of Movement“, in: Ethics & Glo­ bal Politics 6 (1), 2013, 25 – 37. Daraus ist abgeleitet worden, dass die Idee des Diskrimi­ nierungsverbots nur eine Grundlage für innerstaatliche Bewegungsfreiheit darstellen kann, solange es um Mitglieder einer Gesellschaft geht; vgl. etwa Brezger (Fn. 11), 40. Das ist irreführend. Auch Touristen können diskriminiert werden.

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von Ballungsräumen niemals werden beanspruchen können, was sie ohne guten Grund schlechter stellen würde als alle anderen. –– Betrachten wir abschließend die Idee eines adäquaten Umfangs an Optionen: Mithilfe des Antidiskriminierungsgrundsatzes kann gezeigt werden, dass auch diese Idee, entgegen der Behauptung der Vertreter offener Grenzen, zu Bewegungsfreiheit im ganzen Staatsgebiet führt. Es ist nur schwer vorstellbar, dass ein Staat, wie Carens und Cassee unterstellen, für verschiedene Gruppen von Bürgern eingeschränkte Räume der freien Bewegung definieren könnte, die allen Betroffenen einen angemessenen Umfang an Optionen ermöglichen und gleichzeitig allen in gleicher Weise Optionen bereitstellen. Würden die USA etwa festlegen, dass sich jeder nur noch innerhalb seines Bundesstaates frei bewegen darf, dann ergäben sich für die verschiedenen Vorlieben und Fähigkeiten der Bürger extrem unterschiedliche Aussichten dafür, wie groß der sich ergebende Umfang an Optionen letztlich wäre. Selbst wenn die Bundesstaaten gleich groß und wirtschaftlich vergleichbar stark wären, würde dies gelten. Der eine Bundesstaat bietet etwa Strand, der andere Skipisten, und ähnlich unvergleichbare Optionen gibt es in verschiedensten Hinsichten. Es ist dann eine Sache des Zufalls, ob die Optionen meines Bundesstaates zu mir passen oder nicht. Auch wenn jeder mindestens einen angemessenen Umfang an Optionen innehätte, hätten unterschiedliche Personen aufgrund von sachfremden Tatsachen über ihre Vorlieben, Fähigkeiten und Beziehungen sehr unterschiedlich große Umfänge an Optionen. Der Befürworter offener Grenzen könnte jetzt vorbringen, dass bei allen Beispielen genau das gleiche auf globaler Ebene gilt. Auch hier werden Bewohner anderer Staaten möglicherweise diskriminiert, wenn sie faktisch als Tourist gar nicht einreisen dürfen; wenn sie von vielen Berufschancen ausgeschlossen werden; oder wenn sie extrem unterschiedliche Umfänge an Optionen zur Verfügung haben. Dies kann richtig sein, es kann aber auch falsch sein. In den Debatten um globale Gerechtigkeit gibt es viele, die der Meinung sind, dass innerhalb eines Staates ein höheres Niveau an Gleichheit gefordert ist als auf globaler Ebene, sodass in den genannten Beispielen nicht notwendig Diskriminierungen vorliegen, wenn sie auf globale Ebene übertragen werden.45 Gehen wir die Beispiele durch: –– Einreisebeschränkungen für Touristen können unter anderem mit dem Argument gerechtfertigt werden, dass das Gastland im Notfall für Unterhalt und Gesundheitskosten aufkommen muss. Es ist daher nicht diskriminierend, wenn genau diejenigen zugelassen werden, die Nachweise über die Abdeckung solcher Kosten erbringen können. Ein solches Argument gilt innerhalb von Staaten nicht, denn es ist immer derselbe Staat, der für Notfälle geradestehen muss. 45 Damit muss nicht gemeint sein, dass die Idee der Gerechtigkeit auf Staaten begrenzt ist, wie das gebräuchliche Schlagwort „scope of justice“ suggeriert. Viele Autoren vertreten ein gestuftes Modell der Gerechtigkeit, demzufolge im Staat Chancengleichheit, auf globaler Ebene aber lediglich fairer Tausch unter der Bedingung der Einhaltung von Menschenrechten und der Sicherung der Grundbedürfnisse aller gelten sollte.

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–– Bezogen auf Chancengleichheit bei der Erlangung eines Berufs könnte nach einer vertretbaren Theorie etwa gelten: Chancengleichheit gilt nur innerhalb von Kooperationsgemeinschaften, aber nicht zwischen Gesellschaften (so ja bekanntlich Rawls). Es kann sich daher niemand beschweren, wenn er auf eine Stelle, die in einer anderen Kooperationsgemeinschaft zur Verfügung steht, schlechtere Chancen hat als die Mitglieder dieser Kooperationsgemeinschaft. –– Bezogen auf einen gleichwertigen Umfang an Optionen, der den Beispielen drei und vier zugrundliegt, könnte man argumentieren: Jeder Staat muss für sich definieren, welchen Umfang an Optionen seine Bürger haben sollen; dies gelingt in fairer Weise nur dann, wenn er das gesamte Staatsgebiet heranzieht. Andere Staaten müssen auch jeweils für sich definieren, wie groß ein angemessener Umfang an Optionen ist, und kommen auf ebendasselbe Ergebnis. Niemand muss aber diese Umfänge in Staat A mit denen in Staat B vergleichen, weil es keinen globalen Akteur gibt, der die Umfänge in diskriminierender Weise unterschiedlich festlegte. Auf vertiefte Fragen globaler Verteilungsgerechtigkeit möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen, denn es reicht aus anzudeuten, dass es plausible Wege gibt, Unterschiede zwischen staatlicher und globaler Ebene zu rechtfertigen. Die Pointe des ‚cantilever arguments‘ liegt ja gerade darin, auf eine umstrittene Theo­ rie globaler Chancengleichheit nicht angewiesen zu sein, sodass konkurrierende Theorien zulässig sein sollten. An dieser Stelle können daher folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: (1) Das Argument, globale Bewegungsfreiheit als Erweiterung des anerkannten Menschenrechts auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit anzusehen, sollte zeigen, dass eine jede rationalerweise vertretbare Begründung des Menschenrechts auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit auch eine Begründung für globale Bewegungsfreiheit darstellt. (2) Innerstaatliche Bewegungsfreiheit lässt sich durch eine Kombination der Idee eines adäquaten Umfangs an Optionen und der Idee des Diskriminierungsverbots begründen. (3) Aus dieser Kombination folgt nicht im Rahmen einer jeden rational verteidigbaren Theorie globaler Gerechtigkeit notwendig globale Bewegungsfreiheit. Ergo: (4) Das Argument ist gescheitert. These (2) könnte man angreifen, indem man geltend macht, dass die vorgeschlagene Begründung für innerstaatliche Bewegungsfreiheit nicht die Grundidee der Autoren der Allgemeinen Menschenrechtserklärung war; dass im Wortlaut die Idee eines adäquaten Umfangs nicht vorkommt; und dass sich in der Rechtsprechung oder im Commonsense möglicherweise einzelne Urteile finden lassen, die zu meinem Vorschlag in Widerspruch stehen. Menschenrechte, wie wir sie im po-

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sitiven Recht vorfinden, haben nach einer weithin geteilten Meinung einen abstrakten moralischen Kern und eine konkrete positiv-rechtliche Ausgestaltung. Beides muss sich nicht vollständig decken. Der konkrete Wortlaut der Menschenrechte ist in kontingenten Aushandlungsprozessen festgelegt worden, und es wäre geradezu erstaunlich, wenn diese die optimale moralphilosophische Formulierung getroffen hätten. IV. Das Argument aus der Autonomiekonzeption von Joseph Raz Im Rahmen ihrer Argumentation für das Recht auf globale Bewegungsfreiheit aus dem Gedanken individueller Autonomie beziehen sich Oberman, Brezger und Cassee unter anderem auf die Autonomie-Konzeption von Joseph Raz.46 Man kann diese Strategie als ein zusätzliches Argument neben dem Argument ansehen, das ich oben als ‚cantilever argument‘ bezeichnet habe, denn sie macht keinen Gebrauch von der Annahme, dass es ein Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit gibt. Es gibt aber eine große Verwandtschaft mit den oben genannten Überlegungen, weil die Strategie ebenfalls zeigen soll, dass negative Freiheitsrechte stets den größtmöglichen Umfang an Optionen sichern sollen. Ich diskutiere dieses Argument an dieser Stelle mit zwei Zielen: Erstens möchte ich begründen, dass es tatsächlich ein Recht auf Bewegungsfreiheit in dem oben dargelegten schwachen Sinn gibt (diese These ist im Abschnitt 3 nur angeklungen, aber nicht ausreichend begründet worden); und zweitens möchte ich zeigen, dass nichts dafür spricht, dieses Recht in einem stärkeren Sinn zu verstehen. Freiheitsrechte sollen nach einem verbreiteten Verständnis ermöglichen, autonom Lebenspläne zu entwerfen und zu verwirklichen. Damit es zu autonomen Entscheidungen kommen kann, müssen nach Raz drei Bedingungen erfüllt sein: –– Die Person muss bestimmte mentale Fähigkeiten besitzen. –– Es muss einen angemessenen Umfang an Optionen geben. –– Es dürfen keine Optionen mit Zwang verwehrt werden. Warum ist die dritte dieser Bedingungen wichtig? Denken wir uns zunächst einen Vater, der seinem Zögling verbietet, sich mit Thomas zu verabreden, ihm aber erlaubt, sich mit Walter, Michael, Ludwig, Oliver und Kurt zu treffen. Der Zögling 46 Raz’ Autonomie-Konzeption ist in die Debatte eingeführt worden, um zu klären, ob legitime Einwanderungsbeschränkungen die demokratische Mitwirkung der Ausgeschlossenen voraussetzt; vgl. David Miller, „Why Immigration Controls Are Not Coercive: A Reply to Arash Abizadeh“, in: Political Theory 38 (1), 2010, 111 – 120; und Arash Abizadeh, „Demo­ cratic Legitimacy and State Coercion: A Reply to David Miller“, in: Political Theory 38 (1), 2010, 121 – 130. In meinem Zusammenhang interessiert dagegen nur, ob sich aus der Autonomiekonzeption etwas über den Umfang und die Gewichtigkeit des Rechts auf Bewegungsfreiheit ableiten lässt.

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hat ein ausreichend großes Spektrum an Optionen für seine Nachmittagsgestaltung, und dennoch ist seine Entscheidung nicht mehr vollständig autonom. Selbst wenn er sich ohnehin für Ludwig entschieden hätte und die stärksten Gründe dafür sprechen, sich für Ludwig zu entscheiden, war die Entscheidung nicht vollständig autonom. Raz argumentiert, dass dieses Verwehren von Optionen als besonders schwerwiegend empfunden wird: Außerdem wird der Verlust von Optionen durch Zwang als größerer Verlust an Autonomie erachtet als ein ähnlicher Verlust, der auf andere Weise zustande kommt. Das ist der Grund, weshalb wir denken, dass es Sklaven selbst dann an Autonomie mangelt, wenn sie eine Bandbreite an Optionen haben, die als ausreichend gelten würde, wenn sie frei wären.47

Cassee und Oberman argumentieren, dass Staaten sich wie der beschriebene Vater oder der Sklavenhalter verhalten, wenn sie Grenzen (unter bestimmten Rahmenbedingungen) geschlossen halten. Sie ermöglichen ihren Bürgern ein großes Set an Optionen, aber ebenso verwehren sie Fremden mit Zwang viele Optionen. Natürlich gilt die dritte Bedingung nicht uneingeschränkt, wie die Autoren einräumen. Bestimmte Optionen dürfen verwehrt werden, ohne dass die menschenrechtlich geschützte Autonomie in Gefahr wäre, denn sie muss mindestens gegenüber der Autonomie anderer Menschen abgewogen werden. Cassee folgert daher aus Raz’ Autonomiekonzeption: Jeder Eingriff in die verfügbaren Optionen ist rechtfertigungspflichtig, und zwar auch dann, wenn den Individuen nach dem Eingriff ein vernünftiges Bündel an Wahlmöglichkeiten bleibt. […] Was ich […] bestreiten möchte, ist, dass überhaupt nichts für mehr Bewegungsfreiheit spricht, sobald ein gewisses Minimum an Optionen gesichert ist.48

Diese Schlussfolgerung ist meines Erachtens berechtigt. Sie ist aber zugleich nicht sonderlich aussagekräftig. Impliziert ist hier nämlich nur das ‚schwache‘ Verständnis von Menschenrechten, das ich oben dargelegt habe,49 und wie ich schon gesagt habe, wird dieses Verständnis kaum noch bestritten. Oberman dagegen schließt aus der Theorie von Raz: When states interfere in these matters, without strong justification, they deny us the recognition we are owed as autonomous persons. Unjustified restrictions, both internal and at the border, trespass on the personal domain.50

47  Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford / New York: Oxford University Press, 1986, 377; ich folge der Übersetzung von Cassee (Fn. 5), 226. 48  Raz (Fn. 47), 226 f. 49  Dazu passt auch das, was Cassee später aus dem Vertragsargument folgert, vgl. etwa Cassee (Fn. 5), 270. Cassee täte m. E. gut daran, sich von dem starken Menschenrechtsverständnis zu distanzieren. 50  Oberman (Fn. 11), 44 bzw. Working Paper, 15 (meine Hervorhebung).

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Mit der Forderung nach starken Rechtfertigungsgründen scheint Oberman auf die stärkere Lesart des Menschenrechtsbegriffs anzuspielen, die er auch sonst ausdrücklich vertritt. Nichts in Raz’ Konzeption lässt aber den Schluss auf die starke Lesart zu. Zwischen den Zeilen scheint bei Oberman aber folgendes Argument versteckt zu sein: Die Autonomiekonzeption zeigt, dass Vergehen gegen die Forderung nach dem größtmöglichen Freiheitsraum besonders schwer wiegen, weil sie in den Bereich der Privatsphäre eindringen. Weil wir Eingriffe in die Privatsphäre als besonders schlimm erachten, müssen wir sie mit besonders wirksamen Mitteln verhindern. Die Tatsache, dass Oberman den zweiten Satz des Zitats recht unvermittelt ergänzt, könnte nahelegen, dass er dieses Argument vertreten möchte. Das Argument setzt aber voraus, dass wir etwas als unzulässigen Eingriff betrachten. Wenn wir wissen wollen, ob Bewegungsfreiheit ein außergewöhnlich hohes Gut ist, das bei Abwägungen gegen andere Güter ein besonders hohes Gewicht bekommen sollte, dann stellen wir gerade in Frage, welche Eingriffe gegen die Bewegungsfreiheit als unzulässig angesehen werden sollten. Für diese Frage spielt keine Rolle, wie wir mit unzulässigen Eingriffen umgehen sollten. An Raz’ Konzeption lässt sich festmachen: Die Autonomie von Individuen wird genau dann untergraben, wenn der Staat ungerechtfertigte Beschneidungen der Wahlmöglichkeiten vornimmt. Über die Frage, wann solche Eingriffe ungerechtfertigt sind, sagt dies nichts aus. Mit Raz lässt sich also nicht begründen, warum globale Bewegungsfreiheit ein Recht sein sollte, das Vorrang gegenüber anderen Gütern bekommen soll. In einer anderen Hinsicht ist Oberman dagegen zuzustimmen. Sollte sich irgendwie zeigen lassen, dass das gegenwärtige Staatensystem die Bewegungsfreiheit zu Unrecht einschränkt, dann wäre mit Raz geltend zu machen, dass dieses Unrecht sehr schwer wiegt. Wir alle sind daran gewöhnt, Staatsgrenzen zu respektieren und aufwändige Verfahren der Visum-Vergabe in Kauf zu nehmen, wenn wir in bestimmte Länder einreisen. Dabei gehören wir in dieser Hinsicht noch zu den privilegierten Bewohnern des Planeten. Die meisten Menschen der Welt sind daran gewöhnt, dass es ihnen rechtlich untersagt ist, über ihr eigenes Land und ein paar Nachbarländer hinaus Reisen zu unternehmen, nicht zu reden von der faktischen Möglichkeit zu solchen Reisen. Wenn es dafür wirklich keinerlei Gründe geben sollte, dann wäre das tatsächlich skandalös. V. Fazit In welchem Sinn kann es also ein Recht auf offene Grenzen geben? Ich habe zunächst drei Bedeutungen eines solchen Rechtes unterschieden und zwei Ebenen der Theoriebildung, die ideale und die nichtideale, eingeführt. Daraufhin habe ich für die folgenden drei Thesen argumentiert: (1) Es gibt in dem Sinn ein Recht auf offene Grenzen, dass jede Beschränkung der Bewegungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig ist. Diese These sollte als Grund-

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annahme der Migrationsethik gelten, und viele Vertreter von ‚geschlossenen Grenzen‘ akzeptieren sie. (2) Es gibt kein Recht auf offene Grenzen im Sinn eines Menschenrechtes, das prinzipiell Vorrang vor anderen Erwägungen beanspruchen kann oder nur durch äußerst gewichtige Erwägungen übertrumpft werden kann. (3) Es gibt, selbst wenn man (2) zurückweisen würde, in der nichtidealen Theorie kein allgemeines Recht auf eine möglichst ‚liberale‘ Einwanderungspolitik, der zufolge möglichst viele Einreisegesuche ungeachtet der Reisegründe zu bewilligen sind. Viele Detailfragen bleiben offen. In welchen besonderen Fällen lassen sich doch stärkere Rechte für die Einreise in ein anderes Land begründen, auch jenseits von Flüchtlingsansprüchen? Ein solcher Fall läge sicherlich vor, wenn in einem Kleinstaat wie Liechtenstein durch das Aufkündigen zwischenstaatlicher Freizügigkeitsabkommen keine hinreichenden Optionen, sein Leben zu gestalten, mehr verfügbar wären. Des Weiteren könnten weitergehende Rechte aus konkreten politischen Freiheiten abgeleitet werden: Zumindest zum Zweck der politischen Meinungsbildung sollten in der idealen Theorie vorübergehende Aufenthalte erlaubt sein und auch derart rechtlich fundiert werden, dass sie gegebenenfalls gegen den Willen der Regierung oder einer politischen Mehrheit durchgesetzt werden können. Die große offene Frage aber ist, mit welchen Gründen das Recht auf globale Bewegungsfreiheit beschränkt werden könnte. Ich habe so gut wie nichts darüber gesagt. Da es meiner Auffassung nach viele Gründe geben kann, die globale Bewegungsfreiheit einzuschränken, wird es zu Meinungsverschiedenheiten darüber kommen, wie weit solche Beschränkungen jeweils gehen können. Womöglich wird es darauf in einigen Hinsichten keine objektive Antwort geben. Wie in anderen Fällen auch, in denen wir ohne belastbare wissenschaftliche Prognosen und im Angesicht einer Pluralität an Meinungen über spezifisch normative Fragen agieren müssen, sollten wir an dieser Stelle demokratischen Entscheidungen einen angemessenen Raum geben. Ich möchte abschließend zwei Schlussfolgerungen andeuten, die sich aus dieser Auffassung ergeben. In der nichtidealen Theorie setzen wir gewöhnlich voraus, dass es funktionierende demokratische Strukturen überwiegend auf nationalstaatlicher Ebene gibt. Um mit Meinungsverschiedenheiten in befriedigender Weise umzugehen, reicht es nicht aus, dass alle Staatsbürger in einen fairen Entscheidungsprozess eingebunden werden. Vielmehr gilt: (4) In der nichtidealen Theorie sind demokratisch beschlossene Einwanderungsbeschränkungen nur dann moralisch legitim, wenn die Interessen der Nicht-Wahlberechtigten in fairer Weise berücksichtigt wurden.51 51  Vgl. insbesondere Arash Abizadeh, „Democratic Theory and Border Coercion. No Right to Unilaterally Control Your Own Borders“, in: Political Theory 36, 2008, 37 – 65. Was es kon-

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Wie eine Welt aussähe, die den Anforderungen der idealen Theorie entspräche, wissen wir nicht. Wir könnten annehmen, dass es in einer idealen Welt funktionierende demokratische Entscheidungsprozesse auf globaler Ebene gibt. Darüber hinaus lässt unser Erfahrungshorizont kaum Vermutungen zu. Wir können nicht ausschließen, dass auch in einer gerechten Welt Menschen Präferenzen dafür ausbilden, ‚unter sich‘ zu bleiben; oder dass eine weitergehende Modernisierung und Globalisierung das Bedürfnis nach kulturellen Identitäten stärkt. Wie damit umzugehen wäre, könnten wir leicht entscheiden, wenn wir wüssten, dass es einen starken normativen Anspruch auf der einen Seite und nur schwache normative Ansprüche auf der anderen Seite gibt. Ich habe dafür argumentiert, dass wir das nicht annehmen sollten. Deshalb sollten die Betroffenen im Rahmen globaler demokratischer Deliberationen selbst entscheiden, welche Gründe letztlich den Ausschlag geben. Daher gilt: (5) Es gibt in der idealen Theorie kein Recht auf globale Bewegungsfreiheit im Sinne eines Rechtes, das Ergebnisse demokratischer Entscheidungen, die keine allgemeine Bewegungsfreiheit vorsehen, ausschließen könnte. Wenn diese Beschreibung richtig ist, hat die Philosophie, wenn einmal menschenrechtliche Ansprüche gesichert sind, ihre wichtigste Aufgabe darin, fehlerhafte Argumente im öffentlichen Diskurs als solche zu identifizieren. Sicherlich halten einige der Argumente, die heute in öffentlichen Debatten für Einwanderungsbeschränkungen vorgebracht werden, einer solchen philosophischen Überprüfung nicht stand. Wofür sich Demokratien letztlich entscheiden sollten, lässt sich in vielen Fällen dagegen philosophisch nicht bestimmen. Autonomie gibt es schließlich nicht nur für Individuen, sondern auch für Staaten.52 Summary In the debate on the question of whether there should be open borders, some philosophers claim that there is a human right to go where one wants to go and to live in the country one wants to live in. This claim can easily be misunderstood, in public debates as well as in the academic debate, and therefore needs clarification. In this paper, I proceed in four steps. The first two seek to clarify existing concepts by introducing important distinctions. Firstly, I distinguish between three understandings of the “human right to immigrate”, stretching from an absolute right at one end of the spectrum to, at the other, the modest claim that every restriction of free movement requires some justification. Secondly, I introduce the ideas of ideal and non-ideal theory, and I claim that the right to immigration, as it is propounded kret bedeuten könnte, die Interessen der Nicht-Wahlberechtigten fair zu berücksichtigen, habe ich in einer Hinsicht in Hoesch (Fn. 26), 15 – 29 diskutiert. 52 Für wertvolle Hinweise danke ich den Teilnehmern des Forschungskolloquiums am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und Andreas Cassee.

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by most authors, does not permit any conclusions applicable to non-ideal theory and yet cannot be applied without further reasoning to current politics. In the final two steps, I address common arguments in favour of a human right to immigration. Thus in the third step, I explore the “cantilever argument” for open borders with the aim to cast doubt on the view that we should understand open borders as a human right in the sense that this right must be given high priority balanced against competing normative reasons. Fourthly, I also show that Joseph Raz’s conception of autonomy can be used to support only the modest claim that every restriction of movement requires some justification.

Philanthropie und Weltbürgerrecht angesichts existenzieller Bedrohung: Flüchtlingsschutz als Tugendpflicht, Rechtspflicht und Menschenrecht bei Kant Rainer Keil

I. Einleitung Hilfe in der Not ist es, was sich aufdrängt,1 wenn angesichts existenzieller Bedrohungen, die Menschen zur Flucht bewegen, in ethischer Perspektive die Ärmel hochgekrempelt werden. Auch in der politisch-philosophischen 2 und rechtsphilosophischen3 Diskussion wird der Umgang mit Flucht häufig als Frage humanitärer Hilfspflichten diskutiert, wenn nicht ein besonderes Näheverhältnis,4 etwa wegen zurechenbarer Mitverursachung von Gründen der Flucht,5 eine spezifische Verantwortung oder Pflicht zur Wiedergutmachung6 nahe legt. In deutlichem Unterschied hierzu behandelte Immanuel Kant7 Fragen der Freizügigkeit und der Grenzen der Möglichkeit, Fremde abzuweisen, nicht bei ethi1  Matthias Hoesch, Allgemeine Hilfspflicht, territoriale Gerechtigkeit und Wiedergutmachung: Drei Kriterien für eine faire Verteilung von Flüchtlingen – und wann sie irrelevant werden, in: Thomas Grundmann / Achim Stephan (Hrsg.), Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? Philosophische Essays, Stuttgart: Reclam, 2016, S. 15 – 29, insbes. 17 – 19; Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2017, S. 144; Peter Singer, One World Now, The Ethics of Globalizaion, New Haven u. a.: Yale University Press 2016, S. 179 f., Marcel Twele, von Menschenrechten und Hilfspflichten, in: Grundmann / Stephan (a. a. O.), S. 30 – 44; Simeon Imhoff, Über Hilfe und Aufnahme. Zwei Pflichten und ihre Grenzen, in: Grundmann / Stephan (a. a. O.), S. 110 – 119; Norbert Paulo, Mehr Citoyens! Über die Bedingungen der Möglichkeit: Wie viele Flüchtlinge können wir aufnehmen?, in: Grundmann / Stephan, a. a. O., S. 120 – 132, 125 f. 2  Michael Walzer, Spheres of Justice. 1983, S. 51; dt. Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/ New York: Campus Verlag, Neuauflage 2006, S. 92; vgl. ferner die Fundstellen in Fn. 1. 3  Marcel Twele (Fn. 1), S. 34 f.: „Asylrecht“, „Anspruch auf Asyl“. 4  Michael Walzer (Fn. 2) eng. S. 49; dt. S. 89. 5  Michael Walzer (Fn. 2) eng. S. 49; dt. S. 89; Joseph H. Carens, The Ethics of Immigration, Oxford: Oxford University Press, 2015, S. 195 formuliert drei Kategoprien ethischer Gründe für Aufnahmepflichten: „causal connection, humanitarian concern, and the normative presup­ positions of the state system.“ 6  Matthias Hoesch (Fn. 1), S. 21 f. 7 Kants Schriften werden wie folgt abgekürzt zitiert: Gemeinspruch = Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; Grundle­ gung = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Idee = Idee zu einer allgemeinen Geschichte

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schen Hilfspflichten, sondern beim Weltbürgerrecht. Ein genuin menschenrechtlicher8 Ansatz führte ihn zu einem zurückhaltend, aber klar formulierten Verbot des Refoulement existenziell Gefährdeter. Im Folgenden soll versucht werden, die Bedeutung einerseits ethischer Hilfspflichten und andererseits praktisch-philosophischer Forderungen an das Recht bei Kant für den Umgang mit der Flüchtlingsproblematik fruchtbar zu machen. Kant betont zu Beginn seiner Erörterung des Umgangs mit Fremden: „Es ist hier … nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede“.9 Fern einer Abwertung humanitärer Einstellungen, spricht er damit die mit einer Forderung an das Recht einhergehende konkretere, handlungsbezogene Bindung an. Um dies zu zeigen, soll zunächst auf Struktur und Verortung von Hilfspflichten in der Ethik (II) eingegangen werden. Hiernach wird Kants menschenrechtlicher Ansatz (III) in den Blick genommen. Dazu gehören der Platz des Weltbürgerrechts im Recht (III.1), der Rechtsbegriff und das mit ihm aufgeworfene moralische Problem (III.2 und 3), Kants Vorschlag zum Umgang damit (III.4 – 8) und dessen spezifische Relevanz für Flüchtlingsschutz (III.9 – 12). Rückkoppelung des Ergebnisses und Konfrontation mit Einwänden (IV) legt eine Konvergenz des ethischen Gedankens humanitärer Hilfe mit dem weltbürgerrechtlichen einer solidarischen Kooperation bei der Meisterung von Flüchtlingsproblemen nahe (V), um subsidiären Menschenrechtsschutz ermöglichen, bestenfalls unnötig machen zu können. in weltbürgerlicher Absicht; KrV = Kritik der reinen Vernunft; MdS = Metaphysik der Sitten; MdS/RL = MdS, erster Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; MdS/TL = MdS, Zweiter Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre; StrF = Streit der Fakultäten; ZeF = Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Kants Schriften werden nach der Werkausgabe Wilhelm Weischedels (abgekürzt W) zitiert. Eine römische Ziffer gibt den Band besagter Werkausgabe an, auf die die Seitenzahl in ihr und jene der ersten Auflage (A) und bei einigen Schriften auch jene der zweiten Auflage (B) folgt, wie sie in dieser Ausgabe zu finden ist. Bd. III und IV sind nach der 13. Aufl. 1995, Bd. VII nach der 13. Aufl. 1996, Bd. VIII ist nach der 1. Aufl. 1977, Bd. XI nach der 10. Aufl. 1993 zitiert. Soweit auf Kants gesammelte Schriften in der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften – jetzt: Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften –, zu finden unter http://korpora.zim. uni-due.de/Kant/verzeichnisse-gesamt.html (Aufruf 9. 6. 2017), zurückgegriffen wird, wird nach „AA“ mit römischen Ziffern der Band dieser Ausgabe, dann arabisch die Seitenzahl angegeben. Wenn Fundstellen sowohl aus der Weischedel- als auch der Akademie-Ausgabe zitiert werden, orientieren sich Orthographie und Zeichensetzung an Weischedel. 8  Vgl. zu menschenrechtlichen Ansätzen z. B. Theodor Veiter, Asylrecht als Menschenrecht, Wien u. a.: Braumüller, 1969; Reinhard Marx, Eine menschenrechtliche Begründung des Asylrechts, Baden-Baden: Nomos 1984; Ernst Tugendhat, Asyl: Gnade oder Menschenrecht?, in: Barwig / Mieth (Hrsg.), Migration und Menschenwürde, Mainz: Matthias Grünewald-Verlag 1987, S.  76 – 82; Rainer Keil, Asyl als Menschenrecht, in: Markus Krajewski u. a. (Hrsg.), Gesellschaftliche Herausforderungen des Rechts. Gedächtnisschrift für Helmut Rittstieg, Baden-Baden: Nomos, 2015, S. 163 – 214; Dagmar Richter, Quasi-Asyl als Menschenrecht, in: Marc Bungenberg u. a. (Hrsg.), Asyl und Migration in Europa – rechtliche Herausforderungen und Perspektiven, ZEuS-Sonderband, Baden-Baden: Nomos 2016, S. 51 – 91; Hendrik Cremer, Menschenrecht Asyl, APUZ 66 (2016), Nr. 10 –11, S. 40 – 44. 9  Kant, ZeF, W XI 213, A 40, B 40, AA VIII 357 f.; ähnl. MdS/RL, W VIII, 475, A 229, B 259, AA VI, 352.

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II. Humanitäre Hilfspflicht in der Ethik 1. Humanitäre Hilfe als ethische Pflicht Kant behandelt Hilfspflichten im zweiten Band der Metaphysik der Sitten, den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, der Abhandlung zur „Ethik“10 im engeren Sinne. Zur Philanthropie, tätigen Menschenliebe,11 zählt er zum Beispiel die mitmenschliche Pflicht, Menschen in Not zu helfen,12 jene zur Dankbarkeit,13 zur Kultivierung14 und zum Gebrauch einer humanitären15 Empfindung der Teilnahme an Leid und Freude anderer. Philanthropie betrifft die Stärke der sittlichen Gesinnung, die „Tugend (virtus, fortitudo moralis)“.16 Sie ist ethische17 Pflicht.18 Wenn bei Kant der „Pflichtbegriff … der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz“19 ist, so bedeutet der angesprochene Zwang in der Ethik „keinen anderen als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein)“.20 Der Mensch wird als „freies (moralisches) Wesen“21 mit Blick „auf die … Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen“.22 Eine Tugendpflicht ist eine materiell-ethische Pflicht: ein Zweck, als „Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird)“.23 2. Die Pluralität ethischer Zwecke und Unvollkommenheit ethischer Tugendpflichten Zwar gibt es nur eine einzige ethische Pflicht, die „das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung“ betrifft24 und ausnahmslos25 gilt: jene, sich, auch gegen Widerstand,26 durch Vernunftgründe motivieren zu lassen.27 Aber der Tugendpflich  Kant, MdS/TL, W VIII, 503, A III, AA VI, 375.   Kant, MdS/TL, W VIII, 586, A 119, AA VI, 450. 12  Kant, MdS/TL, W VIII, 589, A 124, AA VI, 453. 13  Kant, MdS/TL, W VIII, 592, A 127, AA VI, 455. 14  Kant, MdS/TL, W VIII, 595, A 131, AA VI, 457. 15  Kant, MdS/TL, W VIII, 593, A 130, AA VI, 456. 16  Kant, MdS/TL, W VIII, 509, A 4, AA VI, 380. 17  Kant, MdS/RL, W VIII, 475, A 229, B 259, AA VI, 352. 18  Kant, MdS/TL, W VIII, 587, A 120, AA VI, 450. 19  Kant, MdS/TL, W VIII, 508, A 2, AA VI, 379. 20  Kant, MdS/TL, W VIII, 509, A 3, AA VI, 379. 21  Kant, MdS/TL, W VIII, 509, A 3, AA VI, 379 f. 22  Kant, MdS/TL, W VIII, 509, A 3, AA VI, 380. 23  Kant, MdS/TL, W VIII, 514, A 11, AA VI, 384. 24  Kant, MdS/TL, W VIII, 512, A 8, AA VI, 383. 25  Kant, MdS/TL, W VIII, 512, A 8, AA VI, 383: „für alle Handlungen gültig“. 26  Kant, MdS/TL, W VIII, 525, A 28, AA VI, 394. 27  Kant, MdS/TL, W VIII, 512, A 8, AA VI, 383: „tugendhafte Gesinnung“. 10 11

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ten, anzustrebender Zwecke, „gibt es mehrere“.28 In der Ethik, die sich nicht unmittelbar auf Handlungen, sondern auf Maximen, subjektive Handlungsgrundsätze, bezieht,29 führt dies zur „Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere“,30 zu nur „unvollkommenen Pflichten“31 mit lediglich „weiter … Verbindlichkeit“32 „zur Handlung“,33 mithin dazu, dass „es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angegeben werden könne, wie und wieviel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle.“34 Die Erfüllung einer solchen Pflicht ist verdienstlich, ihre Nichterfüllung dagegen nicht vorwerfbar, es sei denn, Handelnde hätten sich grundsätzlich gegen die Orientierung an ethischen Pflichten entschieden.35 So ist auch der Gebrauch der „Mittel zur Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens … eine besondere, obzwar nur bedingte (…) Pflicht, unter dem Namen der Menschlichkeit (humanitas)“.36 Die in der aktuellen Debatte oft geltend gemachte Begrenztheit37 von Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen hat hier ihre systematische Wurzel, wenn sie nicht die untugendhafte Bequemlichkeit, sich auf das lästige Problem nicht einlassen zu wollen, rationalisiert. Peter und Renata Singer gingen hier weiter. Sie argumentierten38 nicht nur, darin Kants Lehre zu den Hilfspflichten nahe stehend, gegen einen Ansatz, wonach die Aufnahme Fremder in elender Lage ex gratia – ganz ohne Verpflichtung39 – erfolge, wie es 1637 der puritanische Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, John Winthrop, zur Verteidigung seiner restriktiven Aufnahmepolitik erwogen hatte, als er äußerte: „The churches take liberty … to receive or reject at their discrection; yea particular towns make orders to the like effect; why then should the common weale be denied the like liberty, and the whole more restrained than any parte? … If strangers have right to our houses or lands etc., then it is either of justice or of mercye; if of justice, then let them   Kant, MdS/TL, W VIII, 512, A 8, AA VI, 383.   Kant, MdS/TL, W VIII, 519, A 18 f., AA VI, 388 f. 30  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 20, AA VI, 390. 31  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 20 f., AA VI, 390. 32  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 20, AA VI, 390. 33  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 21, AA VI, 390. 34  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 20, AA VI, 390. 35  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 21, AA VI, 390. 36  Kant, MdS/TL, W VIII, 593, A 130, AA VI, 456. 37  U. v. a. etwa bei Julian Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 161. 38  Peter und Renata Singer, The Ethics of Refugee Policy, in: Mark Gibney (Hrsg.), Open borders? Closed societies? The ethical and poilitical issues, New York u. a.: Greenwood Press, 1988, S.  111 – 130, insbes. 116 – 121. 39  Peter Singer, Praktische Ethik, übersetzt von Oscar Bischoff, Jean-Claude Wolf und Dietrich Klose, 2. Auflage, Stuttgart: Reclam, 1994, Kapitel „Die drinnen und die draußen“ S. 313 – 334, 321. Das Kapitel ist in der 3. Auflage, Stuttgart: Reclam 2013 nicht mehr zu finden. 28 29

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plead it, and we shall know what to answer; but if it be only in the way of mercye …, then I answer …: a man is not a fit object of mercye except he be in miserye“.40

Sondern die Singers griffen auch die Ansicht an, wonach eine mögliche Rettung von Flüchtlingen zwar verdienstlich, ihr Unterlassen aber nicht vorwerfbar sei.41 Hilfe erfolge auf der Basis einer Verpflichtung.42 Dies steht im Kontext ihres an Abwägung der Interessen aller Betroffener orientierten Präferenz-Utilitaristismus43 und der Vorstellung, dass eine solche Abwägung im konkreten Fall zu einer klaren Präferenz führt. Bei Kant entspräche das strukturell jener Situation, die sich beim Widerstreit moralischer Gründe nicht, wie es möglich wäre,44 als offen darstellt, sondern in der sich die Präferenz für eine bestimmte Handlungsweise aufdrängt und gilt: Der „stärkere Verpflichtungsgrund behält den Platz“.45 Je mächtiger sich dies in der Perspektive Handelnder, die sich auf Gründe einlassen, zur Geltung bringt, desto klarer sind sie in der Pflicht, „desto vollkommener“46 ist diese, desto eher ist das Unterlassen einer Hilfeleistung vorwerfbar, weil es einer Entscheidung gegen Vernunftgründe überhaupt nahekommt. Wer etwa ohne spürbares Opfer helfen kann und hilft, handelt nicht eigentlich47 verdienstlich, sondern hat die erfüllte „Pflicht bloß als seine Schuldigkeit“48 zur Darstellung zu bringen. Einen Hinweis auf Kants Herangehensweise an das Verhältnis von Ethik und Recht, Hilfspflicht und Menschenrecht und den Gegenstand der aktuellen Diskussion um „care and human rights“49 gibt die Tatsache, dass Kant die Steigerung der Bestimmtheit auf eine vollkommene Pflicht hin mit einer zunehmenden Nähe zum Recht assoziiert: Je „näher er … die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung.“50 40  John Winthrop, Declaration in defense of an order of court made in May, 1637, etwa Juni 1637, in: Allyn Bailey Forbes (Hrsg.), Winthrop Papers, Bd. III - 1631 – 1637, Boston, Massachusetts: Merrymont Press, 1943, S. 422 – 426, 423 f. 41  Peter und Renata Singer (Fn. 38), S. 116. 42  Peter und Renata Singer (Fn. 38), S. 128; ähnlich Peter Singer (Fn. 39), 2. Aufl., S. 333. 43  Peter und Renata Singer (Fn. 38), S.121 f.; ähnlich Peter Singer (Fn. 39), 2. Aufl., S. 326. 44  Kant, MdS/TL, W VIII, 541, A 52 f., AA VI, 409; vgl. dazu Thomas E. Hill, Kant on imperfect duty and superrogation, Kant-Studien 62 (1971), S. 55 – 76, 59. 45  Kant, MdS/RL, W VIII, 331, A 24, B 24, AA VI, 224. 46  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 21, AA VI, 390. 47  Kant, MdS/TL, W VIII, 590, A 125, AA VI, 453: „fast nicht einmal … verdienstliche Pflicht“. Zur früheren Einordnung beim Recht Klaus Luig, Die „innoxia utilitas“ oder das „Recht des unschädlichen Nutzens“ als Rechtsprinzip im Zeitalter des Absolutismus, in: H. Neuhaus u. a. (Hrsg.), Festschrift für Johannes Kunisch, Berlin: Duncker & Humblot 2002, S. 251 – 266. 48  Kant, MdS/TL, W VIII, 590, A 125, AA VI, 453. 49 Vgl. Serena Parekh, Care and Human Rights in a Globalized World, The Southern Journal of Philosophy, Bd. XLVI (2008), S. 104 – 110; Marcel Twele (Fn. 1). 50  Kant, MdS/TL, W VIII, 520, A 21, AA VI, 390.

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Kant versucht dabei aber, entgegen derzeit gängigen Vorgehensweisen,51 nicht, aus einer ethischen Hilfspflicht heraus, etwa durch Zuspitzung auf einen Extremfall oder Ausscheiden alternativer Hilfsmöglichkeiten, ein Recht zu begründen, womit das Menschenrecht schon in seiner Begründung mit der wesentlichen Unvollkommenheit52 von Hilfspflichten belastet würde – die kürzlich als „Gesinnungsethik“53 diskreditierte „Umformulierung“ ethischer Hilfspflichten in „eine menschenrechtliche Schutzposition, die rechtlich umgesetzt werden muss“,54 wäre Kants Werk fremd. Gerade umgekehrt sieht er in der Unbedingtheit einer ethischen Forderung einen Hinweis auf eine strukturelle Nähe zu etwas ihr gegenüber Anderem: dem Recht. Das legt nahe, dass ihre Gestalt von dort her Dichte gewinnen und zur Konkretisierung gelangen kann. Recht ist darauf ausgerichtet, „strenge (präzis) bestimmend“ zu sein.55 Es gibt in einem spezifischen Sinne eine „Priorität des Rechts … aufgrund seiner Eigentümlichkeit, im Gegensatz zur Ethik ein ‚Pflichtgesetz für Handlungen‘ zu besitzen.“56 Selbst aus im engsten Sinne ethischer Sicht ist relevant, ob gerade rechtlicher Schutz geboten ist.57 III. Schutz vor Refoulement im Recht 1. Non-Refoulement als Weltbürgerrecht In der Schrift Zum ewigen Frieden lässt sich unter der Überschrift „Das Weltbürgerrecht soll auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“ ein Satz mit einschränkendem Nebensatz zum Refoulement-Verbot58 finden. Hier liegt der Grund für die Äußerung, Kant habe „den Kern der Genfer Flüchtlingskonvention von 195159 vorformuliert.“60 Er lautet: „Dieser kann ihn abweisen,

51  Marcel Twele (Fn. 1), S. 32 – 34; ähnlich Michael Walzer (Fn. 2) eng. S. 51; dt. S. 91 „im Extremfall … der Asylanspruch praktisch unabweisbar“. 52  Konrad Ott, Zuwanderung und Moral, Stuttgart: Reclam 2016, S. 20. 53  Konrad Ott (Fn. 52), S. 18 – 51. 54  Beide Zitate bei Konrad Ott (Fn. 52), S. 20. 55  Kant, MdS/TL, W VIII, 543, A 55, AA VI, 411, ähnlich MdS / RL, W VIII, 340, A 37 f., B 37, AA VI, 233. 56  Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 3. Auflage Paderborn: Mentis, 2007, A.III.2, S. 154. 57  Kant, MdS/RL, W VIII, 325, A 16 f., B 16 f., AA VI, 219 f. 58  Dana Schmalz, Der Flüchtlingsbegriff zwischen kosmopolitischer Brisanz und nationalstaatlicher Ordnung, Kritische Justiz 48, Heft 4 (2015), S. 390 – 404, 398. 59  Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Convention Relating to the Status of Refugees / Convention relative au statut des réfugiés) vom 28. 7. 1951, UNTS Bd. 189, S. 150, im Folgenden: GFK. Das Refoulement-Verbot ist in Artikel 33 GFK normiert, der territoriale und temporale Geltungsbereich der Konvention durch das New Yorker Protokoll (Protocol relating to the Status of Refugees   Protocole relatif au statut des réfugiés) vom 31. 01. 1967, UNTS Bd. 606, S. 267 erweitert worden.

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wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann“.61 Dem Satz geht folgende Formulierung voraus: „Es ist hier, wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.“62

Zugang zu ihr setzt voraus, dass wir Kants Verständnis des Rechts, insbesondere dessen Proprium innerhalb der praktischen Philosophie verstehen. 2. Kants theoretischer Rechtsbegriff und die Tatsache des Zwangs Joseph H. Carens fragt mit Blick auf Einwanderungswillige: „What justifies the use of force against such people?“63 – Was rechtfertigt die Anwendung von Zwang ihnen gegenüber? Er64 verknüpft so die Frage nach der Schließung und Öffnung von Grenzen – „On what moral grounds can we deny entry …?“65 – mit der ganz grundsätzlichen Frage nach Gründen für Kritik an oder Legitimation von Zwang. Diese Frage steht bei Kant im Zentrum66 praktischer Rechtsphilosophie überhaupt. Der „Begriff des Rechts“67 bezieht sich auf „das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander … Einfluß haben können.“68 „Facta“ sind hier nicht schon irgendwelche, nicht näher qualifizierten, empirischen Tatsachen, sondern – ganz wörtlich 60  Hanne-Margret Birckenbach, Citizenship oder Hospitalität. Was sind Weltbürgerrechte?, in: Ulrich Menzel (Hrsg.), Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen. Dieter Senghaas zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 2000, S. 262 – 290, 264; ähnlich Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, übers. F. Jakubzik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 44 f.; Pauline Kleingeld, Kant and cosmopolitanism: the philosophical ideal of world citizenship, Cambridge: Cambridge University Press, 2012, S. 77. 61  Kant, ZeF, W XI 213, A 40, B 40, AA VIII 358. 62  Kant, ZeF, W XI 213, A 40, B 40, AA VIII 357 f.; ähnlich Kant, MdS/RL, W VIII, 475, A 229, B 259, AA VI, 352. 63  Joseph H. Carens (Fn. 5), S. 225. 64  Ähnlich einerseits Christopher Heath Wellman, Freedom of Association and the Right to exclude, in: derselbe und Phillip Cole, Debating the Ethics of Immigration, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 13 – 155, 13, andererseits Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2016, S. 24; Phillip Cole, Open Borders: An Ethical Defense, in: Wellman / Cole (Hrsg), a. a. O., S. 157 – 313, insbes. S. 160. 65  Joseph H. Carens (Fn. 5), S. 225. 66  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.II.2, S. 102. 67  Kant, MdS/RL, W VIII, 337, A 32, B 32, AA VI, 230. 68  Kant, MdS/RL, W VIII, 337, A 32, B 32, AA VI, 230.

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als lateinisches Partizip Perfekt69 von facere: tun, handeln, im Plural – alle freien, selbstverursachten Handlungen.70 Thematisch betrifft Recht also jenen äußeren Freiheitsgebrauch, mit dem Personen einen äußeren Freiheitsgebrauch anderer Personen behindern: Zwang.71 Damit nahm Kant als theoretisches Begriffselement des Rechts das auf, was er dann im Rahmen eines praktisch-philosophischen Ansatzes als Problem der Kritik – Delegitimierung oder Begründung – bearbeitete. Anlass72 zu dieser Begrifflichkeit gibt eine existenzielle Tatsache, die Otfried Höffe wie folgt formulierte: „Weil und insofern Menschen zur gleichen Zeit denselben Wohnraum teilen, kommen sie nicht umhin, sich wechselseitig zu beeinträchtigen“,73 und zwar selbst dann, wenn ihre Gesinnung „gutartig und rechtliebend“74 ist. Die Möglichkeit wechselseitiger Beeinträchtigung und Freiheitsbeschränkung stellt „eine Zufälligkeit und ‚Naturvorgabe‘, die mit der … Koexistenz, dem ‚unvermeidlichen Nebeneinandersein‘ unvermeidlich mitgesetzt ist“,75 dar. Sie gehört zur „conditio humana“,76 angesichts derer das praktisch-philosophische Problem des Rechts sich stellt. Kant hat besonders entschieden über „Selbstsein des Menschen in seinen Grundbeziehungen nachgedacht“77 und den Grund gelegt für die Bearbeitung der „Aufgabe, aus diesen Grundbeziehungen ein Rechtsprinzip und also ein Gemeinschaftsverständnis zu gewinnen, in das das Selbstsein des Menschen integriert ist.“78 3. Die Realität von Zwang als Problem vernünftiger Praxis Im ersten Satz der Metaphysik der Sitten stellt Kant klar: Er baut sie mit ihrem ersten Teil, den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, auf die Kritik der praktischen Vernunft auf.79 Recht und Zwang interessieren als Aufgabe praktischer Philosophie.   Im Singular also: Getanes, Gehandeltes.   Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.I., S. 79. 71  Kant, MdS/RL, W VIII, 338 f., A 35, B 36, AA VI, 231. 72  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.II.2, S. 102. 73  Otfried Höffe, Zur vertragstheoretischen Begründung politischer Gerechtigkeit: Hobbes, Kant und Rawls im Vergleich, in: derselbe, Ethik und Politik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, S. 195 – 226, 208; ähnlich derselbe, Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, München 2012, Online-Ausgabe, 4. Teil, S. 225. 74  Kant, MdS/RL, W VIII, 430, A 162, B 192, AA VI, 312. 75  Otfried Höffe, Kants Kritik der praktischen Vernunft (Fn. 73), 4. Teil, S. 225. 76  Otfried Höffe, Der kategorische Rechtsimperativ. „Einleitung in die Rechtslehre“, in: derselbe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin: Akademie-Verlag, 1999, S. 41 – 62, 48. 77  Rainer Zaczyk, Selbstsein und Recht. Eine rechtsphilosophische Untersuchung, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2014, S. 30. 78  Rainer Zaczyk (Fn. 77), S. 30. 79  Kant, MdS/RL, W VIII, 309, A III, B III, AA VI, 205. 69 70

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Das ist problematisch.80 Denn praktische Philosophie befasst sich mit den „Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben … zu bestimmen.“81 Machte schon in der theoretischen Philosophie der „Begriff der Freiheit … den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen … Vernunft aus“,82 so ist nach der dortigen kopernikanischen Wende83 erst recht „seit Kant … im Praktischen Objektivität nur noch ausgehend vom Subjekt möglich,“84 das sich selbst auf der Basis von Vernunftgründen determiniert. Recht fragt dagegen gerade nicht nach der Motivation für seine Befolgung.85 Es ist mit Zwangsbefugnis verbunden und betrifft „bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit“.86 Die Rechtslehre scheint sich schon wegen ihres Gegenstands „nicht einzufügen“87 in das Programm praktischer Vernunftgesetzgebung. Wolfgang ­Kersting fragt: „Kann es überhaupt etwas Vernunftwidrigeres geben als Zwang?“88 4. Kants grundsätzliche Herangehensweise Untauglich wäre allerdings der Versuch, Recht insgesamt abzulehnen: Er käme dem Bemühen gleich, sich zur wechselseitigen Beeinträchtigung unter Menschen, die mit der gesellschaftlichen Existenz gegeben ist, nicht zu verhalten. Dies beinhaltete, als Kapitulation praktischer Philosophie vor der überall ersichtlichen Realität von Zwang, seinerseits ein Verhalten. So antwortete Kersting auf die von ihm aufgeworfene Frage: „Von der reinen praktischen Vernunft führt kein Weg zum äußeren Zwang, wohl aber vom äußeren Zwang zu den Bedingungen seiner moralischen Möglichkeit.“89 Ein dem Problem angemessener Umgang kann Kant nur gelingen, wenn er den Blick von der Beschreibung der Struktur des Rechts als vorgefundenen Phänomens abwendet und auf seine Gestaltbarkeit richtet. Mögliche oder tatsächliche empirische Regeln bloß angenommener Zwangsbefugnis – Gegenstand einer empirischen Rechtslehre als „Kopf, der … kein Gehirn hat“90 und Inbegriff des positiven 80  Marcus Willaschek, Why the Doctine of Right does not belong in the Metaphysics of Morals, Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 205 – 227. 81  Kant, KpV, W VII, 120, A 30 f., AA V, 15. 82  Kant, KpV, W VII, 107, A 4, AA V, 3 f. 83  Kant, KrV, W III, 24 f., B XV ff., AA III, 11 f. 84  Marietta Auer, Subjektive Rechte bei Pufendorf und Kant: Eine Analyse im Lichte der Rechtskritik Hohfelds, Archiv für die civilistische Praxis, 208 (2008), S. 584 – 634, 611. 85  Kant, MdS/RL, W VIII, 324, A 14 f., B 14 f., AA VI, 219. 86  Kant, MdS/RL, W VIII, 318, A 6, B 6, AA VI, 214. 87  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.II., S. 91. 88  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.II., S. 91. 89  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.II.2, S. 102. 90  Kant, MdS/RL, W VIII, 336,32, B 32I, AA VI, 230.

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Rechts –, interessieren nicht als solche, sondern als Problem, angesichts dessen sich die Frage praktischen Vernunftgebrauchs – „Was soll ich tun?“91 – konkretisiert. Sie lautet hier: Was ist für uns als an der Setzung zwangsbewehrter Normen beteiligte Personen zu tun? Kriterien zur Beurteilung von Regelungen positiven Rechts als „Recht“ oder „Unrecht (iustum vel iniustum)“92 sind relevant, sofern wir sie einführen, abschaffen oder gestalten können: als Kriterien einer „Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt“93 sowie sonst für „jeden Gesetzgeber“94 oder, ganz allgemein, für „die auf die Konstitution … gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht“.95 Wenn praktisch eingesetzte Vernunft darauf gerichtet ist, Gründe für die Bestimmung des Willens zu liefern, so zielt das beim Recht nicht direkt auf Normbefolgung, sondern auf die Struktur der Normsetzung: im Naturzustand auf die Orientierung an der „Idee eines a priori vereinigten (notwendig zu vereinigenden) Willens aller“,96 im bürgerlichen auf den Gesetze gebenden „vereinigten Willen des Volkes“.97 5. Vernunftprinzipien als Kriterien Aus der Vernunft lassen sich nicht unmittelbar konkrete Regelungen einer Rechtsordnung deduzieren.98 Sonst wäre kaum nachvollziehbar, dass, wie Kant betont, selbst als „gutartig und rechtliebend“ gedachte,99 von Vernunftgründen motivierte Menschen einer Rechtsordnung mit Entscheidungsorganen bedürfen.100 Schon in der auf Erkenntnis gerichteten theoretischen Philosophie war der – dort nur den Verstand auf ein Erkenntnisziel ausrichtende, regulative101 – reine Vernunftbegriff angewiesen auf die komplexe Vermittlung durch reinen Verstandesbegriff,102 empirischen Begriff und reine Anschauungsformen, um schließlich auf sinnliche Anschauungen bezogen werden zu können, und deren Subsumtion unter Begriffe setzte den Aufweis struktureller Parallelen im transzendentalen Schema voraus.103   Kant, KrV, W IV, 677, A 805, B 833, AA III, 522.   Kant, MdS/RL, W VIII, 336, A 32, B 32, AA VI, 229. 93  Kant, MdS/RL, W VIII, 464, A 212, B 241, AA VI, 340. 94  Kant, Gemeinspruch, W XI, 153, A 250, AA 297; ähnlich Kant, MdS/RL, W VIII, 336, A 32, B 32, AA VI, 230. 95  Kant, ZeF, W XI, 206, A 25, B 25, AA VIII, 352 unter Bezug auf W XI, 204, A 20 f., B 20 f., AA VIII, 350. 96  Kant, MdS/RL, W VIII, 375, A 87, B 86, AA VI, 264. 97  Kant, MdS/RL, W VIII, 432, A 166, B 196, AA VI, 313. 98  Rainer Zaczyk, Gerechtigkeit als Begriff einer kritischen Philosophie im Ausgang von Kant, in: H.-J. Koch u. a. (Hrsg.), Theorien der Gerechtigkeit, ARSP-Beih. 56 (1994), S. 105 –  122, insbes. 113 und 120. 99  Kant, MdS/RL, W VIII, 430, A 162, B 192, AA VI, 312. 100  Kant, MdS/RL, W VIII, 430, A 163, B 193, AA VI, 312. 101  Kant, KrV, W IV, 565, A 644, B 672, AA III 428. 102  Kant, KrV, W IV, 564, A 643, B 671, AA III 427. 91 92

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Erst recht lässt sich die praktisch gebrauchte Vernunft nicht unmittelbar empirisch als Handlung darstellen. Anders als beim theoretischen Gebrauch, erfüllen reine Vernunftbegriffe in der Praxis zwar eine konstitutive104 Funktion: Praktische Vernunft gibt sich ihre zu realisierenden Gegenstände selbst – aber „ohne sie doch näher bestimmen … zu können“.105 Indem sie ihre Relevanz fordert, verlangt sie, was sie selbst nicht leisten kann: den Begriff bestimmbar und anwendbar zu machen. Dies können Akteure dadurch schaffen, dass sie einen reinen Vernunftbegriff durch ein allgemeines Gesetz des Verstandes zur Darstellung bringen, und zwar als Kriterium106 der Annäherung an die Idee als Optimum.107 Kant legt also nicht eine „Ableitungsauffassung“,108 sondern eine „Kriteriumsauffassung“109 nahe. 6. Zentrale Kriterien des Rechts Kant formuliert solche Kriterien für unterschiedliche Gesichtspunkte. a) Allgemeines Rechtsgesetz und allgemeines Rechtsprinzip In objektiv110-systematischer Perspektive kennt er das allgemeine Rechtsgesetz: „Das Recht ist … der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“111

Mit Blick auf das subjektive-rechtliche112 „Vermögen, andere zu verpflichten“,113 formuliert er zunächst das allgemeine Rechtsprinzip114 aus: „Wenn also meine Handlung, oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut mir Unrecht, der mich daran hindert; denn dieses Hindernis (dieser Widerstand) kann mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen.“115   Kant, KrV, W III, 187 – 194, A 137 – 147, B 176 – 187, AA III, 133 – 139.   Kant, KpV, W VII, 268, A 244, AA V, 135. 105  Kant, KpV, W VII, 268, A 244, AA V, 135. 106  Kant, KpV, W VII, 188, A 122, AA V, 69. 107  Rainer Keil, Die Rechtsidee bei Kant. Zur moralischen Rechtfertigung und Beurteilung des Rechts notwendige Ergänzung des reinen Verstandesbegriffs des Rechts, in: Jochen Bung / Brian Valerius / Sascha Ziemann (Hrsg.), Normativität und Rechtskritik, ARSP-Beiheft 114, Stuttgart: Franz Steiner, 2007, S. 45 – 65, 58. 108  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.I., S. 81. 109  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.I., S. 81. 110  Otfried Höffe (Fn. 76), S. 54. 111  Kant, MdS/RL, W VIII, 337, A 33, B 33, AA VI, 230. 112  Marietta Auer (Fn. 84), S. 620. 113  Kant, MdS/RL, W VIII, 345, A 44, B 44, AA VI, 237. 114  Otfried Höffe (Fn. 76), S. 54. 115  Kant, MdS/RL, W VIII, 337, A 33, B 33 f., AA VI, 230 f. 103 104

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b) Das angeborene Recht als Menschenrecht Subjektiv-rechtlich ist aber vor allem das angeborene Recht116 formuliert, das im Kern folgenden Wortlaut hat: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“117

Kant entfaltet es mit Blick auf verschiedene Beziehungen als Recht auf Gleichheit, Eigenständigkeit, anfängliche Unbescholtenheit, darauf, gegenüber anderen das zu tun, was „an sich ihnen das Ihre nicht schmälert“,118 und auf Freiheit der Mitteilung von Gedanken.119 c) Das Postulat des öffentlichen Rechts Mit Blick auf das Erfordernis eines mit Entscheidungsorganen versehenen Status Civilis kennt Kant das „Postulat des öffentlichen Rechts …: du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen.“120

d) Der ursprüngliche Vertrag Schließlich formuliert Kant den in seiner kritischen Aufgabe davon deutlich zu unterscheidenden121 ursprünglichen Vertrag als Kriterium für die „Regierungsart“.122 Als Beurteilungsmaßstab dient er der Prüfung, ob rechtspolitische Akte so weit wie möglich die progressive Auflösung von Herrschaftsformen der „Untertänigkeit des Volks“123 und Annäherung an die Idee „der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik“124 bewirken, indem sie die „wahre Republik … als ein repräsentatives System des Volks“125 anstreben.   Marietta Auer (Fn. 84), S. 620.   Kant, MdS/RL, W VIII, 345, A 45, B 45, AA VI, 237. 118  Kant, MdS/RL, W VIII, 345, A 45, B 45, AA VI, 238. 119  Kant, MdS/RL, W VIII, 345 f., A 45 f., B 45 f., AA VI, 237 f. 120  Kant, MdS/RL, W VIII, 424, A 157, B 156, AA VI, 307. 121 Grundlegend Wolfgang Kersting, Kant und der staatsphilosophische Kontraktualismus, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8.1 (1983), S. 1 – 27. 122  Kant, MdS/RL, W VIII, 464, A 212, B 241, AA VI, 340. 123  Kant, MdS/RL, W VIII, 464, A 212, B 242, AA VI, 340. 124  Kant, MdS/RL, W VIII, 464, A 212, B 241 f., AA VI, 340. 125  Kant, MdS/RL, W VIII, 464, A 213, B 242, AA VI, 341. 116 117

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7. Weltrechtliche Tendenz der Kriterien: Recht auf globale Bewegungsfreiheit? Spezifischer mit Blick auf aufenthalts- und migrationsrechtliche Zusammenhänge lässt sich als „praktischer Vernunftbegriff“126 für die objektive, normativ-systematische Ausgangsposition ein „ursprünglicher Gesamtbesitz (communio possessionis originaria)“127 finden, mit dem sich Kant Vorstellungen früherer Autoren128 anschließt. Als subjektiv-rechtliches Pendant entsprechen dem zwei Forderungen: einerseits das ursprüngliche Recht aller Menschen, „da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat“129 als Argument für eine Art vertreibungsfeindliches Recht auf Heimat, andererseits die gegenläufige Gleichheit, die dafür spricht, dass „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat … als der andere.“130 Alle diese Formulierungen ursprünglicher Rechtsposi­ tionen, die einen kritischen Blick131 auf das jeweils durch Willkürakt132 geschaffene und erworbene133 geltende Recht erlauben, nehmen eine globale Perspektive ein. Dies gilt ähnlich für die anderen Kriterien. So ist das Postulat des öffentlichen Rechts im Ausgangspunkt nicht partikular verengt. Kant schreibt zu ihm 1797, dass „der Naturzustand der Völker, eben so wohl als der einzelner Menschen, ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten“.134 Hatte er dies 1795/1796 in der Friedensschrift noch anders formuliert, so ging es ihm dort nicht um das systematische Argument, sondern um manche seiner zuvor geltend gemachten Implikationen. Weil „die Vernunft … den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt“,135 sind bereits rechtlich verfasste Staaten „dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen“.136 Deshalb hat Kant für diesen Zusammenhang auch in der Rechtslehre „kein Erlaubnisgesetz der Vernunft zur Gewaltnah-

  Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 84, B 84, AA VI, 262.   Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 84, B 84, AA VI, 262. 128  So etwa Hugo Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625, ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Walter Schätzel, Tübingen: Mohr 1950, lib. II. cap. 2 § II, S. 246; Emer de Vattel, Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter, 1758, deutsche Übersetzung Wilhelm Euler, Tübingen: Mohr Siebeck, 1959, Buch II Kap. IX § 117, S. 238; auf beide nimmt Kant in anderem Zusammenhang Bezug: Kant, ZeF, W XI 210, A 33, B 33, AA VIII, 355. 129  Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 84, B 83, AA VI, 262. 130  Kant, ZeF, W XI 214, A 41, B 41, AA VIII 358. 131  Kant, MdS/RL, W VIII, 346, A 46 f., B 46 f., AA VI, 238. 132  Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 83, B 83, AA VI, 262. 133  Kant, MdS/RL, W VIII, 346, A 46, B 46, AA VI, 238. 134  Kant, MdS/RL, W VIII, 474, A 226, B 256, AA VI, 350. 135  Kant, ZeF, W XI 211, A 35, B 35, AA VIII 356. 136  Kant, ZeF, W XI 211, A 34, B 34, AA VIII 355 f. 126 127

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me zum Zwecke der Errichtung eines Weltstaates“137 formuliert, sondern das Konzept eines letztlich138 zwanglos abgeschlossenen Friedensbundes.139 Die globale Perspektive des Postulats des öffentlichen Rechts hin auf eine Weltrechtsordnung blieb von der Reduktion seiner Relevanz unberührt. Dieser Eindruck wird dadurch bekräftigt, dass er vom ursprünglichen Vertrag, dem Kriterium der Gerechtigkeit der Struktur einer – angesichts radikaler „Unbestimmtheit“140 eines philosophischen Rechtsbegriffs anzustrebenden – Rechtsordnung, schon im Kontext der Aufgabe der Bestimmung des ursprünglichen Erwerbs äußert: „wenn sie auch durch ursprünglichen Vertrag aufgelöset wird, so wird, wenn dieser sich nicht aufs ganze menschliche Geschlecht erstreckt, die Erwerbung doch immer nur provisorisch bleiben.“141 Gerade nicht wird bei Kant ein partikularistischer, von jeder moralischen Kontrahierungsverpflichtung freier Kontraktualismus – negative Assoziationsfreiheit – postuliert, wie ihn Christopher Heath Wellman kürzlich mit dem Ziel der Begründung eines Rechts auf Ausschluss einsetzte142 oder vor Kants Zeit der Gouverneur des puritanischen Massachusetts Winthrop im XVII. Jahrhundert formuliert hatte: „No common weale can be founded but by free consent. (…) If we heere be a corporation established by free consent, if the place of our cohabitation be our owne, then no man hath right to come into us etc. without our consent.“143

Sondern bei Kant ist „das kontraktualistische Argument … aus systematischen Gründen ein weltstaatsorientiertes, auf einen einzigen Staat zielendes Argument“,144 in dem erst „das jedem Menschen als Menschen zukommende Recht seine normativen Implikationen vollständig“ entfaltet.145 Dies spricht dafür, dass Kant eine weltrechtliche Perspektive vor Augen hatte, Forderungen nach Grenzöffnung und globaler Aufenthalts- und Bewegungsfreiheit146 sich mit einigem Recht 137  Wolfgang Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit. Kants Konzeption eines vollständigen Rechtsfriedens und die gegenwärtige politische Philosophie der internationalen Beziehungen, in: Reinhard Merkel / Roland Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 172 – 212, 183. 138  Nicht als Zwangsmittel (Kant, MdS/RL, W VIII, 475, A 228, B 258, AA VI, 252: „willkürliche … Zusammentretung“) für seine Durchsetzung, sondern nur bei der Annäherung an das Ziel innerhalb des Naturzustands sieht Kant, MdS/RL, W VIII, 467, A 217, B 247, AA VI, 344 Krieg vor. Dies übergehen mit ihrer systematisch klareren Sicht B. Sharon Byrd und Joachim Hruschka, Kant’s Doctrine of Right, Cambridge: Cambridge University Press, 2010, S. 195 f. 139  Kant, ZeF, W XI 211, A 35, B 35, AA VIII, 356; Kant, MdS/RL, W VIII, 474 f., A 227 f., B 257 f., AA VI, 350 f. 140  Kant, MdS/RL, W VIII, 377, A 90, B 90, AA VI, 266. 141  Kant, MdS/RL, W VIII, 378, A 90, B 90, AA VI, 266. 142  Christopher Heath Wellman, Freedom of Association and the Right to exclude (Fn. 64). 143  John Winthrop (Fn. 40), S. 423. 144  Wolfgang Kersting (Fn. 137), S. 180. 145  Wolfgang Kersting (Fn. 137), S. 180.

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auf Kant berufen können: jedenfalls Rechtfertigungsbedarf auch gegenüber Abgewiesenen besteht.147 8. Ablehnung des Weltstaats als seelenlosen, alternativlosen Despotismus Aber anders als noch 1784148 und obwohl er die damals betonten systematischen und friedenspolitischen Gründe weiterhin anerkannte, lehnte Kant zuletzt eine Organisation globaler Entscheidungsbefugnis mit Verbindlichkeit gegenüber partikularen Staaten unmissverständlich ab. Er assoziierte mit dem Weltstaat die „in eine Universalmonarchie übergehende Macht“.149 Es war ihm ein „seelenloser Despotism“150 „auf dem Kirchhofe der Freiheit“,151 was mit der Errichtung des Weltstaats einhergehen musste – ehe die Weltrechtsordnung an Nachdruck einbüße und „zuletzt doch in Anarchie verfällt.“152 Kant stellte sich vor, ein solcher Völ­kerstaat und der darin zu fordernde Schutz von Rechten sei angesichts der Größe empirisch „unmöglich“.153 Konkrete Möglichkeiten der Bürgerschaft, sich selbst als politisch verantwortlicher Akteur und Autor154 von Gesetzen wahrzunehmen, mussten in einem solch komplexen Gebilde minimal sein. Nicht der Schutz einer als intrinsisch wertvoll gedachten kulturell-homogenen Eigenart,155 sondern die im XVIII. Jahrhundert auch sonst betonte „Relevanz der Größenfrage für die Kon­struktion demokratischer Verfassungen“,156 und zwar nicht allein als „Problem schierer Größe, sondern … Problem der politischen Qualität“,157 dürfte Kant bewogen ha146  Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2016; Kieran Oberman, Immigration as a Human Right, in: Sarah Fine / Lea Ypi (Hrsg.), Migration in Political Theory: The Ethics of Movement and Membership, Oxford: Oxford Scholarship Online, März 2016, Kapitel 3; Joseph H. Carens, Aliens and Citizens: The Case for Open Borders, Review of Politics, 49/2 (1987), S. 251 – 273; Roger Nett, The Civil Right We Are Not Ready For: The Right of Free Movement of People on the Face of the Earth, Ethics 81/3 (April 1971), S. 212 – 227, 218. 147  Arash Abizadeh, Democratic Theory and Border Coercion. No Right to Unilaterally Control Your Own Borders, Political Theory 36/1 (2008), S. 37 – 65. 148  Siebenter Satz bei Kant, Idee, W XI, 42, A 399, AA VIII, 24 f. 149  Kant, ZeF, W XI, 225, A 62, B 63, AA VIII, 367. 150  Kant, ZeF, W XI, 225, A 62, B 63, AA VIII, 367. 151  Kant, ZeF, W XI, 226, A 63, B 64 f., AA VIII, 367. 152  Kant, ZeF, W XI, 225, A 62, B 63, AA VIII, 367. 153  Kant, MdS/RL, W VIII, 474, A 227, B 257, AA VI, 350. 154  Julian Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 164 f. 155  David Miller, Is There a Human Right to Immigrate? in: Sarah Fine / Lea Ypi (Hrsg.), Migration in Political Theory: The Ethics of Movement and Membership, Oxford: Oxford Scholarship Online, März 2016, Kapitel 2. 156  Stefan Oeter, Internationale Organisation oder Weltföderation? Die organisierte Staatengemeinschaft und das Verlangen nach einer ‚Verfassung der Freiheit‘, in: Hauko Brunkhorst und Matthias Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 208 – 239, 215.

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ben, den Weltstaat abzulehnen. Hannah Arendt malte später in ihrer Totalitarismus-Schrift in dunkelsten Farben aus, wie ein Weltstaat Kants „schrecklichsten Despotismus“158 dadurch zur Anschauung bringen könnte, dass ein „bis ins letzte durchorganisiertes, mechanisiertes Menschengeschlecht … durch Majoritätsbeschluß … entscheidet, daß es für die Menschheit im ganzen besser ist, gewisse Teile derselben zu liquidieren“.159 Benhabib betont als demokratischen Einwand160 die für eine zentralisierte Regierung viel zu große Komplexität und zieht ihr mannigfaltige „demokratische Iterationen“ vor.161 Nicht ganz klar geht aus Kants Texten hervor, ob er neben der Komplexität und Größe des Weltstaats auch die mit ihm auf bestimmter Ebene verbundene Aufhebung der Staatenpluralität als Problem für Freiheit ansah. Die Wortwahl „Universalmonarchie“162 für die abgelehnte Herrschaftsform, welcher er das Bild vom Gleichgewicht und „lebhaftesten Wetteifer“163 gegenüberstellte, mag darauf hindeuten. Benedict Vischer machte kürzlich geltend, der fortlaufende geschichtliche Prozess der Universalisierung müsse offen bleiben für bisher ausgeschlossene Ansprüche und sei angewiesen auf die konkrete Darstellung des Anderen in seiner Diversität.164 Diese These kommt der bei Kant auffallenden Öffnungs- oder Offenhaltungsfunktion des weltbürgerlichen Gedankens entgegen. Ginge es Kant auch um Staatenpluralität, dann hätte auch hier Hannah Arendt Kants vorsichtige Andeutungen mit grellen Farben zu einem für das Thema dieses Aufsatzes relevanten Bild ausgemalt: Einen Teil dessen, was auch ihr den Weltstaat als „wohl das tyrannischste Gebilde …, das sich überhaupt denken“165 lasse, erscheinen ließ, sah sie im Wegfallen institutionell und territorial repräsentierter politischer Alternativen und in existenziellen Konsequenzen für die Einzelnen: darin, dass der Weltstaat die letzte Instanz im einen Staat „monopolisiert“166 und es „vor dessen Weltpolizei … dann auf der ganzen Erde kein Entrinnen mehr geben würde“.167 Die Behauptung, Territorialität168 und Souveränität partikularer Staaten seien Voraussetzung von Asyl,169 hat hier ihren systematischen Grund.   Stefan Oeter (Fn. 156).   Kant, Gemeinspruch, W XI, 169, A 279, AA VIII, 311. 159  Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 8. Auflage, München: Piper 2001, Kap. 9, Aporien der Menschenrechte, S. 618. 160  Seyla Benhabib (Fn. 60), S. 111 – 115. 161  Seyla Benhabib (Fn. 60), S. 114. 162  Kant, ZeF, W XI, 225, A 62, B 63, AA VIII, 367. 163  Kant, ZeF, W XI, 226, A 63, B 65, AA VIII, 367. 164  Benedict Vischer, Systematicity to Excess. Kant’s Conception of the International Legal Order, in: Stefan Kadelbach / Thomas Kleinlein / David Roth-Isigkeit (Hrsg.), System, Order, and International Law. The Early History of International Legal Thought from Machiavelli to Hegel, Oxford: Oxford University Press, 2017, S. 303 – 328, 324. 165  Hannah Arendt, Interview durch Adalbert Reif, in: dieselbe, Macht und Gewalt, 14. Auflage, München: Piper, 2000, S. 105 – 133, 131. 166  Hannah Arendt (Fn. 165). 157 158

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Festzuhalten bleibt: Gegenüber der systematischen Einheit des Rechts und Überwindung des zwischenstaatlichen Naturzustands, für die starke Gründe streiten, genoss für Kant das konkrete Zur-Geltung-Kommen öffentlicher und privater Freiheit, „die Struktur demokratischer Selbstorganisation … oberste Priorität.“170 9. Die Folge: Befugnis einseitiger Rechtssetzung – „Dieser kann ihn abweisen …“ Einstweilen bleibt es deshalb dabei, dass partikulare politische Strukturen einseitig über Einreise- und Aufenthaltsrecht zu entscheiden haben. Der – auf seine Überwindung angelegte – „Naturzustand der Völker“171 und die mit ihm gegebene Strukturanalogie zum Naturzustand der Individuen vor Bildung von Staaten legen nahe, dass Kant hier172 wie schon bei der privatrechtlichen Begründung des Sachenrechts davon ausgeht, dass der staatlichen Verfügungsbefugnis eine „provisorische dennoch wahre Erwerbung“173 zu Grunde liegt. Die Einseitigkeit der Besitznahme ohne institutionalisierte, alle einbeziehende Gesetzgebung konnte zwar nur dann die „Idee des eines a priori vereinigten … Willens aller“174 zur Darstellung bringen, wenn sich als Darstellungsmittel ein Verstandesbegriff – allgemeines Gesetz – der Vereinigung der äußeren Freiheit jedes mit jener jedes anderen175 finden ließ. Aber Kant sah ein solches im Prioritätsgrundsatz der ersten Besitznahme.176 Der so begründete physische Besitz hat die „Präsumtion für sich ..., ihn, durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffent­ lichen Gesetzgebung, zu einem rechtlichen zu machen, und gilt in der Erwartung komparativ für einen rechtlichen.“177   Hannah Arendt (Fn. 165).   Anuscheh Farahat und Nora Markard, Forced Migration Governance: In Search of Sovereignty, German Law Journal 17, Heft 6, 2016, S. 923 – 947, 945; Klaus F. Gärditz, Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und Territorialität im Kontext, in: Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, Paderborn: Ferdinand Schönigh, 2016, S. 105 – 122, 114. 169  Paul Kirchhof, Staatliche Souveränität als Bedingung des Asylrechts, in: Georg Jochum / Wolfgang Fritzemeyer / Marcel Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers. Festschrift für Kay Hailbronner, Heidelberg: C. F. Müller, 2013, S. 105 – 121, 114. 170  Ingeborg Maus, Die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen. Oder: Die Transformation des Territorialstaats zur Demokratie, Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2001, S.  313 – 323, 321. 171  Kant, MdS/RL, W VIII, 474, A 226, B 256, AA VI, 350; ähnl. ZeF, W XI, 208, A 30, B 30, AA VIII, 354. 172  Kant, MdS/RL, W VIII, 474, A 227, B 257, AA VI, 350. 173  Kant, MdS/RL, W VIII, 375, A 87, B 87, AA VI, 264. 174  Kant, MdS/RL, W VIII, 375, A 87, B 86, AA VI, 264. 175  Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 85, B 84, AA VI, 263. 176  Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 85, B 84, AA VI, 263. 177  Kant, MdS/RL, W VIII, 367, A 75, B 75, AA VI, 257. 167 168

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Die Einseitigkeit178 der Besitzergreifung, für unseren Zusammenhang: der starke Anschein moralischer Willkürlichkeit179 und historischer Zufälligkeit180 mitgliedschaftlicher und territorialer Grenzen, ist also vergleichsweise und vorläufig vernünftiger als die einzige im Naturzustand denkbare Alternative völliger Rechtlosigkeit. Eine konkrete einseitige Entscheidung, einreisewillige Nicht-Staatsangehörige abzuweisen, kann hiervon, in Grenzen,181 abgedeckt sein. 10. Grenzen dieser Befugnis Aber die Argumente für ein Weltbürgerrecht sind zu stark, es ist, anders als noch 1793,182 in der Rechtslehre als eigener, neben Staatsrecht und Völkerrecht gestellter dritter Abschnitt183 des öffentlichen Rechts, viel zu prominent platziert, um nun als schwächerer Verpflichtungsgrund in einer Abwägung bloß verrechnet werden und per Saldo in seiner Relevanz kollabieren zu dürfen. Kant setzt „an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik … das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden“,184 sich ausdehnenden,185 konföderativen186 „Völkerbund[s]“,187 „den permanenten Staatenkongreß“,188 als am ehesten adäquate und machbare Realisierung der „Idee eines … öffentlichen Rechts der Völker“.189 Das legt es nahe, auch das Weltbürgerrecht der Individuen einstweilen vor allem kritisch und negativ relevant zu machen: als Reservoir für Gründe zur Mäßigung, ja zur Relativierung und Durchbrechung der Kompetenz partikularstaatlicher Organe, einseitig über Einreise und Aufenthalt zu entscheiden.190   Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 85, B 85, AA VI, 263.   Phillip Cole (Fn. 64), S. 178; John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge: Harvard University Press, 2002, S. 38 f. 180  Jürgen Habermas, Der europäische Nationalstaat – Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft, in: derselbe, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Auflage 1997, S. 128 – 153, 140; ähnlich Seyla Benhabib (Fn. 60), S. 97; Joseph H. Carens, Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten, in: Andreas Cassee und Anna Goppel (Hrsg.), Migration und Ethik, Münster: mentis, 2012, S. 23 – 46, 34; Norbert Paulo (Fn. 1), S. 124. 181 Überzeugend: Matthias Hoesch (Fn. 1), S. 19 f. 182  Kant, Gemeinspruch, W XI, 165 – 172, A 270 – 284, AA VIII, 307 – 313. 183  Kant, MdS/RL, W VIII, 475 – 477, A 229 – 232, B 259 – 262, AA VI, 252 f.; ähnlich Kant, ZeF, W XI, 213 – 217, A 40 – 46, B 40 – 46, AA VIII, 357 – 360. 184  Kant, ZeF, W XI, 213, A 39, B 39, AA VIII, 357. 185  Kant, ZeF, W XI, 213, A 39, B 39, AA VIII, 357. 186  Kant, MdS/RL, W VIII, 475, A 228, B 258, AA VI, 351. 187  Kant, ZeF, W XI, 209, A 30, B 30, AA VIII, 354. 188  Kant, MdS/RL, W VIII, 474, A 227, B 257, AA VI, 350. 189  Kant, MdS/RL, W VIII, 475, A 228, B 258, AA VI, 351. 190  Rainer Keil, Freizügigkeit, Gerechtigkeit, demokratische Autonomie. Das Weltbürgerrecht nach Immanuel Kant als Maßstab der Gerechtigkeit geltenden Aufenthalts-, Einwanderungs- und Flüchtlingsrechts, Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 43. 178 179

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a) Migrationsrecht: „Recht …, nicht feindselig behandelt zu werden“ „Hospitalität“ verbietet zunächst aufenthaltsrechtliche Feindseligkeiten zwischen Einreisewilligen und bereits Ansässigen. Das Weltbürgerrecht ist eingeschränkt „auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität“,191 also auf die Möglichkeit Fremder, einander mit Respekt als hospes, als Besucher und Besuchter, nicht als hostis, als angreifender oder abwehrender Feind, zu begegnen. Vermutlich spielte Kant hier auf eine Äußerung de Victorias192 aus dem Jahr 1539 an: „Es ist eine kriegerische Handlung, wenn man jemand gleichsam als Feind von einer Stadt oder seinem Land fernhält oder einen dort bereits Wohnhaften austreibt“, wenn von ihm kein Schaden ausgeht.193

Das dem widersprechende „inhospitale Betragen“194 sieht Kant in brutalen Kolonialisierungsbestrebungen seiner Zeit und damit einhergehenden Wanderungsbewegungen besonders deutlich dargestellt. Nur ein unter fairen Voraussetzungen ausgehandelter Vertrag mit den schon Ansässigen kann Ansiedelung rechtfertigen.195 Umgekehrt gibt es ein Recht aller, Kontakt aufzunehmen, um vielleicht auch einen Konsens über eine Ansiedelung anzubahnen, als Recht, „sich zum Verkehr untereinander anzubieten … und … den Versuch mit demselben zu machen, ohne daß der Auswärtige ihm darum als Feind zu begegnen berechtigt wäre.“196 Dies impliziert „das Recht des Erdenbürgers … alle Gegenden der Erde zu besuchen“.197 Dieses „Besuchsrecht“198 beinhaltet das Recht des aus der Fremde Ankommenden, „seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.“199 Auch dürfen Ansässige dem Fremden, „so lange er … auf seinem Platz sich friedlich verhält, … nicht feindlich begegnen.“200 Der Aufenthalt darf durch einseitige Entscheidung der bereits Ansässigen beendet werden. Aber das angeborene Recht Einwanderungswilliger, „das gegen andere zu tun, was an   Kant, ZeF W XI, 213, A 40, B 40, AA VIII, 357.  Zum Aufbau Kants auf Grundlagen, die de Victoria gelegt hatte, überzeugend Pauline Kleingeld, Kants politischer Kosmopolitismus, Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 333 – 348, 337, Fn. 13. 193  Franciscus de Victoria, De Indis Recenter Inventis Et De Iure Belli Hispanorum In Barbaros. Reflectiones. Vorlesungen über die kürzlich entdeckten Inder und das Recht der Spanier zum Kriege gegen die Barbaren, 1539, lateinischer Text nebst deutscher Übersetzung, Hrsg. Walter Schätzel, Tübingen 1952, Erste Vorlesung, Teil III Nr. 2, sechstens, S. 95. Für bereits Ansässige heißt es dort: „Die Ausweisung gehört zu den Hauptstrafen. Man darf daher nicht einen Fremdling, wenn er ohne Schuld ist, austreiben.“ 194  Kant, ZeF, W XI, 214, A 42, B 42, AA VIII, 358. 195  Kant, MdS/RL, W VIII, 477, A 231, B 261, AA VI, 353. 196  Kant, MdS/RL, W VIII, 476, A 230, B 260, AA VI, 352. 197  Kant, MdS/RL, W VIII, 476, A 230, B 260, AA VI, 353. 198  Kant, ZeF, W XI, 214, A 40, B 40, AA VIII, 358. 199  Kant, ZeF, W XI, 213, A 40, B 40, AA VIII, 358. 200  Kant, ZeF, W XI, 213, A 40, B 40, AA VIII, 358. 191 192

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ihnen das Ihre nicht schmälert“,201 die ursprüngliche Gleichheit, wonach „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat … als der andere“202 und die Friedensintention rechtlicher Hospitalität unter vernunftbegabten Menschen stärken argumentative Kritik an einer Abweisung, wenn die Entscheidung sich nicht auch gegenüber Abgewiesenen rechtfertigen 203 lässt. b) Existenziell Gefährdete: „ohne seinen Untergang“ Abgewiesen werden darf ein Fremder deshalb nur, „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann“,204 mit Arendt formuliert: wenn er nicht „den Standort in der Welt verliert, durch den allein er … Rechte haben kann“205 und mit ihm das „Recht, Rechte zu haben“.206 Droht die Abweisung – Zurückweisung an der Grenze (§ 15 Abs. 1 AufenthG), Zurückschiebung (§ 57 AufenthG), Ausweisung (§ 53 AufenthG), Abschiebung (§ 58 AufenthG), deren Androhung (§§ 59 AufenthG, 34 und 35 AsylG) oder Anordnung (§§ 58a AufenthG, 34a AsylG) – Menschen faktisch rechtlos zu stellen, so ist sie ihnen gegenüber schlechterdings nicht zu rechtfertigen. Denn in normativer Hinsicht ordnen partikulare politische Gebilde – Staaten oder supranationale Organisationen – anstelle des nicht existenten Weltstaats Rechte, zum Beispiel Aufenthaltsrechte, zu. Legitimität erfährt das partikulare Aufenthaltsrecht aus universalistischer Perspektive daraus, dass es dieser Aufgabe der Zuordnung und des Schutzes von Rechten gerecht wird, sich also der Gebrauch der Befugnis, einseitig über Aufenthaltsrechte zu entscheiden, möglichst optimal, zumindest aber überhaupt als Vereinbar-Machen der äußeren Freiheit jedes mit jener jedes anderen 207 verstehen lässt. Im Verhältnis zu Menschen, deren Existenz im Falle einer Abweisung gefährdet ist, kann dies selbst bei einem minimalistischen Verständnis nicht angenommen werden. Wenn das ursprüngliche Recht aller Menschen, „da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat“208 im konkreten Fall wegen drohender Gefahr nicht realisiert werden kann, muss relevant werden, dass „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat … als der andere.“209 Dies spricht für ein individuelles Menschenrecht auf Schutz vor Refoulement in solchen Fällen. Es schränkt die sonst legitime Verfügungsbefugnis der schon Anwesenden ein.210

  Kant, MdS/RL, W VIII, 345, A 45, B 45, AA VI, 238.   Kant, ZeF, W XI 214, A 41, B 41, AA VIII 358. 203 Vgl. Arash Abizadeh (Fn. 147). 204  Kant, ZeF, W XI, 213, A 40, B 40, AA VIII, 358. 205  Hannah Arendt (Fn. 159), Kap. 9, Aporien der Menschenrechte, S. 613, ähnl. Matthias Hoesch (Fn. 1), S. 20. 206  Hannah Arendt (Fn. 159), Kap. 9, Aporien der Menschenrechte, S. 614. 207  Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 85, B 84, AA VI, 263. 208  Kant, MdS/RL, W VIII, 373, A 84, B 83, AA VI, 262. 209  Kant, ZeF, W XI 214, A 41, B 41, AA VIII 358. 201 202

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11. Menschenrecht auf Non-Refoulement: Differenzierung nach Gefahrursachen? Kant unterschied nicht, wie vor ihm Grotius, zwischen Vertriebenen,211 Verbannten 212 und Asylbegehrenden,213 unter diesen auch nicht, wie Grotius, zwischen verdientermaßen und unverdientermaßen Verfolgten, von denen nur Letztere Schutz vor Auslieferung genießen sollten. Nicht differenzierte Kant ferner, wie das geltende Recht, zwischen politisch Verfolgten (Artikel 16a Absatz 1 GG), Menschen, die geflohen sind aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung (Artikel 1 A Absatz 2 GFK), solchen, deren Auslieferung214 oder Abschiebung215 wegen im Zielstaat zu erwartender Gefahren gegen das Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe oder gegen andere elementare Menschenrechte verstieße oder solchen, denen, etwa wegen Krankheit oder Schwangerschaft, nicht zielstaatsbezogene Gefahren drohen. Kant unterschied nicht zwischen Vorverfolgten und Réfugiés sur Place mit Nachfluchtgründen; schließlich auch nicht zwischen Bürgerkriegs- oder Kriegsflüchtlingen 216 und solchen, die vor gezielter Verfolgung flohen. Die enge Verknüpfung von Abschiebungsschutz mit Grundlagen der Legitimation von Staat und Recht überhaupt spricht dafür, dass das Refoulement eines Menschen bei beachtlichen Gefahren für Leib und Leben nie gerechtfertigt ist. Dies entspricht einem verbreiteten moralischen Flüchtlingsbegriff.217 Manches spricht allerdings dafür, dass bei anderen drohenden Beeinträchtigungen – etwa solchen der persönlichen Freiheit durch Haft, Verschwindenlassen, geduldetes Kidnapping – Differenzierungen nach Verfolgungsgründen erwägenswert sind. Selbst wenn sie sich ohne Gefahr der Folter, erniedrigender Behandlung oder Strafe oder des Todes vollzöge, legt es bei diesem gravierenden Eingriff und   Sogar bei Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 161 für den Fall der Todesgefahr zugestanden.   Hugo Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625, ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Walter Schätzel, Tübingen: Mohr 1950, lib. II. cap. 2 § XVI, S. 155. 212  Hugo Grotius (Fn. 211), lib. III. cap. 20 § XLI, S. 569. 213  Hugo Grotius (Fn. 211), lib. II. cap. 21 § V, S. 370. 214  EGMR, Urteil vom 07. 07. 1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Application no. 14038/88. 215 EGMR, Urteil vom 20.  03.  1991, Cruz Varas u.  a. gegen Königreich Schweden, Application no. 15576/89 u. v. a. 216  Nora Markard, Kriegsflüchtlinge, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012. 217  Andrew E. Shacknove, Who is a Refugee? Ethics, Bd. 95 Nr. 2, Januar 1985, S. 274 – 284, 277; ferner Alexander Betts, The Normative Terrain of the Global Refugee Regime, Ethics & International Affairs, 7. Oktober 2015, Abschnitt „Who to protect?“, https://www.ethicsandinternationalaffairs.org/2015/the-normative-terrain-of-the-global-refugee-regime/ (Aufruf: 4.  6.  2017); Matthias Hoesch (Fn. 1), S. 18; Marcel Twele (Fn. 1) S. 30; Nachweise zu Gegensichten bei Betts a. a. O. 210 211

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der mit ihm ohne rechtsstaatliche Absicherungen verbundenen Vernichtung „sozialer Existenz“218 die im Verfolgungsgrund manifest werdende willkürliche Diskriminierung nahe, gleichsam von einem rechtlichen Untergang zu sprechen. Die schwerwiegende Beeinträchtigung persönlicher Freiheit unter Anknüpfung an die Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, Mitgliedschaft in einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung markiert jene Ausgrenzung, die es nahe legt, Refoulement-Schutz zu gebieten. 12. Flüchtlingsschutz und staatsbürgerliche Gleichheit Teilweise wird gefordert, vor einem Bürgerkrieg geflohenen Personen grundsätzlich keine Integrationsperspektive zu eröffnen, da sie sonst auch nach Beendigung der fluchtverursachenden Umstände nicht zurückkehrten und in der Heimatregion fehlten.219 Problematisch werde dies „bei länger anhaltenden kriegerischen Konflikten.“220 Dagegen fordert Benhabib ein „Anrecht auf Zugehörigkeit des temporär Ansässigen als ein Menschenrecht“.221 Die GFK erleichtert anerkannten Flüchtlingen die Einbürgerung (Art. 34), sieht in wichtigen Bereichen eine Angleichung an den Status von Staatsangehörigen (Art. 20, 22 Abs. 1, 23, 24, 27, 28), in anderen Meistbegünstigung oder Diskriminierungsverbote (z. B. Art. 13, 17 – 19) vor. Kant forderte nur ein Besuchsrecht für Fremde, kein Gastrecht als Recht, sie „auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen“,222 für dessen Begründung „ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde“.223 Aber das dürfte mit Blick auf solche Fremden, deren Abweisung mangels Gefahr des Untergangs auch als rechtfertigbar in Betracht kommt, formuliert sein. Den Umgang mit anderen Fremden spricht Kant nicht an. Flüchtlinge haben keinen Staat, in dem sie staatsbürgerliche Rechte tatsächlich genießen können. Dies verträgt sich kaum mit der „Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen“.224 Das Menschenrecht ist ohne Bürgerrecht unvollständig, in gewisser Hinsicht sogar von ihm her begründet.225 Zum Prozess, in dem die Respublica Phae­ nomenon der Respublica Noumenon angenähert werden soll,226 gehört, wie Kant im Zusammenhang mit der nur akzidentiellen 227 passiven Staatsbürgerschaft äußert,   Vgl. BVerfGE 45, 187 (228).   Julian Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 119 f. 220  Julian Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 121. 221  Seyla Benhabib (Fn. 60), S. 51. 222  Kant, ZeF, W XI 213 f., A 40, B 40, AA VIII 358. 223  Kant, ZeF, W XI 213 f., A 40, B 40, AA VIII 358. 224  Kant, StrF, W XI, 364, A 154, AA VII, 90 f.; ähnl. MdS/RL, W VIII, 432, A 165 f., B 195 f., AA VI, 313 f. 225  Alexis Philonenko, L’Oeuvre de Kant. Tome II. Morale et politique, Paris: Vrin, 5. Auflage, 1997, S. 256. 226  Kant, StrF, W XI, 364, A 155, AA VII, 91. 218 219

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dass Menschen, die Gesetzen unterworfen sind, sie aber nicht mitsetzen können, ein Recht haben, „sich … aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor arbeiten zu können“.228 Sind Fluchtursachen nicht kurzfristig behoben, so kann die Aufnahmebürgerschaft dem kaum anders gerecht werden als durch zunehmende229 Einräumung quasi-staatsbürgerlicher Rechte, ehe schließlich die Einbürgerung in Betracht kommt. Im Zweifel von Kurzfristigkeit auszugehen, wenn die Dauer der Not völlig offen ist, stellt wegen der damit verbundenen Ausgrenzung eine feindselige Behandlung dar, die vor dem Kriterium rechtlicher Hospitalität keinen Bestand hat. IV. Kritische Einwände aus konsequentialistischer Perspektive 1. Kritik: Fluchtmöglichkeit untergrabe bürgerschaftliches Engagement Ein solcher Ansatz ist immer wieder Einwänden ausgesetzt. So mag man meinen, es nehme das Flüchtlingsrecht mit seinem Refoulement-Verbot teil an einer Variante der so genannten Tragik der Allmende,230 wenngleich kaum im Sinne der dunklen Szenarien, welche einst, unterkomplex generalisierend,231 die Lifeboat Ethics für Einwanderungsländer bei völlig unbegrenzter Armutsimmigration zu Grunde legte,232 vielleicht aber in dem Sinne, dass die Möglichkeit, ein begrenztes Gebiet, für das Menschen politisch mitverantwortlich sind, verlassen und sich so Folgen eigenen kollektiven Fehlverhaltens entziehen zu können, dessen Niedergang befördern könnte233 – auch in politischer Hinsicht. Indes sind Kenntnisse empirischer Daten zu politischen Folgen von Emigration dürftig und uneindeutig.234 Für die hier relevanten Konstellationen ist das Argu  Simone Goyard-Fabre, La philosophie du droit de Kant, Paris: Vrin, 1996, S. 195.   Kant, MdS/RL, W VIII, 434, A 168, B 199, AA VI, 315. 229  Vgl. grundsätzlich Anuscheh Farahat, Progressive Inklusion, Heidelberg u. a.: Springer, 2014. 230  Garret Hardin, The Tragedy of the Commons, Science 162, Heft 3859 (1968), S. 1243 –  1248. 231  Zur notwendigen Überwindung von Generalisierungen der Theorie Xavier Basurto und Elinor Ostrom, Beyond the tragedy of the commons, Economia delle fonti di energia e dell’ambiente Nr. 1, 2009, S. 35 – 60. 232  Garret Hardin, Lifeboat Ethics. The Case Against Helping the Poor, Psychology Today, September 1974, S. 38 – 43 und 123 – 126; vgl. jetzt wieder Marie-Luisa Frick, Wenn das Recht an Verbindlichkeit verliert und die Zonen der Unordnung wachsen, rettet uns keine kosmopolitische Moral, in: Thomas Grundmann / Achim Stephan (Hrsg.) (Fn. 1), S. 70 – 83, 78 f., für den Fall, dass Deutschland alle aufnehmen wollte, die dorthin auszuwandern wünschten; zur dort geforderten Lastenteilung s. u. Abschnitt V. 233  John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge: Harvard University Press, 2002, S. 39. 234  Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, Übersetzung: Klaus- Dieter Schmidt, München: Siedler Verlag, Februar 2016, Kap. 8. „Die politischen Folgen“, S.  191 – 206. 227 228

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ment zynisch. Es greift nicht, wo Betroffene bereits existentiell gefährdet sind oder eine Diktatur oder ein Bürgerkrieg keine konkreten Einflussmöglichkeiten bieten. Andernfalls aber werden Menschen kaum den politischen Niedergang ihres Landes deshalb unbekümmert befördern, weil sie hoffen dürfen, im schlimmsten Fall ihrer existenziellen Bedrohung an der Grenze nicht zurückgewiesen zu werden. 2. Kritik: Ungerechtigkeit, Fehlanreize und geringe Effektivität Auch erscheint das bloß negative Non-Refoulement Konsequentialisten oft als ungerecht. Es lasse sich nicht begründen, weshalb jemand, der es, gleichsam unter Umgehung der Warteschlange, auf das Territorium oder an die Grenze eines Staates geschafft habe, jenen gegenüber bevorzugt werde, die, weil sie dazu nicht im Stande seien, aus der Ferne einen Antrag auf Erteilung von Aufnahmedokumenten stellten.235 Nicht die Bedürftigsten, sondern diejenigen, die sich die Reise leisten könnten, würden geschützt. Anders als bei Resettlement- oder Sichtvermerksverfahren, Hilfe in Flüchtlingslagern nahe dem Herkunftsland oder als andere Hilfe vor Ort, schaffe Non-Refoulement Fehlanreize, die das Schlepperwesen, gefährliche und oft tödliche Reisen begünstigten, und es entstünden höhere Kosten als bei alternativen Vorgehensweisen.236 Non-Refoulement-Schutz belaste tendenziell vor allem die zufälligen Nachbarländer des Gefahrengebiets oder Küstenstaaten.237 Zu berücksichtigen seien die Tatsache einer menschlichen Disposition zur Xenophobie und deren steigende Relevanz bei einer Nähe vieler Flüchtlinge „zu Mitbürgerinnen, die häufig … selbst in prekären Verhältnissen leben“.238 Folgenüberlegungen sind auch in Kants Moralphilosophie bedeutend. Dass „ein strikter Kantianismus“ beispielhaft „für eine Gesinnungsethik“239 und Blindheit für Konsequenzen des Handelns sei, ist zumindest verkürzt: Schon begrifflich wären weder Kants ethische Hilfspflichten ohne Blick auf Folgen verständlich,240 noch wäre es der für die Rechtslehre zentrale Begriff der Willkür – der mit dem Bewusstsein des Vermögens „zur Hervorbringung des Objekts verbunden“241 ist –, 235  Peter und Renata Singer (Fn. 38), S. 119 f.; ähnlich und ausdrücklich auf Kant bez. Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 186. 236  Peter Singer, Escaping the Refugee Crisis, Project Syndicate 1. 9. 2015, https://www. project-syndicate.org/commentary/escaping-europe-refugee-crisis-by-peter-singer-2015-09 (Aufruf: 25. 05. 2017). 237  Alexander Betts (Fn. 217), Abschnitt „Who should host?“. 238  Konrad Ott (Fn. 52), S. 66. 239 Zitate bei Konrad Ott (Fn. 52), S. 8 f.; ähnl. Otto Depenheuer, Flüchtlingskrise als Ernstfall des menschenrechtlichen Universalismus, in: derselbe und Christoph Grabenwarter (Fn.  168), S.  18 – 35, 29  f. und Josef Isensee, Menschenwürde: Rettungsinsel in der Flüchtlingsflut?, in: Depenheuer u. a. (Fn. 168), S. 231 – 249, 241 f. 240  Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, Kapitel 7.2, S. 185.

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noch das, was argumentativ darauf aufbaut, wie die Missbilligung von Handlungen, die zum Rückfall in den Naturzustand oder zum Untergang eines Individuums führen. Unterscheidungen 242 ergeben sich daraus, dass moralische Grundsätze ihre Rechtfertigung nicht allein 243 oder primär aus Folgenüberlegungen erfahren und andere Gesichtspunkte bedeutender sein können. Konsequentialistische Argumente können deshalb auch im Rahmen eines Versuchs, Kants Überlegungen fruchtbar zu machen, nicht unbedacht ignoriert werden. Indes lassen sich die konsequentialistischen Argumente kaum zu einem für die Implementierung durch Verwaltung und Justiz hinreichend konkreten Rechtstext integrieren. Bei Aufnahmeanträgen aus aller Welt, die vielleicht an verschiedene Staaten gerichtet sind, ist der für die Aufnahme verantwortliche Staat schwer zu bestimmen; das Non-Refoulement-Prinzip gibt dagegen für die Feststellung der Verantwortlichkeit prima facie einen konkreten Anknüpfungspunkt (Territorium, Grenze, Schiff unter staatlicher Hoheitsgewalt). Die einst vertretene Ansicht, ein Menschenrecht auf Asyl sei nicht denkbar, weil die Verknüpfung zwischen Hilfsbedürftigkeit und ihrer Zurechnung zum Aufnahmestaat sich nicht für beide Seiten akzeptabel begründen lasse,244 beruht auf demselben Grund für die Entgrenzung: Wie Konsequentialisten die Asylproblematik als Frage des Unterlassens245 von Hilfeleistungen behandeln, so knüpfte auch Brugger nicht am aktiven Zwangsakt des Refoulement an und stand dann vor den hierauf beruhenden fundamentalen Unbestimmtheiten. Politik ist komplex und, ohne konkreten Druck, träge. Wirksame Beiträge vermögender Staaten zur Lösung von Problemen in Herkunftsstaat oder in benachbarten Flüchtlingslagern dürften noch unwahrscheinlicher werden, wenn das Recht auf Non-Refoulement der GFK mit Singer246 in Frage gestellt und jeweils durch eine umfassende politische Abwägung ersetzt würde. „Wohlwollen in der allgemeinen Menschenliebe ist … dem Umfange nach das größte, dem Grade nach aber das kleinste“.247 So droht eine utilitaristische Herangehensweise auch abgesehen von grundsätzlichen Bedenken248 gerade in den Konsequenzen das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn sie – in der Tradition von Benthams Ablehnung natürlicher Menschen- und Bürgerrechte als „nonsense upon stilts“249 – moralische Kritik

  Kant, MdS/RL, W VIII, 317, A 5, B 5, AA VI, 213.   Otfried Höffe (Fn. 240), Kapitel 7.4, S. 201. 243  Otfried Höffe (Fn. 240), Kapitel 7.2, S. 185. 244  Winfried Brugger, Für Schutz der Flüchtlinge – gegen das Grundrecht auf Asyl! Juristenzeitung 48 (1993), S. 119 – 123, 121. 245 Vgl. Alexander Betts (Fn. 217), Abschnitt „Who should host?“ 246  Peter Singer (Fn. 236). 247  Kant, MdS/TL, W VIII, 587, A 121, AA VI, 451. 248 Hierzu Otfried Höffe (Fn. 240), Kap. 6, S. 153 – 178; Joachim Hruschka, Utilitarismus in der Variante von Peter Singer, Juristenzeitung 56 (2001), S. 261 – 271; knapp: Julian Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 34 f. 241 242

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und Legitimation 250 von Rechten prinzipiell als rights based approach ablehnt251: Niedrigere Kosten der Hilfe vor Ort verlieren politisch an Bedeutung, wenn ohne Hilfe nicht mit höheren Kosten der Aufnahme zuhause ankommender Flüchtlinge zu rechnen ist. Die Rechtspflicht zur Nichtzurückweisung übt jenen Druck aus, der zur Beschäftigung mit Fluchtursachen und -wegen drängt, weil sie das wohlverstandene Eigeninteresse potentieller Aufnahmestaaten, ihren Teil beizutragen, konkret verdeutlicht. V. Konvergenz von Hilfspflicht und Weltbürgerrecht: kooperative Solidarität Der Schutz derer, die haben fliehen müssen, trägt entscheidend zur globalen politischen Stabilität bei. So begründet Alexander Betts ein internationales Sicherheitsinteresse an der Verfügbarkeit von Flüchtlingsschutz als globales öffentliches Gut, dessen völkerrechtliche Garantie auch Staaten vor Trittbrettfahrer-Staaten schützen soll.252 Als „blauäugig“253 erscheint einseitiges Vorgehen angesichts drohender Überforderung noch deutlicher denn kooperatives. Allgemeiner und rechtsspezifischer formuliert Kant: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde … durchgängig überhand genommenen … Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische … Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung … sowohl des Staatsals des Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in … Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“254

So ist für Kant die „Vernunftidee einer friedlichen … durchgängigen Gemeinschaft aller Völker …, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, … ein rechtliches Prinzip.“255 Diese Orientierung an quasi objektiven Zwecken findet in der Tugendlehre als subjektiver „Zwecklehre“ eine strukturelle Parallele.256 In der Sache liegt der Schlüssel zum Umgang mit der vermeintlichen Blick249  Jeremy Bentham, Anarchical fallacies, in: derselbe, The Works of Jeremy Bentham, Edinburgh: William Tait, 1838 – 1843. Band 2, S. 489 – 534, 501, http://oll.libertyfund.org/titles/ 1921#Bentham_0872 – 02_6149 (Aufruf 2. 6. 2017). 250  Peter Singer (Fn. 39), 2. Aufl., S. 130: gegen den „Begriff eines moralischen Rechts“. 251  Peter und Renata Singer (Fn. 38), S.121. 252 Überzeugend: Alexander Betts (Fn. 217), Abschnitt „Interests“. 253  Nida-Rümelin (Fn. 1), S. 118 zur Lastenteilung bei angenommenen 20 Mio. Flüchtlingen in der EU. 254  Kant, ZeF, W XI, 216 f., A 46, B 46, AA VIII, 360. 255  Kant, MdS/RL, W VIII, 475, A 229, B 259, AA VI, 352. 256 Zitat: Mary Gregor, Kants System der Pflichten in der Metaphysik der Sitten, in: Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Hrsg. Bernd Ludwig, Hamburg:

Philanthropie und Weltbürgerrecht angesichts existenzieller Bedrohung

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verengung der negativ konzipierten Rechtspflicht als „Unrechtsunterlassung“257 in der Einsicht, dass an moralischen Zwecken orientierte staatliche258 Aktivitäten das formal-moralische Erforderniss der „Rechtmäßigkeit“ als „conditio sine qua non … jeder Tugendhandlung“259 erfüllen müssen. Dies kann gelingen: Wo Hilfe­ leistungen die Beseitigung von Fluchtursachen im Herkunftsland, in unsicheren oder überforderten Drittstaaten, wo sie die Verbesserung unerträglicher, perspektivloser und sicherheitspolitisch bedenklicher Situationen in Flüchtlingslagern, die Rettung in Seenot geratener Menschen oder die Überwindung von Fehlanreizen ermöglichen, dort spricht dies für ihre Gebotenheit, sei es als Transferleistungen, Aufklärung, klug strukturierte Kontingentaufnahmen oder in anderer Weise. Aus Sicht einer kritischen Rechtslehre ist entscheidend, dass Hilfsleistungen nicht die Form einseitiger Zwangsbeglückung annehmen, sondern sich im „Verein einiger Staaten“260 auf Grund zwischenstaatlicher Vereinbarungen realisieren und betroffene Individuen als Rechtssubjekte zur Geltung kommen. Kant öffnet die Augen dafür, dass wohl nur eine behutsame aber engagierte und solidarische Praxis es überhaupt erlaubt, jenseits der evidenten Mindestanforderung des Non-Refoulement Verantwortlichkeiten zu bestimmen, Rechtssicherheit zu stärken, Lastenteilung gerechter und nachhaltiger zu gestalten und zu verhindern, dass wir in Überforderungssituationen das Weltbürgerrecht – als individuelles Menschenrecht wie als öffentlichen Status Civilis – ad absurdum führen oder zynisch einer enggeführten Staatsraison opfern. Summary Humanitarian aid is what appears to be on the agenda, when, from an ethical perspective, one looks at how to act in view of the existential threats that have made people flee. Apparently opposed to such approaches, Immanuel Kant treated immigration and issues of refugees, or, more precisely, of those, whose rejection of admission would endanger them existentially, as a matter of right. The article examines how Kant’s genuinely cosmopolitan human-right-approach to non-refoulement and migration issues in his Perpetual Peace and Doctrine of Right relates to his ethics as worked out in the Doctrine of Virtue. Ethical purposes and maxims are limited by competing ethical purposes and maxims. As opposed to Felix Meiner, 1990, S. XXIX – LXX, XL. Zur Menschheit als objektivem Zweck dort S. XXXI. Zu Begriff und Definition des objektiven Zwecks Kant, Grundlegung, W VII, 60 f., A 65 f., B 65 f., AA IV, 428 f. 257  Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.III.2, S. 147. 258  Vgl. dagegen zu bürgerlichem Ungehorsam Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 91 – 106; zu Widerstand bei „Staatszerstörung durch den Gewalthaber“ Wolfgang Kersting (Fn. 56), C.VI.1., S. 376. 259  Beide Zitate Wolfgang Kersting (Fn. 56), A.III.2, S. 152. 260  Kant, MdS/RL, W VIII, 474, A 227, B 257, AA VI, 350.

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this, the Doctrine of Right refers to external acts and to the reciprocal limitation of external spheres of freedom through acting and aims at precise determination. It critically looks at how we should deal with the fact of coercion in general and at borders in particular. The innate right of freedom as independence from being constrained by another’s choice insofar as it can coexist with everyone else’s freedom, leads, as the article shows, to the importance of democratic self-determination and the need of particular political entities with borders – but also to a cosmopolitan demand of their permeability and a right to non-refoulement with a corresponding perfect duty in cases of existential danger. Ethically demanded and politically stabilizing humanitarian aid is legitimized and limited by the requirement of mutual agreements and respect. No theoretical consideration, but only such a practical approach to the problem can enable us to determine prima facie unclear responsibilities, bring about reasonable burden sharing, fight incentives for smuggling and hopefully master what can definitely not be mastered otherwise.

Allokation von Flüchtlingsverantwortung* Anna Lübbe

I. Einleitung Die sog. Flüchtlingskrise ist eine Krise der Allokation von Flüchtlingsverantwortung. Einmal abgesehen von der Fluchtursachenbekämpfung,1 die zu Recht allseits angemahnt wird, aber jedenfalls keine raschen Resultate erwarten lässt, besteht hier der drängendste flüchtlingspolitische Weiterentwicklungsbedarf. Nicht nur europäisch, weltweit fehlt es an einer Verständigung auf angemessene Allokationsmechanismen. In dieser Lücke haben sich Abwehrstrategien etabliert, die wertvolle Ressourcen binden und den Allokationskonflikt tendenziell auf dem Rücken der Schutzbedürftigen austragen: Widerstände gegen die Aufgabe von Ratifikationsvorbehalten bzw. dagegen, sich der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) überhaupt anzuschließen, non arrival- und protection elsewhere-Strategien, Standardsenkungen bei Verfahren und Aufnahmebedingungen, Engführungen bei den relevanten Schutzbedarfen, Zurückhaltung bei der Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem Ausland und bei dauerhafter Ansiedlung und Integration bis hin zu Forderungen nach einer Abschaffung des Kernelements des klassischen Flüchtlingsschutzes – der Verpflichtung, ohne substanzielles Prüfverfahren keinen schutzsuchenden Menschen abzuweisen –, all das hängt insofern mit der Allokationsfrage zusammen, als es um die Abwehr von realen oder befürchteten Überlastungen geht. Unter einer kooperativen statt kompetitiven Verantwortungsverteilung könnte der Flüchtlingsschutz in geordnetere, humanere und weniger ressourcenintensive bzw. Ressourcen sinnvoller einsetzende Bahnen gelenkt werden – im Interesse der Schutzsuchenden und der Schutzstaaten. Im Folgenden soll zunächst dargestellt werden, was sich zur Zuordnungsfrage der GFK entnehmen bzw. nicht entneh*  Der Beitrag geht zurück auf Teile einer vorbereitenden Expertise für das Jahresgutachten 2017 des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), die die Autorin im August 2016 im Auftrag des SVR erstellt hat. Die Bearbeitung dieses Beitrags wurde im Dezember 2016 abgeschlossen, Links wurden zuletzt am 7. 12. 2016 aufgerufen. 1  Die systemische Breite des Problems macht deutlich Birckenbach, Nahost, Flüchtlingskrise und die EU, ZKM 2016, 29; zur (post)kolonialen Genese und Stabilisierung von (zwangs-) migrationsursächlichen Asymmetrien Buckel, „Welcome to Europe“. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts, 2013, 49 ff, 169 ff.

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men lässt und welche Folgen das in der Praxis nach sich zieht (II.). Anschließend werden Prinzipien benannt, an denen die Zuordnung von Schutzsuchenden zu Schutzstaaten sich orientieren sollte (III.). Anhand dieses Maßstabs werden dann verschiedene Allokationsmechanismen – freie Asylwahl, unilaterale Obergrenzen, Dublin-System, Dublin-Reform und globale Ansätze – diskutiert und bewertet (IV.).

II. Die GFK und das Allokationsproblem Die Frage, wer aus der GFK verpflichtet ist, scheint einfach zu beantworten – die Vertragsstaaten2 –, birgt aber Sprengstoff. Die GFK enthält, mit wenigen Ausnahmen,3 keine Bestimmungen darüber, welcher der Vertragsstaaten jeweils die Flüchtlingsverantwortung tragen soll. Der Notwendigkeit der Verantwortungsteilung war man sich allerdings bewusst, die Präambel mahnt zwecks Vermeidung unzumutbarer Belastungen für einzelne Staaten eine internationale Zusammenarbeit an. Aus dem Flüchtlingsbegriff der GFK lässt sich immerhin ableiten, dass sie nicht als völkerrechtliches Instrument konzipiert ist, das nur die Anrainerstaaten von Verfolgerstaaten (Erstaufnahmestaaten) in die Pflicht nimmt. Als Flüchtling ist nicht definiert, wer den Antragsstaat unmittelbar von einem Verfolgerstaat aus betritt,4 sondern wer sich irgendwo außerhalb seines Staatsangehörigkeitsstaates befindet und verfolgungshalber in seinen Staatsangehörigkeitsstaat nicht zurückgeschickt werden kann. Auf die Situation in Drittstaaten, auch solchen, die der Flüchtling auf der Flucht durchquert oder in denen er sogar schon einen Flüchtlingsstatus bekommen haben mag, kommt es für den Flüchtlingsbegriff der GFK – anders als für die Asylberechtigung nach dem Grundgesetz (Art. 16a II GG) – nicht an. Die GFK geht davon aus, dass Flüchtlinge die vorgesehenen Gewährleistungen im Zweifel dort erhalten, wo sie sie nachfragen. 2  UNHCR, Liste der Vertragsstaaten des Abkommens vom 28. Juli 1951 und / oder des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Stand: 23. Oktober 2014 (http://www.unhcr.de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/1_international/1_1_voelkerrecht/1_1_1/FR_int_vr_GFK-Liste_Vertragsstaaten.pdf). 3  Zuordnungsregeln sind insofern enthalten, als Schutzbedürftige, die innerhalb ihres Heimatstaates oder in einem Staat einer weiteren Staatsangehörigkeit Schutz finden können, vom Konventionsflüchtlingsschutz ausgenommen sind (Art. 1 (A) 2 GFK), ebenso Menschen, die sich in einem Staat mit Rechten wie Staatsangehörige aufhalten (Art. 1 (E) GFK). Eine negative Zuordnungsregel ist das Refoulement-Verbot (Art. 33 GFK), das nicht nur die Verweisung auf den verfolgenden Heimatstaat, sondern auch auf jeden anderen Verfolgerstaat verbietet. 4  Teilweise ist versucht worden, Art. 31 GFK in diesem Sinne zu interpretieren, ein völkerrechtlicher Konsens hat sich aber nicht gebildet, vgl. Foster, Protection Elsewhere: The Legal Implications of Requiring Refugees to Seek Protection in Another State, MJIL 2007, 223 (235); Lisbon Expert Roundtable, Summary Conclusions on the Concept of ‚Effective Protection‘ in the Context of Secondary Movements of Refugees and Asylum Seekers, 2002, Nr. 11.

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Ein völkerrechtlicher Konsens, die GFK enthalte ein Recht der Betroffenen auf freie Wahl des Asylstaates, hat sich indessen nicht etablieren können.5 Staaten können sich entscheiden, von der Zuordnung qua Antragsort durch Zuständigkeitsund Übernahmeabsprachen abzuweichen, also Allokationsregime zu errichten, die für die Betroffenen auch mit Zwangszuordnungen verbunden sein können. Ad hoc oder als bilateral oder regional begrenzte Absprachen sind solche Kooperationen zustande gekommen – auf den Dublin-Raum und die Absprachen mit der Türkei wird noch zurückzukommen sein –, einen rechtsverbindlichen Konsens aller Vertragsstaaten in der Allokationsfrage gibt es aber nicht. Bemühungen, sich auf internationale Zuordnungsregeln zu verständigen, scheiterten bisher oder kamen über unverbindliche Erklärungen nicht hinaus.6 Mangels Verantwortungsteilungskonsens haben sich unter den Vertragsstaaten unterschiedliche Strategien und Missstände im Umgang mit realen oder befürchteten Überlastungen etabliert.7 Die Erstaufnahme- und Transitstaaten gewähren zwar zumeist Refoulement-Schutz, aber keine dauerhaften Lösungen. In der Folge halten sich dort teils sehr viele Flüchtlinge auf, jedoch vielfach unter prekären, perspektivlosen Umständen. Mit einer angemessenen Versorgung der Schutzsuchenden und der Schaffung dauerhafter Lösungen sind diese Staaten teilweise auch überfordert. Lindernd, aber nicht lösend greifen, wie auch bei IDPs und in Staaten, die die GFK nicht oder nur mit Vorbehalten ratifiziert haben, extern finanzierte Schutzprogramme und humanitäre Hilfen ein. Die sog. Fluchtzielstaaten tendieren dazu, Weiterwanderungen von Erstaufnahme- und Transitstaaten aus als sekundäre Migration anzusehen und sich dagegen teils unter Einsatz enormer Ressourcen abzugrenzen (non arrival-Strategien).8 Für den dann praktisch nur noch irregulär möglichen Zugang investieren Schutzsuchende ihre finanziellen Ressourcen in sog. Schlepper und riskieren auf gefährlichen Routen ihr Leben. Verbreitet etablieren sich Mechanismen, irregulär 5  Foster a. a. O.; Lisbon Expert Roundtable, a. a. O.; Legomsky, Secondary Refugee Move­ ments and the Return of Asylum Seekers to Third Countries: The Meaning of Effective Protection, IJRL 2003, 567 (613). 6  Die UN-Conference on Territorial Asylum von 1977 scheiterte, dazu und zu den Entwürfen des Ad Hoc Committee of Experts on the Legal Aspects of Territorial Asylum, Refugees and Stateless Persons (CAHAR) des Europarats in den achtziger Jahren Hurwitz, The Collec­ tive Responsibility of States to Protect Refugees, 2009, 26 ff.; zu ad hoc-Initiativen UN, In ­safety and dignity: addressing large movements of refugees and migrants. Report of the Secretary General, 21. 4. 2016, 11 f; zu neueren Initiativen s. u. IV.5. 7  Zum Folgenden Hathaway / Gammeltoft-Hansen, Non-Refoulement in a World of Cooper­ ative Deterrence, Transnat’l L. 2015, 235; Hathaway / Neve, Making international refugee law relevant again: A proposal for collectivized and solution oriented protection, Harv. Hum. Rts. J. 1997, 115 (119 ff); Hurwitz (Fn. 6); zu den Folgen Amnesty International, The Global Refugee Crisis. A Conspiracy of Neglect, 2015. 8  Zum Europäischen Grenzregime Buckel, „Welcome to Europe“. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts, 2013; Baxewanos, Defending Refugee Rights. International Law and Europe’s Offshored Immigration Control, 2015; Lehnert, Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen, 2014.

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durchgedrungene Schutzsuchende rückwärts entlang der Fluchtrouten auf andere Schutzstaaten zurückzuverweisen (protection elsewhere-Strategien).9 In Zeiten steigenden Flüchtlingsaufkommens, wie in der aktuellen Krise, tendiert der Allokationskonflikt dazu, in unilateralen Abwehrmaßnahmen zu eskalieren. Es kommt vermehrt zu Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Schutzsuchenden, zu Refoulement-Verstößen, unverhältnismäßigen Inhaftierungen, Versorgungsmissständen und in orbit-Situationen, Zäune werden gebaut, Aufnahme- und Verfahrensstandards gesenkt, teils finden keine substantiellen Antragsprüfungen mehr statt, und Forderungen nach der Setzung nationaler Obergrenzen greifen um sich.10 Der Allokationskonflikt wird so auf dem Rücken der Schutzsuchenden ausgetragen, und die Belastungen der Staaten resultieren krass ungleich. III. Prinzipien für die Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung Idealerweise wäre die Zuordnung von Schutzsuchenden zu Schutzstaaten human, solidarisch und effizient. Das sind Gebote der Moral und der politischen Vernunft, die zum Teil auch menschenrechtlich radiziert sind. Stärker ausdifferenziert ergeben sich die nachfolgenden Zuordnungsprinzipien,11 die im Recht auch bereits vielfach angelegt sind. Das Mindeststandardprinzip betrifft die Verhältnisse im Zielstaat. Es besagt, dass Schutzsuchende nicht einem Staat zugeordnet werden dürfen, in dem für sie unzumutbare Verhältnisse herrschen, ein Mindestmaß an Menschenrechtsschutz12 muss im Zielstaat gewährleistet sein. Ausdruck findet das Prinzip z. B. im Refoule­ ment-Verbot des Art. 3 EMRK, primärrechtlich ist es in Art. 4, 18, 19 II GRCh verankert.13 9  Dazu s. o. Fn. 5; zu informellen Rückverweisungspraktiken auf der Basis von Rückübernahmeabkommen Giuffre, Readmission Agreements and Refugee Rights: From a Critique to a Proposal, RSQ 2013, 79 (88 ff). 10  Ungarn kann in der aktuellen Krise als derjenige Dublin-Mitgliedstaat gelten, der vor Menschenrechtsverletzungen am wenigsten zurückschreckt, vgl. Amnesty International, ­Fenced Out. Ungary’s Violations of the Rights of Refugees and Migrants, 2015 (https://www.amnesty. org/en/documents/eur27/2614/2015/en/). 11  Lübbe, Prinzipien der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung und Individualrechtsschutz im Dublin-System, ZAR 2015, 125; dies., Das Verbindungsprinzip im fragmentierten europäischen Asylraum, EuR 2015, 329. 12  Zur Frage, weshalb nur „ein Mindestmaß“ und nicht voller Menschenrechtsschutz, s. Lübbe, Menschenrechtsgerechte Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung in Europa, Vortrag auf dem Deutschen Verwaltungsgerichtstag 2016, Hamburg, 1. 6. 2016, in: Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag e. V. (Hrsg.), Dokumentation. 18. Deutscher Verwaltungsgerichtstag. Hamburg 2016, i.E., sub III.2. 13 Weitere rechtliche Orte, an denen das Mindeststandardprinzip zum Ausdruck kommt, sind etwa Art. 33 I GFK, Art. 1 I, 16a GG, Art. 8, 9, 15 RL 2013/33/EU, Art. 3 II 2 VO (EU) Nr. 604/2013, Art. 35 ff RL 2013/32/EU.

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Das Erreichbarkeitsprinzip besagt, dass niemand einem Staat zugeordnet werden darf, der für ihn nicht erreichbar ist.14 Das Prinzip dient der Vermeidung des refugee in orbit. Primärrechtlich ist es in Art. 18 GRCh i. V. m. Art. 78 AEUV verankert, wonach jedem Schutzberechtigten ein angemessener Status angeboten werden muss. Neben zeitlich unabsehbaren Aufenthaltsbeendigungs- und Reise­ hindernissen kann die Erreichbarkeit an der mangelnden Aufnahmebereitschaft des Zielstaates scheitern. Keine Unerreichbarkeit liegt bei Hindernissen vor, die auszuräumen dem Betroffenen möglich und zumutbar ist. Das Verbindungsprinzip besagt, dass Menschen ggf. vorrangig Staaten zugeordnet werden sollten, zu denen sie besondere Verbindungen haben.15 Primärrechtlich zwingend ist es in den Grenzen des Schutzes des Familien- und Privatlebens, Art. 7 GRCh, und des Kindeswohls, Art. 24 GRCh. Aber auch darüber hinaus wäre eine möglichst verbindungsgerechte Zuordnung, und sei es als chancengleiche Teilhabe im Rahmen verfügbarer Kapazitäten, nicht nur im Sinne der Humanität, sondern auch im Sinne der Effizienz, weil sie Zuordnungsstreitigkeiten und irreguläre Weiterwanderungen reduziert. Was relevante Sonderverbindungen sind, ist konkretisierungsbedürftig. Neben der Staatsangehörigkeit können darunter vor allem zwischenmenschliche Beziehungen, auch jenseits der Kernfamilie, fallen, eine Erstasylanerkennung, längere Vorfluchtaufenthalte u. a. Das Effizienzprinzip besagt, dass die Zuordnung möglichst rasch und unaufwendig geklärt werden sollte. Es kommt in den Dublin-Fristen zum Ausdruck und beherrscht die Dublin-Rechtsprechung des EuGH.16 Primärrechtlich radiziert ist es allenfalls über einen allgemeinen europäischen Rechtsgrundsatz,17 jedenfalls liegt es aber im Interesse nicht nur der zuzuordnenden Menschen, sondern auch im integrationspolitischen Interesse der beteiligten Staaten. Das Lastenteilungsprinzip, auch Verantwortungsteilungs- oder Solidaritätsprinzip genannt, besagt, dass bei der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung die Belastung und Belastbarkeit der beteiligten Staaten berücksichtigt werden sollten, was auch bedeutet, dass für Massenfluchtlagen ein Überforderungsschutz bestehen sollte. Primärrechtlich ist es in Art. 67 II 1, 80 AEUV verankert.18 In welchem Umfang Verantwortungsübernahmen nur Belastungen oder auch Bereicherungen mit sich bringen, hängt freilich vom Umgang mit Fluchtzuwanderung und von Perzeptionen ab, sowie vom Zeithorizont. Zunächst – und unmittelbarer wahrnehmbar 14  Vgl. Art. 18 GRCh i. V. m. Art. 78 I 1 AEUV, Art. 3 I, II 3 VO (EU) Nr. 604/2013, Art. 35 1 l. Hs., 38 IV, 39 VI RL 2013/32/EU. 15  Vgl. Art. 1 (A) 2 UAbs. 2 GFK, Art. 8 – 11, 16, 17 VO (EU) Nr. 604/2013, Art. 38 II lit. a RL 2013/32/EU. 16  EuGH, NVwZ 2012, 417 (N.S.), EuGH, NVwZ 2014, 208 (Abdullahi), EuGH, DÖV 2013, 650 (M.A.). 17  Insbesondere ist Art. 41 GRCh nicht einschlägig, vgl. EuGH, DÖV 2015, 162 (Boudjlida). 18  Vgl. auch die GFK-Präambel, EG 4.

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und zuschreibbar – dominieren zweifellos die Lasten. Die Verantwortungsteilung muss keine quantitative (Quoten), sondern kann auch eine qualitative sein (Verfahren / vorübergehende Lösungen / dauerhafte Lösungen / Finanzierung). Letztere bieten bei sich unterscheidenden Kooperateuren mehr Chancen für Verteilungslösungen jenseits eines Nullsummenspiels. IV. Diskussion von Zuordnungsmechanismen Überlegungen zur Allokation von Flüchtlingsverantwortung sind bisher vor allem im Zusammenhang mit den Reformdiskussionen um das Dublin-System angestellt worden und betreffen von daher die regionale Verteilungsgerechtigkeit. Dass eine nachhaltige Verständigung über den europäischen Raum hinausgreifen sollte, ist im Zuge der aktuellen Krise verstärkt ins Bewusstsein getreten. Die aktuellen Reformvorschläge der EU-Kommission zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) gehen in diese Richtung. International gibt es Konzepte für eine globale Verantwortungsteilung sowie Verständigungsbemühungen auf UN-Ebene. Auch Forderungen nach der Setzung nationaler Obergrenzen reagieren auf das Allokationsproblem und stellen insofern einen zu diskutierenden Allokationsmechanismus dar. Vorweg sei außerdem die Option des Absehens von Zwangszuordnungen Schutzsuchender behandelt. 1. Absehen von Zwangszuordnungen Hier handelt es sich um einen Verteilungsmechanismus, der vor allem von Nichtregierungsorganisationen im Zuge der Reformdiskussionen um das Dublin-System für den europäischen Raum propagiert wurde.19 In der Tat liegt es nahe, Schutzsuchende selbst über die Zuordnung entscheiden zu lassen. Das ist der Zuordnungsmechanismus, von dem die GFK ausgeht, und die o. g. Zuordnungsprinzipien dienen bis auf das Verantwortungsteilungsprinzip der Bewältigung fluchtassoziierter humanitärer Problemlagen, die bei freier Asylwahl weitgehend durch die Betroffenen selbst reguliert werden: Flüchtlinge versuchen, möglichst rasch neu anzukommen (Effizienzprinzip), tendieren dazu, unzumutbare Orte zu vermeiden (Mindeststandardprinzip) und solche Orte anzustreben, denen sie sich besonders verbunden fühlen (Verbindungsprinzip). Können sie einen bestimmten Ort nicht erreichen, suchen sie ihren Schutz notfalls woanders (Erreichbarkeitsprinzip). Je mehr die Zuordnung von Schutzsuchenden zu Staaten mit Zwang verbunden ist, desto aufwendiger wird die Bewältigung dieser Problemlagen, bzw. desto inhumaner das Zuordnungssystem, wenn es die Prinzipien ignoriert. Das Problem des Ansatzes ist – einmal abgesehen davon, dass er keine Lösung für Schutzbedürftige enthält, die es nicht bis zu einem tauglichen, geschweige denn 19  ProAsyl et al., Memorandum Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union: Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit, März 2013.

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dem Schutzstaat ihrer Wahl schaffen –, dass er unter der Bedingung unterschiedlich attraktiver Schutzstaaten mit dem Lastenteilungsprinzip kollidiert. Allein die daraus zumal in Staaten mit hohem Lebensstandard resultierenden Überlastungsbefürchtungen, unabhängig von den Belastungsrealitäten, begründen Anreiz, Zugangswege zu verschließen und, soweit das nicht gelingt, in einen Wettlauf der Standardsenkung einzutreten. Solange Staaten sich nicht auf einen kooperativen Mechanismus verlassen können, der ihnen Überlastungsschutz bietet, ist es wenig realistisch anzunehmen, dass unilaterale Abwehrstrategien nachlassen. Dass sich die unter freier Asylwahl entstehenden Ungleichgewichte finanziell kompensieren ließen, ist schwer vorstellbar. Weniger attraktive Staaten hätten unter freier Asylwahl keinen Anlass, ihre Asylsysteme zu entwickeln, so dass sich Asymmetrien perpetuieren. Eine rasche Lösung für die reale Angleichung der Asylsysteme gibt es nicht einmal im Dublin-Raum, geschweige denn global, und jedenfalls verblieben strukturell diverse Lebenschancen, die die Staaten unterschiedlich attraktiv machen. Angesichts des starken Bedürfnisses insbes. hochentwickelter Staaten nach nationaler Zuwanderungskontrolle – bzw. mindestens des Anscheins davon, denn jedenfalls die europäischen Zwangszuordnungen funktionieren bisher nicht besonders effizient – scheidet die unübertroffen unbürokratische Option der Verständigung auf den Asylantragsort als maßgebliches Zuordnungskriterium jedenfalls in Reinform bis auf weiteres aus. Das gilt auch für die Option, die Wahl des Asylstaates über die Entgegennahme von Anträgen in Botschaften freizustellen. 2. Unilaterale Obergrenzen Eine humane Lösung des Lastenteilungsproblems ist nur kooperativ zu haben. Wenn Vertragsstaaten der eigenen Belastung Grenzen setzen, indem sie Schutzgesuche jenseits unilateral definierter Quanten ohne substantielles Prüfverfahren zurückweisen, kollidiert das mit zwingenden, teilweise explizit notstandsfesten Gehalten des Mindeststandardprinzips.20 Das gilt auch für den Fall, dass ein Staat, wie Deutschland, von „sicheren Drittstaaten“ umgeben ist, denn solche Einordnun20  DIMR, Stellungnahme zur Debatte um „Obergrenzen“ beim Recht auf Asyl in Deutschland, 2015 (http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/ Stellungnahmen/DIMR_Stellungnahme_Asylrecht_Obergrenze_30_11_2015.pdf); zur Diskus­ sion auch Deutscher Bundestag, Obergrenzen für Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge im Lichte des EU-Rechts, 2015 (https://www.tagesschau.de/obergrenze-103~_origin-86dc1e 11-e84d-42f7-8777-7dc78cfa51bb.pdf); Oberwexer / Funk, Völker-, unions- und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den beim Asylgipfel am 20. Jänner 2016 in Aussicht genommenen Richtwert für Flüchtlinge, Gutachten, 2016 (http://www.bundeskanzleramt.at/Doc View.axd?CobId=62571); Di Fabio, Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem. Gutachten im Auftrag des Freistaates Bayern, 8. 1. 2016, (http://www.bayern.de/wp-content/up loads/2016/01/Gutachten_Bay_DiFabio_formatiert.pdf); zum Letzteren Bast / Möllers, Dem Freistaat zum Gefallen: Über Udo Di Fabios Gutachten zur staatsrechtlichen Beurteilung der Flüchtlingskrise, verfassungsblog, 16. 1. 2016.

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gen sind Vermutungsregeln, die zu widerlegen der Einzelne effektiv Gelegenheit bekommen muss.21 Sobald aber ein Vertragsstaat Antragsteller_innen Zugang gewährt, um das gebotene Prüfverfahren durchzuführen, kann die Belastung ohne Kooperation nicht mehr begrenzt werden, denn jede zwangsweise Aufenthaltsbeendigung erfordert die Übernahmebereitschaft des Zielstaates. Ohne übernahmebereiten Zielstaat bleibt die Verantwortung beim Aufenthaltsstaat, und zwar auch für Antragsteller_innen, die sich als nicht schutzbedürftig herausstellen – und vielfach dennoch nicht ins Herkunftsland abgeschoben werden können. Das ist der Grund, warum Staaten teilweise so viel Aufwand treiben, um Anträge nach Möglichkeit gar nicht mehr entgegennehmen zu müssen, indem sie ihre Territorien zunehmend zu Burgen ausbauen, deren Zugbrücken sich für Schutzsuchende nicht mehr senken. Insgesamt kommt durch unilaterale Abgrenzungsmaßnahmen nicht nur keine Zuordnung zustande, die dem Mindeststandardprinzip entspräche, auch die Realisierung der übrigen Prinzipien erfordert Kooperation. Ein Wettbewerb unilateraler Abgrenzungsmaßnahmen nimmt keine Rücksicht auf Sonderverbindungen, produziert refugees in orbit, ist ressourcenintensiv und schiebt die Flüchtlingsverantwortung tendenziell denjenigen Staaten zu, die fluchtquellnäher liegen und sich aufwendige Abgrenzungsmaßnahmen nicht leisten können. 3. Das Dublin-System Die Allokation im Dublin-System ist von ihrem Ursprung im Schengen-Recht her nicht solidarisch, sondern sicherheitsorientiert konzipiert. Die Zuordnung der Schutzsuchenden folgt nicht den o. g. Prinzipien, sondern in erster Linie dem Erst­ eintrittsprinzip – und daran ist das Dublin-System gescheitert.22 Die Zuordnungsregeln des Dublin-Systems gehen auf Regelungen im Schengener Durchführungsübereinkommen zurück.23 Es ging damals darum, im Zuge des Abbaus der Binnengrenzen die Grenzsicherung an den Außengrenzen des Kooperationsraumes zu intensivieren. Dazu passt das Ersteintrittsprinzip, das der grundsätzlich legitimen Abwehr irregulärer Migration dient: Für den Umgang mit Drittstaatlern soll derjenige Staat verantwortlich sein, der sie in den Koopera­tionsraum hineingelassen hat. Als Zuordnungsprinzip für Flüchtlingsverantwortung taugt das allerdings nicht: Asylantragsteller_innen dürfen die Staaten nicht zurückweisen, und ohne Bereitstellung regulärer Zugangsmöglichkeiten mindestens für die   EuGH, NVwZ 2012, 417 (N.S.), EGMR, NVwZ 2011, 413 (M.S.S.).   Lübbe (Fn. 12); dies., Dublin ist gescheitert: Thesen zum Umbau des europäischen Asylsystems, verfassungsblog, 19. 5. 2015. 23  Art. 30 I e) SDÜ a. F. bei illegalem Grenzübertritt, Art. 30 Abs. 1 d) bei visafreier Einreise; falls ein Titel erteilt wurde, traf die Verantwortung den erteilenden Staat, Art. 30 Abs. 1 I a) SDÜ a.F.; vgl. zur Konzeption des Dublin-Systems Fröhlich, Das Asylrecht im Rahmen des Unionsrechts, 2011, 193 ff. 21 22

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schutzbedürftigen unter den Migrant_innen ist auch die Abwehr irregulärer Migration nicht mehr uneingeschränkt legitim. Im Zuge der Erweiterungen des Kooperationsraumes, der Supranationalisierung des Asylrechts auf der Grundlage des Vertrags von Amsterdam und der Reform des Dublin-Systems zur Dublin-III-Verordnung blieb es bei der Herrschaft des Erst­eintrittsprinzips. Es lag im Interesse der einflussreicheren, nicht am südlichen und östlichen Rand des Kooperationsraumes gelegenen Mitgliedstaaten, die Asylverantwortung von sich fernzuhalten und die Randstaaten des Dublin-Raumes zu non arrival-Strategien anzuhalten. Der Allokationskonflikt mit seinen prekären, kompetitiven Abgrenzungsstrategien ist damit unter der regionalen Kooperation an den Außengrenzen des Kooperationsraumes umso schärfer hervorgetreten – mit tödlichen Folgen für viele tausend Schutzsuchende. Das Mindeststandardprinzip wurde im Dublin-Raum zunächst ignoriert, bis 2011 der EGMR 24 klargestellt hat, dass vor jeder Überstellung, auch innerhalb Europas, die Zumutbarkeit der Verhältnisse im Zielstaat geprüft werden muss. Das ist menschenrechtlich geboten, hat aber die europäische Asylallokation erheblich kompliziert. Verbindungsinteressen der Schutzsuchenden berücksichtigt das Dublin-System nur in engen, familiären Grenzen, ergänzend lässt es allerdings Raum, Sonderverbindungen über abweichende Zuordnungen auf der Grundlage von Ermessensklauseln zu berücksichtigen, eine Option, die vom UNHCR stets angemahnt, als einseitige Verantwortungsübernahme von den Mitgliedstaaten aber zurückhaltend gehandhabt wurde.25 Positiv zu bewerten ist das Dublin-System unter dem Gesichtspunkt des Erreichbarkeitsprinzips: Jede in Europa schutzsuchende Person, die den Zugang geschafft hat, muss ein Asylverfahren bekommen. Verweisungen an andere Schutzstaaten, egal ob innereuropäisch oder an außereuropäische Drittstaaten, setzen die Erreichbarkeit des Zielstaates voraus, notfalls ist Zugang zum eigenen Asylsystem zu gewähren.26 Effizient realisieren lassen hat sich das Dublin-System bekanntlich nicht.27 Ungeachtet aller Abgrenzungsbemühungen kommen Schutzsuchende in großer Zahl   EGMR, NVwZ 2011, 413 (M.S.S.).   Lübbe, Verbindungsprinzip (Fn. 11), 359 m.w.N. 26 Für Verweisungen nach außerhalb Europas ist das in der Asylverfahrensrichtlinie ausdrücklich geregelt (Art. 35 1 l. Hs., 38 IV, 39 VI AsylVf-RL), für Dublin-Überstellungen nimmt die Rechtsprechung mittlerweile bei ansonsten drohender in orbit-Situation eine Selbsteintrittspflicht an, vgl. BVerwG, NVwZ 2016, 1495, und bereits Lübbe, Prinzipien (Fn. 11), 130 f. 27 Vgl. Lübbe (Fn. 12); Göbel-Zimmermann, Die Zukunft des Dublin-Systems nach dem EGMR-Urteil Tarakhel gegen die Schweiz und die „Dublin-Lotterie“ vor Gericht, in: Barwig / Beichel-Benedetti / Brinkmann (Hrsg.), Gerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft, 2016, 147. 24 25

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auf irregulären Wegen nach Europa. Die überproportional belasteten Ersteintrittsstaaten haben das System boykottiert, indem sie ankommende Schutzsuchende haben weiterwandern lassen, statt sie zu registrieren. Und die Schutzsuchenden, teilweise auch die Anerkannten, folgen vielfach nicht den Zwangszuordnungen des Dublin-Systems, sondern ihren Verbindungsinteressen und Lebenschancen. Die irregulären Dublin-Realitäten führen zu aufwendigen behördlichen und gerichtlichen Mehrfachbefassungen. Das Dublin-Recht wirft dabei eine Fülle schwieriger Rechtsfragen auf, die von den Verwaltungsgerichten uneinheitlich beantwortet werden, und EuGH-Urteile dazu haben teilweise mehr Unsicherheiten aufgeworfen als geklärt.28 Insgesamt kann man sagen, dass sich das europäische Allokationsregime, das als knappes Vorverfahren vor dem Asylverfahren im jeweils zuständigen Staat gedacht war, zum bürokratischen Wasserkopf des Asylverfahrens entwickelt hat, soweit es nicht – von Anfang an und verstärkt unter der Krise – dem Vollzugsdefizit anheimfiel. Kritik und Reformüberlegungen insbesondere zur Lastenteilung haben die europäische Asylkoordination stets begleitet.29 An Vorschlägen ist hier neben der freien Asylwahl und Varianten einer Zuordnung nach Quote die Einräumung europäischer Freizügigkeit für die Anerkannten unter den Schutzsuchenden zu nennen.30 Keiner dieser Vorschläge ist aufgegriffen worden, noch bei der 2014 in Kraft getretenen Reform zur Dublin-III-Verordnung gab es nur unwesentliche Veränderungen des Bisherigen. Verspätete Bemühungen der EU-Kommission, unter der sog. Flüchtlingskrise über die Aktivierung der Massenzustromrichtlinie und über Umverteilungen auf der Basis des Art. 78 III AEUV doch noch mehr Lastenteilung zu realisieren, scheiterten bzw. kamen mangels Beteiligungsbereitschaft kaum voran.31 Aus dem Scheitern des Dublin-Systems kann man lernen: erstens, dass man gut daran täte, ein System zu entwerfen, das wenigstens so weit wie unter Berücksichtigung des Lastenteilungsprinzips möglich mit den Zuordnungsinteressen der 28 Vgl. Göbel-Zimmermann, a. a. O.; Lübbe, ‚Systemische Mängel‘ in Dublin-Verfahren, ZAR 2015, 105. 29  Vgl. etwa Bendel, Flüchtlingspolitik in der europäischen Union. Menschenrechte wahren!, FES, 2015; Gilbert, Is Europa living up to its Obligations to Refugees?, EJIL 2004, 963; Fratzke (MPI Europe), Not Adding Up. The Fading Promise of Europe’s Dublin System, 2015; Lübbe (Fn. 11); ProAsyl et al. (Fn. 19). 30 Zur Diskussion von Alternativen: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich. Jahresgutachten 2015, April 2015, 61 ff.; Lübbe, Zur Reform des europäischen Asylzu­ ständigkeitssystems. Vortrag beim Georg-August-Zinn-Forum der SPD, 11. 7. 2015 (http:// www.fluechtlinge-mtk.de/uploads/infos/104.pdf); Angenendt / Engler / Schneider, Europäische Flüchtlingspolitik. Wege zu einer fairen Lastenteilung, SWP-Aktuell 65/2013; Bendel, Und sie bewegt sich doch? Die Debatte um Verteilungssysteme in Europa, Asylmagazin 2014, 364; Bast, Solidarität im europäischen Einwanderungs- und Asylrecht, in: Kadelbach (Hrsg.), Solidarität als europäisches Rechtsprinzip?, 2014, 19 ff. 31  Vgl. zum Stand EU-Kommission, Member States’ Support to Emergency Relocation Mechanism, 2. Dezember 2016, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/euro pean-agenda-migration/press-material/docs/state_of_play_-_relocation_en.pdf.

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Schutzsuchenden arbeitet – was eine verfahrensgerechte Kooperation mit diesen voraussetzt. Je mehr Zwang, desto mehr Rechtsstreitigkeiten, Weiterwanderungen, Irregularitäten, Mehrfachbefassungen und Rückführungsaufwand. Versuche, ein Zwangszuordnungssystem über Repression und Rechtsschutzverkürzungen effizient zu halten, stoßen an menschenrechtliche Grenzen und sind insofern wenig nachhaltig. Das Dublin-System war einmal deutlich effizienter gedacht, als es sich dann entwickelt hat, indem die Gerichte entsprechend ihrem Auftrag und unter Berücksichtigung der entstehenden, komplexen Realitäten nach und nach mehr Menschenrechtsschutz ins Zuordnungssystem eingebaut haben.32 Zweitens kann man lernen, dass ein unsolidarisches Allokationssystem – und jedes System zur Allokation von Flüchtlingsverantwortung, das vom Ersteintrittsprinzip beherrscht wird, ist unsolidarisch – nicht nachhaltig funktionieren kann, weil es früher oder später unterlaufen werden wird. Das trifft nicht nur auf die inneuropäische, sondern auch auf die globale Allokation zu. 4. Reformvorschläge der EU-Kommission In Reaktion auf die wohl nur vorübergehend beruhigte Krise entwickelt die EU derzeit neue Strategien.33 Die Reformvorschläge der EU-Kommission sind neben der Etablierung eines innereuropäischen Lastenteilungsmechanismus dadurch gekennzeichnet, dass die Asylkooperation stärker als bisher über den europäischen Raum hinausgreifen soll. Die Lastenteilung innerhalb des Dublin-Raumes soll durch einen Umverteilungsmechanismus erreicht werden, der automatisch einsetzt, wenn ein Mitgliedstaat gemessen an einem relativen Soll, das sich an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft orientiert, über 150 % Anträge zu verzeichnen hat. Mitgliedstaaten können sich vorübergehend aus dem Umverteilungsmechanismus ausklinken, wenn sie pro nicht aufgenommener Person 250‘000 € zahlen.34 Die Asylkooperation innerhalb Europas soll durch Migrationspartnerschaften mit Drittstaaten nach Art des EU / Türkei-Agreements ergänzt werden.35 Neu daran ist nicht der Ansatz der Migrationspartnerschaften – Absprachen mit außereuro32 Vgl. Lübbe (Fn. 12); dies., Menschenrechtliche Grenzen des Europäischen Asylsystems. Zur Rolle von EuGH und EGMR, zfmr 2016, 77. 33  Vgl. insbes. die Presseerklärungen der EU-Kommission zur Dublin-Reform (http://europa. eu/rapid/press-release_IP-16 – 1620_en.htm), zur Reform der Bestimmungen zu Asylverfahren, Anerkennung und Aufnahme (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16 – 2433_en.htm), zu Migrationspartnerschaften (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16 – 2072_en.htm) und zum Resettlement (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16 – 2434_en.htm), jeweils m.w.N. zu den Regelungsentwürfen; zur European Agenda on Migration vom 13. 5. 2015 s. COM (2015) 240 final, dazu im Einzelnen Bendel (Fn. 29). 34  COM(2016) 270 final, 18 f. 35  Vgl. die Presseerklärung der Europäische Kommission vom 7. 6. 2016 (http://europa.eu/ rapid/press-release_IP-16 – 2072_en.htm).

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päischen Staaten, die insbesondere zum Ziel haben, die Schutzbedarfe nach Möglichkeit vor Ort zu decken und Weiterwanderungen zu verhindern, sind seit vielen Jahren Bestandteil nationaler und europäischer Politiken36 –, neu ist, dass künftig möglichst alle irregulär ankommenden Personen vom Ersteintrittsstaat aus auf außereuropäische Transitstaaten zurückverwiesen werden sollen. Der Dublin-Reformvorschlag37 und weitere Reformpakete38 dienen u. a. dazu, das europäische Asylsystem an solche Kooperationen anschlussfähig zu machen, und in diesem Zusammenhang müssen sie gesehen und bewertet werden. Dem Vorschlag liegt die Idee zugrunde, dass Europa Flüchtlinge bevorzugt kontingentweise und kontrolliert aufnehmen soll. Dass Schutzsuchende irregulär nach Europa durchdringen, soll weiterhin und verstärkt verhindert werden. Wer dennoch durchdringt, soll im Ersteintrittsstaat aufgefangen und von den Mobilitätspartnern zurückgenommen werden. Die Rückverweisung irregulär zugewanderter Personen an außereuropäische Staaten bezieht sich nicht etwa auf abgelehnte Asylbewerber_innen, vielmehr sollen möglichst alle irregulär ankommenden Schutzsuchenden mit ihrem inhaltlich ungeprüften Schutzgesuch in den Nachbarstaat, über den sie eingereist sind, zurückgeschickt werden, und die weitere Verantwortung für die Schutzgesuche soll dort übernommen werden.39 Es handelt sich also um über den europäischen Raum hinausgreifende Absprachen zur Allokation von Flüchtlingsverantwortung. Zu den auszuhandelnden Gegenleistungen – die wie schon bei der EU / Türkei-Erklärung nicht nur Asylfragen betreffen werden – kann neben finanziellen Unterstützungen u. a. für den Kapazitätsaufbau vor Ort die kontingentweise Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem außereuropäischen Ausland gehören.40 Soweit EU-Staaten sich daran beteiligen, wird das im Rahmen des innereuropäischen Lastenteilungsmechanismus angerechnet.41 Schutzsuchende, die irregulär nach Europa gekommen sind oder dies auch nur versucht haben, sollen für fünf Jahre von den Kontingentaufnahmen ausgeschlossen sein.42 Einmal angenommen, diese Strategie ließe sich für alle großen Zugangsrouten realisieren, liefe das für Europa auf eine Art Obergrenze hinaus, die ich im Unterschied zu Obergrenzen im nationalen Alleingang „kooperative Obergrenze“ nennen möchte. Sie funktioniert nicht mit (innereuropäischen) Grenzzäunen, Wasserwerfern und Tränengas, sondern mit hotspot-Lagern, Schnellverfahren und 36  Siehe den europäischen Gesamtansatz für Migration und Mobilität (GAMM), KOM(2011) 743 endgültig; Bendel (Fn. 33) 15 ff.; insbes. zu Spanien Buckel, „Welcome to Europe“. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts, 2013, 186 ff. 37  COM(2016) 270 final. 38  Siehe o. Fn. 33. 39  COM(2016) 270 final, 15. 40  COM(2016) 385 final, 5 ff. 41  A. a. O., S. 18. 42  COM(2016) 468 final, 11.

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Rückführungen. Das Kernelement dieser Strategie ist, die bisher optionalen protection elsewhere-Konzepte der Asylverfahrensrichtlinie – sicherer Drittstaat und erster Asylstaat – zu aktivieren, indem ihre Nutzung verbindlich gemacht wird.43 Positiv bewerten muss man in diesen Zeiten, dass es überhaupt Bemühungen gibt, die europäische Asylkoordination aufrecht zu erhalten, statt sie in einem unilateralen Abgrenzungswettbewerb ins Inhumane zerfallen zu lassen – was den Verfall weiterer europäischer Kooperativitäten nach sich ziehen könnte. Auch die Idee eines innereuropäischen Lastenteilungsmechanismus und das verstärkte Ausgreifen der Allokationskoordination in den internationalen Raum sind an und für sich Schritte in die richtige Richtung. Nichts einzuwenden ist schließlich dagegen, von anderen Staaten den Aufbau menschenrechtsgerechter Asylsysteme zu erwarten und dafür finanzielle und andere Aufbauhilfen bereitzustellen – vorausgesetzt diese Hilfen kämen tatsächlich den Schutzbedürftigen vor Ort und dauerhaften Lösungen für sie zugute, nicht einer u. U. menschenrechtsverletzenden Verhinderung von Weiterwanderungen.44 Viel spricht auch für den Ausbau von Kontingentaufnahmen aus dem außereuropäischen Ausland, speziell aus Staaten, die unstreitig weit belasteter sind als Europa und in denen sich Schutzbedürftige unter dauerhaft nicht erträglichen Umständen aufhalten.45 Fluchtmigration im Rechtssinne ließe sich bei Aufnahmen aus dem Ausland besser von der sonstigen Migration trennen und in geordnetere, weniger aufwendige und kalkulierbarere Bahnen lenken. Das käme den Kontrollund Sicherheitsbedürfnissen der Aufnahmestaaten und ihrem Anliegen entgegen, die Aufnahmeleistungen von vornherein stärker auf Schutzberechtigte zu konzentrieren. Auch fielen die aufwendigen Zuordnungs- und Asylverfahren und damit integrationsschädlich lange Phasen des prekären Aufenthalts weg. Den Ausgewählten würde diese Form des Zugangs lebensgefährliche Fluchtwege und Investitionen in Schlepper ersparen. Und sie eröffnet gerade auch jenen eine Chance, die besonders dringend eine brauchen, weil sie es aus eigener Kraft bis zu einem für sie erträglichen Schutzort nicht schaffen. Aufnahmen aus dem Ausland sind nicht zwingend auf Flüchtlinge im Rechtssinne beschränkt, so dass auf diesem Weg auch Menschen geholfen werden könnte, die sich aus anderen Gründen in einer unerträglichen, vor Ort nicht lösbaren Lage befinden, ohne dass deshalb die Staaten ihre Aufnahmeverpflichtungen auf nicht kontrollierbare Weise erweitern müssten. Schließlich ließe sich so vermeiden, dass durch die Flucht Familien zerrissen werden, denn die würde man nach Möglichkeit als Ganze aufnehmen. Es ist nicht der Sinn des Resettlement, den Familiennachzug als Zugangsweg zu ersetzen, je  COM(2016) 270 final, 15.   Zum Menschenrecht auf Ausreise eingehend Markard, Das Recht auf Ausreise zur See, Archiv des Völkerrechts 2014, 449. 45  Vgl. zu den Hauptbelastungen UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2015, 2016, 10, 15, 18. 43 44

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doch wird der Wegfall von Befürchtungen, es würden sich im Anschluss an die Aufnahme von Flüchtlingen die Zugangszahlen durch den Familiennachzug multiplizieren,46 diese Zugangsform für die Aufnahmestaaten attraktiver machen. Zu diesem Zweck ist es auch sinnvoll, Kontingentaufnahmen im Rahmen von Lastenteilungsmechanismen anzurechnen. Wenn solche regulären Zugangswege in relevantem Ausmaß zur Verfügung stünden, würde gewiss auch mancher Flüchtling, der zunächst nicht ausgewählt wurde, eher noch auf seine Chance warten, als es auf irregulärem Weg zu versuchen. Dadurch ließe sich das Migrationsgeschehen in ruhigere Bahnen lenken, anstelle von Wellen, die teilweise weniger auf akut schwankenden Schutzbedarfen als auf selbstverstärkenden Mechanismen beruhen47 und grundsätzlich vorhandene Aufnahmekapazitäten überlasten und -bereitschaften kippen lassen können. Problematisch ist allerdings die Vorstellung, die Asylverantwortung ließe sich durch die Aktivierung der protection elsewhere-Konzepte auf humane, effiziente und solidarische Weise im Wesentlichen auf die kontrolliert aufgenommenen Personen begrenzen, zumal wenn die Kontingentaufnahmen nicht durch andere legale Zugangswege ergänzt werden, über die auch nicht schutzbedürftige Migrant_innen Zuwanderungschancen haben, und wenn die regulären Zugangschancen insgesamt so bescheiden bleiben, dass der irreguläre Zuwanderungsdruck nicht nachlassen kann. Ein umfangreiches Rückverweisungsregime in hotspots am Rande Europas wäre wohl selbst mit zentraler Unterstützung48 auf menschenrechtsgerechte Weise schon wegen der dafür nötigen Inhaftierungen nicht zu realisieren.49 Und die Einordnung der Türkei als tauglicher Verweisungszielstaat ist bis auf weiteres mit zwingenden, auch in der Asylverfahrensrichtlinie niedergelegten Gehalten des Mindeststandardprinzips unvereinbar.50 Insofern handelt es sich bei der Rückverweisungsidee

46  Vgl. zu den unter der Krise teilweise irrational eskalierenden Befürchtungen Lübbe, Die Angst vor der syrischen Großfamilie: Familiennachzug für Syrer aussetzen?, verfassungsblog, 12. 11. 2015. 47  2015/16 könnte neben durch Netzwerke katalysierten Migrationsketten u. a. eine über die modernen Medien vermittelte Kreuzkatalyse Steigende Zuwanderung erzeugt Torschlussstimmung, Torschlussstimmung erzeugt steigende Zuwanderung („jetzt oder nie“) eine Rolle gespielt haben; zu Faktoren für die Zielstaatswahl Scholz (BAMF), Warum Deutschland? Einflussfaktoren bei der Zielstaatssuche von Asylbewerbern, 2013. 48  Vgl. zum beabsichtigten Ausbau des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) den Verordnungsentwurf der EU-Kommission vom 4. 5. 2016, COM (2016) 271 final. 49 Eingehend Markard / Heuser, Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtkonfor­ men Ausgestaltung von sogenannten „HOTSPOTS“ an den europäischen Außengrenzen, Gutachten, 4. 4. 2016 (https://www.jura.uni-hamburg.de/media/ueber-die-fakultaet/personen/ markard-nora/markard-heuser-hotspots-2016.pdf); zur Lage in Griechenland DIMR, Die EU-Türkei-Vereinbarung vom 18. März 2016: Umsetzung und Konsequenzen aus menschenund flüchtlingsrechtlicher Perspektive, 20. 6. 2016 (http://www.institut-fuer-menschenrechte. de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/DIMR_Stellungnahme_Menschen rechtliche_Bewertung_EU-Tuerkei-Vereinbarung_in_ihrer_Umsetzung_20_06_2016.pdf).

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bestenfalls um eines jeder Asylstrategie-Elemente, die eine Abschreckungsfunk­ tion erfüllen, ohne in relevantem Umfang vollzogen zu werden.51 Einen Angriff auf das Menschenrecht, Asyl zu suchen (Art. 14 AEMR), stellt es dar, Personen, die auf irregulären Wegen nach Europa geflüchtet sind, nach der Rückführung von den Kontingentaufnahmen auszuschließen. Es ist eine Sache, den irregulären Zuwanderungsdruck durch die Eröffnung legaler Zugangskorridore zu senken, eine ganz andere Sache ist es, Schutzsuchende durch Sanktionen davon abzuhalten weiterzusuchen, bis sie einen erträglichen Schutzort gefunden haben. Zwar ist fraglich, ob diese Art von Sanktion gegen das Bestrafungsverbot des Art. 31 GFK verstieße,52 jedoch wäre eine solche Ungleichbehandlung von Schutzsuchenden, die mangels ihnen ausreichend zur Verfügung stehender, legaler Zugangsmöglichkeiten ihr Menschenrecht, Asyl zu suchen, auf irregulären Wegen in Anspruch nehmen, sachlich nicht zu rechtfertigen und damit jedenfalls gleichheitswidrig. Bedenken gegen die vorgeschlagene Reform bestehen auch im Hinblick auf das Verbindungsprinzip. Zwar ist zu begrüßen, dass mit dem neuen Dublin-Verordnungs-Entwurf die Relevanz familiärer Beziehungen für die Zuordnung auf Geschwisterbeziehungen und auf Beziehungen erweitert werden soll, die auf der Flucht eingegangen wurden.53 Jedoch geht die vorgesehene Rückführung nach außerhalb Europas solchen Zuordnungen zwingend vor,54 und die bisher der Rückverweisung in solchen Fällen entgegenstehende Verbindungsklausel der Asylverfahrensricht­ linie55 soll in der geplanten Asylverfahrensverordnung56 so gefasst werden, dass 50 Erste Gerichtsentscheidungen gegen Rückverweisungen an die Türkei von Griechenland aus liegen laut Pro Asyl vor (https://www.proasyl.de/news/eu-tuerkei-deal-berufungs instanz-stoppt-abschiebungen-in-die-tuerkei/); zur Bewertung des EU/Türkei-Deals Peers, The final EU/Turkey refugee deal: a legal assessment, euanalysisblogspot,18. 3. 2016; Marx, Rechtsgutachten zur unionsrechtlichen Zulässigkeit des Plans der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die Türkei als sicherer Drittstaat zu behandeln, 2016 (https:// www.proasyl.de/wp-content/uploads/2016/03/160315_Gutachten_Marx_Tuerkei_als_siche rer_Drittstaat_final.pdf); ECRE, The DCR/ECRE desk research on application of a safe third country and a first country of asylum concepts to Turkey, May 2016 (http://www.asylumlawda tabase.eu/sites/www.asylumlawdatabase.eu/files/aldfiles/turkeynote%20final%20edited%20 DCR%20ECRE.pdf); zur Lage in der Türkei Amnesty International, Europe’s Gatekeeper. Unlawful detention and deportation of refugees from Turkey, 16. 12. 2015 (https://www.amnesty. org/en/documents/eur44/3022/2015/en/). 51  Siehe zum Stand die Pressemitteilung der EU-Kommission vom 8. 12. 2016 (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-4281_de.html). 52  Fraglich ist das etwa auch bei Praktiken, irregulär eingereiste Schutzsuchende generell einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, vgl. Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, 2005, 405 ff. 53  COM(2016) 270 final, 16. 54  A. a. O., 15. 55  Wegverweisung an einen sicheren Drittstaat nur, wenn die schutzsuchende Person dorthin eine Verbindung hat, „so dass es aufgrund dieser Verbindung vernünftig erscheint, dass diese Person sich in diesen Staat begibt“, Art. 38 II lit. a AsylVf-RL. 56  COM(2016) 467 final.

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der bloße Transit etwa durch die Türkei als Verbindung dorthin ausreichen würde.57 Das widerspricht der Linie des UNHCR, ist partiell menschenrechtswidrig und übergeht den Umstand, dass die Verbindung zu dem europäischen Staat, in dem sich die Familienangehörigen aufhalten, jedenfalls stärker wäre.58 Abschied nähme das neue System von einem zentralen Pluspunkt der bisherigen europäischen Asylkoordination, der Wahrung des Erreichbarkeitsprinzips. Zwar setzen Rückverweisungen an außereuropäische Drittstaaten weiterhin deren Aufnahmebereitschaft voraus, für die innereuropäische Zuordnung fehlt es aber angesichts des Wegfalls fristbedingter Zuständigkeitswechsel59 und der Einschränkung der bisherigen Selbsteintrittsoption60 an zureichenden Möglichkeiten eines Zuständigkeitswechsels für Fälle, in denen die Überstellung an den zuständigen Staat an Vollstreckungshindernissen scheitert. Gerade weil solche Konstellationen in der Realität sehr vielfältig sind und auch nicht nur familiäre Beziehungen betreffen, war die Selbsteintrittsoption im Dublin-System bisher weit konzipiert, so dass die Mitgliedstaaten eine menschenrechtsgerechte Handhabung in jedem Fall sicherstellen konnten, ohne refugees in orbit zu generieren. Im Hinblick auf das Effizienzprinzip ist positiv zu bewerten, dass künftig Schutzsuchenden (mit Ausnahmen) von Anfang an ein Rechtsbeistand gestellt werden soll.61 Das effizienzsteigernde Potential von mehr Verfahrensgerechtigkeit und Kooperativität mit den Schutzsuchenden, anstelle der zunehmenden Reduk­ tion von Verfahrensrechten, wird bisher verkannt.62 Die Schweiz erprobt Elemente von mehr Verfahrensgerechtigkeit in ihren Asylverfahren, auch jenseits der Stellung eines Rechtsbeistands, und stellt im Ergebnis eine Verfahrensbeschleunigung fest.63 Hinsichtlich der Verteilung setzt das neue europäische System indessen nicht auf eine möglichst kooperative und interessengerechte Zuordnung, sondern auf Repression. Weiterwanderungen Schutzsuchender sollen künftig mit drastischen 57  A. a. O., Art. 45 IV lit. a: „…there is a connection between the applicant and the third country in question on the basis of which it would be reasonable for that person to go to that country, including because the applicant has transited through that third country which is geographically close to the country of origin of the applicant“. 58  Dazu näher Lübbe, Migrationspartnerschaften: Verweisung auf Transitstaaten ohne Rücksicht auf die Familieneinheit?, ZAR 1/2017, i.E. 59  COM(2016) 270 final, 16. 60  A. a. O., Art. 19 I UAbs. 1 des Entwurfs. 61  COM(2016) 467 final, 4. 62 Vgl. zum Konzept der Verfahrensgerechtigkeit Bierbrauer / Gottwald / Birnbreier-Stahlberger (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit, 1995; Bierhoff, Prozedurale Gerechtigkeit: Das Wie und Warum der Fairness, Zeitschrift für Sozialpsychologie 1992, 163; Lind / Tyler, The Social Psychology of Procedural Justice, 1988. 63  Vgl. die Pressemitteilung des Staatssekretariats für Migration vom 14. 3. 2016 (https:// www.sem.admin.ch/sem/de/home/aktuell/news/2016/2016 – 03 – 14.html); näher Thränhard, Schnelligkeit und Qualität – Impulse aus der Schweiz für faire Asylverfahren in Deutschland, 2016 (http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikatio nen/Studie_IB_Impulse_fuer_das_Asylverfahren_2016.pdf).

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Sanktionen unterbunden werden. Darauf, ob sich die Zuordnungen auf diese Weise effizient realisieren lassen, zumal wenn die Gerichte nach und nach die menschenrechtlichen Grenzen der Anwendung dieser Vorgaben auf die entstehenden Realitäten herausarbeiten, darf man gespannt sein.64 Im Hinblick auf das Verantwortungsteilungsprinzip wäre der innereuropäische Lastenteilungsmechanismus an und für sich ein Fortschritt. Inwieweit er allerdings Anwendung findet, hängt davon ab, in welchem Umfang es angesichts der zwingend vorrangigen protection elsewhere-Rückführungen zu innereuropäisch zu verteilenden Zugängen käme. Bei einer Überlastung der Ersteintrittsstaaten dürfte es, auch bei Unterstützung durch eine gestärkte Europäische Asylagentur, jedenfalls bleiben. Irregulär Ankommende sollen unter Sanktionsdruck verpflichtet sein, im Ersteintrittsstaat Asyl zu beantragen. Der Ersteintrittsstaat muss vor dem Dublin-Verfahren prüfen, ob das Schutzgesuch auf einen außereuropäischen Drittstaat verwiesen werden, wegen Zugehörigkeit des Betroffenen zu einem sog. sicheren Herkunftsstaat im Schnellverfahren abgehandelt65 oder aus Sicherheitsgründen abgelehnt werden kann. Nur Gesuche, bei denen all das nicht der Fall ist, kämen überhaupt noch in das innereuropäische Zuteilungsverfahren. Global gesehen wären Aufnahmen Schutzbedürftiger aus dem Ausland an und für sich ein Kristallisationskeim für mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Idee des sharing responsibilities würde aber zum shifting responsibilties pervertiert, würde das Resettlement künftig davon abhängig gemacht, dass die begünstigten Staaten in großem Stil irregulär zugewanderte Schutzsuchende zurücknehmen. Es ist nicht der Sinn des Resettlement, „kooperative Obergrenzen“ für hochentwickelte Staaten und Regionen durchzusetzen. Im Übrigen hängt die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der globalen Verantwortungsteilung vom Umfang der Aufnahmen und davon ab, welche Staaten sie betreffen. Die hochbelastete Türkei ist ein Nachbarstaat Europas, andere derzeit besonders entlastungsbedürftige Staaten wie der Libanon und Jordanien sind es nicht.66 Protection elsewhere-Rückführungen an die Türkei erscheinen angesichts deren hoher Belastung im Hinblick auf Verantwortungsteilung derzeit kaum vertretbar.67 Wie überhaupt jedes Obergrenzen-Konzept,68 ob unilateral oder regional 64  Zu Kollisionen der Reformpläne insbes. mit EuGH-Entscheidungen Peers, The Orbanisation of EU asylum law: the latest EU asylum proposals, eulawanalysisblogspot, 6. 5. 2016; Hruschka, Dublin is dead! Long live Dublin! The 4 May 2016 proposal oft the European Commission, eumigrationlawblog, 17. 5. 2016. 65  Diese Fallgruppe dürfte angesichts des nationalen und künftig auch europäischen – COM (2015) 452 final – Ausbaus des Konzepts der sicheren Herkunftsstaaten zunehmen, kritisch dazu ECRE, „Safe countries of origin“: A safe concept?, 2015. 66  Siehe zu den meistbelasteten Aufnahmestaaten UNHCR (Fn. 45); zur syrischen Flüchtlingskrise und der Lage insbesondere in Jordanien und im Libanon Amnesty International (Fn. 10) 9 ff. 67  Zur Situation in der Türkei Seufert, Die Türkei als Partner der EU in der Flüchtlingskrise, SWP-Aktuell, Dez. 2015.

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und ob kooperativ oder nicht, die Frage aufwirft, wer denn, wenn alle das so machten, die Flüchtlingsverantwortung für die Menschen übernehmen soll, die ggf. die kumulierten Obergrenzen übersteigen. Das verweist auf die Notwendigkeit, das Allokationsproblem letztlich global anzugehen. 5. Globale Verantwortungsteilung Auf UN-Ebene hat es zuletzt im September 2016 einen Verständigungsprozess in Sachen globaler Flüchtlingsverantwortungsteilung als Bestandteil eines umfassender angelegten Prozesses zum Umgang mit großen Wanderungs- und Fluchtbewegungen gegeben.69 Vorgelegt waren insbesondere der Global Compact on Responsibility Sharing for Refugees70 und das Zero draft of outcome document for 19 september high-level meeting to address large movements of refugees and migrants, das für das Resettlement eine Vorgabe von mindestens 10 % des Flüchtlingsaufkommens enthielt.71 Zur Verabschiedung der Entwürfe kam es nicht, stattdessen wurde die New Yorker Erklärung beschlossen, eine Art Rahmenabkommen mit allgemein gehaltenen, immerhin aber die internationalen Verpflichtungen zum Schutz von Flüchtlingen bekräftigenden Commitments. Konkretere Verständigungen wurden auf 2018 vertagt.72 Bereits 2002 hatten sich die Vertragsstaaten auf der Basis der von UNHCR initiierten sog. Globalen Konsultationen auf eine Agenda zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes verständigt.73 Im Anschluss entwickelte sich der multilaterale Convention Plus-Prozess mit Bemühungen um eine Konkretisierung der internationalen Verständigung und Zusammenarbeit insbesondere in den Bereichen Resettlement, irreguläre Weiterwanderung und Entwicklungshilfe zum Aufbau dauerhafter Lösungen. Der Verständigungsprozess endete 2006 ohne konkrete 68 Verstanden als Festlegung auf ein fixes Quantum maximal aufzunehmender Personen ohne Rücksicht auf die insgesamt zu verteilende Verantwortung und andernorts bestehende Kapazitäten. Anders sieht es mit vorübergehenden Aufnahme-Stopps auf der Basis von Kooperationen aus, die solche Rücksichten nehmen. 69  UN, In safety and dignity: addressing large movements of refugees and migrants. Report of the Secretary General, 21. 4. 2016 (http://refugeesmigrants.un.org/sites/default/files/in_safe ty_and_dignity_-_addressing_large_movements_of_refugees_and_migrants.pdf). 70  UN, Global Compact on Responsibility Sharing for Refugees, 30. 6. 2016 (http://www. unhcr.org/events/conferences/578369114/zero-draft-global-compact-responsibility-sharing-re fugees.html). 71  UN, Zero draft of outcome document for 19 september high-level meeting to address large movements of refugees and migrants, 27. 6. 2016, sub 6.XIV (http://www.un.org/pga/70/ wp-content/uploads/sites/10/2015/08/27-June-2016_HLM-on-addressing-large-movementsof-refugees-and-migrants-27-June-2016.pdf). 72  UN, New York Declaration on Refugees and Migrants, 3. 10. 2016 (http://www.unhcr.org/ 57e39d987), Annex I, sub 19. 73  UNHCR, Agenda für den Flüchtlingsschutz, Deutsche Auflage 2003 (http://www.refworld. org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=4714a1e12).

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Festlegungen zur Lastenteilung. Insbesondere zum konfliktreichen Thema der irregulären Weiterwanderung konnte kein Konsens erzielt werden. Zum Resettlement kam es immerhin zu einem Multilateral Framework of Understandings74 mit Erklärungen u. a. zur Auswahl und zur Familieneinheit, das aber ebenfalls keine quantitativen Festlegungen enthält. Die abschließende NGO-Stellungnahme zum Convention Plus-Prozess forderte u.a., dass Europa sich stärker am Resettlement beteiligen möge, ohne deshalb das Recht, Asyl zu suchen, auszuhöhlen.75 In einer idealen Welt – in einer ganz idealen wären die Lebenschancen global gerechter verteilt, sodass unfreiwillige Migration entbehrlich würde – gäbe es eine globale Verständigung über bindende, im Fall von Massenfluchtlagen zentral zu aktivierende und zu konkretisierende Verpflichtungen zur Übernahme von personellen und finanziellen Verantwortungsanteilen in Orientierung an dem, was die jeweiligen Staaten zum insgesamt Notwendigen am besten beitragen können. Überlegungen in diese Richtung sind wohl am eingehendsten von einem interdisziplinär und international besetzten Team um den amerikanischen Flüchtlingsforscher James Hathaway angestellt worden.76 Die Gruppe ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sich ein solches System ohne weiteres finanzieren ließe, wenn die gegenwärtig in unilaterale Maßnahmen und humanitäre Hilfeleistungen für perspektivlos gehaltene Flüchtlinge investierten Ressourcen in eine koordinierte Asyladministration umgelenkt würden.77 Zu den Einsichten78 gehört auch, dass die Chancen, Lastenübernahmeverpflichtungen aus akutem Anlass zu begründen, gering seien, Staaten würden sich eher vorab, nach Art einer Versicherung, an ein Konzept der gemeinsamen Bewältigung von Massenfluchtlagen binden. Damit die jeweiligen Beiträge der Staaten dann effizient konkretisiert und koordiniert werden könnten, müsste eine stärker zentralisierte Flüchtlingsadministration, etwa in Gestalt eines neu konzipierten UNHCR, entsprechende Befugnisse und Ressourcen erhalten. Das Konzept sieht eine qualitative Lastenteilung vor, u. a. indem fluchtquellnähere Staaten eher temporäre und die typischerweise fluchtquellferner gelegenen, höherentwickelten Staaten eher dauerhafte Schutzformen übernehmen würden. Damit die Rückkehr nach temporärem Schutz realistisch sei, müsse sie von Anfang an bedacht und unterstützt 74  Multilateral Framework of Understandings on Resettlement, Forum 2004/6, 16. 9. 2004 (http://www.refworld.org/docid/41597d0a4.html). 75  NGO statement to the High Commissioner’s Forum, 17. 11. 2005, sub 4 (http://www.un hcr.org/protection/convention/437da01b2/ngo-statement-high-commissioners-forum-deliver ed-rachel-brett-quaker-un.html). 76  Hathaway / Neve (Fn. 7) 171 ff.; vgl. auch Hathaway, Germany should take up a leader­ ship role towards a global solidarity system of refugee protection, verfassungsblog, 19. 5. 2015; ähnlich, aber mit quantitativer Lastenteilung und einem Markt, auf dem Lastentragungsanteile gehandelt werden könnten, Schuck, Refugee-Burden-Sharing: A Modest Proposal, Yale J. Int’l L. 1997, 243. 77  Hathaway, a. a. O. 78  Hathaway / Neve (Fn. 7) 172 ff.

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werden. Als ein wichtiges Element wird der Erhalt der Familieneinheit und von Netzwerk-Beziehungen angesehen. Insgesamt sollen mehr kontrollierte Zugangsformen entstehen, es wird jedoch betont, dass das Recht, aus eigener Kraft zu Schutz zu suchen, Asyl zu beantragen und jedenfalls einem Status entsprechend der GFK zugeführt zu werden, nicht tangiert werden darf. Es geht darum, die GFK auf effizientere Weise ins Werk zu setzen als durch das unorganisierte System, das gegenwärtig durch zufallsabhängige Fluchtbewegungen und den Umstand entsteht, dass jeder Staat für sich eine Lösung für reale oder befürchtete Überlastungen finden muss. Die Vorstellung, es ließe sich in absehbarer Zeit ein verantwortungsteiliges System, das einen Überlastungsschutz multilateral sicherstellt, global verbindlich machen, ist als realpolitisch naiv kritisiert worden.79 Hathaway / Neve schlagen denn auch vor, das versicherungsbasierte, arbeitsteilige füreinander Einstehen zunächst in sub-globalen Einheiten zu vereinbaren, deren Mitglieder aufgrund geographischer und kultureller Nähe ohnehin bereits intensiver miteinander verbunden und vernetzt seien. Allerdings neigen, wie gerade das Beispiel des GEAS als des weltweit am intensivsten vernetzten Asylkooperationssystems zeigt, sub-globale Systeme zu Kooperationen, die die Lasten nach Kräften externalisieren. Und auch im Hinblick auf die interne Lastenteilung stößt man, wie die bisherigen Bemühungen um mehr innereuropäische Solidarität haben deutlich werden lassen, an die Grenzen der Realpolitik. Die interne Verständigung auf eine Lastenteilung scheint derzeit, wenn überhaupt, allenfalls auf der Basis eines Konzepts möglich, das die Verantwortung für Schutzgesuche jenseits einer „kooperativen Obergrenze“ an außereuropäische Transitstaaten delegiert. V. Fazit Aus alledem lässt sich nur der pragmatische Schluss ziehen, den top down-Ansatz der globalen Verständigung auf eine effizientere, solidarischere und humanere Verantwortungsallokation mit dem bottom up-Ansatz der regionalen Asylkooperation prozessorientiert zu verbinden. Das Ziel muss bleiben, die enormen Ressourcen, die derzeit in den kompetitiven Umgang mit Zwangsmigration fehlinvestiert sind, umzuleiten in ein System, das die Genfer Konvention proaktiver ins Werk setzt. Dazu muss die globale Verständigung konkreter, quantitativ explizit und verbindlicher werden, und die europäische darf sich nicht nur auf die Bewältigung der Problemlagen im Binnenraum orientieren, sondern muss auf global lastenteilungsfaire, Asymmetrien abbauende statt stabilisierende Weise in den außereuropäischen Raum hinauswirken. In die richtige Richtung würden ein verbindlicher 79  Suhrke, Burden-sharing during Refugee Emergencies: The Logic of Collective versus National Action, J. of Ref. St. 1998, 396; vgl. auch Noll, Risky Games? A Theoretical Approach to Burden-Sharing in the Asylum Field, J. of Ref. St. 2003, 236; Thielemann, Burden Sharing: The International Politics of Refugee Protection, CCIS Working paper 134/2006, 12.

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Ausbau des Resettlement, qualitative Lastenteilungskonzepte, Matching-Systeme, zentral aktivierbare, verlässliche Überlastungsschutzmechanismen und mehr Anreize statt Zwang und Sanktionen gehen. Anreiz dafür, Asylkooperationen in diese Richtung weiterzuentwickeln, kann neben der Überzeugung, dass Humanität und Solidarität Werte sind, die zu achten sich auch deshalb lohnt, weil von Fluchtursachen bzw. von Überforderung in anderen Zeiten andere Menschen bzw. Staaten betroffen sein können, die wachsende Einsicht sein, dass lastenteilungsunfaire Lösungen keine nachhaltigen Lösungen sind. Das wird ein längerer Prozess, und den im Zuge dieser Umstellung zu Tage tretenden inneren und äußeren Konflikten wird man sich stellen müssen. Summary The so-called European refugee crisis is a crisis of allocating refugee responsibility. The Geneva Convention lacks a burden sharing concept, and so does as yet the Dublin system. This has led to precarious strategies of states intended to deflect responsibility and binding valuable resources. In the actual European debate, even the core element of refugee protection – the duty to reject no claimant without substantive examination – is at stake. Cooperative instead of competitive allocation could channel refugee protection in a more orderly, efficient and humane direction. This contribution puts forward a set of human rights based principles guiding the allocation of refugee responsibility: the minimum standard principle, the accessibility principle, the connection principle, the efficiency principle and the burden sharing principle. Accordingly, different allocation strategies are discussed and evaluated: free choice of asylum, unilateral capping, the current Dublin system, the reform proposals by the European Commission and approaches to global responsibility sharing.

Migration im Naturzustand Überlegungen zum No-Border-Postulat Paul Tiedemann*

I. Einleitung Es gibt im Völkerrecht kaum in irgendeiner anderen Hinsicht eine größere Übereinstimmung als hinsichtlich der Aussage, dass jeder Staat grundsätzlich das Recht hat, souverän zu bestimmen, ob und unter welchen Bedingungen Nichtbürger einreisen und sich im Staatsgebiet aufhalten dürfen.1 Dieser Grundsatz ist insbesondere auch im Zusammenhang mit der internationalen Pflicht zur Achtung der Menschenrechte anerkannt und gehört zum Standardrepertoire der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.2 Dass Staaten im Hinblick auf Migration souverän sind, gehört seit Hugo Grotius und Immanuel Kant auch in der Philosophie zu den traditionell unhinterfragten Standardannahmen.3 Im Jahre 1983 hat sich der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer probeweise gefragt, wie die Welt wohl ohne staatliche Grenzen aussähe, und gelangte dabei zu eher albtraumartigen Vorstellungen.4 In einer Welt * Der Autor ist Verwaltungsrichter im Ruhestand, Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und apl. Professor an der Özyeğin-Universität Istanbul. 1  Rüdiger Wolfrum, „Völkerrechtliche Rahmenbedingungen für die Einwanderung“, in: Thomas Giegerich / Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Einwanderungsrecht – national und international. Staatliches Recht Europa- und Völkerrecht. Opladen, Leske + Budrich 2001, S. 23; vgl. auch Georg Dahm / Jost Delbrück / Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/1 Berlin u.a., de Gruyter 2. Aufl. 1989, S. 316 ff. 2  Vgl. u. a. EGMR, Urt. v. 28. 05. 1985 – 9214/80; 9473/81; 9474/81 –, „Abdulaziz, Cabales, Balkandali v. UK“, Rn. 67; Urt. v. 21. 06. 1988 – 10730/84 –, „Berrehab ./. The Netherlands“, Rn. 28; Urt. v. 14. 06. 2011 – 38058/09 –, „Osman v. Denmark“, Rn. 54; Urt. v. 12. 01. 2017 – 31183/13 –, „Abuhmaid v. Ukraine“, Rn. 120. Dokumentation der Rechtsprechung des EGMR unter http://hudoc.echr.coe.int. 3  Hugo Grotius, De iure Belli ac Pacis Libri Tres [1625] II, II, XVI; hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von J. H. v. Kirchmann Berlin, Heimann 1869 Reprint Boston, Elibron 2007; Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg, Nicolovius 2. Aufl. 1796, S. 40. 4  Michael Walzer, Spheres of Justice, a Defense of Pluralism and Equality. New York: Basic Books 1983, im Folgenden zitiert nach Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt / M.: Campus 1994.

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offener Grenzen könnten zwischen den Menschen keine patriotischen Gefühle der Verbundenheit entstehen und damit auch kein innerer gesellschaftlicher Zusammenhalt. Berühmt geworden ist das Diktum, wonach das Niederreißen aller Mauern des Staates in der Praxis nur dazu führen würde, dass sich tausend kleine Festungen bildeten, also lokale Gemeinschaften, die sich nach außen abschotten. Reiße man auch diese Mauern nieder, so führe das tatsächlich nur zu radikal entwurzelten Menschen ohne jede kulturelle Identität.5 Diese sehr einheitliche Phalanx der Verteidiger eines grundsätzlichen Rechts der Staaten auf Ausschluss und Kontrolle von Migration wurde im Jahre 1987 durchbrochen, als der amerikanische Sozialphilosoph Joseph H. Carens in einem Aufsatz Argumente gegen ein generelles staatliches Recht auf Ausschluss von Migration und stattdessen Argumente für ein allgemeines individuelles Recht auf globale Freizügigkeit vortrug.6 Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurde der Aufsatz von Carens in den USA, in Kanada und zunehmend auch im deutschen Sprachraum rezipiert und weitergeführt, wobei hier auffallend viele schweizerische Philosophen und Juristen führend sind. Vier Werke gilt es besonders zu erwähnen. Den Anfang machten im Jahre 2007 die Habilitationsschrift von Monika Kirloskar-Steinbach7 und die Dissertation von Martino Mona.8 Im Jahre 2012 folgte ein Sammelband, dem insbesondere das Verdienst zukommt, neben einigen deutschen Beiträgen vor allem auch wichtige englischsprachige Beiträge zu der Debatte in deutscher Sprache zugänglich gemacht zu haben.9 Schließlich ist die 2016 erschienene Dissertation von Andreas Cassee zu nennen, die nicht nur einen guten Überblick über die einschlägige Literatur sowie alle relevanten Pro- und Contra-Argumente enthält, sondern auch mit sehr eingehenden Analysen dieser Argumente aufwartet.10 In dem immer lebhafter werdenden Diskurs über das No-Border-Postulat stehen sich zwei Standpunkte gegenüber, die sich beide auf ein Recht berufen, nämlich zum   Walzer (Fn. 4) S. 75.   Joseph H. Carens, „Aliens and Citizens. The Case for Open Borders“, The Review of Politics 49/2 (1987), 251; hier zitiert nach Joseph H. Carens, „Fremde und Bürger, Weshalb Grenzen offen sein sollten“, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hrsg.), Migration und Ethik. Münster: mentis 2012; s. a. Joseph H. Carens, Ethics of Immigration. Oxford: OUP 2013, S. 225 ff.; s. a. Bridget Anderson / Nandita Sharma / Cynthia Wright, „Why No Borders?“, Refuge 26 (2009), 5. Die These von einem Menschenrecht auf globale Freizügigkeit war bereits 1971 von Roger Nett aufgestellt worden, allerdings ohne vertiefte philosophische Begründung, Roger Nett, „The Civil Right We Are Not Ready For, The Right of Free Movement of People on the Face of the Earth“, Ethics 81/3 (1971), 212. 7  Monika Kirloskar-Steinbach, Gibt es ein Menschenrecht auf Immigration? Politische und philosophische Positionen zur Einwanderungsproblematik. München: Wilhelm Fink 2007. 8  Martino Mona, Das Recht auf Immigration. Rechtsphilosophische Begründung eines originären Rechts auf Einwanderung im liberalen Staat. Basel: Helbing Lichtenhahn 2007. 9  Andreas Cassee / Anna Goppel (Hrsg.), Migration und Ethik. Münster: mentis 2012. 10  Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen. Berlin: Suhrkamp 2016. 5 6

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einen auf das Recht des Staates, Einwanderungswillige auszuschließen (Recht auf Exklusion), und zum anderen auf das Recht der Einwanderungswilligen auf Einreise und Aufenthalt aus beliebigen Gründen (Recht auf globale Bewegungsfreiheit). Die Kombattanten erkennen zwar an, dass sowohl das Recht auf Ausschluss als auch das Recht auf Zugang gewissen Einschränkungen unterliegen kann. Sie sind aber der Auffassung, dass die Begrenzungen jedenfalls nicht dem freien Ermessen des Staates bzw. der Beliebigkeit der Einreisewilligen unterliegen. Es kann vielmehr nur ganz bestimmte eng umgrenzte und wohl zu definierende Gründe geben, die, wenn sie vorliegen, ausnahmsweise zu einer entsprechenden Einschränkung des jeweiligen Rechts führen. So ist etwa anerkannt, dass das Recht auf Migration dem Vorbehalt einer konkreten Gefahr für die öffentliche Ordnung des Staates unterliegt, wenn diese wegen eines Massenzustroms zu kollabieren droht. Umgekehrt ist anerkannt, dass das Recht auf Ausschluss nicht gilt, wenn es sich bei den Einwanderungswilligen um Personen handelt, die in ihrer Heimat politisch verfolgt werden. Entscheidend ist jedoch, dass es sich bei diesen Einschränkungen stets um Ausnahmen handelt, die das grundsätzliche Bestehen des jeweiligen Rechts nicht tangieren. Was die Rechte selbst angeht, so scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass es entweder ein Recht auf Ausschluss oder ein Recht auf Migration gibt. Zwei Fälle werden dabei nicht in Betracht gezogen, nämlich dass es (1.) sowohl das eine als auch das andere geben könnte, und dass es (2.) weder das eine noch das andere geben könnte. Im Folgenden werde ich die Auffassung verteidigen, dass es jenseits des positiven Rechts, also auf der moralischen Ebene, weder ein Recht des Staates auf Exklusion noch ein Recht des Ausländers auf Migration gibt. Ich werde sodann Überlegungen darüber anstellen, was aus dieser doppelten Abwesenheit folgt. Dabei werde ich zu dem Ergebnis kommen, dass der Staat Ausländern die Einreise und den Aufenthalt verweigern darf. Er hat dazu zwar kein moralisches Recht, es ist ihm aber auch moralisch nicht verboten. Umgekehrt dürfen Ausländer nach Belieben in andere Staaten einreisen und sich dort niederlassen. Sie haben dazu zwar kein moralisches Recht, es ist ihnen aber auch nicht moralisch verboten. Der Grund dafür liegt einfach darin, dass Ausländer nicht verpflichtet sind, dem Ansinnen des Staates zu entsprechen und dass Staaten nicht verpflichtet sind, dem Ansinnen der Ausländer zu entsprechen. Beide befinden sich nämlich zueinander nicht in einem moralischen Rechte- und Pflichtenverhältnis. Ihr normatives Verhältnis wird allein durch das bestimmt, was in der Tradition der politischen Philosophie der Naturzustand genannt wird.

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II. Der Naturzustand 1. Ein Gedankenexperiment Noch John Rawls hielt es für erforderlich darauf hinzuweisen, dass der Naturzustand11 kein faktischer Zustand in der historischen Vergangenheit ist, sondern eine „rein theoretische Situation“.12 Es handelt sich m. a. W. um das, was man in der Philosophie ein Gedankenexperiment nennt. Gedankenexperimente beschreiben ein erfundenes Szenario, das umso hilfreicher für die Gewinnung neuer philosophischer Erkenntnisse ist, je mehr es von der wirklichen Welt abweicht. Je weiter das Szenario von der uns bekannten Wirklichkeit entfernt ist, umso mehr wird nämlich die Reichweite und Bedeutung der Begriffe deutlich, die wir zu seiner Beschreibung und vor allem zur Beschreibung der Folgen verwenden, die sich aus dem Szenario ergeben. Denn die szenische Entfremdung entkleidet die Begriffe ihres gewöhnlichen Kontextes und zeigt damit unter Umständen Bedeutungsvarianten auf, an die wir bei der Verwendung dieser Begriffe im üblichen Kontext nicht denken, weil sie dort keine Rolle spielen.13 Das philosophische Gedankenexperiment besteht also gleichsam in der Verwendung von Begriffen unter Laborbedingungen. Der Naturzustand, der meinen Überlegungen zugrunde liegt, ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass er von menschlichen Individuen bevölkert ist, die Personalität besitzen, also Personen sind. Das ist noch nicht besonders kontrafaktisch, denn auch im wirklichen Leben sind die weitaus meisten Menschen Personen. Weil es auf die Personalität für meine weitere Argumentation entscheidend ankommt, ist es an dieser Stelle erforderlich, den Begriff der Personalität genauer zu erläutern.14 2. Der Begriff der Personalität Personalität bezeichnet die Eigenschaft von Entitäten, dreistufige propositionale Einstellungen zu haben. Propositionale Einstellungen sind Einstellungen zu phänomenalen Bewusstseinsinhalten.15 Phänomenale Bewusstseinsinhalte zu haben, 11  Rawls präferiert den Ausdruck Urzustand (original position) statt Naturzustand (state of nature), vgl. John Rawls, A Theory of Justice. Cambridge (Mass): Belnap 1971; hier zitiert nach John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt / M: Suhrkamp 1979, S. 28. Ich ziehe den auf Thomas Hobbes zurückgehenden Ausdruck „Naturzustand“ vor, weil mit ihm deutlich zum Ausdruck gebracht werden kann, dass jenseits dieses gedachten Zustandes die Kultur beginnt. 12  Rawls (Fn. 11) S. 28 f. 13  Georg W. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart: Reclam 2. Aufl. 2016, S. 17 ff. 14  Die nachstehenden Passagen zur Personalität habe ich ausführlicher dargestellt in Paul Tiedemann, „Identity and Human Rights“, in: ders. (ed.), Right to Identity. ARSP Beiheft 147. 15  Die folgende Explikation des Begriffs der Personalität lehnt sich eng an die Ausführungen von Michael Quante, Person. Berlin / New York: de Gruyter 2007, 24 ff. an, der sich seinerseits

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ist als solches nicht allein Personen vorbehalten. Vielmehr verfügen jedenfalls alle höheren Lebewesen über ein phänomenales Bewusstsein. Sie sind in der Lage, taktile, akustische, visuelle, gustatorische, olfaktorische, vestibuläre, thermische oder auch andere Sinneseindrücke (Schmerzempfinden, Körperempfindung, ggf. Magnetsinn) zu Gehalten zu verarbeiten, die sie wahrnehmen, erinnern, mit emotionalen Werten belegen (Furcht, Attraktion) und zu denen sie sich verhalten. Personen besitzen nicht nur ein phänomenales Bewusstsein in diesem Sinne, sondern sie verfügen darüber hinaus über dreistufige propositionale Einstellungen, die sie mit bestimmten intentionalen Verben zum Ausdruck bringen. Auf der ersten Stufe können sie z. B. sagen: „Ich glaube, dass p der Fall ist“. Auf der zweiten Stufe können sie sagen: „Ich glaube, dass Petra glaubt, dass p“. Auf der dritten Stufe können sie sagen: „Ich glaube, dass Petra glaubt, dass ich glaube, dass p.“ Auf der ersten Stufe erfährt sich die Person als ein Gegenüber ihrer Umwelt, auf der zweiten andere Personen als Gegenüber ihrer Umwelt und auf der dritten Stufe verstehen sie, dass andere Personen, wie sie selbst, die eigenen Intentionen als Intentionen erleben. Die Fähigkeit zu propositionalen Einstellungen dritten Grades impliziert Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein, selbst die Quelle der eigenen propositionalen Einstellungen zu sein. Dieses Bewusstsein wird durch den indexikalischen Terminus „ich“ zum Ausdruck gebracht. Das Wort „ich“ weist darauf hin, dass das betreffende personale Lebewesen sich selbst als Urheber bestimmter Intentionen betrachtet. Für das Bewusstsein, Urheber der eigenen Intentionen zu sein, schlage ich den Terminus Authentizität vor.16 Das Bewusstsein fremder Authentizität kommt in dem indexikalischen Terminus „Du“ zum Ausdruck. Das Selbstverhältnis der Person ist nicht nur rein kognitiv. Es geht in zweifacher Hinsicht immer auch mit einer Werthaltung gegenüber sich selbst einher. Das wird zum Ausdruck gebracht, wenn man sagt, dass die Person sich im Selbstbewusstsein nicht nur erkennt (kognitiv), sondern auch anerkennt (evaluativ). Die Werthaltung betrifft zum einen das Verhältnis der propositionalen Einstellungen zueinander. an Daniel C. Dennett, „Conditions of Personhood“, in: Amélie Rorty (Hrsg.), The Identities of Persons, Berkeley u.a.: UCP 1976, S. 175 ff. orientiert. 16  Der Ausdruck Authentizität geht auf das griechische Adjektiv αὐθεντικός = echt zurück. Der entsprechende lateinische Begriff ist auctoritas, den wir mit Autorschaft oder Autorität übersetzen. In diesem ursprünglichen Sinn wird der Ausdruck hier eingeführt. Er darf deshalb nicht verwechselt werden mit der heute üblichen Bedeutung von Authentizität als Gegenbegriff von Unaufrichtigkeit oder Opportunismus. Eine Person, die sich unaufrichtig oder opportunistisch verhält, ist gleichwohl authentisch insofern, als sie selbst es ist, die sich zu diesem Verhalten entschieden hat und dafür deshalb auch die Verantwortung trägt. Als unauthentisch ist ein Denken oder Handeln erst dann zu betrachten, wenn das eine und / oder das andere der Person nicht mehr zugerechnet werden kann, weil es durch Zwang oder Manipulation hervorgerufen worden ist. Ich schlage den Ausdruck Authentizität statt des Begriffs Autorschaft deshalb vor, weil damit nicht die Urheberschaft für ein ganz bestimmtes Leben bezeichnet werden soll, sondern die Fähigkeit zur Urheberschaft überhaupt und unabhängig davon, in welcher Weise von dieser Fähigkeit tatsächlich Gebrauch gemacht wird.

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Insoweit sprechen wir von Rationalität. Zum anderen betrifft sie das Verhältnis der Person zu ihrer Umwelt. Insoweit sprechen wir von Würde. Personen verstehen sich als rationale Wesen und als Wesen, denen Würde zukommt. Die Werthaltung der Person hinsichtlich ihrer propositionalen Einstellungen (Rationalität) besteht darin, dass die Person ein logisch konsistentes und kohärentes Verhältnis aller ihrer propositionalen Einstellungen positiv bewertet.17 Diese Werthaltung hat ihren Grund darin, dass sich die Person überhaupt nur selbst als personale Einheit, d. h. als Subjekt propositionaler Einstellungen verstehen kann, wenn diese ihre Einstellungen ein gewisses Maß an Konsistenz und Kohärenz aufweisen. Ein Mangel an Konsistenz und Kohärenz macht es der Person unmöglich, sich selbst zu verstehen. Wenn und soweit sie sich nicht selbst versteht, kann sie das Gefühl der Authentizität nicht entwickeln und sich deshalb nicht als Subjekt ihres Lebens verstehen, also als ein Jemand, der sein Leben führt. Rationalität ist deshalb für jede Person ein absoluter Wert. Menschen, die Rationalität nicht (absolut) wertschätzen, gelten deshalb als wahnsinnig.18 Wahnsinnige sind Menschen mit defizitärer oder abwesender Personalität. Die zweite absolute Werthaltung, die die Person neben der absoluten Wertschätzung der Rationalität in ihrem Selbstverhältnis sich selbst gegenüber einnimmt, antwortet auf die Frage der wertmäßigen Differenz zwischen sich selbst als Person und ihrer Umwelt. Diese Differenz ist dadurch gekennzeichnet, dass der Wert der eigenen Personalität einen absoluten Rang hat. Diese Absolutheit macht es unmöglich, etwas anderes höher zu schätzen als die eigene Personalität. Der Versuch dazu führt nämlich unvermeidlich in einen Widerspruch. Denn die eigene Personalität ist wesentlich die Fähigkeit, bewerten zu können. Wer diese Fähigkeit aufgibt, ist auch nicht mehr in der Lage, andere Dinge höher zu bewerten als die Fähigkeit zu bewerten. Auf die eigene Personalität kann nicht verzichtet werden, ohne dass schlechthin alles seinen Wert verliert. Aufgrund ihres absoluten Wertes kann die eigene Personalität kein möglicher Gegenstand von Verzicht oder Abwägung sein. Zur Bezeichnung dieses absoluten Wertes der Person stehen uns die Ausdrücke Würde, Personwürde oder Menschenwürde zur Verfügung.19 Weil die eigene Personalität aber nur gleichursprünglich mit der Personalität anderer existieren kann, ist auch die Personalität fremder Lebewesen für jede Per17  Gedanken und Aussagen sind konsistent, wenn sie in sich widerspruchsfrei sind. Gedanken und Aussagen sind kohärent, wenn sie mit anderen Gedanken und Aussagen vereinbar sind, d. h. zwischen mehreren verschiedenen Ideen und Aussagen keine Widersprüchlichkeit besteht, so dass alle Ideen, die jemand hat, sich in ein einheitliches „Weltbild“ einfügen. Vgl. dazu Gerhard Schneider, Affirmation und Anderssein. Eine dialektische Konzeption personaler Identität. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 108 f. 18  Wahnsinn ist zu unterscheiden von einem auf Irrtum oder Nachlässigkeit beruhenden irrationalen Denken und Handeln, das dem eigenen Anspruch auf Rationalität nicht entspricht und deshalb durch kritische Reflexion und Aufklärung aufgedeckt und korrigiert werden kann. 19  Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung. Berlin: BWV 3. Aufl. 2012, S. 259 ff.

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son absolut wertvoll.20 Die existenzielle Grundlage der Personalität ist damit nicht nur gegenseitige Erkennung, sondern auch gegenseitige Anerkennung als absolut wertvoll. Personalität, so formuliert es Michael Quante, konstituiert sich in einem reziproken Interpretations- und Anerkennungsmodus.21 Der Spielraum, innerhalb dessen es einer bestimmten Person möglich ist, ihr eigenes Leben zu führen, kann in der Praxis größer oder kleiner sein als der entsprechende Spielraum einer anderen Person. Dieser Spielraum wird nicht nur von äußeren Randbedingungen definiert, sondern auch von der Unterschiedlichkeit der persönlichen Begabungen, der Wachheit des Bewusstseins, dem Umfang der Erinnerungen etc. Diese Graduierbarkeit der personalen Entfaltung ändert aber nichts daran, dass die Personalität als solche selbst nicht graduierbar ist. Es mag Situationen geben, in denen unsicher ist, ob einem Lebewesen noch Personalität zukommt. Aber es ist nicht denkbar, dass ihm weniger Personalität zukommt als einem anderen. Personalität ist damit ein Schwellenwertkonzept.22 Entweder verfügt eine Entität über die Bedingungen dessen, was Personalität ausmacht, oder es verfügt darüber nicht. Ein Lebewesen kann nicht mehr oder weniger Person sein, sondern es kann nur entweder Person sein oder nicht. 3. Das Szenario im Naturzustand Das Szenario des Naturzustandes ist also zunächst dadurch bestimmt, dass es von menschlichen Lebewesen bevölkert ist, die Personalität besitzen. Die Kontrafaktizität dieses Szenarios besteht nun wesentlich darin, dass die Menschen, obwohl sie Personen sind, gleichwohl ihr Leben führen als wären sie Bären. Das ist eine sehr kontrafaktische Vorstellung, denn auf der Grundlage des gegenwärtigen Standes von Entwicklungs- und Sozialpsychologie ist es kaum vorstellbar, dass Lebewesen, die leben wie Bären, in der Lage sind, Personalität zu entwickeln oder aufrechtzuerhalten. Im Gedankenexperiment des Naturzustandes führt diese Kontrafaktizität aber gerade zu jenen künstlichen Laborbedingungen, unter denen wir die Leistungsfähigkeit unserer Begrifflichkeit von Pflichten und Rechten erproben können. Bären leben als Einzelgänger. Sie suchen die Kooperation mit Artgenossen nur aus sexuellen Gründen oder soweit es zur Brutpflege erforderlich ist. Der männliche Bär sucht zur Brunftzeit eine Bärin, begattet sie und macht sich wieder davon. Die Bärin kümmert sich um ihre Jungen exakt solange, bis sie selbstständig   Tiedemann (Fn. 19) S. 274 ff.   Quante (Fn. 15) S. 31 – Reziprozität darf hier allerdings nicht im Sinne von Gegenseitigkeit („do ut des“) verstanden werden. Im Anschluss an Paul Ricœur kann man von „Wechselseitigkeit“ sprechen (Thomas Bedorf, „Erkennen, Anerkennen und Verkennen. Paul Ricœurs Öffnung des Begriffs der Anerkennung“, AZP 38 (2013), 328). Ich verwende den Ausdruck „Gleichursprünglichkeit“, vgl. Tiedemann (Fn. 19) S. 274. 22  Quante (Fn. 15) S. 34. 20 21

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überlebensfähig sind. Dann trennt sie sich von ihnen und geht ihrer eigenen Wege. Irgendeine Art von Zusammenleben, das über den flüchtigen sexuellen Kontakt bei der Begattung und über die Brutpflege hinausgeht, gibt es bei Bären nicht. Ebenso verhalten sich im Gedankenexperiment auch die menschlichen Personen im Naturzustand. Ich behaupte nun, dass es in dem so beschriebenen Naturzustand bis auf eine Ausnahme keinerlei Rechte und Pflichten gibt, und zwar weder rechtliche noch moralische. Die weitgehende Abwesenheit normativer Bindungen setzt nicht voraus, dass, wie Thomas Hobbes angenommen hat, der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und deshalb im Naturzustand ein unerträglicher Krieg aller gegen alle stattfindet.23 Vielmehr gibt es weitgehend auch dann keine normativen Bindungen, wenn das „Zusammenleben“ durch seine Abwesenheit und durch völlige Gleichgültigkeit bestimmt ist sowie durch das effektive Streben danach, sich tunlichst aus dem Wege zu gehen. Die Abwesenheit normativer Bindungen im Naturzustand ist jedoch nicht vollständig. Denn es gibt jedenfalls die Menschenrechte und die diesen korrespondierenden Menschenpflichten. Das sind nämlich jene Rechte, deren einziger Schutzbereich sich auf die Personalität von Menschen bezieht. Personale Identität ist, wie bereits dargelegt, für jede Person absolut wertvoll, denn sie konstituiert unsere Existenz als selbstreflexive Wesen, als ein Jemand und nicht nur als ein Etwas. Zugleich erweist sich personale Identität aber als äußerst vulnerabel. Sie entsteht überhaupt nur unter günstigen Umständen, die vereitelt und gehindert werden können. Sie kann, auch nachdem sie entstanden ist, wieder verloren gehen, wenn das Netz der wechselseitigen personalen Anerkennung zerstört wird.24 Deshalb müssen sich Personen unhintergehbar verpflichtet sehen, die Personalität von Personen zu achten und sie müssen von jeder Person Achtung gegenüber sich selbst verlangen.25 Entgegen einer insbesondere im angelsächsischen Raum weit verbreiteten Ansicht hängen Menschenrechte nicht von der Existenz von Staaten ab.26 Jeder schuldet jedem die Achtung seiner Personalität und damit die Beachtung der Menschen23  Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill. London: Andrew Crooke 1651, Kap. XIII. 24  Paul Tiedemann, „Johann Gottlieb Fichte und die Identitätstheorie der Menschenwürde“, ARSP 103/3 (2017), 337. 25  Streng logisch folgt aus dem Umstand, dass x für p (absolut) wertvoll ist, allerdings nicht, dass p verpflichtet ist, x zu achten. Denn aus Werten folgen keine Normen. Es lässt sich jedoch zeigen, dass absolute, aber vulnerable Werte zu absoluten Pflichten und den diesen entsprechenden Rechten führen. Vgl. dazu Paul Tiedemann (Fn. 19) S. 519 ff.; ders., „The Relation between Human Dignity and Human Rights, What is Meant by Deriving Human Rights from Human Dignity?“, in: Winfried Brugger / Stephan Kirste (ed.), Human Dignity as a Foundation of Law. ARSP Beiheft 137, Stuttgart, Franz Steiner 2013. 26  Dazu ein guter Überblick bei Zhang Tu, „Is the Right to Identity a Fundamental Human Right?“, in: Paul Tiedemann (Hrsg.), Right to Identity. ARSP Beiheft 147, Stuttgart, Franz Steiner 2016.

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rechte innerhalb und außerhalb von staatlichen oder sonstigen gemeinschaftlichen Bindungen. Die Geltung dieser Rechte ist nicht von irgendeiner Art besonderer Beziehung zwischen Menschen abhängig wie sie vor allem durch Vertrag oder durch anderweitige Vertrauenstatbeständen geschaffen werden. Die Geltung von Menschenrechten setzt nichts weiter voraus als die Existenz von Personen, die sich gegenseitig begegnen (können) und die in der Lage sind, ihre Personalität gegenseitig zu beschädigen.

III. Gibt es ein Recht des Staates auf Ausschluss von Ausländern? 1. Durchführung des Gedankenexperiments Es stellt sich nun die Frage, ob sich an dem Umfang der moralischen Rechte im Naturzustand dadurch etwas ändert, dass es einem der personalen Bärenmenschen, nennen wir ihn Berkhan 27, kraft seines Charismas gelingt, in einigen anderen Personen den dringenden Wunsch zu wecken, sich ihm zu unterwerfen und fürderhin in weiten Bereichen nicht mehr ihr eigenes Leben zu führen, sondern mit dem charismatischen Fürsten zu kooperieren, indem sie tun, was Berkhan von ihnen verlangt. Unter der Fragestellung dieses Aufsatzes geht es nicht darum, ob sich dadurch neue normative Bindungen zwischen dem Fürsten und seinen Untertanen ergeben, sondern vielmehr darum, ob sich zwischen Berkhan und seinen Untertanen einerseits und den freien Bärenmenschen andererseits neue normative Bindungen ergeben. Es ist nicht zu erkennen, warum und inwiefern das der Fall sein sollte. Nehmen wir jetzt weiter an, Berkhan nimmt eine Landkarte zur Hand und zeichnet mit einem Stift einen Kreis darauf, der in der Wirklichkeit einige Tausend Quadratkilometer umfasst. Dann befiehlt er seinen Leuten, allen Menschen, die in diesem Gebiet leben, mitzuteilen, dass sie sich ab sofort als seine Untertanen zu begreifen und deshalb nunmehr Steuern und Wehrdienst zu leisten hätten. Es mag sein, dass sich dadurch für Berkhan und die Leute in dem umgrenzten Territorium, sofern sie die Unterwerfung akzeptieren, etwas hinsichtlich der normativen Bindungen zueinander ändert. Aber ändern sich auch die Bindungen zwischen Berkhan und seinem neuen Staat Berkhanistan einerseits und den freien Bärenmenschen außerhalb von Berkhanistan andererseits? Man kann wiederum nicht erkennen, wodurch das bewerkstelligt worden sein sollte. Nun stellen wir uns vor, Berkhan beschließt eines Tages ein Gesetz, wonach es den freien Bärenmenschen außerhalb der Staatsgrenzen verboten wird, die Grenzen ohne ausdrückliche Erlaubnis der Staatsorgane von Berkhanistan zu überschreiten und sich im Staatsgebiet niederzulassen. Er richtet außerdem eine Grenzpolizei ein, die unter Anwendung unmittelbaren Zwangs eventuelle Eindringlinge 27

  Berkhan, männlicher türkischer Vorname. Bedeutung, gesunder starker Führer.

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abwehrt. Ändert dieses Gesetz irgendetwas hinsichtlich der normativen Bindung zwischen Berkhanistan und den freien Bärenmenschen? – Ich vermag erneut nicht zu erkennen, wodurch das bewerkstelligt worden sein sollte. Romulus, nachdem er die Grenze um Rom definiert und seinem Bruder Remus erklärt hatte, dass er jeden töten werde, der die Grenze übertritt, hat allein durch diese Inbesitznahme und die Gewaltdrohung zwischen sich und seinem Bruder keine normativen Bindungen geschaffen. Stellen wir uns jetzt vor, eines Tages sind die Untertanen in Berkhanistan die Herrschaft Berkhans leid. Sie jagen ihn davon, und organisieren einen demokratischen Rechtsstaat unter sich, also unter allen Leuten innerhalb der Grenzen der neuen Republik Berkhanistan. Hat das irgendwelche normativen Auswirkungen auf die Bärenmenschen außerhalb der Grenzen? – In der Tat gibt es Autoren, die dies bejahen.28 Allein aus dem Umstand, dass einige Menschen sich zusammen tun, ein Gebiet abgrenzen und Dritte am Grenzübertritt hindern, schafft zwar auch nach deren Ansicht als solches keine normativen Beziehungen. Sobald aber innerhalb des abgegrenzten Territoriums ein demokratischer Rechtsstaat errichtet wird, soll sich die Situation ändern. Jetzt sei der Staat nicht mehr frei darin, an seinen Grenzen Zwang gegen Dritte auszuüben. Vielmehr dürfe er das nur dann und in dem Umfang tun als die Dritten dem Grenzregime zugestimmt oder an der Entscheidung über dieses Regime zumindest demokratisch beteiligt gewesen seien. Dem liegt offensichtlich die Idee zugrunde, dass, wer Rechtsstaatlichkeit und Demokratie innerhalb des Staates bejaht, damit unvermeidbar zwei vorgeblich universale moralische Prinzipien akzeptiert hat, nämlich das Prinzip der Autonomie im Sinne von Joseph Raz, welches dem Rechtsstaatsprinzip zugrunde liege, und das Diskursprinzip im Sinne von Jürgen Habermas, welches dem Demokratieprinzip zugrunde liege.29 Das Autonomieprinzip verlangt, dass Personen nicht dem Willen anderer unterworfen sein dürfen, es sei denn, es gibt triftige Gründe, die dies ausnahmsweise zulassen. Das Diskursprinzip verlangt, dass Dritte dem Willen anderer nur dann unterworfen werden dürfen, wenn sie an dem Verfahren der Willensbildung gleichberechtigt beteiligt waren. Diese Theorie spricht nun allerdings nicht dafür, dass der Staat ein Recht darauf hat, Ausländer an der Einreise und dem Aufenthalt zu hindern. Das Grenzregime wäre vielmehr als illegitim und damit unerlaubt zu betrachten, weil die freien Bärenmenschen diesem Regime weder zugestimmt haben, noch an seiner Einrichtung demokratisch beteiligt waren. In unserem Zusammenhang ist jedoch zunächst interessant, dass nach dieser Theorie allein dadurch, dass sich eine staatliche Gemeinschaft zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durchringt, der Naturzustand 28  Arash Abizadeh, „Democratic Theory and Border Coercion. No Right to Unilaterally Control Your Own Borders“, Political Theory 36/1 (2008), 37. 29  Zum Autonomieprinzip: Joseph Raz, The Morality of Freedom. Oxford: Clarendon 1986; zum Diskursprinzip: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt / M: Suhrkamp 1992. Mit dem Autonomieprinzip argumentiert Carens (Fn. 6).

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zu Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft beseitigt wird und an ihre Stelle ein moralisches Rechtsverhältnis tritt, das über die bloße Achtung der Menschenrechte hinausgeht. Diese Theorie wäre nur dann plausibel, wenn es inkohärent wäre, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Grenzen eines Staates einzutreten, und zugleich die Geltung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien für die Beziehungen des Staates zu Personen außerhalb seiner Grenzen abzulehnen. Eine solche Inkohärenz ist jedoch nicht erkennbar. Warum sollten sich die Mitglieder einer geschlossenen Gemeinschaft nicht unter einander und unter Ausschluss Dritter versprechen können, ihre individuelle Handlungsfreiheit so weit wie möglich zu respektieren und zu sichern und über gemeinsame Angelegenheiten demokratisch abzustimmen? – Daran könnte man nur dann zweifeln, wenn man das Autonomieprinzip im Sinne von Raz oder das Diskursprinzip von Habermas als eine Art Menschenrecht auffassen würde. Aber beide Prinzipien referieren nicht auf Menschenrechte. Das bleibt allerdings verborgen, solange man den Zweck der Menschenrechte mittels des Begriffs der individuellen Selbstbestimmung zu bestimmen versucht und dabei der Vagheit dieses Begriffs zum Opfer fällt. Die Menschenrechte schützen nicht die individuelle Selbstbestimmung, die eine Person so oder anders vorgenommen hat, sondern nur die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen. Die Fähigkeit der Selbstbestimmung ist die Fähigkeit, einen eigenen Willen höherer Ordnung entwickeln zu können, um zu bestimmen, wer man sein will und welche Pläne man verwirklichen will. Die Menschenrechte schützen aber nicht das Interesse, einen frei entwickelten Willen in diesem Sinne auch in die Tat umzusetzen. Deshalb wäre es eine Verletzung von Menschenrechten, mittels externer Steuerung der Abläufe im Gehirn zu verhindern, dass jemand sich entschließen kann, eine Bank zu überfallen. Aber es verletzt nicht die Menschenrechte, wenn er daran gehindert wird, diese freie Willensentscheidung in die Tat umzusetzen. Auch das Demokratieprinzip ist nicht durch Menschenrechte geschützt. Zum einen kann die personale Integrität auch unabhängig von demokratischen Willensbildungsprozessen geschützt werden, zum anderen schließen letztere eine Attacke auf die personale Integrität keineswegs aus. Demokratie hat deshalb nur unter wohl definierten Bedingungen einen gewissen instrumentellen Wert, aber es ist kein Wert an sich, der als solcher einen Aspekt der personalen Integrität repräsentiert. Nun stellen wir uns vor, Berkhanistan verfügt über Akademien, in denen schlaue Rechts- und Sozialphilosophen ausgebildet werden. Diese kommen eines Tages auf die Idee, dass es keiner besonderen normativen Bindung bedürfe, um den freien Bärenmenschen den Zutritt zu verweigern. Das Recht dazu folge nämlich bereits aus den überpositiven Normen, die schon im Naturzustand gelten. – Nun gelten, wie bereits gesagt, im Naturzustand nur und ausschließlich die Menschenrechte. Das Argument könnte deshalb nur dann überzeugend sein, wenn es sich bei dem in Frage stehenden Recht auf Ausschluss um ein Menschenrecht handelte. Das wäre dann, aber auch nur dann der Fall, wenn das Recht auf Ausschluss sich auf den Schutzbereich der Personalität bezöge. Es wäre also zu fragen, ob die personale

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Identität, d. h. die Authentizität von Personen dadurch beschädigt oder vernichtet wird, dass das geltend gemachte Recht auf Ausschluss nicht beachtet wird und die freien Bärenmenschen ungerührt weiterhin das Staatsgebiet von Berkhanistan betreten. – Die Evidenz dieser Annahme drängt sich jedenfalls nicht unmittelbar auf. Aber die schlauen Philosophen und Juristen geben sich so schnell nicht geschlagen. Sie machen geltend, dass es unstreitig und allgemein anerkannt sei, dass der Katalog der Menschenrechte auch das Recht auf Eigentum und das Recht auf Vereinigungsfreiheit umfasse. Auf beides könne sich Berkhanistan, bzw. die Gemeinschaft der Berkhanistaner gegenüber den freien Bärenmenschen berufen. 2. Das Recht auf Ausschluss als Eigentumsrecht Von einigen Philosophen wird die Auffassung vertreten, dass sich ein Recht auf Exklusion, wenn überhaupt, dann nur aus einem Recht auf Eigentum begründen lässt.30 Einen solchen Begründungsversuch unternimmt Ryan Pevnick.31 Dabei stützt er sich auf den Gedanken von John Locke, wonach das Erzeugen von (Mehr-) Wert durch Arbeit eigentumsrechtliche Ansprüche generiert.32 Danach erwirbt der Verarbeiter und Veredler von Rohstoffen nicht nur hinsichtlich des Arbeitsergebnisses, sondern auch hinsichtlich des Rohstoffs durch den Vorgang der Verarbeitung Eigentum. Pevnick stellt nun darauf ab, dass die Einwohner eines staatlichen Territoriums einen besonderen Anspruch auf die Güter haben, die sie durch ihre Beiträge zum Aufbau und zur Erhaltung staatlicher Institutionen (etwa durch Steuern) geschaffen haben. Auf dieser Grundlage tun die Bürger eines Staates kein Unrecht, wenn sie Außenstehende von der Nutznießung an den Institutionen ausschließen, die sie gemeinsam aufrechterhalten. Ohne diese Beiträge würden die Institutionen gar nicht existieren, und in diesem Sinne verlieren Außenstehende nichts, wenn ihnen der Zugang zu diesen Institutionen verwehrt bleibt. Diese Argumentation zeigt zunächst, dass das Eigentumsrecht, das Locke und Pevnick im Auge haben, jedenfalls kein Menschenrecht ist. Denn es dient nicht dem Schutz der Personalität von Menschen. Man kann Person sein und sein Leben authentisch selbst bestimmen können, ohne Eigentümer von Grundflächen oder Miteigentümer von Institutionen zu sein. Man kann zwar darüber nachdenken, ob jeder Mensch zur Aufrechterhaltung seiner Personalität nicht auf ein materielles Existenzminimum angewiesen ist, also ausreichend mit Essen, Kleidung und Un30  Urs Marti, „Mein und Dein. Eigentum oder Eigenart? Überlegungen zur Begründung eines Rechts auf Exklusion“, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hrsg.), Migration und Ethik. Münster, mentis 2012; Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. Hamburg: Körber Stiftung 2017, S. 158 ff. 31  Ryan Pevnick, Immigration and Contraints of Justice. Between Borders and Absolute Sovereignty. Cambridge: CUP 2011. 32  John Locke, The Second Treatise of Government. London: Black Swan 1690, Kap. V.

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terkunft versorgt sein muss. Gewiss braucht er, um seine geistige Fähigkeit zur Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten, auch Zugang zu Büchern, Zeitschriften oder zum Internet. Aber er benötigt nicht einmal an diesen Mitteln der Existenzsicherung unbeschränkte Nutzungs- und Verfügungsmacht, also Eigentum. Schon gar nicht brauchen Kollektive zur Aufrechterhaltung der personalen Identität ihrer Mitglieder Eigentum an Grund und Boden. Die Kollektive selbst verfügen prinzipiell nicht über Personalität und kommen als Träger von Menschenrechten schon deshalb nicht in Betracht. Pevlicks Begründung eines moralischen Eigentumsrechts lässt sich deshalb nur dann für ein staatliches Ausschlussrecht fruchtbar machen, wenn es entgegen meiner bisherigen Annahme im Naturzustand eben nicht nur normative Verbindlichkeit qua Menschenrechte gibt, sondern daneben auch normative Verbindlichkeit qua Eigentumsrecht. Auf der Grundlage von Lockes Eigentumstheorie lässt sich das jedenfalls nicht zeigen. Denn das Territorium des Staates lässt sich auch im Sinne Lockes nicht als Rohstoff verstehen, durch dessen Be- und Verarbeitung die staatlichen Institutionen geschaffen werden.33 Zwar sind die staatlichen Institutionen nur arbeitsfähig, wenn sich ihre dinglichen und persönlichen Elemente an einer bestimmten Stelle der Erdoberfläche befinden. Aber daraus folgt auch nach Locke nicht das Eigentum an dieser Stelle der Erdoberfläche. Auch Locke hätte wohl aus dem Umstand, dass die Postkutschen ihren Dienst nicht ohne Straßen versehen können, nicht geschlossen, dass die Straßen dadurch zum Eigentum dessen werden, der auf ihnen die Postkutschen betreibt. Das Eigentum am Staatsgebiet kann also mit Hilfe der Locke’schen Eigentumstheorie schwerlich begründet werden. Man müsste schon auf die Eigentumstheorie Ciceros zurückgreifen, um den Eigentumsanspruch am Staatsgebiet mit philosophischer Autorität begründen zu können. Nach Cicero wird das Eigentumsrecht am Land durch Inbesitznahme unbewohnter Gebiete oder durch kriegerische Eroberung erworben.34 Dabei denkt Cicero aber nicht nur im Fall der Eroberung, sondern auch bei der friedlichen Landnahme an kollektive Aktionen, die zunächst zu Gemeineigentum führen. Nach dem Willen und dem Recht des Kollektivs kann es dann zur Parzellierung des Gemeineigentums in Privateigentum kommen. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch schon in Platons Nomoi, der ebenfalls die Inbesitznahme unbewohnten Landes durch Kolonisten im Auge hat.35 Der logische Schluss von der faktischen Inbesitznahme von Land und von der danach dauerhaft ausgeübten faktischen Sachherrschaft auf ein Eigentumsrecht an dem Land beruht aber offensichtlich auf einem Denkfehler, nämlich auf dem, was man einen naturalistischen Fehlschluss nennt. David Hume, der diesen Denkfehler  Ebenso Cassee (Fn. 10) S. 82.   Marcus Tullius Cicero, De Officiis I, 21. 35  Platon, Nomoi IX, 877d. 33 34

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erstmals beschrieben hat, stützt das Eigentumsrecht deshalb nicht auf faktische Besitznahme, sondern auf das Recht: Eigentum kann es als Institution nur innerhalb einer Rechtsordnung geben, die dieses Institut vorsieht, weil es der Gesellschaft nützlich erscheint.36 Auch Hugo Grotius kann sich die Begründung von Eigentum an staatlichen Territorien nicht anders als durch einen (völkerrechtlichen) Vertrag vorstellen, an dem diejenigen, die von diesem Territorium ausgeschlossen werden sollen, als Vertragspartner beteiligt sind.37 Von einem überstaatlichen Eigentumsrecht könnte deshalb nur dann die Rede sein, wenn die Bärenmenschen nicht nur das Faktum zur Kenntnis genommen hätten, dass die Bewohner von Berkhanistan das von ihnen besetzte Land gern als ihr Eigentum betrachtet sehen möchten, sondern wenn sie sich auch entschieden hätten, diesem Wunsch zu entsprechen und also anzuerkennen, dass das Territo­ rium von Berkhanistan künftig den Berkhanistanern zur ausschließlichen Nutzung und Beherrschung überlassen bleiben soll. Ein solcher Akt der Anerkennung wäre allerdings das Ende des Naturzustandes und der Beginn einer völkerrechtlichen Beziehung zwischen Berkhanistan und den freien Bärenmenschen. Im Naturzustand ist die Inbesitznahme eines Teils der Erdoberfläche durch einen Klan oder ein Volk unter Ausschluss aller Menschen, die nicht zu diesem Volk gehören, ein bloß faktischer Akt der Usurpation, der als solcher keinerlei normative Konsequenzen hat. Ein Recht auf Ausschluss, das gegenüber Ausländern insoweit Geltung beanspruchen kann, als diese als verpflichtet angesehen werden können, die Grenzen des Staates zu respektieren, lässt sich daraus nicht ableiten. Pevnick bringt zur Verteilung seiner Eigentumsthese noch ein weiteres Argument vor: Der Ausschluss von Migration sei für einen Staat notwendig, um zu verhindern, dass Personen, die nichts zum Aufbau und dem Unterhalt der staatlichen Institutionen beigetragen hätten, im Wege des Trittbrettfahrens dennoch in den Genuss von deren Leistungen kämen.38 Man kann dabei an das denken, was unter dem Schlagwort von der Einwanderung in die Sozialsysteme diskutiert wird. Aber daraus folgt ebenfalls kein ausschließliches Recht auf das Territorium. Andreas Cassee demonstriert das am Beispiel eines Yoga-Clubs, der jeden Morgen im öffentlichen Park seine Übungen macht.39 Der Club kann es nicht verhindern, dass Passanten die Übungen einfach mitmachen. Er kann nicht, um Mitnahme-Effekte zu vermeiden, die Passanten des Parks verweisen. Das Motiv, Ausländer vom Staatsgebiet fernzuhalten, damit sie keinen Zugang zu den staatlichen Institutionen bekommen, mag im wohlverstandenen Eigeninteresse des Staates liegen. Aber aus dem wohlverstandenen Interesse folgt keine Pflicht anderer, sich selbst so zu verhalten, wie es diesem fremden Eigeninteresse dient. Deshalb lässt sich auch auf diese Weise ein moralisches Recht auf Ausschluss nicht begründen.   David Hume, An Enquiriy Concerning the Principles of Morals 1751 III, 18.   Grotius (Fn. 3) II II, II 5. 38  Pevnick (Fn. 31) S. 57. 39  Cassee (Fn. 10) S. 84. 36 37

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3. Das Recht auf Ausschluss als Vereinigungsfreiheit Eine andere Strategie zur Verteidigung eines Rechts der Staaten auf Ausschluss von Ausländern stellt auf das Recht der Vereinigungsfreiheit ab.40 Unter dem Recht auf Vereinigungsfreiheit versteht man gemeinhin das Recht, gemeinsam mit anderen eine Vereinigung zu gründen oder einer bereits bestehenden Vereinigung beizutreten (positive Vereinigungsfreiheit) sowie das Recht, bei der Gründung einer Vereinigung nicht mitzuwirken und einer bestehenden Vereinigung nicht beizutreten (negative Vereinigungsfreiheit). Das Recht umfasst weiterhin die Freiheit einer Vereinigung, allein durch ihre Mitglieder nach den Regeln, die sich der Verein selbst gegeben hat (Satzung), die Vereinszwecke festzulegen und über die Vereinsauflösung sowie darüber zu entscheiden, ob Bewerber für die Mitgliedschaft aufgenommen werden sollen oder nicht (kollektive Vereinigungsfreiheit).41 Dieser letztgenannte Aspekt der Vereinigungsfreiheit wird geltend gemacht, um zu begründen, dass Staaten ein Ausschlussrecht haben. Nach Christopher H. Wellman sind Staaten Vereinigungen, für die im Prinzip nichts anderes gilt wie für jeden Golf- oder Tennisclub.42 Ebenso wie allein die Mitglieder dieser Vereine darüber entscheiden, ob und ggf. unter welchen Bedingungen sie neue Mitglieder aufnehmen, so soll auch der Staat durch seine Bürger das Recht haben zu entscheiden, wer in das Staatsgebiet zuziehen und in die staatliche Gemeinschaft aufgenommen werden soll und wer nicht. Andreas Cassee hat gegen dieses Argument geltend gemacht, dass das kollektive Selbstbestimmungsrecht, das Staaten für sich in Anspruch nähmen, von dem individuellen und kollektiven Menschenrecht auf Vereinigungsfreiheit kategorial zu unterscheiden sei. Denn Individuen hätten – im Unterschied zum Fall von Vereinen – nicht das Recht, frei zu entscheiden, ob sie einer staatlichen Gemeinschaft angehören wollten oder nicht. Vielmehr bestimme der Staat hoheitlich, ob und unter welchen Bedingungen eine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft gewährt werde.43 Im Unterschied zu Vereinen habe der Staat auch nicht das Recht, Mitglieder gegen deren Willen und ohne Rücksicht darauf, ob sie staatenlos werden, auszuschließen. Im Unterschied zum Staat dürften Vereine den Nachkommen der Mitglieder den Beitritt verweigern. Menschen, die aus einem Verein austreten oder gar nicht erst beiträten, hätten das Recht, einen eigenen Verein zu gründen, aber nicht das Recht, einen eigenen Staat zu gründen.44 Schließlich seien auch private Vereine keine „moralfreien Zonen“. Die Verweigerung des Beitritts könne auch 40  Christopher Heath Wellman, „Immigration and Freedom of Association“, Ethics 119/1 (2008), 109. 41  Maunz / Dürig / Scholz, Grundgesetz-Kommentar. München: 78. ErgLf. C.H.Beck 2016, Artikel 9 Rn. 42, 43. 42  Zu dieser Analogie kritisch, Sarah Fine, „Freedom of Association Is Not the Answer“, Ethics 120/2 (2010), 338. 43  Cassee (Fn. 10) S. 41. 44  Cassee (Fn. 10) S. 50 f.

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bei privaten Vereinen eine Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der Rasse darstellen und in diesen Fällen moralisch unzulässig sein. Das gelte erst recht für den Staat.45 Diese Argumente erscheinen auf den ersten Blick einleuchtend zu sein, können aber bei genauerer Betrachtung nicht überzeugen. So spricht die Zwangsmitgliedschaft im Staat nicht zwingend gegen ein staatliches Recht auf Vereinigungsfreiheit. Genauso gut kann man aus dem Bestehen eines staatlichen Rechts auf Vereinigungsfreiheit darauf schließen, dass die Zwangsmitgliedschaft moralisch unzulässig ist, weil sie weit über das hinausgeht, was der Staat für sich aus dem Recht der Vereinigungsfreiheit ableiten kann. Entsprechendes gilt für die mögliche Pflicht von Staaten, die Gründung neuer Staaten zu akzeptieren. Das Verbot, die Staatsbürgerschaft zu entziehen oder das Gebot, die Nachkommen von Mitgliedern als neue Mitglieder zu akzeptieren, könnte auf dem selbst gewählten „Vereinszweck“ anständiger Staaten beruhen und deshalb nicht im Widerspruch zum Recht auf Vereinigungsfreiheit stehen. Cassee macht im Anschluss an Sarah Fine schließlich noch geltend, dass es bei der Einreiseverweigerung zunächst einmal darum geht, den Zutritt zu einem Territorium zu verweigern.46 Darauf könnte nur dann ein Recht bestehen, wenn es ein exklusives Recht am Territorium gäbe. Ein solches Recht könne aber aus der Vereinigungsfreiheit nicht abgeleitet werden. Die Vereinigungsfreiheit impliziere kein Eigentumsrecht an Sachen. Wenn sich aus der Vereinigungsfreiheit ein Recht auf Ausschluss ableiten lasse, dann nur im Hinblick auf die Mitgliedschaft in der staatlichen Vereinigung, also im Hinblick auf Zugang zu den staatlichen Institu­ tionen und zur Staatsbürgerschaft. Ein Recht auf Abweisung vom staatlichen Territorium lasse sich so nicht begründen. Das könnte nur ein Eigentumsrecht leisten. Im Ergebnis übereinstimmend mit Cassee habe ich im vorigen Abschnitt dafür argumentiert, dass ein solches Recht des Staates auf Eigentum am Territorium zurückgewiesen werden muss. Dieses Argument Cassees ist zwar überzeugend, verschiebt das Problem aber nur. Denn es hätte zur Folge, dass zwar kein staatliches Recht auf Ausschluss vom Territorium besteht, wohl aber ein staatliches Recht auf Ausschluss von jedweder gesellschaftlichen Integration. Unter den Lebensbedingungen moderner Indus­ triestaaten kommt der Ausschluss von jeglicher gesellschaftlicher Integration aber dem Ausschluss vom Territorium gleich, denn er würde die Freiheit, das Territo­ rium betreten zu dürfen, vollständig entwerten. Deshalb ist es notwendig, das Problem etwas grundsätzlicher anzugehen: Im Naturzustand können sich Individuen oder aus Individuen bestehende Vereinigungen jedweder Art gegenüber Nichtmitgliedern nur dann auf ein Recht der Vereinigungsfreiheit berufen, wenn es sich dabei um ein Menschenrecht handelt. Denn 45  Cassee (Fn. 10) S. 47; ähnlich auch Michael Blake, „Immigration, Association, and Antidiscrimination“, Ethics 122/4 (2012), 748. 46  Cassee (Fn. 10) S. 53; Fine (Fn. 42) S. 343 ff.

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im Naturzustand gibt es keine Rechte und Pflichten außer den Menschenrechten und den diesen korrespondierenden Menschenpflichten. Für die Annahme, dass es sich bei der Vereinigungsfreiheit um ein Menschenrecht handelt, spricht der Umstand, dass sie zu dem hergebrachten Inhalt kodifizierter Menschenrechtskataloge gehört.47 Wie aber schon am Beispiel des Eigentumsrechts gezeigt werden konnte, sind nicht überall, wo Menschenrechte draufsteht, auch Menschenrechte drin. Das bloße Label, das Diplomaten und Politiker einem Recht aufkleben, wenn sie internationale Verträge oder nationale Verfassungen formulieren, entscheidet noch nicht darüber, ob es sich tatsächlich um ein Menschenrecht handelt. Dies hängt vielmehr davon ab, ob es sich um ein Recht handelt, das jedem Menschen allein um seines Personseins willen zusteht und dessen Schutzbereich nichts anderes betrifft als die Personalität. Das ist nur dann der Fall, wenn die Abwesenheit oder Missachtung dieses Rechts dazu führt, dass Menschen weder die ihnen eigene noch die Personalität ihrer Mitmenschen aufrecht erhalten können. Es stellt sich deshalb zunächst die Frage, ob diese Bedingung auch für die Vereinigungsfreiheit erfüllt ist. Das Recht der allgemeinen48 Vereinigungsfreiheit wird häufig als eine Ausprägung der so genannten Kommunikationsrechte aufgefasst, zu denen neben der Versammlungsfreiheit vor allem die Meinungs- und Informationsfreiheit zählt.49 Die Kommunikationsrechte dienen der Sicherung eines freien gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozesses. Sie sind in der Tat Menschenrechte.50 Denn Personen können sich nur dann authentisch selbst bestimmen, wenn sie über hinreichende Informationen verfügen und in einem kommunikativen Meinungsbildungsprozess zusammen mit anderen Personen Erwägungen anstellen, Argumente und Erfahrungen austauschen und Lebenspläne probeweise gedanklich durchspielen können. Kommunikation ist die notwendige Bedingung der geistigen Integrität der Person. Ohne Kommunikation verlieren Personen ihre Orientierung. Sie können sich nicht mehr aus eigenen Erwägungen und Reflexionen authentisch selbst bestimmen, sondern werden zum Spielball allfälliger Fremdsteuerung und Manipulation. Deshalb gehört das Recht, seine Gedanken offen zu äußern und das Recht, sich über die Gedanken anderer Menschen zu informieren sowie das Recht auf unzensierte Information über die tatsächlichen Grundlagen der Meinungsbildung zum Kernbestand der Menschenrechte. Weiterhin gehört es auch zu den Menschenrechten, sich mit anderen Personen zu versammeln, um den geistigen 47  Vgl. Artikel 20 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR); Artikel 22 Interna­ tionaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR). 48  Das Attribut „allgemein“ gilt im Verfassungsrecht der Unterscheidung von der Koalitionsfreiheit, welche als besondere Vereinigungsfreiheit betrachtet wird. Einen besonderen Status hat im Verfassungsrecht demokratischer Staaten auch das Recht zur Bildung und zum Beitritt zu politischen Parteien. Von einem besonderen Recht der Vereinigungsfreiheit kann man auch im Hinblick auf das Recht zur Eheschließung oder Familiengründung sprechen sowie im Hinblick auf Religionsgemeinschaften, die unter den Schutz des Rechts auf Religionsfreiheit fallen. 49  Maunz / Dürig / Scholz (Fn. 41), Art. 9 Rn. 33. 50  Dazu näher, Tiedemann (Fn. 19), S. 359 ff.

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Austausch zu pflegen und sich gegenseitig in der Meinungsbildung zu unterstützen, in Frage zu stellen, zu bestätigen oder eine Meinung gemeinsam öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Vereinigungen können den Zweck haben, den Austausch von Gedanken und Informationen zu verstetigen, bzw. auf bestimmte Themen hin zu fokussieren, an denen die Mitglieder ein gemeinsames dauerhaftes Interesse haben. In diesem Rahmen gehört auch die Vereinigungsfreiheit zu den Kommunikationsrechten. Das gilt nicht nur für Vereinigungen, die dem Zweck des intellektuellen Austauschs dienen. Es gilt vielmehr auch für solche Vereinigungen, in denen andere Aktivitäten als Diskussion und Vortrag zum Medium der Kommunikation werden. Zu denken ist etwa an Wandervereine, Tanzvereine, Sportvereine oder sonstige so genannte Ideal-Vereine. Das positivierte Recht der Vereinigungsfreiheit geht aber über den Schutz kollektiver Kommunikationsformen deutlich hinaus. Es erfasst nämlich auch solche Vereine, deren Zweck nicht oder jedenfalls nicht intrinsisch in der Organisation von Kommunikation besteht, sondern in der Schaffung von Synergieeffekten und gesellschaftlicher Macht, um bestimmte Interessen der Mitglieder im Wege der Koordination und Kooperation wirksam durchzusetzen. Das ist das Ziel all jener Vereinigungen, die unter die Begriffe der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Vereine fallen. Solche Vereine sind in vielfacher Hinsicht für das Leben einer Gesellschaft als auch für den Einzelnen von enormem Wert und in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar. Aber es handelt sich doch nicht um solche, die primär der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Personalität durch Kommunikation dienen. Vereinigungsfreiheit im Hinblick auf solche Vereinigungen hat seine Basis im Demokratieprinzip, aber nicht in den Menschenrechten.51 Zu den Vereinigungen, die unter den Schutzbereich des positivierten allgemeinen Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit fallen, gehören nicht nur jene Vereinigungen, die ihre Legitimation aus den Menschenrechten oder aus dem Demokratieprinzip beziehen. Vielmehr fallen beispielsweise auch kriminelle Vereinigungen zunächst einmal unter den positivierten Schutzbereich. Auf Vereinigungen dieser Art sind die Vorbehalte bezogen, die es erlauben, sie zu verbieten oder zu verfolgen. Staaten sind nicht selten kriminelle Vereinigungen. Aber selbst da, wo sie segensreich wirken, geht ihr Zweck doch weit über den Schutz der Personalität ihrer Mitglieder hinaus. Ein wesentlicher Zweck, den Staaten kollektiv verfolgen, ist beispielsweise die Mehrung der Wohlfahrt durch die Organisation von Arbeitsteilung und die gerechte Verteilung von Lasten und Nutzen der Zusammenarbeit, aber beispielsweise auch die Organisation und Finanzierung von Großprojekten wie etwa die Erforschung des Weltalls oder der Tiefsee oder der Schutz der Umwelt. Das positivierte Recht auf Vereinigungsfreiheit ist also nicht deckungsgleich mit dem Menschenrecht, sondern geht darüber hinaus. Es macht Sinn, in diesem Zu  Maunz / Dürig / Scholz (Fn. 41), Art. 9 Rn. 35.

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sammenhang die Metaphorik von „Kern“ und „Hof“ heranzuziehen, um den harten, d. h. gegen jede Relativierung und Abwägung resistenten menschenrechtlichen Kern dieses Rechts von einem weiteren grundrechtlichen Hof zu unterscheiden.52 In dem Hof des kodifizierten Grundrechts geht es nicht um den Schutz der personalen Integrität, also der Willensfreiheit, sondern um eine Optimierung oder Maximierung der Handlungsfreiheit. Die Handlungsfreiheit einer Person findet ihre zwingende Grenze stets da, wo die Handlungsfreiheit der anderen beginnt. Es gibt keinen objektiven Maßstab, um diese Grenze näher zu bestimmen. Deshalb sind hier Abwägungen und Relativierungen unvermeidlich. Auf das moralische Prinzip (nicht Recht!) der Handlungsfreiheit wird weiter unten noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle genügt es festzustellen, dass der Schutz der Handlungsfreiheit nicht Schutzzweck der (moralischen) Menschenrechte ist. Auch Staaten, die den Schutz der Menschenrechte als Kernaufgabe ansehen, fallen als solche nicht unter den Kernbereich des Menschenrechts der Vereinigungsfreiheit, sondern nur unter den Bereich, in dem es um den Schutz der Handlungsfreiheit geht. Eine nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung dieser Freiheit verletzt als solche kein kollektives Menschenrecht des Staates auf Vereinigung, sondern ermöglicht nur die Verletzung der Menschenrechte von Individuen, die den Schutz des Staates nicht mehr in Anspruch nehmen können. Staaten fallen schließlich auch insoweit nicht unter den Schutzbereich des Rechts auf Vereinigungsfreiheit als sie gerade die Organisation von Kommunikation zu ihren Kernaufgaben erklärt haben. Kommunikation ist nämlich Aufgabe der Zivilgesellschaft und nicht die Aufgabe des Staates. Staaten, die sich um Kommunikation kümmern, indem sie beispielsweise Staatsmedien aufbauen und unterhalten oder das Internet regulieren, stellen eher eine Gefahr für die Menschenrechte dar. Sie üben aber keine Menschenrechte aus. Aus alledem ergibt sich, dass Staaten sich für den Ausschluss von Ausländern nicht auf das Menschenrecht der Vereinigungsfreiheit berufen können. Das Ansinnen der Zuwanderung könnte sie allenfalls in ihrer kollektiven Handlungsfreiheit einschränken, nicht aber im Hinblick auf die Möglichkeit der Achtung und des Schutzes der Personalität ihrer Bürger. Nur im Falle eines feindseligen Angriffs von Verbrechern wäre das womöglich anders. Aber dieser Sonderfall rechtfertigt kein allgemeines Recht auf Ausschluss. 4. Das Recht auf Ausschluss aus öffentlichen Interessen Bisweilen wird das Recht auf Ausschluss von Zuwanderung damit begründet, dass dem Zuzug einer großen Zahl von Menschen aus dem Ausland grundlegen52  Diese Metaphorik scheint Philipp Heck in die juristische Methodenlehre eingeführt zu haben, um die Unbestimmtheit von Begriffen verständlich zu machen. Er unterscheidet zwischen Begriffskern und Begriffshof. Vgl. Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz. Tübingen: J. H. B. Mohr 1914, S. 107.

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de öffentliche Interessen des Staates und seiner Gesellschaft entgegenstehen können.53 Zu diesen grundlegenden öffentlichen Interessen gehört nicht nur die Sorge um den wirtschaftlichen Wohlstand, um das Preisniveau oder um den Wohnungsmarkt, sondern auch das Interesse am Schutz dessen, was Friedrich Merz einmal die „deutsche Leitkultur“ genannt hat und unter Philosophen gern auch kulturelle oder nationale Identität genannt wird.54 Ob die Argumente, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, wohlverstandene Eigeninteressen bewusst machen oder ob es hier um Interessen geht, die sich eher irrationalen Ängsten verdanken, soll hier nicht diskutiert werden.55 Entscheidend in unserem Zusammenhang ist allein die Tatsache, dass aus den wohlverstandenen oder törichten Interessen, die ein individuelles oder kollektives Subjekt hat, keinerlei normative Bindungen für andere Personen oder Kollektive folgen. Denn Interessen sind Tatsachen und allein aus Tatsachen folgen keine Normen. Anders wäre es nur, wenn die kulturelle Identität menschenrechtlich geschützt wäre. Es gibt aber kein Menschenrecht auf kulturelle Identität. Denn ob ein Mensch Personalität entwickeln und aufrechterhalten kann, hängt nicht davon ab, dass er von neuen kulturellen Einflüssen unberührt bleibt. Diese mögen vielleicht seine Handlungsfreiheit beeinträchtigen, z. B. weil er den Sonntagnachmittag nicht mehr zur Erholung genießen kann, wenn der kulturelle Wandel zur Abschaffung des Feiertagsgebotes führt. Aber das beeinträchtigt nicht seine personale Identität. Ebenso wenig ist seine Identität bedroht, wenn der Wohnungs- oder Arbeitsmarkt anzieht oder das allgemeine Preisniveau steigt. Auch dies kann natürlich Handlungsoptionen beschränken. Aber die personale Identität ist dadurch allenfalls in extremen Fällen beeinträchtigt, wenn durch Zuwanderung die völlige Verelendung von Teilen der Aufnahmegesellschaft droht. Aus einem solchen nur abstrakt denkbaren Extremfall folgt aber jedenfalls kein allgemeines Recht des Staates, die Einwanderung von Ausländern zu untersagen und es folgt daraus folglich auch keine Pflicht von Ausländern, die unerlaubte Einwanderung zu unterlassen. Dass aus bloßen Interessen keine Rechte folgen, steht auch dem Argument von Michael Blake entgegen, der aus dem staatlichen Selbstverständnis als Friedensordnung den Schluss zieht, dass Staaten das Recht auf Ausschluss haben müssen. Der Staat als Friedensordnung schützt die basalen Rechte aller Menschen auf sei53  Klaus Ferdinand Gärditz, „Territoriality, Democracy, and Borders, A Retrospective on the ‚Refugee Crisis‘“, German Law Journal 17/6, http://www.germanlawjournal.com/volume17-no-06; Nick Gill, „Whose „No Borders“? Achieving Border Liberalization for the Right Reasons“, Refuge 26/2 (2009), 107 – https://refuge.journals.yorku.ca/index.php/refuge/issue/ view/1828; Nida-Rümelin (Fn. 30) S. 165. 54  Friedrich Merz, Einwanderung und Identität. (25. 10. 2000) https://www.welt.de/printwelt/article540438/Einwanderung-und-Identitaet.html; Will Kymlicka, „Staatsgrenzen“, DZPhil 54/4 (2006), 549. 55 Dazu Janne Mende, Kultur als Menschenrecht. Ambivalenzen kollektiver Rechtsforderungen. Frankfurt/M u.a.: Campus 2015; Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München: Siedler 2014, insbes. S. 247 ff.; vgl. auch Cassee (Fn. 10) S. 97 ff.; Mona (Fn. 8) S. 351 ff.

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nem Territorium und ist mit einer entsprechenden Schutzpflicht belastet. Er hat deshalb ein Interesse daran, Zuwanderung zu kontrollieren, weil jede Immigration mit einem Zuwachs an staatlichen Schutzpflichten verbunden ist.56 Selbst wenn man, wie Blake es tut, dieses Selbstverständnis aus dem Begriff des Staates überhaupt ableitet, folgen daraus keine Rechte gegenüber den freien Bärenmenschen außerhalb des Staates. Das Interesse, nicht mit allzu vielen Pflichten belastet zu werden, die sich der Staat aufgrund seines Selbstverständnisses selbst auferlegt, folgt keine Pflicht der freien Bärenmenschen, die illegale Einwanderung zu unterlassen.57 Will Kymlicka, der den hohen Wert einer nationalen Identität für den Zusammenhalt einer Gesellschaft betont, leitet denn auch daraus kein Recht auf Ausschluss ab, sondern fragt nur, ob etwas falsch daran sei, die nationale Identität durch Kontrolle der Grenzen zu schützen.58 Diese Frage kann verneint werden, wenn durch eine Politik des Ausschlusses keine Rechte der Migrationswilligen verletzt werden. Ein eigenes Recht auf Ausschluss folgt daraus nicht.

IV. Gibt es ein Recht von Individuen auf globale Freizügigkeit? Aus dem Umstand, dass der Staat kein moralisches Recht hat, die Einwanderung von Ausländern zu untersagen und Menschen deshalb dem fremden Staat gegenüber nicht moralisch verpflichtet sind, Einwanderung zu unterlassen, folgt allerdings noch nicht, dass der Staat moralisches Unrecht tut, wenn er Ausländer faktisch an der Einwanderung hindert oder bereits in das Staatsgebiet eingedrungene Ausländer auch gegen deren Willen wieder ins Ausland verbringt. Ein solches staatliches Handeln wäre nur dann moralisches Unrecht, wenn Ausländer gegenüber dem Staat ein moralisches Recht auf Einwanderung hätten. Einem solchen Recht würde dann nämlich die moralische Pflicht des Staates entsprechen, die Einwanderung zu dulden. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es im Naturzustand ein moralisches Recht auf Einwanderung in einen beliebigen Staat der eigenen Wahl gibt. 1. Gibt es ein Menschenrecht auf globale Freizügigkeit? Da es im Naturzustand Menschenrechte gibt, ist es naheliegend zu fragen, ob der Katalog der moralischen Menschenrechte auch ein Recht auf globale Freizügigkeit umfasst. Genau dies behauptet Andreas Cassee. Dabei stützt er sich auf zwei verschiedene Argumentationsstränge, die durchaus unabhängig voneinander be56  Michael Blake, „Immigration, Jurisdiction, and Exclusion“, Philosophy & Public Affairs 41/2 (2013), 103. 57  Blake (Fn. 56); S. 105 trägt in Erwiderung auf andere Begründungsversuche eines Rechts auf Ausschluss selbst vor, „From the fact that we have an interest in a particular set of politicies, we cannot infer that we have a right to it …“. 58  Kymlicka (Fn. 54) S. 566.

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trachtet werden können. Der erste Argumentationsstrang nimmt seinen Ausgangspunkt von dem Faktum, dass das Recht auf Freizügigkeit in den einschlägigen juridischen Menschenrechtskodifikationen enthalten ist.59 Diese Kodifikationen enthalten allerdings immer nur ein Freizügigkeitsrecht, das sich auf das Territorium eines Staates erstreckt. Sie umfassen also nicht das Recht, nach eigenem Belieben Staatsgrenzen überschreiten und in ein anderes Staatsterritorium einreisen zu dürfen. Es handelt sich somit nur um ein Recht auf nationale Freizügigkeit und nicht um ein Recht auf globale Freizügigkeit. Doch dieser Umstand fällt für Cassee im Anschluss an Jan Brezger nicht ins Gewicht: „Weshalb sollte aus einem menschenrechtlichen Anspruch ein Privileg werden, das nach Belieben gewährt oder verweigert werden darf, bloß weil eine Staatsgrenze zwischen meinem Geburtsort und dem Ort liegt, an dem ich gerne leben möchte?“60 Hinter dieser rhetorischen Frage steht offenbar die Auffassung, dass die Formulierung des Menschenrechts auf Freizügigkeit in den einschlägigen Kodifikationen der ethischen Intention nicht gerecht wird, die hinter diesem Recht steht und es als Menschenrecht ausweist. Deshalb ist die Beschränkung der Freizügigkeit auf den Raum des nationalen Territoriums nach Cassee nicht legitim und stellt als solche eine Verletzung des moralischen Menschenrechts auf Freizügigkeit dar. Das Argument enthält allerdings einen offensichtlichen Widerspruch. Entweder ist die Aufnahme eines Rechts in den Katalog der einschlägigen juridischen Kodizes ein hinreichender Grund für die Annahme, dass es sich bei diesem Recht nicht nur um ein juridisches, sondern auch um ein moralisches Menschenrecht handelt. Dann muss man es allerdings so nehmen wie es dort steht. Oder aber, die bloße Kodifizierung ist noch kein hinreichender Grund für die Annahme, dass das Recht, das dort beschrieben ist, ein moralisches Menschenrecht erfasst. Dann muss aber die Feststellung, dass es sich bei der globalen Freizügigkeit um ein (moralisches) Menschenrecht handelt, auf anderen Gründen beruhen als auf der bloßen juridischen Kodifikation. Wie ich oben bereits angemerkt habe, folgt aus dem Umstand, dass ein bestimmtes Recht in einem juridischen Kodex formuliert und mit dem Label „Menschenrecht“ versehen worden ist, noch nicht, dass es sich tatsächlich um ein Menschenrecht handelt. Dazu müssen vielmehr Gründe vorliegen, die unabhängig von der Kodifizierung sind. Man kann nicht vom Kodex auf die Moral schließen, sondern nur von der Moral auf das, was in den Kodex aufgenommen werden sollte. Denn die juridische Idee der Menschenrechte ist gerade dadurch charakterisiert, dass es sich um die Verrechtlichung moralischer Normen handelt und nicht, dass das Recht vorschreiben kann, was moralisch ist. Damit ein Recht als Menschenrecht ausgewiesen ist, das auch im Naturzustand Geltung beanspruchen kann, muss es sich um ein Recht handeln, dessen Zweck der Schutz der Personalität ist.   Vgl. Art. 13 Abs. 1 AEMR; Art. 12 Abs. 1 IPbürgR (Fn. 47).   Cassee (Fn. 10) S. 182; s. a. Jan Brezger, „Zur Verteidigung des Menschenrechts auf internationale Bewegungsfreiheit“, Zeitschrift für Menschenrechte 8/2 (2014), 32 ff. 59 60

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Die Inkonsequenz, die Cassee darin sieht, dass das kodifizierte Freizügigkeitsrecht sich nur auf den Raum innerhalb der Grenzen der Nation bezieht und nicht auch grenzüberschreitende Geltung beansprucht, spielt nur dann eine Rolle, wenn sich überhaupt zeigen lässt, dass Freizügigkeit eine Bedingung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Personalität ist. Diese Frage stellt Cassee aber nicht, weil für ihn ein Menschenrecht schon jedes Recht ist, das es erlaubt, Beliebiges zu tun. Es geht nach Cassee nicht darum, dass Menschen „genügend Auslauf“ haben, sondern es geht darum, die Zahl und Reichweite ihrer Handlungsoptionen so weit wie möglich zu erweitern.61 Die maximale Ausweitung von Handlungsoptionen im Hinblick auf die Wahl des Aufenthaltsortes ist für Cassee deshalb ein Menschenrecht, weil dies für die „individuelle Autonomie“ zentral sei. Im Hinblick auf diese individuelle Autonomie sei globale Bewegungsfreiheit sowohl instrumentell als auch intrinsisch wertvoll. So könne man zahlreiche andere Menschenrechte wie etwa die Versammlungsfreiheit oder die Freiheit intime Beziehungen zu Menschen der eigenen Wahl einzugehen oder einen Beruf zu wählen nur dann genießen, wenn man globale Bewegungsfreiheit genieße.62 Andernfalls könne man bestimmte Ehepartner allein deshalb nicht finden, weil sie im Ausland leben, bestimmte Berufstätigkeiten nicht ausüben, weil sich die Arbeitsplätze im Ausland befinden oder bestimmte Versammlungen nicht besuchen, weil sie im Ausland stattfinden. Neben dieser instrumentellen Bedeutsamkeit gebe es aber auch eine intrinsische Bedeutsamkeit. Bewegungsfreiheit trage insofern seinen Wert in sich selbst. Denn Menschen schätzten es einfach, sich aus beliebigen Gründen bewegen zu können wohin sie wollten. Insofern sei Bewegungsfreiheit selbst eine Dimension individueller Autonomie.63 Offenbar meint Cassee die These, dass es ein Menschenrecht auf globale Freizügigkeit gebe, allerdings selbst nicht ernst. Denn er räumt ein, dass es triftige Gründe geben könne, dieses Recht einzuschränken. Es handele sich somit nicht um ein absolutes Recht.64 Nun sind aber Menschenrechte entweder absolute Rechte oder es sind gar keine Rechte, sondern nur Prinzipien im Sinne von Donald Dworkin und Robert Alexy. Prinzipien in diesem Sinne sind Gesichtspunkte, die in allfällige Abwägungsprozesse einzustellen sind, wo ihr jeweiliges von der Situation abhängiges Gewicht gegen das Gewicht konkurrierender Prinzipien ins Verhältnis zu setzen ist.65 Abwägungsprozesse dieser Art sind keine mathematischen Operationen, sondern entscheidend von den Vorverständnissen und Interessen derer abhängig, die   Cassee (Fn. 10) S. 182, 223.   Cassee (Fn. 10) S. 218 f. 63  Cassee (Fn. 10) S. 220. 64  Cassee (Fn. 10) S. 233. 65  Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously. Cambridge: HUP 1977; hier zitiert nach ders., Bürgerrechte ernstgenommen. Frankfurt / M: Suhrkamp 1990, S. 55; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte. Frankfurt / M: Suhrkamp 1994, S. 75 ff. Kritisch dazu, Jan Henrik Klement, „Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt. Robert Alexys Prinzipientheorie aus der Sicht der Grundrechtsdogmatik“, JZ 63 (2008), 756. 61 62

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die Abwägung vornehmen und die Entscheidung zu treffen haben. Prinzipien in diesem Sinne erfüllen deshalb keines der Kriterien, die nach Hohfeld für den Begriff des Rechts gelten.66 Cassees instrumentelles Argument, wonach Bewegungsfreiheit die Ermöglichungsbedingung von Menschenrechten wie etwa der Versammlungsfreiheit sei und deshalb selbst als Menschenrecht qualifiziert werden müsse, ist schon deshalb nicht überzeugend, weil aus dem Wert von X nicht auf den Wert aller Bedingungen von X geschlossen werden kann. Aus dem erstrebenswerten Gut einer Goldmedaille bei den Paralympics folgt nicht, dass Querschnittslähmungen erstrebenswerte Güter sind, obwohl ohne sie die Teilnahme an den Paralympics und damit auch die Goldmedaille nicht möglich wären.67 Aber auch das intrinsische Argument überzeugt nicht. Auch insoweit gilt, was für alle Menschenrechte gilt: Weder das Menschenrecht der Versammlungsfreiheit noch das Menschenrecht der Freiheit von Ehe und Familie sind Rechte auf Maximierung aller Chancen, an Versammlungen teilzunehmen oder Ehen einzugehen. Menschenrechte gewährleisten Willensfreiheit, aber nicht Handlungsfreiheit. Die Freiheit zu handeln wird deshalb nur in jenem engen Rahmen durch Menschenrechte erfasst wie ihre Einschränkung zugleich eine Beeinträchtigung der Willensfreiheit wäre. Indem Cassee den Begriff der Autonomie sehr unspezifisch mit der Freiheit gleichsetzt, zu tun und zu lassen, was man will, verkennt er den spezifischen Sinn, den dieser Begriff im Kontext mit Menschenrechten hat, nämlich den Sinn von Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung (Autonomia) und Abwesenheit von Manipulation, d. h. die Bildung eines eigenen Willens auf der Grundlage eigener Überlegungen und Reflexionen. Die Optimierung oder Maximierung von Handlungsoptionen ist zunächst nur möglicher Gegenstand des politischen Kampfes, den nur diejenigen effektiv führen können, deren Menschenrechte geachtet sind. Es gibt zwar ein normatives Prinzip, das auf die Optimierung von Handlungsoptionen gerichtet ist, nämlich das Prinzip der Präsumtion der Freiheit, wie es in Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in der Lesart des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck kommt.68 In der Terminologie des Verfassungsrechts ist dieses Prinzip gemeint, wenn unspezifisch von „Freiheit“ die Rede ist.69 Aber dieses Prinzip 66  Wesley Newcomb Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning (1917). Faculty Scholarship Series. Paper 4378 – http://digitalcommons.law.yale.edu/ fss_papers/4378; Cassee führt den Begriff des Rechts zu Beginn seines Buches unter Berufung auf Hohfeld ein – vgl. Cassee (Fn. 10) S. 21. 67  Dieses erhellende Beispiel habe ich von Jörg Löschke übernommen – vgl. Jörg Löschke, Solidarität als moralische Arbeitsteilung. Münster: mentis 2015, S. 144. Man könnte hier von einem evaluativistischen Fehlschluss sprechen. 68  BVerfG, Urt. v. 16. 01. 1957-1 BvR 253/56 –, BVerfGE 6, 32 – „Elfes“. 69  Vgl. Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, „Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet, Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss eben dieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz

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ist im Naturzustand nicht normativ verbindlich. Das Prinzip der Präsumtion der Handlungsfreiheit ist vielmehr das Grundelement des Rechtsstaatsprinzips, das den Staat bereits voraussetzt.70 Denn eine Abgrenzung der Handlungsfreiheiten aller Individuen gegeneinander und damit die Vereinbarkeit aller Handlungsfreiheiten miteinander ist nur durch die Autorität eines Gesetzes möglich, wie es allein durch Staaten erlassen werden kann.71 Jan Brezger hat versucht, die Plausibilität eines Rechts auf globale Freizügigkeit auch im Naturzustand mit einem Gedankenexperiment nachzuweisen: „Robinson fährt mit einem Boot durch internationale Gewässer und wird von einem Schiff eines Staates, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt […] an der Weiterfahrt gehindert. Mit vorgehaltener Harpune wird ihm erklärt, er dürfe sich in diesem Gebiet nicht aufhalten und müsse umkehren oder einen großen Umweg nehmen.“72 Dieses Gedankenexperiment schöpft seine Überzeugungskraft aus der vorgehaltenen Harpune und aus der Erklärung, dass Robinson etwas „nicht dürfe“. Die Harpune zeigt an, dass eine Morddrohung im Raum steht und damit eine Verletzung des Menschenrechts auf Leben, das natürlich auch im Naturzustand gilt. Die Verwendung des Wörtchens „dürfen“ verweist auf eine angebliche Pflicht Robinsons, die Weiterfahrt zu unterlassen. Einer solchen Pflicht unterliegt Robinson nicht, denn der fremde Staat hat ihm gegenüber kein Recht auf Ausschluss von der freien Nutzung des Meeres. Aber daraus folgt kein Recht Robinsons auf freie Weiterfahrt.73

bestimmt werden.“ (Zit. nach Reinhard Pohanka, Dokumente der Freiheit. Wiesbaden: Marix 2009, S. 80. 70  Paul Tiedemann, „Das Prinzip des Formalen Rechtsstaates in Deutschland“, Rechtsbrücke – Hukuk Köprüsü 11 (2016), 11. 71  Die Unterscheidung von Willensfreiheit als Gegenstand der Menschenrechte und Handlungsfreiheit als Gegenstand der Präsumtion der Freiheit wird in der philosophischen Literatur oft nicht klar genug herausgearbeitet. Darunter leidet oft die Überzeugungskraft der Argumentation. Beispiel: Die etwas hilflos wirkende Unterscheidung zwischen „Grundfreiheiten“ (basic freedom) und „gewöhnlichen Freiheiten“ (bare freedom) bei David Miller, „Immigration. The Case for Limits“, in: A. I. Cohen / C. H. Wellman (Hrsg.), Contemporary Debates in Applied Ethics. Malden Mass, Blackwell 2005; hier zitiert nach ders., Einwanderung. Das Argument für Beschränkungen. In: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hrsg.), Migration und Ethik, Münster, mentis 2012, S. 49. 72  Brezger (Fn. 64) S. 41 73  Dem Gedankenexperiment liegt unausgesprochen der Grundsatz der Freiheit der Meere zugrunde, wonach die Hohe See im Gemeingebrauch der Menschheit steht und ein Staat, der die freie Durchfahrt behindert, rechtswidrig handelt. Es handelt sich um einen Grundsatz des positiven Völkerrechts, der sich erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat und heute in dem UN Seerechtsübereinkommen vom 10. 12. 1982 geregelt ist. Zuvor galt auf hoher See der Naturzustand, d. h. die Macht des Stärkeren. Vgl. zur Geschichte auch Walter Simons, „Über die Freiheit der Meere“, ZaöRV 6 (1936), 22 – http://www.zaoerv.de/06_1936/6_1936_1_a_22_35.pdf

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2. Globale Freizügigkeit als Postulat der Gerechtigkeit als Fairness Andreas Cassee verteidigt das moralische Recht auf globale Freizügigkeit noch auf eine zweite Weise, nämlich durch Verweis auf die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls.74 Damit knüpft er an eine Argumentationslinie an, die schon von Joseph H. Carens herangezogen und insbesondere von Martino Mona sehr sorgfältig und tiefgreifend ausgearbeitet worden ist.75 Das Argument beruht auf einer kosmopolitischen Ausweitung von John Rawls’ Vertragstheorie der Gerechtigkeit. In seinem Hauptwerk A Theory of Justice fragt Rawls nach den grundlegenden Regeln des Zusammenlebens, auf die sich Menschen, die für sich und ihre Nachkommen eine politische Gemeinschaft gründen wollen, in einem Gesellschaftsvertrag einigen würden, wenn ihre Überlegungen allein an Fairness orientiert und nicht durch die eigenen subjektiven Interessen verzerrt wären. Zur Klärung dieser Frage greift Rawls zu dem berühmten Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance).76 Hinter diesem Schleier kennen die Menschen nicht ihre künftige Stellung in der Gesellschaft, ihre Vermögensverhältnisse, ihren Status oder ihre Klassenzugehörigkeit; sie wissen nicht, welche körperliche und geistige Ausstattung sie haben werden, welche Lebenspläne sie verfolgen möchten oder welches Geschlecht sie haben werden. Der Schleier des Nichtwissens soll nur jenes Wissen unzugänglich machen, das die spezifischen persönlichen Interessen der Menschen bestimmt und das folglich, wenn es bekannt ist, zur Förderung egoistischer Ziele führt. Unspezifische allgemeine Tatsachen und Lebensumstände sind den Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens dagegen sehr wohl bekannt.77 Dazu gehört das Wissen darum, dass es Knappheit an Gütern geben kann, dass es zwei (oder mehr) Geschlechter gibt, dass Fähigkeiten ungleich verteilt sein können etc. Vernünftigerweise werden Menschen angesichts dieses allgemeinen Wissens und in Abwesenheit des besonderen Wissens um ihre persönliche Situation diejenigen Gerechtigkeitsprinzipien wählen, die auch dann noch annehmbar erscheinen, wenn ihnen die schlechteste Position in der Gesellschaft zufallen sollte. Sie werden sich deshalb zunächst auf einen Katalog von Freiheitsrechten einigen, die ihnen die größtmögliche Freiheit garantiert, die mit der gleichen Freiheit jedes anderen Gesellschaftsmitglieds vereinbar ist.78 Carens, Mona und Cassee argumentieren nun, dass zu den allgemeinen Umständen, die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens kennen, auch der Umstand gehöre, dass es auf der Erdoberfläche Territorien gibt, die dem mensch  Cassee (Fn. 10) S. 235 ff.   Carens 2012 (Fn. 6) S. 27 ff.; Mona (Fn. 8). 76  Rawls (Fn. 11) S. 159 ff. 77  Rawls (Fn. 11) S. 161. 78  Auf die anderen Gerechtigkeitsprinzipien, die Rawls entwickelt, muss in unserem Zusammenhang nicht eingegangen werden. 74 75

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lichen Leben und der Wohlfahrt ungünstiger sind als andere und dass es dort Umweltkatastrophen oder politische Gewaltherrschaft geben kann, so dass es für die Einwohner solcher Territorien sehr gute Gründe geben kann, das Land zu verlassen und sich in einer anderen Weltgegend niederzulassen. Hinter dem Schleier des Nichtwissens haben die Menschen allerdings keine Kenntnis darüber, ob sie selbst, wenn der Schleier fällt, in einer angenehmen Weltgegend geboren worden sind und leben oder ob sie sich in einer Weltgegend befinden und unter Bedingungen leben müssen, die in ihnen das starke Bedürfnis evozieren wird, diese Gegend zu verlassen und sich anderswo niederzulassen. Deshalb werden sie hinter dem Schleier des Nichtwissens das Freiheitsrecht der globalen Freizügigkeit fordern. Obwohl diese Überlegung auf den ersten Blick schlüssig und konsequent erscheint, fällt nun auf, dass John Rawls selbst das allgemeine Wissen bzw. das individuelle Nichtwissen im Urzustand gerade nicht auf diese Aspekte ausgeweitet hat. Das erklären die genannten Autoren damit, dass Rawls diesen Gesichtspunkt schlicht übersehen habe. Martino Mona sieht deshalb kein Problem darin, Rawls gleichsam zu verbessern und seine Theorie um jene Gesichtspunkte zu erweitern, die dieser selbst zwar nicht berücksichtigt habe, aber die doch in der Logik seiner Überlegungen lägen.79 In der Tat wird man einräumen müssen, dass es in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit kein wirklich ausgearbeitetes und stichhaltiges Argument für die partikularistische Einschränkung seiner Theorie und gegen deren kosmopolitische Ausweitung gibt. Er erwähnt nur kurz, dass man sich die Versammlung der Menschen im Urzustand, die den Gesellschaftsvertrag aushandeln, nicht als eine Volksversammlung aller Menschen vorstellen dürfe, sondern nur als Versammlung einer partikularen Gruppe. Er lehnt die kosmopolitische Ausweitung seines Modells mit der höchst vagen Begründung ab, dass diese „Vorstellung keine natürliche Anleitung für die Intuition mehr [wäre] und […] keinen klaren Sinn [hätte]“.80 Das vermag schon deshalb kaum zu überzeugen, weil schon der Hinweis auf die natürliche Anleitung der Intuition keinen klaren Sinn hat. In seinem 1999 erschienenen Spätwerk über Das Recht der Völker konstruiert Rawls die Gerechtigkeitsprinzipien in den internationalen Beziehungen als solche zwischen Staaten und gerade nicht als solche zwischen Menschen.81 In diesem völkerrechtlichen Rahmen spricht er den Völkern innerhalb definierter Staatgrenzen das (qualifizierte) Recht zu, Einwanderung zu begrenzen.82 Zur Begründung beruft sich Rawls auf den Umstand, dass Territorien ebenso wie Güter überhaupt zu 79  Mona (Fn. 8) S. 72; zur Kritik an Rawls’ Partikularismus vgl. auch Julia Sichieri Moura, „Cosmopolian Egalitarism. A new Paradigm of Distributive Justice“, RphZ 2015, 368, insbes. Fußnote 2. 80  Rawls (Fn. 11) S. 162. 81  John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge (Mass.): HUP 1999; hier zitiert nach John Rawls, Das Recht der Völker. Berlin: de Gruyter 2002. 82  Rawls (Fn. 81) S. 43; dazu auch Fußnote 48 (S. 229).

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verkommen drohen, wenn es nicht ausschließliche Eigentümer gibt, die sie genießen können und deshalb auch die Bereitschaft zeigen, sie zu pflegen und zu bewahren. Außerdem könnten anders auch die politische Kultur eines Volkes und seine Verfassungsgrundsätze nicht wirksam geschützt werden. Für dieses letztgenannte Argument beruft sich Rawls auf Michael Walzer und zitiert dessen Behauptung, dass eine Welt ohne Grenzen notwendigerweise immer auch eine Welt radikal entwurzelter Menschen sei. Ich habe oben bereits gezeigt, dass das Interesse am Schutz der eigenen Kultur oder der eigenen Verfassungsgrundsätze kein Recht der Staaten auf Ausschluss begründen kann. Nichts anderes gilt für Rawls’ Eigentumsargument. Allein aus dem Umstand, dass eine Gesellschaft an ihrer eigenen Abgrenzung interessiert ist, folgt kein Recht auf Exklusion gegenüber Dritten. Ebenso wenig wird dadurch ausgeschlossen, dass diesen Dritten ein Recht auf Zugang zustehen kann. Dass Rawls die partikulare Reichweite seines Ansatzes nur so schwach zu begründen versucht, scheint mir seinen Grund darin zu haben, dass diese Partikularität auf begrifflichen Voraussetzungen beruht, die für Rawls außer Frage stehen und deshalb nicht zum Gegenstand einer sorgfältigen Begründung gemacht werden müssen. Jede philosophische Reflexion beruht auf begrifflichen Voraussetzungen, die den Hintergrund der Fragestellung bilden und deshalb nicht selbst zum Gegenstand der Fragestellung gemacht werden können. Für Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist für diesen Hintergrund ein spezifischer Gleichheitsbegriff entscheidend. Deshalb bedarf es zur Klärung der Frage, ob es zulässig ist, Rawls gegen Rawls zu verbessern, indem man die Partikularität seines Ansatzes aufhebt und seine Theorie kosmopolitisch erweitert, einer gründlichen Analyse des von Rawls stillschweigend zugrunde gelegten Gleichheitsbegriffs. Nur wenn die kosmopolitische Ausweitung seiner Theorie auf der Grundlage desselben Gleichheitsbegriffs möglich ist, darf man in Anspruch nehmen, Rawls gegen Rawls zu verbessern. Beruht die Erweiterung aber stattdessen auf dem Austausch des Gleichheitsbegriffs, dann kann man nicht mit Rawls für die Kosmopolitisierung seiner Theorie argumentieren, sondern nur noch gegen ihn. In diesem Fall käme es darauf an, darzulegen, dass Rawls’ Gleichheitsbegriff unzulänglich und es daher gerechtfertigt ist, ihn gegen einen leistungsstärkeren alternativen Gleichheitsbegriff auszutauschen. Bei der Frage nach dem Gleichheitsbegriff, der Rawls’ Theorie zugrunde liegt, müssen wir nach einem Begriff suchen, zu dessen Definition das Merkmal der Exklusivität gehört. Denn nur ein solcher Gleichheitsbegriff kann erklären, warum sich Rawls weigert, seine Theorie kosmopolitisch auszuweiten: Der Begriff der Gleichheit, den Rawls seiner Theorie der Gerechtigkeit zugrunde legt, ist eine Gleichheit, die ihre Rechtfertigung aus einer Beziehung der Kooperation bezieht (kooperativer Gleichheitsbegriff).83 Danach geht es bei dem moralischen Prinzip der Gleichheit darum, die Lasten und den Nutzen einer Kooperation fair auf alle diejenigen zu verteilen, die an der Kooperation beteiligt sind. Die Metapher von   Rawls (Fn. 11) S. 74.

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der Gleichheit ist also durch den theoretischen Ausdruck der fairen Teilhabe aller Kooperationspartner an den Kosten und Gewinnen der Kooperation zu ersetzen. Dieser Gleichheitsbegriff impliziert den Aspekt der Exklusion. Er unterscheidet nämlich zwischen denjenigen, die Partner der Kooperation sind und jenen, für die das nicht der Fall ist. Letztere sind selbstverständlich nicht zu berücksichtigen, wenn es um die Frage geht, welche Prinzipien Anwendung finden müssen, um die Verteilung von Kosten und Gewinnen der Kooperation fair vorzunehmen. Wer im konkreten Fall inkludiert und wer exkludiert ist, bestimmt sich nach der spezifischen Kooperation, um die es geht. Die Verteilungsfrage bezieht sich nur auf diejenigen Kosten und Nutzen, die exakt dieser Kooperation zuzurechnen sind und nicht irgendeiner anderen. Der kooperative Gleichheitsbegriff gewinnt seine ethische Begründung aus dem Instrumentalisierungsverbot, wie es in Kants dritter Fassung des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck kommt: „Handle so, dass Du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“84 Eine Verteilung der Kooperationsgewinne, die dem Grundsatz der kooperativen Gleichheit nicht genügt, führt dazu, dass die Beiträge einiger Kooperationspartner nicht angemessen ausgeglichen werden, so dass sie ganz oder teilweise nicht mehr im wohlverstandenen Eigeninteresse arbeiten, sondern einseitig für die begünstigten Kooperationspartner. Sie werden also von letzteren für deren eigene Zwecke instrumentalisiert. Entsprechendes gilt für die Lasten. Werden diese unter Missachtung der kooperativen Gleichheit verteilt, instrumentalisieren die weniger Belasteten diejenigen, die zu ihren Gunsten stärker belastet werden. In einer fairen Kooperationsgemeinschaft macht jedes Mitglied zwar jedes andere Mitglied auch zum Mittel seiner eigenen Zwecke, weil es diese ohne die Beiträge der anderen nicht realisieren könnte. Es macht die anderen aber nicht „bloß“ zum Mittel, sondern immer auch „zugleich“ zum Zweck, weil jedes Mitglied ja nicht nur für sich, sondern auch für die anderen arbeitet. Nun ist von einigen Autoren geltend gemacht worden, dass der kooperative Gleichheitsbegriff, trotz der ihm inhärenten Exklusivität, den Partikularismus in dem Modell des Rawls’schen Gesellschaftsvertrages nicht rechtfertigen kann. Denn es werde dabei übersehen, dass Einzelstaaten keine geschlossenen Kooperationssysteme seien, sondern in vielfältiger Weise in eine alle nationalen Grenzen überschreitende globale Kooperation eingebunden seien.85 Dieses Argument scheint mir aber zu übersehen, dass aus einer Vielzahl von Kooperationsgemeinschaften, die selbst wieder untereinander kooperativ verbunden sind, keine einheitliche Kooperationsgemeinschaft wird, so dass die Gewinne und die Kosten aller einzelnen Kooperationsgemeinschaften zu addieren und dann nach fairen Kriterien auf alle 84  Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga: Hartknoch 2. Aufl. 1786, S. 66 f. 85  Cassee (Fn. 10), S. 244; Thomas W. Pogge, „An Egalitarian Law of Peoples“, Philosophy & Public Affairs 23/3 (1994), 195, insbes. S. 213, 219; vgl. auch Charles R. Beitz, „Rawls Law of Peoples“, Ethics 110/4 (2000), 669, insbes. S. 683.

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Menschen zu verteilen wären, die Mitglieder in irgendeiner der beteiligten Kooperationsgemeinschaften sind. Menschen können in sehr unterschiedliche Typen von Kooperationen eingebunden sein und sie können gleichzeitig in mehrere Kooperationen gleichen oder verschiedenen Typs eingebunden sein. Eine einfache Kooperationsbeziehung ist die zwischen den Partnern eines Kaufvertrages über ein bestimmtes singuläres Gut. Zur fairen Verteilung stehen hier nur diejenigen Kosten und Gewinne, die sich aus der vertragsgegenständlichen Transaktion ergeben. Die faire Verteilung findet auch nur unter den beiden Vertragspartnern (Käufer und Verkäufer) statt und nicht zugunsten oder zulasten Dritter. Eine Theorie der Gerechtigkeit als Fairness muss für ein solches eng begrenztes Kooperationsverhältnis Prinzipien finden, nach denen beispielsweise die Nachteile des Untergangs oder der Beschädigung der Kaufsache zugeteilt werden. Im Hinblick auf den Nutzen des Vertrages muss eine Theorie der Gerechtigkeit Prinzipien für die Angemessenheit des Kaufpreises und für die gebotene Güte und Beschaffenheit des Kaufgegenstandes liefern. Bei der Suche nach diesen Prinzipien kann das Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens herangezogen werden. Allgemeines Vertragsrecht sollte also unter Absehen von Kenntnissen über die tatsächliche Marktmacht entwickelt werden, die einzelne tatsächliche oder potenzielle Vertragspartner im wirklichen Leben haben.86 In jedem Fall aber wird die Theorie gerechter Kaufverträge schon immer und unausgesprochen davon ausgehen, dass die jeweiligen Prinzipien nur auf die jeweiligen Vertragspartner anwendbar sind und nicht auf Dritte. Mehrere Kooperationsbeziehungen können im Hinblick auf das Interesse, von dem sie getragen werden, sehr eng miteinander verknüpft sein. So gibt es beispielsweise eine enge Verknüpfung zwischen den Kaufverträgen einer Firma mit ihren Kunden und den Arbeitsverträgen derselben Firma mit ihren Angestellten. Denn die Befriedigung des Interesses der Arbeitnehmer hängt nicht nur von der gegenseitigen Erfüllung der Arbeitsverträge ab, sondern ist wirtschaftlich aufs engste an den Erfolg der kaufvertraglichen Beziehungen der Firma zu ihren Kunden gebunden. Dennoch gibt es keine Rechtfertigung dafür, in die Verteilung von Nutzen und Lasten der Arbeitsverträge die Kunden oder in die Verteilung von Nutzen und Lasten der Kaufverträge die Arbeitnehmer einzubeziehen. Solche Beteiligungen und Mitspracherechte können zwar selbst Gegenstand einer Kooperationsvereinbarung sein. Aber sie sind nicht schon aus moralischen Gründen und damit gleichsam von selbst Gegenstand der ursprünglichen Arbeits- bzw. Kaufverträge. Aus demselben Grund gibt es kein moralisches Gebot, Arbeitgeber an den Nutzen oder Lasten der Ehe ihrer Angestellten zu beteiligen oder die Angestellten an der Ehe ihres Chefs, 86  Das BVerfG hat den Schleier des Nichtwissens unter Berufung auf Rawls in einer Entscheidung argumentativ verwendet, in der es zwar nicht um Vertragsrecht ging, sondern um den Länderfinanzausgleich. Aber das Beispiel zeigt, wie das Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens bei der juristischen Entwicklung bestimmter Rechtsinstitute nützlich sein kann. Vgl. BVerfG, Urt. v. 11. 11. 1999 – 2 BvF 1/99 –, BVerfGE 101, 158, Rn. 282 – http:// www.bverfg.de/e/fs19991111_2bvf000298.html.

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obwohl ein ausgeglichenes und befriedigendes Liebesleben der einen durchaus im Interesse der anderen liegen kann, weil Lebensfreude die Produktivität erhöht und damit Arbeitsplätze sichert. Aus der interessemäßigen Verstrickung einer Vielzahl von Kooperationen untereinander folgt also nicht, dass die Nutzen und Lasten aller Kooperationen gleichsam zu bündeln und unter die Beteiligten aller verknüpften Kooperationen fair zu verteilen sind. Vielmehr ist für die Frage der Verteilung stets nur die jeweilige einzelne Kooperation und die an ihr unmittelbar Beteiligten zu berücksichtigen. Deshalb lässt sich auch nicht aus der Tatsache des globalen Welthandels und des globalen Interesses aller an den nützlichen Kooperationsleistungen aller anderen ein identisches globales Kooperationsverhältnis ableiten, an dem mehr oder weniger alle Menschen auf dem Globus beteiligt sind, so dass die Gesamtlasten und der Gesamtnutzen aller weltweiten wirtschaftlichen Kooperationen summiert und gleichmäßig auf alle Menschen verteilt werden müssten, die überhaupt irgendwie an wirtschaftlichen Kooperationen beteiligt sind. Kooperationen können über einzelne Transfers deutlich hinausgehen. Je umfassender sie sind, umso vielfältiger und komplexer sind die zu berücksichtigenden Kosten und Gewinne, die es zu verteilen gilt. Auch im Hinblick auf die Zahl der Kooperationsbeteiligten gibt es kein natürliches Limit. Beteiligter an einer Kooperationsbeziehung ist, wer einen Kooperationsbeitrag im Rahmen der intrinsischen Zweckbestimmung dieser Gemeinschaft leistet. Die umfangreichsten Kooperationsbeziehungen sind solche, die sich nicht nur auf spezielle oder allgemeine wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Zwecke beziehen, sondern auf ganze Lebenspläne, mit anderen Worten: auf das Leben der Beteiligten als Ganzes. In diesen Fällen sprechen wir von einer Lebensgemeinschaft. Bei Lebensgemeinschaften besteht das Kooperationsziel darin, gemeinsam und solidarisch für alle Bedingungen Sorge zu tragen, unter denen die Mitglieder ihre Lebenspläne in bestmöglicher Weise verwirklichen können. Das typische Beispiel für eine Gemeinschaft, deren Zweck auf die Kooperation im Hinblick auf die Lebenspläne oder das Leben der Beteiligten gerichtet ist, bildet das klassische Modell der Ehe. Deshalb gehört es zu den Merkmalen der klassischen Ehe, dass sie auf Lebenszeit geschlossen wird und die Pflicht zu und das Recht auf gegenseitige Unterstützung bei der gemeinsamen Verwirklichung des ganzen Lebens umfasst, ohne dass diese Pflichten und Rechte so konkret bestimmbar wären wie die Pflichten und Rechte aus einem Kaufvertrag. Zu der herkömmlichen Ideologie des Nationalstaates gehört seit seinen historischen Anfängen die Vorstellung einer Analogie zwischen Ehe (und Familie) und Nation.87 Aber der Nationalstaat war in seinen Anfängen ein organisiertes Ausbeutungsverhältnis zwischen den Landesherrn einerseits und ihren Untertanen andererseits. Nichts lag ferner als diese auf Zwang beruhende Kooperationsbeziehung 87  „Ist eine Familie gut regiert, so ist sie das wahre Abbild des Staates. Die häusliche gleicht der souveränen Gewalt. Die rechte Regierung des Haushalts ist also das Vorbild für die Regierung des Staates.“ – Jean Bodin, Les six livres de la République. Paris: du Puis 1576, I, 2,11; hier zitiert nach Jean Bodin, Über den Staat. Stuttgart: Reclam 1976, S. 13.

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mit einer freiwillig geschlossenen Ehe oder einer freiwillig gegründeten Familie zu vergleichen. Heute haben sich die Verhältnisse sowohl im Hinblick auf die Ehe als auch im Hinblick auf die staatliche Gemeinschaft geändert. Ehen oder eheähnliche Verbindungen werden häufig nicht mehr auf Lebenszeit geschlossen, sondern in Erwartung ganz bestimmter und zeitlich befristeter Kooperationsgewinne. Andererseits haben sich die Nationalstaaten im Zuge und nach dem Maß ihrer Wandlung zu Sozialstaaten zu Gemeinschaften entwickelt, bei denen der verfassungsmäßige Zweck der Kooperation zur Optimierung der Realisationsbedingungen für individuelle Lebenspläne im Vordergrund steht. Deshalb ist es für soziale Rechtsstaaten selbstverständlich, dass die Staatsbürgerschaft nicht nur mit einem umfassenden gleichen Teilhaberecht verbunden ist, sondern auch mit der Gewährleistung von Dauer, die die gesamte Lebenszeit ihrer Mitglieder umfasst und auf deren Nachkommen ebenso vererbt wird wie das Vermögen und der Name der Eltern auf ihre Kinder. Die eheliche Lebensgemeinschaft gilt heute nicht mehr als unauflöslich, die Mitgliedschaft in der staatlichen Lebensgemeinschaft aber schon (vgl. Art. 16 GG). Eng damit verbunden mag auch die Erwartung sein, dass der Sozialstaat Aufgaben übernimmt, die früher bei Ehe und Familie angesiedelt waren. Wenn auch der Zweck von Lebensgemeinschaften sehr umfangreich und komplex ist, so ändert weder dieser Umstand noch die innere demokratische und rechtsstaatliche Struktur moderner Nationalstaaten irgendetwas an ihrer Exklusivität. Nationale Lebensgemeinschaften beruhen nämlich wie alle anderen Kooperationsgemeinschaften auf dem Prinzip der kooperativen Gleichheit, die wesentlich durch das Merkmal der Exklusivität charakterisiert ist. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit entwirft die Grundregeln einer gerechten Kooperative, die sich auf das gesamte Leben ihrer Mitglieder bezieht. Deshalb ist mit dieser Theorie selbstverständlich auch das Merkmal der Exklusivität verbunden. Diese Selbstverständlichkeit mag der Grund dafür sein, warum Rawls diesen Aspekt im Rahmen seiner Theorie einer tieferen Begründung nicht für bedürftig hielt. Für die No-Border-Theoretiker bedeutet das, dass sie es sich zu leicht machen, wenn sie glauben, Rawls’ Theorie einfach von seinen partikularen Restriktionen befreien zu können. Diese sind keine zufälligen Elemente der Rawls’schen Theorie, sondern sie sind mit seinem Gleichheitsbegriff notwendig verbunden. Deshalb lässt sich das Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens für die Begründung eines Rechts auf globale Freizügigkeit nur dann fruchtbar machen, wenn man dieses Gedankenexperiment von Grund auf neu und unabhängig von Rawls kon­ struiert, und zwar auf der Grundlage eines anderen Gleichheitsbegriffs.

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3. Globale Freizügigkeit als Postulat des menschenrechtlichen Gleichheitsprinzips Der Gleichheitsbegriff, der die Begründungslast eines Rechts auf globale Freizügigkeit tragen kann, muss selbst einen globalen Anwendungsbereich haben. Es muss sich um eine Gleichheit handeln, die aus anderen Gründen als denen der Kooperation ethisch gerechtfertigt werden kann. Ein Kandidat für einen solchen Begriff ist die Idee eines menschenrechtlichen Gleichheitsbegriffs, wie er etwa von Heiner Bielefeldt vorgeschlagen worden ist. Danach ist das Gleichheitsprinzip Teil der Menschenrechte. Folglich wäre ein solcher Gleichheitsbegriff auch im Naturzustand auf alle Wesen anwendbar, die Menschenantlitz tragen, bzw. wenigstens Personen sind, ohne dass es auf irgendeine weitere Qualifikation ankäme. Nach Bielefeldt steht das Gleichheitsprinzip nicht eigenständig und unabhängig neben den Menschenrechten, sondern Freiheit und Gleichheit bilden neben der Solidarität „einander bedingende Strukturelemente eines und desselben menschenrechtlichen Prinzips“.88 Es gehe also nicht um Freiheit und Gleichheit, sondern um Freiheit als Gleichheit oder Gleichheit in der Freiheit.89 Das Gleichheitsprinzip folgt also aus dem Umstand, dass die Menschenrechte in gleicher Weise Rechte aller Menschen sind. Daraus folgt zugleich, dass das Gleichheitsprinzip selbst ein Menschenrecht ist. Offensichtlich beruht diese Argumentation auf einer Verwechslung von Identität und Gleichheit. Alle Menschen sind Träger derselben Menschenrechte und nicht der gleichen Menschenrechte. Bei dem Recht auf Leben von A und dem Recht auf Leben von B handelt es sich nicht um numerisch verschiedene Rechte, die einander ähnlich oder gleich sind, sondern es handelt sich um ein- und dasselbe Menschenrecht. Aus dieser Identität der Rechte folgt daher nichts für einen Anspruch auf Gleichbehandlung aller Menschen. Man könnte allerdings überlegen, ob sich Bielefeldts Argument dadurch stark machen lässt, dass man nicht auf die Gleichheit der Rechte abstellt, sondern auf die Gleichheit der Menschen in ihrer Eigenschaft als Träger von Menschenrechten. Aber auch dieses Argument muss scheitern. Es beruht auf der Verwechslung von Gleichheit mit Allgemeinheit: Der Umstand, dass nicht nur einige, sondern alle Menschen Träger der Menschenrechte sind, folgt nicht daraus, dass sie einander gleich sind, sondern daraus, dass jeder von ihnen für sich betrachtet ein Mensch ist. Die Deutung der Gleichheit als Menschenrecht beruht auf einer grundlegenden Verkennung der Bedeutsamkeit sowohl der Menschenrechte als auch des Gleichheitsprinzips. Insbesondere verkennt diese Deutung den kategorialen Unterschied zwischen absoluten und relationalen oder komparativen Normen. Die88  Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos. Darmstadt: WBG 1998, S. 91. 89  Bielefeldt (Fn. 88).

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sen Unterschied hat Angelika Krebs sehr anschaulich herausgearbeitet.90 Danach entsprechen die Menschenrechte einer Dezimalwaage, die das absolute Minimum an Freiheiten angibt, die eine Person braucht, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Solange der Zeiger im grünen Bereich des Genug steht, ist den Menschenrechten Genüge getan, sobald er im roten Bereich des Zuwenig steht, liegt eine Verletzung von Menschenrechten vor. Das ist völlig unabhängig davon, ob und in welchem Umfang ein Genug oder ein Zuwenig bei anderen Menschen gegeben ist. Im Unterschied dazu gleicht das Gleichheitsprinzip einer Balkenwaage. Es verlangt, dass beide Waagschalen das gleiche Gewicht aufweisen, wobei es gleichgültig ist, ob sich das Gleiche im Bereich des Genug oder im Bereich des Zuwenig befindet. Das Gleichheitsprinzip ist verletzt, wenn zwei Arbeitnehmer für exakt die gleiche Arbeitsleistung unterschiedlichen Lohn erhalten. Das Gleichheitsprinzip ist dagegen beachtet, wenn zwei Arbeitnehmer einen gleich niedrigen und vielleicht einen in gleichem Maße unauskömmlichen Lohn erhalten. Ob eine Verletzung des Gleichheitsprinzips vorliegt, lässt sich nicht feststellen, solange man nur die Situation einer Person betrachtet. Es ist stets erforderlich, die Situation von mindestens zwei Personen zu betrachten und sie ins Verhältnis zu setzen. Dieser grundlegende Unterschied zwischen Menschenrechten und Gleichheitsprinzip macht es unmöglich, Gleichheit als ein Menschenrecht zu betrachten. Ein unbedingtes Gleichheitsprinzip muss also anders begründet werden als durch den Verweis auf die Menschenrechte. 4. Globale Freizügigkeit als Postulat des präsumtiven Gleichheitsprinzips Unter den No-Border-Philosophen ist es insbesondere Bernd Ladwig, der klar erkannt hat, dass die Begründung eines Rechts auf globale Freizügigkeit entscheidend von einem geeigneten Gleichheitsbegriff abhängt. Deshalb stützt er seine Argumentation wesentlich auf das präsumtive Gleichheitsprinzip.91 Dieses Prinzip besagt, dass die ungleiche Verteilung irgendeines moralisch erheblichen Gutes dann und nur dann gerecht ist, wenn sie gegenüber jedem als einem Gleichen positionsunabhängig gerechtfertigt werden kann. Ist eine solche Rechtfertigung nicht verfügbar, so ist Gleichverteilung die einzig gerechte Lösung. Mit anderen Worten: Wenn Ungleichverteilung nicht gerechtfertigt werden kann, spricht eine ethisch gebotene Vermutung für Gleichbehandlung.92 Angewandt auf die Frage eines Rechts 90  Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt / M: Suhrkamp 2000, S. 10; s. a. dies., „Warum Gerechtigkeit nicht als Gleichheit zu begreifen ist“, DZPhil 51/2 (2003), 235. 91  Bernd Ladwig, „Offene Grenzen als Gebot der Gerechtigkeit?“, in: Andreas Cassee / Anna Goppel (Hrsg.), Migration und Ethik. Münster, mentis 2012, S. 72. Dazu vgl. ders., Gerechtigkeitstheorien als Einführung. Hamburg: Junius 2011, S. 81 ff. 92  Die Präsumtion der Gleichheit findet sich auch bei Rawls (Fn. 11) S. 83. Im Unterschied zu Ladwig hält Rawls die Präsumtion der Gleichheit aber nicht für ein universal anzuwenden-

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auf globale Freizügigkeit führt das präsumtive Gleichheitsprinzip zu folgender Argumentation: Es gibt gegenüber einreisewilligen Ausländern keine Gründe, die es auch in deren Augen rechtfertigen würden, das Recht auf Einreise nur einem Teil der Menschheit zuzugestehen, nämlich den eigenen Staatsbürgern, und nicht allen Menschen. Da es somit in dieser Frage keine Rechtfertigung für Ungleichheit gibt, sind alle gleich zu behandeln. Solange Menschen, die zufällig die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Staates besitzen, ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zuerkannt wird, ist dieses Recht auch allen anderen Menschen zuzuerkennen. Daraus folgt: Es gibt ein moralisches Recht auf globale Freizügigkeit. Diese Argumentation steht und fällt mit der Überzeugungskraft des präsumtiven Gleichheitsprinzips. Ernst Tugendhat gehört zu dessen prominenten Verteidigern. Er stützt diese Regel auf die Überlegung, dass sie unvermeidlich, also zwingend sei. Das will er am Beispiel der Verteilung einer Torte unter mehreren Kindern klar machen.93 Es könnte, so meint Tugendhat, verschiedene Gründe für eine ungleiche Verteilung geben. Wenn aber kein relevanter Grund angeführt werden könne, dann bleibe nur die egalitäre Teilung übrig. Das sei zwingend und ergebe sich einfach daraus, dass es keine Gründe dafür gibt, ungleich zu verteilen. Wegen dieser Unvermeidlichkeit bedürfe es keiner primären Begründung für die Präsumtion der Gleichheit. Denn es gäbe keine Alternative. Für Ungleichheit könne immer eine Vielzahl konkurrierender Kriterien sprechen und deshalb müsse unter diesen Kriterien jenes ausgewählt werden, für das sich die besten Gründe geltend machen lassen. Es gebe aber nicht mehrere konkurrierende Kriterien für Gleichheit und deshalb sei nur hinsichtlich der Ungleichheit nach Gründen zu fragen, nicht aber hinsichtlich der Gleichheit. In Abwesenheit von relevanten Gründen für Ungleichheit gebe es zur Gleichverteilung nur eine einzige Alternative, nämlich willkürliche Verteilung. Willkür sei aber der Gegenbegriff zu Gerechtigkeit. Deshalb müsse vor jeder Verteilung zunächst die Frage geklärt werden, ob sie willkürlich oder ob sie gerecht erfolgen solle. Entscheide man sich für Gerechtigkeit, dann betrete man „damit den Bereich des Gleichen“. Es bleibt unklar, ob Tugendhat die Präsumtion der Gleichheit als universales moralisches Prinzip versteht. Seine Ausführungen lassen sich eher dahingehend verstehen, dass die Menschheit als maßgebliche Bezugsgröße für Gleichverteilung nur da eine Rolle spielt, wo es um die Menschenrechte geht. Dabei versteht Tugendhat die Menschenrechte als möglichen Gegenstand von gerechter Verteilung. Wie ich im vorigen Abschnitt dargelegt habe, können die Menschenrechte aber nicht als Gegenstand gerechter Verteilung verstanden werden. Denn sie stehen einem Teil des moralisches Prinzip, sondern nur für ein solches, das unter den Mitgliedern einer Kooperationsgemeinschaft anzuwenden ist. Interessanterweise bleibt bei vielen Vertretern der Präsumtion der Gleichheit unklar, ob es sich um ein universales Prinzip handelt oder um ein solches, das bereits eine exklusive Gemeinschaft voraussetzt. Dazu die nachfolgenden Ausführungen zu Tugendhat und Gosepath. 93  Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik. Frankfurt / M: Suhrkamp, 4. Aufl. 1997, S. 373 ff.

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der Menschheit nicht deshalb zu, weil sie einem anderen Teil zustehen und es keine Gründe für Ungleichverteilung gibt, sondern sie stehen einem jeden Menschen allein deshalb zu, weil er ein Mensch ist, ohne dass es darauf ankommt, was in Bezug auf andere Menschen der Fall ist. Offensichtlich vermengt Tugendhat hier den Gesichtspunkt der Allgemeinheit (Universalität) der Menschenrechte mit dem Kriterium der Gleichbehandlung. Tatsächlich haben die Menschenrechte und ihr allgemeiner Charakter aber nichts mit dem Gleichheitsprinzip zu tun.94 Soweit es um andere Güter als die Menschenrechte geht, stellt Tugendhat darauf ab, ob „eine Gesellschaft sich im Prinzip als Gütergemeinschaft versteht, und nur dann muss von einer gerechten oder ungerechten Verteilung der materiellen Güter gesprochen werden“.95 Abgesehen vom Fall der Menschenrechte geht es bei der Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit nach Tugendhat also immer um die Gerechtigkeit innerhalb einer besonderen Gemeinschaft und nicht um Gerechtigkeit bei der Frage des Zugangs zu einer Gemeinschaft. Das zeigt auch sein Tortenbeispiel. Er eröffnet dieses Gedankenexperiment mit den Worten: „Ist eine Torte unter mehreren Kindern zu verteilen, [dann gilt Folgendes…]“.96 Schon diese Einleitung impliziert, dass eine Torte nicht unter allen Kindern der Welt verteilt werden muss, sondern nur unter den Kindern, die zur Familie gehören. Für die Frage, wer ein Recht hat, zur Familie zu gehören, spielt der Gleichheitsgrundsatz offenbar keine Rolle. Auch bei Stefan Gosepath ist es nicht ganz eindeutig, ob sein Grundsatz der Präsumtion der Gleichheit immer dann gelten soll, wenn überhaupt moralische Ansprüche im Raum stehen oder ob dies nur im Rahmen einer bereits vorab definierten Gruppe gilt, unter der Güter zu verteilen sind.97 Bernd Ladwig bezieht die Präsumtion der Gleichheit nun aber gerade nicht nur auf die Frage der Verteilung von Lasten und Gewinn innerhalb einer vorab definierten Gemeinschaft, die auf Kooperation oder Solidarität beruht, sondern spricht diesem Prinzip eine darüber hinausgehende universelle Geltung zu. Zur Begründung für die universelle Reichweite des Gleichheitsprinzips verweist er auf den gleichen moralischen Wert aller Menschen. Aus diesem gleichen moralischen Wert aller Menschen ergebe sich, dass das Leben, das Wohlergehen und die Selbstbestimmung eines jeden moralisch gleich bedeutsam seien, so dass die ungleiche Verteilung von Lebenschancen gegenüber jedem Betroffenen gerechtfertigt 94  Heiner Michel, „Kein Vorrang für Gleichheit“, ARSP 95/3 (2009), 384; hier, S. 387; s. a. Thomas Schramme, „Die Anmaßung der Gleichheitsvoraussetzung“, DZPhil 51/2 (2003), 255. 95  Tugendhat (Fn. 93) S. 381. 96  Tugendhat (Fn. 93) S. 373. 97 Vgl. Stefan Gosepath, „Verteidigung egalitärer Gerechtigkeit“, DZPhil 51/2 (2003), 275, Für die erste Vermutung spricht der Satz, „Relationale Gerechtigkeitsprinzipien sind hingegen notwendig zur Bestimmung moralischer Pflichten und Rechte“ (S. 283). Für die zweite Vermutung sprechen die Ausführungen, wonach zunächst der Kreis derer bestimmt werden muss, an die verteilt wird, „die also prima facie anspruchsberechtigt sind“, bevor anschließend auf diese das Prinzip der Gleichverteilung angewendet wird (S. 296). s. a. ders., Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus. Frankfurt / M.: 2004, S. 200 – 211.

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werden müsse. Sei eine solche Rechtfertigung nicht möglich, so bleibe es bei der Gleichverteilung.98 Was aber rechtfertigt die Behauptung, dass allen Menschen ein gleicher moralischer Wert zukommt? Wir erinnern uns: Der Egalitarismus bestreitet, dass es absolute Rechte gibt. Alle denkbaren Schutzgüter von Menschenrechten sind für den Egalitarismus zunächst nur Gegenstände subjektiver Wünsche. Die Unerfülltheit subjektiver Wünsche stelle an sich keinen Grund zur Kompensation dar, weil bloße Wünsche auf persönlichem Geschmack oder Vorlieben beruhen könnten, die als solche keine moralische Beachtung verdienen. Erst wenn sich zeige, dass subjektive Wünsche ungleich erfüllt würden, stelle sich ein moralisches Problem, das nach den Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit zu lösen sei.99 Wenn es aber keine absoluten Rechte gibt, dann kann auch die Achtung des moralischen Wertes kein Recht sein, auf das jeder Mensch einfach deshalb ein Recht hat, weil er ein Mensch ist. Ob also von der Gleichheit des moralischen Wertes aller Menschen auszugehen ist, muss erst noch nach Maßgabe des egalitaristischen Prinzips entschieden werden und kann folglich nicht zur Begründung dieses Prinzips dienen. Offensichtlich verstrickt sich der Egalitarismus hier in eine petitio principii. Gosepath führt an der Stelle, an der man ein absolutes Menschenrecht auf moralische Subjektivität einführen müsste, die Behauptung eines „egalitären Plateaus“ ein, auf dem alle gegenwärtigen Moraltheorien sich bewegten.100 Er vermeidet also die petitio principii durch die Behauptung eines vom Gleichheitsprinzip unabhängigen moralphilosophischen Commonsense, der die Funktion eines absoluten Ausgangspunkts seiner Argumentation übernimmt, ihn aber zugleich dazu zwingt, seine Argumente gegen eine nicht-relative Quelle moralischer Rechte zu dementieren. Das, was Menschen einander aufgrund der Achtung ihres gleichen moralischen Wertes schulden, kommt in den Menschenrechten zum Ausdruck. Wie oben gezeigt worden ist, ist das Recht, nach Belieben jede beliebige Stelle der Erdoberfläche betreten und sich darauf niederlassen zu dürfen, kein Menschenrecht. Globale Freizügigkeit lässt sich nicht als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Willensfreiheit und personaler Authentizität rekonstruieren, sondern nur als Gegenstand oder Aspekt des Interesses an einer Maximierung von Handlungsoptionen. Die Beschränkung von Handlungsoptionen stellt aber den moralischen Wert einer betroffenen Person nicht in Frage. Sie tangiert nicht ihre Personalität als der Fähigkeit, aus eigenen Überlegungen und Reflexionen einen eigenen Willen zu bestimmen. Egalitaristen verteidigen das präsumtive Gleichheitsprinzip mit dem Argument, dass es keine „moralisch zufälligen Ungleichheiten“ geben dürfe, denn diese seien 98  Ladwig (Fn. 91) S. 72, 73; ebenso Gosepath 2003 (Fn. 97) S. 285 f. in Gosepath 2004 (Fn. 97) S. 200 spricht er von der wechselseitigen Achtung „als Personen mit gleicher Würde“. 99  Gosepath 2003 (Fn. 97) S. 279. 100  Gosepath 2003 (Fn. 97) S. 285.

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„objektiv ungerechtfertigt“.101 Nach dieser Auffassung besteht also in der Ethik eine Pflicht zur totalen Rechtfertigung, die auch dann noch nach Rechtfertigung verlangt, „wenn alle moralischen Standards erfüllt sind, alle Rechtfertigungen gegeben wurden und keine Gründe mehr für diese oder jene Orientierung sprechen“.102 Allerdings erfüllt die These von der Präsumtion der Gleichheit diese Pflicht selbst gar nicht. Denn sie liefert ja keine Rechtfertigung für Gleichbehandlung, sondern behauptet einfach nur ihre Unausweichlichkeit in dem Fall, dass eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden kann. Wenn sich aber weder die Ungleichbehandlung noch die Gleichbehandlung rechtfertigen lassen, dann bleibt eben nicht zwingend die Gleichbehandlung übrig, sondern vielmehr die Beliebigkeit. Das klingt schlimmer als es ist. Denn im Rahmen dieser Beliebigkeit gibt es keine Option mehr, die unmoralisch wäre. Bei Ernst Tugendhat findet sich im Kontext der Begründung des präsumtiven Gleichheitsbegriffs eine Bemerkung, von der nicht ganz sicher ist, ob sie als bloße Erläuterung der bereits dargestellten Argumentation zu verstehen ist oder als selbständiges zusätzliches Argument. Er schreibt: „Die ausgezeichnete Stellung der Gleichheit ergibt sich daraus, dass sie die einfachste Verteilungsregel ist.“103 Dieses Argument erinnert an das berühmte Ockham’sche Rasiermesser, das aus der allgemeinen Wissenschaftstheorie bekannt ist, und wonach von mehreren möglichen Erklärungen für einen Sachverhalt diejenige zu wählen ist, die die wenigsten Variablen und Hypothesen enthält und die auf den einfachsten logischen Beziehungen beruht. Obwohl diese Regel insbesondere im Englischen auch als Prinzip der ontologischen Sparsamkeit (ontological parsimony) bezeichnet wird, handelt es sich doch nicht um eine metaphysische Theorie über die Beschaffenheit der Welt, sondern vielmehr um eine praktische Regel der Erkenntnistheorie, die verlangt, dass man möglichst sparsam denken sollte, um sich selbst nicht zu überfordern.104 Von zwei alternativen Theorien die denktechnisch bequemere oder sparsamere zu wählen, ist deshalb nur dann erlaubt und heuristisch geboten, wenn der Erklärungswert beider Theorien exakt derselbe ist. Nichts anderes kann für ethische Theorien gelten. Der Erklärungswert des Gleichheitsprinzips nach dem kooperativen Gleichheitsbegriff und der des präsumtiven Gleichheitsbegriffs sind nun aber alles andere als identisch. Deshalb kann man sich auf letzteren nicht einfach mit der Begründung berufen, dass es der einfachere sei. 101  Winfried Hensch, „Angemessene Gleichheit“, in: Rolf Geiger / Jean Ch. Merle / Nico Scarano (Hrsg.), Modelle der Politischen Philosophie. Münster, mentis 2003, S. 277; Gosepath 2003 (Fn. 97) S. 294; ders. 2004 (Fn. 97) S. 207. 102  Michel (Fn. 94) S. 388. 103  Tugendhat (Fn. 93) S. 374. 104  Deshalb ist es unangemessen, die Ockham’sche Regel in der Formulierung von Leibnitz, „Entia non sunt multiplicanda sine necessitate“ wiederzugeben. Denn es geht bei Ockham gerade nicht um das Seiende (entia), sondern um das Denken, „Pluritas non est ponenda sine necessitate“. Vgl. dazu Volker Leppin, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch. Darmstadt: WBG 2. Aufl. 2012, S. 62 f.

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Ähnlich verhält es sich auch, wenn man die Präsumtion der Gleichheit als eine Art Regel der argumentativen Beweislast auffasst.105 Argumentative Beweislastregeln können den wissenschaftlichen oder philosophischen Diskurs rational steuern und vereinfachen, aber sie können nicht selbst schon als Beweis für philosophische Aussagen gelten, die überhaupt erst zum Gegenstand des Diskurses gemacht werden müssen. 106 Nun lässt sich allerdings nicht leugnen, dass es trotz aller Dürftigkeit der Argumente nicht ganz leicht fällt, sich von der Faszination zu lösen, die das Prinzip der Präsumtion der Gleichheit zunächst einmal ausübt. Der Grund dafür scheint mir in der Neigung unseres Gehirns zu liegen, in Analogien zu denken, also gern erklärungsbedürftige Strukturen dadurch verständlich zu machen, dass man sie in das bereits bekannte Muster von Strukturen der vertrauten Umwelt einpasst. Diese Neigung unseres Denkens birgt aber die Gefahr eines Denkfehlers, den man als systemischen Fehlschluss bezeichnen kann. Es ist der fehlerhafte Schluss von den wohl bekannten Strukturen eines vertrauten Systems auf die unbekannten Strukturen der fremden Umwelt dieses Systems. Ein philosophiegeschichtlich berühmtes Beispiel für einen solchen systemischen Fehlschluss bietet der kausale Gottesbeweis von Thomas von Aquin, der aus dem Umstand, dass alles in der Welt eine Ursache hat, darauf schloss, dass dann auch die Welt als Ganzes eine Ursache haben muss, die er mit Gott identifizierte.107 Der präsumtive Gleichheitsbegriff scheint mir in ähnlicher Weise seine Plausibilität aus dem Umstand zu ziehen, dass von den wohlbekannten Verhältnissen innerhalb einer Kooperationsgemeinschaft auf die Verhältnisse einer Kooperationsgemeinschaft zu ihrer Umwelt geschlossen wird, also zu den Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft. Vielleicht ist das Muster, das zum präsumtiven Gleichheitsbegriff verführt, aber noch viel tiefer in einem aus unserem physikalischen Weltbild generierten „Alltagsmythem“ zu verorten.108 Jeder Mensch weiß, dass man einen Temperaturunterschied zwischen dem Innenraum eines Kühlschranks und der Küche, in der er steht, nur durch die Zuführung von Energie bewerkstelligen kann. Fällt der Strom aus, stellt sich ein Equilibrium zwischen der Temperatur im Kühlschrank und der Temperatur außerhalb ein. In dieses Muster scheint die Präsumtion der Gleichheit genau hineinzupassen: Man muss nur die Begriffe Temperaturunterschied durch Ungleichheit, Energie durch Rechtfertigungsargumente und Equilibrium durch Gleichheit ersetzen. Das passt zwar genau, ändert aber nichts an der Tatsache, dass   Hensch (Fn. 101) S. 263; vgl. dazu auch Michel (Fn. 94) S. 392.  In Ernst Tugendhat, Dialog in Leticia. Frankfurt / M: Suhrkamp 1997, S. 71 hat sich Tugendhat von dem Einfachheitsargument distanziert, weil es bloß pragmatisch sei und nicht normativ zwingend. 107  Thomas v. Aquin, Summa Theologica I-II q. 3 a. 3. 108  Mario Claudio Wintersteiger, „Streiflichter aus der politischen Ideenhistoriographie der Gleichheit – Egalitätsdenken vom antiken ‚Humanismus‘ bis zur ‚postmodernen‘ Demokratie“, in: Clemens Sedmak (Hrsg.), Gleichheit. Vom Wert der Nichtdiskriminierung. Darmstadt: WBG 2013, S. 53. 105 106

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sich moralische Fragen nicht mittels des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik beantworten lassen. So bleibt festzuhalten, dass auch der präsumtive Gleichheitsbegriff keine hinreichende Begründung für die These liefert, dass es ein universelles Recht auf globale Freizügigkeit gibt.109 V. Ergebnis Die Untersuchung war der Frage gewidmet, ob es ein rein moralisches Recht der Staaten gibt, Ausländern die Zuwanderung zu verweigern, und ob es ein rein moralisches Recht aller Menschen auf globale Freizügigkeit gibt, also das Recht nach Belieben in das Gebiet eines jeden Staates einzureisen und sich dort aufzuhalten, ohne auf die Erlaubnis des jeweiligen Staates angewiesen zu sein. Die Überlegungen haben ihren Ausgang von einem Gedankenexperiment des Naturzustandes genommen. Dieser Naturzustand war durch die vollständige Abwesenheit des gesamten heutigen nationalen und internationalen Rechts gekennzeichnet. Es gibt in diesem Modell zunächst auch keine moralischen Pflichten und Rechte, die ihre Grundlage auf irgendeiner Form der Kooperation haben und damit auf dem Prinzip des Instrumentalisierungsverbots und des Vertrauens beruhen. Es konnte gezeigt werden, dass in einem solchen Naturzustand nur ein einziger moralischer Standard existiert, und zwar der der Menschenrechte. Aus den Menschenrechten ließ sich jedoch weder ein staatliches Recht auf Ausschluss noch ein individuelles Recht auf globale Freizügigkeit ableiten. Zum Abschluss soll noch die Frage geklärt werden, ob und ggf. was sich an diesem Ergebnis ändert, wenn man den gesamten Bestand des nationalen und internationalen Rechts der Gegenwart wieder in dieses Bild einblendet. Es zeigt sich, dass sich dadurch am Ergebnis gar nichts ändert. Denn das gegenwärtige Recht erfasst jene Beziehungen zwischen Individuen und Staaten nicht, um die es in dieser Abhandlung ging. Der Naturzustand ist also keineswegs nur ein Konstrukt im Rahmen eines Gedankenexperiments. Er bestimmt vielmehr auch tatsächlich unsere Lebensverhältnisse. Zunächst gibt es weder auf völkerrechtlicher noch auf nationaler Ebene ein subjektives Recht auf (globale) Freizügigkeit. Staaten gewähren zwar den Angehöri109  Ich verzichte darauf, hier die Argumentation des sog. Glücks-Egalitarismus zu diskutieren. Daraus lässt sich nämlich kein allgemeines Recht auf globale Freizügigkeit ableiten, sondern höchstens ein Recht auf Kompensation für zufällige Benachteiligungen, das durch Migration, aber auch anders befriedigt werden könnte. Wer nicht zufällig benachteiligt ist, kann sich auf ein solches Recht ohnehin nicht berufen. Zum Thema vgl. u. a. Simon Caney, Justice Beyond Borders. Oxford: OUP 2005, insbes. Kapitel 5. Für die eingeschränkte Version des institutionellen Glücks-Egalitarismus: Kok-Chor Tan, „Luck, institutions, and global distributive justice. A defence of global luck egalitarism“, European Journal of Political Theory 10/3 (2011), 394.

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gen mancher anderer Staaten das Recht auf visumfreie Einreise und erlaubnisfreien Aufenthalt. Aber das gilt nicht universell, sondern wird aus kontingenten Gründen gewährt und bei entsprechender politischer Opportunität auch wieder entzogen. Andererseits können sich aber auch die Staaten nicht gegenüber Ausländern auf ein Recht auf Ausschluss berufen, dem eine entsprechende Rechtspflicht von Ausländern korrespondieren würde, die Einreise zu unterlassen. Zwar ist es völkerrechtlich anerkannt, dass Staaten ein Recht auf territoriale Integrität und Gebietshoheit haben, welches das Recht umfasst, Ausländern den Zutritt zu verweigern.110 Aber dieses Recht besteht nur auf der Ebene des Völkerrechts und das Völkerrecht ist eine normative Verbindung zwischen Staaten. Einzelne menschliche Individuen sind keine Völkerrechtssubjekte. Sie werden durch Völkerrecht unmittelbar weder berechtigt noch verpflichtet. Sie schulden deshalb fremden Staaten auch nicht den Respekt der territorialen Integrität. Sie dürfen zwar keine Gewalt anwenden, um den Zugang zu erzwingen, sofern diese Gewalt zugleich eine Verletzung von Menschenrechten wäre. Aber sie sind völkerrechtlich nicht gehindert, illegal in einen Staat ihrer Wahl einzureisen. Völkerrechtliche Regelungen, die darauf ausgerichtet sind, Individuen Rechte oder Pflichten aufzuerlegen, bedürfen der nationalstaatlichen Transformation in innerstaatliches Recht. Deshalb ist zu fragen, ob es auf der Ebene des nationalen Rechts eine Rechtspflicht von Ausländern gibt, die territoriale Integrität eines fremden Staates zu achten und nicht illegal einzureisen. Das nationale Recht der Staaten enthält zwar gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbote.111 Diese Rechtsnormen entfalten jedoch nach unserem eigenen Verständnis von rechtlicher Verbindlichkeit keine normative Bindung von Ausländern. Denn nach dem grundlegenden demokratischen Rechtsverständnis entfalten juridische Gesetze nur dann für Individuen normative Verbindlichkeit, wenn sie nicht auf Fremdherrschaft und Gewalt beruhen, sondern auf „Selbstherrschaft“, d. h. auf demokratischer Legitimation. Demokratische Legitimation liegt vor, wenn die von den Gesetzen betroffenen Menschen mit den Mitgliedern des Demos identisch sind, welchem die Gesetzgebung zugerechnet wird (Grundsatz der Volkssouveränität).112 Daraus folgt, dass Menschen, die nicht zum Demos des betreffenden Staates gehören, durch die Gesetze dieses Staates auch nicht normativ verpflichtet werden können. Ihnen gegenüber sind die Gesetze ein Mittel der Fremdherrschaft und ihre zwangsweise Durchsetzung schiere Gewalt. Sie sind so wenig verbindlich wie die Machtsprüche eines absoluten Monarchen oder eines autokratischen Diktators. Zwischen einem Staat und Ausländern, die an seiner Grenze stehen und Einlass begehren oder die sich illegal auf seinem Gebiet aufhalten, besteht insoweit ein reines Gewaltverhältnis und kein Rechtsverhältnis.   Knut Ipsen, Völkerrecht. 6. Aufl. München: C.H.Beck 2014 § 5 Rn. 59, 60.   Vgl. z. B. § 4 Aufenthaltsgesetz i. d. F. v. 25. 02. 2008 – BGBl. I, S. 162. 112 Vgl. Art. 21 AEMR; Art. 25 IPbürgR; Art. 20 Abs. 2 GG; dazu BVerfG, Beschluss v. 24. 05. 1995 – 2 BvF 1/92 –, BVerfGE 93, 37, Rn. 134. 110 111

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Paul Tiedemann

Dadurch, dass Rechtsstaaten die Fremdherrschaft über Ausländer gesetzesförmig ausüben, wird die Fremdherrschaft nicht zur Selbstherrschaft. Die Rechtsförmigkeit der Herrschaft dient vielmehr nur der Selbstkontrolle des Rechtsstaats, der sich selbst davor bewahren will, ausländische Personen bei Gelegenheit der Gewaltausübung in menschenrechtswidriger Weise zu behandeln. Die generelle rechtsförmige Behandlung von Menschen unabhängig von ihrem individuellen Status soll auch vermeiden, dass aufgrund einer Fehleinschätzung Menschen rechtswidrig behandelt werden, obwohl ihnen aufgrund des nationalen Rechts subjektive Rechte zustehen. Das Ausländergesetz bindet also den Staat und schafft subjektive Rechte (zugunsten Dritter), aber es vermag den Ausländern nicht einseitig rechtlich bindende Pflichten aufzuerlegen. Wenn sich der Ausländer nicht freiwillig an das Recht des Staates bindet, was unterstellt werden kann, wenn er ein Visum beantragt und legal einreist, verbleibt sein Verhältnis zum Staat im Naturzustand. Ein rechtliches Verbot, illegal in einen Staat einzureisen, dessen Staatsbürgerschaft man nicht besitzt, könnte mit rechtlicher Verbindlichkeit nur durch ein Gesetz jenes Staates begründet werden, zu dessen Demos die Individuen gehören, für die es gelten soll. Solche Gesetze gibt es meines Wissens aber nicht.113 Aus alledem folgt schließlich, dass es nicht gerechtfertigt ist, ein moralisches Unwerturteil über Menschen zu fällen, die illegal einwandern. Man kann einem Ausländer, der Gesetze missachtet, welche ihm gegenüber weder demokratisch noch vertraglich legitimiert sind, keinen moralischen Vorwurf machen. Deshalb ist die Kriminalisierung der bloßen illegalen Einreise unangemessen.114 Was man illegalen Einwanderern allein vorwerfen kann, ist ein Mangel an Geschick, weil sie sich haben erwischen lassen. Andererseits kann man aber auch Staaten keinen moralischen Vorwurf daraus machen, dass sie Ausländer faktisch an der Einreise hindern und illegal Eingereiste wieder zurück- oder abschieben. Mit der Schließung ihrer Grenzen verletzen sie grundsätzlich niemandes Recht. Auch die Anwendung unmittelbaren Zwangs kann ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden, solange sie dabei die Grenzen beachten, die durch die Menschenrechte gesetzt sind. Ob all das auch dann gilt, wenn die Einreisewilligen verfolgt oder in existenzieller Not sind, steht auf einem anderen Blatt. Dieser Sonderfall ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.

113  Manche Staaten verbieten ihren Staatsangehörigen nur generell die Einreise in bestimmte andere Staaten, also auch die legale Einreise. Das ist jedoch mit dem juridischen Recht auf Ausreisefreiheit (Art. 13 Abs. 2 AEMR; Art. 12 Abs. 2 IPbürgR) nicht vereinbar (Fn. 46). 114 Vgl. zahlreiche Straftatbestände nach § 95 AufenthG; die Sanktionierung von abweichendem Verhalten ohne moralischem Unwert ist Sache des Ordnungswidrigkeitenrechts – vgl. Torsten Noak, „Einführung ins Ordnungswidrigkeitenrecht Teil I“, ZJS 2012, 175 – http:// www.zjs-online.com/dat/artikel/2012_2_539.pdf

Migration im Naturzustand

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Summary The discussion about the no-border postulate, initiated by Joseph H. Carens in 1983, is developing an ever-increasing dynamism in both Anglo-American and German-speaking philosophy. There are two positions in this discussion: (1) the view that states have the right to decide sovereignly whether and under what conditions they grant entry and residence to aliens (right to exclusion); (2) the view that all people have a moral right to global free movement. The essay defends the thesis that there is neither a right to exclusion nor a right to global free movement on the moral level. In the relationship between states and aliens, the state of nature prevails. In the state of nature, there are no moral rights and duties other than human rights. Neither the alleged right to exclusion nor the alleged right to global free movement is a human right. Considering the current international and national law, nothing changes in this situation.

Rechtliche Spezialfragen der Migration – Special Legal Issues of Migration

European Union Citizenship – The Pitfalls of a Fundamental Status Kathrin Hamenstädt* European Union citizenship was introduced by the Treaty of Maastricht in 1992 and is currently held by approximately 500 million people. In 2001, the European Court of Justice (hereinafter: ECJ or Court) famously held in Grzelczyk that “Union citizenship is destined to be the fundamental status of nationals of the Member States”.1 This article aims to contribute to the ongoing debate regarding the shift in the Court’s case law on EU citizenship,2 by exploring whether EU citizenship can still be considered as the fundamental status of every citizen of the European Union or whether some EU citizens are excluded from this status and the rights associated therewith. This question is discussed against the background of the inherently open notion of integration and against two principles of the Rechtsstaat, one being the principle of legal certainty and the other being the principle of proportionality. The notion of integration and the principle of proportionality share common features as they are open-ended, require an assessment of the facts of the individual case and are therefore not conducive to establishing legal certainty. This article addresses the Court’s recourse to the respective concepts and the effects of the application of these concepts on EU citizenship. It is argued that the Court’s recourse to the principle of legal certainty is used to forego a proportionality assessment. The lack of a proportionality assessment and thereby a lack of an assessment of the facts of the individual case and a balancing process, disadvantages specific groups of EU citizens. In other areas of citizenship law, the Court establishes the requirement of an assessment of the EU citizen’s integration in the host Member State. This approach, however, has the effect of undermining legal certainty and furthers the exclusion of EU citizens from the protection against expulsion or the acquisition of permanent residence status. The ECJ’s recourse to the   I would like to thank Alexander Hoogenboom for his helpful and constructive comments.   Case C-184/99, Grzelczyk, EU:C:2001:458, para. 31. Similarly Recital 3 of the Preamble to the Citizenship Directive provides: “Union citizenship should be the fundamental status of nationals of the Member States when they exercise their right of free movement and residence”. 2  See specifically, N. Nic Shuibhne, “Limits rising, duties ascending: The changing legal shape of Union citizenship”, 52 CMLRev. (2015), pp. 889; D. Thym “The Elusive Limits of Solidarity: Residence Rights of and Social Benefits for Economically Inactive Union Citizens”, 52 CMLRev. (2015), pp. 17; E. Spaventa, “Earned Citizenship – Understanding EU Citizenship through Its Scope”, in: D. Kochenov (ed.), EU Citizenship and Federalism, The Role of Rights, Cambridge, Cambridge University Press, 2017, pp. 204. * 1

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principle of legal certainty or the concept of integration enhances Member States’ sovereignty, their margin of discretion vis-à-vis EU citizens and weakens the legal position of EU citizens. I. Introduction Shortly after the introduction of EU citizenship in 1992, the Court breathed life into this concept and became the driving force behind its development. In the late 1990s and at the beginning of the millennium, the ECJ steadily increased and strengthened the rights of EU citizens and their family members, often with recourse to the principle of equal treatment stipulated in Article 18 TFEU. In this so-called ‘constituent phase’,3 the Court often gave a broad interpretation of the rights granted to EU citizens while interpreting the limits of the rights restrictively. EU citizenship has enabled its holders to rely on equal treatment with nationals of the respective state, for example when asking for child raising allowance (Martínez Sala),4 subsistence allowance (Grzelczyk)5 or social assistance (Trojani).6 These, as well as other judgments, were considered to detach EU citizenship from its market logic,7 and were held to stress the “aspirational vocation of equal citizenship”.8 Principles that were established in the initial phase of citizenship case law were subsequently codified in Directive 2004/38 (hereinafter: the Citizenship Directive),9 which marked the phase of consolidation.10 In this phase, the Court refined previously established principles and developed new strands of its citizenship case law. According to Iliopoulou-Penot, the Court’s focus rested more on the social integration of EU citizens rather than on their productivity and contribution to the prosperity of the host society.11   E. Spaventa (Fn. 2), p. 207.   Case C-85/96, Martínez Sala, EU:C:1998:217. Here, it was held that a Spanish citizen’s claim for child raising allowance could not be refused by the German authorities on the basis of the lack of a residence permit, as German nationals did not have to fulfil this requirement to be eligible for the allowance. 5  Case C-184/99, Grzelczyk, EU:C:2001:458. 6  Case C-456/02, Trojani, EU:C:2004:488. 7  F. Strumia, “Looking for Substance at the Boundaries: European Citizenship and Mutual Recognition of Belonging”, 32(1) Yearbook of European Law (2013), p. 459. 8  D. Thym, “Frontiers of EU Citizenship: Three Trajectories and Their Methodological Limitations”, in: D. Kochenov (ed.), EU Citizenship and Federalism, The Role of Rights, Cambridge, Cambridge University Press, 2017, pp. 717 – 719. 9  Directive 2004/38/EC of the European Parliament and of the Council on the right of citizens of the Union and their family members to move and reside freely within the territory of the Member States amending Regulation (EEC) No 1612/68 and repealing Directives 64/221/ EEC, 68/360/EEC, 72/194/EEC, 73/148/EEC, 75/34/EEC, 75/35/EEC, 90/364/EEC, 90/365/ EEC and 93/96/EEC, O.J. 30. 04. 2004, L 158, p. 77 (hereinafter the ‘Citizenship Directive’). 10  E. Spaventa (Fn. 2), p. 208. 3 4

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Considering the continuous strengthening of EU citizens’ rights and the aim of an ever-closer Union among the peoples of Europe,12 one might have expected a further enhancement of the rights of EU citizens. However, in recent years the opposite direction seems to prevail and the fundamental status of Union citizenship seems to be fading away, especially for those who are economically inactive or not sufficiently economically active, who lack sufficient financial resources or do not comply with the (criminal) laws of the host Member State. Spaventa describes the Court’s more recent approach to EU citizenship as a “reactionary phase”13 and Thym observes that the case law exhibits a “doctrinal conservatism”.14 He argues that the “promise of equality does not embrace all those holding the status”.15 However, it should be noted from the outset that the aforementioned Grzelczyk formula always had two components. The full paragraph of the Court’s judgment reads: “Union citizenship is destined to be the fundamental status of nationals of the Member States, enabling those who find themselves in the same situation to enjoy the same treatment in law irrespective of their nationality, subject to such exceptions as are expressly provided for”.16 While the first two phases of the ECJ’s case law on citizenship seem to embody the first part of the formula, the current phase reflects the second part of the formula by focusing more on the limitations. These limitations and exceptions to the right to move and reside freely are also provided for in Article 21 TFEU, but the Court has repeatedly clarified that “those limitations and conditions must be applied in compliance with the limits imposed by Community law and in accordance with the general principles of that law, in particular the principle of proportionality”.17 The first part (1.) of this article sets the scene by providing a brief overview of the different directions the Court’s case law on EU citizenship has taken in the last couple of years. The second part (2.) addresses the Court’s case law regarding EU citizens’ access to non-contributory cash benefits and analyses the noticeable jurisprudential shift undertaken by the Court. The difference in the judgments regarding social benefits is characterised by an increasing reliance on the principle of legal certainty, which provides the Court with a justification for departing from the principle of proportionality. While the principle of proportionality, which involves a balancing of the conflicting interests, is not conducive to legal certainty as the outcome of the balancing process is not predictable, it is nevertheless a general 11  A. Iliopoulou-Penot, “Deconstructing the former edifice of Union citizenship? The Alimanovic judgment”, 53 CMLRev. (2016), p. 1021. 12  Preamble to the Treaty on European Union. 13  E. Spaventa (Fn. 2), pp. 208, 209. 14  D. Thym, “When Union citizens turn into illegal migrants: the Dano case”, 40 E.L. Rev. (2015), p. 252. 15  Ibid., p. 261. 16  Case C-184/99, Grzelczyk, EU:C:2001:458, para. 31. 17  Case C-413/99, Baumbast and R., EU:C:2002:493, para. 91; Case C-456/02, Trojani, EU:C:2004:488, para. 34.

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principle of Union law and must be respected by the Unions’ institutions. The shift from the principle of proportionality to the principle of legal certainty has the effect of excluding certain EU citizens from access to social benefits. The third part (3.) briefly explores the right of residence of third-country family members upon return to the EU citizen’s home Member State. This part exhibits parallels to the second part as it seems to be governed by a similar approach in that the Court has relied – implicitly – on legal certainty and abstained from conducting a proportionality assessment. In the fourth part (4.), the notion of integration is briefly introduced and two different functions that can be assigned to this concept will be highlighted. The fifth part (5.) outlines the case law regarding the acquisition of the right of permanent residence and critically assesses the Court’s recourse to the notion of integration. The Court has linked the acquisition of the right of permanent residence to the notion of integration and has turned integration into a requirement that the foreigner must fulfil. It is argued that this not only militates against the function attached to the notion of integration in the context of the Preamble of the Citizenship Directive, but that it also excludes certain EU citizens from acquiring the right of permanent residence. The sixth part (6.) focuses on EU citizens’ protection against expulsion which is similar to the approach adopted by the Court that was outlined in the fifth part as it relies on the notion of integration, which the Court argues underpins the protection against expulsion. Finally, the effects of the Court’s recourse to the notion of integration, the principle of proportionality and the principle of legal certainty on EU citizenship are summarised in the concluding remarks (II.) 1. Different Directions of the Court’s Case Law on EU Citizenship The different phases outlined in the introduction (I.), serve only as indications and must not hide the fact that the Court’s case law on EU citizenship is neither homogeneous nor linear18 and that the Court does not hold a uniform concept of EU citizenship.19 It rather reflects a dialogue between the ECJ and national courts20 whereby the Court invites national courts to initiate further debate by reacting to its judgments. The subsequent section shall briefly highlight selected judgments on EU citizenship in different areas and demonstrate that the Court does not follow a linear approach, but rather a combination of different approaches. The Tsakouridis judgment of November 2010 concerned an EU citizen’s protection against expulsion. Mr Tsakouridis had resided for more than ten years in Germany and could therefore only be expelled on imperative grounds of public se  P. Hilpold, “Die Unionsbürgerschaft – Entwicklung und Probleme”, EuR 2015, p. 135.   D. Thym (Fn. 2), p. 33. 20 See, T. Tridimas, “The ECJ and the National Courts, Dialogue, Cooperation and Instabil­ ity”, in: D. Chalmers, A. Arnull (eds.), The Oxford Handbook of European Union Law, Oxford, Oxford University Press, 2015, pp. 403. 18 19

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curity.21 The ECJ departed from its previous interpretation of public security,22 and adopted a wider definition of this notion.23 By allowing for such a broad definition of public security, the Court increased the power of Member States to remove EU citizens from their territory and weakened the latter’s potection against expulsion. The approach adopted in Tsakouridis was confirmed one year later in P.I.24 Contrary to its limiting approach in Tsakouridis, the Court strengthened the rights of static minor EU citizens and their third-country carers in Ruiz Zambrano only four months later. The Ruiz Zambrano judgment confirmed the autonomous meaning of EU citizenship and created a third type of link for a situation to fall within the scope of EU law. Prior to Ruiz Zambrano a situation would have to display an inter-state element or be covered by EU legislation in order to fall within the scope of EU law. Tridimas argues that Ruiz Zambrano “mark(s) a departure (...) from the internal market model of European integration to a citizenship paradigm”.25 In Ruiz Zambrano the Court held “that Article 20 TFEU (…) precludes a Member State from refusing” a third-country national father of static EU citizens, whom are dependent on that third-county national, a right of residence and a work permit “in so far as such decisions deprive those children of the genuine enjoyment of the substance of the rights attaching to the status of European Union citizen”.26 According to Tridimas, the Court’s use of the imprecise and abstract term of “genuine enjoyment of the substance of the rights” invites national courts to initiate further debate through the preliminary reference procedure.27 Only two months later, in May 2011, the Court elaborated on the notion of “genuine enjoyment of the substance of the rights” in McCarthy28 and – depending on one’s perspective – either retreated from or clarified the Ruiz Zambrano judgment. McCarthy concerned a dual British and Irish citizen who had always resided in the UK and whom wished to be joined by her spouse, whom was a third-country national. Given that “the national measure at issue (…) does not have the effect of obliging Mrs McCarthy to leave the territory of the European Union”29 she was held not to be deprived of the substance of her rights. Later in 2011, the approach adopted in McCarthy was confirmed in Dereci30 and in the subsequent years in   Article 28(3)(a) of the Citizenship Directive.   Case C-367/89, Aimé Richardt and Les Accessoires Scientifiques SNC, EU:C:1991:376, para. 22; Case C-83/94, Leifer, C-83/94, EU:C:1995:329, para. 26; Case C-273/97, Sirdar, EU:C:1999:523, para. 17; Case C-423/98, Albore, EU:C:2000:401, para. 18; Case C-285/98, Kreil, EU:C:2000:2, para. 17, Case C-72/83, Campus Oil Limited, EU:C:1984:256, para. 34. 23  Case C-145/09, Tsakouridis, EU:C:2010:708, para. 56. 24  Case C-348/09, P.I., EU:C:2012:300. 25  T. Tridimas (Fn. 20), pp. 410. 26  Case C-34/09, Ruiz Zambrano, EU:C:2011:124, para. 45. 27  T. Tridimas (Fn. 20), pp. 409. 28  Case C-434/09, McCarthy, EU:C:2011:277. 29  Ibid., para. 50. 30  Case C-256/11, Dereci, EU:C:2011:734. 21 22

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other cases.31 According to Adam and van Elsuwege this restrictive interpretation of the ‘genuine enjoyment test’ aims to “avoid impinging upon Member States’ autonomy to regulate migration and to preserve the Union legislature’s choices in the Citizenship Directive”.32 Moreover, they point out that the use of generic references such as ‘genuine enjoyment’ or ‘the substance of rights’ clearly contributes to legal uncertainty.33 Concerning EU citizens’ access to non-contributory cash benefits, the Court rejected any automatic denial of benefits in its Brey34 judgment of September 2013 and required that an assessment of the facts of the individual case and a proportionality assessment be conducted. In contrast to Brey, the Court weakened the position of EU citizens’ regarding access to non-contributory cash benefits in Dano35 (2014) and in Alimanovic36 (2015). Whilst the Court focused on a proportionality assessment in Brey, the Court eschewed conducting a proportionality assessment in Dano and subsequently justified the lack of a proportionality assessment by having recourse to the legal certainty principle in Alimanovic. This jurisprudential shift thereby allowed non-contributory cash benefits to be denied, without a proportionality assessment having to be conducted. Regarding EU citizens’ protection against expulsion, the Court undermined the protection of EU citizens even further in the M.G.37 case of January 2014, by linking the protection against expulsion provided for in the Citizenship Directive to an integration requirement. However, in Rendón Marín38 and CS39 of September 2016, the Court strengthened the rights of third-country nationals who are the primary carers of static, minor EU citizens who are dependent on the third-country national, by emphasising the importance of an assessment of the individual case and a proportionality assessment and by barring an automatic expulsion of the third-country national and the denial of a residence permit respectively. Strumia correctly states that there might be a risk “that supranational citizenship becomes the fundamental status for a shrinking subset of such people” and that the

31  For example, Case C40/11, Iida, EU:C:2012:691; Case C356/11 and C357/11, O., S. v. Maahanmuuttovirasto, and Maahanmuuttovirasto v. L, EU:C:2012:776; Case C-87/12, Ymeraga, EU:C:2013:291. 32  S. Adam and P. van Elsuwege, EU Citizenship and the European Federal Challenge through the Prism of Family Reunification, in: D. Kochenov (ed.), EU Citizenship and Federalism, The Role of Rights, Cambridge, Cambridge University Press, 2017, p. 451. 33  D. Kochenov, “The Right to Have What Rights?”, 19 European Law Journal (2013), p. 512; S. Adam and P. van Elsuwege (Fn. 32), p. 452. 34  Case C-140/12, Brey, EU:C:2013:565. 35  Case C-333/13, Dano, EU:C:2014:2358. 36  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597. 37  Case C-400/12, M.G., EU:C:2014:9. 38  Case C-165/14, Rendón Marín, EU:C:2016:675. 39  Case C-304/14, CS, EU:C:2016:674.

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end result may be that more rights are given to fewer people.40 However, while she argues that the doctrine of the substance of the rights developed in Ruiz Zambrano is an “effort to also protect those who stand at its margins”,41 this article focuses on those EU citizens who stand at the margins due to their insufficient economic activity or their lack of compliance with criminal laws and whom the Court seems to exclude from some of the rights attached to EU citizenship. 2. Access to Non-Contributory Cash Benefits This section addresses the right to equal treatment of EU citizens with nationals of the host Member State regarding access to non-contributory cash benefits. In Brey,42 the Court relied, in contrast to subsequent judgments, on the principle of proportionality. The case concerned a German pensioner’s application for a compensatory pension supplement, which was refused by the competent Austrian authorities on the grounds that Mr Brey did not have “sufficient resources to establish his lawful residence in Austria”.43 The Court recalled that “the right to freedom of movement is – as a fundamental principle of EU law – the general rule” and stated that “the conditions laid down in Article 7(1)(b) of Directive 2004/38”, which refers to a requirement of sufficient resources “must be construed narrowly (…) and in compliance with the limits imposed by EU law and the principle of proportionality (…)”.44 The ECJ clarified that any automatism provided for by national law is prohibited by EU law45 and that an assessment of the facts of the individual case and compliance with the principle of proportionality are crucial. Finally, the Court provided a non-exhaustive list of criteria that should be considered by the competent authorities when assessing an economically inactive EU citizen’s application for a benefit.46 Even though the Court did not refer to the ‘fundamental status’ formula, it reiterated the notion of financial solidarity that it already mentioned in its 2001   F. Strumia (Fn. 7), p. 433.  Ibid. 42  Case C-140/12, Brey, EU:C:2013:565. 43  Ibid., para. 17. 44  Ibid., para. 70. 45  Ibid., para. 77. As to the problems of determining an unreasonable burden see, H. Verschueren, “Free Movement or Benefit Tourism: The Unreasonable Burden of Brey”, 16 European Journal of Migration and Law (2014), p. 171, 172; M. Dawson and B. de Witte, “Welfare Policy and Social Inclusion”, in: D. Chalmers and A. Arnull (eds.), The Oxford Handbook of European Union Law, Oxford, Oxford University Press, 2015, p. 970; P. Minderhoud, “Directive 2004/38 and Access to Social Assistance Benefits”, in: E. Guild, C. Gortázar Rotaeche and D. Kostakopoulou (eds.), The Reconceptualization of European Union Citizenship, Brill, 2013, pp. 218, 219, 223. 46  Case C-140/12, Brey, EU:C:2013:565, para. 78. 40 41

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Grzelczyk judgment by stating that “Directive 2004/38 thus recognises a certain degree of financial solidarity between nationals of a host Member State and nationals of other Member States, particularly if the difficulties which a beneficiary of the right of residence encounters are temporary”.47 While the Court upheld the requirement of an assessment of the facts of the individual case48 and a proportionality assessment and thereby prohibited any automatism, the judgment is not as migrant-friendly as it might seem at first glance. O’Brien argues that the Court “closed off suggestions that EU nationals ought to have equal access (…) to special non-contributory benefits (…) as part of the legislative compromise that shielded those benefits from exportation”.49 Moreover, she opines that Brey implies that Member States can “subordinate residence rights to the “legitimate interests” of protecting public finances”,50 an aspect that was certainly prominent in the subsequent Dano and Alimanovic judgments. Likewise, Davies highlights that the principles established in Brey are quite restrictive and do not threaten the public finances of the Member States.51 Nevertheless, in contrast to the subsequent judgments, which constitute a remarkable deviance in the Court’s approach, the 2013 Brey judgment strongly relies on the principle of proportionality. a) The Dano Case The 2014 Dano judgment, by way of contrast, did not even mention the principle of proportionality. The case concerned the Romanian nationals Ms Dano and her son Florin, who had resided in Germany for several years.52 Ms Dano did not work or seek work, nor was she ever employed throughout the duration of her stay in Germany. She and her son applied for non-contributory cash benefits according to the German Social Code II (Sozialgesetzbuch II), which was subsequently refused by the German authorities. Even though the Court had recourse to the prohibition of discrimination on grounds of nationality,53 it did not base its reasoning on the equal treatment provision in primary law, but on secondary law by holding that “the principle of non-discrimination, laid down generally in Article 18 TFEU, is given more specific expression in Article 24 of Directive 2004/38”.54 In a second step, the Court empha  Case C-140/12, Brey, EU:C:2013:565, para. 72.   Ibid., para. 64. 49 See, C. O’Brien, “Civis Capitalis Sum: Class as the New Guiding Principle of EU Free Movement Rights”, 53 CMLRev. (2016), p. 945. 50 Ibid. 51  G. Davies, “Migrant Union Citizens and Social Assistance: Trying to Be Reasonable About Self-Sufficiency”, College of Europe, Research Paper in Law 02/2016, p. 12. 52  Case C-333/13, Dano, EU:C:2014:2358, paras. 35, 36. 53  Ibid., para. 64. 54  Ibid., para. 61. 47 48

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sised that Article 24(1) of the Citizenship Directive “provides that all Union citizens residing on the basis of the directive in the territory of the host Member State are to enjoy equal treatment with the nationals of that Member State”55 and thereby made recourse to the right to equal treatment contingent on the fulfilment of the criteria laid down in secondary law. In Ms Dano’s case, residence on the basis of that Directive meant compliance with the requirements of Article 7 thereof. As Ms Dano was not a worker, self-employed56 or following a course of study,57 she had to comply with the criteria contained in Article 7(1)(b) of the Citizenship Directive, which requires sufficient resources and comprehensive sickness insurance cover.58 The ECJ held that “according to the findings of the referring court the applicants do not have sufficient resources and thus cannot claim a right of residence in the host Member State under Directive 2004/38”.59 Consequently, the applicants could not rely on the right to equal treatment provided for in Article 24(1) of the Citizenship Directive. The Court concluded that Article 24(1) of the Citizenship Directive, read in conjunction with Article 7(1) thereof, did not preclude national legislation such as that which excluded the applicants from access to these benefits.60 Notably, the ECJ did not mention the principle of proportionality and because of this, the ECJ also abstained from assessing the facts of the individual case and balancing the competing interests. This development is remarkable, given that Ms Dano had lived in Germany for several years, where she gave birth to her son in 2009 and given that her sister materially provided for her and her son by accommodating them in her apartment.61 In the subsequent Alimanovic case, the ECJ provided reasons as to why it abstained from undertaking a proportionality test. b) The Alimanovic Case Nazifa Alimanovic and her three children are Swedish citizens.62 In contrast to Ms Dano, Ms Alimanovic and her oldest daughter had been economically active in the host Member State (Germany) before claiming subsistence allowances for the long-term unemployed as well as social allowance for her two minor children. According to the referring court, the benefits claimed were ‘special non-contributory cash benefits’ within the meaning of Article 70(2) of Regulation No 883/2004.63 The ECJ stated that it “is apparent from the Court’s case-law, such benefits are also   Ibid., para. 68.   Article 7(1)(a) of the Citizenship Directive. 57  Article 7(1)(c) of the Citizenship Directive. 58  Article 7(1)(b) of the Citizenship Directive. 59  Case C-333/13, Dano, EU:C:2014:2358, para. 81. 60  Ibid., paras. 82, 83. 61  Ibid., para. 37. 62  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597, para. 25. 63  Ibid., para. 43. 55 56

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covered by the concept of ‘social assistance’ within the meaning of Article 24(2) of Directive 2004/38”.64 Ms. Alimanovic, and her oldest daughter, worked for eleven months in Germany. Had they worked for twelve months, they would have retained their status as workers pursuant to Article 7(3)(b) of the Citizenship Directive. Lacking one month of employment, the ECJ relied on Article 7(3)(c) of the Citizenship Directive and noted that Ms Alimanovic and her daughter retained worker status for at least six months after their last employment had ended.65 Given that this period had expired, they were barred from claiming unemployment benefits and could only apply for long-term unemployed benefits. Regarding the question of whether the refusal of these benefits was compliant with EU law, the Court held that it must be determined “whether the principle of equal treatment referred to in Article 24(1) (…) is applicable and, accordingly, whether the Union citizen concerned is lawfully resident on the territory of the host Member State”.66 Since the six month period referred to in Article 7(3)(c) of the Citizenship Directive had expired in the case of Ms. Alimanovic and her daughter, the second provision, Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive, was decisive. Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive provides that a Union citizen who entered the territory of the host Member State in order to seek employment there may not be expelled for as long as (s)he can provide evidence that (s)he is continuing to seek employment and has a genuine chance of becoming economically engaged.67 Despite the fact that EU citizens who can rely on Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive have a residence right on the basis of the aforementioned Directive and could therefore, in principle, rely on Article 24(1) of the Citizenship Directive, Article 24(2) of the Citizenship Directive contains derogations to Article 24(1). Accordingly, the Court ruled that Article 24(2) of the Citizenship Directive can be invoked “in order not to grant that citizen the social assistance sought” given that Article 24(2) of the Citizenship Directive explicitly refers to Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive.68 The Court concluded that Union law does not preclude national legislation which excludes EU citizens covered by Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive from “entitlement to certain ‘special non-contributory cash benefits’ (…) although those benefits are granted to nationals of the Member State concerned who are in the same situation”.69

  Ibid., para. 44.   Ibid., paras. 53 – 55. 66  Ibid., para. 51. 67  Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive codified the criterion that was established in Case C-292/89, Antonissen, EU:C:1991:80, para. 21. 68  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597, para. 57. 69  Ibid., para. 63. 64 65

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aa) The Principle of Proportionality The principle of proportionality is a pillar of the Rechtsstaat and a general principle of EU law70 that is codified in Article 5 (4) TEU and contained in Protocol (No. 2) on the application of the principles of subsidiarity and proportionality. Under the principle of proportionality a measure must be “suitable for securing the attainment of the objective which it pursues”.71 Moreover, the Court has ruled that the measure must be necessary, which means that it must not go beyond what is required in order to attain the objective72 or that no alternative, equally effective but less intrusive, measure is available – known as the so-called ‘least onerous means test’.73 The principle of proportionality regulates the exercise of the Euro­ pean Union’s power and aims at preventing the imposition of an unduly burden on the addressee of a legislative, executive or judicial act or decision and at striking a fair balance between competing interests. While the Court previously required a proportionality test in the context of the Citizenship Directive, it explicitly abstained from conducting a proportionality assessment in Alimanovic and allowed for an automatic exclusion to benefits for jobseekers, if they do not retain the status of a worker according to Article 7(3) of the Citizenship Directive. The Court acknowledged that it previously ruled that “Directive 2004/38 requires a Member State to take account of the individual situation of the person concerned before it adopts an expulsion measure or finds that the residence of that person is placing an unreasonable burden on its social assistance system”, but held in Alimanovic that no such individual assessment was necessary.74 The explanation provided by the ECJ as to why an individual assessment was not necessary relies on several arguments. First, the Court held that “Directive 2004/38, establishing a gradual system as regards the retention of the status of ‘worker’ which seeks to safeguard the right of residence and access to social assistance, itself takes into consideration various factors characterising the individual situation of each applicant for social assistance and, in particular, the duration of the exercise of any economic activity”.75 In the next paragraph, the Court argued that: “By enabling those concerned to know, without any ambiguity, what their rights and obligations are, the criterion referred to (…) in Article 7(3)(c) of Direc70  Case C-273/97, Sirdar, EU:C:1999:523, para. 26; Case C-343/09, Afton Chemicals Limited, EU:C:2010:419, para. 45; P. Craig, EU Administrative Law, 2nd edn., Oxford, Oxford University Press, 2012, p. 591. 71  Case C-55/94, Gebhard, EU:C:1995:411, para. 37; Case C-100/01, Oteiza Olazabal, EU:C:2002:712, para. 43. 72 Ibid. 73  M. Franzen, in: R. Streinz (ed.), EUV / AEUV Kommentar, 2nd edn., C.H. Beck, 2012, Art. 45, para. 127. 74  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597, para. 59. 75  Ibid., para. 60.

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tive 2004/38, namely a period of six months after the cessation of employment during which the right to social assistance is retained, is consequently such as to guarantee a significant level of legal certainty and transparency in the context of the award of social assistance by way of basic provision, while complying with the principle of proportionality”.76 These arguments will be analysed respectively, starting with the last argument that Article 7 (3) of the Citizenship Directive 2004/38 complies with the principle of proportionality. Given that the principle of proportionality is a general principle of Union law and given that it underpins the Citizenship Directive, as its Preamble and several of its Articles refer to this principle;77 the Citizenship Directive must therefore comply with the principle of proportionality. The argument that the Citizenship Directive, in particular Article 7 thereof “itself takes into consideration various factors characterising the individual situation of each applicant for social assistance and, in particular, the duration of the exercise of any economic activity”78 is startling. Provisions in laws or directives are usually phrased in abstract and general terms in order to cover a variety of situations and a plurality of individuals. The application of the provision to the facts of the individual case, for example by way of an administrative act, is concrete and individual. It is difficult to see how an abstract and general provision can at the same time be concrete and individual.79 The final argument advanced by the Court as to why a proportionality assessment was not necessary, was based on legal certainty. The Court held that Article 7(3)(c) of Directive 2004/38 guarantees “a significant level of legal certainty and transparency” by “enabling those concerned to know, without any ambiguity, what their rights and obligations are”.80 bb) The Principle of Legal Certainty Another cornerstone of the Rechtsstaat is the principle of legal certainty. In Westzucker the Court referred to the principle of legal certainty as a principle “by which the confidence of persons concerned deserves to be protected (Vertrauensschutz)”.81 This principle comprises the protection of legitimate expectations82 and   Ibid., para. 61.   See for example Recital 23 of the Preamble to the Citizenship Directive and Article 27(2) of the Citizenship Directive. 78  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597, para. 60. 79  See also, N. Nic Shuibne, “What I tell you three times is true: lawful residence and equal treatment after Dano”, 23 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2016), pp. 922, 923; A. Iliopoulou-Penot (Fn. 11), p. 1024. 80  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597, para. 61. 81  Case C-1/73, Westzucker, EU:C:1973:78, para. 6. 82  See, Case C-2/75, Mackprang, EU:C:1975:66, para. 44. 76 77

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non-retroactivity.83 The Court’s finding that Article 7(3)(c) of Directive 2004/38 guarantees “a significant level of legal certainty and transparency” by “enabling those concerned to know, without any ambiguity, what their rights and obligations are”84 is not entirely clear. The first and most obvious option is that the ECJ refers to the applicants for the benefits, namely Ms Alimanovic and her daughter. But would Ms Alimanovic’s and her daughter’s legal certainty be impaired if a proportionality assessment was conducted? If the default position is that Ms Alimanovic is not entitled to the benefit, her legal certainty would not be negatively affected by a balancing process. The balancing process could lead to the conclusion that she is entitled to the benefit due to her links with the host Member State (Germany). This ‘additional test’ might impinge upon the certainty that she is not entitled to receive the benefit, but it would not undermine her trust in the (host) Member State. The Court’s reference to ‘those concerned’ could also hint at the respective Member State, which would be obliged to pay the benefit to the applicant. The Member State’s certainty would be affected if its obligation to pay the benefit was dependent on the outcome of a balancing process. But legal certainty traditionally refers to the trust of the individual in the continuity of the law and to the individual’s legitimate expectations.85 Van Meerbeeck rightly remarks that “legal certainty should operate mainly for the benefit of the individual”.86 Finally, the notion ‘those concerned’ could refer to the nationals of the host Member State, who might indirectly be obliged to pay the benefit, for example through their tax contributions. This outright exclusion of EU citizens who do not fulfil certain requirements signals to the nationals of the host Member State that they are no longer expected to show a certain degree of financial solidarity with EU citizens from other Member States. cc) T  he Friction Between Legal Certainty and the Principle of Proportionality Legal certainty and transparency on the one hand and the principle of proportionality on the other are not always reconcilable. Nic Shuibhne rightly points out that a “framework that requires a case-by-case assessments is far from perfect, especially from the perspectives of legal certainty and workability in practice”.87 Verschueren has criticised the Court’s previous “unreasonable burden assessment” for 83  It does, however, not exclude all possibility of retroactive effect, Case C-88/76, Société pour l’exportation des sucres SA, EU:C:1977:61, para. 17. 84  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597, para. 61. 85  Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20, para. 69 (78. EGL Sept. 2016). 86  J. Van Meerbeeck, “The principle of legal certainty in the case-law of the European Court of Justice: from certainty to trust”, 40 E.L. Rev. (2016), p. 276. 87  N. Nic Shuibhne (Fn. 2), p. 913.

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increasing legal uncertainty and confusion.88 Similarly, Spaventa points out, with reference to Förster89 and O. & B.,90 that “the case by case assessment – unworkable for either Court or administrators – is discarded in favour of more predictable rights for economically inactive people”.91 A case-by-case assessment is indeed a source of insecurity. A casuistic approach makes it not only more difficult for the applicant and his or her lawyer to predict the outcome of the case, but it also makes it more difficult for national courts to bring their judgments in line with the ECJ’s case law. Yet, insecurity regarding the outcome of the balancing process is an inherent feature of the proportionality principle, which in turn is a fundamental principle of EU law. This insecurity has been limited to a certain degree by a codification of the criteria that must be taken into consideration throughout the balancing process92 and by refining these criteria in the Court’s case law.93 These criteria provide some degree of guidance to the executive and judiciary when balancing the conflicting interests. They can be considered a compromise between the principle of legal certainty and the principle of proportionality as they clarify which considerations play a role in the balancing process and thereby add some degree of legal certainty. Legal certainty could be enhanced even further – without jeopardising the principle of proportionality – by attaching specific weight to the respective criterion, in other words by ranking the different criteria and by identifying criteria that shall have more weight than others. Moreover, Nic Shuibhne rightly argues that an individual assessment “does mediate the ambiguities built into the Directive”.94 dd) The Court’s Approach: A Departure from a Proportionality Test The Court’s approach in Alimanovic does not strike any balance between the principle of legal certainty and the principle of proportionality. It sacrifices the proportionality assessment for the sake of legal certainty. First, the provisions of the Citizenship Directive, on which the Court relies, do not bar a proportionality assessment. Article 7(3)(c) of the Citizenship Directive, for example, is not conclusive, as it establishes a minimum period for which the status of ‘worker’ is retained, but does not establish a maximum period after 88  H. Verschueren (Fn. 45), p. 169; A. Iliopoulou-Penot (Fn. 11), p. 1026, who argues that the unreasonable burden test did not provide meaningful guidance to national authorities. 89  Case C-158/07, Förster, EU:C:2008:630. 90  Case C-456/12, O. & B., EU:C:2014:135. 91  E. Spaventa (Fn. 2), p. 208. 92  See for example, the criteria listed in Recital 16 of the Preamble to the Citizenship Directive that are used to determine whether the individual is an unreasonable burden on the social assistance system of the host Member State. 93  Case C-140/12, Brey, EU:C:2013:565, paras. 69, 78. 94  N. Nic Shuibhne (Fn. 2), p. 913.

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which the status must be revoked. It thereby leaves discretion to the national authorities when they are implementing the Directive. This discretion must be exercised in line with the principle of proportionality. Similarly, Article 24(2) of the Citizenship Directive provides that a “Member State shall not be obliged to confer entitlement to social assistance (…)”, but it does not prevent Member States from doing so. Secondly, the question of whose legal certainty is enhanced is relevant. Ruling out a proportionality assessment in a situation where a proportionality assessment could be potentially beneficial for Ms Alimanovic; however where the lack of a proportionality assessment would be beneficial for the host Member State, this would in turn arouse the suspicion that legal certainty is being used to mask a decision that gives precedence to the interests of one party and sidelining the duty to give reasons. Thirdly, a proportionality assessment might be necessitated by the Charter of Fundamental Rights (hereinafter: CFR or Charter). According to Article 51(1) of the Charter the “provisions of this Charter are addressed to the institutions and bodies of the Union and to the Member States only when they are implementing Union law”. The notion of ‘implementing Union law’ is open to interpretation. In Åkerberg Fransson, the Court gave this notion a wide interpretation by stating that “[t]hat article of the Charter thus confirms the Court’s case-law relating to the extent to which actions of the Member States must comply with the requirements flowing from the fundamental rights guaranteed in the legal order of the European Union”.95 In the next paragraph, the Court stated that “[t]he Court’s settled case-law indeed states, that the fundamental rights guaranteed in the legal order of the European Union are applicable in all situations governed by European Union law”.96 The notion of “all situations governed by Union law” is admittedly wider than the notion of implementation of Union law. Regarding this wider interpretation, Tridimas rightly points out that the judgment ensures conformity between the scope of application of general principles and the Charter rights.97 According to the Court “fundamental rights guaranteed by the Charter must therefore be complied with where national legislation falls within the scope of European Union law”.98 The Alimanovic situation even fulfils the narrow interpretation contained in Article 51(1) CFR, as the Member State was implementing Union law. As outlined above, the Court found that Ms Alimanovic and her daughter had a right of residence on the basis of Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive99 which had been

  Case C-617/10, Åkerberg Fransson, EU:C:2013:280, para. 18.   Ibid., para. 19. 97  T. Tridimas, “Fundamental Rights, General Principles of EU Law, and the Charter”, 16 Cambridge Yearbook of European Legal Studies (2014), p. 383. 98  Case C-617/10, Åkerberg Fransson, EU:C:2013:280, para. 21. 95 96

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transposed into German law.100 By applying this provision, the German authorities implemented Union law as per Article 51(1) of the Charter and, as a consequence, the German authorities were bound by the Charter. Given that Ms Alimanovic gave birth to her three children in Germany and had lived and worked in Germany for some time, the denial of the benefit would have to be assessed for its compatibility with the right to respect for private and family life (Article 7 of the Charter). This in turn would have required an assessment of the facts of the individual case and a proportionality assessment. Moreover, the application of the Charter would have given the Court the chance to elaborate on Article 34 of the Charter (regarding social security and social assistance). In sum, the relevant provisions of the Citizenship Directive do not bar a proportionality assessment. Moreover, the Court’s reference to legal certainty sidelines an explanation as to why the interests of the host Member State and its population should outweigh the interests of the EU citizen. Finally, an assessment of the facts of the individual case and a proportionality assessment would have been required, at the very least, by the Charter of Fundamental Rights. 3. Right of Residence of Third-Country Family Members upon Return to the Union Citizen’s Home Member State Another example where the Court abstained from an assessment of the facts of the individual case and a proportionality assessment was the O. & B. case.101 O. & B. concerned the residence rights of third-country family members upon their return to the Union citizen’s home Member State after having exercised free movement rights. Even though the Court had previously addressed return situations in Eind102 and Singh103, the Court’s case law was not codified in Directive 2004/38. In March 2014, the CJEU was asked in O. & B. whether the case law resulting from Singh and Eind was “capable of being applied generally to family members of Union citizens who, having availed themselves of the rights conferred on them by Article 21(1) TFEU, resided in a Member State other than that of which they are nationals, before returning to the Member State of origin”.104 The reason given in Eind and Singh for not only granting a residence right to the third-country family member in the host Member State, but also in the home Member State of the Union citizen upon return, 99  Case C-67/14, Alimanovic, EU:C:2015:597, para. 57. See further, S. Mantu and P. Minderhoud, “Exploring the limits of social solidarity: welfare tourism and EU citizenship”, 2 UNIO – EU law Journal (2016), p. 18. 100  §2(2) no 1a Freedom of Movement Act / EU (Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern) which (then) implemented Article 14(4)(b) of the Citizenship Directive into German law. 101  Case C-456/12, O. & B., EU:C:2014:135. 102  Case C-291/05, Eind, EU:C:2007:771. 103  Case C-370/90, Singh, EU:C:1992:296. 104  Case C-456/12, O. & B., EU:C:2014:135, para. 48.

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was based on the consideration that the denial of such a right could discourage Union citizens (in these cases workers) to avail themselves of the freedoms granted by the Treaty if they are not able to continue “on returning to his Member State of origin, a way of family life which may have come into being in the host Member State as a result of marriage or family reunification”.105 Adam and van Elsuwege point to a second underlying logic, namely “that family reunification is key to the migrant’s integration in the host society”.106 In O. & B. the Court held that the requirements established by the Citizenship Directive should be applied by analogy.107 Here again the Court reversed the hierarchy between primary and secondary EU law. Sarmiento and Sharpston rightly point out that “the Court chose to interpret the Treaty in light of a directive (…) rather than basing itself simply upon a purposive interpretation of the Treaty”.108 The Court stated that the EU citizen’s residence in the host Member State must have been sufficiently genuine “so as to enable that citizen to create or strengthen family life in that Member State”.109 For determining the genuineness of residence, the ECJ had recourse to Article 7 of the Citizenship Directive, which specifies the requirements for residence exceeding three months. The Court ruled that “[r]esidence in the host Member State pursuant to and in conformity with the conditions set out in Article 7(1) of that directive is, in principle, evidence of settling there and therefore of the Union citizen’s genuine residence in the host Member State and goes hand in hand with creating and strengthening family life in that Member State”.110 Residence of up to three months was, by way of contrast, insufficient. Similar to the reasoning in Dano and Alimanovic the determinative criteria in O. & B. were those contained in Article 7 of the Citizenship Directive. These criteria are certainly conducive to legal certainty, even though the Court did not draw upon the principle of legal certainty in O. & B. Another common feature of these cases is the Court’s abstention from both an assessment of the facts of the individual case and a balancing process. The requirements established in O. & B., a minimum duration of residence in the host Member State of three months and the fulfilment of the criteria contained in Article 7 of the Citizenship Directive, do not seem to be disproportionate per se. However, it is problematic to abstain from an assessment of the facts of the individual case and a balancing process in those situations where the residence falls short of the minimum duration of three months and / or the   See, Case C-291/05, Eind, EU:C:2007:771, paras. 35 and 36.   S. Adam and P. van Elsuwege (Fn. 32), p. 449. 107  Case C-456/12, O. & B., EU:C:2014:135, para. 50. 108  D. Sarmiento and E. Sharpston, “European Union Citizenship and Its New Union: Time to Move On?”, in: D. Kochenov (ed.), EU Citizenship and Federalism, The Role of Rights, Cambridge, Cambridge University Press, 2017, p. 237. 109  Case C-456/12, O. & B., EU:C:2014:135, para. 51. 110  Ibid., para. 53. 105 106

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fulfilment of the criteria contained in Article 7 of the Citizenship Directive. The automatic exclusion from the possibility to be accompanied by a third-country national family member if the criteria of Article 7 of the Citizenship Directive are not fulfilled, is difficult to reconcile with the principle of proportionality. Situations in which residence in the host Member State is intended to exceed three months, but fails to reach this threshold due to compelling reasons,111 can still exhibit facts that might lead to the conclusion that the family member of the Union citizen should have a right of residence in the Union citizen’s home Member State. Schoenmaekers and Hoogenboom therefore rightly propose that a period of residence falling short of the three-month criterion must be evaluated on its merits.112 Their suggestion is more likely to achieve balanced results as it takes a broader range of considerations into account and complies with the principle of proportionality. The more recent judgments discussed in the previous two parts of this article, have in common that the Court abstains from a proportionality test and focuses strongly on clear and measurable criteria, which are conducive to legal certainty. Regarding the acquisition of the right of permanent residence (5.) and the protection against expulsion (6.), the Court relies on the umbrella concept of integration (4.), which will subsequently be addressed. The notion of integration conveys “a set of normative values” and can be given different meanings.113 It is indeterminate and therefore not conducive to legal certainty. 4. The Notion of Integration The notion of integration is an inherently open-ended term which is subject to differing interpretations.114 It serves different functions, both in national115 and EU law.116 Two opposing interpretations are relevant for placing the case law that will be introduced in the following sections, in context. 111  For an example see, K. Hamenstädt, “The impact of the duration of lawful residence on the rights of European Union citizens and their third-country family members”, 24 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2017), p. 72. 112  S. Schoenmaekers and A. Hoogenboom, “Singh and Carpenter Revisited: Some Progress but not Final Clarity Case C-456/12 O. v. Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel, and Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel v. B., Judgment of 12 March 2014, and Case C-457/12 S v. Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel, and Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel v. C., Judgment of 12 March 2014”, 21 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2014), p. 507. 113  D. Thym, “Towards a Contextual Conception of Social Integration in EU Immigration Law. Comments on P & S and K & A”, 18 European Journal of Migration and Law (2016), pp. 106, 107. 114  Ibid., pp.  106 – 109; K. Groenendijk, “Legal Concepts of Integration in EU Migration Law”, 6 European Journal of Migration and Law (2004), p. 113. 115  Regarding the notion of integration in national migration law see: J. Eichenhofer, Begriffe und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, Nomos, 2013. 116  K. Groenendijk (Fn. 114), p. 113.

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One view considers a secure residence status and equal treatment of migrants with nationals of the respective state as being conducive for integration.117 The opposite standpoint takes the view that a lack of integration on the part of the migrant is a ground for refusing admission to the country or rejecting access to certain rights.118 Both perspectives are traceable in the ECJ’s case law119 and in EU legislation.120 In contrast to third-country nationals, who can be subject to integration requirements, for example before acquiring the long-term resident status,121 integration requirements cannot be imposed on EU citizens.122 In 2004, Groenendijk rightly noted that “under the current rules on free movement, in the Directive there is no integration requirement whatsoever”.123 He states that a lack of integration as a ground for refusing admission or certain rights is “absent with respect to Union citizens and their family members”.124 The recourse to and interpretation of the notion of integration seems to be part of a more general shift in the case law on EU citizenship. As noted by Thym,125 there has been a shift in the interpretation of the objectives of the Citizenship Directive. In its Metock judgment of 2008, the Court still held that “Directive 2004/38 aims to facilitate the exercise of the primary and individual right to move and reside freely within the territory of the Member States that is conferred directly on Union citizens by the Treaty”.126 In Dano, by way of contrast, the Court adopted a different stance. Even though the Court did not refer to the directive as a whole, it was held that “Article 7(1)(b) of Directive 2004/38 seeks to prevent economically inactive Union citizens from using the host Member State’s welfare system to fund their means of subsistence”.127 This shift in the interpretation of the Directive’s objective is also reflected in the Court’s interpretation of the notion of integration used in the Directive. 117  K. Groenendijk, “Long-term immigrants and the Council of Europe”, in: E. Guild and P. Minderhoud (eds.), Security of Residence and Expulsion, Brill, 2001, p. 7; D. Acosta, The Long-Term Resident Status as a Subsidiary Form of EU Citizenship, An Analysis of Directive 2003/109, Brill, 2011, p. 138 (regarding long-term resident third-country nationals). 118  For further information regarding both perspectives see: D. Thym (Fn. 113), pp. 106, 107. 119  Case C-389/87, Echternach, EU:C:1989:130, para. 20 (representing the perspective that a secure residence status and equal treatment with nationals is conducive to integration); Case C-325/09, Dias, EU:C:2011:498, para. 64 (integration as a requirement). 120 See K. Groenendijk (Fn. 114), p. 114. In this article Groenendijk assesses three selected legal instruments. 121  Article 5(2) of Council Directive 2003/109/EC concerning the status of third-country nationals who are long-term residents, O.J. L 16, 23. 01. 2004, p. 44. 122  D. Thym, “Freizügigkeit in Europa als Modell?”, EuR 2011, p. 489. 123  K. Groenendijk (Fn. 114), p. 125. 124 Ibid. 125  D. Thym (Fn. 14), pp. 254, 255. 126  Case C127/08, Metock, EU:C:2008:449, para. 82. 127  Case C-333/13, Dano, EU:C:2014:2358, para. 76.

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The Directive adheres to the first interpretation of the notion of integration, which considers a secure residence status conducive for the integration of the Union citizen in the host society. This is demonstrated by Recital 18 of the Preamble to the Citizenship Directive, which addresses the right of permanent residence and provides: “In order to be a genuine vehicle for integration into the society of the host Member State in which the Union citizen resides, the right of permanent residence, once obtained, should not be subject to any conditions”. Permanent residence is consequently considered a vehicle for integration and is not a prerequisite for the acquisition of permanent residence. The Court, by way of contrast, adopted an interpretation of the notion of integration, which considers integration to be a prerequisite and that the lack of integration can be a reason for refusing protection against expulsion or the acquisition of the right of permanent residence. 5. Right to Permanent Residence The requirements for acquiring the right of permanent residence are stipulated in Article 16 of the Citizenship Directive, which provides that “Union citizens who have resided legally for a continuous period of five years in the host Member State shall have the right of permanent residence there”. Article 16(2) thereof extends this right to the family members of EU citizens. Already in Dias (2011), the Court hinted at an integration objective which lies behind the acquisition of the right of permanent residence. It held that “Article 16  (1) of Directive 2004/38 is based not only on territorial and time factors but also on qualitative elements, relating to the level of integration in the host Member State”.128 The Court adopted the same approach in Onuekwere, which concerned the acquisition of the right of permanent residence by a third-country family member of a Union citizen. The Court, in that case, had to address the question of whether time spent in prison could be taken into account for the calculation of the five-year period. The Court ultimately answered that question in the negative. Moreover, it stated that the continuity of residence was interrupted by the prison term.129 In reaching those conclusions, the Court held that “the right of permanent residence is a key element in promoting social cohesion and was provided for by that directive in order to strengthen the feeling of Union citizenship”.130 Furthermore it ruled that “[t]he EU legislature accordingly made the acquisition of the right of perma  Case C-325/09, Dias, EU:C:2011:498, para. 64.   Case C-378/12, Onuekwere, EU:C:2014:13. For comments on the case see S. Coutts, “Union citizenship as probationary citizenship: Onuekwere”, 52 CMLRev. (2015), pp. 531 –  545. 130  Case C-378/12 Onuekwere, EU:C:2014:13, para. 24. 128 129

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nent residence (…) subject to the integration of the citizen of the Union in the host Member State”.131 A few paragraphs later, the Court referred to the “the integration requirement which is a precondition of the acquisition of the right of permanent residence”.132 Thym rightly observes that there is a “conceptual shift away from equal rights as a means for integration, towards an output-oriented assessment that links citizens’ rights to the degree of integration”.133 Even though permanent residence requires lawful and continuous residence and which may therefore support the argument that imprisonment interrupts the period of lawful residence, Coutts rightly points out that it does not seem that the time spent in prison or imprisonment were decisive for the Court.134 Indeed, the ECJ refers to the lack of integration which is demonstrated by the rejection of or “non-compliance by the person concerned with the values expressed by the society of the host Member State in its criminal law”.135 An approach that frames the requirement of lawful and continuous residence in the language of integration – whereby integration is understood as compliance with societal norms and values – does not take other forms of integration (such as economic and labour market integration, acquisition of language skills, family ties and the forging of personal ties) into account. Such an approach therefore falls short of a comprehensive assessment of the facts of the individual case. Moreover, the Court assigns the notion of integration a function that differs from the function that the Preamble to the Citizenship Directive assigns to this notion. While the Preamble considers a secure residence status conducive for the migrant’s integration, the Court considers integration a condition for the acquisition of permanent residence and not an aim which is to be achieved by granting the individual the right to permanent residence. This development is not only problematic against the background of the rights of EU citizens and their third-country family members; the Court’s statement that “the integration requirement (…) is a precondition of the acquisition of the right of permanent residence”136 is also problematic regarding the principle of legal certainty, as the notion of integration is not mentioned in Article 16 of the Citizenship Directive. 6. Protection Against Expulsion The Court’s approach to the protection against expulsion follows a similar pattern as the case law on the acquisition of the right of permanent residence insofar  Ibid.   Ibid., para. 30. 133  D. Thym (Fn. 2), p. 38. 134 See, S. Coutts (Fn. 129), p. 539. 135  Case C-378/12, Onuekwere, paras. 26, 31. 136  Ibid., para. 30. 131 132

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as the Court also has recourse to the notion of integration. The ECJ’s case law concerning the limitations of free movement rights on grounds of public policy, public security and public health has been partially codified in the Citizenship Directive, mainly in Articles 27 and 28 thereof. Article 27 of the Citizenship Directive, which is entitled ‘general principles’, refers to the principle of proportionality, the prohibition of invoking public policy or security on economic grounds and the prohibition of basing an expulsion decision on considerations of general prevention, hence the deterrence of other foreigners. Article 28 of the Citizenship Directive, which is entitled ‘protection against expulsion’ refers in its first paragraph to a non-exhaustive list of considerations that must be taken into account when conducting a balancing process between the competing interests and before an expulsion decision can be adopted. Article 28(2) and (3) of the Citizenship Directive provide for an incremental framework of protection against expulsion. Article 28(2) of the Citizenship Directive provides that an EU citizen or third-country national family member, who has the right of permanent residence, which is usually acquired after five years,137 can only be expelled on serious grounds of public policy or public security. The highest level of protection against expulsion is enjoyed by EU citizens138 who have resided on the territory of the host Member State for more than ten years139 and by minor EU citizens.140 These two groups of EU citizens can only be expelled on imperative grounds of public security. As outlined above, the Court has already reduced the protection against expulsion for EU citizens who are covered by this highest level of protection, by expanding the definition of public security in ­Tsakouridis and P.I. respectively. In the M.G.141 judgment of January 2014, the Court undermined the protection against expulsion even further by having recourse to the concept of integration. M.G. was a Portuguese national resident in the UK who was convicted and sentenced to a 21-months prison term.142 The Secretary of State ordered her to be deported on grounds of public policy and public security. The referring English court asked the ECJ how the ten-year period contained in Article 28(3)(a) of the Citizenship Directive was to be calculated, namely whether the period spent in prison interrupted the period of residence, and whether it makes a difference that the Union citizen accrued ten years of residence prior to their imprisonment.143 When addressing the question of whether the period of imprisonment is capable of interrupting the continuity of residence, the Court pointed out that the protec  Article 16 of the Citizenship Directive.   Note that Article 28(3) of the Citizenship Directive does not apply to third-country family members of Union citizens. 139  Article 28(3)(a) of the Citizenship Directive. 140  Article 28(3)(b) of the Citizenship Directive. 141  Case C-400/12, M.G., EU:C:2014:9. 142  Ibid., para. 13. 143  Ibid., para. 21. 137 138

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tion against expulsion in the Citizenship Directive was “based on the degree of integration of the persons concerned in the host Member State”.144 It held that the “degree of integration (…) is a vital consideration underpinning both the right of permanent residence and the system of protection against expulsion”.145 It is highly problematic to link the protection against expulsion to the individual’s integration in the host Member State. Firstly, taking a textual approach, it stands out that, apart from the Preamble to the Citizenship Directive, the notion of integration is only mentioned in Article 28(1) thereof. Article 28(1) of the Citizenship Directive contains a non-exhaustive list of criteria that have to be taken into consideration before an expulsion decision on grounds of public policy or public security can be taken and “contains a short summary of the Strasbourg case-law”.146 The EU citizen’s integration in the host Member State is one of these considerations and can bar the expulsion of EU citizens,147 but it is not a requirement that must be fulfilled in order to rely on the protection against expulsion. Secondly, the notion of integration is inherently vague and open to interpretation. With regard to Onuekwere, which was addressed above, Nic Shuibhne points out that the judgment is not “about a duty to integrate per se”, but about a duty to integrate properly.148 Similarly Coutts holds that the Court and the Advocate General are concerned with the “rejection and repudiation of the values of society that breaks and undoes or even reveals a complete absence of integration on the part of the individual concerned”.149 Linking the protection against expulsion to the individual’s integration, in particular if it is conceived as a “duty to integrate properly”150 defeats the very purpose of the protection against expulsion. Union citizens who are subject to an expulsion decision because they are considered a threat to public policy or public security due to a criminal conviction, are not usually considered to be ‘properly’ integrated within the host society, especially if integration is understood as compliance “with the values expressed by the society of the host Member State in its criminal law”.151 Thirdly, as is discussed elsewhere,152 Recital 23 of the Preamble to the Citizenship Directive provides that measures taken on grounds of public policy or public   Ibid., para. 30.   Ibid., para. 32. 146  K. Groenendijk (Fn. 114), p. 125. 147  L. Azoulai and S. Coutts, “Restricting Union citizens’ residence rights on ground of public security, Where Union citizenship and the AFSJ meet: P.I.”, 50 CMLRev. (2013), p. 553, 562; C. Murphy, Immigration, Integration and the Law, Routledge, 2016, p. 196. 148  N. Nic Shuibhne (Fn. 2), p. 920. 149  S. Coutts (Fn. 129), pp. 540, 541. 150  N. Nic Shuibhne (Fn. 2), p. 920. 151  Case C-378/12, Onuekwere, EU:C:2014:13, paras. 26, 31. 152  K. Hamenstädt (Fn. 111), p. 83. 144 145

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security “can seriously harm persons who, (…) have become genuinely integrated into the host Member State”. This sentence demonstrates that genuine integration and posing a threat to public policy or public security are not mutually exclusive. An EU citizen who commits a crime in the host Member State and is therefore subject to expulsion can still at the same time be societally integrated. If, however, integration is understood in terms of “proper integration” and a criminal conviction is synonymous with a lack of integration, then a foreigner who is subject to an expulsion decision can never be regarded as integrated. Linking the protection against expulsion not only to the duration of residence, but to the fulfilment of an integration requirement, increases the discretion of the Member State to expel EU citizens and thereby undermines the latter’s protection. II. Concluding Remarks The Court’s case law in these four selected areas can roughly be divided into two categories. The first category comprises the second part of this article, that is the case law on EU citizens’ access to non-contributory cash benefits and the third part, that is the right of residence of third-country family members upon return to the EU citizen’s home Member State. In these two parts, the Court relies on the provisions of the Citizenship Directive, either directly or by analogy, but abstains from an assessment of the facts of the individual case and from conducting a balancing process. In Alimanovic the Court justified its abstention from a proportionality assessment by purportedly strengthening legal certainty. Indeed, the perspicuous and measurable criteria, in particular, of Article 7 of the Citizenship Directive are conducive to legal certainty. A proportionality assessment, by way of contrast, does not aid legal certainty, as the outcome of the balancing process between the conflicting interests cannot be easily predicted. The principle of proportionality, however, is a general principle of Union law and underlies the Citizenship Directive. Several arguments have been advanced as to why the reference to legal certainty is unconvincing in the given case and why a proportionality assessment is necessary. The Court’s recourse to legal certainty and its abstention from a proportionality assessment respectively, has resulted in an increased margin of discretion for the Member States to refuse non-contributory cash benefits to EU citizens and to deny a right of residence to the third-country family members of Union citizens. It has thereby weakened the legal position of Union citizens. The second category of the Court’s case law is characterised by the judgments regarding the acquisition of permanent residence and the protection against expulsion. In contrast to the first category, these judgments do not seem to be guided by strengthening legal certainty. Quite the opposite is visible, as the Court has recourse to the indefinite and open-ended notion of integration. Despite the fact that the Preamble to the Citizenship Directive considers integration of Union citizens in the host Member State as an aim to be achieved by the ‘instrument’ of a

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permanent residence status,153 the Court linked the protection against expulsion and the acquisition of permanent residence to the integration of the EU citizen and effectively turned it into a condition that must be fulfilled. The notion of integration is mentioned in the legally binding text of the Directive only in the context of expulsion,154 not as a requirement, but as a consideration that may form a bar to an expulsion. By having recourse to the notion of integration, both with regard to the protection against expulsion and the right of permanent residence, and by imposing it as a requirement the EU citizen must fulfil, the Court not only undermines legal certainty, but it also weakens the position of EU citizens and increases the discretion of Member States. The Court’s implicit or explicit recourse to the principle of legal certainty in the first category of cases and its recourse to the notion of integration in the second category of cases creates a situation where EU citizenship, or the rights and protections attached thereto, are not fully available for EU citizens who are economically inactive or not sufficiently active or those whom infringe the laws of the host Member State. Either EU citizenship cannot be considered a fundamental status or it can be considered a fundamental status, but only for those EU citizens who have the privilege of having sufficient resources and do not happen to fall foul of the law. This development further heightens the exclusion and marginalisation of those EU citizens who are not covered by the fundamental status or do not have full access to the rights linked thereto, which in turn challenges the attainment of the objectives of European integration. The task of finding a solution to these challenges is something which must be performed not only by the Court, but by other institutions and the European society as a whole. Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag untersucht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu der durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Unionsbürgerschaft. Während der EuGH das Konzept der Unionsbürgerschaft zunächst mit Leben füllte und die Rechte von Unionsbürger*innen kontinuierlich stärkte und ausbaute, lässt sich in den letzten Jahren eine Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH beobachten. Diese Kehrtwende ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags, der insbesondere die Rechtsprechung zum Zugang von Unionsbürger*innen zu beitragsunabhängigen Sozialleistungen, dem Aufenthaltsrecht von drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern von Unionsbürger*innen bei Rückkehr des / der Unionsbürger*in in den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit, dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts und schließlich dem Schutz vor Ausweisungen aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung beleuchtet. Der Rechtssprechungswechsel des EuGH in diesen ausgewählten Bereichen des Unionsbürgerschaftsrechts wird vor 153 154

  See, Recital 18 of the Preamble to the Citizenship Directive.   See, Article 28(1) of the Citizenship Directive.

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dem Hintergrund des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des interpretationsoffenen Begriffs der Integration untersucht. Dabei werden die Auswirkungen des Rückgriff des EuGH auf die jeweiligen Konzepte auf die Rechte von Unionsbürger*innen dargelegt.

Zur Berücksichtigung des Kindeswohls im deutschen Migrationsrecht Holger Hoffmann I. Einleitung Art. 3 der sog. Kinderrechtskonvention1 (im folgenden Text: KRK) lautet: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Die Bundesregierung hat diese Konvention am 26. Januar 1990 unterzeichnet und am 5. April 1992 ratifiziert. Bei Hinterlegung der Ratifikationsurkunde hatte sie jedoch Vorbehaltserklärungen abgegeben. Diese umfassten fünf Punkte und bezogen sich im Wesentlichen auf Fragen der elterlichen Sorge, der gesetzlichen Vertretung Minderjähriger bei der Wahrnehmung ihrer Rechte, Sorge- und Umgangsrecht und die familien- und erbrechtlichen Verhältnisse nichtehelicher Kinder. Unter Ziffer IV hieß es dann im Hinblick auf die Anwendung des Ausländerrechts: „Die Bundesrepublik Deutschland bekräftigt ferner ihre am 23. Februar 1989 in Genf abgegebene Erklärung: nichts an dem Übereinkommen kann dahin ausgelegt werden, dass die widerrechtliche Einreise eines Ausländers in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder dessen widerrechtlicher Aufenthalt dort erlaubt ist; auch kann keine Bestimmung dahin ausgelegt werden, dass sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthaltes zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen.“2 Am 15. Juli 2010 nahm die Bundesregierung nach längerer politischer Debatte und nach Zustimmung des Bundesrates ihre Vorbehaltserklärungen wirksam zurück.3 Seitdem wird diskutiert, welche Rechte die Betroffenen aus der KRK 1  UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, angenommen von der Generalversammlung am 20. 11. 1989, in Kraft seit 2. 9. 1990; dem Abkommen sind mit Ausnahme der USA, Somalias und des Südsudans alle UN-Mitgliedstaaten beigetreten. 2  Auszug aus der Erklärung der Bundesregierung – BGBl. 1992 II, S. 990. 3  Beschluss Bundesrat vom 26. März 2010; Kabinettsbeschluss vom 3. Mai 2010; formale Übergabe des Rücknahmeschreibens an die Vereinten Nationen am 15. Juli 2010.

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ableiten können: Was wurde seitdem legislativ und administrativ in Deutschland unternommen, um den Normen der KRK zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen – dieser Frage widmen sich auch die nachfolgenden Erörterungen. Sie fokussieren den Bereich des Flüchtlingsrechts. Dies zum einen, weil Fragen zum Schutz des Kindeswohls insbesondere bei minderjährigen Flüchtlingen sehr aktuell sind und zum anderen, weil es sich um eine besonders verletzliche Gruppe handelt. Ein wesentliches Element der KRK ist, Kinder als eigenständige Rechtssubjekte mit besonderen Bedürfnissen und Rechten anzuerkennen. Die asyl- und ausländerrechtlichen Bestimmungen sind in Deutschland aber überwiegend ordnungspolitisch ausgerichtet. Sie stehen daher im Ansatz nicht mit den tragenden Prinzipien der KRK im Einklang, der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls, der Nichtdiskriminierung und der Partizipation. Hiervon betroffen sind vor allem Kinder ohne sichere Aufenthaltsperspektive. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in Art. 2 Abs. 1 EU-Qualifikationsrichtlinie als „Minderjährige ohne Begleitung eines gesetzlichen Vertreters“ definiert. Mit der insgesamt steigenden Zahl von Flüchtlingen stieg ab Mitte 2015 auch die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge registrierte 2015 insgesamt 22.255 neue Asylanträge dieser Gruppe, 2016 waren es 35.939.4 Das motiviert besonders, nach Kindeswohlbelangen dieser Gruppe zu fragen. II. Der rechtliche Rahmen Eigentlich sollte es seit Juli 2010 ganz einfach sein: Die Art. 9 Abs. 1, 3 und 4, 18 Abs. 1, 20 Abs. 1, 21, 37 C, 40 Abs. 2b iii und Art. 40 Abs. 4 KRK beziehen sich auf die Grundaussage des oben zitierten Art. 3 KRK. Dem Kindeswohl kommt damit im Rahmen der Gewährleistung und Auslegung der in der KRK garantierten Rechte wie auch bei der Abwägung kollidierender Rechtsgüter zentrale Bedeutung zu.5 „Kind“ im Sinne der KRK ist jeder Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Für alle behördlichen Verfahren und Entscheidungen ist im Hinblick auf die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 KRK zu beachten, dass der Maßstab „Kindeswohl“ nicht nur bei jedem staatlichen Handeln ein zu berücksichtigender Aspekt neben anderen, sondern als vorrangig zu beachten ist.6   Statistik des BAMF – Unbegleitete Minderjährige – Asylanträge – Stand 4/ 2017.   Cremer, Die UN Kinderrechtskonvention – Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach der Rücknahme der Vorbehalte, zweite überarbeitete Auflage Januar 2012 – abrufbar auf der Website des Instituts für Menschenrechte. 6  Löhr, RdJB 2012,192 (196); Heinhold in: Kauffmann / Riedelsheimer, Flüchtlingskinder in Deutschland, 2010, Seite 60 (65); Cremer, Anwaltsblatt 2012, 327 (328 f); Bender in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. vor § 1 Rn. 23. 4 5

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Diesen Maßstab übernahm auch Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte Charta7: „Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“

Entsprechend dieser rechtlichen Vorgaben ist jede Behörde, die mit Minderjährigen befasst ist, verpflichtet, unter Beteiligung des Minderjährigen zu ermitteln, was im konkreten Fall dem Kindeswohl entspricht und dieses Ermittlungsergebnis in die weitere Güterabwägung mit einzustellen. Im Streitfall ist darüber hinaus zu beweisen, dass eine staatliche Maßnahme nicht gegen das Prinzip des Vorrangs des Kindeswohls verstößt.8 Zu einzelnen Bestimmungen im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht von Minderjährigen in Deutschland ist dazu Folgendes zu erläutern: Art. 4 KRK verpflichtet die Vertragsstaaten zur Verwirklichung der Konven­ tionsrechte. Dazu gehört die Pflicht, die Konvention bekannt zu machen und über ihre Wirkungen aufzuklären. Diese Pflicht besteht auch gegenüber minderjährigen Asylantragstellern und anderen Migranten.9 Art. 7 und 8 KRK statuieren sog. „Identitätsrechte“, z. B. das Recht auf Registrierung unmittelbar nach der Geburt oder auf Erwerb einer Staatsangehörigkeit. Damit im Zusammenhang wird z. B. diskutiert, ob ausländischen Kindern ohne Staatsangehörigkeit eine Einbürgerungsperspektive vorenthalten bleiben darf, ob die Wartefrist für einen Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit mit fünf Jahren für ein staatenlos geborenes Kind zu lang ist oder ob Meldepflichten staatlicher Behörden, die Geburtsurkunden über Neugeborene ohne Aufenthaltsrecht ausstellen, zulässig sind.10 Art. 10 Abs. 1 KRK fordert, dass Anträge auf Familienzusammenführung oder auch die Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet werden; Abs. 2 verbürgt im Hinblick auf den Kontakt zu beiden Elternteilen, dass Kinder ein Recht auf regelmäßigen Kontakt haben. Diese Vorschrift kann daher Maßstab für die Prüfung von Rechtmäßigkeit bei Familiennachzugsregelungen sein (§§ 27 ff, insbes. § 32 f und § 36, § 104 Abs. 13 AufenthaltsG). Die Vorschrift kann bei Einzelfällen im Rahmen der Ermessensausübung und als Beschleunigungsgebot lenkend mit einfließen.11 Art. 12 KRK betrifft die Ausgestaltung innerstaatlicher (Verwaltungs-) Verfahren. Festgelegt wird, dass Minderjährige bei allen sie betreffenden Angelegenhei  Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 30. 03. 2010 – C-83, S. 389 ff.   Bender / Bethke, Asylmagazin 2011, S. 68 f (70). 9  Bender in: Hofmann, Ausländerrecht – Kommentar, 2. Aufl. 2016, Vor § 1 AufenthG, Rn. 24 m. w. N. 10  Bender, wie Fn. 9. 11  Bender, wie Fn. 9; Schmahl, UN-Kinderrechtskonvention, Kommentar, 2. Aufl. 2013, Art. 10, Rn. 4 f. 7 8

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ten angemessen und ihrem Alter und Reifestand entsprechend angehört werden sollen. Abzuleiten ist daraus z. B. die Forderung, unbegleiteten minderjährigen Ausländern besondere Verfahrensgarantien einzuräumen.12 Art. 20 KRK normiert den Anspruch eines / r Minderjährigen, der / die vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird, auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates, in welchem er / sie sich aufhält. Praktische Bedeutung hat das insbesondere für die Art der Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger in Erstaufnahme- oder Gemeinschaftsunterkünften. Diese entsprechen oft nicht den Standards jugendhilferechtlicher Betreuungseinrichtungen.13 Art. 22 KRK fordert, dass ein Kind, das die Flüchtlingsanerkennung beantragt, angemessenen Schutz bei der Wahrnehmung seiner Rechte erhält, die in der KRK oder anderen Übereinkommen festgelegt sind – unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet. Nach seinem Wortlaut gilt Art. 22 KRK auch für Kinder, die von beiden Eltern oder einem Elternteil begleitet werden. Der Ausschuss der UN für die Rechte des Kindes hat diese Norm schon 2005 zum Anlass genommen, in seinen „General Comments“ verfahrensrechtliche Anforderungen für die Ausgestaltung des Asylverfahrens von Minderjährigen zu formulieren.14 Diese Anforderungen werden in Deutschland bisher nur z. T. berücksichtigt. Probleme bestehen z. B. immer noch bei der Betreuung von Minderjährigen durch fachkompetente Personen sowie qualifiziertem Rechtsbeistand (nicht nur durch einen Amtsvormund des Jugendamtes). Ebenfalls problematisch ist, dass Asylverfahren von Kindern und Jugendlichen nicht beschleunigt bearbeitet werden müssen. Art. 24 KRK bestimmt, dass ein Kind das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit und auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit hat. Diese Garantie kontrastiert sehr deutlich zur Regelung in § 4 AsylbLG, nach der für Personen, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, lediglich die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände vorgesehen ist.15 Art. 28 KRK fordert das Recht eines Kindes auf Bildung. Dazu gehört insbesondere der unentgeltliche Besuch einer Grundschule. Dieser Artikel war einer der Anstöße, die früher bestehende Übermittlungspflicht von Schulämtern an Ausländerbehörden zu beseitigen (§ 87 Abs. 2 AufenthG aF). Nach jener Regelung waren Schulämter verpflichtet, Kinder, die sich mit ungesichertem Aufenthalt oder illegal in Deutschland aufhielten, den Ausländerbehörden zu melden. Das Recht auf   Cremer, wie Fn. 5, Schmahl, wie Fn. 11, Art. 12, Rn. 23.   Bender, wie in vier AL 26; Schmahl, wie Fn. 11, Art. 20/21 Rn. 3, 14 und 30 sowie Art. 22, Rn. 8. 14  UN Committee on the Rights of the Child, General Comment Nr. 6/2005 – abrufbar: http://www.refworld.org/docid/42dd174b4.html 15  UN Committee on the Rights of the Child, concluding observations on the third and fourth periodic reports of Germany, 25. 2. 2014 – Rn. 56a. 12 13

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Bildung erfordert aber die Sicherstellung des Schulunterrichts auch und gerade für Kinder ohne legalen Aufenthaltsstatus.16 Inzwischen wurde diese Übermittlungspflicht im Aufenthaltsgesetz gestrichen.17 Die landesrechtlichen Schulgesetze wurden entsprechend geändert. Schulbesuch ist daher auch für minderjährige Ausländer ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland zulässig. Art. 31 KRK thematisiert ein Recht auf Erholung und Freizeit für Minderjährige. Konkret entfaltet dies für Zulässigkeit und Gestaltung der Unterbringung von Kindern in Sammelunterkünften Wirkung. Ebenso von Bedeutung ist es für die Gestaltung von Abschiebungshaft.18 Art. 37 KRK legt Mindeststandards für einen Freiheitsentzug gegenüber Kindern fest. Auch diese Regelung bezieht sich nicht nur auf strafrechtlichen Freiheitsentzug. Sie ist der Maßstab zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Abschiebungshaft gegenüber Minderjährigen und der Ausgestaltung von Haftbedingungen.19 III. Zur Berücksichtigung von Art. 3 KRK in der deutschen Rechtsprechung In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wurde auch nach Rücknahme der Vorbehalte weiterhin in zahlreichen Entscheidungen behauptet, dass sich dadurch „eigentlich nichts geändert habe“. So argumentierte z. B. das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung 2011, in der es um die Ausweisung eines Familienvaters ging, schon bisher sei gem. Art. 8 EMRK und Art. 6 GG das besondere Gewicht familiärer Bindungen und insbesondere das Wohl minderjähriger Kinder zu berücksichtigen gewesen.20 Diese Rechtsprechung setzt die speziellen Kindeswohlnormen der KRK gleich mit dem Inhalt der einschlägigen Artikel von EMRK und GG. Der spezielle Gehalt der aus Art. 3 KRK folgenden Verpflichtung, in die Abwägung vorrangig kinderspezifische Rechte einzubeziehen, wird nicht befolgt.21 Dabei geht die Rechtsprechung im Grundsatz überwiegend davon aus, dass die KRK nach Rücknahme der Vorbehalte in Deutschland im Range eines einfachen   Bender, a.a.O, Rn. 27; Schmahl, wie Fn. 11, Art. 28/29 Rn. 9.   BT-Drs. 17/6497, S. 14. 18  Schmahl, wie Fn. 11, Art. 28, Rn. 9; Bender, a. a. O., Rn 27. a. E. 19  Schmahl, wie Fn. 11, Art. 37, Rn. 9, 10, 18 und 21 zu den Voraussetzungen für Freiheitsentzug (Art. 37 b) und den Bedingungen während des Freiheitsentzuges (Art. 37 c). 20  BVerwG, Beschluss vom 10. 2. 2011 – 1 B 22/10, Rn. 4; dem folgen der bayerische VGH, Beschluss vom 8. 7. 2011 – 10 ZB 10.3028, OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Oktober 2012 – 8 LA 209/11 und der BGH, Beschluss vom 20. 5. 2013 – XII ZB 530/11, NJW 2013, 3095 – zur Kritik siehe auch Bender, a.a.O, Rn. 30. 21  Anders zum Beispiel OVG Bremen, Urteil vom 5. 7. 2011 – 1 A 184/10: Art. 3 KRK sei unmittelbar anzuwenden und als gesonderter Bestandteil eigenständig zu würdigen im Rahmen einer Prüfung von Art. 8 EMRK. 16 17

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Gesetzes gilt.22 Dennoch sind seit 2010 zahlreiche Entscheidungen weiterhin dem Ansatz gefolgt, dass zwar die KRK zugrunde zu legen sei, gelangen dann aber im Ergebnis zu einem Widerspruch zur KRK. So hat z. B. das Bundesverwaltungsgericht § 80 Abs. 1 AufenthG und § 12 Abs. 1 AsylVfG in der bis Oktober 2015 geltenden Fassung ausdrücklich als vereinbar mit dem Kindeswohl erklärt.23 In diesen Normen wurde aber abweichend von den Regelungen des allgemeinen Verfahrensrechts und des Verwaltungsprozessrechts, die auf die Vollendung des 18. Lebensjahres abstellen, bestimmt, dass eine Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die das 16. Lebensjahr vollendet hat, schon fähig sei, Verfahrenshandlungen vorzunehmen und Anträge zu stellen. Zu Recht wird ausgeführt, dass das Gericht damit verkannt habe, dass sich die Anerkennung einer Verfahrensfähigkeit bereits mit 16 Jahren erheblich nachteilig auswirken kann und in unzulässiger Weise den durch Art. 1 KRK einschränkungslos vermittelten Menschenrechtsschutz verkürzt.24 Ebenfalls nicht mit der KRK vereinbar ist die Auffassung, dass minderjährige Kinder grundsätzlich das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Eltern teilen. Das Bundesverwaltungsgericht bescheinigte 2011 allerdings dem Gesetzgeber, sich aufgrund seines weiten Gestaltungsermessens an diesem Grundsatz orientieren zu dürfen.25 Aus völkerrechtlicher Sicht ist aber ein solcher Grundsatz schon wegen der mit ihm verbundenen Pauschalierungen „über den Kopf des Kindes hinweg“ mit dessen Subjektstellung und dem Vorrang seiner Interessen unvereinbar.26 Zwar lässt sich aus Art. 3 KRK kein absoluter Vorrang des Kindeswohls ableiten, der gebieten würde, Belange von Kindern „generell und unter allen Umständen“ höher zu bewerten als alle anderen Belange, die bei einer Entscheidung zu berücksichtigen sind.27 Im Einzelfall können aber andere Interessen einzeln oder gebündelt so gewichtig sein, dass das Kindeswohl zurückstehen muss, obwohl es vorrangig in die Betrachtung einbezogen wurde. Das ändert aber nichts daran, dass grundsätzlich das Vorrangprinzip von der Rechtsprechung zu beachten ist – was jedenfalls in der obergerichtlichen Rechtsprechung leider bisher nicht wirklich festgestellt werden kann.28

22  BVerfG, Urteil vom 18. 07. 2012 – 1 BvR 10/10 u.a.; BVerwG, Urteil vom 13. 06. 2013 – 10 C 13.12 23  BVerwG, Urteil vom 29. 11. 2012 – 10 C 4.12. 24  Benassi, DVBl 2016, 617 ff, 618 – zum 1. 11. 2015 wurde diese Regelung aufgehoben, seitdem setzt Verfahrensfähigkeit auch in diesem Bereich Volljährigkeit voraus; für Minderjährige ist ein gesetzlicher Vormund zu bestellen, um die erforderlichen Verfahrenshandlungen durchzuführen. 25  BVerwG, Urteil vom 11. 1. 2011 – 1 C 22.09; differenzierter dann BVerwG, Beschluss vom 26. 07. 2012 – 10 B 13.12. 26  Benassi, wie Fn. 24, S. 618. 27  BVerwG, Beschluss vom 10. 02. 2011 – 1 B 22.10. 28  Benassi, wie Fn. 24, S. 619.

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IV. Zur Berücksichtigung von Art. 3 KRK bei Verwaltungsentscheidungen, insbesondere im Flüchtlingsrecht Im Fokus der Frage nach Berücksichtigung des „Kindeswohlvorrangs“ gem. Art. 3 KRK bei Verwaltungsentscheidungen stehen derzeit insbesondere Entscheidungen zum Familiennachzug von Eltern und Geschwistern zu in Deutschland anerkannten Flüchtlingen. Dazu ein Beispiel: Eine Familie aus Syrien, Eltern und vier noch minderjährige Söhne, flieht 2015 von dort mit dem Ziel, nach Deutschland zu gelangen. Zunächst endet ihre Flucht jedoch in Athen. Nach einiger Zeit entschließt man sich, den ältesten Sohn auf die „Balkanroute“ zu schicken. Man hat gehört, dass, falls er in Deutschland als Flüchtling anerkannt würde, die Familie nachkommen könne. Der 15jährige gelangt nach Deutschland und wird nach relativ kurzer Zeit 2016 als Flüchtling anerkannt. Daraufhin beantragen er und seine Eltern den Familiennachzug. Ebenfalls relativ kurzfristig folgt die Mitteilung: die Eltern dürfen nachziehen, nicht aber die drei noch in Athen lebenden Geschwister. Daraufhin entschließt sich die Mutter zunächst, zu ihrem in Deutschland lebenden Sohn zu kommen und man versucht weiter – auch mit anwaltlicher Unterstützung –, den „Familiennachzug“ zu organisieren. Die zuständige – bayerische – Ausländerbehörde teilt mit, dies sei nur möglich, wenn die üblichen Voraussetzungen des Aufenthaltsgesetzes vorlägen, also der „Stammberechtigte“, d. h. der junge Mann, der als Flüchtling anerkannt wurde, nachweisen könne, dass er für seine Geschwister den Lebensunterhalt einschließlich des erforderlichen Krankenversicherungsschutzes sichern und eine ausreichend große Wohnung vorweisen könne. Da das naturgemäß nicht möglich ist, entschließt sich die Mutter nach einiger Zeit des Überlegens, gemeinsam mit ihrem Sohn nach Griechenland zurückzukehren. Das weitere Schicksal der Familie bleibt ungewiss. Wie wenig in der deutschen Verwaltungspraxis in diesem Bereich die vorrangige Beachtung des Kindeswohls eine Rolle spielt und wie schwer deutsche Behörden sich damit tun, bei minderjährigen Geflüchteten aus der Perspektive des Kindeswohls Entscheidungen zu treffen, zeigt die gesetzliche Regelung in § 104 Abs. 13 AufenthG, wonach der Nachzug von Eltern und sonstigen Familienangehörigen zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 4 AsylG), denen dieser Schutz nach dem 17. März 2016 gewährt wurde, bis zum 16. 03. 2018 nicht zugelassen wird. Dass aber auch für Minderjährige, denen der „volle“ Flüchtlingsschutz (§ 2 AsylG – Asylberechtigung – oder – häufiger § 3 AsylG – „internationaler Schutz“) gewährt wurde, Familienzusammenführung in Deutschland praktisch so weit wie möglich unterbunden werden soll und die Berücksichtigung des Kindeswohls keine Rolle spielt, zeigt ein extrem kleinteilig-ausführlicher Erlass des Auswärtigen Amtes vom März 2017 an alle deutschen Auslandsvertretungen. Dieser erhellt auch den rechtlichen Hintergrund zum vorstehenden Fallbeispiel, weil er den Famili-

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ennachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen thematisiert. Diese sog. „Leitlinien des Familiennachzuges“ sollen die Einheitlichkeit bei Entscheidungen der Auslandsvertretungen zum Eltern- und Geschwisternachzug gewährleisten.29 Auf dieser Grundlage gilt: Die Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings können gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG nach Deutschland nachziehen, wenn die / der Minderjährige als Flüchtling oder Asylberechtigte/r anerkannt wurde und eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 Alt. 1 AufenthG hat. Wurde dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling dagegen nach dem 17. März 2016 subsidiärer Schutz zuerkannt (§ 25 Abs. 2 Alt. 2 AufenthG), wird der Nachzug der Eltern bis zum 16. März 2018 nicht gewährt. Der Anspruch der Eltern eines anerkannten Flüchtlings (international Schutzberechtigter gem. § 3 AsylG oder Asylberechtigter gem. § 2 AsylG) aus § 36 Abs. 1 AufenthG besteht aber nur, solange der / die in Deutschland bereits lebende Sohn / Tochter minderjährig ist. Die Visumerteilung ist grundsätzlich bis zum letzten Tag der Minderjährigkeit noch möglich. Geschwister des / r in Deutschland als Flüchtling anerkannten Minderjährigen dürfen nur als Folge des Aufenthaltsrechts der Eltern gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG einreisen oder im Rahmen des Kindernachzugs gemäß § 32 AufenthG. Ein Voraufenthalt der Eltern in Deutschland wird für die Anwendung von § 32 AufenthG nicht verlangt, eine gemeinsame Einreise der Eltern und der Kinder ist möglich.30 Dies gilt nicht, wenn der in Deutschland bereits ansässige Schutzberechtigte innerhalb von 90 Tagen nach Visumerteilung für die Eltern volljährig wird. Die Begründung im Erlass: es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Eltern in Deutschland einen dauerhaften Aufenthaltstitel erhalten, der für den Nachzug der Kinder vorausgesetzt wird. Im Visumverfahren der Kinder dürfe insbesondere kein bestimmtes Ergebnis eines möglichen zukünftigen Asylverfahrens der Eltern angenommen werden.31 Die Eltern müssen dann vielmehr nachweisen, dass nach Ankunft in Deutschland ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht (§ 29 Abs. 1 Ziff. 2 AufenthG). Bezüglich dieses Erfordernisses bestehe weder Ermessen noch die Möglichkeit der Annahme eines atypischen Falles. Daneben ist der Nachweis erforderlich, dass die Eltern den Lebensunterhalt für sich und die nachziehenden Kinder sichern können (§ 5 Abs. 1 Ziff. 1 AufenthG). Meistens wird diese Voraussetzung in der beschriebenen Fallkonstellation nicht erfüllt sein (eine Sicherung durch eine Verpflichtung / Bürgschaft Dritter, z. B. Verwandter, die schon länger in Deutschland leben oder anderer, entsprechend finanziell leistungsfähiger Personen ist zulässig).   Auswärtiges Amt – 20. März 2017, Gz: 508-3-543.53/2.   Vgl. Nr. 29. 1. 2.2 VwV-AufenthG, sog. „Vorwirkung des Visums“. 31  Erlass Ziff. B 4 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. 1. 2017 – 3 S 107.16. 29 30

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Ein atypischer Fall, der ausnahmsweise ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung erlaubt, liegt vor, wenn besondere Umstände des Einzelfalles so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen. In Frage kommen Aspekte wie die aktuelle Lebenssituation der Kinder (Unterkunft im Flüchtlingslager, bei Verwandten, im eigenen Wohnort o. ä.), die Betreuungssituation nach Ausreise der Eltern (Zumutbarkeit, dass ein Elternteil vorerst zurückbleibt, Betreuungsmöglichkeiten durch Verwandte oder ältere Geschwister im Ausland) etc. Erforderlich sei eine hinreichende Glaubhaftmachung der individuellen Situation. Bei Antragstellung sei der Sachverhalt von der zuständigen deutschen Auslandsvertretung oder der örtlich zuständigen Ausländerbehörde in Deutschland entsprechend umfassend zu ermitteln. Die für die Einschätzung der Atypik notwendigen Informationen müssten durch entsprechende Befragung der Antragsteller/innen zusammen mit den sich aus den Antragsunterlagen ergebenden Angaben erhoben werden und dann in der Stellungnahme an die Ausländerbehörde entsprechend dargestellt werden. Weiter heißt es im Text des Erlasses: Entsprechende Anträge sollen bei Weiterleitung an die Ausländerbehörden neben der Einschätzung der sonstigen rechtlichen Voraussetzungen mit folgendem Text versehen werden: „Der / Die ASt beantragt(en) zeitgleich mit dem Antrag der Eltern (§ 36 I AufenthG) den Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG. Es wird insbesondere um dortige Prüfung gebeten, ob ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht (§ 29 Abs. 1 Ziff. 2 AufenthG) und der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Ziff. 1 AufenthG). Sollte der Lebensunterhalt nicht gesichert sein, besteht nach Ansicht der Auslandsvertretung ein / kein atypischer Fall: „Es wird darauf hingewiesen, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bei Eintritt der Volljährigkeit der Referenzperson binnen drei Monaten nach Einreise eine Atypik für den Nachzug der Geschwister in der Regel verneint. Grundsätzlich wird daher der Einschätzung der Ausländerbehörden hinsichtlich des Wohnraumerfordernisses und des Lebensunterhaltsnachweises gefolgt werden können. Dies gilt auch für die Einschätzung, ob ein gemäß den von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien atypischer Fall hinsichtlich des Erfordernisses der Lebensunterhaltssicherung gesehen wird“. Kein Wort findet sich in diesem Erlass zur „vorrangigen“ Berücksichtigung des Kindeswohls des / der als Flüchtling anerkannten unbegleiteten Minderjährigen, der / die bereits in Deutschland lebt, als Gesichtspunkt der Abwägung bei der Entscheidung über eine Einreise. Stattdessen erfolgt ausschließliche Orientierung an der Regelvoraussetzungen der § 5 und § 2 AufenthG – sogar ohne Beachtung der Vorgaben der EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung32 und des § 29 Abs. 2 AufenthG, der ein Absehen von den „Regelvoraussetzungen“ ausreichender Wohn32  Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung – ABl. 3. 10. 2003 – L 251, S. 12 ff – Die relevanten Normen lauten:   Artikel 7 (1) Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt:

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raum und ausreichendes Einkommen jedenfalls dann vorsieht, wenn der entsprechende Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt wird. Zur Möglichkeit eines Nachzugs von Geschwistern führt der Erlass aus: In Einzelfällen kann Geschwisternachzug gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG in Betracht kommen. Erforderlich ist hierfür das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte, die aber stets familienbezogen sein muss, d. h. explizit aus der Trennung der Geschwister folgen muss und in jedem Einzelfall zu prüfen ist. Der Umstand, dass zeitgleich ein Elternnachzug beantragt wird, der ggf. zu einer (selbst herbeigeführten) Trennung von den Eltern und einem alleinigen Verbleib des Geschwisterkinds im Ausland führt, begründet zwischen den Geschwistern keine außergewöhnliche Härte. Auch die sich aus dem Leben in einem Kriegs- oder Krisengebiet ergebende Härte stellt regelmäßig keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG dar, da sie nicht familienbezogen ist. Sofern die im Verfahren beteiligte Ausländerbehörde im Einzelfall eine außergewöhnliche Härte bejaht, sollte dieser Auffassung in der Regel gefolgt werden. Grundsätzlich gilt, dass auch bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte die Bereitstellung ausreichenden Wohnraums und die Sicherung des Lebensunterhalts durch die Referenzperson in Deutschland geprüft werden müssen, es liegt nicht automatisch ein atypischer Fall vor.

   a)  Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheitsund Gesundheitsnormen erfüllt;    b)  eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind;    c)  feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreicht. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen.    Artikel 12 (1) Abweichend von Artikel 7 verlangen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Anträge betreffend die in Artikel 4 Absatz 1 genannten Familienangehörigen von einem Flüchtling und / oder einem (den) Familienangehörigen keinen Nachweis, dass der Flüchtling die in Artikel 7 genannten Bedingungen erfüllt.    (2) Abweichend von Artikel 8 können die Mitgliedstaaten nicht von einem Flüchtling verlangen, dass er sich während eines bestimmten Zeitraums in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten hat, bevor seine Familienangehörigen ihm nachreisen.

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V. Kindeswohl in der Abschiebehaft 1. Art. 37 KRK (Verbot der Folter, der Todesstrafe, lebenslanger Freiheitsstrafe, Rechtsbeistandschaft) bestimmt: Die Vertragsstaaten stellen sicher, […] b) dass keinem Kind die Freiheit rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird. Festnahme, Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe darf bei einem Kind im Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden; c) dass jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Personen seines Alters behandelt wird. […] d) dass jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, das Recht auf umgehenden Zugang zu einem rechtskundigen oder anderen geeigneten Beistand und das Recht hat, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen, unabhängigen und unparteiischen Behörde anzufechten, sowie das Recht auf alsbaldige Entscheidung in einem solchen Verfahren.

Prinzipiell ist also auch nach diesen rechtlichen Vorgaben die Inhaftierung von Minderjährigen in Abschiebhaft nicht vollkommen unzulässig. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat aber alle Staaten aufgefordert, umgehend die Inhaftierung von Kindern aufgrund ihres ausländerrechtlichen Status oder des ihrer Eltern zu beenden und Alternativen zur Haft zu entwickeln und anzuwenden.33 2. Das durch Richtlinien geprägte EU-Flüchtlingsrecht bestimmt zur Abschiebehaft gegenüber Minderjährigen in Art. 17 Rückführungsrichtlinie34 : (1) Bei unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Minderjährigen wird Haft nur im äußersten Falle und für die kürzest mögliche angemessene Dauer eingesetzt. (2) Bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien müssen eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet. (3) In Haft genommene Minderjährige müssen die Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und, je nach Dauer ihres Aufenthalts, Zugang zur Bildung erhalten. (4) Unbegleitete Minderjährige müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind.

Die Vorschrift zitiert in Abs. 5 dann ausdrücklich die Vorgabe der KRK: (5) Dem Wohl des Kindes ist im Zusammenhang mit der Abschiebehaft bei Minderjährigen Vorrang einzuräumen. 33  UN Commitee on the rights of the child, Report 2012 – Rights of the Children in the Context of international migration, 2013, Rn. 78 f. 34  Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – ABl. 24. 12. 2008 – L 348/98.

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Die EU-Aufnahmerichtlinie35 befasst sich ebenfalls mit den besonderen Bedürfnissen Minderjähriger in der Haft. Deren Art. 11 Abs. 2 und 3 lauten: (2) Minderjährige dürfen nur im äußersten Falle in Haft genommen werden, und nachdem festgestellt worden ist, dass weniger einschneidende alternative Maßnahmen nicht wirksam angewandt werden können. Eine derartige Haft wird für den kürzestmöglichen Zeitraum angeordnet, und es werden alle Anstrengungen unternommen, um die in Haft befindlichen Minderjährigen aus dieser Haft zu entlassen und in für sie geeigneten Unterkünften unterzubringen. Das Wohl des Minderjährigen nach Maßgabe von Artikel 23 Absatz 2 zu berücksichtigen, ist ein vorrangiges Anliegen der Mitgliedstaaten. In Haft befindliche Minderjährige müssen Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten erhalten. (3) Unbegleitete Minderjährige dürfen nur in Ausnahmefällen in Haft genommen werden. Es werden alle Anstrengungen unternommen, um unbegleitete Minderjährige so schnell wie möglich aus der Haft zu entlassen. Unbegleitete Minderjährige werden in keinem Falle in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht. Unbegleitete Minderjährige werden so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht, die über Personal und Räumlichkeiten verfügen, die ihren altersgemäßen Bedürfnissen Rechnung tragen. Befinden sich unbegleitete Minderjährige in Haft, stellen die Mitliedstaaten sicher, dass sie von Erwachsenen getrennt untergebracht werden.

Der zitierte Artikel der Rückführungsrichtlinie versucht, die einschneidenden Folgen eines solchen Ausnahmefalls zu reduzieren, die eine Inhaftierung für die psychische und physische Gesundheit eines Minderjährigen hat.36 Für alle Minderjährigen – ob unbegleitet oder im Familienverband – müssen in der Einrichtung „Gelegenheiten zu altersgerechten Spielen und zur Erholung gegeben und Zugang zu Bildungsangeboten gewährleistet werden.“37 Minderjährigen muss ermöglicht werden, sich z. B. in frischer Luft zu bewegen und sich auszutoben.38 Ihnen ist der Schulbesuch zu ermöglichen. Die Einrichtung von Hafträumen muss kindgerecht gestaltet sein. Fraglich ist, ob derartige Voraussetzungen in den herkömmlichen Einrichtungen, in denen Abschiebungshaft in Deutschland vollzogen wird, sichergestellt werden. Deswegen ist bei Minderjährigen stets zunächst auf jugendhilferechtliche Einrichtungen als Alternativen zur Abschiebungshaft zurückzugreifen.39 Diese Vorgaben beachtet prinzipiell auch die deutsche Gesetzgebung in §§ 62 und 62a AufenthG: § 62 Abschiebungshaft Die Abschiebungshaft ist unzulässig, wenn der Zweck der Haft durch ein milderes, ebenfalls ausreichendes anderes Mittel erreicht werden kann. Die Inhaftnahme ist auf die 35  Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – ABl. 29. 06. 2013 – L 180, S. 96. 36  Keßler in: Hofmann, Ausländerrecht – Kommentar, 2. Aufl. 2016, § 62a, Rn. 8. 37  Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/5470, S. 46. 38  Keßler, a. a. O., Rn. 8. 39  Keßler, a. a. O., Rn. 8.

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kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist. § 62a Vollzug der Abschiebungshaft (1) Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen. Werden mehrere Angehörige einer Familie inhaftiert, so sind diese getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen. Ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten. (3) Bei minderjährigen Abschiebungsgefangenen sind unter Beachtung der Maßgaben in Artikel 17 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24. 12. 2008, S. 98) alterstypische Belange zu berücksichtigen. Der Situation schutzbedürftiger Personen ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Fazit: Abschiebungshaft gegen Minderjährige zu verhängen, ist völker- (KRK), europa- (RückführungsRL) und bundesrechtlich zulässig, wenn auch wenig sinnvoll und allenfalls als „ultima ratio“ im Ausnahmefall einzusetzen. Empirisch ist zu beachten, dass Abschiebungshaft gegenüber Minderjährigen in Deutschland seit längerer Zeit so gut wie keine Rolle mehr spielt. Von 2005 bis 2007 befanden sich noch 377 Minderjährige in Abschiebungshaft40, 2010 waren es 114,41 2011 nur 6142. 41 Minderjährige waren 2012 (28 davon in Bayern) in Abschiebungshaft, 2013 waren es noch 16, 2014 waren Minderjährige in zwei Fällen von Abschiebungshaft betroffen, 2015 niemand. 43 Dieser Befund belegt, dass in diesem Bereich im Sinne des Kindeswohls gehandelt wird, indem Behörden und Gerichte faktisch auf die Verhängung von Abschiebungshaft verzichten. Ein generelles gesetzliches Verbot von Abschiebungshaft gegenüber Minderjährigen bleibt jedoch wünschenswert.

40  Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der GRÜNEN zur Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten vom 17. 12. 2008. 41  34. Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Umsetzung der Abschiebungsrichtlinie der Europäischen Union und die Praxis der Abschiebungshaft. Antwort der Bundesregierung vom 04. 09. 2012, BT-Drs. 17/7446, S. 97 ff. 42  Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der GRÜNEN zur Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten vom 17. 12. 2008. 43  Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE zur Praxis der Abschiebungshaft und Fragen zum Haftvollzug (BT-Drs. 18/3769).

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VI. Zur Berücksichtigung des Kindeswohls im „Dublin“-Verfahren44 Als Grundregel gilt seit 201345 gem. § 58 Absatz 1a AufenthG, dass eine Abschiebung von Minderjährigen im Rahmen eines „Dublin“-Verfahrens („Rückführung“ in den EU-Mitgliedstaat, über den die Einreise erfolgte) nur zulässig ist, wenn die Behörde sich vorher vergewissert hat, dass dieser im Rückkehrstaat „seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird“. Weil diese Voraussetzungen sich oft kaum erreichen lassen, werden meistens in der Praxis Minderjährige, auch wenn sie keinen Asylantrag stellen, bis zum Erreichen der Volljährigkeit nicht abgeschoben. Sie können deshalb wählen, ob sie ins Asylverfahren gehen oder zunächst nur geduldet in Deutschland leben wollen.46 Rechtlich wird ihr Verbleib auch durch das KSÜ geschützt.47 Wird ein Asylantrag bis zum Tag vor dem 18. Geburtstag gestellt, findet kein Dublin-Verfahren statt und Deutschland bleibt zuständig. Artikel 6 der Dublin VO48, die, wie alle EU-Verordnungen, unmittelbar und ohne weiteren Umsetzungsakt in Deutschland gilt, enthält – angelehnt an die KRK – Garantien für Minderjährige und regelt zugleich zahlreiche Details insbesondere zu Fragen der Familienzusammenführung: (1) Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten. (2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, von einem Vertreter vertreten und / oder unterstützt wird. Der Vertreter verfügt über die entsprechenden Qualifikationen und Fachkenntnisse, um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird. Ein solcher Vertreter hat Zugang zu dem Inhalt der einschlägigen Dokumente in der Akte des Antragstellers einschließlich des speziellen Merkblatts für unbegleitete Minderjährige. Dieser Absatz lässt die entsprechenden Bestimmungen in Artikel 25 der Richtlinie 2013/32/EU unberührt. 44  Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antragsauf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) – ABl. 29. 06. 2013 – L 180 S. 31 ff. 45  3. Richtlinienumsetzungsgesetz, BGBl. I 2013, S. 3484 ff. 46  BVerwG, Urteil vom 13. 6. 2014 – 10 C 13.12. 47 Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19. 10. 1996, kurz: Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern (KSÜ). Die Bundesrepublik hat das KSÜ am 17. September 2010 ratifiziert. 48  Fn. 44 – gebräuchlicher Kurztitel: „Dublin III“.

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(3) Bei der Würdigung des Wohls des Kindes arbeiten die Mitgliedstaaten eng zusammen und tragen dabei insbesondere folgenden Faktoren gebührend Rechnung: a) Möglichkeiten der Familienzusammenführung; b) dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrundes; c) Sicherheitserwägungen, insbesondere wenn es sich bei dem Minderjährigen um ein Opfer des Menschenhandels handeln könnte; d) den Ansichten des Minderjährigen entsprechend seinem Alter und seiner Reife. (4) Zum Zweck der Durchführung des Artikels 8 unternimmt der Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, so bald wie möglich geeignete Schritte, um die Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandte des unbegleiteten Minderjährigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu ermitteln, wobei er das Wohl des Kindes schützt. Zu diesem Zweck kann der Mitgliedstaat internationale oder andere einschlägige Organisationen um Hilfe ersuchen und den Zugang des Minderjährigen zu den Suchdiensten dieser Organisationen erleichtern. Das Personal der zuständigen Behörden im Sinne von Artikel 35, die unbegleitete Minderjährige betreffende Anträge bearbeiten, hat eine geeignete Schulung über die besonderen Bedürfnisse Minderjähriger erhalten und wird weiterhin geschult.

Artikel 8 – Minderjährige (1) Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig aufhält, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. (2) Ist der Antragsteller ein unbegleiteter Minderjähriger, der einen Verwandten hat, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, und wurde anhand einer Einzelfallprüfung festgestellt, dass der Verwandte für den Antragsteller sorgen kann, so führt dieser Mitgliedstaat den Minderjährigen und seine Verwandten zusammen und ist der zuständige Mitgliedstaat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. (3) Halten sich Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte im Sinne der Absätze 1 und 2 in mehr als einem Mitgliedstaat auf, wird der zuständige Mitgliedstaat danach bestimmt, was dem Wohl des unbegleiteten Minderjährigen dient. (4) Bei Abwesenheit eines Familienangehörigen eines seiner Geschwister oder eines Verwandten im Sinne der Absätze 1 und 2, ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient.

Im Hinblick darauf, dass die Regelungen der Dublin III VO in Deutschland praktisch für Minderjährige keine Wirksamkeit entfalten, scheint der Bereich etwas überreguliert. Nicht außer Betracht bleiben darf dabei aber, dass die VO gleiche Standards und Verfahren für alle EU-Mitgliedstaaten festlegt. Und nicht übersehen werden sollte, das jedenfalls mit Erreichen der Volljährigkeit auch das Dublin-Verfahren angewandt werden darf, so dass es zur nur zeitlich verzögerten Rücküberstellung kommen kann.

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VII. Gesamtergebnis: Ergänzungsbedarf im Hinblick auf die Rechtssituation in Deutschland, insbesondere beim Recht auf Familienzusammenführung Unübersehbar ist, dass seit der Rücknahme der Vorbehalte seitens der Bundesregierung 2010 einige positiv zu bewertende Umsetzungsmaßnahmen erfolgt sind. So sieht z. B. § 42 Abs. 1 Ziff. 3 SGB VIII vor, dass ein unbegleiteter Minderjähriger unverzüglich in Obhut genommen wird. Ebenso ist die Bestellung eines Vormundes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vorgesehen. Es mangelt nicht an rechtlichen Regeln, die die Beachtung des Kindeswohls einfordern, oder – wie z. Zt. im Bereich Abschiebehaft – sogar zu Überregulierung mangels aktuellen Bedarfs führen. Jedoch zeigt sich ebenso deutlich, dass die Vorgaben der KRK weder in der Rechtsprechung, noch in der Verwaltungspraxis, hier z. Zt. insbesondere bei der Familienzusammenführung, bisher ausreichend beachtet werden. Es besteht also weiterhin erheblicher Reform bzw. Änderungsbedarf. Dies gilt insbesondere für folgende Bereiche: –– für aufenthalts- und asylrechtliche Angelegenheiten sollte in der Regel ein / e fachkundige / r bzw. im Asyl- und Aufenthaltsrecht kundige / r Ergänzungspfleger / in oder Mitvormund/-münderin bestellt werden. –– Minderjährige dürfen nicht in Aufnahmeeinrichtungen/ Gemeinschaftsunterkünften für Erwachsene untergebracht werden. Dem speziellen jugendhilferechtlichen Bedarf ist Rechnung zu tragen. –– Minderjährige sind vom „Flughafenverfahren“ (§ 18a AsylVfG) auszunehmen. –– Minderjährige sind von der Zurückweisung an der Grenze auszunehmen. –– Die bisherige Praxis der Altersfeststellung bei Minderjährigen, die Asyl beantragen wollen, insbesondere die medizinische Prüfung, ist abzuschaffen. –– Minderjährige, die im Leistungsbezug des AsylbLG stehen, müssen die gleichen medizinischen Leistungen erhalten wie deutsche Minderjährige.49 –– Die rechtlichen Voraussetzungen der Familienzusammenführung sind dringend i. S. d. Art. 3 und 10 KRK zu ändern, d. h. auch für Geschwister anerkannter Flüchtlinge und für subsidiär Schutzberechtigte ist Familienzusammenführung gesetzlich zu ermöglichen. –– Die (obergerichtliche) Rechtsprechung muss anerkennen, dass der Vorrang des Kindeswohls gem. Art. 3 KRK unmittelbar bindende Wirkung entfaltet und nicht nur ein Abwägungsgesichtspunkt neben anderen ist.

49  Zur Zusammenstellung der Forderungen siehe auch: Bender, a. a. O., Rn. 29; Löhr, RdJB 2012, 191.

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Speziell zur aktuellen Problematik der Familienzusammenführung argumentiert eine Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte vom Dezember 201650: „Das Recht, als Familie zusammenleben zu können, ist grund- und menschenrechtlich verbrieft. Dieses Recht kann zwar eingeschränkt werden. Der Gesetzgeber hat im Rahmen des so genannten Asylpakets II im Februar 2016 beschlossen, dass der Familiennachzug für Menschen, die etwa aus Syrien nach Deutschland geflohen sind und nach Abschluss des Asylverfahrens einen subsidiären Schutzstatus erhalten, für zwei Jahre pauschal ausgesetzt werden soll. Praktisch führt die Anwendung dieser Regelung dazu, dass Kinder 3 Jahre oder länger von ihren Eltern getrennt werden. Die Exekutive, auch die deutschen Auslandsvertretungen, sind allerdings weiterhin an ihre grund- und menschenrechtlichen Normen gebunden“.

Wie oben dargelegt, findet dieser Gedanke in der Verwaltungspraxis bislang keine Berücksichtigung – wie der oben unter IV. zitierte Erlass vom März 2017 eindrucksvoll belegt. Die Aussetzung des Familiennachzugs ist nicht mit der KRK vereinbar. Die davon betroffenen Kinder sind gezwungen, über Jahre ohne einen Elternteil zu leben, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bleiben von beiden Elternteilen getrennt. Aus den Verpflichtungen der KRK ergibt sich, dass Anträge auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, die Kinder betreffen, jederzeit zu ermöglichen, beschleunigt zu bearbeiten und auch positiv zu entscheiden sind.51 Art. 10 Abs. 1 KRK als Festlegung einer grenzüberschreitenden Familienzusammenführung konkretisiert die staatlichen Verpflichtungen zur Realisierung des Rechts des Kindes auf Familienleben. Die Vertragsstaaten sind nach Art. 10 Abs. 1 KRK nicht nur dazu verpflichtet, Anträge auf Familienzusammenführungen zu ermöglichen sowie „wohlwollend“ und damit unvoreingenommen und nach objektiver Sachlage zu entscheiden. Sie sind auch explizit dazu verpflichtet, die Anträge „beschleunigt“ zu bearbeiten. Die gesetzlich vorgesehene Aussetzung der Familienzusammenführung läuft einer beschleunigten Bearbeitung indes diametral entgegen; sie verstößt damit gegen Art. 10 Abs. 1 KRK.52 Hinsichtlich der Frage, wie die Anträge jeweils in materiell-rechtlicher Hinsicht zu entscheiden sind, ist Art. 3 Abs. 1 KRK von zentraler Bedeutung. Die Vertragsstaaten der Konvention sind demnach dazu verpflichtet, Anträge auf Familiennachzug so zu entscheiden, dass das Kindeswohl dabei als ein vorrangiger Gesichtspunkt Berücksichtigung findet (Art. 3 Abs. 1 KRK). Das Kindeswohl ist demzufolge nicht nur zu ermitteln und in den Entscheidungsvorgang einzustellen. Bei der Gewichtung unterschiedlicher Belange verlangt Art. 3 Abs. 1 KRK zudem 50  Deutsches Institut für Menschenrechte (DIM), Stellungnahme: Das Recht auf Familie – Familieneinheit von Kindern und Eltern ermöglichen – auch für subsidiär Geschützte – 16. Dezember 2016. 51  DIM, Fn. 50, S. 10. 52  DIM – wie vor.

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eine Hervorhebung der Bedeutung des Kindeswohls. Der Vorrang des Kindeswohls ist zwar nicht absolut, was sich bereits aus dem Wortlaut der Norm ergibt. Das Kindeswohl hat demnach aber im Regelfall Vorrang.53 Art. 6 GG und Art. 8 EMRK entsprechend, schützt die KRK damit die spezifisch psychologische und soziale Funktion familiärer Bindungen, wobei sich der grund- und menschenrechtlich garantierte Schutz des Familienlebens grundsätzlich auf die Beziehungen beider Elternteile zu ihren minderjährigen Kindern erstreckt. Dementsprechend haben die Kinder ein Recht auf regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen, was in Art. 9 Abs. 3 und 10 Abs. 2 KRK sowie in Art. 24 Abs. 3 EU-Grundrechte-Charta ausdrücklich kodifiziert ist.54 Art. 10 Abs. 1 KRK bezweckt, die Familieneinheit zu gewährleisten, so dass er auch für alle Kinder der Familie gilt, die von einem anderen Staat aus einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen. Mit der KRK ist es daher nicht vereinbar, zwar den Eltern die Einreise zu ihrem unbegleiteten minderjährigen Kind zu gestatten, nicht aber den minderjährigen Geschwistern, so dass diese alleine, ohne ihre Eltern, zurück bleiben müssten.55 Dieser Bewertung des DIM ist nichts hinzuzufügen. Summary Article 3 para 1 of the Convention on the Rights of the Child reads: „In all actions concerning children, whether undertaken by public or private social welfare institutions, courts of law, administrative authorities or legislative bodies, the best interests of the child shall be a primary consideration“. Germany ratified the Convention in 1992, but made some reservations concerning the rights of children with foreign nationality. In 2010, these reservations were annulled. The essay now asks whether German jurisdiction and administration, as a consequence of this political decision, consider this change in their own decisions since 2010. The essay first describes the relevance of several articles of the Convention for the German Aliens Act. Then, it focuses on Refugee Law and the attitude of recent German jurisdiction towards the requirements of the Convention. After that, it presents and discusses the actual attitude of the Foreign Office towards family reunification for recognized unaccompanied minor refugees. This issue actually is very important in the German legal practice, as about 50,000 unaccompanied minors entered Germany as refugees since 2015. Subsequently, custody for minors awaiting deportation and some issues of „Dublin III-returns“ are discussed.   DIM – wie vor , S. 11.   DIM – wie vor, S.11. 55  DIM – wie vor, S. 13. 53 54

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Finally, the requirements of further legal changes are proposed to strengthen the awareness of the Convention’s importance in legal practice, especially concerning the question of the best interests of the child in practical questions of daily life for foreign minors in Germany.

The Dworkinian Principle of Legislative Integrity Applied to the Student Migration Regime in the EU: Pass or Fail? Alexander Hoogenboom* I. Introduction The EU is struggling. The (aftermath of the) financial crisis continues to plague the Eurozone and also in the longer term the economic prospects of the EU paint a sombre picture. A major element in the expected sluggish growth of the EU is the ageing population, which exercises a downward pressure on the productivity of the European Union and reveals relatively large skills gaps and shortages across its economy.1 The overarching policy designed to address these issues was adopted in March 2010: the EU 2020 Strategy of smart, sustainable and inclusive growth.2 The ‘smart’ pillar of this strategy emphasises the need to develop an ‘economy based on knowledge and innovation’ in which the knowledge triangle linking business, education and research features prominently.3 The education aspect of this strategy is further developed in the strategic framework for European cooperation in education and training (‘ET 2020’) which underlines the importance of high quality, accessible education and training systems with a view to deliver high levels of knowledge-based growth.4 In the first objective to achieve this goal, the promotion of mobility of students features prominently: learning mobility should be the rule rather than the exception.5 This mobility also has a distinct external dimension: the European Union needs to attract more students coming non-EU / EEA Member States (so-called ‘third-country nationals’ or TCN).6 *  Scientific Coordinator, Institute for Transnational and Euregional Cooperation and Mobility, and researcher, Faculty of Law, Maastricht University. 1  See OECD Economy Surveys 2012: European Union, (OECD Publishing, 2012), p. 11 – 14 and CEDEFOP Briefing Note, Europe’s skill challenge (2012), available at: http://www.cede fop.europa.eu/EN/Files/9068_en.pdf 2  COM(2010) 2020 final, Europe 2020: A strategy for smart, sustainable and inclusive growth. 3  Ibid, p. 10. See in this regard also Council conclusions of 20 December 2011 on the modernisation of higher education, OJ [2011] C 372/36. 4  Council conclusions of 12 May 2009 on a strategic framework for European cooperation in education and training (‘ET 2020’), OJ [2009] C 119/2, under ‘emphasises that’, para. 2. 5  Ibid, Strategic Objective I. 6  Ibid, under ‘agrees that’, para. 2.

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The major instrument designed to promote student migration to the EU was introduced in 2004: Directive 2004/114 on the conditions of admission of third-country nationals for the purposes of studies, pupil exchange, unremunerated training or voluntary service.7 This legislative instrument sought to harmonise the conditions under which third-country nationals are admitted to a Member State of the EU for the purpose of study with a view to ‘promote Europe as a whole as a world centre of excellence for studies and vocational training.’8 At first sight, this effort seemed successful: studies indicated that some half a million residency permits for study purposes were issued in the EU 27 combined with Norway in 2011, a growth of some 114 % compared with the situation in 2000.9 However, about half of these residency permits were issued in the United Kingdom to whom, like Ireland and Denmark, the Directive does not apply.10 The continued advantage of the UK as a destination country over the other Member States in this regard is striking, especially in the light of its high tuition fees and the fact that more and more courses on the European continent are also taught in English.11 The distinguishing factor may perhaps lie in its (previously) generous student visa scheme, the importance of which in terms of influencing student choice was revealed with the relatively recent tightening (especially as regards the post-study work period) thereof: in a survey among overseas students more than half indicated that they felt unwelcome as a result of the visa changes.12 This had a direct result on the attraction of the UK as a country of destination, with the new rules having caused a drop of some 46 % in student visa’s issued.13 The Commission has also highlighted the crucial role that immigration rules play in determining the attractiveness of study destinations.14 7  Council Directive 2004/114 of 13 December 2004 on the conditions of admission of third-country nationals for the purposes of studies, pupil exchange, unremunerated training or voluntary service OJ [2004] L 375/12. For the purposes of this paper, the term ‘student’ is a person enrolled in higher education (university level) rather than vocational training. 8  Recital 7 Directive 2004/114. 9  European Migration Network, Immigration of International Students to the EU, (European Commission, 2012), p. 11. 10  See http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Residence_permits_statis tics last visited 26.09.2017. See also: L. Scarnicchia, Population and social conditions: Residence permits issued to non-EU citizens in 2009 for family reunification, employment and education, Eurostat: Statistics in focus 43/2011, p. 2. 11 See also OECD, Education at a Glance 2013: OECD Indicators, (OECD Publishing, 2013), p.  308 – 311. 12 See L. Sherriff, Overseas Students Feel ‘Unwelcome’ and ‘Isolated’ by Government’s Migration Policy, Huffington Post UK of 24 June 2013, available at http://www.huffingtonpost. co.uk/2013/06/24/overseas-students-unwelcome-government-policy_n_3489117.html last visited 26.09.2017. 13  BBC, Sharp decline in foreign student numbers, 23 May 2013. 14  SWD(2013) 77 final, Commission Staff Working Document: Impact Assessment accompanying the Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of research, studies,

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In the light of these insights, the Commission sought to reform the applicable EU migration rules. It proposed to ‘recast’ inter alia Directive 2004/114 with a view to make the EU a more attractive study destination,15 emphasising the need to promote the mobility of students as a means to attract highly skilled labour to the European Union.16 The purpose of this paper is fundamentally to see if the legislation which was finally adopted after much institutional wrangling17 in the form of Directive 2016/801 on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of research, studies, training, voluntary service, pupil exchange schemes or educational projects and au pairing18 is ‘fit for purpose’: does it offer a coherent legal framework19 for student migration to the EU capable of pursuing its stated aim(s)? The fundamental contention of this paper is that it does not. Drawing upon Dworkin’s notion of integrity it will be argued that the Directive is a prime example of ‘checkerboard legislation’: Compromises between competing principles and conceptions of the role of the TCN student in the EU have led to a policy instrument that satisfies none of the invoked justifications for policy intervention fully. In particular, it will be submitted that the professed reorientation of the Directive towards functioning as a channel for highly skilled migration is not borne out in the final text. To that end, the paper is divided into three parts. First, it will shortly elaborate on Dworkin’s legal theory as regards the notion of ‘integrity in legislating’. Secondly, it seeks to reconstruct the perception of the third-country national ‘student’ as it exists as a subject of EU immigration law and policy. In particular, it will be argued that the TCN student seeking to enrol in EU higher education has three main (interrelated) roles attributed to him or her: Production factor, desirable migrant and advertisement vehicle. Thirdly, with these paradigms as a point of departure, the new Recast Directive 2016/801 where it concerns the position of the third-country national student in the European Union will be analysed. Where appropriate, the policy as it flows from the Directive will also be compared with the legislation in other jurisdictions. pupil exchange, remunerated and unremunerated training, voluntary service and au pairing; Recasting and amending Directives 2004/114/EC and 2005/71/EC, of 25 March 2013, p. 13 ff. See further: D. Papademetriou and M. Sumption, Attracting and Selecting from the Global Talent Pool – Policy challenges, (Migration Policy Institute, 2013), p. 7. 15  COM(2013) 151 final, Proposal for a Directive of the European and of the Council on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of research, studies, pupil exchange, remunerated and unremunerated training, voluntary service and au pairing, of 25 March 2013. 16  Ibid, p. 2. 17  See for the legislative history 2013/0081(COD): http://www.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2013/0081(COD)&l=en last visited 26.09.2017. 18  OJ [2016] L 132/21. 19  As indicated by recital 2 Directive 2016/801.

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II. Dworkin: The Value of Integrity in Law In his famous book, Law’s Empire, Dworkin distinguishes between ‘integrity in legislating’ and ‘integrity in adjudication’. For the purpose of this paper, the focus lies on the former, the essence of which is to ensure that legislation is coherent.20 Integrity is lacking where the state ‘must endorse principles to justify part of what it has done that it must reject to justify the rest’;21 it is thus acting in an incoherent or arbitrary manner. As a value, integrity militates against ‘checkerboard’ solutions or forms of compromise whereby the principle or value is relied upon to justify legislative intervention in some situations, but is not applied to similarly situated other situations. The following examples invoked by Dworkin are illustrative in this regard: ‘Do the people of Alabama disagree about the morality of racial discrimination? Why should their legislation not forbid racial discrimination on buses but permit it in restaurants? Do the British divide on the morality of abortion? Why should Parliament not make abortion criminal for pregnant women who were born in even years but not for those born in odd ones?’22

The principle of integrity thus does not identify which principles are to be followed in a particular political community, but rather provides that legislative action presupposes and endorses a general scheme of principles which must be pursued with coherence.23 At the very least, therefore, coherence requires two aspects:24 1. The narrow conception: legislation must not be internally contradictory (logical inconsistence). This is at stake when pursuit of one principle or aim in the legislative act necessarily leads to violation of another principle. 2. The broad conception: elements of a legislative act should be interlinked and mutually supportive measured against the overall aim. Keeping those two elements in mind, we will now take a closer look at the various concepts of ‘the TCN student’, and the consequences this entails.

  R. Dworkin, Law’s Empire, (Belknap Press of Harvard University Press, 1986), p. 176.   Ibid, p. 184. 22  Ibid, p. 178. 23  Ibid, p. 211. 24  A. Marmor, Law in the Age of Pluralism, (Oxford University Press, 2007), pp. 40 – 42. 20 21

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III. Student Migration to the European Union: the Underlying Rationale It is worthwhile taking a more in-depth look into the rationale for attracting third-country nationals students to the European Union as these policy narratives25 employed tell us something about the way the ‘foreign student’, as a concept, is constructed within the European Union. This, in turn, shapes the legislation in definitive ways. As matters stand, three main narratives or paradigms can be traced in the current EU approach to student migration. –– Production factor: the student as future highly skilled migrant, contributing to the Member State and EU economy (stay-oriented). –– Desirable migrant: student as temporary, low-impact and contributing migrant – easily disposed of not desired, easily selected if the Member State desires him / her to stay (flexibility in stay or return). –– Advertisement vehicle: the student as a means to project EU values into the world and / or to promote international relations between the EU and the sending countries including in the context of development policy (return-oriented). The first such narrative was already alluded to above, and is clearly present in recent documents pertaining to third-country national student mobility, as well as the recitals of the new Directive.26 The Commission puts it quite succinctly: ‘In the context of the Europe 2020 Strategy and the need to ensure smart, sustainable and inclusive growth, human capital represents one of Europe’s key assets. Immigration from outside the EU is one source of highly skilled people, and third-country national students and researchers in particular are groups which are increasingly sought.’27

This is the view of the student as (future) production factor. Their attractiveness is twofold. In part, such students, depending on the organisation of the higher education, contribute to the financing of the higher education system and / or the profitability of the higher education sector (such as e.g. in the UK or in Member States that charge cost-based tuition fees to TCN students), as well as generate substantial revenues for local economies.28 Moreover, the economic value of part-time employ25  Claims regarding the causes of policy issues and the need for intervention as well as the appropriate method of intervention and the expected outcome thereof: C. Boswell et al., ‘The Role of Narratives in Migration Policy-Making: A Research Framework,’ 13(1) The British Journal of Politics and International Relations (2011) 1, p. 1. 26  Recital 3 Directive 2016/801. 27  COM(2013) 151 final, Proposal for a Directive of the European and of the Council on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of research, studies, pupil exchange, remunerated and unremunerated training, voluntary service and au pairing, of 25 March 2013, p. 2. 28  European Migration Network, Immigration of International Students to the EU, (Euro­ pean Commission, 2012), p. 47, available at: http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/ networks/european_migration_network/reports/docs/emn-studies/immigration-students/0_im

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ment, internships and / or research at the higher academic level should also not be discounted.29 However, the main attraction is their future potential: today’s student is tomorrow’s highly skilled labour.30 A number of studies have confirmed that study abroad is indeed an important channel and predictor for subsequent highly skilled migration31 showing that choice of study place is thus often part of a longer term migration strategy. This conversion, in addition, has some advantages even over regular highly skilled migration: having obtained training in the higher education system of the host State ensures that, on the supply side, the student has skills and experience relevant or corresponding to domestic human capital requirements, while on the demand side, employers more easily recognise and are better able to assess the educational attainment of the TCN student (as opposed to qualifications held by a highly skilled migrant trained abroad).32 The benefits of such highly skilled labour entering the EU in this manner should thus not be underestimated: a recent study carried out in the Netherlands quantified the benefits for public purse of the TCN students-turned-worker to some € 88 million a year (based on a TCN student population of just over 20.000, with a 20 % ‘staying’ chance).33 In that context it is furthermore important to underline that it is not just the host country that benefits. A review conducted by Docquier and Rapoport suggests that the home country also gains from student mobility: Business and academic networks, remittances, return of students after a period abroad and induced higher skill attainment in the ‘sending country’ seem to more than offset any negative effects in the form of a ‘brain drain’ in this regard.34 Overall, student migration_of_international_students_to_the_eu_sr_24april2013_final_en.pdf last visited 26.09. 2017. 29  K. Tremblay, ‘Academic Mobility and Immigration’, 9 Journal of Studies of International Education (2005) 196, p. 201 – 204. 30  See also COM(2013) 151 final, p. 3: ‘third-country national students and researchers can contribute to a pool of well-qualified potential workers and human capital that the EU needs to cope with the above-mentioned challenges.’ 31  G. Felbermayr and I. Reczkowski, ‘International Student Mobility and High-Skilled Migration: The Evidence’, in: M. Gérard and S. Uebelmesser (eds.), The Mobility of Students and the Highly Skilled, (MIT Press, 2014), p. 31 – 45, M. Kahanec and R. Králiková, Pulls of international student mobility, IZA Discussion Paper No. 6233 (2011), pp. 2 – 4, U. Teichler, ‘International Dimensions of Higher Education and Graduate Employment’, in: J. Allen and R. van der Velden, Reflex: The Flexible Professional in the Knowledge Society, (Research Centre for Education and the Labour Market, 2007), p. 203 and K. Tremblay, ‘Academic Mobility and Immigration’, 9 Journal of Studies of International Education (2005) 196, pp. 204 – 205. 32  L. Hawthorne, The Growing Global Demand for Students as Skilled Migrants, Migration Policy Institute, 2008, pp. 5 – 9. 33  Calculated from p. 32 of CPB Notitie of 18 April 2012, The economische effecten van internationalisering in het hoger onderwijs, Report for the Ministry for Education, Culture and Science, available at: http://www.rijksoverheid.nl/bestanden/documenten-en-publicaties/ rapporten/2012/05/16/de-economische-effecten-van-internationalisering-in-het-hoger-onder wijs/de-economische-effecten-van-internationalisering-in-het-hoger-onderwijs.pdf last visited 26.09.2017.

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mobility thus seems to be a win-win situation, and especially valuable to the EU both in the short-to-medium term (as a counter to the current sluggish growth) and in the longer term (to address the effects of population ageing and skill shortages). A second narrative centres on the advantageous migration profile of the foreign student (the student as desirable migrant). Foremost, the TCN student is constructed as a ‘flexible’ migrant:35 after the studies are completed he or she either converts into a highly skilled worker (under national or EU policies which allow the Member States full control36) or leaves to return to the state of origin. The migrant thus either becomes a productive member of society or can be sent packing relatively easily. Moreover, a student (in case he or she remains in the host State) is (usually) young and relatively likely to start a family, which could help reinvigorate an ageing EU population.37 With the decline in birth rate across the EU Member States and the imminent reaching of pensionable age of the baby boomers such issues may weigh heavily on the mind of the policy maker.38 In addition, as a highly educated and relatively adaptive migrant, the student is a good candidate for learning the host State’s language and to successfully integrate into its society.39 The burden of hosting the student is furthermore relatively light: in the EU TCN students are usually subject to a higher tuition fee than domestic students (who often benefit from state subsidised fees)40 and are required to show that they have sufficient resources, as well as medical insurance, for their maintenance during their study.41 Overall, this migration profile coupled with the higher ideals of promoting exchange of knowledge, mutual enrichment and cultural diversity within educational settings42 makes student migration relatively uncontroversial. 34  F. Docquier and H. Rapoport, Globalization, Brain Drain and Development, IZA Discussion Paper No. 5590 (2011). See also: L. Katseli et al., Effects of migration on sending countries: what do we know?, OECD Development Centre Working Paper No. 250 (2008), p.  27 – 44, A. Haupt et al., A Note on Brain Gain and Brain Drain: Permanent Migration and Educational Policy, CESifo Working Paper No. 3154, F. Docquier and E. Lodigiani, ‘Skilled Migration and Business Networks’, 21(4) Open Economies Review (2010) 565, p. 566 – 568, 586 – 587 and World Bank Global Economic Prospects: Economic Implications of Remittances and Migration, (World Bank, 2006), in particular pp. xii – xiv. 35  See recital 7 of Directive 2004/114. 36  Such as Council Directive 2009/50/EC of 25 May 2009 on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of highly qualified employment, OJ [2009] L 155/17. See in particular Article 6. 37 See L. Hawthorne, The Growing Global Demand for Students as Skilled Migrants, (Migration Policy Institute, 2008), p. 4 – 5 for the demographic point. 38  See for an overview of the policy implications: D. Sobczak, Population ageing in Europe: Facts, implications and policies, (European Union, 2014). 39  M. Kahanec and R. Králiková, ‘Higher Education Policy and Migration: the Role of International Student Mobility’, CESifo DICE Report 4/2011, p. 20. 40  See OECD, Education at a Glance 2014: OECD Indicators, (OECD Publishing, 2014), p. 260 ff. See for a basic overview http://www.studyineurope.eu/tuition-fees last visited 26.09. 2017. 41  See Articles 6 and 7 of Directive 2004/114.

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The third narrative focusses on students as an ‘advertisement vehicle’: the student as temporary migrant.43 One of the returning aims in this regard is the desire to promote the European Union as a whole as a ‘world centre of excellence for studies’.44 Indeed, international student mobility eggs on internationalisation processes of higher education and engenders competition among higher education institutes for the best and brightest,45 which in turn should attract more mobile students in the future and allow greater participation of these students in courses offered at European institutions. The importance of ensuring such participation was underlined by the Commission in a somewhat Enlightenment-esque manner: the necessity of opening up EU (higher) education to the world lies in the importance of sharing knowledge and disseminating (‘European’) values of (respect for) human rights, democracy and the rule of law.46 As such, the attraction of foreign students is both an issue of prestige and (perceived as) a way for the EU and the Member States to exercise ‘soft power’ in the world. A second strand of this narrative is that student exchange has also been touted as particularly valuable in the sphere of international relations and in the context of development policy. As regards the former, student exchange is highlighted as a means to develop contacts and understanding between sending and receiving countries.47 As regards the latter, the Council has emphasised the need to ensure that the countries of origin benefit from the skills and knowledge obtained by students in a Member State of the EU,48 as such it seems that it is hoped that such training could be put to good use towards achieving development goals of developing countries. These roles, as identified, do not necessarily exist harmoniously next to each other if interpreted ‘strictly’.49 The ‘advertisement vehicle’ approach suggests that 42  See for the potential beneficial effects thereof: P. Gurin et al., ‘Diversity and Higher Education: Theory and Impact on Educational Outcomes’, 72(3) Harvard Educational Review (2002) 330, p. 358 ff. 43  See recital 7 of Directive 2004/114. 44  See recital 6 of Directive 2004/114. 45  P. Altbach and U. Teichler, ‘Internationalization and Exchanges in a Globalized University’, 5(1) Journal of Studies in International Education (2001) 5. 46  COM(2002) 548 final, Proposal for a Council Directive on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of studies, vocational training or voluntary service, p. 3. 47  See Council Resolution of 30 November 1994 on the admission of third-country nationals to the territory of the Member States for study purposes, OJ [1996] L 274/10, para. 2 and Recital 7 of Directive 2004/114. 48  Council Resolution of 30 November 1994 on the admission of third-country nationals to the territory of the Member States for study purposes, OJ [1996] L 274/10, para. 3. 49  It is recognised that, of course, the three objectives need not necessarily conflict. Indeed, to address skill shortages not all (types of) students need to convert to workers, and significant relationships with countries of origin may also be possible even if all students do not return. However, the point that this paper seeks to make is that pursuit of all three objectives without identifying a ‘main thrust’ leads to confused and lacklustre policies incapable of satisfying any of the aims.

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the main thrust of a policy oriented towards international students is one of temporariness: the student should ideally return to the state of origin in order for the state benefits to materialise. This suggests that the student, as a category of migrants, should not as a principle be able to settle: no (facilitation of) conversion to other more permanent migration statuses, no family reunification, no build-up of rights. The production factor paradigm, on the other hand, suggests a degree of medium to long-term residence: a policy oriented towards a ‘package deal’ of an attractive study destination, a protected migration status with a canopy of attached rights and, crucially, post-study work opportunities and fluid conversion to other migration statuses. This suggests the need for an EU level, rights-based policy. First, a strong signalling effect capable of attracting students is only sent if all Member States align as a bloc, otherwise the EU risks losing out in the global war for talent against more cohesive competitors that do not suffer from 2550 different policies. The added value of an EU instrument setting out basic admission conditions and a set of basic rights for TCN students lies primarily in its presence and ability to reach TCN students contemplating to study abroad: one transparent scheme, covering one large ‘study area’ and backed by an organisation with an increasingly stronger presence in international affairs is more likely to attract the attention of TCN than the mosaic of 25 different Member State approaches. Secondly, a lack of guaranteed rights, e.g. as regards admission, family reunification and / or studyto-work transition rights is capable of having a strong impact on destination attractiveness.51 As such, any instrument seeking to promote the EU as an attractive study destination should provide the TCN student a secure status which may be invoked against the host Member State and protects him or her against (arbitrary) regime changes: the UK’s tightening of student visa’s in the context of the ‘crackdown on immigration’ was a case in point. Finally, the ‘desirable migrant’ approach suggests, if anything, the need for policy flexibility in the area of international student mobility: discretion on the part of the Member States (e.g. as regards admission, continued rights of residence) so as to be able to design their particular policies with a view to fulfil certain domestic demands. This approach was already quite visible52 in the process of adoption of 50  For our purposes here, the United Kingdom, Ireland and Denmark will be excluded from analysis, as the UK has opted to leave the EU and the other two countries are unlikely to participate in any new policy developments due to their consistent opting out. 51  See eg. SWD(2013) 77 final, Commission Staff Working Document: Impact Assessment accompanying the Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of research, studies, pupil exchange, remunerated and unremunerated training, voluntary service and au pairing; Recasting and amending Directives 2004/114/EC and 2005/71/EC, of 25 March 2013, p. 13ff, D. Papademetriou and M. Sumption, Attracting and Selecting from the Global Talent Pool – Policy challenges, (Migration Policy Institute, 2013), p. 7, B. Sykes and E. Ni Chaoimh, Mobile talent? The Staying Intentions of International Students in Five EU Countries, (SVR, 2012), p. 45 – 47, 49 available at: http://www.migpolgroup.com/public/docs/Study_Mobile_ Talent_Engl.pdf last visited 26.09.2017.

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the ‘Blue Card Directive’ which directly targets highly skilled workers.53 It forms a recognition of the fact that the higher education landscape, demography and the economic make-up of the Member States are structurally diverse, and accompanying policies oriented towards a host of possibly different goals. In the light of such diversity, this approach suggests that any common rules leave sufficient room for Member States to optimally benefit from the ‘student’ based on their particular situation. Having now set out the context, and three approaches, the proposal for the recast will now be examined with a view to seeing to what extent these approaches are reflected therein and what consequences this has for overall policy aims. In addition, case law of the Court of Justice is relied upon to clarify the scope of certain provisions where applicable. IV. A Closer Look at Directive 2016/801 The main aim of the recast is to harmonise the conditions of entry and entry and residence of third-country nationals for the purposes of research, studies, pupil exchange, remunerated and unremunerated training or, voluntary service and au pairing. As stated before, the focus here will be on the provisions that pertain specifically to students. For the purpose of the Directive, a student is defined as a third-country national accepted by a higher education establishment and admitted to the territory of a Member State for the purposes of pursuing (as the main activity) a full time course of study leading to a higher education qualification recognised by that Member State.54 The term student is thus limited to an individual enrolled in tertiary education; where it concerns secondary education the provisions relating to ‘school pupils’ apply. The Directive furthermore only applies to applications for admission for a period of more than 90 days.55 1. Entry and Residence The application for admission under the Directive is either submitted by the student him or herself, by the host entity (here: the higher education institute),56 or either of them.57 In either case, the application is made subject to the fulfilment of 52  S. Angenendt and R. Parkes, The Blue Card Impasse: Three Options for EU Policy on Highly Qualified Immigrants, SWP Comments 14 (2010), pp. 2 – 3. 53  Council Directive 2009/50/EC on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of highly qualified employment, OJ [2009] L 155/17. 54  Article 3(3) Directive 2016/801. A ‘higher education qualification’ is defined broadly and includes diplomas, certificates and, importantly, doctoral degrees. 55  Article 1(a) Directive 2016/801. 56  See for a definition Article 3(14) Directive 2016/801. 57  Article 7(5) Directive 2016/801.

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a set of general (applying to all categories covered by the Directive) and specific requirements (tailored to the specific category to be admitted, here the ‘student’), which are listed in Articles 7 and 11 respectively in Directive 2016/801.58 Article 5(3) Directive 2016/801 provides, in line with the judgment of the Court of Justice in Ben Alaya,59 that once these conditions are satisfied the applicant shall be entitled to an ‘authorisation’, which is defined as a long-stay visa and / or residence permit.60 Article 6 Directive 2016/801 confirms this, by excluding students from the right of Member States to determine to volumes of admission of TCN. Article 7 provides that students must be in possession of a valid travel document as determined by national legislation (usually a passport),61 comprehensive medical insurance covering all risks normally covered for the host Member State’s own nationals62 and, where the student is a minor, parental authorisation for the duration of the studies.63 In addition, he or she must provide evidence that he or she will have sufficient resources to cover subsistence, training and return travel costs – subject to individual examination of each case.64 Finally, he or she must moreover not be regarded as a threat to public policy, public security or public health.65 Unlike in Directive 2004/114,66 none of the recitals provide for a definition of these concepts. However, the Court in Fahimian took a relatively restrictive view, suggesting that the concepts are less broad than those used in the context of the free movement of Union citizens. Indeed, whereas the authorities are to ‘perform an overall assessment of all the elements of that person’s situation’, it is sufficient for them to find that he or she is a potential67 threat to public policy, security or health; furthermore the authorities have wide discretion in this assessment and national courts can only intervene in case of manifest error.68

  Article 5(1) Directive 2016/801.   Case C-491/13, Mohamed Ali Ben Alaya v Bundesrepublik Deutschland, ECLI:EU:C:2014: 2187, para. 22 – 35. 60  See Article 3(21) Directive 2016/801. 61  And, if required, a (valid) visa: Article 7(1)(a) Directive 2016/801. 62  See however Article 11(2) Directive 2016/801 which provides that if host Member State nationals under the national system automatically qualify for comprehensive sickness insurance by reason of being enrolled in a higher education establishment then such insurance shall be extended to TCN students and be considered to fulfil the requirements of Article 7(1)(c). 63  Article 7(a-c) Directive 2016/801. A Member State can optionally also require proof of payment of the processing fee that Member States can choose to apply to applications made in accordance with the Directive: Article 7(d) Directive 2016/801. 64  Article 7(e) Directive 2016/801. 65  Article 7(6) of Directive 2016/801. 66  Recital 14 of Directive 2004/114 suggested that applicants could be refused if they had been convicted of a serious crime or otherwise had ‘extremist aspirations’. 67  See recital 36 of Directive 2016/801. 68  Case C-544/15, Sahar Fahimian v Bundesrepublik Deutschland, ECLI:EU:C:2017:255, paras. 43 – 46. 58 59

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The specific requirements laid down in Article 11 provide that students must have been accepted for a course of study at a (accredited69) higher education establishment.70 Optionally, a Member State may also require proof of payment of the fees charged by the establishment offering the course of study and oblige the student to submit proof that he or she has sufficient knowledge of the language of instruction.71 In addition, Article 11(1)(d) also somewhat confusingly reiterates that a Member State can request evidence that the student possesses sufficient ­resources to cover study costs. It is not clear why this assessment could not be made part of the general conditions (‘sufficient resources for the purpose of stay’). Where the conditions set out in these two articles are fulfilled, the student shall be issued a residency permit valid for at least one year72 which is renewable insofar these conditions continue to be satisfied.73 Member States can, however, set the condition that total residence shall not exceed the maximum duration of studies as defined in national law.74 An application must be refused where the conditions are not satisfied, in case of fraud or where the host entity (the higher education institute) was not an approved entity (where the Member State requires applications to be submitted by an approved entity). In addition, Member States can refuse applications for various defects of the host entity (e.g. when legal obligations have not been complied with) or where it suspects that the migration route is being abused by the host entity (e.g. by operating mainly to facilitate immigration rather than as an education institute) or the student.75 Largely the same grounds apply where the Member States contemplates withdrawing or not renewing the residence permits. In addition, however, such action may also be taken where the student does not make acceptable study progress or does not respect the limits imposed by Article 24 as regards the pursuit of economic activities ancillary to the studies.76

  Article 3(13) Directive 2016/801.   Article 11(1)(a) Directive 2016/801. 71  Article 11(1)(b-c) Directive 2016/801. 72  In case the course of study is shorter than one year, the residency permit shall be valid for the duration of the course. Where the student is admitted for the purpose of following an EU or multilateral programme, the duration of the permit shall be at least two years (or shorter, depending on the length of the programme). 73  Article 18(2) Directive 2016/801. 74  Article 18(3) Directive 2016/801. 75  Article 20(2) Directive 2016/801. 76  Article 21(2)(f) Directive 2016/801. 69 70

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2. Entry and Residence: Procedural In procedural terms, after an application for admission has been made, a decision as to whether to grant a long-stay visa and / or residence permit in accordance with the provisions of the Directive shall be adopted as soon as possible and any case within 90 days.77 The applicant shall be notified of the outcome of the procedure.78 In case the application is rejected or an authorisation withdrawn, the applicant must be able to challenge the decision in a legal procedure.79 Member States can optionally set fees to cover the processing costs of the applications, but these may not be disproportionate or excessive.80 In that latter context, in Commission v the Netherlands81 the Court had to rule on the issue of excessive fees for visas and permits levied on long-term resident TCN in the context of Directive 2003/109.82 It found that the discretion of Member States to set such fees must be exercised with due regard to EU law, and in particular may not undermine the object and purpose of Directive 2003/109 (which concerns the integration of long term resident TCN). In the context of Directive 2016/801, this would lead one to the conclusion that Member States cannot set processing fees at such a high level as to constitute a negation of right to be admitted for study purposes or at such a level as to constitute an impediment to the overarching goal of promoting student mobility.83 3. Rights not Directly Related to Entry and Residence The first additional right was not yet present in Directive 2004/114: Article 22 provides that students have a (limited) right of equal treatment as specified in Article 12 of Directive 2011/98/EU.84 This includes inter alia a right to equal treatment as regards working conditions, education and vocational training, social security and tax benefits. However, this should not be taken to be an extensive guarantee: Member States can limit in particular the rights which relate to education in accordance with Article 12(2)(a) Directive 2011/98/EU. A second important right specified concerns the right to pursue an economic activity as a worker for at least fifteen hours a week in the Member State in which 77  Article 34(1) Directive 2016/801; the maximum time limit is 30 days in the case where the student is covered by a Union programme. This only applies to a complete application, see Article 34(3) Directive 2016/801. 78  Article 34(1) Directive 2016/801. 79  Article 34(5) Directive 2016/801. 80  Article 36 Directive 2016/801. 81  Case C-508/10, ECLI:EU:C:2012:243. 82  Council Directive 2003/109/EC concerning the status of third-country nationals who are long-term residents, OJ [2004] L 16/44. 83  See recital 14 of Directive 2016/801. 84  See Article 22(3) Directive 2016/801.

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he has been admitted for the purposes of study.85 Additionally, a Member State can also allow the student to engage in self-employed activity. However, neither possibility is without its limitations. In particular, Article 24(3) allows the host Member State to take into account ‚the situation in the labour market‘ which suggests a certain freedom on the part of the Member State to condition labour market access (in certain sectors) by third-country national students in times of unemployment. Nonetheless, under the old Directive 2004/114, the Court of Justice strictly circumscribed this freedom in the case of Sommer. It held that in the light of the system of the Directive following which Member States had a blanket right to limit access to the labour market initially and could, beyond that first year, limit the scope of economic activity to 10 hours of employment per week, the possibility to take into account the labour market situation to deny access must be limitedly interpreted: restrictions may only be imposed in exceptional circumstances and must comply with the principle of proportionality.86 In the new recast Directive, the possibility to limit access in the first of years of studies has been removed and the cap on working hours increased. It is nonetheless submitted here that the Sommer ruling (market access limitation only in exceptional circumstances and the application of the principle of proportionality) should continue to apply despite this: in the end the impact on the labour market of a part-time working student cannot be considered such extensive as to raise concerns, unless indeed exceptional circumstances are present in the host Member State. Moreover, in the context of an objective-and-purpose oriented interpretation of the Directive (a point of departure also adopted by the Court in both Sommer87 and Ben Alaya88), it must be stressed that the right to work constitutes an important means by which the TCN student is capable of supporting him or herself, without access to which plans to study in the EU could be seriously hampered. A third innovation is introduced in Article 25 in the form of a post-study work opportunity:89 upon completion of studies, third-country nationals shall be entitled to stay for a period of at least nine months with a view to look for a job or to start a business,90 insofar they continue to fulfil the ‘general conditions’ set out in Article 85  Article 24(1) Directive 2016/801. Insofar a work permit is necessary for third-country nationals to be allowed access to the labour market, the Directive provides that these shall be granted: see Article 24 (2) Directive 2016/801. 86  Case C-15/11, Leopold Sommer v Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien, ECLI:EU:C:2012:371, paras. 40 – 44. 87  Case C-15/11, Sommer, ECLI:EU:C:2012:371, para. 39. 88  Case C-491/13, Ben Alaya, ECLI:EU:C:2014:2187, paras. 22, 28 ff. 89  See also COM(2011) 587 final, Report from the Commission to the European Parliament and the Council on the application of Directive 2004/114/EC on the conditions of admission of third-country nationals for the purposes of studies, pupil exchange, unremunerated training or voluntary service, p. 11. 90  Article 25(1) Directive 2016/801.

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7 of the Directive and they submit the appropriate evidence (e.g. diploma).91 Monitoring provisions apply, however: after three months, these third-country nationals must show that they continue to seek employment and / or in the process of setting up a business.92 Member States may set a certain minimum educational attainment as a condition for this post-study work opportunity, which may not be higher than a master’s diploma,93 as well as require that the employment or business engaged in corresponds to the level of studies completed.94 Finally, Article 27 of the Directive also provides for a limited right of mobility. Once a student has been admitted, he or she can carry out part of his studies in a second Member State. For those students covered by a Union programme or multilateral programme that comprises mobility measures, or by an agreement between two or more higher education institutes (hereafter: interinstitutional agreement), a period of study in a second Member State is possible for up to 360 days. Where, however, a student is not covered by such programmes, he or she must submit an application on the basis of Article 7 and 11 of the Directive (in essence a fully new application). However, even for those students covered by a programme or an interinstitutional agreement, the right is relatively cumbersome: no fewer than 9 additional paragraphs append additional qualifications and procedures to the mobility right. First, the second Member State may require to be notified in case of intended mobility (either at the outset, or when the intended mobility to the second Member State is known).95 This notification must further include the valid travel document (e.g. a passport) and residence permit or long-stay visa provided in the first Member State96 and may include evidence of acceptance into the programme and evidence of comprehensive sickness insurance and sufficient resources.97 The second Member State can furthermore object to the mobility in case these conditions are not complied with, the period of 360 days has run out, or for the reasons set out in Article 20 of the Directive. V. Tracing the Paradigms Despite the professed aim of setting a coherent legal framework, the various elements of the Directive coalesce around the different conceptions of the student in apparent contradiction. Fundamentally, no choice was made as to the role of   Article 25(3) Directive 2016/801.   Article 25(7) Directive 2016/801. 93  Article 25(2) Directive 2016/801. 94  Article 25(7) Directive 2016/801. 95  Article 27(2) Directive 2016/801. 96  Article 27(5) Directive 2016/801. 97  Article 27(6) Directive 2016/801. 91 92

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the TCN student, so the legislative act at issue has opted to include ‘a little bit of everything’.98 In particular, the professed policy reorientation towards channelling students into the skill-needing EU economy seems not to have been borne out in the final product. 1. The Student as ‘Advertisement Vehicle’ Versus ‘Production Factor’: A One Sided Battle? In keeping with the ‘advertisement vehicle’ paradigm, no perspective towards medium to long-term stay of the student is offered: residence, and the continued renewal of the residence permit, is solely ancillary to the study (that is to say: the requirement of enrolment in a higher education institute coupled with the requirement of sufficient study progress). Indeed, any attempt on the part of the student to convert to a different residence status within the host Member State is a prima facie ground for withdrawal of the residence permit.99 This enforced temporariness is furthermore underlined by the absence of any provisions in the recast for (re-) unification with family members, such as a spouse or children, in the host Member State – this in contrast, for example, to the position of the ‘researcher’.100 This too generates a strong incentive for the student to return ‘home’ after completion of the period of study. The legislative context of the Directive confirms this finding. Indeed, Directive 2009/50 explicitly provides that there is no automatic connection between having studied in the host Member State and access to the ‘Blue Card’ as a highly skilled person under the conditions of that Directive.101 There are thus no more favourable provisions for ‘homegrown talent’: The emphasis lies instead on the discretion of the Member States to determine volumes of admission.102 Similarly, despite being within the same legislative instrument, there is no explicit link in the recast between the ‘student’ category and the ‘researcher’ position (in terms of facilitated admission or conversion) despite a certain overlap such as in the case of doctoral students / researchers.103 Nor is an explicit link made with Directive 2003/109104 concerning the status of third-country nationals who are long-term residents. This Directive provides, under certain conditions, a right to long-term residents to applicants who, inter alia,   See also recital 3, 7, 13 and 14 Directive 2016/801.   Article 21(1)(d) Directive 2016/801. 100  Article 26 Directive 2016/801. 101  Council Directive 2009/50/EC on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of highly qualified employment, OJ [2009] L 155/17. 102  Recital 8 Directive 2009/50. 103  See also recital 12 Directive 2016/801. 104  Council Directive 2003/109/EC concerning the status of third-country nationals who are long-term residents, OJ [2004] L 16/44. 98 99

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have lawfully resided in a Member State for a continuous period of five years.105 However, in Article 3(2)(a) persons who reside in order to pursue studies or vocational training are explicitly excluded from applying for long-term residence. In addition, even should a third-country national manage to convert his or her purpose for residence to one that falls within the scope of Directive 2003/109, only half of the periods of (otherwise lawful) residence completed while having had the status of student may be taken into account for the purpose of calculating whether the five year period has been fulfilled.106 Member States, moreover, cannot offer long-term residence on more favourable terms than those specified in the Directive.107 Finally, the conditions set out in Directive 2003/86108 on the right to family reunification are such that students are, at least as a matter of Union law, highly unlikely to be able to fulfil them: after all, there is little to no perspective under EU law that the student has ‘reasonable prospects of obtaining the right of permanent residence’109 – indeed some Member States define stay for study purposes as ‘temporary’ no matter the actual length of stay.110 There are two main points in keeping with the ‘production factor’ paradigm. The recast introduces, for the first time, a guaranteed period of maximum nine months in order to look for a job and / or to set up a business. However, what the Directive gives with one hand, it takes with the other: after three months, reporting obligations become more stringent in that the student-turned-jobseeker must show that he or she has a genuine chance of being engaged or of launching a business. Moreover, Member States may limit the post-work period to master students only, and require that the student in question be engaged in an activity commensurate with his level of education. This does not make the EU competitive in the ‘study destination market’, thereby undermining the pursuit of a rights-oriented policy seeking to channel students into the EU economy. First, in terms of length of time, strong competitors for students offer better terms: Australia, for example, is more generous, offering between two and four years of residence post-study.111 Secondly, whereas the Directive provides for the possibility for such students to look for work after their studies, it says nothing about authorisation procedures that may be applicable to potential employers. For example, in the Netherlands an employer must pass inter alia a so-called ‘labour market test’ and show that the vacancy in question cannot be fulfilled by Dutch   Article 4(1) Directive 2003/109.   Article 4(2), second paragraph Directive 2003/109. 107  Case C-469/13, Shamim Tahir v Ministero dell’Interno, Questura di Verona, ECLI:EU:C: 2014:2094. 108  Council Directive 2003/86 on the right to family reunification, OJ [2003] L 251/12. 109  Article 3(1) Directive 2003/86. 110  See e.g. the Netherlands: Article 3.5(2)(f) Vreemdelingenbesluit 2000, Stb. 2000, 497. 111  Two years for bachelor/master degrees, three years for a masters by research degree and four years in case of a doctoral degree: see http://www.border.gov.au/Trav/Stud/Post last visited 26.09.2017. 105 106

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national, a Union citizen or other preferred categories before being eligible to hire a third-country national.112 In practice, therefore, despite having authorisation to work on the supply side (the student-turned-worker), there may be insufficient demand due to stringent requirements applying to potential employers. Depending, thus, on the precise set up of the Member State in question, simply allowing a student to look for employment does not actually guarantee labour market access. Overall, therefore, the overall scheme is clearly ‘return-oriented’, while simultaneously professing to be an instrument addressing the EU skill deficit – a policy that should be more ‘stay’ oriented. 2. The Student as ‘Production Factor’ or ‘Desirable Migrant’: Choosing a Rights-Based Policy or Discretion on the Part of the Member States? When examining the rights that students are attributed under Directive 2016/801 (as opposed to the elements absent), one sees a conflict between the ‘desirable migrant’ paradigm and the ‘production factor’ paradigm. a) Admission and Visa Procedures Looking first at visa and immigration issues, the basic structure of the Directive set out above is clear and relatively simple: in essence the student only needs to possess a valid travel document, have been accepted to a course of study in a higher education institute and provide guarantees not to be a burden on the host Member State by fulfilling minimum resource requirements and by being in possession of medical insurance. Moreover, the Directive essentially codifies the ruling in Ben Alaya: students have a right to be admitted once the conditions are fulfilled.113 Nonetheless, this right of entry and residence is limited to the student him or herself. As seen above, family reunification rights for the student are not provided under EU law. This is not only a confirmation of the student as a sort of longstay tourist (thus the temporariness of his or her position), but also impacts on the (perceived) attractiveness of the EU as a study destination: Intuitively one can well imagine that the longer the planned study period (and subsequent work experience) abroad, the less likely that students with families will choose the EU as a study destination if their family members are unable to join them. Indeed, family reasons and / or inability to affect family reunification has been shown as one of the major reasons for wanting to leave the EU after the completion of studies in a study covering five EU Member States.114 At the same time, where families are   Article 8(1)(a) Wet Arbeid Vreemdelingen, Stb. 1995, 405.   Case C-491/13, Ben Alaya, ECLI:EU:C:2014:2187, paras. 29 – 30. 114  B. Sykes and E. Ni Chaoimh, Mobile talent? The Staying Intentions of International Students in Five EU Countries, (SVR, 2012), pp. 51 – 52. 112 113

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involved, courts concerned with fundamental rights tend to intervene to constrain the policy-making freedom of Member States115 – which in keeping with under the ‘desirable migrant’ paradigm, is to be avoided. In terms of procedural guarantees the Directive also goes both ways. On the one hand, the case law of the Court of Justice and the provisions of the Directive militates against ‘excessive and disproportionate’ processing fees. On the other hand, no explicit limits are set, and with proportionality being a case-specific test, it may be difficult to asses when the line is crossed. The issue of processing times is another important element. These are non-trivial in nature as there is evidence that the speed of the application process is relevant for the choice of study destinations, especially if the academic years abroad are construed differently (e.g. a student visa and / or residence permit may not arrive in time in order for a student to commence a course of study in a particular country).116 Students may thus very well decide (or be obliged) to forego a study destination because of such procedural delays. Processing times under Directive 2004/114 ranged widely among the Member State of the EU: from 7 working days in Spain to 4 months in France, with many Member States taking more than a month to process an application.117 The new deadline of a maximum of 90 days (30 days in case of a ‘streamlined’ application in the context of a Union programme) is singularly unimpressive in that light. b) Financing Secondly, as regards addressing the financial costs faced by the TCN seeking to study abroad, the Directive provides limited opportunities. Equal treatment for students is available in principle, but excluded for most education related benefits – despite financiability of the study period abroad being one of the major points of concern for students.118 There are in particular no rights of access to scholarships or study grant systems in the host State, nor are such grants available at EU level (other than in the context of Erasmus Mundus programmes). As seen the Directive does provide for the possibility of (self)employment during the studies, and has raised the guaranteed number of hours that a student should be allowed to work to 15 hours per week (up from 10 in Directive 2004/114), as well as limited the freedom of Member States to constrain that right. Whereas an appar115  S. Castles, H. de Haas and M. Miller, The Age of Migration: International Population Movements in the Modern World, (Palgrave Macmillan, 2014), p. 313. 116  M. Knight, Strategic Review of the Student Visa Program 2011 (Australian Government, 2011), pp.  35 – 36. 117  COM(2011) 587 final, Report from the Commission to the European Parliament and the Council on the application of Directive 2004/114/EC on the conditions of admission of third-country nationals for the purposes of studies, pupil exchange, unremunerated training or voluntary service, p. 19. 118  OECD, Education at a Glance 2014: OECD Indicators, (OECD Publishing, 2014), p. 345 – 349, ESU, Bologna with Student Eyes 2012, (ESU, 2012), pp. 31 – 35.

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ent victory of the ‘student as production factor’ paradigm, one should keep in mind that the EU competes for attractiveness with the rest of the world. Australia, for example, is both more generous in maximum working hours per week (20 hours) and more flexible in the take up (40 hours per fortnight allows for ‘one week on, one week off’ employment), and provides for unlimited work hours during holidays.119 In that light, and in light of the fact that the Commission had originally proposed 20 hours per week, we can trace the impact of the required flexibility under the ‘desirable migrant’ paradigm even here. c) Tapping the Potential of the Third-Country National Student A final point is the right of mobility as provided for in the Recast Directive. This is a relatively unique selling point of the EU in comparison with other major study destinations: the diversity of the Member States and their academic traditions could be attractive for students seeking a package deal (e.g. study, language, cultural experience): a point in favour of the ‘student as production factor’. However, the conditions attached to this mobility are at best cumbersome: there is no mutual recognition of ‘student-status’ where the student does not participate in a particular pre-existing programme. In such cases, when moving to a second Member State, the student must in essence undergo a full re-examination of the conditions for admission, showing sufficient resources and the like. Even when the study is part of a mobility programme the list of conditions to be complied with is extensive. Again, a truly common status and associated mobility rights are foregone in favour of allowing Member States greater control over intra-EU movement of students. Conclusion Directive 2016/801, as a policy instrument, can best be likened to a pendulum which swings back and forth between three different points, never settling on any of them. The Directive contains elements of each of the three student paradigms identified, and professes to pursue them all simultaneously despite the principles upon which they are founded are at least in part inconsistent (stay-oriented versus return-oriented) and in any case far from mutually reinforce each other. As such, it runs counter to the principle of integrity as developed by Ronald Dworkin. One could of course argue that in order to address skill shortages not all (types of) students need to convert to workers, and significant relationships with countries of origin may also be possible even if all students do not return. However, this argument ultimately fails to convince as the Directive does not provide for a coherent approach that makes such selection (who should stay and who should go) less than arbitrary. Students with the potential and desire to contribute to the EU economy may be put off altogether from applying to an EU higher education institute for a   See condition 8105 as specified in Schedule 8 to the Migration Regulations 1994.

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The Dworkinian Principle of Legislative Integrity

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course of study due the lack of guaranteed rights (such as e.g. family reunification). Or sent back after the search period expires because the particular Member State may not have need of his or her skills despite the fact that a neighbouring country does: The Directive does not provide for a right to look for work beyond the Member State of study. Similarly, Member States are prohibited from conferring a right to long-term residence under conditions more favourable than set out under Directive 2003/109 – meaning that students cannot be tempted to stay in this manner either. At the same time, nothing in the Directive prevents Member States from adopting, unilaterally, policies to tempt students to stay; despite that that particular student (if we are to take the ‘advertisement vehicle’ paradigm seriously) should perhaps rather return back home. Whereas the Commission, and indeed the recitals of the Directive itself, made much of the objective to use the recast of Directive 2004/114 as a means to attract highly skilled workers, this is not borne out by the final product. For coherent, and effective, policy making the European Union will have to be clearer in what it seeks to achieve with its student migration regime. Choices must be made between the competing paradigms if a coherent policy in keeping with the underlying principles and objectives of these paradigms is to be the result. Zusammenfassung Das Ziel dieses Beitrags ist es, zu prüfen, ob die Direktive 2016/801 über die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen von Personen aus Drittstaaten zum Zweck der Forschung, des Studiums, des Trainings, eines freiwilligen Dienstes, von Schüleraustauschprogrammen oder Erziehungsprojekten oder eines Au-pair-Aufenthaltes zur Erreichung dieser Zwecke überhaupt geeignet ist: Stellt sie ein kohärentes rechtliches Regelwerk für die Migration von Studierenden in die EU zur Verfügung, das in der Lage ist, seine festgelegten Ziele zu erreichen? Die zentrale Behauptung dieses Beitrages besteht darin, diese Frage zu verneinen. In Anlehnung an Dworkins Begriff der Integrität soll gezeigt werden, dass die Direktive ein ausgezeichnetes Beispiel für eine „Schachbrett-Gesetzgebung“ („checkerboard legislation“) darstellt: Kompromisse zwischen sich widersprechenden Prinzipien und Konzeptionen der Rolle von TCN-Studierenden in der EU haben zu einem politischen Instrument geführt, das keine der eigentlich geforderten Rechtfertigungen für eine politische Intervention erfüllt. Insbesondere soll dargelegt werden, dass die angebliche Re-Orientierung der Direktive, als ein Weg für die Migration Hochbegabter zu funktionieren, in der Endversion des Textes keine Unterstützung findet.

Migrationssteuerung durch Recht? Die Abschreckung von armen Zuwanderern am Beispiel von Asylsuchenden aus sicheren Herkunftsstaaten Constanze Janda „Give me your tired, your poor, Your huddled masses yearning to breathe free …“ (Gedicht von Emma Lazarus, Inschrift auf der Freiheitsstatue)

Dass Menschen ihre Heimat verlassen, um in anderen Staaten Schutz zu suchen, ist nicht ungewöhnlich – auch wenn das Ausmaß der derzeitigen Wanderungsbewegungen als historisch einzigartig wahrgenommen wird. Migrantinnen prägen vielmehr seit jeher die Bevölkerung der (National)Staaten und machen diese zu Einwanderungsländern.1 Die Motive für Wanderungsentscheidungen waren und sind vielfältig. Sie beschränken sich keineswegs auf Flucht vor Krieg und Verfolgung, sondern schließen familiäre Gründe oder die Suche nach Arbeit – oder allgemeiner formuliert: nach einem „besseren Leben“ – ein. Gleichwohl erfahren jene, die aus wirtschaftlichen Gründen zuwandern, Ablehnung, die sich auch im Aufenthaltsrecht niederschlägt. Der Gesetzgeber eröffnet Bedürftigen außerhalb des Asylrechts nahezu keine Möglichkeiten zur legalen Einreise in die Bundesrepublik. Zugleich sucht er nach Wegen, um Personen abzuschrecken, die das Asylrecht vermeintlich missbrauchen. Im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise identifizierte der Gesetzgeber Asylsuchende aus den Staaten des Westbalkans als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und schränkten deren sozio-ökonomischen Status erheblich ein. Der folgende Beitrag zeichnet diese Entwicklungen nach und bewertet diese. I. Ausgangslage: Das AsylbLG 1993 Unter dem Eindruck des Schicksals der vom NS-Regime Verfolgten garantierte das Grundgesetz allen politisch Verfolgten ein Recht auf Asyl (Art. 16 GG).2 Asyl1 Eindrücklich und umfassend Bade / Emmer / Lucassen / Oltmer, Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn, Verlag Ferdinand Schöningh, 2007 (passim). 2  Zur Entstehungsgeschichte Wittreck in: Dreier, GG, Art. 16a, Rn. 11.

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suchende, Geduldete und Ausreisepflichtige hatten nach § 120 II BSHG a. F. Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt; weitere Leistungen der Sozialhilfe konnten im Ermessenswege erbracht werden.3 Als jedoch zu Beginn der 1990er Jahre wegen der Bürgerkriege in Jugoslawien und im Irak die Zahl der Asylsuchenden stark anstieg,4 ging der Gesetzgeber davon aus, dass ein Großteil der Asylgesuche nicht durch die Kriegssituation im Herkunftsland, sondern vielmehr durch die Aussicht auf die Gewährung von Sozialhilfeleistungen motiviert sei.5 Obwohl jedwede empirische Belege für diese Annahme fehlten,6 entschloss sich das Parlament mit dem sogenannten Asylkompromiss7 zu einer Grundgesetzänderung: Art. 16a GG garantiert das Asylrecht seither nur noch jenen, die nicht aus sicheren Herkunftsstaaten oder über einen sicheren Drittstaat8 in die Bundesrepublik eingereist sind.9 Die Herkunft aus einem „sicheren Staat“ – damals waren neben den EU-Mitgliedstaaten nur Ghana und Senegal erfasst10 – begründet die Vermutung, dass keine politische Verfolgung vorliege, freilich ohne dass dies im Einklang mit den tatsächlichen Verhältnissen in den betreffenden Ländern stehen muss.11 Zugleich wurden die an Asylsuchende zu gewährenden existenzsichernden Leistungen aus dem BSHG herausgelöst und in das AsylbLG überführt.12 Der persönliche Anwendungsbereich (§ 1 AsylbLG) erfasste nicht nur Asylsuchende, Geduldete und Ausreisepflichtige, sondern auch einige Inhaber von Aufenthaltstiteln aus humanitären Gründen.13 Nach § 3 AsylbLG waren lediglich Sachleistungen zu 3  Es galt ein gesetzlich angeordneter Vorrang der Leistungserbringung durch Sachleistungen oder Wertgutscheine. Zugleich wurde den Trägern Ermessen eingeräumt, die Leistungen auf „das zum Lebensunterhalt Unerlässliche“ zu beschränken. 4  BT-Drs. 12/4152, S. 3 mit Hinweis auf die vergleichsweise geringe Anerkennungsquote. 5  BT-Drs. 12/4451, S. 5. 6 Die Verbesserung der ökonomischen Situation ist regelmäßig nur eines von mehreren Migrationsmotiven, dazu Oswald, Migrationssoziologie, S. 69 ff. Armut ist in aller Regel sogar ein Hemmnis für Migration, Oltmer in Oppelland, Das Recht auf Asyl im Spannungsfeld von Menschenrechtsschutz und Migrationsdynamik, S. 106 f. 7  Historisch eingeordnet bei Bade, APuZ 25/2015, 3, 4 f. 8  Die als „sicher“ geltenden Drittstaaten sind in § 26a II AsylG i. V. m. Anlage I zu § 26a definiert. Dazu zählen alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen und die Schweiz. 9  Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung vgl. BVerfGE 94, 49. Wegen seiner engen Fassung spielt das Asylgrundrecht inzwischen kaum mehr eine Rolle, da der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) weitaus mehr Situationen erfasst, in denen internationaler Schutz zu gewähren ist. 10  § 29a II AsylVfG i. V. m. Anlage II zu § 29a. 11  Kluth, ZAR 2011, 329, 335. 12 Ausführlich Janda / Wilksch, Das Asylbewerberleistungsgesetz nach dem „Regelsatz-Urteil“ des BVerfG, SGb 2010, 565 mit zahlreichen Nachweisen. 13 Dies betraf Personen, denen eine Aufenthaltserlaubnis aus politischen Gründen (§ 23 AufenthG), zum vorübergehenden Schutz bei Massenzustrom von Flüchtlingen (§ 24 Auf-

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erbringen, deren Umfang auf einer Schätzung beruhte.14 Gesichert wurde lediglich die physische Existenz: Nahrung, Kleidung, Obdach, Körperpflege sowie eine medizinische Notversorgung für akute Erkrankungen und Schmerzzustände (§ 4 AsylbLG). Der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse diente ein gering bemessenes Taschengeld. Dass die Leistungssätze erheblich unter denen des BSHG lagen, wurde damit begründet, dass sich die erfassten Personengruppen lediglich vorübergehend in der Bundesrepublik aufhalten.15 Der Gesetzgeber ging davon aus, dass das neue Gesetz all jene abschrecken würde, die allein aus wirtschaftlichen Gründen einen Asylantrag stellen.16 II. Das BVerfG und die Anforderungen an die Existenzsicherung Im Jahr 2012 verwarf das BVerfG die Grundleistungen des § 3 AsylblG als verfassungswidrig17 – eine Entscheidung, die spätestens seit dem Urteil zu den Regelsätzen der Grundsicherung für Arbeitsuchende18 allgemein erwartet worden war.19 Das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz, welches das BVerfG aus der Menschenwürdegarantie nach Art. 1 I GG und dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 I GG hergeleitet hat,20 sei ein Menschenrecht und gelte für alle Personen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus. Die Leistungen des AsylbLG seien evident unzureichend, gewährleiste die Verfassung doch nicht lediglich die Sicherstellung des bloßen Überlebens, sondern auch die Sicherung sozio-kultureller Teilhabe.21 Überdies waren die Leistungssätze seit Inkrafttreten des Gesetzes weder von DM in Euro umgerechnet noch an die Preisentwicklung angepasst worden. Das Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz gebiete es aber, dass die Leistungssätze in einem transparenten, auf validen Daten basierenden Verfahren ermittelt werden. Die so enthG) oder aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen (§ 25 IV 1 AufenthG) erteilt wird; desgleichen Ausreisepflichtige, die in einem Strafverfahren (§ 25 IVa AufenthG) oder zur Bekämpfung von Schwarzarbeit (§ 25 IVb AufenthG) als Zeugen aussagen sowie Personen, deren Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist (§ 25 AufenthG). 14  Dies hat auch der Gesetzgeber eingeräumt, BT-Drs. 16/9018, S. 6. 15  BT-Drs. 12/4451, S. 5. 16  BT-Drs. 12/5008, S. 13. 17  BVerfGE 132, 134. 18  BVerfGE 125, 175. 19  Haedrich, ZAR 2010, 227, 231; Janda / Wilksch, SGb 2010, 565, 569; Kingreen, NVwZ 2010, 558, 560; Brockmann, SozSich 2010, 310, 314 ff.; Classen / Kanalan, info also 2010, 243, 245; Görisch, NZS 2011, 646, 647; Rothkegel, ZAR 2012, 357, 357; Wenner, SozSich 2012, 277, 277. 20  Vgl. nur BVerfGE 40, 121; 82, 60. 21  BVerfGE 125, 175, 223.

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ermittelten Bedarfe seien jederzeit und in vollem Umfang zu decken. Differenzierungen nach der Aufenthaltsdauer seien nur dann zulässig, wenn diese signifikant unterschiedliche Bedarfslagen hervorrufe.22 Der Gedanke der Abschreckung von Personen, die lediglich aus wirtschaftlichen Gründen Asylanträge stellten, sei für die Bedarfsermittlung sachfremd: „Die in Art. 1 I GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“23 Die Anknüpfung an die Menschenwürdegarantie eröffnet dem Gesetzgeber damit zwar erheblichen Spielraum, setzt ihm aber zugleich die größte denkbare Grenze.24 Infolge des Urteils unternahm der Gesetzgeber zum 1. 3. 2015 eine Reform des AsylbLG, mit der er den personellen Anwendungsbereich nahezu unverändert ließ und auch die hoch umstrittenen Gesundheitsleistungen 25 beibehielt. Die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG wurden den Regelsätzen nach dem SGB II angenähert und die Wartefrist, nach der Analogleistungen26 zu gewähren sind, von vormals 48monatigem Leistungsbezug auf nunmehr 15monatigen Inlandsaufenthalt27 verkürzt. Schließlich wurde die Abkehr vom Sachleistungsgrundsatz normiert.28 III. Gesetzgebung in der „Flüchtlingskrise“ Bereits im September 2014 waren mit dem sogenannten „2. Asylkompromiss“ Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als „sichere Herkunftsstaaten“ i. S. v. Art. 16a II GG deklariert worden. 29 Hintergrund war u. a. die gestiegene Zahl von Asylanträgen von Personen aus diesen Staaten bei überaus geringer Anerkennungsquote, woraus der Gesetzgeber schloss, dass diese aus überwiegend „nicht asylrelevanten Motiven“ gestellt worden seien.30 Nach der Anpassung der Leistungen des AsylbLG war ein weiterer Anstieg der Asylanträge von Personen aus den westlichen Balkanstaaten zu beobachten.31 Ob dieser zeitliche Zusammen  BVerfGE 132, 134, 171.   BVerfGE 132, 134, 172. 24  Wenig überzeugend dagegen Volkmann, KJ 2016, 180, 192 (dort. Fn. 40), demzufolge die Anknüpfung an die Menschenwürde jedwede politische Diskussion ausschließe. 25  Dazu statt vieler Kaltenborn, NZS 2015, 161. 26  Gemäß § 2 AsylbLG werden nach Ablauf der Wartefrist Leistungen nach dem SGB XII gewährt, ohne dass aber ein sozialhilferechtlicher Regimewechsel stattfindet. 27  Zu den Hintergründen dieser Wartefrist Rixen, Der Landkreis 2016, 268, 269. 28 Dazu Janda, Die Reform des AsylbLG aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht, in: Barwig / Beichel-Benedetti / Brinkmann (Hg.): Steht das europäische Migrationsrecht unter Druck?, Baden-Baden 2015, S. 188 ff.; Becker / Schlegelmilch, ZIAS 2015, 1, 21 f. 29 Dazu Janda, ZAR 2013, 175, 176. 30  BT-Drs. 18/1528, S. 9. 31  Ausweislich der Statistik des BAMF waren im Jahr 2012 – dem Jahr, in dem das BVerfG die Leistungen nach § 3 AsylbLG als evident unzureichend einstufte und übergangsweise ein Leistungsniveau anordnete, das etwa auf Grundsicherungsniveau lag – 64.539 Asylerstanträge zu verzeichnen. Dies entsprach einer Steigerung um 41 % im Vergleich zum Vorjahr. Etwa 22 23

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hang lediglich Zufall oder – wie in der politischen Diskussion zuweilen behaupte – kausal zur Gesetzesänderung war, ist letztlich nicht nachweisbar. Gleichwohl nahm der Gesetzgeber die Entwicklung zum Anlass, um nach Wegen zur Verhinderung der sogenannten Armutsmigration zu suchen. Mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz32 sollten nicht nur die Abläufe in den Asylverfahren als solche beschleunigt, sondern durch die Beseitigung von „Fehlanreizen“ die Zahl der Asylsuchenden reduziert werden.33 Zu diesem Zweck wurde beispielsweise die Pflicht zum Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung von drei auf sechs Monate verlängert. Bei Aufenthalt in den Einrichtungen wurde die Rückkehr zum Sachleistungsprinzip angeordnet, das nun auch – freilich unter dem Vorbehalt vertretbaren Verwaltungsaufwands – für die Leistungen zur Deckung persönlicher Bedarfe (i.e. das „Taschengeld“) gelten soll. Geldleistungen dürfen nicht mehr länger als einen Monat im Voraus erbracht werden. Weitaus einschneidender waren die Neuregelungen für Angehörige sicherer Herkunftsstaaten, welche auf Albanien, Kosovo und Montenegro ausgeweitet wurden und seither den gesamten westlichen Balkan umfassen. Führte die Herkunft aus einem solchen Staat ursprünglich allein zu einer Umkehr der Darlegungs- und Beweislast im Asylverfahren, wirkt sie sich nun erheblich auf den sozio-ökonomischen Status aus: Personen aus sicheren Herkunftsstaaten sind während der gesamten Dauer ihres Asylverfahrens zum Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung verpflichtet, § 47 Abs. 1a AsylbLG. Sie dürfen folglich nicht dezentral untergebracht werden. Damit ist ihnen dauerhaft der Zugang zu Erwerbstätigkeit verwehrt, vgl. § 61 AsylG.34 Gleiches gilt für die Wahrnehmung von Arbeitsgelegenheiten nach § 5a Abs. 1 S. 2 AsylbLG im Rahmen des Arbeitsmarktprogramms der Bundesagentur für Arbeit35 sowie die Teilnahme an Integrations- und Sprachkursen nach § 44 Abs. 4 S. 3 AufenthG oder an Maßnahmen der Arbeitsförderung nach § 131 SGB III.

1/3 der Asylanträge wurden von Angehörigen der Nachfolgestaaten Jugoslawiens gestellt; die Erfolgsquote lag unter 1 %. 2015 wurden 476.649 Erstanträge gestellt, was einer Steigerung von 135 % im Vergleich zum Vorjahr entsprach. Im März 2015 stammten noch 62 % der Antragsteller aus den Staaten des Westbalkans, bis Dezember 2015 hatte sich deren Anteil auf 8 % reduziert. Die Anerkennungsquote lag weiterhin bei unter 1 %. 32  BGBl. 2015 I S. 1722, umgangssprachlich als „Asylpaket I“ bezeichnet. 33  BT-Drs. 18/6185, S. 25. Zum Diskurs in Politik, Rechtswissenschaft und -philosophie im Zuge der „Flüchtlingskrise“ Wallrabenstein, KJ 2016, 407. 34  Dies gilt ausweislich § 60a VI 1 Nr. 3 AufenthG sogar für den Fall, dass ihnen eine Duldung erteilt wird. 35  Arbeitsgelegenheiten nach § 5 AsylbLG stehen dieser Gruppe jedoch offen.

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IV. Armut und Migrationsrecht Die Neuregelungen sind Ausdruck der Missbilligung wirtschaftlicher Migrationsmotive. Diese werden nicht im Einzelfall gewürdigt, sondern einer Gruppe ausgehend von ihrer Herkunft pauschal unterstellt. 1. Nationales Recht Den so genannten Gastarbeitern36 wurde, wenngleich aus utilitaristischen Erwägungen, die „Suche nach dem besseren Leben“ in der Bundesrepublik noch ermöglicht – wiewohl deren Erwartungen oftmals in der harten Realität enttäuscht wurden. Aufgrund der im sogenannten Rotationsprinzip gründenden Erwartung der baldigen Rückkehr in das Herkunftsland gab es keinerlei Bestrebungen, die lediglich als Arbeitskräfte wahrgenommenen Menschen37 zum Teil der Inlandsgesellschaft zu machen: separate Unterbringung, unzureichende Kontakte zur Bevölkerung und fehlende Integrationsangebote prägten das Gastarbeiterdasein. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1970er Jahren wurde mit dem Anwerbestopp der Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen weitgehend ein Riegel vorgeschoben. All jene, die im Herkunftsland keine wirtschaftliche Perspektive sahen, konnten – sofern nicht der Weg über den Familiennachzug eröffnet war – ausschließlich über das Asylverfahren in die Bundesrepublik einreisen, da keine Einwanderungsgesetzgebung existierte.38 Nach § 5 I Nr. 1 AufenthG hängt die Erteilung eines Aufenthaltstitels39 für die Bundesrepublik wesentlich von der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts ab. Diese ist nur dann gegeben, wenn ein Ausländer seine Bedarfe selbst decken kann, ohne Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.40 Ist er hierzu nicht in der Lage, kann er alternativ eine Verpflichtungserklärung (§ 68 AufenthG) beibringen, in der sich eine dritte Person als selbstschuldnerischer Bürge verpflichtet, sämtliche Kosten für den Lebensunterhalt zu übernehmen. Das Aufenthaltsrecht stellt damit sicher, dass bedürftige Personen nur einreisen können, wenn sichergestellt ist, dass sie keine existenzsichernden Leistungen in Anspruch nehmen werden. Dieser Ansatz durchzieht auch die Regelungen zur Freizügigkeit der Unionsbürger. Diese können sich zwar zunächst drei Monate ohne weitere Voraussetzungen im Inland aufhalten, müssen für längerfristige Aufenthalte aber – im Einklang mit der 36  Zu Gastarbeiterprogrammen im globalen Kontext Hollifield, The Emerging Migration State, IMR 38 (2004) 885, 894 f.; Samers, New Guest Worker Regimes?, in: Amelina / Horvath / Meeus (Hrsg.), An Anthology of Migration and Social Transformation. European Perspectives, Springer International Publishing, Cham 2016, S. 123. 37  Vgl. den berühmten Ausspruch von Max Frisch „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen.“ 38  Hollifield, IMR 38 (2004) 885, 897. 39  Davon ausgenommen sind humanitäre Titel. 40 Ausführlich Janda, Migranten im Sozialstaat, S. 72 f.

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Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG – ebenfalls Krankenversicherungsschutz und hinreichende Mittel zum Lebensunterhalt nachweisen (§ 4 FreizügG / EU). 2. Armut als Fluchtgrund i. S. d. GFK? Auch wenn Personen, die einen humanitären Aufenthaltstitel begehren, nach § 5 III AufenthG vom Gebot der Lebensunterhaltssicherung ausgenommen sind, geht damit kein Recht auf Einreise einher. Dies gilt auch im völkerrechtlichen Kontext: Es existiert kein Recht auf freie Wahl des Zielstaats.41 Auch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vermittelt kein Recht auf Einreise,42 sondern statuiert in Art. 33 GFK lediglich ein Verbot der Ausweisung, falls dadurch das Leben oder die Freiheit der betreffenden Person verletzt zu werden drohen (non-refoulement).43 Die GFK setzt damit voraus, dass Schutzsuchende die Grenze zu dem von ihnen gewählten44 Zielstaat bereits überschritten haben. Sie bewirkt folglich keinen umfassenden, universellen Schutz für alle, sondern nur für diejenigen, die es geschafft haben, ihren Herkunftsstaat zu verlassen, um anderswo um Schutz nachzusuchen.45 Im Kontext des refoulement-Verbots setzt die Zurückweisung Mittelloser nicht voraus, dass diese in dem anderen Staat ein subjektives Recht auf staatliche Leistungen zur Existenzsicherung haben.46 Jedoch wäre es mit den menschenrechtlichen Verbürgungen unvereinbar, Asylsuchende in einen Staat zu überstellen, in dem sie ihre grundlegenden Bedarfe nicht decken können, weil ihnen der Zugang zu existenziell notwendigen Gütern vorenthalten wird. Im Übrigen ordnen Art. 23, 24 GFK die umfassende Inländergleichbehandlung von Flüchtlingen im Recht der sozialen Sicherheit an. Voraussetzung dafür ist jedoch die Anerkennung des internationalen Schutzstatus. Erst daraus lassen sich (sozialrechtliche) Mitgliedschaftsrechte in der Aufnahmegesellschaft ableiten.47 Armut stellt jedoch keinen anerkannten Fluchtgrund dar. Die GFK gewährt allein 41  Funke, JZ 2017, 533, 533 m. w. N.; für ein Recht auf Mobilität jedoch Carens, The Ethics of Immigration, S. 245 ff.; Cole in: Cole / Wellman, Debating the Ethics of Immigration. Is there a right to exclude?, S. 293 mit zahlreichen Nachweisen. 42  Hollifield, IMR 38 (2004) 885, 891; Kluth, ZAR 2016, 1, 1. 43  Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, S. 102 und 184 f.; Haedrich in: Oppelland, Das Recht auf Asyl im Spannungsfeld von Menschenrechtsschutz und Migrationsdynamik, S. 58 ff. 44  Anders als im Kontext des Asylgrundrechts nach Art. 16a GG ist die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus unabhängig von dem Umstand, ob der Schutzsuchende aus einem sicheren Herkunfts- oder über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Die Zurückweisung ist aber im Umkehrschluss aus Art. 33 GFK immer in sichere Staaten möglich, Funke, JZ 2017, 533, 535. 45  Wallrabenstein, KJ 2016, 407, 414. 46  Zum Verbot der unmenschlichen Behandlung nach Art. 3 EMRK: EGMR, ZAR 2013, 336, 337 (Mohammed Hussein), EGMR, NVwZ 2011, 413, 415 (M.S.S. gegen Belgien und Griechenland) jeweils m. w. N. 47  Carens, The Ethics of Immigration, S. 204 f.

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Schutz vor Verfolgung durch den Staat oder Parteien oder Organe, die den Staat beherrschen, ebenso wie durch nichtstaatliche Akteure aus Gründen der „Rasse“, Religion, Nationalität, der politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, vgl. auch § 3 I, IV AsylG. Gefahrenlagen allgemeiner Natur reichen nicht aus.48 Der Begriff der Verfolgung nimmt vielmehr auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen Bezug,49 setzt also einen staatlichen, zumindest aber staatlich geduldeten Eingriff in Leben und Freiheit des Einzelnen voraus. Das Unvermögen, seinen Lebensunterhalt durch eigene Einkünfte oder Vermögen zu sichern, kann allenfalls dann als Verfolgung qualifiziert werden, wenn dies auf staatlicher Intervention beruht, z. B. auf (zielgerichteter) Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt oder (zielgerichtetem) Ausschluss aus den sozialen Sicherungssystemen wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Armut als „allgemeines Lebensrisiko“ ist dagegen nicht vom Verfolgungsbegriff erfasst – auch wenn dies moralisch bedenklich sein mag.50 V. Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zur Abwehr von „Armutsmigration“ Die durch das Asylpaket I geschaffene Rechtslage erweist sich als erhebliche Verschlechterung des sozio-ökonomischen Status einzelner Gruppen geflüchte­ ter Menschen.51 Asylsuchende aus sicheren Herkunftsstaaten müssen nicht nur dauerhaft in Aufnahmeeinrichtungen leben, sondern sind darüber hinaus von der Erwerbstätigkeit, Arbeitsgelegenheiten sowie Integrations- und Sprachkursen ausgeschlossen, weil vermutet wird, dass sie lediglich aus wirtschaftlichen Motiven eingereist sind. Die Regelungen sind am Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. 1. Ungleichbehandlung Nach der „neuen Formel“ des BVerfG liegt eine unzulässige Ungleichbehandlung vor, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe unterschiedlich behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine derart substanziellen Unterschiede bestehen, welche die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten.52 Personen aus sicheren Herkunftsstaaten unterscheidet von anderen Asylsuchenden der Umstand, dass Asylanträge von ihren Landsleuten 48  Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, Rn. 673; Dietz, Ausländer- und Asylrecht, Rn. 342. 49  Funke, JZ 2017, 533, 534; kritisch Carens, The Ethics of Immigration, S. 200 f. 50  Funke, JZ 2017, 533, 539. 51  So auch Oppermann, ZESAR 2017, 55, 55. 52  St. Rspr., vgl. BVerfGE 22, 387 (415); 52, 277 (280); 55, 72 (88); 88, 87 (96); 112, 368 (401); 116, 229 (238).

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überdurchschnittlich häufig abgelehnt werden. Es ist jedoch fraglich, ob die Vermutung der fehlenden politischen Verfolgung die Vorenthaltung jedweder Teilhabemöglichkeiten in der Inlandsgesellschaft rechtfertigt. Der Gesetzgeber erklärt den Zwang zum dauerhaften Aufenthalt in den Aufnahmeeinrichtungen mit dem Erfordernis der raschen Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des Asylverfahrens.53 Der Ausschluss von den Sprach- und Integrationskursen wird damit begründet, dass bei Personen, bei denen ein dauerhafter Inlandsaufenthalt nicht zu erwarten ist, kein Eingliederungsbedarf bestehe,54 das Beschäftigungsverbot wird gar nicht begründet.55 Ziel der Differenzierung ist die Steuerung von Migration, soll die Stellung eines Asylantrags für Personen aus diesen Staaten doch möglichst unattraktiv gemacht werden. Ob Migration überhaupt der Steuerung durch rechtliche Vorgaben zugänglich ist, ist jedoch überaus fraglich.56 Angesichts der Verfahrensdauer und des Umstands, dass einige der Einschränkungen auch im Falle der Erteilung einer Duldung andauern, ist die Vorenthaltung jedweder Teilhabemöglichkeiten (auch gesellschaftspolitisch) überaus bedenklich.57 2. Abwehr von „forum shopping“ Letztendlich führt die Gesetzeslage dazu, dass auch die Personen aus sicheren Herkunftsstaaten, deren Asylantrag am Ende erfolgreich ist, unter Umständen für lange Zeiträume zum Aufenthalt in Sammelunterkünften und zu Untätigkeit gezwungen sind. Diejenigen, die tatsächlich Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt sind, werden damit gleichsam in „Sippenhaft“ für all jene genommen, denen der Gesetzgeber unlauteres forum shopping, also die gezielte Einreise in den Staat mit einem komfortablen Sozialleistungssystem, unterstellt. Indes hält § 1a AsylbLG eine Spezialregelung für die Fälle des forum shopping bereit. Danach erhalten (geduldete oder ausreisepflichtige) Personen, die sich in den Geltungsbereich des Gesetzes begeben haben, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen,58 nur das im Einzelfall „unabwendbar Gebotene“, d. h. ihnen werden existenz­sichernde Leis  BT-Drs. 18/6185, S. 33 f.   BT-Drs. 18/6185, S. 34. 55  BT-Drs. 18/6185, S. 34 und 51. 56  Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, S. 12 ff.; Hollifield, IMR 38 (2004) 885, 903 hält Migrationssteuerung allenfalls im suprastaatlichen Kontext für denkbar. Die eingeschränkte Wirksamkeit solcher supranationaler Steuerungsmechanismen wurde im Zuge der „Flüchtlingskrise“ jedoch eindrücklich belegt, dazu auch Becker / Schlegelmilch, ZIAS 2015, 1, 18. 57  Vgl. auch Funke, JZ 2017, 533, 542 im Zusammenhang mit der Frage, ob Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden könnten. 58 Teilweise wird vertreten, die Einreise aus einem sicheren Herkunftsstaat sei als Einreise zum Zweck des Sozialleistungsbezugs zu werten, Hohm, NVwZ 2005, 388, 390; Grube / Wahrendorf, § 2 AsylbLG, Rn. 24. 53 54

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tungen nur in eingeschränktem Umfang gewährt. Eine ähnliche Regelung enthält § 23 III Nr. 4 SGB XII für das Sozialhilferecht. Die Anwendung dieser Normen setzt freilich voraus, dass die Einreise zum Zweck der Inanspruchnahme von So­ zialleistungen im Einzelfall nachgewiesen ist. Die Regelungen wirken also lediglich in Reaktion auf vorwerfbares Verhalten und entfalten offenbar nicht die vom Gesetzgeber erstrebte allgemeine Abschreckungswirkung. 3. Erforderlichkeit der Abschreckung? Zu berücksichtigen ist schließlich, dass bereits das europäische Recht steuernd wirkt. Nach Art. 67 II AEUV etablieren die Mitgliedstaaten ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem,59 welches durch die Dublin-III-Verordnung 604/2013 zur Bestimmung der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens und verschiedene Richtlinien zu den Schutzvoraussetzungen (RL 2011/95/EG und 2001/55), die Mindeststandards für die Aufnahmebedingungen (RL 2013/33/EG) und zum Verfahren (RL 2013/32/EG) ausgeformt worden ist. Zuständig ist der Mitgliedstaat, in den der Schutzsuchende zuerst eingereist ist, vgl. Art. 12 VO (EG) 604/2013. Da Asylsuchende aus den Balkanstaaten auf dem Weg in die Bundesrepublik verschiedene Mitgliedstaaten zu durchqueren haben, können vermeintliche im Sozialrecht einzelner Mitgliedstaaten gründende „Fehlanreize“ eigentlich kaum Wirkung entfalten. Denn eine Weiterwanderung ist grundsätzlich nicht vorgesehen und berechtigte den unzuständigen Staat zur Rücküberstellung des Asylsuchenden in den zuständigen Staat.60 In einer Europäischen Union ohne Binnengrenzen können nationalrechtliche Lösungen zur Migrationssteuerung schwerlich Wirkung entfalten. Eine Verständigung über eine gemeinsame solidarische und angemes­ sene Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene ist daher unerlässlich.61 VI. Ausschluss von Armen als Ausdruck staatlicher Souveränität? Zwar muss man dem Gesetzgeber zugestehen, dass er sich im „Sommer der Migration“ 2015 in einer Ausnahmesituation befunden und in großer Eile den mass influx zu bewältigen gesucht hat. Erfahrungsgemäß werden einmal eingeschlagene Wege jedoch selten verlassen62 – der jahrelange „Dornröschenschlaf“ des AsylbLG 59  Eine Bestandsaufnahme sowie einen Blick auf die Zukunftsperspektiven des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unternimmt Marx, KJ 2016, 151 ff. 60  Sie erfolgt tatsächlich aber dennoch, Becker / Schlegelmilch, ZIAS 2015, 1, 13 f. 61  Vgl. auch Kluth, ZAR 2011, 329, 330, der auf den „genuin … überstaatlichen Charakter“ von Migrationsprozessen hinweist, welche diese in besonderem Maße der Lösung durch internationales Recht zuweist. 62 Dies mag insbesondere im Asylrecht auch daran liegen, dass die Betroffenen oftmals nicht von den ihnen zustehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch machen, dazu Rixen, Der Landkreis 2016, 268, 274.

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1993 belegt dies eindrücklich. Zudem entbinden auch Notlagen nicht von der Beachtung höherrangigen Rechts. Neben dem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz steht die Europarechtskonformität der Regelungen für Personen aus sicheren Herkunftsstaaten in Zweifel,63 gibt die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU doch die menschenwürdige Behandlung und die Schaffung eines angemessenen Lebensstandards vor.64 Spätestens neun Monate nach Beantragung des Schutzstatus ist der Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen, wobei die Durchführung einer Vorrangprüfung ausdrücklich zugelassen ist (Art. 15 RL 2013/33/EG). Eine Differenzierung zwischen Personen aus sicheren und sonstigen Herkunftsstaaten nimmt die Richtlinie nicht vor; die Schutzstandards gelten also universell. Indem Asylantragsteller aus sicheren Herkunftsstaaten generell und dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, wird diese Vorgabe verletzt. 1. Migrationskontrolle als staatliche Selbstbestimmung Die Maßnahmen des Gesetzgebers zur Beschränkung der Zahl der Schutzsuchenden im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ finden ihren Ausgangspunkt in der Souveränität der Nationalstaaten: Diese haben zweifelsohne das Recht, frei da­ rüber zu entscheiden, wem sie Zugang zu ihrem Territorium gewähren und wem nicht.65 Als problematisch erweist sich dies vor allem deshalb, weil zwar das Recht auf Ausreise als Menschenrecht anerkannt ist, diesem aber kein Recht auf Einreise in einen (bestimmten) anderen Staat gegenübersteht. Ein Menschenrecht im Sinne einer kosmopolitischen Bewegungsfreiheit ist normativ nicht verankert.66 Auch das Kant’sche Gastrecht der Weltbürger67 vermittelt allenfalls ein Recht auf kurzfristigen Besuch und den Anspruch, nicht „feindselig“ behandelt zu werden; die von Kant statuierte Pflicht zur Aufnahme von Personen in elementarer Gefahr hat Eingang in den internationalen Menschenrechtsschutz gefunden. Besteht danach grundsätzlich das Recht, die Grenzen geschlossen zu halten, gewähren die meisten Staaten – über den Schutz in humanitären Notlagen hinaus – Zugang nur jenen, die sie als (wirtschaftspolitisch) nützlich erachten, namentlich weil sie über Qualifikationen verfügen, die auf dem Arbeitsmarkt des Zielstaats stark nachgefragt werden. Darüber hinaus bilden spezifische Bindungen zwischen Zuwanderer und Zielstaat einen Grund für die Gestattung des Zugangs.68 Generell ist die Offenheit für Zuwanderung hochqualifizierter Personen größer als beim   Insgesamt zu den Asylpaketen I und II Oppermann, ZESAR 2017, 55, 56.  Ausführlich Becker / Schlegelmilch, ZIAS 2015, 1, 11 f.; Janda in: Barwig / Beichel-Benedetti / Brinkmann, Steht das europäische Migrationsrecht unter Druck?, S. 189 f. 65  Vgl. nur Kluth, ZAR 2011, 329, 331. 66  Janda, Migranten im Sozialstaat, S. 70; umfassend zur Problematik Cassee, Globale Bewegungsfreiheit, Berlin 2016. 67  Kant, Zum ewigen Frieden, S. 30. 68  Zum Ganzen Janda, Migranten im Sozialstaat, S. 429 ff. 63 64

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„Massenzustrom“ armer, schlecht oder gar nicht qualifizierter Personen.69 Der Grad des Willkommenseins korreliert mit dem möglichen Nutzen, der Zuwanderern für die Einwanderungsgesellschaft zugeschrieben wird. Dies wird auch bei der Zuerkennung sozio-ökonomischer Rechte an Arbeitsmigranten sichtbar, die – freilich beeinflusst durch die Migrationsrichtlinien der Europäischen Union für Hochqualifizierte, Saisonarbeitnehmer, konzernintern Entsandte oder Forscher – im Hinblick auf die Zuerkennung von Rechten nach dem Qualifikationsstatus differenzieren.70 Migrationsrecht kann und darf sich aber nicht auf Utilitarismus begrenzen, denn dieser Ansatz reduziert Menschen auf deren bloße Arbeitskraft. Das Flüchtlingsrecht ist demgegenüber so stark durch menschenrechtliche Gewährleistungen geprägt, dass die Interessen der Aufnahmestaaten keine übergeordnete Rolle spielen.71 2. Der Staat als „Club“? Woher rührt aber das Misstrauen gegenüber und die Ablehnung von Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen in andere Staaten einreisen wollen? Die Zuwanderung von Bedürftigen abzuwehren, hat einerseits historische Wurzeln. Bereits mit dem Aufkommen der städtischen Armenpflege in der frühen Neuzeit wurden Mechanismen etabliert, um fremde Bettler auszuweisen oder in Armenhäusern zu internieren.72 Andererseits mögen ökonomische Gründe dafür sprechen: Die sogenannte Club Theory73 widmet sich der Suche nach der optimalen Größe (privater) Clubs – einerseits um die von diesen angebotenen Leistungen zu finanzieren, andererseits um allen Mitgliedern gleichermaßen diese Leistungen zukommen zu lassen. Die optimale Clubgröße findet ihre Grenze dort, wo die Aufnahme eines weiteren Mitglieds dazu führt, dass allen weniger Güter zur Verfügung stehen als bislang. Es wird vertreten, dass Staaten sich ebenso wie private Clubs auf die Vereinigungsfreiheit berufen können und folglich das Recht haben, neue „Mitglieder“ abzuweisen,74 selbst wenn es sich um Flüchtlinge handelt.75   Hollifield, IMR 38 (2004) 885, 902.   Kluth, ZAR 2016, 1, 2; ausführlich Ruhs, The Price of Rights, Princeton 2015 (passim); Ruhs / Martin, IMR 2008, 249. 71  Kluth, ZAR 2011, 329, 331. 72  Vgl. nur Sachße / Tennstedt, Die Geschichte der Armenfürsorge, Band 1, S. 31 ff. 73 Grundlegend Buchanan, An Economic Theory of Clubs, Economica 32 (1961), 25 ff.; vgl. auch die umfassende Darstellung von Cornes / Sandler, The Theory of Externalities, Public Goods and Club Goods, 2. Aufl., Cambridge 1996. 74 Dafür Wellman in Cole / Wellman, Debating the Ethics of Immigration. Is there a right to exclude?, S. 11 ff., sowie Wellman, Ethics 2008, 109 ff. Er begründet dies u. a. mit dem Selbstbestimmungsrecht des Staates bzw. der Gesellschaft, welches das Recht einschließt, dass deren Mitglieder darüber bestimmen dürfen, wer das „Selbst“ sein darf, ebda. S. 115. Ferner zieht er eine – m. E. kaum nachvollziehbare – Parallele zur Eheschließungsfreiheit: Ebenso wie jedes Individuum frei entscheiden dürfe, wen er oder sie heiraten möchte, dürften Staatsangehörige 69 70

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Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass es sich bei existenzsichernden Sozialleistungen,76 Arbeitsmarktzugang und Aufenthaltstiteln gerade nicht um private Güter und Dienstleistungen handelt. In- und Ausländer agieren gerade nicht als Konkurrenten um endliche Güter wie Platz auf dem Staatsgebiet oder einen Anteil an den steuerfinanzierten Sozialleistungen: Der Zugewinn des einen tangiert nicht per se die ökonomische Situation des anderen. Die Kontrolle über das eigene Territorium und die Entscheidung über die Zugehörigkeit zum Staatsvolk sind zwar die ureigene Domäne des Nationalstaats.77 Sie rechtfertigt Grenzkontrollen ebenso wie die Etablierung von Kriterien für die Erlangung der Staatsangehörigkeit. Es ist jedoch zwingend zwischen der individuellen Vereinigungsfreiheit – im Sinne einer freien Entscheidung der Bürger, sich mit anderen zusammenzuschließen – und der Frage zu unterscheiden, ob dem Staat selbst eine solche, auf die Gemeinschaft der Bürger bezogene Vereinigungsfreiheit zukommen kann.78 Der Gedanke der Club Theory verschließt sich jedweder internationaler Verantwortung, zu der sich beispielsweise die Vertragsstaaten der GFK bekannt haben. Schließlich unterliegt sie dem Missverständnis, die Aufnahme Schutzsuchender sei mit der Gewährleistung umfassender Mitgliedschaftsrechte gleichzusetzen. Die volle Mitgliedschaft in einem Staat kommt nicht im Aufenthalt, sondern in der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck. Nur diese vermittelt neben bürgerlichen und sozialen Rechten auch das Recht der politischen Mitbestimmung durch das aktive und passive Wahlrecht, und dieses steht Asylsuchenden wie anerkannten Flüchtlingen nicht zu. 3. Gerechtigkeit in der Einwanderungsgesellschaft Zwar entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat nicht um des Schutzes der Menschen „als Mitglied der menschlichen Gattung“79 willen. Die Mitgliedschaft im Solidarverband des Sozialstaats ist im Zeitalter des Nationalstaats vielmehr eng an die Idee der Nation geknüpft.80 Diese Zuordnung scheint einfach, wenn man als Nation entscheiden, wen sie in ihre politische Gemeinschaft aufnehmen wollen, ebda. S. 110 f. Zum Streitstand Cassee in: Goppel / Mieth / Neuhäuser, Handbuch Gerechtigkeit, S. 423 ff. 75  Wellman, Ethics 2008, 109, 109: „… every legitimate state has the right to close its doors to all potencial immigrants, even refugees desperately seeking asylum …“. Ebenso Wellman in: Cole / Wellman, Debating the Ethics of Immigration. Is there a right to exclude?, S. 117 ff. mit dem Argument, dass nicht die Aufnahme von Flüchtlingen durch andere Staaten geboten sei, sondern vielmehr die Verschaffung von Schutzräumen in deren Herkunftsstaaten. 76  Vgl. aber Breuer, Ökonomische Grundlagen der Sozialversicherungsorganisation, S. 44 ff. zur Anwendbarkeit der Club Theory auf die Krankenkassen. 77  So die Drei-Elemente-Lehre von Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff. 78  Fine, Ethics 2010, 338, 342; ausführlich auch Cole in: Cole / Wellman, Debating the Ethics of Immigration. Is there a right to exclude?, S. 159 ff. 79  Eichenhofer, VSSR 2016, 233, 235. 80  Giddens, Beyond Left and Right, S. 137: „Who says welfare state, says nation state.“ Siehe auch Eichenhofer, VSSR 2016, 233, 235 f.

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all jene versteht, die die gleiche Staatsbürgerschaft innehaben und wenig mobil sind. Im Zeitalter der Globalisierung mit ihrer weltweiten Verflechtung der Wirtschaftsordnungen ist dieses Verständnis aber ebenso obsolet wie in der sogenannten Flüchtlingskrise. a) Die Rolle der Nationalstaaten In solch außergewöhnlichen Situationen auf an der Nation oder Staatsangehörigkeit ausgerichtete Zugehörigkeitskriterien zu bestehen, hieße großen Gruppen hilfebedürftiger Menschen ihr Recht auf menschenwürdige Existenz vorzuenthalten. Es sind folglich neue81 Leitmotive zu suchen, die den menschenrechtlichen Paradigmenwechsel von dem an die Mitgliedschaft in der „Nation“ zu dem an das Menschsein anknüpfenden Status nachvollziehen. Sinnbild dieses Paradigmenwechsels ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Diese überwand die nationalstaatliche Anknüpfung und versteht Menschenrechte universell und unabhängig vom rechtlichen Status.82 Der Nationalstaat als Sozialstaat ist damit jedoch nicht obsolet, denn es ist zwingend der Frage nachzugehen, welcher Staat für die Existenzsicherung des Einzelnen zuständig sein soll. Je mehr Staaten als Zielstaat von Migration in Betracht kommen, umso geringer wird die Bereitschaft zur Gewährung von Hilfe sein. Davon zeugt nicht zuletzt der derzeitige Streit unter den Mitgliedstaaten der EU, von denen einige die Aufnahme von Flüchtlingen verweigern.83 Dieser Effekt ist bei Unglücksfällen als bystander effect bekannt. Er ist Ausdruck einer pluralistischen Ignoranz, die von dem Gedanken geprägt ist, dass sich schon jemand finden werde, der die Verantwortung für die betreffende Person übernimmt. Menschenrechte offerieren nicht mehr als das abstrakte „Recht, Rechte zu haben“, schweigen aber zu der zur Einlösung der menschenrechtlichen Ansprüche verpflichteten Entität.84 Augenfällig ist dies bei Staatenlosen; die Frage stellt sich aber auch bei all jenen, die ihr Herkunftsland unfreiwillig verlassen: Müssen diese um der Verwirklichung ihrer sozio-ökonomischen Menschenrechte Willen dorthin zurückkehren? Oder ist nicht vielmehr ein Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem die Verantwortung auf den Aufenthaltsstaat übergeht und unter welchen Voraussetzungen dieser zu erreichen ist? Anderenfalls wären Aufenthaltsrecht und Inklusion in die Gesellschaft des Aufnahmestaats stets konditional an die Fähigkeit zur eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts geknüpft.

81  Historisch zeigt sich dagegen im Zeitalter der aufkommenden Nationalstaaten durchaus die Verknüpfung von Staatsangehörigkeit, Einwohnerstatus und der Gewährung von Menschenrechten, Eichenhofer, VSSR 2016, 233, 236. 82  Eichenhofer, VSSR 2016, 233, 237. 83  Die Kommission hat im Juni 2017 daher ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen, Tschechien und Ungarn eingeleitet, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17 – 1607_de.htm. 84  Arendt, Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft, S. 422 ff.

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b) Abwehr vs. Akzeptanz von Migrationsentscheidungen Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen freiwilliger Migration – der Suche nach einem besseren Leben – und forced migration ist kaum möglich.85 Die Entscheidung über Migration beruht auf einem Bündel von Motiven, welches zunächst auf so genannte push factors im Herkunftsland rekurriert; erst im zweiten Schritt – bei der Wahl des Zielstaates – rücken so genannte pull factors in den Vordergrund. Demzufolge spricht einiges dafür, dass selbst bei einer offenen, am Inlandsaufenthalt orientierten Ausgestaltung des „Ausländersozialrechts“ kein „Ansturm der Armen“86 zu befürchten wäre, denn diese Ansicht ignoriert die Kosten, die mit Migration einhergehen – sowohl in monetärer Hinsicht als auch in Bezug auf den individuellen Preis, den der Einzelne zu zahlen hat, indem er Beziehungen zu Familie und Freunden aufgibt und sich in eine fremde Umgebung begibt, wo er zunächst als „nicht zugehörig“ wahrgenommen wird.87 Die den Regeln zur Abwehr von forum shopping zugrundeliegenden Mechanismen müssen einer einheitlichen Logik folgen und widerspruchsfrei sein. Bezogen auf den Ein- oder Ausschluss von Migranten heißt dies, dass Zugangskriterien gefunden werden müssen, die einerseits schlüssig sind, andererseits aber auf zutreffenden Annahmen beruhen. Im Grunde hat jeder Staat Verantwortung für all jene, die sich auf seinem Staatsgebiet aufhalten. Dies ist die Kehrseite der Souveränität zur Regelung des Zugangs zum eigenen Territorium.88 Diese bedingt keineswegs, dass jedermann gleiche Leistungen und Chancen zu gewähren sind. Differenzierungen nach dem Maß der „Würdigkeit“ sind im Interesse sozialer Gerechtigkeit vielmehr ausdrücklich geboten.89 Es ist jedoch fraglich, ob die Entscheidung über die „Würdigkeit“ an die bloße Herkunft aus einem bestimmten Staat geknüpft sein darf oder ob nicht vielmehr eine individuelle Entscheidung über die „Würdigkeit“ jedes Einzelnen resp. seiner Einreisemotive vonnöten ist. Dies impliziert, an die Feststellung, dass keine politische Verfolgung oder ein sonstiger, die Gewährung internationalen Schutz gebietender Umstand vorliegt, negative Konsequenzen zu knüpfen und die betreffende Person in ihr Herkunftsland (oder einen anderen sicheren Staat) zurück zu verweisen. Nicht geboten ist hingegen, an die bloße Vermutung, dass nicht Verfolgung, sondern lediglich wirtschaftliche Motive die Flucht nach Deutschland geprägt haben, negative Folgen zu knüpfen. Der Schluss des Gesetzgebers von den niedrigen Anerkennungsraten auf vorwiegend wirtschaftliche Migrationsmotive ist logisch keineswegs zwingend. Zudem ist fraglich, ob die Lebensbedingungen während des Asylverfahrens tatsächlich als so komfortabel anzusehen sind, dass sie Zuwanderungsanreize bzw. den Missbrauch des Asylverfahrens aus wirtschaftlichen Gründen auslö  Bade, APuZ 25/2015, 3, 5.   So der Titel des „Spiegel“, Heft 37/1991. 87  Fine, Ethics 2010, 338, 347. 88  Kluth, ZAR 2011, 329, 331: „Wer herrscht, der schuldet auch Schutz und Hilfe“. 89 Ausführlich Hinsch in: Goppel / Mieth / Neuhäuser, Handbuch Gerechtigkeit, S. 78. 85 86

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sen.90 Die bis zum Asylpaket I geltende Regelung, dass die Herkunft aus einem sicheren Staat lediglich eine Beweislastumkehr im Asylverfahren mit sich bringt, scheint noch vertretbar, wenn die Statistik eine marginale Anerkennungsquote ausweist. Die Entziehung sozio-ökonomischer Standards ist jedoch sachwidrig, denn sie ist in keiner Weise kausal mit jener verknüpft. VII. Fazit: Migrationssteuerung durch Sozialrecht? Der (zufällige) Ort der Geburt determiniert die Chancen und Zukunftsaussichten von Individuen in erheblichem Maß.91 Es vermag daher kaum zu verwundern, dass sich Menschen auf den Weg in andere Regionen machen, in denen sie sich mehr Wohlstand und bessere Zukunftsaussichten für sich und ihre Nachkommen versprechen. Letztlich muss sich der Sozialstaat auf sein eigentliches Ziel verpflichtet sehen: Das Ermöglichen eines Lebens in Würde (vgl. § 1 I 2 SGB I). Die Menschenwürdegarantie ist movens der Flüchtlingsanerkennung ebenso wie der Gewährung des Aufenthaltsrechts wegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote (§ 60 V, VII AufenthG) oder der Duldung (§ 60a AufenthG). Sie muss ebenso tragender Gedanke der Ausgestaltung des sozio-ökonomischen Status während des Inlandsaufenthalts sein.92 Sozio-ökonomische Rechte am Gedanken der Migra­ tionssteuerung auszurichten, degradiert Zuwanderer zum Objekt staatlichen Handelns: Dies soll zur freiwilligen Ausreise bzw. zum Unterlassen der Einreise veranlassen, um der – zeit- und ressourcenaufwändigen – Prüfung von Schutzgesuchen zu entgehen. Summary It is not unusual that people leave their country of origin, seeking protection from a violation of their human rights – even though the current number of refugees seems incommensurable in a historical perspective. Migrants have always been part of the receiving states‘ population, thus making them become immigration countries. Motivations to migrate are manifold: they are not restricted to forced migration from war and prosecution, but comprise family ties, job search or the “search for a better life”. However, migrants who are considered as “economic migrants” face a high degree of disaffirmation, which is reflected in migration law, too. Asylum law offers the only opportunity for legally entering Germany to needy 90  Sehr treffend Carens, The Ethics of Immigration, S. 201: „Very few people pretend to be refugees in order to gain the opportunity to live in a refugee camp.“ 91 Dazu Shachar, The Birthright Lottery, Harvard 2009 (passim); Carens, The Ethics of Immigration, S. 233 ff. Kritisch zur daran anknüpfenden Forderung nach „luck egalitarianism“ Wellman, Ethics 2008, 109, 121 ff. 92 Vgl. auch Becker, ZESAR 2017, 101, 108, wonach nicht Kostenreduzierung, sondern Übernahme von Verantwortung die Herausforderung des GEAS bildet.

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persons: in order to gain a residence title, migrants usually have to prove sufficient means of subsistence. At the same time, the legislator aims at controlling and preventing the immigration of poor persons who allegedly abuse asylum law. In the context of the “refugee crisis”, German legislation has identified immigrants from the Western Balkan as “economic migrants”. Consequently, their socio-economic status has been drastically curtailed, for example by excluding them from the labour market. This article traces the recent developments in migration law related to asylum seekers from so-called “safe countries of origin” and examines the compatibility with constitutional and European law. Besides, it analyses reasons for the suspiciousness of those in need and questions the appropriateness of rules designed to control migration.

A Question of Solidarity: Re-Defining Europe Through the Rights of “Others”? Andreas Oberprantacher and Andreas Th. Müller* I. Identitarian Anxieties On 14 April 2016 about 30 to 40 activists of the Austrian fraction of the professed pan-European Identitarian Movement interrupted the performance of Elfriede Jelinek’s theatre play Die Schutzbefohlenen (trans. into English as Charges – The Supplicants1) that addresses the contemporary plight of displaced people. With banners stating “Hypocrites! Your decadence is our downfall,” the militants rushed in and climbed on the stage of the University of Vienna’s Audimax hall, which was used for the theatre play, pushed violently aside the intimidated refugees from Syria, Afghanistan, and Iraq, who were volunteering as actors in Jelinek’s drama, and poured fake blood over some of the stunned viewers sitting in the audience.2 According to the Identitarian Movement’s flyers that were spread in the lecture hall, this deliberately scandalous protest was intended to confront the supporters of the so-called “refugees-welcome delusion”3 in the name of all those who have “no migration background”4 and who, as the polemic statement on the flyers further emphasized, are the truly “forgotten,”5 the ones who, unlike the disenfranchised foreigners, should be commiserated. In short, it was an aggressive call for a solidarity among European “natives” that is incompatible with the welcoming of alienated “others” seeking admission, recognition, and participation (and that threatens also dissenters who are stigmatized as national traitors). Concerted actions like these that took place repeatedly throughout Europe over the past few years and that might further escalate considering, for example, that on *  The authors thank Mag.a Verena Kirchmair for her support in editing the present contribution. 1  Elfriede Jelinek, Charges – The Supplicants, trans. by Gitta Honegger, London: Seagull Books, 2017. 2  See http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016 – 04/identitaere-bewegung-wientheater-elfriede-jelinek-die-schutzbefohlenen (last access: 20 June 2017). 3   https://iboesterreich.at/2016/04/14/aesthetische-intervention-jelineks-die-schutzbe fohlenen/ (last access: 20 June 2017). 4 Ibid. 5 Ibid.

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12 May 2017 members of the Identitarian Movement managed (even if only briefly) to block the ship Aquarius of the pro-refugee NGO SOS Méditerranée in the port of Catania, Sicily,6 are indeed alarming. They are alarming because such “aesthetic interventions,”7 which are at best aestheticising everyday brutality, illustrate how violent the opposition to newly arrived people in Europe is becoming and how aggressive movements are forming and interlocking at the very “right” fringe of the spectrum of political traditions.8 As Judith Butler is arguing in her essay “Rethinking Vulnerability and Resistance,” such actions are also evidencing that the term “vulnerability,” which figures prominently in a plurality of her writings, needs to be comprehensively reconsidered since it can also be instrumentally appropriated by “dominant groups who claim to be vulnerable”9 and who subsequently dismiss other people’s rights on the basis of such a spurious claim. As a matter of fact, the current perplexity of the European Union vis-à-vis people who are frequently vilified as “bogus refugees” or as “asylum shoppers” does not only indicate how the principle of solidarity, which officially informs EU policies, is continually undermined by EU Member State unilateralism, it also evidences how in the midst of this institutional disorder and desolidarisation much more sinister versions of European solidarity are lurking. In consideration of the difficulties to come to general terms with the notion of “solidarity” that is invoked differently, if not contrarily, by the conflicting parties in the context of the so-called EU “refugee crisis,” our joint contribution is a multidisciplinary effort to engage critically and from a plurality of angles with this seminal term that links ethics with both political philosophy, legal theory as well as black letter EU law. If it is the case, as we will contend, that contrary to the credo of a rather naïve globalist ideology that flourished after the end of the Cold War, borders were not at all overcome in the past decades, but instead they transformed in a variety of fashions, then there is also reason to assume that in such an intensively and extensively bordered world, the notion of “solidarity” is particularly questionable. It is particularly questionable, because it condenses the contradictions of a world that seems to be falling apart while coming together. As far as the structure of our argumentation is concerned, (I.) after this preliminary remarks, (II.) we will discuss how dubious and inconsistent the notion of “solidarity” has become in a world 6  http://diepresse.com/home/ausland/welt/5217677/Identitaere-blockieren-NGOSchiffin-Italien (last access: 20 June 2017). 7   https://iboesterreich.at/2016/04/14/aesthetische-intervention-jelineks-die-schutzbe fohlenen/ (last access: 20 June 2017). 8 Cf. Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart: Klett-Cotta, 2017. 9  Judith Butler, “Rethinking Vulnerability and Resistance,” in: Judith Butler / Zeynep Gambetti / Leticia Sabsay (eds.), Vulnerability in Resistance, Durham / London: Duke University Press, 2016, 23; see also Mark Terkessidis, Kulturkampf: Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, 67.

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that is redefining itself through perilous border regimes. In the next instance, (III.) we will focus on the EU “refugee crisis” as a complex crisis that concerns especially legal procedures and guarantees and that is resulting in a situation where at least parts of the European asylum framework are becoming dysfunctional, thus allowing for a renaissance of Member State unilateralism. After that, (IV.) we will discuss in detail some of the most relevant reasons for and features of this noticeable lack of solidarity in the Common European Asylum System, which repeatedly puts at risk those people who should be safeguarded by it. Next, (V.) we will shift the angle of our attention by assessing the recent phenomenon of Refugee Protest Camps as a multilateral effort to reconfigure and, perhaps, to even reinvent a sense of solidarity “from below,” that is, under the impressions of a dysfunctional Dublin system and of a nativist ideology10 in particular. Finally, (VI.) we will come to our conclusions by arguing that it is precisely such precarious “networks of solidarity and resistance”11 among people discriminated as “illegals” that may serve as a promising platform to forge alliances that are both transversal and transnational and to support the creation of institutions and procedures that are not yet recognized by law, that is, to push the European frontiers of solidarity. II. Fractured Solidarities in a Bordered World For many, not least for many scholars of social and political science the “fall” of the Berlin Wall was (and, perhaps, still is) an event of symbolic importance as it is said to mark a profound spatial and temporal change. Apart from neoliberal visionaries like Kenichi Ohmae who coined the phrase of borders collapsing in a “borderless world”12 or Francis Fukuyama who suggested that “what we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particularly period of post-war history, but the end of history as such,”13 it was also overt commercial slogans like the one developed by Merrill Lynch that celebrated “the demise of the walled-off world”14 at the end of the 1980s for giving birth to a new world, that of “the global economy.”15 At the very latest when the future President of the United States, Donald J. Trump, unveiled his ludicrous plans to “build a great, great wall”16 along the border between the United States and Mexico in June 2015, it 10 See Aitana Guia, “The Concept of Nativism and Anti-Immigrant Sentiments in Europe,” in: EUI Working Papers 20 (2016), http://www.mwpweb.eu/1/218/resources/news_970_1.pdf (last access: 20 June 2017). 11  Judith Butler (9), 20. 12  Kenichi Ohmae, The End of the Nation State: The Rise of Regional Economies, New York / et al.: The Free Press, 1995, 1. 13  Francis Fukuyama, “The End of History,” in: The National Interest, Summer (1989), 4. 14  Quoted according to Thomas L. Friedman, The Lexus and the Olive Tree: Understanding Globalization, updated and expanded edition, New York: Farrar, Straus, Giroux, 2000, xv-xvi. 15 Ibid. 16  https://www.youtube.com/watch?v=lO3wH8_n1LE (last access: 20 June 2017).

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became manifest that contrary to the many who “hallucinated that a millennium of borderless freedom was at hand,”17 as Mike Davis put it in his collection of essays In Praise of Barbarians, “neoliberal capitalism has stimulated the greatest wave of wall building and border fortification in history.”18 In the case of Europe, it makes indeed sense to argue that the implementation of the Schengen Convention from 1995 onward and the subsequent dismantling of border checkpoints between the signatories of said convention did not result in a complete dissolution of border control mechanisms. Quite to the contrary, the pledge to accomplish the “freedom to cross internal borders for all nationals of the Member States”19 served basically as a tacit legitimization to install the Dublin system, which stretches from the Dublin regulations (into force from 1997-) to the EURODAC Regulation (into force from 2003-), to establish the EU agency Frontex (now officially called European Border and Coast Guard Agency) (into force from 2005-), including the European Border Surveillance System (EUROSUR; into force from 2013-).20 In short, the past two decades of EU policies – involving in part also non-Member States like Iceland, Liechtenstein, Norway, or Switzerland, and allowing for joint operations with North African countries – are evidencing that border control mechanisms have rejuvenated while being simultaneously stretched and strengthened. Or, as Sandro Mezzadra and Brett Neilson are maintaining in their book Border as Method, or, the Multiplication of Labor, under the current conditions of globalization borders “are both hardening and softening at the same time.”21 Be it on a macroscopic level, where satellite remote sensing or drone reconnaissance flights are used to spot illegal “trespassers” on route to Europe, or on a microscopic level, where biometric database systems are preferred to digitally track suspicious “bodies on the move”22 between European countries, we are witnessing the becoming of a complex border regime that cannot be reduced to the interest of 17  Mike Davis, In Praise of Barbarians: Essays Against Empire, Chicago: Haymarket, 2007, 172; see also Julia Sonnevend, Stories Without Borders: The Berlin Wall and the Making of a Global Iconic Event, New York: Oxford University Press, 2016. 18 Ibid. 19  Preamble to the Agreement between the Governments of the States of the Benelux Economic Union, the Federal Republic of Germany and the French Republic on the gradual abolition of checks at their common borders of 14 June 1985 (Schengen Agreement), OJ 2000 L 239/13. 20 As regards the Dublin regulation see infra notes 45 and 47; as to currently applicable law see notably the Eurodac Regulation (EU) No. 603/2013, OJ 2013 L 180/1, Regulation No. 1052/2013, OJ 2013 L 295/11 as well as Regulation (EU) No. 1624/2016, OJ 2016 L 251/1. 21  Sandro Mezzadra and Brett Neilson, Border as Method, or, the Multiplication of Labor, Durham / London: Duke University Press, 2013; Julie Mostov, Soft Borders: Rethinking Sovereignty and Democracy, New York: Palgrave Macmillan, 2008. 22 See Brigitta Kuster and Vassilis S. Tsianos, “How to Liquefy a Body on the Move: Eurodac and the Making of the European Digital Border,” in: Raphael Bossong / Helena Carrapico (eds.), EU Borders and Shifting Internal Security: Technology, Externalization and Account-

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a single entity, typically: the state as the sovereign of a bordered territory. As Eyal Weizman is contending in an essay dedicated to discuss the principles of post-modern geography, “[c]ontemporary geopolitical space has several frontier characteristics,”23 which is to say that the narrative of “the Westphalian border-based statesystem [is called] into question”24 by a global political plastic25 that combines a variety of actors which, in one way or another, are cooperatively “in charge” of border control mechanisms. If it is the case, that the creation of transnational EU agencies like Frontex, which has a notoriously low level of public accountability, or the collaboration with multinational corporations like G4S in the administration of deportation centres, and the outsourcing of responsibilities to NGOs are not a mere coincidence in the context of the policies endorsed by the EU and its Member States, but rather integral moments of the recent transformation of borderlands26, then it makes indeed sense to come to the conclusion that Europe is vigorously participating in bordering the world in “managerial” terms. It is especially for such reasons that it is hardly credible that the post-national constellation, which is – at least to some extent – reflected by the European integration process, will eventually “foster the consciousness of an obligatory cosmopolitan solidarity,”27 as Jürgen Habermas stipulated in a number of his essays. The predicated end of “civic solidarity”28 as a contingent mode of solidarity “rooted in particular collective identities,”29 that is, in nationalist ideologies that crafted citizens as nationals, is not the (immediate) beginning of a more comprehensive and benign mode of cosmopolitan solidarity. As Étienne Balibar is arguing in his book We, the People of Europe?, we should not forget, in fact, that the “spectre of an apartheid [is] being formed at the same time as European citizenship itself.”30 Balibar’s statement is provocative, for sure, but nonetheless it has been carefully chosen to characterize a situation where the European integration process ­generated “a ability, Heidelberg / et al.: Springer, 2016; see also Shahram Khosravi, ‘Illegal’ Traveller: An Auto-Ethnography of Borders, Basingstoke / New York: Palgrave Macmillan, 2010, 1. 23  Eyal Weizman, “Principles of Frontier Geography,” in: Philipp Misselwitz / Tim ­Rieniets (eds.), City of Collision: Jerusalem and the Principles of Conflict Urbanism, Basel / et al.: Birkhäuser, 2006, 85. 24  Ibid.; see also Didier Bigo, “Frontier Controls in the European Union: Who is in Control,” in: Elspeth Guild / Didier Bigo (eds.), Controlling Frontiers: Free Movement Into and Within Europe, London / New York: Routledge, 2016, 55. 25 See Eyal Weizman, “The Political Plastic,” in: Fulcrum: The AA’s Weekly Free Sheet, 49 (2012). 26 See Michel Agier, Borderlands: Towards An Anthropology of the Cosmopolitan Condition, trans. by David Fernbach, Cambridge / Malden: Polity, 2016. 27  Jürgen Habermas, The Postnational Constellation: Political Essays, trans., ed., and with an introduction by Max Pensky, Cambridge: MIT Press, 2001, 55. 28  Jürgen Habermas (Fn. 27), 108. 29 Ibid. 30  Étienne Balibar, We, the People of Europe? Reflections on Transnational Citizenship, trans. by James Swenson, Princeton / Oxford: Princeton University Press, 2004, 9.

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mass of second-class citizens or subject residents [of so-called ‘third’ countries] ‘at the service’ of Europeans by full right, even when they enjoy long-term or permanent rights of residency.”31 Furthermore, let us also acknowledge that apart from these “second-class citizens” there is an almost uncountable amount of people who are degraded to the status of a post-modern Lumpenproletariat, that is, people who are being treated as “illegal aliens,” as sans-papiers, clandestini, sin papeles, Illegale … These defamed “non-citizens” are, in a sense, a recent phenomenon, but as such their precarious situation is also recalling the protracted history of discrimination that is an often obscured momentum of processes of socialization, since, as Balibar writes, “it is always citizens, ‘knowing’ and ‘imagining’ themselves as such, who exclude from citizenship and who, thus, ‘produce’ non-citizens in such a way as to make it possible for them to represent their own citizenship to themselves as a ‘common’ belonging.”32 What sense might it thus make to speak of “solidarity,” considering that the formation of the EU on the one hand transcends or at least challenges limited versions of “civic solidarity” (among nationals of different Member States) by instituting elements of a more comprehensive EU citizenship, and on the other hand it is also rearing something like a troubling “European apartheid”33 as “the other face of the development of the European union and its quest of identity.”34 If it makes at all sense to speak of “solidarity” in view of such blatant contradictions, than we should rather speak of extremely fractured solidarities, that is, of solidarities that do not just co-exist next to each other, but that are, more often than not, conflicting with each other. This is also to say, that the European integration process may be understood as a process that tries to promote a vague notion of European “solidarity” by simultaneously discriminating a variety of non-European “others” who are being pushed on the side, either as “second-class citizens” or, in extremis, as abject subjects. It comes as no surprise then that unlike those modes of civic solidarity that traditionally differentiated between a friendly “inside” and an unfriendly “outside,” in a bordered world like the contemporary “the traditional figure of the external enemy is being replaced by that of the internal enemy.”35 In other words, the European integration process is also an enormously fertile ground for the growth of new forms of discrimination and of mechanisms of de-solidarisation with people stereotypically conceived as displaced foreigners that cannot and should not be treated as equals, as the much-cited EU “refugee crisis” of the years 2015 and 2016 is illustrating in vivid colours.

  Étienne Balibar (Fn. 30), 44.   Étienne Balibar, Citizenship, trans. by Thomas Scott-Railton, Cambridge / Malden: Polity, 2015, 76. 33  Étienne Balibar (Fn. 30), 65. 34 Ibid. 35  Étienne Balibar (Fn. 30), 172. 31 32

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III. The EU “Refugee Crisis” of 2015/2016 – the Dysfunctionality of the Dublin System and the Renaissance of Member State Unilateralism The so-called “refugee crisis” dominated the public discourse in 2015 and 2016, in Europe in general and in Germany and Austria in particular. This becomes manifest, on the one hand, in “refugees” being chosen as the word of the year 2015.36 On the other hand, it is evidenced by the sheer numbers of persons arriving: Throughout the year 2015, 441,889 applications for international protection were submitted to the German authorities37, 88,340 applications to the Austrian authorities.38 This made Germany and Austria the first- and third-largest recipients in absolute numbers of asylum seekers within the EU, with Sweden being second in line.39 In relative numbers, with 10.3 asylum seekers per 1,000 inhabitants, Austria was, behind Sweden, the second-most frequented EU country, followed by Germany (5.9 asylum seekers per 1,000 inhabitants).40 Even higher was the number of persons crossing through Austria on their way to Germany and further north: It is estimated that more than 800,000 persons transited through Austria between mid-2015 and mid-2016, with only 5 to 10 % among them filing an application for international protection in Austria.41 As a consequence of this heavy transit, Germany received 722,370 applications for international protection in 2016.42 The steep increase in the number of refugees knocking at Austria’s and Germany’s doors was due to at least two interwoven developments: First, in the last years, more and more people started fleeing from conflict zones in Syria, Iraq, Afghanistan, etc., but also crossing over from Africa.43 While countries such as Lebanon,   http://gfds.de/wort-des-jahres-2015/ (last access: 20 June 2017).  See BAMF, “Migrationsbericht 2015,” http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Pub likationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2015.pdf?__blob=publicationFile (last access: 20 June 2017). 38 See BMEIA, “Austrian Integration Report 2016,” https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/ user_upload/Zentrale/Integration/Integrationsbericht_2016/Integration_Report_2016_EN_ WEB.pdf (last access: 20 June 2017). 39 Ibid. 40  Ibid.; Italy with 1.4, Greece with 1.2, France with 1.1, Spain with 0.3, and Poland with 0.3. The European Union average was 2.6 per 1,000. 41  Government ordinance on the determination of threat to public order and inner security, Explanation according to § 36 Abs. 2 AsylG 2005 (Verordnung der Bundesregierung zur Feststellung der Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit, Begründung gemäß § 36 Abs. 2 AsylG 2005). From 803,600 persons transiting through Austria between 5 Sept. 2016, and 6 June 2016, 56,600 requested international protection in Austria. 42 See BAMF, “Schlüsselzahlen Asyl 2016,” http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/ Publikationen/Flyer/flyer-schluesselzahlen-asyl-2016.pdf?__blob=publicationFile (last access: 20 June 2017). 43  4.9 million refugees came from Syria, 2.7 million from Afghanistan and 1.1 million from Somalia; UNHCR, “Global Trends: Forced Displacement in 2015,” http://www.unhcr.org/sta tistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html (last access: 20 June 2017). 36 37

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Jordan, and Turkey shoulder the lion’s share of refugees coming from the Near and Middle East,44 also the number of persons arriving at the borders of the EU has substantially grown over the past years. It is against this background that the second, even more important factor, has realized. In 1990, the EU countries devised a distribution mechanism for asylum seekers, the so-called “Dublin system.”45 Its chief objective was (and is) to identify a single responsible state for every asylum application in order to avoid both “asylum shopping” (i.e. strategic applications in more than one Member State) and the phenomenon of “refugees in orbit” (i.e. the situation where no state accepts responsibility to examine an asylum application).46 While reformed twice since then,47 the substantial features of the system have remained the same. In practice, the most important criterion is that which allocates the responsibility to conduct asylum proceedings (and to care for the needs of asylum seekers while these proceedings are under way) to the Member State whose borders the asylum seeker has “irregularly crossed” from a third country,48 with the other Member States being authorized to send an asylum seeker back to the “Dublin State,” i.e. the Member State responsible according to the Dublin regime.49 Typically, this is a country at the Southern and South-Eastern periphery of the European Union, notably Italy and Malta (from Northern Africa) as well as Greece (from Turkey).50 As living conditions and the quality of the asylum procedure had massively deteriorated in Greece already in the late 2000s, the two highest European courts – the European Court of Human Rights (ECHR) in Strasbourg and the Court of Justice of the European Union (CJEU) in Luxembourg – intervened in 201151 and declared the sending back of asylum seekers to Greece to constitute inhuman and degrading treatment and thus to be in violation of the human rights obligations of the EU Members States seeking to return asylum seekers to the Member State where they originally entered European Union soil.52 This brought the Dublin mechanism to  Ibid.  Convention determining the State responsible for examining applications for asylum lodged in one of the Member States of the European Communities (Dublin Agreement) of June 15, 1990, OJ 1997 C 254/1. 46 See Valsamis Mitsilegas, “Solidarity and Trust in the Common European Asylum System,” in: Comparative Migration Studies 2 (2014): 181 – 202 (here 185); see also European Court of Justice (CJEU), joined cases C-411/10 and C-493/10, N.S., ECLI:EU:C:2011:865, para. 79. 47  Regulation (EC) No. 343/2003, OJ 2003 L 50/1 (Dublin II) and Regulation (EU) No. 604/2013, OJ 2013 L180/31 (Dublin III). 48  See Art. 13 para. 1 Dublin III Regulation. 49  Art. 18 Dublin III Regulation. 50 See Iris Goldner Lang, “Is there Solidarity on Asylum and Migration in the EU?,” in: Croatian Yearbook of European Law and Policy 9 (2013): 1 – 14 (here 6). 51  See European Court of Human Rights (ECHR), Aug. 27, 1997, No. 20837/92, M.S. v. Sweden and ECHR (GC), Jan. 21, 2011, No. 30696/09, M.S.S. v. Belgium and Greece. 44 45

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the brink of collapse – and it has remained in this state of dysfunctionality ever since then. The rising awareness of this dysfunctionality and the poor perspectives for achieving a solidarity-based redistribution mechanism on the EU level53 have made it increasingly attractive for the affected Member States to look for unilateral solutions. While Germany for a considerable amount of time generously made use of the so-called “sovereignty clause” (Selbsteintrittsrecht), provided for in the Dublin Regulation54, Austria quickly became one of the forerunners of unilateralist policies. This harshly contrasts with a quite different approach initially pursued by the Austrian government. The first reaction to the massive increase in the numbers of persons seeking refuge had been to generously allow them to enter the country,55 invoking humanitarian responsibilities and historic traditions regarding the admission of refugees (notably with respect to the Hungarian Uprising of 1956, the Prague Spring of 1968 as well as the dissolution and the wars in Ex-Yugoslavia in the 1990s). The “welcome policy” (Willkommenspolitik) at first adopted on the level of the Austrian government was – just like in Germany – reflected, and reinforced, in the civil society camp with people applauding the arriving refugees, spontaneously providing for food, clothes, and accommodation as well as organizing solidarity concerts such as “Voices for Refugees.”56 Yet, the massive inflow of persons also led to a temporary break-down of the train traffic between Austria and Germany due to the vast number of persons seeking to continue their journey northwards.57 Against this background, in October 2015, the Austrian government reversed its policy and effectively closed the Nickelsdorf border crossing between Austria and Hungary for asylum seekers. Since, also due to similar measures by the Hungarian government, the Eastern Balkans route was not available anymore, the migratory movements relocated to the Western Balkans route. In the case of Austria, this meant that the refugees arriving from the south would now seek to enter the coun52  See e.g. Andreas Th. Müller, “Solidarität in der gemeinsamen europäischen Asylpolitik,” in: Zeitschrift für öffentliches Recht 70 (2015): 463 – 489 (here 477 ff.). 53  See below IV. 54  Art 17(1): “By way of derogation from Article 3(1), each Member State may decide to examine an application for international protection lodged with it by a third-country national or a stateless person, even if such examination is not its responsibility under the criteria laid down in this Regulation.” See “Verfahrensregelung zur Aussetzung des Dublinverfahrens für syrische Staatsangehörige” of 21 August 2015, AZ 411 – 93.605/Syrien/2015, http://www.reinbek. de/files/Fluechtlinge/4_Aussetzung_Dublinverfahren_Syrien.pdf (last access: 20 June 2017). Germany abandoned this policy on 21 October 2015; see BT-Drs, 18/7107, S. 1, 4. 55  Announcement of Federal Chancellor Werner Faymann of 4 Sept. 2015; http://orf.at/sto ries/2296946/2296947/ (last access: 20 June 2017). 56  3 Oct. 2015, Heldenplatz, ca. 100,000 participants; voicesforrefugees.com (last access: 20 June 2017). 57  See http://diepresse.com/home/innenpolitik/4826657/Zugverkehr-Salzburg-Muenchenbleibt-bis-4-Oktober-eingestellt (last access: 20 June 2017).

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try through the Styrian border crossings Spielfeld and Bad Radkersburg between Slovenia and Austria.58 Shortly afterwards, the Austrian government announced to erect a 3.7 km long border fence in Spielfeld in order to be able to better control the border movements in this area and to facilitate the registration of asylum seekers in a “transit zone” near the border.59 The next – and in symbolical terms particularly telling – step was the political agreement, on the occasion of the 20 January 2016 “asylum summit”, to establish an “upper limit” for the admission of asylum seekers to Austria. In September 2015, an amendment to the Austrian constitution60 had been adopted creating a legal obligation for every municipality, town, and city in the country to receive and house at least 15 asylum seekers per 1,000 inhabitants.61 The political agreement on the upper limit took inspiration from that law and set a limit of 127,000 asylum seekers (i.e. 1.5 % of the Austrian population of 8+ million people) for the following four years. The lawfulness of binding upper limits for the admission of persons requesting asylum was controversially discussed, within Austria and beyond. Regarding the latter, the President of the Court of Justice of the European Union, Koen Lenaerts, clearly objected such a measure.62 As concerns the former, also the President of the Austrian Constitutional Court, Gerhart Holzinger, took a negative stand vis-àvis binding upper limits.63 A legal opinion commissioned by the Austrian government64 confirmed that absolute and unconditional upper limits violate international law, EU law, and constitutional law. In particular, the non-refoulement principle, i.e. the prohibition to return persons to a country where they face a real risk of being killed, tortured, or treated inhumanely or degradingly, must be respected at all times, irrespective of capacity concerns on the part of the receiving country.65 58  See http://diepresse.com/home/innenpolitik/4846518/Nickelsdorf-leer-Route-verlagertsich-nach-Sueden?from=suche.intern.portal (last access: 20 June 2017). 59  Wolfgang Benedek, “Recent Developments in Austrian Asylum Law: A Race to the Bottom?,” in: “Constitutional Dimensions of the Refugee Crisis,” special issue, German Law Journal 17, no. 6 (2016): 949 – 966 (here 951); http://derstandard.at/2000027113824/Erste-Zaun pfosten-in-Spielfelder-Boden-getrieben (last access: 20 June 2017). 60  Federal constitutional law on accommodation and allocation of vulnerable foreigners in need of help (Bundesverfassungsgesetz über die Unterbringung und Aufteilung von hilfs- und schutzbedürftigen Fremden), Federal Law Gazette I 120/2015. 61  Ibid., Art. 2 para. 1. 62  http://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/659460/lenaerts-asylrecht-schwer-ver einbar-mit-obergrenze (last access: 20 June 2017). 63  http://derstandard.at/2000032924967/Obergrenze-Gutachten-duerfte-Regierung-Rueckenstaerken (last access: 20 June 2017). 64  Legal Opinion “Völker-, unions- und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den beim Asylgipfel am 20. Januar 2016 in Aussicht genommenen Richtwert für Flüchtlinge” of 29 Mar. 2016, by Professors Bernd-Christian Funk and Walter Obwexer, https://www.bundes kanzleramt.at/DocView.axd?CobId=62571 (last access: 20 June 2017). 65  See ibid., 9; 43 – 44; 48; 77 – 78.

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In addition, the comprehensive corpus of EU law on substantive and procedural aspects of asylum law must be complied with. However, the legal opinion suggests a certain relaxation of these requirements by relying on Article 72 of the Treaty on the Functioning of the European Union (TFEU) according to which those provisions “shall not affect the exercise of the responsibilities incumbent upon Member States with regard to the maintenance of law and order and the safeguarding of internal security.”66 Yet, the availability of this provision to justify a deviation from the guarantees of EU asylum law was critically received within Austria’s legal academia.67 In spite of this criticism, the Austrian government opted for realizing the upper limit. When activating the emergency mechanism68, the government would re-establish border controls (as opposed to the open borders provided for by the Schengen Regime) and set up specific “registration offices.” Asylum seekers would have to submit their applications exclusively at those offices. Yet, such an application would only be accepted, and asylum proceedings conducted, if the person can demonstrate that he or she would face the risk of being killed or tortured or treated in inhuman and degrading fashion if returned (i.e. a violation of the non-refoulement principle) or that his or her presence is mandated in Austria for private or family life reasons.69 If this is not the case, the application would be treated as not having been made in the first place and thus no asylum procedure will be opened.70 Hence, as soon as the mechanism is activated, the right to asylum in Austria would to a large extent be suspended. This has not been the case yet. Yet, the mere existence of the amendment to the Asylum Act making the far-reaching suspension of the right to asylum a realistic scenario has already contributed to a substantial erosion of asylum guarantees in Austria. Even though the numbers of asylum seekers in Austria are declining, notably after the closure of the Western Balkans route in the wake of the EU-Turkey deal in March 2016,71 the Austrian government is continuously working on   See ibid., 15 ff., 41 ff.   See in particular Wolfgang Benedek, (Fn. 59), 954 ff.; see also the reluctant attitude of Christine Langenfeld, „Die “singuläre” deutsche Flüchtlingspolitik – eine Chronik,“ in: Roman Lehner / Friederike Wapler (eds.), Aktuelle Probleme der Flüchtlingspolitik, 2017, (forthcoming). 68  §§ 36 – 41 AsylG 2005, Federal Law Gazette I 24/2016; see in more detail Andreas Th. Müller, „Die Flüchtlingskrise 2015/2016: eine rechtliche Chronik – österreichische Perspektive,“ in: Roman Lehner / Friederike Wapler (eds.), Aktuelle Probleme der Flüchtlingspolitik, 2017 (forthcoming). 69  See Articles 2, 3 and 8 of the European Convention of Human Rights, Federal Law Gazette 210/1958 as amended by Federal Law Gazette III 47/2010, which enjoys the status of constitutional law in Austria. 70  As regards the functioning of the emergency regulation regime see in particular Wolfgang Benedek, (Fn. 59), 955 – 956; Andreas Th. Müller, (Fn. 68). 71  European Council, “EU-Turkey statement, 18 March 2016,” http://www.consilium.eu ropa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-statement/ (last access: 20 June 2017). 66 67

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the tightening up of the accessibility and “attractiveness” of the Austrian asylum system,72 thus making Austria one of the most restrictive countries in admitting asylum seekers.73 In comparison, Germany was pursuing its “welcome policy” (Willkommenspolitik) – encapsulated in the notorious slogan coined by German Federal Chancellor Angela Merkel “Wir schaffen das”74 – for quite a bit longer. However, the enormous numbers of persons seeking refuge in Germany overstretching the administrative-bureaucratic apparatus, but notably also the events of New Year’s Eve 2015/2016 in Cologne resulted in a change in the public opinion. As a consequence, the regime for asylum seekers was tightened in several steps during the year 2016.75 IV. Lack of Solidarity in the Common European Asylum System and the Renationalization of Asylum Policy It has become common to conceive of, and conceptualize, the question of admitting asylum seekers to Europe first and foremost as the “refugee problem” or as a challenge of “burden sharing” which chiefly carries negative associations.76 It is true, however, that the arrival, presence, and inclusion of human beings fleeing from their home countries to the EU create various challenges to the European Union and its Member States which should be coped with in a spirit of solidar­ ity. This is not only a moral claim or a political programme, but a legal principle prominently enshrined in EU law. According to Article 67 paragraph 2 and Article 80 TFEU, the Common Asylum Policy of the European Union shall be “based on solidarity between Member States” and “be governed by the principle of solidarity and fair sharing of responsibility, including its financial implications, between the Member States.” Solidarity is therefore laid down as a principle of EU law in general77 and of EU asylum law in particular.78 72  See only in the last two years Federal Law Gazette I 70/2015 and Federal Law Gazette I 24/2016; see also the draft law of 28 Feb. 2017, https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/ XXV/ME/ME_00279/index.shtml (last access: 20 June 2017). 73 See Wolfgang Benedek, (Fn. 59), 950. 74  See https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/ 2015-08-31-pk-merkel.html (last access: 20 June 2017) and BT-Drs. 18/7783, S. 1, http://dipbt. bundestag.de/doc/btd/18/077/1807783.pdf (last access: 20 June 2017). 75  As to the various legislative and administrative measures taken see Christine Langenfeld, (Fn. 67). 76  See also in official documents: European Parliament resolution of 2 Sept. 2008 on the evaluation of the Dublin system (2007/2262(INI)); see, for instance, the criticism in Valsamis Mitsilegas, (Fn. 46), 186, 190, 198. 77 See Christian Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2nd ed., Baden-Baden: Nomos, 1999; Peter Gussone, Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen, Berlin: Duncker & Humblot, 2006; Martina Lais, Das Solidaritätsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, Baden-Baden: Nomos, 2007; Malcolm Ross / Yuri Borgmann-Prebil (eds.), Promoting Solidarity in the European Union, Oxford: Ox-

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Alas, it is difficult to see such a spirit of solidarity at work when looking at the current asylum policies of EU Member States. First, while lip service may be paid to the need for solidarity mechanisms between Member States, those mechanisms are currently (and in the foreseeable future) not working. Second, the legal discourse – inasmuch as it exists at all – widely focuses on the solidarity between Member States, but not on solidarity with the human beings fleeing to Europe as well as solidarity resources that can be mobilised by those human beings. 1. The Lack of Genuine Solidarity Mechanisms Within the EU Asylum Policy The Common European Asylum System is often identified with the Dublin regime, which is certainly its most well-known component. However, the Dublin system, even when functional (which it is not79), is not providing for mechanisms of redistribution of asylum seekers and is in that sense not a solidarity mechanism.80 The rules for the allocation of responsibility in the Dublin Regulation, as also acknowledged by the European Commission,81 are not accompanied by any relevant corrective mechanisms. The inequalities in terms of distribution of asylum seekers throughout the European Union are rather reinforced by the fact that legal transit to other Member States is not possible since once a Member State becomes responsible for examining an asylum application, it remains the responsible state even if the asylum seeker travels to another EU country.82 ford University Press, 2010; Andreas Th. Müller, “Solidarität als Rechtsbegriff im Europarecht,” in: Clemens Sedmak (ed.), Solidarität: Vom Wert der Gemeinschaft, Wien: Facultas, 2010, 77 – 104; Ségolène Barbou des Places / Chahira Boutayeb, La solidarité dans l’Union européenne: éléments constitutionnels et matériels, Paris: Dalloz, 2011; Andrea Sangiovanni, “Solidarity in the European Union,” in: Oxford Journal of Legal Studies 33 (2013): 213 – 241; Stefan Kadelbach, “Solidarität als europäisches Rechtsprinzip?,” in: Stefan Kadelbach (ed.) Solidarität als Europäisches Rechtsprinzip?, Baden-Baden: Nomos, 2014, 9 – 19. 78  See European Commission, COM(2011) 835 final, 2: “a guiding principle of the common European asylum policy.” 79  See above III. 80 See Jürgen Bast “Solidarität im europäischen Einwanderungs- und Asylrecht,” in: Michèle Knodt / Anne Tews (eds.), Solidarität in der EU, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2014, 143 – 161 (here: 35); Timo Tohidipur, „Solidarität in der europäischen Asylund Flüchtlingspolitik,” in: Otmar Seul / Tomas Davulis (eds.), La solidarité dans l’Union européenne / Solidarität in der Europäischen Union, Bern: Peter Lang, 2012, 175; Iris Goldner Lang, (Fn. 50), 13; Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, 365. 81  See European Commission, COM(2008) 360 final, no. 5. 1. 2.: “The Dublin system was not devised as a burden sharing instrument: nevertheless, its functioning may de facto result in additional burdens on Member States that have limited reception and absorption capacities and who find themselves under particular migratory pressures because of their geographical location.” 82  See ECHR (GC), Jan. 21, 2011, No. 30696/09, M.S.S. v. Belgium and Greece, para. 223.

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Efforts to reform the Dublin regime so as to include a genuine redistribution mechanism have so far failed. In view of the situation in Greece, the Commission had proposed an early warning mechanism that would have provided for a temporary suspension of the Dublin regime to the benefit of a stumbling Member State, with the effect that its peers would have had to shoulder additional responsibilities.83 However, there was no majority in the Council for that proposal.84 When the new Dublin (III) Regulation was adopted in 2013, Member States could solely agree on the introduction of a “mechanism for early warning, preparedness and crisis management.”85 Accordingly, if the Commission establishes that the Regulation’s application “may be jeopardised due either to a substantiated risk of particular pressure being placed on a Member State’s asylum system and / or to problems in the functioning of the asylum system of a Member State,” the latter shall be invited to draw up a “preventive action plan.” If the situation worsens and the Commission establishes that “the implementation of the preventive action plan has not remedied the deficiencies identified or where there is a serious risk that the asylum situation in the Member State concerned develops into a crisis which is unlikely to be remedied by a preventive action plan,” the Commission may request the member state concerned to draw up a “crisis management action plan.” This mechanism might be elaborate, but this cannot change the fact that it remains a purely optional instrument. In addition, it focuses on the Member State under duress, but does not create any obligations for the other Member States to provide assistance. Since the EU “refugee crisis” of 2015/2016 which mostly affected Austria, Germany, and Sweden, it is precisely those States that are now campaigning for such solidarity obligations of the other, less-affected Member States as well as a meaningful redistribution mechanism – after having helped to prevent it for many years before. This rather recent change in attitude tends to undermine the credibility of those Member States, and it does not come by surprise that the Member States which still oppose redistribution mechanisms, as notably the so-called Visigrad Group or the Visigrad Four (i.e. the Czech Republic, Hungary, Poland, and Slovakia), continue to remind Austria and Germany of their previous rejection of redistribution of asylum seekers within the European Union. A year ago, the Commission launched a further attempt to complement, and thereby correct, the misallocation of asylum seekers by the Dublin regime by virtue of a genuine solidarity mechanism. In its proposal for a Dublin IV Regulation, submitted only three years after the adoption of its predecessor, the Commission suggests the creation of a “corrective allocation mechanism.”86 Accordingly, an   See European Commission, COM(2008) 820 final, 9; COM(2011) 835 final, 13.   See Minutes of 3111th Council Meeting Justice and Home Affairs, 22/23 Sept. 2011, Council document No. 14.464/11, 8. 85  Dublin III Regulation, Article 33. 86  European Commission, COM(2016) 270 final (Dublin IV), Chapter VII, Articles 34 – 43. 83 84

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automated system shall monitor each Member States’ share in all asylum applications made within the European Union. The application of the corrective allocation for the benefit of a Member State is triggered automatically where the number of applications for international protection for which a Member State is responsible exceeds 150 % of the figure identified in the respective reference key. This key is calculated based on two criteria with equal 50 % weighting, namely the size of the population and the total GDP of a Member State. As of the triggering of the mechanism, all new applications lodged in the Member State experiencing the disproportionate pressure are proportionately allocated to the other Member States. However, a Member State of allocation may decide to temporarily not take part in the corrective mechanism for a twelve months-period. Such a Member State must then make a solidarity contribution of EUR 250,000 per applicant.87 Not surprisingly, also this proposal was doomed to failure. Currently at least, the qualified majority in the Council that would be needed to adopt a general and binding redistribution mechanism does not seem politically feasible. Alas, the state of inter-Member State solidarity is even worse. On 22 September 2015, the Council had adopted a decision in which it relied, for the first time, on Article 78 paragraph 3 of the TFEU.88 Pursuant to this provision, in the event of one or more Member States being confronted with an emergency situation characterized by a sudden inflow of nationals of third countries, the Council may adopt provisional measures for the benefit of the Member States concerned. On this basis, the Council decided that, as a one-time solidarity measure, 120,000 asylum seekers should be relocated from Greece and Italy to the other Member States. Even though the Visigrad States as well as Romania fervently opposed this measure and even though Slovakia and Hungary even took it to the Court of Justice of the European Union,89 the decision was adopted by qualified majority and is thus legally binding. Yet, the implementation of the decision, many months after its adoption and entry into force, is still highly disappointing90 so that the policy of binding relocation measures among Member States, even if only in single instances, must be deemed to have failed.   See ibid., Explanatory Memorandum to Proposal, II.   Council Decision (EU) 2015/1601 of 22 Sept. 2015 establishing provisional measures in the area of international protection for the benefit of Italy and Greece, OJ 2015 L 248/80. 89  CJEU, case C-643/15, Slovakia / Council; case C-647/15, Hungary / Council; hearing on 10 May 2017; both cases still pending. 90  Relocated from Greece: 14.297; relocated from Italy: 7.045 (as of 16 June 2017); European Commission, “Member States’ Support to Emergency Relocation Mechanism,” https:// ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/what-we-do/policies/european-agenda-mi gration/press-material/docs/state_of_play_-_relocation_en.pdf (last access: 20 June 2017); see also resistance of Czech Republic (accepted only 12 and rejects to take more after terrorist attacks in Manchester and London, http://derstandard.at/2000058770169/Tschechien-nimmtkeine-Fluechtlinge-mehr-auf (last access: 20 June 2017)) and Commission’s announcement to launch infringement procedures against the Czech Republic, Hungary and Poland, http:// europa.eu/rapid/press-release_IP-17 – 1607_en.htm (last access: 20 June 2017). 87 88

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As an alternative, and arguably more appropriate concept, the Visigrad States are now advertising mechanisms of “flexible solidarity.”91 Hence, every Member State shall, on the basis of its experience, social structure, and economic potential, make voluntary contributions to handle the challenges faced by the European Union and its Member States. For those critical of the concept, the call for voluntariness is only a pretext to evade any effective solidarity mechanism and, even worse, to avoid the admission of persons of different (notably Muslim) religion and creed to avowedly Christian nations. While Austria is so far (albeit rather lukewarmly) distancing itself from such “Occidentalist” advances on the part of the Visigrad States, the spirit of unilateralism becoming manifest in their political rejection and sabotage of legally binding relocation decisions is mirrored in Austria’s own unilateralist ambitions, as described before in relation to the adoption of upper limits, with seeming reliance on Article 72 of the TFEU.92 Against this background, we are witnessing a general trend of renationalizing asylum and migration policies, which belies the long-standing efforts to establish a Common European Asylum System. The existing solidarity mechanisms – the Asylum, Migration and Integration Fund (AMIF)93 which administers an amount of EUR 3.136 billion for 2014 – 2020 as well as the European Asylum Support Office (EASO)94, the EU’s asylum agency in La Valletta with its mostly technical mandate – are not sufficiently relevant to compensate for the massive centrifugal forces that are currently impacting on the European asylum system. 2. The One-sidedness of the European Solidarity Discourse The afore-cited Articles 67 and 80 of the TFEU expressly refer to the solidarity between Member States. And indeed, this is what the EU Treaties95 and, following 91 Joint Statement of the Heads of Governments of the V4 Countries, http://www.vise gradgroup.eu/calendar/2016/joint-statement-of-the-160919 (last access: 20 June 2017); Mar­kus Kotzur, “Flexible Solidarity – Effective Solidarity?,” in: voelkerrechtsblog.org, 2016, https:// voelkerrechtsblog.org/flexible-solidarity-effective-solidarity/ (last access: 20 June 2017); Solon Ardittis, “Flexible solidarity: Rethinking the EU’s refugee relocation system after Bratislava,” in: blogs.lse.ac.uk, 2016, http://bit.ly/2cCR3Yo (last access: 20 June 2017); Zsuzsanna Végh, “‘Flexible solidarity’: Intergovernmentalism or Differentiated Integration: The Way out of the Current Impasse,” in: visegradinsight.eu, 2016, http://visegradinsight.eu/flexible-solidarity/ (last access: 20 June 2017). 92  See above III. 93  Regulation (EU) No. 516/2014, OJ 2014 L 150/168. 94  EASO, https://www.easo.europa.eu/ (last access: 20 June 2017). 95  See also Articles 23, 31 and 32 of the Treaty on European Union (TEU) as well as Article 78 paragraph 3, Article 122, Article 174, Article 175, Article 194 and in particular Article 222 of the Treaty on Functioning of the European Union (TFEU), the latter constituting the socalled “solidarity clause” in the EU Treaties; see in this regard Antonio-Maria Martino, The Mutual Assistance and Solidarity Clause: Legal and Political Challenges of an Integrated EU Security System, European University Studies, Frankfurt: Peter Lang, 2014.

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them, the predominant legal discourse are focusing on.96 Hence, the legal debate on solidarity and the lack of genuine solidarity mechanisms within the EU revolves around this dimension of solidarity. At the same time, there have been (so far widely unheard) calls for a need to develop a more comprehensive perspective on the concept of solidarity within EU law.97 A first step in this regard is becoming aware that the EU Treaties, at a closer look, do not only provide for solidarity between Member States, but also for transnational solidarity with human beings in other EU Member States. This becomes manifest first and foremost in the guarantees emerging from EU citizenship, i.e. the rights of EU citizens and their close relatives (even of third-country nationality) to travel to and reside within other EU Member States, including non-discriminatory access to social welfare, the education and healthcare system, etc. This transnational aspect of EU solidarity is prominently reflected in the EU Fundamental Rights Charter, which includes a special title devoted to “solidarity.”98 Furthermore, the Charter’s preamble as well as Article 2 of the Treaty on European Union (TEU) guarantee that the European Union is founded on the indivisible, universal values of human dignity, freedom, equality, and solidarity. This testifies to an understanding of solidarity that transcends a mere Member States-focused perspective of burden sharing. Inasmuch as the afore-cited provisions refer to solidarity as an “indivisible and universal value,”99 the perspective is widened so as to go beyond the borders of the European Union and to include human beings in a spirit of trans-EU solidar96  Daniel Fröhlich, Das Asylrecht im Rahmen des Unionsrechts: Entstehung eines föderalen Asylregimes in der Europäischen Union, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, 262 ff.; 317 ff.; Roland Bieber / Francesco Maiani, “Ohne Solidarität keine Europäische Union: Über Krisenerscheinungen in der Wirtschafts- und Währungsunion und im Europäischen Asylsystem,” in: Astrid Epiney / Tobias Fasnacht (eds.), Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht 2011/2012, Bern: Stämpfli Verlag, 2012, 297 – 328 (here 311 ff.); Paul McDonough / Evangelia Tsourdi, “The ‘Other’ Greek Crisis: Asylum and EU Solidarity,” in: Refugee Survey Quarterly 31 (2012): 67 – 100 (here 67 ff.); Reinhard Marx, “Solidarität im grundrechtskonformen europäischen Asylrechtssystem,” in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (2012): 409 – 413 (here: 409 ff.); Iris Goldner Lang, (Fn. 50), 1 ff.; C.A. Groenendijk, “Solidarität im europäischen Einwanderungs- und Asylrecht,” in: Klaus Barwig et al. (eds.), Solidarität: Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht 2012, Baden-Baden: Nomos, 2013, 41 – 52 (here 41); Peter Hilpold, “Soli­ darität im EU-Recht: Die ‘Inseln der Solidarität’ unter besonderer Berücksichtigung der Flüchtlingsproblematik und der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion,” in: Europarecht (2016), 373 – 404 (here 389 – 390). 97  Timo Tohidipur, (Fn. 80), 164, 179; Valsamis Mitsilegas, (Fn.  46), 186 – 187; Reinhard Marx, (Fn. 95), 189; Jürgen Bast, (Fn. 80), 21; see also European Commission, COM(2011) 835 final, 12: “[…] especially as the Union has a duty not only to its Member State, but also to asylum applicants”; see also Andreas Th. Müller, (Fn. 52), 465 ff. 98  See Charter of Fundamental Rights of the European Union, Title IV, Articles 27 – 38. 99  The wording is inspired by the Vienna Declaration and Programme of Action, as adopted by the World Conference on Human Rights in Vienna, 25 June 1993, no. 4: “All human rights are universal, indivisible and interdependent and interrelated.”

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ity. Moreover, as the preamble of the EU Fundamental Rights Charter stipulates that the European Union “places the individual at the heart of its activities,” the well-being of all human beings, not only EU citizens, should be the yardstick of the European Union’s action. This cosmopolitan perspective inherent to the EU Treaties further becomes manifest in Article 21 of the TEU according to which “the Union’s action on the international scene shall be guided by the principles which have inspired its own creation, development and enlargement, and which it seeks to advance in the wider world,” amongst others “the principle of solidarity.” Hence, the constitutional framework of the European Union indeed provides for a legal basis for solidarity beyond its borders. At the same time, such trans-EU solidarity is systematically marginalized in the predominant EU law discourse. Indeed, “the way in which the concept of solidarity has been theorised in EU law leaves little, if any space for the application of the principle of solidarity beyond EU citizens or those ‘within’ the EU and its extension to third-country nationals or those on the outside.”100 This gives rise to the one-sidedness from which the current EU solidarity discourse direly suffers. It tends to conceive of the human beings leaving their countries of origin and fleeing to the European shores and borders primarily as a “burden” whose financial and other implications are (or are not) to be shared between the Member States, making “the refugees” mere objects of the political discourse. In particular, “the refugees” are not seen as subjects and actors in their own right, who are also engaged in mobilizing solidarity resources.

V. Reconfigurations of Solidarity Across Borders: The Many Cases of Refugee Protest Camps Around Europe It is to our opinion paramount to discuss the question of “solidarity” not solely from the rather elevated angles of a complex institutional twist that results from the dysfunctionality of the Dublin System, the heterogeneous interests of EU Member States, and the antagonistic tensions between the supporters of a welcome culture on the one hand and the campaigners of aggressive movements like the Identitarians, Casa Pound, PEGIDA, etc. on the other. What matters also, especially if we want to explore viable alternatives in the midst of this European aporia, is to consider how people who more often than not are governed as suspicious “illegals” at the margins of European society are making themselves count while reconfiguring a sense of solidarity that radically differs from the ones that can be attributed to the aforementioned parties. Unlike a catastrophist approach to the situation of people who are usually not even considered as relevant interlocutors, since they are identified as a “voiceless humanitarian victim”101 (or as a heinous trespasser)   Valsamis Mitsilegas, (Fn. 46), 187, criticizing the EU solidarity concept as “exclusion-

100

ary.”

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that has nothing significant to say, it is indeed important to acknowledge that even in extremely precarious circumstances, people are still able to form supportive alliances, to move through streets together, to collectively squat squares, that is, to transmit a sense of unruly agency despite everything. Or, as Judith Butler argues in conversation with Athena Athanasiou, we should learn to perceive that in the case of people who officially do not “count,” the “exercise of the right [to assemble, to voice protest, etc.] is something that happens within the context of precarity and takes form as a precarious exercise that seeks to overcome its own precarity.”102 There are indeed innumerable episodes which, in addition to a vast abundance of barely noticeable efforts of daily subversion, signal that people, whose right of being here is being disputed, are repeatedly becoming visible as defiant subjects on the edges of European publicity: from the occupation of the Parisian church Saint-Bernard de la Chapelle by sans-papiers (1996) to the Caravan for the Rights of Refugees and Migrants in Bremen (1998), the movement of the sin papeles in Catalonia (2001), the institution of a Universal Embassy in Brussels (2001), the Campaign Against Deportations, Deportation Centers and Deportation Camps in Berlin (2002), the jailbreak from the Centro di permanenza temporanea ed assistenza on Lampedusa (2011), the first European March of Sans-Papiers and Migrants to the European Parliament in Strasbourg (2012), to the on-going Refugee Strikes and Refugee Tent Actions (since 2013) in Germany and Austria. Any attempt to accurately “enumerate” these entangled stories of resistive solidarity will be in vain, since all these intertwined nodes of “non-civic” and yet civil disobedience are not only illustrating an extraordinary richness of scenes of demonstrative disagreement, but, moreover, these nodes are also unequally connected with one another in the contemporary webs of power. The various stories of resistive solidarity on the part of “illegals” – as temporary, unstable, or precarious as they may appear – contribute to denaturalize the idea of a genuinely “native” social fabric (between Europeans). They do so by addressing the latent and overt discrimination invested in bourgeois institutions and EU policies, and by confronting these institutions and policies (that are propelling nativist sentiments) with a hyperbolic desire that cannot be satisfied under the given conditions. This desire, which may manifest itself as an uprising desire in periods of political tension, but that is latently present also at other times, can be termed a transversal and transnational democratic or, better, a radical democratic desire.103 What is being articulated by “illegals,” when they charge the names that are either given to (for example sans-papiers) or taken from (for example refugees) them by starting to use such names as political names in the face of the manifold discrimination they are 101  Michel Agier, On the Margins of the World: The Refugee Experience Today, trans. by David Fernbach, Cambridge / Malden: Polity, 2008, 64. 102  Judith Butler (in conversation with Athena Athanasiou), Dispossession: The Performative in the Political, Cambridge / Malden: Polity, 2013, 101. 103 See Oliver Marchart, Der demokratische Horizont: Politik und Ethik radikaler Demokratie, Berlin: Suhrkamp [to be published in 2018].

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experiencing, is nothing less than this: an indefinite plurality of alienated “others,” that is, a plurality without essence.104 It is an indefinite and somehow also diasporic plurality of people, who are not being bound together by any attribute (identity) in particular, but who are assembling the multitude of their existences in the name of alternative configurations of solidarity, namely of a solidarity across borders. In most of these exemplary scenes of unrest, people who are governed as “illegals” repeatedly and deliberately violated provisions – whether this be laws or other (sometimes extra-legal) measures – that are limiting their right of abode and freedom of movement in Europe: in the case of the first European March of Sans-Papiers and Migrants, it was part of the demonstrators’ political programme that they publicly crossed interstate borders between Member States and associated States of the EU without the necessary authorization (since none of these borders simply ceased to exist for “illegals,” despite the establishment of the Schengen regime). In the case of the caravan of Refugees that started from Würzburg, the demonstrators explicitly violated the residency requirement (Residenzpflicht), as a number of federal states of Germany require asylum seekers to remain within a designated area. And in the case of Traiskirchen too, the Refugees did not comply with the territorial restrictions for asylum seekers whose residency status has yet to be determined by the authorities. It should be noted in this respect then that the resistive solidarity on the part of “illegals,” who are assembling, marching, and insurging on the street and in front of national landmarks, is already unfolding with the different movements in which they are participating as litigious political subjects. In other words, their disobedience cannot be reduced to the single political demands that are being articulated in terms of a manifesto or agenda – it is also a matter of an embodied experience that becomes politicised. As Judith Butler argues in her essay “Bodies in Alliance and the Politics of the Street,” it is in fact critical to realise that political actions do (necessarily) involve bodies that “congregate, they move and speak together, and they lay claim to a certain space as public space.”105 At the same time it is at least as critical to recall, however, as Butler further accentuates, that “conditions of persistence and of power”106 are unequally distributed. Discriminatory conditions that are experienced and eventually even embodied in everyday life are not destiny, nevertheless. Such conditions are being disputed whenever (illegitimate) “bodies on the street,” as Butler puts it, “redeploy the space of appearance in order to contest and negate the existing forms of political legitimacy.”107 In all those moments 104 See Jacques Rancière, Dis-Agreement: Politics and Philosophy, trans. by Julie Rose, Minneapolis: University of Minnesota Press, 43 – 60; see also Isabell Lorey, State of Insecur­ ity: Government of the Precarious, with a foreword of Judith Butler, trans. by Aileen Derieg, London / New York: Verso, 2015, 9 – 10. 105  Judith Butler, Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge / London: Harvard University Press, 2015, 70. 106  Judith Butler (Fn. 105), 74. 107  Judith Butler (Fn. 105), 85.

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when people decide to publicly demonstrate their clandestine lives in the name of the right of abode and the freedom of movement, that is, in the name of equaliberty108, they generate a resistive solidarity that is politically promising, for it reflects a social affectivity that can neither be nationalised nor can it be accommodated in an inter-national framework. In other words, it is a sense of solidarity that transgresses all the unseen borderlines which are repeatedly drawn between human rights and civil rights in order to deny a political valence that counts in the end: the political valence “of the equation Man = Citizen.”109 VI. Pushing the European Frontiers of Solidarity Toward the end of this paper, let us briefly return to its beginning. After the performance of Jelinek’s theatre play was interrupted by a group of Identitarian activists, the refugee-actors decided to return on stage and to continue the “show.” Considering that “the theater is the political art par excellence,” as Hannah Arendt writes in The Human Condition, for “only there is the political sphere of human life transposed into art,”110 we may in turn argue that the vulnerable performance of this theatre play is demonstrating how precarious such transpositions can be. The theatre play was not just political in terms of that what was finally seen on stage, but also in terms of what did happen between the stage and the audience,111 that is, in terms of the participants’ “differential inclusion”112 in this – dramatic – scene. In this sense then, the interruption of the theatre play is quite telling for it reflects the European situation in a miniaturized format and calls into question the notion of “solidarity” in the midst of a complex crisis that affects people unequally. Respectively, the recent EU “refugee crisis” is, before anything else, a crisis of Europe’s “performance,” its narratives, its constitution, its institutions, its past and its future, in short: it is mainly a crisis of Europe’s place in a globalising world. This is also to say that the disputed presence of people who are, at best, granted provisional legal statuses while being pushed around between various facilities or countries, if not threatened with deportation or forced to hide in clandestinity, is not the cause, but rather the catalyser of the current crisis – a crisis which is by no means unique, but that is linked to the global debt crisis and to the global environmental crisis, amongst others. While the return to a nationalist “civic solidarity” is 108 See Étienne Balibar, Equaliberty: Political Essays, trans. by James Ingram, Durham / Lon don: Duke University Press, 2014. 109 See Étienne Balibar (Fn. 108), 50. 110  Hannah Arendt, The Human Condition, second edition, with an introduction by Margaret Canovan, Chicago / London: The University of Chicago Press, 1988, 188. 111 See Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics: The Distribution of the Sensible, trans. and with an introduction by Gabriel Rockhill, afterword by Slavoj Žižek, London / New York: Continuum, 2004, 17. 112  Sandro Mezzadra and Brett Neilson (Fn. 21), 159.

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not only a nostalgic, but for many reasons also a retarded longing, the departure to an internationalist “cosmopolitan solidarity” is constantly delayed and ultimately also illusive under the present conditions. Similarly to Seyla Benhabib’s argument concerning “the concept of ‘democratic iterations’”113 that are jurisgenerative to the extent that repeated negotiations regarding “the self-definition and composition of the demos”114 are slowly but steadily changing people’s sense of being a people, we would also like to stress that the repeated contestations on the part of people who are treated as “non-citizens” in the context of a dysfunctional Dublin system might have the power to push the European frontiers of solidarity. They might have the power to do so by inviting us to participate in transversal and transnational alliances across borders and by eventually also altering existing boundaries of citizenship.115 This is by no means a one-dimensional, let alone straightforward process. It is an arduous process that involves the risk of sparking nativist passions and that demands also a comprehensive infrastructural support of institutions and procedures that do not yet exist, but that could be invented in the very process. But more than anything else it will challenge radically our perceptions of the world, our affectivities, in short: our accustomed privileges in terms of a project, which, according to Gayatri Chakravorty Spivak, amounts to “un-learning our privilege as our loss.”116 But as such this process of pushing the European frontiers of solidarity by learning to recognise the rights of “others,” who are treated as if they were lawless beings, is also infinitely more promising than the current situation, which for many too many people resembles a depressing European limbo. Zusammenfassung Wenn es sich so verhält, wie wir in unserem Beitrag argumentieren werden, dass sich Grenzen in den vergangenen Jahrzehnten umfassend verändert, sprich: pluralisiert und verschoben haben, dann besteht Grund zur Vermutung, dass insbesondere der Begriff der „Solidarität“ ein ethisch wie politisch, aber auch rechtlich fragwürdiger ist. Es handelt sich insofern um einen problematischen Begriff, als er die Widersprüche einer Welt, welche auseinanderzufallen droht, während sie zusammenwächst, komprimiert zum Ausdruck bringt. Wie wir anhand einer transdisziplinären Diskussion dieses Begriffs im Kontext einer mehrfach „begrenzten“ 113  Seyla Benhabib, The Rights of Others: Aliens, Residents and Citizens, Cambridge / et al.: Cambridge University Press, 2004, 19 – 21; 171 – 212. 114  Seyla Benhabib (Fn. 113), 20. 115  See in this respect for example Étienne Balibar, “What we Owe to the Sans-Papiers,” trans. by Jason Francis Mc Gimsey and Erica Doucette, in: Transversal: Flee, Erase, Territorialize, 03 (2013), http://transversal.at/transversal/0313/balibar/en (last access: 14 June 2017). 116  Gayatri Chakravorty Spivak (in conversation with Elizabeth Grosz), “Criticism, Feminism, and the Institution,” in: Gayatri Chakravorty Spivak, The Post-Colonial Critic: Interviews, Strategies, Dialogues, ed. by Sarah Harasym, New York / London: Routledge, 1990, 9.

A Question of Solidarity

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Welt erörtern werden, erweist sich gerade der europäische Einigungsprozess als fruchtbarer Boden für das Wuchern neuer Dynamiken von Diskriminierung und Desolidarisierung. Dies führt u. a. zur stereotypen Wahrnehmung von unzähligen Drittstaatenangehörigen als „Fremden“, deren Gleichbehandlungsanspruch abgelehnt wird. Wie wir im Detail belegen und illustrieren werden, haben sich diese Dynamiken mit der so genannten „Flüchtlingskrise in Europa“ der Jahre 2015/2016 sukzessive verschärft und im Fall der Dysfunktionalität des Dublin-Systems lassen sie sich besonders deutlich erkennen. Entgegen den unilateralen Tendenzen mancher EU-Mitgliedsstaaten, welche in Summe eine Renationalisierung von Kompetenzen im Flüchtlingsbereich favorisieren, werden wir im letzten Teil unseres Beitrages auf die wiederholten Anstrengungen vonseiten Menschen zu sprechen kommen, die pauschal als „Illegale“ diskreditiert werden und mit streitbaren Interventionen einen alternativen Sinn für Solidarität sozusagen „von unten“ erfinden, der trotz aller Prekarität vielversprechend sein könnte.

Die Richtlinien zur Arbeitsmigration von Drittstaatsangehörigen in der EU– Eine Analyse im Lichte der Gleichstellung von Mann und Frau Sarah Progin-Theuerkauf und Margarite Zoeteweij-Turhan1

I. Einleitung Die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten haben nach Art. 10, Art. 19 Abs. 1 und Art. 157 AEUV sowie Art. 21 und 23 der Grundrechtecharta (GRC) eine Pflicht zur Vermeidung von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts. Dies umfasst auch den Bereich des Migrationsrechts. Die Verpflichtung gilt dabei gegenüber Unionsbürgern ebenso wie gegenüber Drittstaatsangehörigen. Auf den ersten Blick scheinen sich die europarechtlichen Instrumente zur Steuerung der regulären Arbeitsmigration von Drittstaatsangehörigen in die EU in der Tat sowohl an weibliche als auch an männliche Migranten zu richten. Aber ist dies wirklich der Fall? Oder enthalten die Richtlinien versteckte Hindernisse, die sie für weibliche Arbeitskräfte unattraktiv machen? Falls dem so ist, wie kann das Recht so angepasst werden, dass hier Abhilfe geschaffen wird? Diese Fragen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. II. Hintergrund: Die Entwicklung der europarechtlichen Regelungen zur Einwanderung von Drittstaatsangehörigen Um die in Kapitel III. analysierten Regelungen rechtlich einordnen zu können, soll im Folgenden die Entwicklung des Europäischen Migrationsrechts skizziert werden.

1 Prof. Dr. iur. Sarah Progin-Theuerkauf ist assoziierte Professorin für Europarecht und Migrationsrecht, Co-Direktorin des Zentrums für Migrationsrecht und Projektleiterin im Rahmen des NCCR-on the move, Universität Fribourg / Schweiz. Dr. iur. Margarite Zoeteweij-Turhan ist Senior Researcher im Rahmen des NCCR-on the move, Universität Fribourg / Schweiz. Die Autorinnen danken Salome Schmid, MLaw, für ihre wertvolle Hilfe bei der Erstellung des Beitrags.

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1. Politische Entwicklung Bereits der Europäische Rat 1999 in Tampere2 hatte es zur Aufgabe der Union erklärt, eine „gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen“ sicherzustellen, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten: „Eine energischere Integrationspolitik sollte darauf ausgerichtet sein, ihnen vergleichbare Rechte und Pflichten wie EU-Bürgern zuzuerkennen. Zu den Zielen sollte auch die Förderung der Nichtdiskriminierung im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben und die Entwicklung von Massnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gehören. […] Die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen sollte der Rechtsstellung der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden.“ Das Haager Programm von 20053 erkannte erstmals die Notwendigkeit an, auf EU-Ebene ein Konzept zur Steuerung der Migrationsströme auszuarbeiten, das sich sowohl mit der legalen als auch der illegalen Zuwanderung befasst. Im gleichen Atemzug wurde auch eine gemeinsame Einwanderungspolitik gefordert, die Zulassungskriterien und -verfahren regelt und denjenigen, welchen die Einwanderung gestattet wird, eine klare Rechtsstellung und eine Reihe garantierter Rechte gewährt, um ihre Integration zu erleichtern. Das Stockholmer Programm4 von Dezember 2009 forderte schliesslich die Erarbeitung einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik bis spätestens 2014. Hierzu sollten zunächst die Rechtsvorschriften im Bereich der Einwanderung konsolidiert werden. Im Jahr 2014 wurde das sog. „Post-Stockholm-Programm“5 verabschiedet, das in Anhang I die Strategie der Union im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die nächsten Jahre festschreibt. Unter Punkt 4 findet sich dort als Ziel eine bessere Steuerung von Migration in jeder Hinsicht; unter anderem wird die Beseitigung der Knappheit besonderer Fachkenntnisse und die Anziehung von Talenten gefordert. Die Europäische Kommission hat in der Europäischen Migrationsagenda6 eine neue Politik für legale Migration als einen der vier Schwerpunkte für eine bessere Steuerung der Migration identifiziert (Punkt III. 4). Hierin kündigte die Kommis2  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat von Tampere, SN 200/99, online abrufbar unter http://www.europarl.europ a.eu/summits/tam_de.htm (zuletzt besucht am 12. 6. 2017). 3  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Das Haager Programm: Zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre, Die Partnerschaft zur Erneuerung Europas im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, KOM (2005) 0184 endg. 4  Stockholmer Programm, ABl. C 115 vom 4. 5. 2010, S. 1 ff. 5  European Council, Conclusions 26/27 June 2014, Strategic Agenda for the Union in Times of Change, online abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/press data/en/ec/143478.pdf (zuletzt besucht am 12. 6. 2017). 6  KOM (2015) 240 endg.

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sion u. a. ein Paket zur Arbeitnehmermobilität und eine Initiative zu Fachkenntnissen an. Als Ziele werden auch die Verabschiedung einer neuen Richtlinie für Studenten und Forscher und eine Reform der Blue Card-Richtlinie genannt.7

2. Sekundärrechtsakte im Bereich der legalen Migration von Drittstaatsangehörigen Im Jahr 2001 legte die Europäische Kommission erstmals einen Vorschlag für eine „Richtlinie über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit”8 vor, der aber am Widerstand der Mitgliedstaaten scheiterte. Es hätte sich dabei um ein Rahmeninstrument für die Arbeitsmigration von Drittstaatsangehörigen gehandelt. Seither geht der Rechtsetzungsprozess in Bezug auf die Rechtsstellung Drittstaatsangehöriger nur schleppend voran; die Kommission hat sich für ein eher an den Bedürfnissen der mitgliedstaatlichen Arbeitsmärkte orientiertes sektorielles Vorgehen nach bestimmten Kategorien von Personengruppen entschieden, ergänzt durch einige transversale Instrumente.9 Es lässt sich eine klare Tendenz dazu erkennen, Auswahlmechanismen zu definieren und nur vom Arbeitsmarkt innerhalb der EU nachgefragten Drittstaatsangehörigen Zugang zu gewähren, alle anderen hingegen auszuschliessen.10 In chronologischer Reihenfolge wurden zunächst die Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG11 und die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG12 erlassen, gefolgt von der Richtlinie 2004/114/EG über Studenten, Schüler, Praktikan  Dazu sogleich.   KOM (2001) 386 endg. 9  Vgl. dazu auch T. Gross / A. Tryjanowski, Der Status von Drittstaatsangehörigen im Migrationsrecht der EU – Eine kritische Analyse, Der Staat, Vol. 48, No. 2, S. 259 – 277; P. Boeles / M. den Heijer, G. Lodder / K. Wouters, European Migration Law, 2nd edition, 2014, 127 ff.; S. Posse-Ousmane / S. Progin-Theuerkauf, L’émergence d’une politique européenne de migration choisie, in: Institut für Europarecht (Hrsg.), Die Schweiz und die europäische Integration / La Suisse et l’intégration européenne, 20 Jahre Institut für Europarecht / 20 ans de l’Institut de droit européen, 2015, S. 141 – 169. 10  T. Gross / A. Tryjanowski, Der Status von Drittstaatsangehörigen im Migrationsrecht der EU – Eine kritische Analyse, Der Staat, Vol. 48, No. 2, 259, 276. 11  Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. L 16 vom 23. 1. 2004, S.  44 – 53. Dazu S. Posse-Ousmane, Le statut des résidents de longue durée – Analyse de la directive 2003/109/CE et jurisprudence récente de la CJUE, in: Jusletter 18. März 2013. 12  Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. L 251 vom 3. 10. 2003, S. 12 – 18. Vgl. dazu S. Posse-Ousmane / S. Progin-Theuerkauf, Le regroupement familial des ressortissants d’Etats tiers en Europe, Régimes juridiques et tendances actuelles, in: Jusletter 16. März 2015. 7 8

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ten, etc.13 und der Richtlinie 2005/71/EG über Forscher14. Im Jahr 2009 wurde die Blue Card-Richtlinie 2009/50/EG15 und 2011 die Richtlinie 2011/98/EU über eine kombinierte Erlaubnis16 erlassen. Zuletzt verabschiedeten Rat und Parlament die Saisonarbeiterrichtlinie 2014/36/EU17 sowie die ICT-Richtlinie 2014/66/EU18. Im Jahr 2016 wurden die bis dahin getrennten Richtlinien zu Forschern und Studenten von 2004 und 2005 in eine Richtlinie fusioniert und überarbeitet; daraus wurde die neue Forscher- und Studenten-Richtlinie 2016/801/EU.19 13  Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst, ABl. L 375 vom 23. 12. 2004, S. 12 – 18. Vgl. dazu S. Posse-Ousmane, L’admission des chercheurs, étudiants, élèves, volontaires et stagiaires dans l’UE – Vers une Europe du savoir?, in: Jusletter 17. März 2014. Vgl. auch den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einem bezahlten oder unbezahlten Praktikum, einem Freiwilligendienst oder zur Ausübung einer Au-pair-Beschäftigung, KOM (2013) 151 endg. 14  Richtlinie 2005/71/EG des Rates vom 12. Oktober 2005 über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung, ABl. L 289 vom 3. 11. 2005, S. 15 – 22. Vgl. dazu S. Posse-Ousmane, L’admission des chercheurs, étudiants, élèves, volontaires et stagiaires dans l’UE – Vers une Europe du savoir?, in: Jusletter 17. März 2014. 15  Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl. L 155 vom 18. 6. 2009, S. 17 – 29. Dazu S. Posse-Ousmane, Les conditions d’admission et de séjour des travailleurs hautement qualifiés dans l’UE – Une analyse de la Directive Carte Bleue, 2017. 16  Richtlinie 2011/98/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über ein einheitliches Verfahren zur Beantragung einer kombinierten Erlaubnis für Drittstaatsangehörige, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten und zu arbeiten, sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten für Drittstaatsarbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, ABl. L 343 vom 23. 12. 2011, S. 1 – 9. 17  Richtlinie 2014/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Beschäftigung als Saisonarbeitnehmer, ABl. L 94 vom 28. 3. 2014, S. 375 – 390. 18  Richtlinie 2014/66/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen eines unternehmensinternen Transfers, ABl. L 157 vom 27. 5. 2014, S. 1 – 22 (ICT-Richtlinie). Dazu S. Progin-Theuerkauf, Unternehmensinterne Transfers in der EU – Eine neue Form der Mobilität für Drittstaatsangehörige, in: Jusletter 14. März 2016. 19  Richtlinie (EU) 2016/801 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit ABl. L 132 vom 21. 5. 2016, S. 21 – 57. Dazu A. Vaitkeviciute, Migra­ tion and mobility of third-country researchers and students in the European Union and Switzerland, in: Jusletter 13. Februar 2017, Punkt 2. Vgl. bereits den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur

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Im Juni 2016 veröffentlichte die Kommission schliesslich einen Vorschlag zur Reform der Blue Card-Richtlinie.20 Ob und wann dieser angenommen wird, ist aktuell noch offen. 3. Bemerkungen zu Art. 79 AEUV Rechtsgrundlage der o. g. Richtlinien ist Art. 79 Abs. 2 lit. a und b AEUV. Nach Art. 79 Abs. 1 AEUV entwickelt die EU „eine gemeinsame Einwanderungspolitik, die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll“. Art. 79 Abs. 2 AEUV sieht vor, dass das Parlament und der Rat zu den in Abs. 1 genannten Zwecken gemäss dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (vgl. Art. 294 AEUV) Massnahmen u. a. in den beiden folgenden Bereichen erlassen: • Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen sowie Normen für die Erteilung von Visa und Aufenthaltstiteln für einen langfristigen Aufenthalt, einschliesslich solcher zur Familienzusammenführung, durch die Mitgliedstaaten; und • Festlegung der Rechte von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmässig in einem Mitgliedstaat aufhalten, einschliesslich der Bedingungen, unter denen sie sich in den anderen Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten dürfen. Die gemeinsame Einwanderungspolitik der EU verfolgt damit drei Ziele: (1.) eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, (2.) eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen und (3.) die Bekämpfung illegaler Migration. Dass zwischen diesen Zielen ein gewisses Spannungsverhältnis besteht, ist offensichtlich.21 Zu beachten ist schliesslich, dass nach Art. 79 Abs. 5 AEUV die Mitgliedstaaten das Recht haben, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmerinnen oder SelbTeilnahme an einem Schüleraustausch, einem bezahlten oder unbezahlten Praktikum, einem Freiwilligendienst oder zur Ausübung einer Au-pair-Beschäftigung, KOM (2013) 151 endg. 20  Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer umfassende Qualifikationen voraussetzenden Beschäftigung, KOM (2016) 378 endg. Vgl. dazu S. Progin-Theuerkauf, The Reform of the EU Blue Card Directive – Good Things Take Time, 20. 9. 2016, abrufbar unter http://blog.nccr-onthemove.ch/the-reform-of-the-eu-blue-card-di rective-good-things-take-time/?lang=fr ; E. Guild, A New Blue Card Scheme? The Commis­ sion’s proposal for highly skilled migration into the EU, 12. 7. 2016, http://eumigrationlawblog. eu/a-new-blue-card-scheme-the-commissions-proposal-for-highly-skilled-migration-into-theeu/ (beide zuletzt besucht am 12. 6. 2017). 21  Vgl. auch K. Groenendijk, Recent Developments in EU Law on Migration: The Legislative Patchwork and the Court’s Approach, European Journal of Migration and Law 16 (2014), 313, 324 ff.

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ständige Arbeit zu suchen.22 Als Ausnahmebestimmung ist diese Regelung eng auszulegen.23 Sie beschränkt daher grundsätzlich nicht die Kompetenz der EU, den Arbeitsmarktzugang von Drittstaatsangehörigen zu regeln.24 III. Analyse der Richtlinien im Bereich der Arbeitsmigration im Lichte der Gleichstellung von Mann und Frau Im Folgenden sollen die Richtlinien zur Arbeitsmigration von Drittstaatsangehörigen, namentlich die Blue Card-Richtlinie (2009), die ICT-Richtlinie (2014) und die Saisonarbeiterrichtlinie (2014) näher auf ihre Geschlechtsneutralität untersucht werden. Die Richtlinien erscheinen auf den ersten Blick als geschlechterneutral, da keines der Instrumente das Geschlecht erwähnt. Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen die Instrumente daher in Hinblick auf das Geschlecht der antragstellenden Person nicht zu diskriminieren. Allerdings gilt es zu bedenken, dass auch Regelungen, die zunächst geschlechterneutral erscheinen, in der Praxis ein Geschlecht unverhältnismässig beeinträchtigen und somit indirekte Diskriminierungen darstellen können. Dies wäre etwa der Fall, wenn es für weibliche Drittstaatsangehörige schwieriger wäre, eine Blue Card oder eine Aufenthaltsgenehmigung als ICT oder Saisonarbeitskraft zu erhalten, als für ihre männlichen Kollegen. Unter dem Begriff „Wanderarbeiter und deren Familien“ wurden ursprünglich männliche Migranten und deren Frauen und Kinder verstanden.25 Dementsprechend beruhen auch die EU-Rechtsakte, die es Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten im Falle der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts erlaubten, ihre Fami­lien nachzuziehen, auf einem traditionellen Familienkonzept – mit dem Ehemann als Versorger und der Ehefrau als Betreuerin der abhängigen Kinder.26 Auch die EU-Instrumente, die Arbeitnehmern aus Drittstaaten das Recht auf Familienzusammen22  Vgl. dazu S. Progin-Theuerkauf, Art. 79 AEUV, Rz. 34 ff., in: von der Groeben / Schwarze / Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage, 2015. 23  K. Groenendijk, Recent Developments in EU Law on Migration: The Legislative Patchwork and the Court’s Approach, European Journal of Migration and Law 16 (2014), 313, 325. 24 Vgl. D. Thym, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen ­Union, 57. Auflage, 2015, Band I, Art. 79, Rn. 43; K. Groenendijk, Recent Developments in EU Law on Migration: The Legislative Patchwork and the Court’s Approach, European Journal of Migration and Law 16 (2014), 313, 325; S. Progin-Theuerkauf, Art. 79 AEUV, Rz. 35, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage, 2015. 25 So Art. 15 Abs. 3 ILO Empfehlung Nr. 86, der die Familie eines Wanderarbeiters als „die Ehefrau und die minderjährigen Kinder“ definiert, vgl. ILO, Empfehlung betreffend die Wanderarbeiter, 1949, abrufbar unter http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_norm/--normes/documents/normativeinstrument/wcms_r086_de.htm (zuletzt besucht am 12. 6. 2017). 26  C. McGlynn, Families and European Union Law, in: R. Probert (Hrsg.), Family Life and the Law: Under One Roof, 2007, S. 248.

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führung einräumen, wurden und werden meistens dazu genutzt, um der (zukünftigen) Ehefrau und den Kindern des Drittstaatsangehörigen eine legale Einreise in die EU zu ermöglichen.27 Auch heute noch ist die Familienzusammenführung für weibliche Drittstaatsangehörige der meist genutzte Weg zur legalen Einreise in die EU, wenngleich viele von ihnen in den Arbeitsmarkt eintreten können, nachdem sie im Zuge der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat eingereist sind. In den letzten Jahren wurden die unterschiedlichen Auswirkungen der Migra­ tionspolitik auf Männer und Frauen intensiver untersucht, insbesondere im Rahmen der Forschung zur Migration hochqualifizierter Arbeitskräfte.28 Es konnte nachgewiesen werden, dass durchschnittlich qualifizierte Frauen eher migrieren, als Männer in einer gleichen Position.29 Jüngste Forschungsergebnisse zeigen indes, dass Frauen unter den migrierenden Personen, die als hochqualifizierte Arbeitskräfte anerkannt werden, eine Minderheit darstellen. Verfügbare Daten belegen zum Beispiel, dass in einigen „alten” Mitgliedstaaten der Union nur ein Viertel der Bewilligungen für hochqualifizierte Arbeitskräfte an Frauen ausgestellt wurden.30 Das könnte darauf hinweisen, dass das geltende Recht indirekt diskriminierend ist. Wenn sich dies statistisch untermauern lässt und es an einer objektiven Rechtfertigung hierfür fehlt, würde die Gesetzgebung gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verstossen, da sie eine indirekte Diskriminierung erzeugt. 1. Blue Card-Richtlinie Die Blue Card-Richtlinie von 2009 richtet sich an hochqualifizierte MigrantInnen aus Drittstaaten und schafft die sog. „blaue Karte (EU)“, mit der unter bestimmten Bedingungen auch Mobilität in andere Mitgliedstaaten möglich ist.31 27  B. Bilecen, Guest Worker Families in Europe, in: C. L. Shehan (Hrsg.), The Wiley Blackwell Encyclopedia of Family Studies, 2016, S. 1013. 28  F. Docquier / B.L. Lowell / A. Marfouk, A Gendered Assessment of Highly Skilled Emigration, Population and Development Review, 35:2, S. 297 – 321; ebenso R. Fincher / L. Foster / R. Wilmot, Gender Equity and Australian Immigration Policy, 1994. 29  L. Cerna / M. Czaika, European Policies to Attract Talent: The Crisis and Highly S ­ killed Migration Policy Changes, in: A. Triandafyllidou / I. Isaakyan / G. Schiavone, (Hrsg.), High Skill Migration and Recession: Gendered Perspectives, 2016, S. 36 – 38. 30  E. Kofman, Towards a Gendered Evaluation of (Highly) Skilled Immigration Policies in Europe, International Migration Vol. 52(3)2014, S. 122. Vgl. auch Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2009/50/EG über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, KOM (2014) 287 endg., dort unter 1.1. 31  Dazu umfassend S. Posse-Ousmane, Les conditions d’admission et de séjour des travailleurs hautement qualifiés dans l’UE – Une analyse de la Directive Carte Bleue, 2017. Die Blue Card-Richtlinie hat einige Schwachpunkte, zu denen u. a. die Definition von hochqualifizierter Beschäftigung, die hohen Gehaltsschwellen und die Möglichkeit, parallele nationale Regime aufrecht zu erhalten, zählen. Hinzu kommt die im Primärrecht in Art. 79 Abs. 5

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Im Jahr 2013 wurden 15.261 Blue Cards ausgestellt, davon 14.197 in Deutschland.32 Die meisten Blue Cards gingen an MigrantInnen aus Asien (Indien, China), gefolgt von Osteuropa und Nordamerika.33 In den ersten neun Monaten des Jahres 2013 gingen in Deutschland 78 % der blauen Karten an Männer, knapp 22 % an Frauen.34 Ein Grund für die hohe Diskrepanz in der Anzahl von an Frauen bzw. Männer erteilte Blue Cards (oder ähnlicher Bewilligungen nach nationalem Recht, die männlichen und weiblichen Arbeitskräften gewährt werden), ist vor allem in den von der Blue Card-Richtlinie bzw. entsprechenden nationalen Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten festgelegten Zulassungskriterien zu sehen. Nach Art. 5 Abs. 3 der Blue Card-Richtlinie muss ein Antragsteller eine Gehaltsschwelle erreichen, die der entsprechende Mitgliedstaat definiert. Diese muss mindestens dem Anderthalbfachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts in dem betreffenden Mitgliedstaat entsprechen. Trotz vieler Bemühungen, die Situation zu ändern, sind geschlechterspezifische Lohnunterschiede aber nach wie vor in allen Mitgliedstaaten der EU Realität.35 Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass hochqualifizierte weibliche Migranten geringere Chancen haben, die Zulassungskriterien der Blue Card-Richtlinie oder vergleichbarer nationaler Regime zu erfüllen, als ihre männlichen Kollegen. Zwar besteht bereits jetzt nach Art. 5 Abs. 5 der Blue Card-Richtlinie bei Berufen, in denen ein besonderer Bedarf besteht, die Möglichkeit einer Reduzierung der Gehaltsschwelle auf das 1,2-fache des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts. Der Vorschlag für eine Neufassung der Blue Card-Richtlinie von Juni 2016 enthält jedoch einen noch niedrigeren Schwellenwert.36 Allerdings ist anzumerken, dass eine Mindestanforderung an den von der antragstellenden Person verdienten Lohn aufgrund der immer noch bestehenden Lohnungleichheiten Migrantinnen stets unverhältnismässig betrifft. Unabhängig davon, wie stark der Schwellenwert reduziert wird, stellt dieser somit eine indirekte Diskriminierung dar. Daher sollte über AEUV ange­legte Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Höchstzahlen festzulegen. Davon haben einige Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht, z. B. Bulgarien, Zypern, Ungarn und Rumänien. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2009/50/EG über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, KOM (2014) 287 endg., unter 1.3. 32 Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2009/50/EG über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, KOM (2014) 287 endg., unter 1.1. 33 Ibid. 34 Ibid. 35  Vgl. https://www.oecd.org/gender/data/genderwagegap.htm (zuletzt besucht am 12. 6.  2017). 36  Vgl. S. Progin-Theuerkauf, http://blog.nccr-onthemove.ch/the-reform-of-the-eu-blue-carddirective-good-things-take-time/?lang=fr (zuletzt besucht am 12. 6. 2017).

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eine spezielle Minderungsmöglichkeit bei hochqualifizierten ArbeitnehmerInnen nachgedacht werden. Die Blue Card-Richtlinie enthält Bestimmungen zur Familienzusammenführung, die vorteilhafter sind als das „ordentliche“ Regime der Familienzusammenführungsrichtlinie37, das für alle Drittstaatsangehörigen, die begründete Aussicht auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in der EU haben, gilt. InhaberInnen einer Blue Card sind deshalb berechtigt bzw. werden sogar dazu ermuntert, ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten nachzuziehen, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat.38 Auf den ersten Blick erscheint dies positiv; es gibt allerdings auch Stimmen, die argumentieren, dass die Bestimmungen über die Familienzusammenführung im europäischen Migrationsrecht die Abhängigkeit zwischen den Familienangehörigen – insbesondere die Abhängigkeit der Frau von ihrem Ehemann – verstärken, da die finanzielle und rechtliche Abhängigkeit auch zu einer psychologischen Abhängigkeit innerhalb der Familienbeziehungen führen kann.39 Selbst unionsrechtliche Instrumente der (Arbeits-)Migration, welche die Familienzusammenführung ermöglichen, können sich daher negativ auf die Stellung der Frau innerhalb der Familie bzw. Paarbeziehung auswirken. Nichtsdestotrotz ist das Recht auf Familiennachzug ein bedeutsames Grundrecht, das in jedem Fall garantiert werden muss. Um bestehende Abhängigkeiten zu beseitigen, sollten Familienangehörige jedoch möglichst früh ein eigenes Aufenthaltsrecht erwerben können. 2. ICT-Richtlinie Die ICT-Richtlinie ist insofern ein „verlängerter Arm“ der Blue Card-Richtlinie, als diese ebenfalls eher hochqualifizierte Arbeitskräfte anspricht, nämlich Führungskräfte, Spezialisten oder Trainees40, die von Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat in eine Niederlassung, die zum gleichen Unternehmen oder zur gleichen Unternehmensgruppe gehört und ihren Sitz im Hoheitsgebiet des betreffenden Mit  Vgl. II.2.   Art. 15 der Blue Card-Richtlinie stellt das anwendbare Regime im Bereich des Familiennachzugs für InhaberInnen einer Blue Card auf. So werden Aufenthaltstitel für Familienangehörige spätestens sechs Monate nach Einreichung des Antrags erteilt, sofern die Bedingungen für eine Familienzusammenführung erfüllt sind. Zudem wird die Familienzusammenführung nicht davon abhängig gemacht, ob der Inhaber der Blue Card begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen, und ob er eine Mindestaufenthaltsdauer nachweisen kann. 39  L. Natale, Contribution to the European Commission Public Consultation: Debate on the future of Home Affairs policies: An open and safe Europe – what next?, European Network of Migrant Women (ENoMW), Januar 2014. 40  Vgl. Art. 2 Abs. 2 sowie Art. 3 lit. e bis g der Richtlinie (mit den entsprechenden Definitionen). 37 38

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gliedstaats hat, geschickt werden (intra-corporate transferees, ICTs).41 Die Richtlinie sieht auch die Möglichkeit für Aufenthalte in anderen Mitgliedstaaten vor (kurzfristige oder langfristige Mobilität, vgl. Art. 20 ff. der Richtlinie). Es gibt allerdings eine maximale Aufenthaltsdauer von einem Jahr für Trainees und drei Jahren für Führungskräfte und Spezialisten (Art. 12 der Richtlinie). Familiennachzug ist möglich (Art. 19), allerdings können die Mitgliedstaaten Familienleistungen auf ICTs begrenzen, denen für mehr als 9 Monate Aufenthalt gewährt wurde (Art. 18 Abs. 3). Dadurch wird der Familiennachzug eher unattraktiv.42 Ansonsten stellt die Richtlinie ein ähnliches System für den Familiennachzug auf, wie dies bei der Blue Card-Richtlinie der Fall ist. Nach Schätzungen der EU-Kommission sollen mithilfe der Richtlinie jährlich 15.000 bis 20.000 unternehmensintern transferierte Arbeitnehmer in die EU gelangen.43 Da die Umsetzungsfrist der Richtlinie erst im November 2016 abgelaufen ist, liegen aktuell noch keine Zahlen vor. In Bezug auf Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen verweist die ICT-Richtlinie auf die Arbeitnehmerentsenderichtlinie 96/71/EG.44 ICTs müssen daher mindestens wie Personen behandelt werden, die unter diese Richtlinie fallen. Art. 3 Abs. 1 lit. g der Entsenderichtlinie postuliert ausdrücklich den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern. Dennoch dürften auch hier deutlich mehr Männer von einer ICT-Aufenthaltsbewilligung profitieren, als Frauen, da Frauen in vielen Drittstaaten nur selten Führungspositionen in multinationalen Konzernen innehaben oder das nötige Spezialwissen erwerben können45, das von der Richtlinie gefordert wird.46 Dass die Mitgliedstaaten zudem die Möglichkeit haben, den Familiennachzug unattraktiv zu machen (Art. 18 Abs. 3), ist – zusammen mit der relativ kurzen maximalen Aufenthaltsdauer – ein weiterer Faktor, der geeignet ist, Frauen von der Inanspruchnahme der Richtlinie abzuhalten.47

41  Vgl. ausführlich S. Progin-Theuerkauf, Unternehmensinterne Transfers in der EU – Eine neue Form der Mobilität für Drittstaatsangehörige, Jusletter 14. März 2016; A. Lazarowicz, The Intra-Corporate Transferees Directive: time to break the deadlock, European Policy Center (EPC) Policy Brief, 8. April 2013. 42  S. Progin-Theuerkauf, Unternehmensinterne Transfers in der EU – Eine neue Form der Mobilität für Drittstaatsangehörige, Jusletter 14. März 2016, Rz. 51 f. 43  Vgl. Pressemitteilung des Rates 6338/14 vom 13. 5. 2014. 44  Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 18 vom 21. 1. 1997, S. 1 – 6. 45  Zur traditionellen Rolle der Frau in vielen Drittstaaten s. die Ausführungen unter III.3. 46  Voraussetzung ist nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie, dass es sich im Führungskräfte, Spezialisten oder Trainees handelt. 47  Dies gilt allerdings ebenso für Männer.

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3. Saisonarbeiterrichtlinie Das Regime der Saisonarbeiterrichtlinie unterscheidet sich stark von den Re­ gimes der Blue Card- und der ICT-Richtlinie. Es soll ein System der Zirkulärmigration errichten, da die SaisonarbeiterInnen stets in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen. Nach Art. 16 der Richtlinie ist aber die Wiedereinreise zu erleichtern. Da die Umsetzungsfrist der Saisonarbeiterrichtlinie erst im September 2016 abgelaufen ist, sind Statistiken zur Anwendung der Richtlinie (und insbesondere geschlechterspezifische Zahlen) noch nicht verfügbar. In Bezug auf viele Mitgliedstaaten ist noch nicht bekannt, wie sie die Richtlinie umgesetzt haben. Allerdings lässt sich jetzt schon feststellen, dass die Saisonarbeiterrichtlinie Regelungen enthält, welche für Frauen die Nutzung dieses legalen Einreisewegs nach Europa weniger attraktiv macht. Ein solcher Faktor ist einerseits die Art der Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich der Saisonarbeiterrichtlinie fallen (vgl. Art. 3 lit. c). Die Richtlinie zielt hauptsächlich auf saisonale Beschäftigungen in der Landwirtschaft und im Gartenbau (aber auch im Tourismus) ab. Dass landwirtschaftliche und gartenbauliche Arbeit als körperlich anstrengende Tätigkeiten von Frauen weniger gern / g ut ausgeübt und sie daher seltener eingestellt werden, ist jedoch falsch: Es lässt sich sogar feststellen, dass ArbeitgeberInnen in manchen landwirtschaftlichen Betrieben (i. d. R. solche mit hoher Wertschöpfung) vorzugsweise weibliche Arbeitskräfte anstellen, teils aus den richtigen Gründen (ihre zierlicheren Hände sind z. B. geeigneter zum Pflücken von Beeren), teils aber auch aus den falschen (Frauen gelten als gehorsamer).48 Deshalb ist es weniger der Anwendungsbereich der Saisonarbeiterrichtlinie, als die Rechte – vielmehr der Mangel an Rechten – von Saisonarbeitskräften, welche sich indirekt diskriminierend auswirken. Anders als InhaberInnen von Blue Cards können Saisonarbeitskräfte zudem ihre Familien nicht nachziehen, selbst wenn sie bis zu neun Monaten pro Kalenderjahr und mit der Aussicht, in den nachfolgenden Jahren immer wieder in denselben Mitgliedstaat zurückzukehren, in dem betreffenden Mitgliedstaat verweilen. Obschon das Ziel der Saisonarbeiterrichtlinie darin besteht, Zirkulärmigration zwischen Herkunftsstaat und Zielstaat zu fördern, werden SaisonarbeiterInnen nicht wirklich ermutigt, in denselben Zielstaat zurückzukehren: Sie werden sogar davon abgehalten, sich in der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates zu integrieren. Aus diesem Grund enthält die Saisonarbeiterrichtlinie keine Bestimmungen zur Familienzusammenführung. Dies ist eine der Eigenheiten der Richtlinie, durch die das Instrument klar von den ILO-Konventionen und -Richtlinien49 sowie anderen 48  S.E. Mannon / P. Petrzelka / C. M. Glass / C. Radel, Keeping Them in Their Place: Migrant Women Workers in Spain’s Strawberry Industry, Int. Jrnl. of Soc. of Agr. & Food, Vol. 19, No. 1, S. 84. 49  Vgl.  http://ilo.org/global/standards/subjects-covered-by-international-labour-standards/ migrant-workers/lang--en/index.htm (zuletzt besucht am 12. 6. 2017).

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In­strumenten des internationalen Rechts50, welche ein Recht aller ArbeitsmigrantInnen auf Familienzusammenführung fordern, abweicht. Während die ILO-In­ strumente die EU als solche formell nicht binden – jedoch binden sie die Mitgliedstaaten, die diese ratifiziert haben –, gibt es auch verbindliche Bestimmungen des EU-Rechts, die das Recht von ArbeitsmigrantInnen auf Familienzusammenführung enthalten. Die wichtigste Bestimmung ist hierbei das Recht auf Familienleben gemäss Artikel 7 GRC. Der Schutzbereich des Rechts auf Familienleben wurde durch die Rechtsprechung des EuGH nach und nach konkretisiert, insbesondere, da das Recht auf Familiennachzug inzwischen auch durch verschiedene Sekundärrechtsakte gewährleistet wird, wie etwa der Unionsbürgerrichtlinie 2014/38/EG51 und der Familiennachzugsrichtlinie 2003/86/EG52. So hat der EuGH bestätigt, dass Artikel 7 GRC Rechte enthält, die denen des Art. 8 Abs. 1 EMRK entsprechen, und dass der Anwendungsbereich von Art. 7 GRC mit dem von Art. 8 Abs. 1 EMRK identisch ist.53 Obschon Art. 8 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR54 ausländischen Staatsangehörigen kein Recht gewährt, den für sie „geeignetsten Ort für die Entwicklung ihres Familienlebens“ auszuwählen, kann der Artikel in bestimmten Fällen die Verpflichtung eines Vertragsstaats begründen, einer Person die Einreise in sein Staatsgebiet zu gestatten.55 Die Weigerung eines Mitgliedstaates, einer Person Familiennachzug zu gewähren, kann daher (parallel zu Art. 8 EMRK) eine Verletzung des Rechts auf Familienleben nach Art. 7 GRC darstellen, sofern der Eingriff nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und durch ein oder mehrere legitime Ziele (vgl. Art. 8 Abs. 2 EMRK) gerechtfertigt und verhältnismässig ist. 56 Bei den in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten legitimen Zielen handelt es sich um die nationale oder öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die 50  Z.B. UN International Convention on the Protection of the Rights of all Migrant Workers and Members of their Families, die allerdings durch keinen Mitgliedstaat der Europäischen Union ratifiziert wurde. 51  Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. L 158 vom 30. 4. 2004, S.  77 – 123. 52  s. o. II.2. 53  EuGH, Rs. C-256/11, Dereci u.a., ECLI:EU:C:2011:734. 54  EGMR, Beschwerde-Nr. 21702/93, Ahmut / Niederlande, Urteil vom 28. November 1996, RJD 1996-VI, § 71. 55  J. Vedsted-Hansen, Article 7 – Private Life, Home and Communications, in: S. Peers /  T. Hervey / J. Kenner / A. Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights: A Commentary, 2014, S. 167. 56  EuGH, Rs. C-83/11, Rahman u.a., ECLI:EU:C:2012:519, Rz. 25 und 26. Vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in derselben Sache, ECLI:EU:C:2012:174, Rz. 72 und 73.

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Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, den Schutz der Gesundheit oder der Moral und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Verweigerung des Rechts auf Familienzusammenführung für SaisonarbeiterInnen, das anderen legal aufhältigen Drittstaatsangehörigen in der EU gewährt wird, rechtfertigbar sein könnte. Der einzige in Betracht kommende Rechtfertigungsgrund wäre wohl das wirtschaftliche Wohl des Landes.57 Dies zu beurteilen, wäre aber letztlich Aufgabe des EuGH. Nicht zuletzt scheint es, dass bereits bestehende Erfahrungen verschiedener Länder mit Gastarbeiterregimes mit beschränkten Familiennachzugsmöglichkeiten durch die EU-Kommission bei der Ausarbeitung der Saisonarbeiterrichtlinie offenbar nicht hinreichend berücksichtigt wurden.58 Es ist nicht klar, warum der Unionsgesetzgeber davon ausgeht, dass die Richtlinie nicht dieselben tragischen Folgen haben wird, wie die erwähnten restriktiven Regelungen für Gastarbeiter, nämlich dass Ehepartner und Kinder sich eher dafür entscheiden, irregulär zusammenzuleben, als (bis zu) neun Monate pro Jahr getrennt zu sein.59 Abgesehen von der Frage der Folgen, die die Abwesenheit eines Elternteils auf die im Heimatland verbliebene Familie hat, und der Vereinbarkeit der Regelungen der Saisonarbeiterrichtlinie mit Menschenrechten stellt sich auch und gerade die Frage nach der Geschlechtsneutralität der Richtlinie. Obwohl die Rolle der Frau innerhalb der Familie sich in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Industrienationen stark verändert hat und Frauen dort inzwischen regelmässig berufstätig sind und die Entscheidung, zu arbeiten, ihnen überlassen bleibt, darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass dies in vielen Herkunftsstaaten der SaisonarbeiterInnen nicht der Fall ist. Dies hat Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau in ein anderes Land migriert, um dort zu arbeiten.60 Mehrheitlich dürfte die Migrationsentscheidung – entsprechend der Tradition und Kultur im Heimatland – wohl nicht durch die Frau allein getroffen werden, und die Umsetzung des Entschlusses, zu migrieren, kann vielen gesellschaftlichen Hindernissen unterworfen sein. Wenn 57  Die Rechtfertigungsgründe sind eher auf Staaten zugeschnitten, nicht aber für einen Staatenverbund wie die Europäische Union. 58  Ein europäisches (allerdings ausserhalb der EU angesiedeltes) Beispiel ist das Gastarbeiterprogramm der Schweiz zwischen 1960 und 1970, das ähnliche Regelungen wie die Saisonarbeiterrichtlinie enthielt. Ausländische Arbeitskräfte durften in die Schweiz einreisen und sich dort vorübergehend aufhalten; ein Recht auf Familiennachzug bestand jedoch nicht. So wurden viele Ehefrauen (deren Nachzug später gestattet wurde) und Kinder irregulär in die Schweiz mitgenommen. Schätzungen zufolge lebten in den 70er Jahren etwa 15‘000 italienische Kinder irregulär in der Schweiz und versteckten sich in der elterlichen Wohnung, ohne Zugang zu Schulbildung. Vgl. S. Wessendorf, State-Imposed Translocalism and the Dream of Returning: Italian Migrants in Switzerland, in: L. Baldassar / D.R. Gabaccia (Hrsg.), Intimacy and Italian Migration: Gender and Domestic Lives in a Mobile World, 2011, S. 159. 59  S. Castles, Guestworkers in Europe: A Resurrection?, International Migration Review, Volume 40(4), S. 742 – 743. 60  Focus Migration, Skilled female labour migration, Focus Migration Policy Brief No. 12, April 2009.

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man die Geschlechtsneutralität der Richtlinie untersucht, muss man daher im Auge behalten, dass Frauen in vielen Drittstaaten nicht dieselbe Rolle haben wie Frauen in der Europäischen Union. Obgleich die Richtlinie nicht direkt diskriminierend ist, erscheint es sehr wahrscheinlich, dass auch sie eher von Männern genutzt werden wird, da Frauen nach wie vor in vielen Staaten (gerade dort, wo unqualifizierte Saisonarbeitskräfte vorhanden sind) die Hauptverantwortung für Kindererziehung und -betreuung sowie Haushaltstätigkeiten innehaben.61 Es erscheint unwahrscheinlich, dass Frauen ihre Familien für bis zu neun Monate im Jahr zurücklassen, um in einem EU-Mitgliedstaat Saisonarbeit zu leisten. Dieser Gesichtspunkt scheint dem Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM) des Europäischen Parlaments entgangen zu sein. In seiner Stellungnahme vom 27. Januar 2011 an den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE-Ausschuss) zum Richtlinienvorschlag aus dem Jahr 2010 betonte der FEMM-Ausschuss lediglich die besondere Verletzbarkeit von weiblichen Saisonarbeitnehmern.62 Er weist auch darauf hin, dass Kinder, die in den Unterkünften von SaisonarbeiterInnen leben, besonders geschützt werden sollten. Da die Richtlinie jedoch kein Recht auf Familiennachzug enthält, gibt es gar keine reguläre Möglichkeit, Kinder mitzunehmen. Die Richtlinie enthält dementsprechend auch keine Schutzgarantien für irregulär eingereiste Familienangehörige. Fazit Zwar richten sich die EU-Richtlinien zur Steuerung der regulären Arbeitsmigration in die EU an weibliche wie auch an männliche Migranten; bei einer vertieften Analyse ergeben sich jedoch deutliche Defizite zulasten von Migrantinnen, insbesondere im Bereich der hochqualifizierten Migration, aber auch im Bereich der Saisonarbeit. Insofern lässt sich ein gewisser Handlungsbedarf feststellen, um das europäische Migrationsrecht für Männer und Frauen gleich attraktiv zu machen. Es scheint, dass das Recht auf Gleichbehandlung der Geschlechter in Bezug auf Arbeitsbedingungen in erster Linie EU-Bürgern vorbehalten ist, während bei Drittstaatsangehörigen diesbezüglich erhebliche Lücken bestehen. Die soeben erfolgte Analyse lässt zudem den Schluss zu, dass die Europäische Kommission die bestehenden Richtlinien zur Arbeitsmigration von Drittstaatsan61 OECD, Closing the Gender Gap: Act Now, S. 199 ff. (‚Who Cares?‘), 2012; s. auch W. Patton (Hrsg.), Conceptualising Women’s Working Lives: Moving the Boundaries of Discourse, 2012, S. 5 und 6. 62  Opinion of the Committee on Women’s Rights and Gender Equality for the Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs, on the proposal for a directive of the European Parliament and of the Council on the conditions of entry and residence of third-country nationals for the purposes of seasonal employment, (COM(2010)0379 – C7 – 0180/2010 – 2010/0210 (COD)), 27. Januar 2011, S. 3/14.

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gehörigen unbedingt noch einmal vertieft auf die Art und Weise ihrer Nutzung hin untersuchen muss, um dem Grundsatz der Gleichheit von Mann und Frau besser Rechnung zu tragen. Zukünftige Reformen sollten die Ergebnisse dieser Untersuchung dann selbstverständlich berücksichtigen, etwa durch die Einführung von niedrigeren Gehaltsschwellen für weibliche hochqualifizierte Arbeitskräfte oder durch eine Erweiterung der Möglichkeiten des Familiennachzugs. Summary The European Union and its member states have the duty to avoid any discrimination based on sex (Articles 10, 19 (1) and 157 TFEU and 21 of the Charter on Fundamental Rights of the EU). This obligation also applies in the area of migration law and protects EU citizens as well as third country nationals. At a first glance, the EU law instruments to manage labour migration of third country nationals, namely the Blue Card Directive, the ICT Directive and the Seasonal Workers Directive, seem to be gender neutral, as neither instrument mentions gender. On the surface, therefore, the instruments apply indiscriminate of the gender of the applicant. However, in practice, they may still disproportionally affect one of the genders, and therefore be indirectly discriminating. That would be the case if it is more difficult for female third country nationals to obtain a Blue Card or a Seasonal Workers or an ICT Permit than it is for their male peers. So do the directives contain obstacles that make their use more difficult for women? The following article analyses the three EU labour migration directives under this angle and detects indeed a certain imbalance, due to critical provisions in all instruments. For example, limited possibilities for family reunification (Seasonal Workers Directive) and high salary thresholds (Blue Card Directive) clearly disadvantage women. These provisions might amount to an indirect discrimination of women that can probably not be justified. Therefore, legislature ought to make certain adjustments when revising these directives in the near future.

Diskussionsforum – Discussion Forum

Ergänzende Anmerkungen zur Logik rechtlichen Argumentierens Michael Mauer

I. Vorbemerkungen 1. Im rechtswissenschaftlichen Diskurs und in der rechtlichen Praxis argumentiert man, trägt Argumente für einen Standpunkt vor (der sich durch eine deskriptive oder eine präskriptive Aussage rechtlichen Inhalts formulieren lässt). Dabei kann es offenbar gute oder starke und schlechte oder schwache Argumente geben, aber auch korrekte und unkorrekte. Allgemein spielen in wissenschaftlichem Kontext Schlüsse der formalen Logik als Argumente gewiss nicht die einzige, aber eine besondere Rolle. Denn in ihnen überträgt sich, wenn ihre Prämissen (eine Folge von Aussagen) wahr sind, diese Wahrheit auf die Konklusion (eine Aussage) allein kraft der logischen Form dieser Aussagen und ausnahmslos. Und nur in diesem Fall ist ein Argument korrekt, das sich solcher Wendungen wie „daraus folgt“ bedient. Dies kann man in der Tat als die Aufgabe der deduktiven Logik betrachten: ein Urteil darüber zu erlauben, „ob ein vorgeschlagenes oder angebliches Argument“ dieser Art „korrekt ist, gleichgültig, wie es um den Kompliziertheitsgrad des Arguments steht“1. Der Begriff der logischen Folgerung ist der zentrale Grundbegriff der formalen Logik. Gilt dies auch im Bereich rechtlicher Argumentation? Man sollte meinen, das sei in dem Maß der Fall, in dem die rechtliche Argumentation wissenschaftlichen Standards entsprechen soll. Aus Ulfrid Neumanns Sicht ist das Verhältnis zwischen Logik und rationaler Argumentation allerdings komplexer. Ausgehend von der Prämisse, dass es „eine Mehrzahl konkurrierender logischer Systeme (gebe), die in ihrem Regelbestand teilweise erheblich differieren“,2 stellt er fest, die Standards vernünftigen Argumentierens seien vorrangig gegenüber den logischen Theoremen: „Fundamentale Bedeutung für die Theorie und Praxis der juristischen wie jeder anderen rationalen Argumentation kann nicht ein formales logisches System 1  Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band I Erklärung-Begründung-Kausalität, Berlin / Heidelberg / New York, Springer-Verlag, 2. Auflage, 1983, S. 40. 2  Ulfrid Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986, S. 32.

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beanspruchen, sondern nur eine Logik, die sich als Rekonstruktion der Regeln vernünftigen Argumentierens versteht.“3 2. Neumann hat seine Konzeption der juristischen Logik jüngst noch einmal im Zusammenhang dargestellt.4 Zur Vorauflage dieses Textes5 hatte ich mich in „Aspekte der Logik rechtlichen Argumentierens – Anmerkungen zu Ulfrid Neumanns ‚Juristische Logik‘“ kritisch geäußert.6 Dies hatte zu einem persönlichen Briefwechsel geführt, in dessen Mittelpunkt das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Normen und das „ex-falso-quodlibet“-Theorem der klassischen Logik standen. In der Neuauflage hat diese Diskussion keinen Niederschlag gefunden. Ihres grundsätzlichen Charakters wegen möchte ich sie hier noch einmal aufgreifen, auch im Licht anderer Neumannscher Arbeiten. Es soll also spezifischer um zwei Aspekte gehen, deretwegen die klassische (oder auch die intuitionistische) Logik für die juristische Argumentation untauglich sei: • die klassische Logik erlaube nicht, das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Normen darzustellen; • das „ex-falso-quodlibet“-Theorem der klassischen Logik könne in der juristischen Argumentation nicht gelten; vielmehr komme nur die minimale Logik oder eine parakonsistente Logik in Betracht. II. Zu Neumanns Einwänden gegen die klassische Logik als Instrumentarium juristischer Argumentation 1. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis a) Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis besteht zwischen Normen, die sich prima facie in einem bestimmten Sinn widersprechen. Als Beispiel mag man betrachten das Verhältnis zwischen der Norm N1, nach der, wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wegen Körperverletzung bestraft wird (§ 223 StGB), und der Norm N2, nach der, wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt und dies in Notwehr tut, nicht rechtswidrig handelt und daher nicht wegen Körperverletzung bestraft wird (§ 32 i. V. m. § 223 StGB). Denn wenn beide Voraussetzungen – die der Körperverletzung und die der Notwehr – erfüllt sind, begründet N1 (für sich allein betrachtet) die Strafbarkeit des Handelnden, während N2 sie ausschließt.   Ebd., S. 33.   Ulfrid Neumann, „Juristische Logik“, in:Winfried Hassemer/ Ulfrid Neumann/ Frank Saliger (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg, C. F. Müller, 9., überarbeitete Auflage, 2016, S. 272 – 290. 5  Ulfrid Neumann, „Juristische Logik“, in: Arthur Kaufmann / Winfried Hassemer / Ulfrid Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg, C. F. Müller, 8. Auflage, 2011, S. 298 – 319. Die beiden Versionen sind freilich beinahe identisch. 6  Jahrbuch für Recht und Ethik, 22 (2014), S. 485 – 519. 3 4

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Neumanns Standpunkt dazu ist, dass das Problem des prima-facie-Widerspruchs im Rahmen der (juristischen) Umgangssprache sich durch die Angabe einschränkender Bedingungen oder durch die Einordnung einer der beiden Normen als Ausnahmeregel bewältigen lasse.7 Der erste Weg führt anscheinend zu einer zusammengesetzten Norm N*, nach der, wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt und dies nicht in Notwehr tut, wegen Körperverletzung bestraft wird. Der zweite Weg besteht offenbar darin, § 223 als die Regel und § 32 i. V. m. § 223 als die Ausnahme zu betrachten und folgendes Prinzip aufzustellen: Wenn nicht nur die Voraussetzungen der Regel, sondern auch diejenigen der Ausnahme erfüllt sind, geht die Ausnahmenorm der Regelnorm vor. In Neumanns Sicht kann nun aber die Prädikatenlogik das Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht zum Ausdruck bringen. Denn dazu bedürfe sie metasprachlicher Mittel. Von einer Metaregel könne sie jedoch nicht Gebrauch machen, weil metasprachliche Ausdrücke nicht in die Formalisierung objektsprachlicher Texte eingehen dürften. Und dies sei offenbar ein Problem der Tauglichkeit der formalen Logik bei der Rekonstruktion juristischer Argumentation.8 b) Untersuchen wir zunächst die beiden skizzierten Wege, den prima-facie-Widerspruch von Normen aufzulösen, etwas genauer, um anschließend auf die Problematik metasprachlicher Mittel einzugehen. α) Der erste Weg, also die Möglichkeit, Regel und Ausnahme in einer komplexeren Norm durch positive und negative Tatbestandsmerkmale zusammenzufassen, lässt sich offenbar auch realisieren, wenn man die logische Form der betrachteten Normen darstellen, sie also formalisieren möchte. Wie eine solche Formalisierung aussehen kann, habe ich an anderer Stelle im Detail gezeigt.9 Soweit man das Problem des prima-facie-Widerspruchs von Normen durch (effektive) Angabe einschränkender Bedingungen lösen kann, ist man dazu auch mit den Mitteln der formalen Logik ohne weiteres imstande. Neumann ist nun aber der Ansicht, die objektsprachliche Wiedergabe einschränkender Bedingungen reiche nicht aus; denn es sei „niemals gewährleistet, dass alle Ausnahmen erfasst sind“.10 Er spricht deshalb von einer ‚Angstklausel‘, mit der man zum Ausdruck zu bringen versuche, dass keine (in welcher Norm auch immer formulierte) einschränkende Bedingung eingreife.11 Dies sei aber eine Metaregel12.   U. Neumann, Brief vom 13. 9. 2014.  Ebd. 9  „Zur logischen Form rechtlicher Regeln und Prinzipien“, Jahrbuch für Recht und Ethik, 2015, S.  421 – 430. 10  U. Neumann (Fn. 2), S. 26. 11  U. Neumann ebd. und (Fn. 4), S. 279. 12  In der Formel, die Neumann ebd. für die Angstklausel verwendet, also: „∀x(Mx˄¬Ax→Fx) – zu lesen als: „für alle x (strafmündigen Menschen) gilt: wenn sie ein Mörder sind und für sie keine andere Regelung eingreift, werden sie mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“ – kommt 7 8

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Deren Einführung verbiete sich schon deshalb, „weil damit ein metasprachlicher Ausdruck in die Formalisierung eingeführt würde.“13 β) Nun kann es einer derartigen Angstklausel grundsätzlich nur bedürfen, wenn es nicht möglich ist, zu einer Norm, die eine Regel repräsentiert, alle Normen, die einschränkende Bedingungen formulieren, effektiv anzugeben. Ob dies möglich ist oder nicht, hängt von der Art des betrachteten Normensystems ab. Geht man von geschriebenem Recht aus, so gilt offenbar, dass die Zahl seiner Normen endlich ist. Dann ist aber auch die Menge der Normen, die einschränkende Bedingungen formulieren, endlich; ihre Elemente kann man also effektiv hinschreiben: Die Situation, in der „niemals gewährleistet (ist), dass alle Ausnahmen erfasst sind“, kann demnach nicht eintreten. In einem solchen Fall stellt es dann aber kein grundsätzliches Problem dar, umgangssprachlich formulierte zusammengesetzte Normen des Typs N* mit logischen Mitteln zu formalisieren. Betrachten wir (etwas theoretischer Vollständigkeit halber) jedoch auch den Fall einer unendlichen Anzahl einschränkender Bedingungen, die man nicht effektiv hinschreiben kann, um auszudrücken, dass keine dieser Bedingungen erfüllt ist.14 Die Frage ist also, ob die Klausel der umgangssprachlich formulierten zusammengesetzten Norm, nach der keine einschränkende Bedingung eingreift, sich mit prädikatenlogischen Mitteln ausdrücken lässt oder nicht. Das ist in der Sprache der Prädikatenlogik 2. Stufe nun in der Tat möglich. Sie ist in einem bestimmten Sinn ausdrucksstärker als die Logik 1. Stufe. Über die erste Stufe geht man hinaus, wenn man über Eigenschaften von Eigenschaften und Beziehungen zwischen Begriffen oder zwischen Beziehungen und Objekten spricht: „Neben den Eigenschaften von Objekten kann man auch Eigenschaften solcher Eigenschaften betrachten. Man nennt Begriffe, deren sämtliche Argumente Objekte (Individuen) sind, Begriffe 1. Stufe, Begriffe, unter deren Argumente auch Begriffe 1. Stufe vorkommen, nennt man Begriffe 2. Stufe. So ist die Eigenschaft einer … Eigenschaft …, in einer Familie erblich zu sein, eine Eigenschaft 2. Stufe.“15

der metasprachliche Charakter allerdings in der Tat nicht zum Ausdruck; „A“ ist darin ja wie „M“ und „F“ ein objektsprachliches Prädikat (1. Stufe), nämlich eins, das eine Eigenschaft strafmündiger Menschen ausdrückt. 13  U. Neumann (Fn. 2), S. 26. 14  Das soll nicht heißen, dass Neumann behaupte, es gebe unendlich viele Ausnahmen. Vielleicht ist es aus seiner Sicht deshalb „niemals gewährleistet, dass alle Ausnahmen erfasst sind“, weil die zukünftige Judikatur nicht – jedenfalls nicht exakt – voraussehbar sei und ein Gericht neue Rechtfertigungsgründe formulieren könne (oder weil die Strafrechtsdogmatik solche neuen Rechtfertigungsgründe ‚entdecken‘ könne). In derartigen Fällen handelt es sich aber tatsächlich um neue Normen, die zuvor nicht existierten – so wenig, wie ein gesetzlich geregelter Rechtfertigungsgrund existierte, bevor der Gesetzgeber ihn beschlossen hat. 15  Franz von Kutschera, Elementare Logik, Wien / New York, Springer-Verlag, 1967, S. 276.

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Und weiter: „Beziehungen 2. Stufe können zwischen Begriffen 1. Stufe bestehen wie z. B. die Beziehung f ist Oberbegriff zu g: ∀x(g(x)→f(x)), oder zwischen Begriffen 1. Stufe und Objekten, wie z. B. die Beziehung des Zutreffens einer Eigenschaft 1. Stufe f auf einen Gegenstand x: f(x).“16

Die Prädikatenlogik 2. Stufe unterscheidet sich von der Prädikatenlogik 1. Stufe technisch gerade dadurch, dass es in ihr Variable auch für Prädikate und damit auch eine Quantifizierung über solchen Variablen gibt.17 In unserem Beispiel muss man nur voraussetzen, dass sich für jede (der potentiell unendlich vielen) Konstellation, in der die Körperverletzungshandlung rechtmäßig ist, ein Begriff 1. Stufe bilden lässt (etwa „Einwilligung in eine Körperverletzung“, genauer: „der verletzenden Person x gegenüber hat die verletzte Person y bei einer Körperverletzung ihre Einwilligung in einer nicht gegen die guten Sitten verstoßenden Weise erklärt“). Zu diesen Begriffen kann man einen Oberbegriff bilden (etwa „Rechtfertigung einer Körperverletzung“, genauer: „die verletzende Person x hat sich gegenüber der verletzten Person y bei einer Körperverletzung rechtmäßig verhalten“) und in dem Satz, der die logische Form der die Angstklausel verwendenden zusammengesetzten Norm darstellen soll, brauchte man nur zum Ausdruck zu bringen, dass es kein Prädikat (bzw. keinen Begriff 1. Stufe) gibt, das auf x und y zutrifft und unter den Oberbegriff „Rechtfertigung einer Körperverletzung“ fällt. An anderer Stelle hatte Neumann geschrieben, der denkbare Ausweg, das Nichtvorliegen einer Ausnahme als negative Bedingung in die Gesetzeshypothese aufzunehmen, erweise sich als trügerisch. Denn in der dafür in Frage kommenden Formalisierung18 sei die Klausel, nach der keine Ausnahme vorliege, „ein Ausdruck von anderer sprachlicher Konstitutionsstufe, der nicht in die Formalisierung des Gesetzeshypothese eingefügt werden kann.“19 Ganz klar ist nicht, was „sprachlicher Konstitutionsstufe“ in diesem Kontext bedeutet. Variable für Prädikate (und Quantoren über solchen Variablen), wie sie in unserer Vorschlagsskizze vorkommen, mag man zwar als Ausdrücke einer anderen sprachlichen Konstitutionsstufe ansehen als Variable über Objekten; und in der Prädikatenlogik 1. Stufe haben sie, wie erwähnt, deshalb keinen Platz. Aber daraus folgt nicht, dass sie nicht in die Formalisierung der hier interessierenden Gesetzeshypothese eingehen dürften. Weshalb sollte es unzulässig oder inadäquat sein, bei dem Versuch, die logische Form von Vorschriften darzustellen, von den Mitteln der Prädikatenlogik 2. Stufe   Ebd., S. 277.   Ebd., S. 275. 18  S. oben Fn. 12. 19  U. Neumann, „Rechtstheorie und allgemeine Wissenschaftstheorie“, in: Michael Martinek / Jürgen Schmidt / Elmar Wadle, Festschrift für Günther Jahr zum siebzigsten Geburtstag Vestigia Iuris, Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1993, S. 161. 16 17

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Gebrauch zu machen (wie wir es ja im Übrigen nur für den – meines Erachtens irrelevanten – Fall in Betracht gezogen haben, dass niemals gewährleistet sei, alle Ausnahmen seien erfasst worden)? γ) Aber gesetzt den Fall, nur mit metasprachlichen Mitteln ließe sich ausdrücken, eine Norm sei eine Regel und eine andere Norm sei eine Ausnahme dieser Regel. Warum könnte dies ein Problem für die Tauglichkeit der formalen Logik bei der Rekonstruktion juristischer Argumentation sein? Vielleicht ist es nützlich, zunächst die Terminologie zu klären. Mit Objekt- und Metasprache hat man es zu tun, wenn man sich in einer Sprache über eine Sprache äußert: „Eine Sprache, welche den Gegenstand der Untersuchung ausmacht, heißt Objektsprache. Jene Sprache, die man gebraucht, um über die Objektsprache Aussagen zu machen, heißt, Metasprache“.20 Doch kann es sich bei alledem um dieselbe Sprache handeln; man kann sich auf Deutsch über Eigenarten der deutschen Sprache äußern, und wenn man in (deutschsprachigem) juristischen Kontext über die Sprache des Rechts oder eines bestimmten Normensystems spricht, sind Objekt- und Metasprache die deutsche Umgangssprache, angereichert um juristische Terminologie. Nur bedarf es dann besonderer Vorkehrungen, die klarstellen, ob ein Ausdruck zur Objekt- oder zur Metasprache gehört. Ob wir die Objekt- oder die Metasprache verwenden, sagt nun allerdings nichts darüber aus, von welcher Logik wir dabei ausgehen. In der mathematischen Logik und der Mathematik (von denen die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache stammt) ist dies auf der metasprachlichen Stufe in aller Regel die klassische Logik, zuweilen konstruktivistischer Ziele wegen die intuitionistische Logik. Nichts hindert uns auch im juristischen Kontext, uns auf der metasprachlichen Stufe im Rahmen der klassischen Logik zu bewegen und – wenn wir wollen – derartige Aussagen im oben skizzierten Sinn zu formalisieren. Mit anderen Worten: Wenn man ein juristisches Argument adäquat nur zum Ausdruck bringen kann, indem man sich neben objektsprachlicher auch metasprachlicher Mittel bedient, so hat dies mit der Tauglichkeit der formalen Logik zur Rekonstruktion juristischer Argumentation nichts zu tun. Wie Ulfrid Neumann hat freilich auch Eckart Ratschow erklärt, es sei nicht möglich, einen umgangssprachlichen Text, der sowohl objektsprachliche als auch metasprachliche Elemente enthält, mit den Mitteln der Prädikatenlogik zu formalisieren. Seines Erachtens ist „der Wechsel in die Metasprache oder die Verbindung metasprachlicher und objektsprachlicher Ausdrücke … in der herkömmlichen Logik … ausgeschlossen“.21 Ratschow begründet dies ebenfalls nicht näher, und seine These lässt sich auch nicht begründen.

20  W. Stegmüller (Fn. 1), S. 70. Vgl. auch Jan C. Joerden, Logik im Recht, Heidelberg / Dordrecht / London / New York, Springer, 2. Auflage, 2010, S. 381, Fn. 1. 21  Eckart Ratschow, Rechtswissenschaft und Formale Logik, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft, 1998, S. 138 f.

Ergänzende Anmerkungen zur Logik rechtlichen Argumentierens

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Richtig ist allerdings, dass man zwischen den Sprachstufen der Objekt- und der Metasprache unterscheiden muss.22 Und insbesondere ist Umsicht nötig bei Aussagen, die offen oder versteckt etwas über sich selbst aussagen. Davor ist man auch in der Sprache der Gesetze nicht gefeit; auf ein im geltenden deutschen Recht zuweilen vorkommendes Beispiel einer Norm, die (ungewollt) selbstreferentiell und genaugenommen paradox ist – auf die Wendung: „Dieses Gesetz gilt nicht, wenn ...“ – habe ich an anderer Stelle hingewiesen.23 Nach alledem kann keine Rede davon sein, dass Normen, die zueinander im Regel-Ausnahme-Verhältnis stehen, mit den Mitteln der Prädikatenlogik nicht formalisierbar seien. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Normen bereitet daher auch dem Versuch, die spezifisch juristische Argumentation mit Mitteln der formalen Logik zu rekonstruieren, keinerlei Problem. 2. Zum ex-falso-quodlibet-Theorem a) Inhalt des ex-falso-quodlibet-Theorems – genauer: des ex-contradictionequodlibet-Theorems – ist, dass aus einem logischen Widerspruch jede beliebige Aussage folge. Neumann meint, „in der natürlichen Logik der Sprache (gebe es) keine Regel, die dem ex-falso-quodlibet-Theorem entspreche“,24 und begründet dies damit, dass andernfalls „ein Widerspruch in einer Argumentation die Ableitbarkeit jedes beliebigen Satzes und damit gleichsam die ‚Explosion‘ der gesamten Argumentation zur Folge hätte.“ Diese Konsequenz sei „kontraintuitiv“.25 Aus Neumanns Sicht darf man zwar einen logischen Widerspruch auch in juristischer Argumentation nicht hinnehmen; in diesem Sinne könne der Satz vom Widerspruch auch auf diesem Feld uneingeschränkte Geltung beanspruchen. Dass aus einem solchen Widerspruch jeder beliebige Satz folge, sei aber eine absurde Vorstellung.26 Vermeiden lasse sich diese Konsequenz, „wenn man statt auf den klassischen auf den sogenannten ‚minimallogischen‘ Kalkül zurückgreife“27 oder auch, wenn man eine parakonsistente Logik zugrundelege.28

22 Vgl. W. Stegmüller (Fn. 1), S. 70: „Innerhalb von Untersuchungen über die Grundlagen der Logik und Mathematik ist eine sehr scharfe und pedantisch eingehaltene Unterscheidung dieser beiden Sprachstufen von größter Wichtigkeit, da sonst die Gefahr des Auftretens logischer Paradoxien entsteht (z.B. die sogenannte „Antinomie des Lügners“ ...)“. 23  (Fn. 6), S. 498, Fn. 40. 24  U. Neumann (Fn. 4), S. 283. 25  U. Neumann (Fn. 2), S. 32 f. 26  U. Neumann (Fn. 7). 27  U. Neumann (Fn. 2), S. 33. 28 So U. Neumann, „Ex falso numquam quodlibet! – Eine Skizze zum Verhältnis von Logik und Argumentation“ in: Bernd Schünemann / Marie-Theres Tinnefeld / Roland Wittmann, Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps, Berlin, Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 118, 122.

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b) Nun scheint mir schon die Idee einer „Explosion der gesamten Argumentation“ auf einem Missverständnis zu beruhen (α). Der Alternativen zur klassischen Logik, die Neumann zur Diskussion stellt, bedarf es aber auch aus anderen Gründen nicht (β). α) Tatsächlich kann das ex-falso-quodlibet-Theorem auch in der juristischen Argumentation kein Unheil anrichten. Das gilt jedenfalls dann, wenn man, wie Neumann postuliert, logische Widersprüche nicht hinnimmt. In diesem Fall kann es zu der Explosion aus einem einfachen Grund nicht kommen: Das ex-falso-quodlibet-Theorem kann man in der Form (A˄¬A)→B wiedergeben (umgangssprachlich also etwa: wenn A und Nicht-A, dann B – mit einer beliebigen Aussage B)29. Als Schlussregel verwenden wir den Modus ponens, den wir so wiedergeben können: „Von den beiden Prämissen M und M→N kann man übergehen zur Konklusion N“. Setzt man nun für M als erste Prämisse A˄¬A ein und für M→N als zweite Prämisse (A˄¬A)→B, so ergibt sich für unseren Fall: „Von den beiden Prämissen A˄¬A – dem Widerspruch – und (A˄¬A)→B – dem ex-falso-quodlibet-Theorem – kann man übergehen zur Konklusion B (mit beliebigem B)“. Das ex-falso-quodlibet-Theorem allein erlaubt also den Übergang zu irgendeiner beliebigen Aussage B nicht. Nur wenn man auch die andere Prämisse, den Widerspruch A˄¬A, akzeptiert, kann es zur „Explosion der gesamten Argumentation“ kommen. Ist dies nicht der Fall, weil man den in den Prämissen steckenden Widerspruch nicht hinnimmt, dann ist man auch nicht imstande, zur Konklusion, also einer beliebig gewählten Aussage, überzugehen. β) Die für die juristische Argumentation adäquate Logik ist in der Tat zumindest die intuitionistische, wenn nicht die klassische Logik.30 Weder die minimale Logik, noch eine parakonsistente Logik kommen als Basis für die forensische und allgemein für die juristische Argumentation in Frage – und zwar als Basis in dem Sinn, dass sie zu entscheiden erlaubt, ob ein Argument korrekt ist oder nicht. αα) Minimale Logik Neumann charakterisiert die minimale Logik nicht näher, teilt aber mit, in ihr gelte das ex-falso-quodlibet-Theorem (anders als in der klassischen und der intuitionistischen Logik) nicht, und verweist im Übrigen auf Arbeiten des Philosophen Carl Friedrich Gethmann. Wir gehen im Folgenden von Gethmanns Aufsatz „Zur formalen Pragmatik des Negators“ aus.31 (i) Der dort charakterisierte minimallogische Kalkül K m scheint mir als Grundlage juristischer Argumentation schon deshalb nicht geeignet zu sein, weil er, was die Negation angeht, einen für die Argumentationspraxis zu kleinen Teil der Logik repräsentiert. Wenn sich in einem Prozess ausschließen ließe, dass ein Angeklagter   Für eine äquivalente Formulierung vgl. Jan C. Joerden (Fn. 20), S. 28 f. und 30.   Näher dazu Michael Mauer (Fn. 6), S. 507 – 510. 31  Carl Friedrich Gethmann, „Zur formalen Pragmatik des Negators“, Philosophica 35 (1985), S.  39 – 67. 29 30

Ergänzende Anmerkungen zur Logik rechtlichen Argumentierens

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sich auf einer anderen Route als über die X-Straße zu einem bestimmten Ort begeben hat, würde nicht jedes Gericht daraus den Schluss ziehen, dass der Angeklagte sich über die X-Straße zu diesem Ort begeben hat? Die minimale Logik erlaubt einen solchen Schluss nicht (nicht einmal ohne weiteres die intuitionistische Logik). (ii) Und doch ist die minimale Logik so mächtig, dass sich in ihr eine minimale Variante des „ex falso quodlibet“ beweisen lässt. Denn die Regel, nach der man von A˄¬A zu ¬B übergehen kann, gilt auch in der minimalen Logik. Und wie Gethmann unterstreicht, ist entscheidend dabei „nicht die Negation der abgeleiteten Proposition [hier ¬B], sondern ihre Beliebigkeit“32. (iii) Nun schreibt Gethmann an späterer Stelle: „Wäre es nun möglich, von jedem Falsum aus zur Behauptung einer beliebigen Proposition übergehen zu dürfen, würde dies offenkundig zu argumentativen Ungereimtheiten führen. Wer behauptet, zum Zeitpunkt ti am Ort o gewesen und nicht gewesen zu sein, den kann man darauf hinweisen, dass Falsum aus seinen Behauptungen ableitbar ist. Wenig plausibel ist es jedoch, daraus den Schluss zu ziehen, dass er der Mörder war. Ungereimtheiten werden vermieden, wenn man den Übergang zu jeder Bestreitung zulässt: wer sich auf ein Falsum stützt, erhält nur noch Unbegründbares (Refutables). Von der Behauptung der Unbegründbarkeit gibt es keinen minimallogischen (wohl aber intuitionistischen) Übergang zu einer affirmativen Begründbarkeitsbehauptung.“33

Dem scheint man aber folgendes entgegenhalten zu können: Zunächst ist ein Widerspruch, in den ein Angeklagter sich verwickelt, nicht schon ein Widerspruch der richterlichen Argumentation. Und ein Gericht, das den Angeklagten darauf aufmerksam machte, in seinen Aussagen stecke ein Widerspruch, aus dem logisch alles Beliebige folge, also auch, dass er der Mörder sei; damit liege dem Gericht ein Geständnis vor, das ihm erlaube, ihn ohne weitere Umstände zu verurteilen – ein solches Gericht wäre offenbar seiner Aufgabe nicht gewachsen. Es nähme an, ein Angeklagter (oder Zeuge) sage – und glaube – mit dem, was er tatsächlich sagt und glaubt, auch all das, was aus dem Gesagten und Geglaubten logisch und analytisch folgt. Und dies ist natürlich nicht korrekt. Wie der Logiker und Philosoph Franz von Kutschera schreibt, gibt es „kaum allgemeine Prinzipien über die innere logische Struktur faktischer Glaubensinhalte von Personen. Eine Theorie über die innere Kohärenz solcher Glaubensannahmen wäre also eine rein empirische Theorie“34. Um einen Widerspruch in der richterlichen Argumentation handelte es sich also nur, wenn das Gericht nicht nur feststellte: „Der Angeklagte hat gesagt, er sei zum Zeitpunkt ti am Ort o gewesen, und er hat gesagt, er sei zum Zeitpunkt ti nicht am Ort o gewesen“ (denn das wäre kein Widerspruch) – um einen solchen Wider  Ebd., S. 51.   Ebd., S. 56. 34  Franz von Kutschera, Einführung in die intensionale Semantik, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1976, S. 79 f. 32 33

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spruch handelte es sich nur, wenn auch das Gericht selbst feststellte, der Angeklagte sei zum Zeitpunkt ti am Ort o gewesen und nicht gewesen (auch dann wäre es natürlich seiner Aufgabe nicht gewachsen). Wenn nun aber das Gericht eine solche widersprüchliche Feststellung träfe und zur Grundlage eines logischen Schlusses zu machen willens wäre, wäre es dann weniger absurd, wenn das Gericht in Kenntnis der minimalen Logik daraus schlösse, der Angeklagte sei nicht der Mörder (also offenbar freizusprechen), als zu schließen, er sei der Mörder? Der Schluss, der Angeklagte sei nicht der Mörder, ist ja minimallogisch zulässig (s.o. ii). Kurz, die Wahl der minimalen Logik reicht als Grundlage für die juristische Argumentation nicht aus; und auch mit ihr entgeht man der Konsequenz (der minimalen Variante) des ex falso quodlibet nicht. ββ) Parakonsistente Logiken Neumann charakterisiert auch die parakonsistenten Logiken nur durch ihren Verzicht auf das ex-falso-quodlibet-Theorem. Dieser Verzicht auf den Übergang von widersprüchlichen Prämissen (zusammen mit dem Theorem) zu einer beliebigen Formel ist nun in der Tat die raison d’être dieser Logiken. Starke Varianten parakonsistenter Logiken, die dabei von der Existenz wahrer Widersprüche ausgehen (Dialetheismus), sind aber mit Neumanns Standpunkt zur Hinnehmbarkeit logischer Widersprüche nicht vereinbar – wir können solche ‚Logik‘-Varianten hier tatsächlich vernachlässigen. Schwache Varianten verfolgen zwar auch das Ziel, mit Widersprüchen in gegebenen Wissensbasen umzugehen, betrachten diese Widersprüche aber als ein Malheur, das man nur übergangsweise hinnehmen will und muss.35 (i) Parakonsistentes Schließen kann man danach als Teil eines umfassenderen Revisionsprozesses ansehen, der sich in mehreren Schritten vollzieht: • dem sinnvollen Schließen aus inkonsistenten Wissensbasen (insbesondere etwa mit der Idee, statt der inkonsistenten Wissensbasis konsistente Teilmengen von T zu betrachten und unter diesen die maximale Teilmenge auszuwählen, von der aus man klassisch schließt), • der Revision dieser Wissensbasen (Belief Revision) und • dem konsistenzerhaltenden Integrieren von neuem Wissen in die Wissensbasis. Eine derartige parakonsistente Logik ist demnach eine – sinnvolle – Methode, Widersprüche in gegebenen Wissensbasen mit minimalem Wissensverlust, also auf möglichst schonende Weise, zu eliminieren. Die dieser Methode zugrunde liegende Logik ist aber die klassische Logik. (ii) Untersuchen wir vor diesem Hintergrund den Fall einer in einem Punkt widersprüchlichen juristischen Hausarbeit, mit dem Neumann die Absurdität des 35  Vgl. für das Folgende Stefan Woltran / Gerhard Brewka, Behandlung von Inkonsistenzen, VO Wissensrepräsentation WS 2012 – http://www.informatik.uni-leipzig.de/~brewka/KRlec ture/wslides.pdf.

Ergänzende Anmerkungen zur Logik rechtlichen Argumentierens

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ex-falso-quodlibet-Theorems im Rahmen juristischer Argumentation zu demonstrieren versucht. Neumann gibt das Raisonnement des Korrektors wie folgt wieder: „Eine Behauptung enthält aber nicht nur das, was sie ausdrücklich formuliert, sondern darüberhinaus alles, was aus ihr logisch folgt. Da aus der widersprüchlichen Behauptung des Verfassers … jede beliebige Aussage folgt, enthält die Arbeit somit jede beliebige Aussage. … Die Arbeit ist somit … an jedem Punkt des Gutachtens widersprüchlich.“36

Nun scheint es mir auch bei der Korrektur solcher Arbeiten in erster Linie darum zu gehen, was der Autor der Arbeit effektiv sagt bzw. schreibt, nicht das, was aus dem Geschriebenen logisch folgt, und der Autor hat den Widerspruch ja nicht verwendet, um von ihm (zusammen mit den ex-falso-quodlibet-Theorem) auf irgendeine Aussage zu schließen. Um Aussagen der Arbeit zu bewerten, wird ein Korrektor sie zwar zuweilen auch mit ihren logischen Konsequenzen konfrontieren, diese Konsequenzen aber eben nicht als Aussagen ansehen, die der Autor selbst niedergeschrieben hat (und auch nicht ohne weiteres als solche, von denen der Autor glaubt, sie seien wahr). Stößt der Korrektor auf einen Widerspruch, so wird er dies als einen Fehler monieren; und ein Fehler ist dies deswegen, weil eine Aussage in vernünftiger Rede nicht sowohl wahr als auch falsch sein kann – und weil aus einem solchen Widerspruch jede beliebige Aussage folgte. Aber er wird aus dem angegebenen Grund nicht so tun, als behaupte der Autor alles, was aus dem Widerspruch logisch folgt. Es geht schließlich auch nicht darum, mithilfe der parakonsistenten Logik des skizzierten Typs die Folgen des Widerspruchs mit möglichst geringen Verlusten für die Substanz der Arbeit zu eliminieren. Das mag das Ziel des Autors sein, wenn er in einer kritischen Durchsicht auf den Widerspruch aufmerksam wird, ist aber nicht Aufgabe des Korrektors; der braucht nichts weiter als die klassische Logik. 3. Fazit Alles spricht also dafür, dass für die juristische Argumentation – genauer: als Kriterium für die Korrektheit formaler Argumente in einer juristischen Argumentation – die klassische Logik die richtige ist: diejenige Logik, die man von Logikkalkülen durchaus unterscheiden muss, die auch den übrigen Wissenschaften zugrunde liegt und die in der Tat formale Kriterien der Vernünftigkeit jedweden Argumentierens repräsentiert. Summary This paper is a follow-up to a paper discussing in detail Ulfrid Neumannʼs views on juridical logic. It focuses on whether the logic of legal reasoning is the classical

36

  U. Neumann (Fn. 28), S.119.

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formal logic or whether the standards of legal reasoning call for a special logic, e.g. minimal logic or a paraconsistent logic. In this context, two issues are given closer attention: the extent to which the relationship between rules and exceptions can be represented in classical logic and the consequences of admitting the ex-falso-quodlibet theorem as a standard of legal reasoning. Literatur Gethmann, Carl Friedrich, „Zur formalen Pragmatik des Negators“, in: Philosophica 35 (1985), S.  39 – 67. Joerden, Jan C., Logik im Recht, Heidelberg / Dordrecht / London / New York, Springer, 2. Auflage, 2010. Kutschera, Franz von, Elementare Logik, Wien / New York, Springer-Verlag, 1967. –– Einführung in die intensionale Semantik, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1976. Mauer, Michael, „Aspekte der Logik rechtlichen Argumentierens – Anmerkungen zu Ulfrid Neumanns ‚Juristische Logik‘“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 22 (2014), S. 485 – 519 (verbesserte Version unter https://michaelmauer.wordpress.com/). –– „Zur logischen Form rechtlicher Regeln und Prinzipien“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 2015, S. 413– 457. Neumann, Ulfrid, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986. –– „Rechtstheorie und allgemeine Wissenschaftstheorie“, in: Michael Martinek / Jürgen Schmidt/ Elmar Wadle (Hrsg.), Festschrift für Günther Jahr zum siebzigsten Geburtstag Vestigia Iuris, Tübingen, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1993, S. 157 – 168. –– „Ex falso numquam quodlibet! – Eine Skizze zum Verhältnis von Logik und Argumentation“ in: Bernd Schünemann / Marie-Theres Tinnefeld / Roland Wittmann, Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps, Berlin, Berliner Wissenschafts-Verlag, 2005, S. 117 – 124. –– „Juristische Logik“, in: Arthur Kaufmann / Winfried Hassemer / Ulfrid Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg, C. F. Müller, 8. Auflage, 2011, S. 298 – 319. –– „Juristische Logik“, in: Winfried Hassemer / Ulfrid Neumann / Frank Saliger (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg, C. F. Müller, 9., überarbeitete Auflage, 2016, S. 272 – 290. Ratschow, Eckart, Rechtswissenschaft und Formale Logik, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft, 1998. Stegmüller, Wolfgang, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band I Erklärung Begründung Kausalität, Berlin / Heidelberg / New York, Springer, 2. Auflage, 1983. Woltran, Stefan / Brewka, Gerhard, „Behandlung von Inkonsistenzen“, VO Wissensrepräsentation WS 2012 – http://www.informatik.uni-leipzig.de/~brewka/KRlecture/wslides. pdf.

Formale Logik und juristische Argumentation Ulfrid Neumann I. Vorbemerkungen Michael Mauer widmet sich in dieser Zeitschrift zum zweiten Mal1 meinen Überlegungen zum Verhältnis von formaler Logik und juristischer Argumenta­tion. In seinem Beitrag, der in diesem Heft abgedruckt ist, konzentriert er sich in der Sache auf zwei Punkte, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde, nämlich die Frage der angemessenen Darstellbarkeit des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in logischen Kalkülen (II) sowie das Problem der argumentationstheoretischen Interpretierbarkeit des ex falso quodlibet-Theorems (III). II. Zur logischen Darstellung von Regel-Ausnahme-Verhältnissen Mauer rekonstruiert zutreffend die beiden Möglichkeiten, eine prima facie-Kollision zwischen zwei Rechtsnormen aufzulösen. Die erste Möglichkeit besteht darin, eine der beiden Normen als Ausnahme-Regel in die andere Regel zu integrieren. Im Falle einer durch Notwehr gerechtfertigten Tötung eines Angreifers würden in diesem Sinne die in casu prima facie kollidierenden Normen N1 „Wer einen Menschen tötet, wird … bestraft“ und N2 „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr gerechtfertigt ist, handelt nicht rechtswidrig“ zu der Gesamtnorm N3 „Wer einen Menschen tötet, wird bestraft, sofern die Tötung nicht durch Notwehr gerechtfertigt ist“ verbunden. Die zweite Möglichkeit: Es wird eine Kollisionsregel formuliert, die festlegt, dass bei einer prima-facie-Kollision von N1 und N2 die Norm N2 Vorrang hat. Die erste Möglichkeit entspricht normtheoretisch dem Modell der „negativen Tatbestandsmerkmale“, dem zufolge das Fehlen von Voraussetzungen, bei deren Vorliegen sich eine Rechtfertigung der tatbestandsmäßigen Handlung ergeben würde, in den „Gesamttatbestand“ zu integrieren ist. Das ist nicht nur ein normlogisch konsistenter Ansatz, sondern eine Rekonstruktion, die dem konkurrieren1  Mauer, „Ergänzende Anmerkungen zur Logik rechtlichen Argumentierens“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 25 (2017), S. 299 ff. (in diesem Heft); s. schon ders., „Aspekte der Logik rechtlichen Argumentierens – Anmerkungen zu Ulfrid Neumanns ‚Juristische Logik‘“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 22 (2014), S. 485 ff.

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den Modell, das sich gezwungen sieht, zwischen der Verbotsnorm einerseits, der Pflicht, diese Verbotsnorm zu befolgen andererseits, zu differenzieren, in ihrer Klarheit und Einfachheit deutlich überlegen ist.2 Es liegt allerdings auf der Hand, dass die Norm N3 in dieser Form nicht als gültige Norm eines Rechtssystems betrachtet werden kann, das neben dem Recht­ fertigungsgrund der Notwehr noch weitere Rechtfertigungs- oder sonstige Straf­ ausschließungsgründe (der Begriff im weitesten Sinne verstanden) kennt. In sie müssten weitere Ausnahmeklauseln eingefügt werden (z.B. Notstand, Schuldunfähigkeit etc.). Das Problem: auch auf diese Weise lässt sich eine Norm Nx, die als definitive Norm des Rechtssystems angesehen werden, nicht zuverlässig konstruieren. Denn es kann niemals ausgeschlossen werden, dass die Rechtsprechung über das Gesetzesrecht hinaus weitere Strafausschließungsgründe anerkennen wird. Das würde der Annahme einer zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 abgeschlossen vorliegenden Norm Nx allerdings dann nicht entgegenstehen, wenn man die spätere Anerkennung weiterer Ausnahmegründe als Rechtsänderungen verzeichnen könnte. In diesem Fall würde das Rechtssystem ab dem Zeitpunkt der Anerkennung eines weiteren Strafausschließungsgrundes (t2) eine andere Norm enthalten als zum Zeitpunkt t1. Wir hätten es dann nicht mit einer dynamisch offenen Norm Nx zu tun, sondern mit einer zeitlich gestaffelten Sequenz jeweils abgeschlossener Normen. Vermutlich will Mauer in diese Richtung argumentieren, wenn er behauptet, bei der Formulierung neuer Rechtfertigungsgründe durch Rechtsprechung oder Strafrechtsdogmatik handele es sich „tatsächlich um neue Normen, die zuvor nicht existierten“.3 Das ist rechtstheoretisch gut vertretbar, entspricht aber nicht der Sichtweise des Rechtssystems, das mit diesen Normen operiert. Denn auch auf erstmals formulierte Regeln wird auf als im Rechtssystem bereits existente Regeln Bezug genommen. Das Gericht behauptet in einem solchen Fall, für den paradigmatisch die Entwicklung der Regeln des „übergesetzlichen Notstands“ in der Entscheidung RGSt 61, 241 stehen kann, nicht, dass es eine neue Norm kreiert habe, sondern: dass diese Norm im Rechtssystem enthalten sei. Der in diesem Kontext, in dem es um den argumentativen Umgang mit Normen geht, maßgeblichen Sichtweise entspricht also allein die Annahme einer dynamisch offenen Norm Nx. Zum Bestand des Normensystems einer Rechtsordnung gehören eben nicht nur die in diesem System tatsächlich formulierten, sondern auch die in diesem System begründbaren Normen.4 Damit stellt sich das Problem, ob man eine in diesem Sinne „offene“ Norm in einem logischen Kalkül darstellen kann. Da die möglichen Ausnahmekonstella2  Näher dazu Neumann, „Welzels Einfluss auf Strafrechtsdogmatik und Rechtsprechung in der frühen Bundesrepublik“, in: Wolfgang Frisch u. a. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, Mohr & Siebeck, Tübingen 2015, S. 157, 166 ff. (dort auch zur Möglichkeit einer argumentationstheoretischen Rechtfertigung dieses alternativen Modells). 3  Mauer S. 302, Fn. 14. 4  Dieses Argument verdanke ich der Diskussion mit Frau cand. iur. Lucia Franke, Frankfurt am Main.

Formale Logik und juristische Argumentation

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tionen im Falle offener Normen bei der Formalisierung nicht vollständig berücksichtigt werden können, wäre das im Rahmen klassischer Logiksysteme nur dann möglich, wenn man in die Formel eine „Generalklausel“ des Inhalts, dass keine (sonstige) Ausnahme vorliegt („Angstklausel“) integrieren könne. Soweit ich sehe, besteht im Schrifttum weithin Einigkeit, dass diese Möglichkeit nicht in Betracht kommt, weil sie mit einem Wechsel von der Objektsprache (Bezugnahmen auf eine Notwehrlage, Schuldunfähigkeit etc.) in die Metasprache (Bezugnahme auf das Vorliegen „einer Ausnahme“) verbunden wäre.5 Vor allem an diesem Problem entzündet sich die – von Mauer ignorierte – neuere Diskussion zur „Defeasibility“ bei Regel-Ausnahme-Strukturen.6 Mauer ist hier anderer Ansicht und verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, zur Formalisierung der Norm die Prädikatenlogik zweiter Stufe heranzuziehen. Bedauerlicher Weise verzichtet Mauer auf den Versuch einer entsprechenden Darstellung einer für noch unbestimmte Ausnahmekonstellationen offenen Norm. Sein innovativer Vorschlag lässt sich deshalb nicht seriös bewerten. III. Argumentationstheoretische Aspekte des ex falso quodlibet-Theorems Ich habe anhand des ex falso quodlibet-Theorems7 versucht, zu verdeutlichen, dass nicht allen Theoremen der klassischen Logik Standards vernünftigen Argumentierens entsprechen,8 und mich dabei u. a. auf Analysen von Carl Friedrich Geth5 Außer Neumann, Juristische Argumentationslehre, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1986, S. 26 etwa Carsten Bäcker, Begründen und Entscheiden. Kritik und Rekonstruktion der Alexyschen Diskurstheorie des Rechts, 2. Aufl., Nomos, Baden-Baden 2012, S. 308 f.; Eckart Ratschow, Rechtswissenschaft und Formale Logik, Nomos, Baden-Baden 1983, S. 138 f; Fumihiko Takahashi, „Recht, Gesetz, und Logik in juristischer Argumentation: Bemerkungen zu den Theorien von Toulmin, Alexy und Neumann“, in: Zeichen und Zauber des Rechts, Festschrift für Friedrich Lachmayer, Ed. Weblaw, Bern 2014, S. 89 ff. Dem entspricht es, dass Rödig bei der logischen Rekonstruktion des Regel-Ausnahme-Verhältnisses die allgemeine Ausnahme-Klausel nicht in den einzelnen (Straf-)Tatbestand, sondern in eine dem StGB voranzustellende Meta-Norm integrieren will. Diese Meta-Norm lautet (vereinfacht und in die Umgangssprache übersetzt): „Für alle p gilt: wenn p einen Straftatbestand verwirklicht und dabei rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat und keine Ausnahme vorliegt, soll gegen p eine Sanktion verhängt werden“ (Rödig, „Die Regel-Ausnahme-Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht“, in: ders., Schriften zur juristischen Logik, 1980, S. 329, 333). 6  Vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa Sartor, „Defeasibility in Legal Reasoning“, Rechtstheorie 24 (1993), S. 281 – 316; ders., „A Formal Model of Legal Argumentation“, Ratio Juris 7 (1994), S. 177 – 211; Wang, Peng-Hsiang, Defeasibility in der juristischen Begründung, Nomos, Baden-Baden 2003; Kotsoglou, „Zur Theorie gesetzlicher Vermutungen. Beweislast oder Defeasibility?“, in: Rechtstheorie 45 (2014), S. 243 – 276. 7  Zur logischen Korrektheit des Theorems vgl. etwa Joerden, Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele, Springer, 2. Aufl. Berlin 2010, S. 28 f. 8  Neumann, „Ex falso numquam quodlibet! Eine Skizze zum Verhältnis von Logik und Argumentation“ (2005), in: ders., Recht als Struktur und Argumentation. Beiträge zur Theorie

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mann9 bezogen. Ich habe in diesem Zusammenhang den Fall gebildet, dass sich in einer Prüfungsarbeit ein Widerspruch findet und der Korrektor auf der Basis des ex contradictione quodlibet-Prinzips schließt, die Arbeit enthalte logisch jede beliebige Behauptung sowie deren Negation und sei infolgedessen vollständig unbrauchbar. Mauer wendet dagegen ein, man brauche ja die widersprüchliche Behauptung („A und non-A“) als Prämisse des ex falso quodlibet-Schlusses nicht zu „akzeptieren“, dann stelle sich dieses Problem nicht.10 Aber so einfach lässt sich das wohl nicht lösen. Denn es geht bei der Frage des Verhältnisses von Argumentationsregeln zu logischen Theoremen nicht um die Frage, welche Prämissen man akzeptiert, sondern darum, was aus welchen Prämissen folgt. Stellt man mit Mauer schlicht darauf ab, dass man einen Widerspruch ja nicht zu akzeptieren brauche (und wohl auch nicht akzeptieren solle), dann wird jede Diskussion über das ex falso quodlibet (bzw. das ex contradictione quodlibet) sinnlos – nicht nur in der Argumentationstheorie, sondern auch im Bereich der Logik. Mauer trennt hier offensichtlich nicht hinreichend zwischen der logisch-argumentationstheoretischen Dimension einerseits, der pragmatischen andererseits. Entsprechendes gilt für die Kritik Mauers an der Argumentation, mit der Gethmann sich gegen die Tauglichkeit des ex falso quodlibet-Theorems als allgemeiner Argumentationsstandard wendet. Zunächst: die Behauptung, es sei „ein Widerspruch, in den ein Angeklagter sich verwickelt, nicht schon ein Widerspruch in der richterlichen Argumentation“11, ist unbezweifelbar richtig, geht aber an der Sache vorbei, weil Gethmann Gegenteiliges (natürlich) nicht behauptet. Und selbstredend kann es für die Beurteilung der Tauglichkeit von logischen Theoremen als Standards rationaler Argumentation nicht darauf ankommen, ob und unter welchen Umständen ein Gericht „seiner Aufgabe nicht gewachsen“ ist.12 Das mag für den Praktiker des Rechts ein relevanter Aspekt sein; im Bereich der Wissenschaftsund Argumentationstheorie geht es um strukturelle Zusammenhänge, nicht um persönliche Kompetenz oder Inkompetenz. Im Übrigen scheinen mir die Ausführungen Mauers nicht ganz frei von einem psychologistischen Missverständnis der Logik zu sein, wenn er darauf abstellt, der Korrektor in meinem Beispiel werde die logischen Konsequenzen aus der (einen Widerspruch enthaltenden) Prüfungsarbeit „eben nicht als Aussagen ansehen, die der Autor selbst niedergeschrieben hat (und auch nicht ohne weiteres als solche, von denen der Autor glaubt, sie seien wahr).“13 Es geht in der Logik ja nicht darum, des Rechts und zur Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, Nomos, Baden-Baden 2008, S.  56 – 63. 9  Carl Friedrich Gethmann, „Die Logik der Wissenschaftstheorie“, in: ders. (Hrsg.), Theorie des wissenschaftlichen Argumentierens, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 15 – 42. 10  Mauer S. 307. 11 Ibid. 12  So aber Mauer ibid. sowie S. 308. 13  Ibid. S. 309.

Formale Logik und juristische Argumentation

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zu ermitteln, was jemand glaubt, der eine Behauptung aufstellt; es geht darum, was aus dieser Behauptung logisch folgt. Und es geht ebenso wenig um den Unterschied zwischen tatsächlich formulierten („niedergeschriebenen“) und (lediglich) logisch implizierten Behauptungen. Möglicherweise hat Mauer aber auch einfach mein Beispiel missverstanden. Denn es geht in diesem Beispiel nicht um die Befürchtung, dass ein Korrektor sich tatsächlich an dem ex falso quodlibet-Theorem orientieren und deshalb eine in einem Punkt widersprüchliche Arbeit für in allen Punkten widersprüchlich erklären und folglich mit „ungenügend“ bewerten würde. Eine derartige (abseitige) Befürchtung hätte Mauer mit seinen Darlegungen überzeugend entkräftet. Es geht vielmehr um den Nachweis, dass diese Gefahr gerade deshalb nicht besteht, weil jedenfalls nicht alle Theoreme der klassischen Logik als Widerspiegelungen von Standards rationaler Argumentation interpretiert werden können und nicht in diesem Sinne interpretiert werden. Quod erat demonstrandum.

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Tagungsbericht BMBF-Klausurwoche: „Ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte invasiver und nicht-invasiver genetischer Pränataldiagnostik in Deutschland und Polen“ vom 13. 3. 2017 bis zum 17. 3. 2017 im Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Universität Ulm Die europaweite Einführung nicht-invasiver pränataler Gendiagnostik wie dem PraenaTest® führte international zu unterschiedlich gelagerten Diskussionen über die Chancen und Risiken genetischer Diagnostik. Zu diesem Themenfeld fand vom 13. bis zum 17. März 2017 am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm (Direktor: Univ.-Prof. Dr. Florian Steger) die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Klausurwoche „Ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte invasiver und nicht-invasiver genetischer Pränataldiagnostik in Deutschland und Polen“ statt. Ziel war es, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Deutschland und Polen im Bereich der pränatalen Diagnostik herauszuarbeiten. Dazu kamen polnische und deutsche Nachwuchswissenschaftler(innen) aus verschiedenen Fachbereichen, gemeinsam mit international ausgewiesenen Expert(inn)en in Ulm zusammen. Während die Beiträge der Nachwuchswissenschaftler(innen) intern diskutiert wurden, richteten sich die Vorträge der Expert(inn)en an eine breite Öffentlichkeit. In seiner Eröffnungsansprache stellte Florian Steger (Ulm) die These auf, dass die invasive und nicht-invasive Pränataldiagnostik immer mehr zu einem Routineinstrument in der Versorgung von Schwangeren werde. Die technische Weiterentwicklung in diesem Bereich stelle ethische Herausforderungen sowohl für Ärzte als auch für Frauen und Paare dar. Pränataldiagnostische Untersuchungen würden zum einen die therapeutische Behandlung eines Fetus ermöglichen. Zum anderen würden die Patientinnen zu Inanspruchnahme vorgeburtlicher Diagnostik gedrängt. Ziel der ärztlichen Beratung müsse stets sein, eine selbstbestimmte Entscheidung der Frauen zu ermöglichen. Die öffentliche Debatte zum Thema invasive und nicht-invasive Pränataldiagnostik in Polen wurde von Wanda Nowicka (Warschau) analysiert. Diese Debatte sei überwiegend durch ethische Konzepte der katholischen Kirche geprägt. Polnische Ärztinnen und Ärzte würden sich während der Schwangerschaftsberatung auf die sogenannte „Gewissensklausel“ berufen. Diese Klausel ermöglicht es polnischen Ärzt(inn)en, bestimmte Eingriffe abzulehnen. Ärzte und Ärztinnen würden den Frauen oft von pränataler Diagnostik abraten oder diese verweigern, da pränatale Diagnostik häufig zum Abbruch der Schwangerschaft führe und daher als unmoralisch angesehen werde. Joanna Miksa (Łódź) diskutierte einen Gesetzentwurf zu Schwangerschaftsabbruch und Pränataldiagnostik, der vor Kurzem ins polnische Parlament eingebracht wurde. Die Analyse dieses Gesetzentwurfs zeigte eine Veränderung der Definition der Patientin: Während

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bislang ausschließlich die schwangere Frau Patientenstatus innehatte, werden jetzt Frau und Fetus als getrennte juristische Objekte mit gleichrangigen Rechten und Schutzanforderungen dargestellt. Diese Trennung gelte vom Moment der Zeugung. Aus dieser Gleichrangigkeit von Frau und Fetus resultieren neue ethische und rechtliche Fragen, die in der öffentlichen Debatte kaum berücksichtigt werden. Die Einführung von nicht-invasiven pränatalen Tests (NIPT) stelle Herausforderungen für die Selbstbestimmung von Patientinnen dar, so Giovanni Rubeis (Ulm). Eine verpflich­ tende Testung laufe der Selbstbestimmung von Patientinnen zuwider. Voraussetzung für die Durchführung von NIPT sei eine umfassende und patientinnengerechte Aufklärung über Wesen, Bedeutung und Tragweite der Verfahren. Dabei sei es zum einen wichtig, die Qualität der Aufklärung und Beratung zu sichern. Zum anderen seien die Erwartungen und Wünsche der Patientinnen zu ermitteln. Hierzu bedarf es empirischer Daten zum Aufklärungsgespräch, anhand welcher ethische Standards für die Beratung entwickelt werden können. Antoni Torzewski (Bydgoszcz) führte die ethische Fragestellung weiter und untersuchte, welche Bedeutung nicht-invasiven Tests bei der Frage der Selektion unerwünschten Lebens zukomme. In der Debatte um NIPT in Polen spielen Begriffe wie Diskriminierung und „Eugenik“ eine wichtige Rolle. Verschiedene ethische Positionen in Polen würden Pränataldiagnostik im Kontext eines liberalen eugenischen Programms präsentieren, welches soziopolitischen Zielen diene. Die Ersetzung des Begriffs „Eugenik“ durch den weniger historisch und philosophisch belasteten Begriff „Enhancement“ könne in der Debatte um Pränataldiagnostik die ideologisch aufgeladenen Dimensionen reduzieren. Auch Manuel Willer (Halle / Saale) fokussierte seinen Beitrag auf ethische Fragen in der Debatte zu NIPT. Er plädierte für eine stärkere philosophische Fundierung des Begriffs Autonomie. Den Hintergrund seiner Überlegungen bildeten sowohl die Moralphilosophie Immanuel Kants (1724 – 1804) als auch deren kritische Aufarbeitung in der negativen Moralphilosophie Theodor W. Adornos (1903 – 1963). Autonomie sei notwendige Grundlage moralischen Handelns und selbst Ziel moralischer Handlungen. Daher finde Autonomie immer, so Willer, ihren Platz im Spannungsverhältnis von individueller Handlung und gesellschaftlicher Herrschaft. Aus der Perspektive einer pragmatistisch fundierten Handlungstheorie näherte sich Jasmin Dittmar (Kassel) der Praxis der pränatalen Diagnostik und Beratung. Anhand der Analyse exemplarischer Fälle wurden typische Krisensituationen und Lösungsstrategien im Feld der pränatalen Diagnostik und Beratung rekonstruiert. Dittmar zeigte, dass sich ärztliche Praxis häufig in einem rechtlichen Spielraum befinde. Dieser Spielraum könne in der ärztlichen Praxis durch eine spezifische Strukturlogik des ethischen Lernens ausgestaltet werden. Im Zuge dessen werde professionelle Empathie entwickelt. Die Untersuchungsund Beratungssituationen könnten dann anhand der gewonnenen Erfahrungen angepasst werden. In den politischen Diskussionen über die nicht-invasive Pränataldiagnostik (NIPD) in Deutschland fanden bisher wichtige Fragen wenig Beachtung, so Diana Schneider (Berlin). Ausgeblendet würden insbesondere Anforderungen an die Elternschaft und Probleme der Ablehnung von NIPD. Nach Schneider führen staatliche Regulierungen dazu, dass die derzeitige Pluralität bestehender Mutterschaftsbilder eingeschränkt werde. Vor allem die viel diskutierte Aufnahme der NIPD in die Mutterschafts-Richtlinien könne das gesellschaftliche Bild von Mutterschaft verändern. In diesem Fall könne eine Ablehnung von NIPD mit einer Fahrlässigkeit der Mutter gegenüber ihrem Kind gleichgestellt werden.

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Die Debatten um pränatale Diagnostik bzw. NIPT haben Auswirkungen auf die Diskussionen und den Schwangerschaftsabbruch, so Janna Wolff (Bremen). Durch die neuen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik werden bislang binär geprägte Positionen zum Schwangerschaftsabbruch ausdifferenziert. Zusätzlich stelle sich nun die Frage von Wahrnehmung und Umgang mit Ungeborenen, die eine genetische, nicht-therapierbare Abweichung vorweisen. Dadurch erhöhe sich die Komplexität der ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen. Diese Situation erfordere die Prüfung bestehender Regelungen und Schaffung eines neuen kohärenten Politikkonzepts. In ihrem Vortrag diskutierte Nadia Primc (Heidelberg) das reproduktive Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren sowie das Lebensrecht des Embryos oder Fetus. Das Ziel der NIPD sei die Stärkung der Frauen und ihrer Reproduktionsautonomie. NIPD und genetische Beratung seien Mittel zur Förderung von selbstbestimmt handelnden Menschen. Dazu sei es notwendig, nicht nur das Recht der Person auf Fortpflanzungsautonomie zu schützen. Vielmehr müsse die individuelle Verantwortung und die Pflicht, für sich und das ungeborene Kind die bestmögliche Entscheidung zu treffen, gestärkt werden. Hierfür sei die NIPD stets durch genetische Beratung zu flankieren. Rechtliche Aspekte der Pränataldiagnostik in Deutschland wurden von Franziska Huber (Augsburg) dargestellt. Huber konzentrierte sich vor allem auf das Gendiagnostikgesetz. Die nicht-invasive pränatale Diagnostik werde im Gendiagnostikgesetz nur indirekt angesprochen. Nach dem Gendiagnostikgesetz sei der PraenaTest® keine genetische Analyse; er bestimme keine genetischen Eigenschaften, sondern berechne nur Wahrscheinlichkeiten dafür. Es würde auch keine pränatale Risikobewertung geben, da das Gendiagnostikgesetz eine Untersuchung des Embryos erfordere. Eine indirekte Untersuchung des Embryos durch das im Mutterblut enthaltene genetische Material sei im Sinne des Gendiagnostikgesetzes. Dadurch könnten jedoch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten Schwierigkeiten entstehen. Barbara Krzyżewska (Warschau) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf juristische Aspekte der Patient-Arzt-Beziehung. In der medizinischen Praxis werde in Polen oft das Recht der Patientinnen auf Informationen verletzt. Häufig werden Informationen aus pränatalen Untersuchungen den Schwangeren nicht mitgeteilt. Dadurch wollen manche Ärztinnen und Ärzte einen möglichen Schwangerschaftsabbruch verhindern. Solche Praktiken stehen in deutlichem Wiederspruch zu der geltenden Rechtslage und den gerichtlichen Urteilen in Polen. Der politische Diskurs um die Fragen der Pränataldiagnostik und des Schwangerschaftsabbruchs wurde im Beitrag von Krisztina Vinter-Orzechowski (Berlin) dargestellt. Die rechtliche Grundlage für den in Polen herrschenden sogenannten „Abtreibungskompromiss“ sei im Gesetz von 7. 1. 1993 festgeschrieben. Dieser mehrheitlich unterstützte Kompromiss werde seit einigen Jahren durch Kampagnen und neue Gesetzesvorschläge angefochten. Vor allem die Gegner eines Schwangerschaftsabbruchs versuchen mit Hilfe der „Gewissensklausel“ die bestehende rechtliche Grundlage in Frage zu stellen. Die politischen und juristischen Debatten um das Thema der pränatalen Diagnostik in Polen sollten auf eine Instrumentalisierung der „Gewissensklausel“ verzichten. Dorota Kutyła (Warschau) untersuchte die Frage der Patient(inn)eninformation und des ärztlichen Geheimnisses. Den Hintergrund ihrer Überlegungen bildeten Arbeiten von Georg Simmel (1858 – 1918). Auf der Seite der Patient(inn)en stehe das Recht, die eigene Privatsphäre zu schützen. Auf der Seite der Ärztinnen und Ärzte stehe die Anforderung, möglichst viel über die Patient(inn)en zu erfahren. In der ärztlichen Behandlung gebe es keine Grenze, wenn es um das Erforschen der Krankheitsgeschichte der Patient(inn)en gehe. Die

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Patient(inn)en ihrerseits sollen die hierzu erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen. Solche Situationen würden viele ethische Fragen aufwerfen. Vasilija Rolfes (Düsseldorf) ging in ihrem Beitrag der Frage nach, ob finanzielle Barrie­ ren zur Inanspruchnahme der nicht-invasiven pränatalen Tests gerechtfertigt seien. NIPT sei zwar weltweit fast überall kommerziell verfügbar, aber nur in einigen Ländern würden die Kosten für solche Tests durch die Krankenversicherungen gedeckt. Ein höheres individuelles Risiko für eine fetale Aneuploidie als Kriterium für die Erstattung der Kosten eines nicht-invasiven pränatalen Tests vorauszusetzen, sei willkürlich und führe zu Diskriminierung. Finanzielle Barrieren seien daher bedeutsam und könnten zu einer unfairen Behandlung bestimmter Gruppen schwangerer Frauen führen. Die öffentliche Vortragsreihe wurde von Wolfgang Janni (Ulm) eröffnet. Er sprach über praktische Aspekte der pränatalen Beratung. Anhand zahlreicher Fallbeispiele aus der Praxis diskutierte Janni vor allem die ethische Dimension. Dabei wurden verschiedene Entscheidungskonflikte im Umfeld der modernen Gynäkologie dargestellt – beispielsweise in Fällen, in denen eine mögliche Fehlbildung des Fetus diagnostiziert wurde. Nach Janni sollte eine pränatale Beratung die Selbstbestimmung der Patient(inn)en unterstützen. Eine solche Beratung sollte aber auch mögliche ethische Konflikte zwischen dem Willen der Patient(inn)en und den medizinischen Risiken sorgsam abwägen. Im Zweifelsfall könnten solche Konflikte auch im Rahmen eines Konzils gelöst werden. Die aktuelle rechtliche Grundlage der Fortpflanzungsmedizin in Deutschland wurde von Josef Franz Lindner (Augsburg) anhand verschiedener Fallbeispiele analysiert. Die Rechtslage sei komplex und durch zahlreiche Kontroversen sowohl auf Seiten des Gesetzgebers als auch auf Seiten der öffentlichen Meinung geprägt. Durch die fortschreitenden technischen Entwicklungen wären in den letzten Jahren rechtliche Defizite entstanden und machten gesetzgeberische Handlung notwendig. Deshalb sei ein modernes Fortpflanzungsmedizingesetz in Deutschland notwendig. Fehlender politischer Konsens und eine zögerliche gesellschaftliche Debatte im Feld der Fortpflanzungsmedizin führten immer häufiger zu juristischen, aber auch ethischen Konflikten. Reiner Siebert (Ulm) konzentrierte sich auf humangenetische Fragestellungen. Durch Umweltfaktoren könne das epigenetische Muster der Zelle verändert werden und somit zu einer erhöhten Disposition für genetische Erkrankungen beim Fetus führen. Humangenetik trage zur Erkennung der Chromosomenaberration im frühen Stadium der fetalen Entwicklung bei. Im Rahmen der Pränataldiagnostik sei inzwischen eine deutliche Verlagerung von der Amniozentese zu nicht-invasiver genetischer Diagnostik zu verzeichnen. Ergebnisse von genetischen Tests ließen allerdings keine verlässlichen Diagnosen zu, sondern wiesen die Wahrscheinlichkeit von Aberrationen auf. Problematisch in dieser Hinsicht bleibe die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch sowie der Umgang mit Nebenbefunden. In ihrem öffentlichen Vortrag befasste sich Wanda Nowicka (Warschau) mit den aktuellen politischen Prozessen im Umfeld der Pränataldiagnostik und des Schwangerschaftsabbruchs in Polen. Die politisch-rechtliche Lage in diesem Bereich sei durch wiederholte Versuche für eine Verschärfung des geltenden Rechts gezeichnet. Zusätzlich schränke der Druck der katholischen Kirche auf die Ärzteschaft das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ein. Dies führe zu Protesten durch die Zivilgesellschaft und zu einer öffentlichen Debatte um die Säkularisierung Polens. Nowicka stellte einzelne Strömungen des zivilgesellschaftlichen Protests dar und plädierte für eine Verstärkung des Bürger(innen)engagements sowie den öffentlichen Dialog.

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Paweł Łukow (Warschau) verdeutlichte ethische Probleme der Patient(inn)enberatung in Polen. Im Mittelpunkt stand das Konzept der „non-directiveness“ während der pränatalen Beratung. „Directive“ Kommunikation mit Patient(inn)en modifiziere deren Überzeugungen und Entscheidungen. So würden in Polen die werdenden Eltern mit der Annahme konfrontiert, dass man alles tun sollte, um ein Kind zu gebären. Eine solche Haltung hindere Eltern daran, zu einer selbstbestimmten Entscheidung zu gelangen. Dagegen solle eine „non-directive“ Beratung darauf basieren, dass Informationen wertneutral dargestellt, Risiken professionell eingeschätzt und die Patient(inn)en bestärkt werden, ihre Ansichten unbeeinflusst darzulegen. Während der BMBF-Klausurwoche wurde deutlich, wie unterschiedlich die Schwerpunkte in der deutschen und polnischen Diskussion zur pränatalen Diagnostik gelagert sind. Die Diskussion in Deutschland ist besonders durch ethische Aspekte geprägt. Beachtung finden Fragen zu den Zielen der Pränataldiagnostik, der Selbstbestimmung der Pa­ tient(inn)en, der Qualität von Patient(inn)enaufklärung und -beratung sowie zum Umgang mit Menschen mit Behinderung. In Polen wiederum wird die kontrovers geführte Debatte um pränatale Diagnostik durch politische und gesellschaftliche Aspekte dominiert. Religiöse und säkulare Interessengruppen versuchen eine Änderung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch umzusetzen und verbinden dieses Anliegen mit Fragen zur pränatalen Diagnostik. Für Deutschland und Polen wurde deutlich, dass die schnelle und kostengünstige Verfügbarkeit von invasiven und nicht-invasiven Gentests Anpassungen der rechtlichen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen erfordert. Gerade der ethischen Dimension kommt in diesem Wandel eine Schlüsselposition zu. Ziel ist es, den werdenden Eltern die Möglichkeit pränataler Diagnostik zur Verfügung zu stellen und sie vollumfänglich zu beraten. Nur durch eine umfassende Aufklärung der Patient(inn)en können diese mit den Chancen und Risiken der invasiven und nicht-invasiven Gentests selbstbestimmt umgehen. 

Marcin Orzechowski / Maximilian Schochow

Konferenzübersicht Florian Steger (Universität Ulm): Einführung. Wanda Nowicka (Universität Warschau): Ethical, political and legal dimensions of limited access to prenatal diagnostics in Poland. Joanna Miksa (Universität Łódź): Who is the patient: a pregnant women or a pregnant women and the fetus? Remarks on the Polish draft legislation on abortion. Giovanni Rubeis (Universität Ulm): Ethische Implikation nicht-invasiver pränataler Testverfahren. Manuel Willer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Nicht-invasive pränatale Gentests als Prüfstein für PatientInnenautonomie. Autonomie im Spannungsfeld von individueller Handlung und sozialer Herrschaft. Jasmin Dittmar (Universität Kassel): Ethisches Lernen in der professionalisierten pränataldiagnostischen Praxis. Franziska Huber (Universität Augsburg): Legal aspects of prenatal diagnostics in Germany.

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Nadia Primc (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg): Die genetische Pränataldiagnostik zwischen Recht und Pflicht auf Gesundheit. Barbara Krzyżewska (Universität Warschau): The right to prenatal diagnostics as the right to information in the Polish law. Krisztina Vinter-Orzechowski (Berlin): Legal debate on prenatal diagnostics in Poland. Position and influence of interest groups in political and social formation of opinion in the light of recent proposals for change of the „abortion compromise“ in Poland. Dorota Kutyła (Universität Warschau): Die Dunkelheit und das Geheimnis als vergessene oder nichtexistierende Werte in der Medizin. Diana Schneider (Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft gGmbH Berlin): Welche Anforderungen in Bezug auf Elternschaft werden in der Diskussion um nicht-invasive Pränataldiagnostik formuliert? Janna Wolff (Universität Bremen): Politikwissenschaftliche Aspekte der Pränataldiagnostik. Vasilija Rolfes (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf): Die fehlende Verknüpfung: Reproduktive Autonomie und Gerechtigkeit im Kontext von nicht-invasiver Testung. Antoni Torzewski (Kazimierz-Wielki-Universität Bydgoszcz): An attempt of ethical evaluation of eugenics and non-eugenics usage of prenatal diagnostics. Narzisa Manz / Margarita Straub (Informations- und Vernetzungsstelle Pränataldiagnostik Ulm): Praktische Aspekte und Grundlagen der Beratung zur Pränataldiagnostik in Deutschland. Wolfgang Janni (Universitätsklinikum Ulm): Entscheidungskonflikte im Umfeld der modernen Pränataldiagnostik in der Gynäkologie. Josef Franz Lindner (Universität Augsburg): Fortpflanzungsmedizin aus juristischer Sicht. Reiner Siebert (Universitätsklinikum Ulm): Auf dem Weg zum fetalen (Epi)Genom? Genetische Pränataldiagnostik im Spannungsfeld von Technologieentwicklung und informierter Entscheidung. Wanda Nowicka (Universität Warschau): What politicians have to do with it? Current debates on prenatal medicine in Poland. Paweł Łuków (Universität Warschau): Making sense of non-directiveness of genetic counseling. The case of Poland.

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Stefan Arnold, Erwin Bernat, Christian Kopetzki (Hrsg.), Das Recht der Fortpflanzungsmedizin 2015 – Analyse und Kritik, Wien 2016, 188 Seiten. Stefan Arnold, Erwin Bernat, Christian Kopetzki

I.

Der vorliegende Sammelband umfasst insgesamt sieben, zum Teil erheblich erweiterte Referate einer von den Universitäten Graz und Wien veranstalteten Tagung vom 27. und 28. November 2015 zu ausgewählten zentralen Fragestellungen des österreichischen Fortpflanzungsmedizinrechts. Im Mittelpunkt steht dabei das am 24. Februar 2015 in Kraft getretene Fortpflanzungsmedizinrechts-Änderungsgesetz (FMedRÄG), welches zu einer Legalisierung zahlreicher Methoden der medizinisch unterstützten Fortpflanzung führte, die durch das restriktive Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) aus dem Jahr 1992 noch verboten waren (hierzu Bernat, 14 f.). Die Notwendigkeit zum gesetzgeberischen Tätigwerden ergab sich durch die Aufhebung wesentlicher Bestimmungen des FMedG durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof im Jahr 2013 wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK, soweit das FMedG die Inanspruchnahme von In-vitro-Fertilisation (IVF) oder künstlicher Insemination nur in verschiedengeschlechtlicher Ehe bzw. Lebensgemeinschaft gestattete (ausführlich hierzu Bernat, 36). Zu den Legalisierungen des FMedRÄG zählen insbesondere die Zulassung der IVF mit von dritter Seite gespendeten Samen, der Eizellspende, des heterologen Embryotransfers nach Eizellspende und die aufgehobene Beschränkung der IVF bzw. Insemination auf Paare verschiedenen Geschlechts. Dennoch hält auch das FMedRÄG an zahlreichen Verboten und Beschränkungen fest, die speziell in den Tagungsbeiträgen von Gutmann und Kopetzki ausführlich problematisiert und diskutiert werden und im Tenor im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot und das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung weitgehend als wenig überzeugend angesehen werden. Zu diesen im FMedRÄG verankerten Verboten gehört insbesondere dasjenige des sog. social egg freezing, also der Entnahme und Konservierung von Eizellen zur künftigen Eigenverwendung und somit zur Sicherstellung der Fertilität im fortgeschrittenen Alter (kritisch hierzu Egarter, 2 und Kopetzki, 72 f.). Zudem wird im FMedRÄG am Subsidiaritätsprinzip festgehalten, wonach medizinisch unterstützte Fortpflanzung bei gleichgeschlechtlichen Paaren in einer Ehe oder Lebensgemeinschaft immer erst dann zulässig ist, wenn die Herbeiführung der Schwangerschaft auf natürlichem Wege aus medizinischer oder sozialmedizinischer Indikation erfolglos, aussichtslos oder unzumutbar ist (kritisch Gutmann, 59 und Kopetzki, 71 f.). Weiterhin umfasst das FMedRÄG das Verbot reproduktionsmedizinischer Eingriffe für alleinstehende Frauen mit Kinderwunsch (59, 70, 107), das Verbot postmortaler Fortpflanzung für den Fall, dass der Wunschvater nach Befruchtung der Eizelle, aber noch vor der Implantation verstirbt (kritisch Gutmann, 57 und Kopetzki, 70), sowie das Verbot der Gewinnung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken (kritisch Kopetzki, 91). Die Präimplantationsdiagnostik (PID) wird lediglich begrenzt zugelassen (kritisch Gutmann, 60 f. und Kopetzki, 82 ff.). Nicht mehr explizit normiert, aber nach überwiegender Ansicht weiterhin geltend, sind die Verbote eines heterologen Embryonentransfers nach Embryonenspende (kritisch Gutmann, 59 und Kopetzki, 77 ff.) und der Leihmutterschaft. Letzteres wird von den Autoren jedenfalls für vertretbar gehalten. Allerdings unterbleiben auch bei ausführlicher Auseinandersetzung mit der Thematik sowohl in rechtlicher Hinsicht (Kopetzki, 81 f.) als auch unter dem Aspekt eines globalen Phänomens (Arnold, 125 ff.) sowie bei Forderung eines offenen Diskurses zur kontrollierten Zulassung (Gutmann, 57) konkrete Vorschläge dahingehend, unter welchen Bedingungen man sich in Österreich die begrenzte Zulassung der Leihmutterschaft

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genau vorstellen könnte. Einen für diese Frage hilfreichen Überblick über die verschiedenen Ausgestaltungen der Rechtslage zur Zulassung der Leihmutterschaft in anderen Ländern gewährt zumindest Arnold (130 ff.). In der Gesamtschau wird das FMedRÄG nicht als grundlegende Änderung, sondern als „vorsichtige Liberalisierung“ des Reproduktionsmedizinrechts gewertet (Kopetzki, 64 und auch Bernat, Gutmann). Dennoch wird allseits positiv hervorgehoben, dass in Österreich im Gegensatz zu Deutschland überhaupt eine gesetzliche Regelung existiert (Gutmann, 58 und Kopetzki, 101) und dass der österreichische Gesetzgeber das FMedRÄG zum Anlass genommen hat, über die Vorgaben des Verfassungsgerichtshof hinaus einige weitere Einschränkungen aus grundrechtlicher Sicht zu überdenken (Bernat, 38 und Kopetzki, 101). Daher wird das FMedRÄG insgesamt als Schritt in die richtige Richtung gesehen. II.

Der gut am Anfang platzierte (da entsprechende Kenntnis von Juristen hierüber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, diese für die Rechtsgestaltung aber umso unverzichtbarer ist) Beitrag des Reproduktionsmediziners Christian Egarter beleuchtet die verschiedenen Methoden der PID (Polkörperchen-Biopsie, Blastomer-Biopsie und Trophektoderm-Biopsie und non-invasive Methoden von Präimplantationstests) abhängig vom Entwicklungsstadium des Embryos, wobei ausführlich auf Vorteile, Nachteile, Entwicklungsstand, Aussagekraft und die technologischen Fortschritte bei der Chromosomenanalyse eingegangen wird. In dem daran anschließenden Beitrag des Mitherausgebers Erwin Bernat wird der Wandel in der rechtswissenschaftlichen, moralischen und politischen Beurteilung in Bezug auf die Fortpflanzungsmedizin in Österreich seit dem ersten Retortenbaby vom 5. August 1982 bis hin zum FMedRÄG von 2015 ausführlich darstellt. Dabei zeigt sich in der mit viel Detailwissen dargestellten Gesetzgebungsgeschichte die jahrzehntelange Beschäftigung des Autors mit der Materie. Zunächst wird der Weg zum FMedG von 1992 (10 ff.) und zum FMedRÄG (32 ff.) separat nachgezeichnet, wobei sowohl die einzelnen Standpunkte der großen österreichischen Parteien (SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grünen) ausführlich dargestellt werden (16 ff.) als auch, inwieweit diese sich mit der aktuellen Rechtslage identifizieren können (39 ff.). Sodann setzt sich Bernat klar und strukturiert mit einzelnen Argumenten aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion zum Fortpflanzungsmedizinrecht näher auseinander, wobei er das geltend gemachte „Natürlichkeitsargument“ zur Beschränkung der Reproduktionsmedizin folgerichtig ablehnt, weil im medizinischen Bereich gerade die Zielstellung gilt, der Natur nicht ihren freien Lauf zu lassen (23 f. und auch Gutmann, 50). Weiterhin stellt er den fehlenden verfassungsrechtlichen Schutz extrakorporaler Embryonen in Österreich heraus (24 ff.). Abschließend resümiert Bernat (43 f.), dass sich in den dargelegten Entwicklungen des Fortpflanzungsmedizinrechts in Österreich nicht nur ein Wertewandel innerhalb der Gesellschaft zeige, sondern auch, dass die den Grundrechten zugrundeliegenden Basiswerte einem solchen Wertungswandel zugänglich sind. Im Ergebnis sieht Bernat die These von der Offenheit des Rechts und seiner Verbindung zur Moral bestätigt (43 f.). Einen rechtsphilosophischen Blick auf das Fortpflanzungsmedizinrecht richtet Thomas Gutmann in seinem Beitrag, in dem er aufzeigt, „welche langwelligen normativen Dynamiken den Hintergrund unserer gegenwärtigen Diskussionen bilden“ und wie sie die Weiterentwicklung des Fortpflanzungsmedizinrechts vorantreiben (45). Der Autor stellt dabei die grundsätzliche Freiheitsvermutung für Jedermann in den Vordergrund, die er wiederholt als „Genom des liberalen Verfassungsstaats“ benennt (47, 49). Diese veranlasst ihn zusam-

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men mit der Bedeutung des Grundrechts auf reproduktive Selbstbestimmung (bzw. dem stetig wachsenden Bewusstsein dafür, 46 f.) sowie des Verbots der Diskriminierung (48 f.) zu der Prophezeiung, dass sich die verbliebenen familien- und reproduktionsrechtlichen Verbote und Benachteiligungen alternativer Lebens- und Zeugungsformen langfristig nicht aufrechterhalten lassen (49, 57). Ausführlich setzt sich Gutmann auch mit den von der Gegenseite verwendeten Argumenten der Menschenwürde und des Kindeswohls auseinander und zeigt überzeugend deren Grenzen aus argumentationslogischen Gründen und aufgrund fehlender empirischer Belege auf (54 ff.). Unklar bleibt jedoch, warum Gutmann von einem Verbot der „Eizellspende“ im FMedRÄG auszugehen scheint bzw. nicht hinreichend zwischen der nach dem FMedRÄG zulässigen Eizellspende an Dritte (wenngleich diese an Altersbeschränkungen gebunden ist) und der Eigenspende aus medizinischen Gründen auf der einen Seite sowie der verbotenen Eigenspende aus sozialer Indikation auf der anderen Seite differenziert (57). Der Mitherausgeber Christian Kopetzki führt in seinem Beitrag zu Beginn in die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Gesetzgeber im Hinblick auf reproduktionsmedizinische Bestimmungen ein und stellt dabei heraus, dass es ausschließlich darum gehe, ob und inwieweit ausreichend Gründe vorhanden sind, die Inanspruchnahme von verfügbaren reproduktionsmedizinischen Techniken zu beschränken (67, vgl. auch Gutmann 47 f.). Dabei wird nicht nur eingehend der Schutzbereich des Grundrechts der Fortpflanzungsfreiheit in Art. 8 I EMRK dargestellt (65 ff.), sondern auch die Möglichkeit der Einschränkung zugunsten anderer Rechtsgüter durch die Eingriffsermächtigung in Art. 8 II EMRK, die dem Gesetzgeber insoweit einen rechtspolitischen Beurteilungsspielraum eröffnet, der sich allerdings am Verhältnismäßigkeits- und Gleichheitsgrundsatz messen lassen muss (67 f.). Dabei fordert Kopetzki überzeugend, dass geltend gemachte Gefahren zur Beschränkung der Fortpflanzungsfreiheit hinreichend wahrscheinlich und plausibel konkretisiert sein müssen, und stellt gleichzeitig die verfassungsrechtliche Überzeugungskraft des in der Bioethik und auch i. R. d. FMedRÄG in Bezug auf Missbrauchsgefahren oft verwendeten Dammbrucharguments in Frage (68). Anschließend folgt eine umfassende und kritische verfassungsrechtliche Diskussion über die im FMedRÄG verbliebenen Beschränkungen und Verbote reproduktionsmedizinischer Methoden, die durch ihre auf den Punkt gebrachte Darstellung in der Lektüre sehr aufschlussreich ist und einen gelungenen Überblick bietet (69 ff.). Der Beitrag von Christiane Wendehorst gibt zunächst einen informativen Überblick über die geltende Rechtslage in Österreich zum Abstammungsrecht in Bezug auf die Vaterschaft und Mutterschaft unter Einbeziehung der durch die Liberalisierungen im Fortpflanzungsmedizinrecht notwendig gewordenen Anpassungen, wobei gut strukturiert zwischen medizinisch unterstützter Fortpflanzung im homologen (Verwendung der Ei- und Samenzelle der Kinderwunscheltern) und im heterologen System (Ei- oder Samenzelle stammt von einem Spender) differenziert wird. Dabei geht die Autorin der im Hinblick auf die Legalisierung der Eizellspende interessanten Frage nach, ob § 143 ABGB, wonach Mutter immer diejenige Frau ist, die das Kind geboren hat, verfassungswidrig ist (114 ff.). Dies wird von Wendehorst bejaht, weil die Möglichkeit der nachträglichen Korrektur durch einen sog. Müttertausch oder durch Anfechtung der Mutterschaft in Form der Feststellung der Nicht­abstammung des Kindes (entsprechend den Regelungen zur Vaterschaft) fehlt und somit gegen das Recht des Kindes aus Art. 8 EMRK verstoße, ein rechtliches Eltern-Kind-Verhältnis zu seinen biologischen Erzeugern herstellen zu können. Des Weiteren erhebt Wendehorst massive verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Ungleichbehandlung zwischen der Vaterschaft und der „anderen Elternschaft“ weiblicher gleichgeschlechtlicher Paare, da in letz-

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Rezension – Recension

terem Fall die automatische Elternschaft der eingetragenen Partnerin der gebärenden Mutter nach § 144 Abs. 2 ABGB unter dem Zusatzerfordernis steht, dass „an der Mutter […] vor der Geburt eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung durchgeführt worden“ ist (117 ff.). Im Ergebnis hält die Autorin das österreichische Abstammungsrecht für weitgehend gelungen (108, 122), da es zu einer Verbesserung der Rechtsstellung von Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmenden Paaren führt, auch wenn der Gesetzgeber das Abstammungsrecht mitunter – so der durchaus berechtigte Vorwurf der Autorin – zur effektiven Durchsetzung verbliebener Restriktionen des Fortpflanzungsmedizinrechts zweckentfremdet. Der Mitherausgeber Stefan Arnold beleuchtet in seinem Beitrag zunächst den bestehenden Fortpflanzungstourismus im Falle der Leihmutterschaft als globales Phänomen, bei dem die unterschiedlichen Rechtsordnungen im Wettbewerb zueinander stehen und sich auf komplexe Weise wechselseitig beeinflussen, und nimmt eine Marktanalyse vor, bei der die Interessen, Gefahren und Chancen der Beteiligten in sozialer und kultureller Hinsicht ebenso dargestellt werden, wie das Verhältnis zwischen Leihmutterschafts- und Adoptionsmärkten. Sodann stellt Arnold ausführlich und klar strukturiert dar, wie und unter welchen Voraussetzungen in Deutschland und Österreich nach Internationalem Zivilverfahrensrecht Entscheidungen aus Anbieterrechtsordnungen über die Abstammung des Kindes im Falle einer Leihmutterschaft anerkannt werden können, wobei unter Einbeziehung wichtiger deutschsprachiger Gerichtsentscheidungen ausführlich auf den anerkennungsrechtlichen  ordre-public-Vorbehalt eingegangen wird (138 ff.). In der Quintessenz plädiert Arnold folgerichtig für die Notwendigkeit globaler rechtlicher Lösungen auf dem Gebiet der Leihmutterschaft (167). Im abschließenden Beitrag von Beatrix Karl werden im Anschluss an einen kurzen Diskurs zum sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff ausgewählte Urteile des Obersten Gerichtshof in der Frage (die der OGH im Jahr 1998 aber abschließend verneint hat) dargestellt, ob die IVF-Behandlung als Krankenbehandlung i. S. d. Krankenversicherung bewertet werden kann und somit eine Kostentragungspflicht der sozialen Krankenversicherung auslöst (176 ff.). Sodann werden ausführlich wichtige Bestimmungen des IVF-FondsGesetz aus dem Jahr 1999 dargestellt, nach dem die Inanspruchnahme der IVF unter bestimmten Voraussetzungen durch den geschaffenen Fonds mitfinanziert wird (181 ff., vgl. Bernat 33). III.

Insgesamt bietet der Tagungsband einen gelungenen Einblick in die Entwicklungen des österreichischen Fortpflanzungsmedizinrechts und die damit tangierten Rechtsbereiche. Die aufschlussreiche Lektüre empfiehlt sich nicht nur deshalb gleichfalls für österreichische als auch deutsche Juristen, weil immer wieder auch Bezug zur deutschen Rechtslage und Rechtsprechung genommen wird (vor allem Gutmann, 58 f. und Arnold, 138 ff.), um sie derjenigen in Österreich gegenüberzustellen, sondern auch, weil die österreichische Rechtslage auf diesem Gebiet als Vorreiterin gelten muss und damit einschließlich der geführten Diskussion über die im Tagungsband dargestellten Problempunkte eine gute Grundlage für die Debatte um ein geplantes deutsches Fortpflanzungsmedizingesetz sein kann. 

Carola Uhlig

Autoren- und Herausgeberverzeichnis Dietrich, Frank, Prof. Dr., Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Institut für Philosophie, Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Universitätsstraße 1, D-40225 Düsseldorf E-Mail: [email protected] Fisch, Andreas, Dr., Kommende Dortmund – Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn, Brackeler Hellweg 144, D-44309 Dortmund E-Mail: [email protected] Hamenstädt, Kathrin, Dr., King’s College London, School of Law, Strand, London WC2R 2LS, U. K. E-Mail: [email protected] Hoesch, Matthias, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Philosophisches Seminar, Domplatz 23, D-48143 Münster E-Mail: [email protected] Hoffmann, Holger, Prof. Dr., Fachhochschule Bielefeld, Fachbereich Sozialwesen, Lehrgebiet Rechtswissenschaft, insbesondere Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre, Interaktion 1, D-33619 Bielefeld E-Mail: [email protected] Hoogenboom, Alexander, Dr., MSc. (LSE), LL.M., LL.B. (Maastricht), Maastricht University, Scientific Coordinator, Institute for Transnational and Euregional cross-border cooperation and Mobility (ITEM), Researcher, Faculty of Law, Maastricht University, Bouillonstraat 1 – 3, NL-6211 LH Maastricht E-Mail: [email protected] Hruschka, Joachim, Prof. (em.) Dr., Universität Erlangen, Institut für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Schillerstraße 1, D-91054 Erlangen Janda, Constanze, Prof. Dr., Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, Lehrstuhl für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft, Freiherr-vom-Stein-Straße 2, D-67346 Speyer E-Mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. Dr. Dr. h. c., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Keil, Rainer, Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Fakultätsreferent der Juristischen Fakultät, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, D-69117 Heidelberg E-Mail: [email protected] Lübbe, Anna, Prof. Dr., Hochschule Fulda, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und ADR, Leipziger Straße 123, D-36037 Fulda E-Mail: [email protected]

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Autoren- und Herausgeberverzeichnis

Mauer, Michael, Ministerialrat a.D., Halberstädterstraße 7, D-10711 Berlin E-Mail: [email protected] Müller, Andreas Th., Assoz.-Prof. MMag. Dr., LL.M. (Yale), Universität Innsbruck, Institut für Europarecht und Völkerrecht, Innrain 52, A-6020 Innsbruck E-Mail: [email protected] Neumann, Ulfrid, Prof. Dr. Dres. h. c., Goethe-Universität Frankfurt am Main, Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie, Theodor-W.Adorno-Platz 1, D-60323 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Oberprantacher, Andreas, Assoz.-Prof. PD Mag. Dr., M.A., Universität Innsbruck, Institut für Philosophie, Innrain 52, A-6020 Innsbruck E-Mail: [email protected] Orzechowski, Marcin, Dr., Universität Ulm, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Parkstraße 11, D-89073 Ulm E-Mail: [email protected] Progin-Theuerkauf, Sarah, Prof. Dr., Universität Freiburg, Lehrstuhl für Europarecht und europäisches Migrationsrecht, Avenue de Beauregard 11, CH-1700 Fribourg E-Mail: [email protected] Schochow, Maximilian, Dr., Universität Ulm, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Parkstraße 11, D-89073 Ulm E-Mail: [email protected] Tiedemann, Paul, Prof. Dr. Dr., Richter a. D., Hon.-Prof. an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Professur für Öffentliches Recht und Europarecht (Bast), Licher Str. 64, D-35394 Gießen E-Mail: [email protected] Uhlig, Carola, Ass. iur., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Zoeteweij-Turhan, Margarite, Dr., Universität Freiburg, Institut für Europarecht, Zentrum für Migrationsrecht, Avenue de Beauregard 11, CH-1700 Fribourg E-Mail: [email protected]

Personenverzeichnis / Index of Names Adorno, Theodor W.  320 Agier, Michel  261, 275 Alexy, Robert  147 Alt, Jörg  46 Arendt, Hannah  90, 94, 252, 277 Arnold, Stefan  327, 330 Athanasiou, Athena  275 Balibar, Étienne  261 f., 277 f. Benhabib, Seyla  81, 90, 92, 96, 278 Bernat, Erwin  327 f., 330 Bielefeldt, Heiner  157 Bigo, Didier  261 Blake, Michael  144 f. Böckenförde, Wolfgang-Ernst  39 Brewka, Gerhard  308 Brezger, Jan  50, 54, 68, 146, 149 Butler, Judith  258 f., 275 f. Carens, Joseph H.  50 f., 53 ff., 60, 62, 75, 81, 89, 92, 126, 150, 167 Cassee, Andreas  50, 53 ff., 57 ff., 62 f., 65 f., 68 f., 72, 126, 138 ff., 145 ff., 150 Cicero 137 Collier, Paul  97 Davis, Mike  260 Dittmar, Jasmin  320, 323 Dworkin, Ronald  147, 217, 219 f., 236 Fine, Sarah  140 Fisch, Andreas  23, 28, 29 Fukuyama, Francis  259 Gethmann, Carl-Friedrich  306 f., 314 Giddens, Anthony  251 Gosepath, Stefan  160 f. Griffin, James  52 Grotius, Hugo  87, 95, 125, 138 Gutmann, Thomas  327 ff. Habermas, Jürgen  134 f., 261

Hardin, Garret  97 Hathaway, James C.  121, 122 Hillgruber, Christian  43 Hobbes, Thomas  132 Höffe, Otfried  82, 85, 98 Hohfeld, Wesley Newcomb   148 Huber, Franziska  321, 323 Hume, David  137 Janni, Wolfgang 322, 324 Kant, Immanuel 75 ff., 125, 153, 249, 320 Kersting, Wolfgang 80, 83, 85 f., 88, 101 Kirloskar-Steinbach, Monika 126 Kleingeld, Pauline 80, 93 Klosko, George 14 Kopetzki, Christian 327 ff. Krebs, Angelika 158 Krzyżewska, Barbara 321, 324 Kuster, Brigitta 260 Kutschera, Franz von 302, 307 Kutyła, Dorota 321, 324 Kymlicka, Will 145 Ladwig, Bernd 158, 160 Lesch, Walter 29 Lindner, Josef Franz 322, 324 Locke, John 136 f. Łuków, Paweł 323, 324 Marchart, Oliver 275 Merz, Friedrich 144 Mezzadra, Sandro 260, 277 Miksa, Joanna 319, 323 Miller, David L. 28, 49, 51, 55 ff., 61 ff., 68 Mona, Martino 126, 150 f. Neilson, Brett 260, 277 Neumann, Ulfrid 299 ff. Neve, R. Alexander 122 Nida-Rümelin, Julian 75, 78, 95 f., 100 Nowicka, Wanda 319, 322 ff. Nozick, Robert 15

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Personenverzeichnis / Index of Names

Oberman, Kieran  50, 54, 57, 62, 64, 68 ff. Ohmae, Kenichi  259 Ostrom, Elinor  97 Pevnick, Ryan  136, 138 Platon 137 Primc, Nadia  321, 324 Rancière, Jacques  276 f. Ratschow, Eckart   304 Rawls, John  8 f., 11, 13 ff., 28, 67, 82, 92, 97, 128, 150 ff., 156, 158 f. Raz, Joseph  7 f., 50, 68 ff., 134 f. Rolfes, Vasilija  322, 324 Rösler, Philipp  27 Rubeis, Giovanni  320, 323 Schneider, Diana  320, 324 Siebert, Reiner  322, 324 Simmel, Georg  321 Singer, Peter  28, 75, 78 f., 98 f. Singer, Renata  78 f., 98 f. Spivak, Gayatri Chakravorty  278 Steger, Florian  319

Stegmüller, Wolfgang  299, 304 f. Thomas von Aquin  163 Torzewski, Antoni  320, 324 Trump, Donald J.   259 Tsianos, Vassilis S.  260 Tugendhat, Ernst  76, 159 f., 162 Vattel, Emer de  87 Victoria, Tomás Luis de  93 Vinter-Orzechowski, Krisztina  321, 324 Walburg, Christian  40, 45 Walzer, Michael  28, 75, 125, 152 Weizman, Eyal  261 Wellman, Christopher H.  6, 28, 49, 88, 139, 250 f. Wendehorst, Christiane  329 Willer, Manuel  320, 323 Winthrop, John  78 f., 88 Wolff, Janna  321, 324 Woltran, Stefan  308 Zaczyk, Rainer  82, 84

Sachverzeichnis / Index of Subjects Abschiebung  24, 32, 95 Abschiebungshaft  201, 207 ff., 212 Abtreibungskompromiss 321 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 59, 62, 252 Allokation  103 ff., 111, 114 Altersfeststellung 212 Aneuploidie 322 Arbeitnehmerentsenderichtlinie (RL 96/71/ EG) 290 Arbeitsmigration  286 ff. Argument  299 ff., passim Argumentation, juristische  299 ff., 311 ff. Armut  244 ff. Asyl, Asylrecht  91, 95, passim Asylkompromiss  23, 240, 242 Asylrecht  239 f., passim Asylverfahren für Minderjährige  200 Asylwahl  104, 108 f., 112 Auffangzentren 26 Authentizität  129 f., 136, 161 Autonomie  50, 56, 59 ff., 68 ff., 134 f., 147 f., 320 Autonomieprinzip  134 f. Ben Alaya-judgment (C-491/13)  227, 230, 234 Blue Card Directive (2009/50/EC)  226, 232, 295 Blue-Card-Richtlinie (2009/50 EG)  284, 287 ff. Brey-judgment (C-140/12)  176 ff. Chancengleichheit  56, 65 ff. Checkerboard legislation  219 f., 237 Chromosomenaberration 322 Club Theory  250 f. Court of Justice of the European Union 171, 264, 266, 271 Dano-judgment (C-67/14)  176, 178 ff. Daueraufenthaltsrichtlinie (2003/109/EG) 283

Defeasibility 313 Demokratie   31, 38 f., 52 ff., 72, 134 f. Demokratieprinzip  134 f., 142 Directive 2016/801 −− entry and residence  226 ff. −− entry and residence, procedural  229 −− rights not directly related to entry and residence  229, 231 Diskriminierungsverbot  63, 65, 67, 96, 327 Diskursprinzip  134 f. Drittstaatsangehörige  281 ff., 195, 209 Dublin system  123, 259 f., 263 ff., 269, 274, 278 Dublin-System  108, 110 ff., 118, 279 Dublin-Verfahren  24, 119, 210 f. Dublin-III-Verordnung (604/2013)  111 f., 210, 248 Education and Training 2020 „ET 2020“ 217 f. Effizienzprinzip  107, 108, 118 Egalitarismus  157 ff. Eigentum  65, 136 ff., 152 Einwanderungspolitik, Europäische  282, 285 Elternnachzug  s.a. Familienzusammenführung 206 Ergänzungspfleger 212 Erreichbarkeitsprinzip  107, 108, 111, 118 Ersteintrittsprinzip  110, 111, 113 EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/ EU)  208, 249 EU Fundamental Rights Charter  185 f., 273 f., 295 Eugenik 320 EU-Grundrechte-Charta  199, 214 EURODAC Regulation  260 Europäische Migrationsagenda  282 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)  111, 125, 292 European Asylum system  259, 264, 268 ff., 272

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Sachverzeichnis / Index of Subjects

European Court of Human Rights (EHCR) 264 EUROSUR 260 EU-Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG) 207 f. EU-Turkey deal  267 ex-falso-quodlibet  300, 305  ff., 311, 313  ff. Existenzminimum  136, 241 Exklusion  127, 136, 152 f. expulsion  171, 174 ff., 181, 188, 190, 191 ff. Fahimian-judgment (C-544/15)  227 fairness principle  13 ff. Familienzusammenführung / -nachzug  199, 203, 205 f., 210 f., 212 Familienzusammenführungsrichtlinie (2003/86/EG)  283, 289 Fehlschluss −− evaluativistischer 148 −− naturalistischer 137 −− systemischer 163 Flüchtlingsanerkennung /-schutz  200, 254 Flüchtlingskrise  103, 112, 239, 242, 249, 279 Flüchtlingsverantwortung  103 f., 106, 108 Fluchtursachenbekämpfung  29 f., 103 Fluchtverhinderung, aktive  45 Flughafenverfahren 212 Formalisierung von Normen  Forscher- und Studenten-Richtlinie (2016/ 801/EU)  284 Fortpflanzungsmedizingesetz 322 Fortpflanzungsmedizinrecht  327 ff. forum shopping  247, 253 free choice-Modell  25 Freiheitsrecht  61 ff., 68, 150 f. Freizügigkeit  – europäische  112, 244, 286 – globale  126, 145 ff., 149 ff., 157 ff. – als Weltbürgerrecht  75 Frontex  260, 261 G4S 261 Gastarbeiter  31, 244, 293 Gebietshoheit 165 Gedankenexperiment  62, 65, 128, 131 ff., 149 f., 154, 156, 160, 164 Gefährder  24, 39, 46

Gefährdete, existentiell  74, 94 Genfer Flüchtlingskonvention/ GFK  80, 95 f., 99, 103 ff., 117, 122, 245 Gerechtigkeit passim Geschwisternachzug  s. a. Familienzusammenführung  204, 206 Gewissensklausel  319, 321 Gleichbehandlung −− Geschlechtergleichbehandlung 290, 294 −− Inländergleichbehandlung  245 f. −− menschenrechtliche  157 f., 160, 162 Gleichheit, staatsbürgerliche  96 f. Gleichheitsprinzip  157 ff. Grundordnung, demokratisch-rechtsstaatliche 38 Haager Programm  282 Handlungstheorie 320 Hilfspflicht  28 ff., 41, 54, 75 ff., 98, 100 Hospitalität  80 f., 93 f. ICT-Richtlinie (2014/66/EU)  284, 289 ff. Identitarian movement  257 f., 274 Identität  −− kulturelle  72, 126, 144 −− nationale  144 f. −− personale  132, 136 f., 144 immigrants  3, 15 f., 18 f., 54, 255 Inklusion  31, 252 integration  171 f., 174 ff., 187 ff. Kinderrechtskonvention / KRK  197 ff. Kindeswohl, vorrangige Beachtung  198 f., 202 f., 205, 212 f. Konfliktprävention 27 Kontingentaufnahme  101, 114 ff. Kooperativer Gleichheitsbegriff  152 f., 156, 162 Kriminalität 40 Kultur, Erhalt der  38, 55 Lastenteilung  101, 107, 109, 112 ff., 119, 121 ff. Lastenteilungsprinzip  107, 109, 112 Lebensunterhaltssicherung  205, 245 legal certainty  171 ff., 176, 182 ff., 191, 194 f. Leihmutterschaft  327 f., 330

Sachverzeichnis / Index of Subjects Leistungsrecht 61 Leitkultur 144 Logik, juristische  300, 311 ff. Long-term residence  225, 223, 237 Menschenrechte  28 ff., 49  ff., 75 ff., 106, 111, 113, 115 ff., 125, 132  f., 135  ff., 157 ff., 202, 213 f., 241, 249  f., 252, 293 Menschenrechte, Sicherung der M. als Funktion des Staates  33 ff. Metaregel 301 Metasprache  304 f., 313 Migration passim Migrationspartnerschaft  26, 29, 113 f. Migrationssteuerung  239, 248, 254 Minderjährige −− Asylverfahren  200, 204, 210 −− Aufenthaltsrecht  199, 202, 204 −− Bildung  200 f., 207 −− Erholung  201, 208 −− Freiheitsentzug 201 −− Gesundheit  200, 208 −− „Identitätsrechte“ 199 −− Verfahrensfähigkeit 202 Mindeststandardprinzip  106, 108 ff., 116 Minimallogischer Kalkül  305 f. Minority rights  6 f. Mutterschafts-Richtlinien 320 Näheverhältnis 75 Nationalstaat  33, 38 f., 155 f., 249, 251 f. Naturzustand  127 f., 131 ff., Negatives Tatbestandsmerkmal  301, 311 neutrality 8 Nicht-invasive Pränataldiagnostik (NIPD) 320 f. Nicht-invasiver pränataler Test (NIPT) 320 ff. non arrival  103, 105, 111 Non-directiveness 323 non-refoulement  76, 80, 95 ff., 101 f., 245, 266 f. Obergrenze  25, 104, 106, 108  f., 114, 119 f., 122 Objektsprache  304, 313 Organisierte Kriminalität  40

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Parakonsistente Logik  300, 305 f., 308 f. perfectionism  7 f. permanent residence  171, 174, 188, 190 ff., 233 Personalität  128, 130 ff., 135 ff., 141 ff., 146 f., 161 Philanthropie  75 ff., 81 physische Existenz, Sicherung der  241 political virtues  9 ff. Post-Stockholm-Programm 282 Prädikatenlogik 2. Stufe  302 f. PraenaTest®  319, 321 Pränataldiagnostik  319 ff. Procedural guarantees  235 proportionality  171, 173 f., 176 ff., 181 ff., 186, 188, 192, 194, 230, 235 protection elsewhere  103, 106, 115 f., 119 Recht, empirisches  83 Recht, ursprüngliches  87, 94 Recht auf menschenwürdige Existenz  241, 252 Rechtsstaatsprinzip  134, 149 Reduktionsmaßnahmen, Überblick  24 ff. Refugee Protest Camps  259, 274 ff. Regel-Ausnahme-Verhältnis  300 ff., 311 ff. Reproduktionsmedizin  327 ff. Richtlinie über eine kombinierte Erlaubnis (2011/98/EU)  284 Richtlinie über Forscher (2005/71/EG)  284 Richtlinie über Schüler, Studenten und Praktikanten (2004/114/EG)  283 f. Saisonarbeiterrichtlinie (2014/36/ EU)  284, 286, 291 ff. Schengen Convention  110, 260 Schlepper/Schleuser  25 f., 45 f., 98, 105, 115 Schutzbedürftigkeit, Grad der  41 ff. Schwangerschaftsabbruch  319, 321 ff. Selbstbestimmung −− des Patienten  320, 322 f. −− individuelle  135, 160 −− reproduktive  321, 327, 329 −− staatliche  38, 139, 249 −− Selbstbewusstsein 129 Sexuelle Gewalt  42 f.

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Sachverzeichnis / Index of Subjects

Sichere Herkunftsstaaten  119, 239 f., 242 f., 246 f., 249 Sommer-judgment (C-15/11)  230 Souveränität  90, 248 f., 253 Sozialhilfe  240, 248 Stockholmer Programm  282 Student −− as a production factor  219, 221, 225, 232 ff. −− as advertisement vehicle  219, 221, 224, 232, 237 −− as desirable migrant  219, 221, 223, 225, 234 ff. Symbolpolitik 45 Tampere-Erklärung 282 Terroristen  39 f., 46 Theorie, ideale/ nicht ideale  56 ff., 71 f. tolerance  5, 9 ff. Treaty on European Union (TEU)  273 f. Treaty on the Functioning of the European Union (TFEU)  172 f., 175, 178, 186, 267 f., 271 f., 295 Tugendpflicht  75, 77 f. Überforderung, gesellschaftliche  34 ff.

Ultra posso nemo obligatur  29 upper limit  266 f. Verantwortungsteilung  104 f., 107 f., 119 f. Verbindungsprinzip  107 f., 117 Vereinigungsfreiheit  136, 139 ff., 250 f. Verfolgungsgründe  95 f. Vernunftbegriff  84 f., 87 Verstandesbegriff  84, 91 Vertrag, ursprünglicher  86, 88 Visigrad Group  270 ff. Völkerrecht  53 f., 59, 92, 125, 165 Weiterwanderung  105, 107, 113 ff., 118, 120 f., 248 Weltbürgerrecht  75 f., 80, 92 f., 100 f. Weltflüchtlingskonferenz  26, 29 Weltstaat  88 ff., 94 Wiedergutmachung 75 Wirtschaftsflüchtlinge  43 f., 239 Zirkuläre Migration  29, 291 Zufälligkeit der Grenzen  92 Zwang  77, 81 ff., passim Zwangszuordnung  105, 108 f., 112 f. Zweck  77 f., passim

Hinweise für Autoren Manuskripte sollten als Word-Datei mit Fußnoten (nicht Endnoten) eingereicht werden. Es müssen jeweils zwei Kopien der Manuskripte eingereicht werden, von denen eines den Namen des Autors nicht wieder gibt. Eingesandt werden können nur Originalbeiträge, die keinem Copyright anderer Herausgeber oder Verlage unterliegen. Mit der Einsendung des Manuskripts erklärt der Verfasser zugleich, im Falle der An­ nahme des Manuskripts zur Veröffentlichung sämtliche Rechte an dem Beitrag auf den Verlag zu übertragen; der Verfasser ist bis zur Entscheidung über die Annahme seines Beitrages an diese Erklärung gebunden. Beitragstitel und – falls vorhanden – Untertitel sind deutlich voneinander abzusetzen. Die Überschriften sind im Text in der Abstufung I., 1., a) usw. zu bezeichnen. Falls keine Überschriften vorgesehen sind, kann diese Bezeichnungsfolge auch für die Textgliederung (sog. Absatznumerierung) verwendet werden. Absätze im Text, insbesondere bei Seitenübergängen, müssen im Manuskript durch entsprechenden Zeilenabstand gekennzeichnet werden. Nachträgliche Änderungen (Teilung eines Absatzes in zwei Absätze oder Zusammenziehen mehrerer Absätze zu einem Absatz) sind kostspielig und werden dem Autor ggf. in Rechnung gestellt. Im Kleindruck (Petit) zu setzende Textteile, Aufzählungen und Übersichten sind entsprechend zu formatieren. Hervorhebungen sind durch Kursivsatz (Schrägdruck) kenntlich zu machen. Im Text sollen Namen in Normalschrift, zitierte Titel in Kursivschrift erscheinen; bei Literaturangaben in den Fußnoten wird der Autorenname kursiv hervorgehoben. Titel von Artikeln und Überschriften von Buchabschnitten sollen sowohl im Text als auch in den Fußnoten in Anführungszeichen gesetzt werden. Bei der Zitierweise ist zu beachten, dass die Zitate den Namen des Autors, den Titel des Buches oder Artikels (gefolgt von dem Titel des Buches, in dem der Artikel erschienen ist), den Ort der Veröffentlichung (bei mehr als einem Ort zwischen den Orten einen Schrägstrich): den Verlag, das Jahr und die Seitenangabe (S.) aufweisen. Wenn Artikel aus Sammelwerken zitiert werden, sollte(n) der (die) Name(n) des (der) Herausgeber(s) (in Normalschrift) nach einem vorangestellten „in:“ und gefolgt von „(Hrsg.)“ angegeben werden. Zwischen zwei oder mehr Herausgebernamen sollte jeweils ein Schrägstrich ( / ) eingefügt werden. Sofern ein Buch nur unter dem (den) Namen des (der) Herausgeber(s) zitiert wird, sollte(n) der (die) Name(n) kursiv hervorgehoben sein. Beispiele: Name, Buchtitel, Ort / Ort: Verlag, Jahr, Seitenzahl. bzw. Name, „Titel des Artikels“, in: Name / Name (Hrsg.), Buchtitel, Ort: Verlag, Jahr, Seitenzahl.

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Hinweise für Autoren

Sofern ein Werk zum zweiten oder wiederholten Male zitiert wird, sollte die Abkürzung „Ebd.“ oder „Ibid.“ verwendet werden, wenn der Nachweis sich auf eine unmittelbar ­vorausgehende Zitierung bezieht, und nach einem Komma die Seitenangabe folgen. Wenn auf eine weiter zurückliegende Zitierung Bezug genommen werden soll, sollte der Name des Autors (kursiv gesetzt) wiederholt und in Klammern auf die Fußnote, die die erste ­Zitierung des Werkes aufweist, hingewiesen werden: Name (Fn.*), Seitenzahl. Seitenhinweise auf die eigene Arbeit sind aus Kostengründen zu vermeiden und durch Gliederungshinweise zu ersetzen. Von dem gesetzten Manuskript erhält der Autor nur einen Korrekturabzug. Korrekturen müssen dabei auf das Notwendige beschränkt bleiben; Kosten für nachträgliche Änderungen gehen zu Lasten des Autors. Autoren erhalten ein Belegexemplar des betreffenden Bandes des Jahrbuchs und jeweils 15 Sonderdrucke ihres Beitrages kostenlos. Die Autoren können weitere Exemplare mit einem Nachlaß von 25 % vom Ladenpreis und weitere Sonderdrucke zu einem Seitenpreis von 0,15 € beim Verlag beziehen. Das Manuskript bitte an folgende Anschrift einsenden: Jahrbuch für Recht und Ethik Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie Europa-Universität Viadrina Postfach 17 86 D-15207 Frankfurt (Oder) Tel.: 03 35 / 55 34 - 23 36 email: [email protected]

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