Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 20 (2012). Themenschwerpunkt: Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau / Law and Ethics in Jean-Jacques Rousseau's Works [1 ed.] 9783428539604, 9783428139606

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Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics: Bd. 20 (2012). Themenschwerpunkt: Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau / Law and Ethics in Jean-Jacques Rousseau's Works [1 ed.]
 9783428539604, 9783428139606

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Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 20 (2012) Herausgegeben von B. Sharon Byrd Joachim Hruschka Jan C. Joerden

Duncker & Humblot  · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 20

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Herausgegeben von B. S h a r o n B y r d · J o a c h i m H r u s c h k a · J a n C. J o e r d e n

Band 20

Duncker & Humblot · Berlin

Jahrbuch für Recht und Ethik Annual Review of Law and Ethics Band 20 (2012) Themenschwerpunkt:

Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau Law and Ethics in Jean-Jacques Rousseau’s Works Herausgegeben von B. Sharon Byrd Joachim Hruschka Jan C. Joerden

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Empfohlene Abkürzung: JRE Recommended Abbreviation: JRE Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-4610 ISBN 978-3-428-13960-6 (Print) ISBN 978-3-428-53960-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83960-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Jahrbuch für Recht und Ethik hat diesmal aus Anlass des 300. Geburtstages von Rousseau am 28. 6. 2012 den Themenschwerpunkt Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau. Diese Thematik umfasst auch die Rezeption seiner Ideen in der nachfolgenden Philosophiegeschichte. Welchen erheblichen Einfluss das Werk von Rousseau u. a. etwa auf Kants Denken gehabt hat, ist weithin bekannt. Es mag hier nur die berühmte Stelle in den „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ aus Kants handschriftlichem Nachlass (Akad.-Ausg., Band 20, S. 44) noch einmal in Erinnerung gerufen werden, wo es u. a. heißt: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß die Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen“. In einem weiteren Teil dieses Jahrbuches sind unter der Überschrift Zur Menschenwürde Beiträge zu einem Special Workshop im Rahmen des 25. Weltkongresses der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Frankfurt am Main (15. bis 20. 8. 2011; Generalthema: „Recht, Wissenschaft und Technik“) mit dem Thema „Menschenwürde – Menschenbild – Verantwortung: Analyse von Leitbegriffen der bioethischen Debatten“ zusammengefasst. Sie werden ergänzt durch drei englisch-sprachige Beiträge, die im Rahmen einer Forschungsgruppe zu dem Thema „Herausforderungen für Menschenbild und Menschenwürde durch neuere Entwicklungen der Medizintechnik“ im Akademischen Jahr 2009 / 10 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld entstanden sind. Der Band wird – wie üblich – abgeschlossen von einem Diskussionsforum und einem Rezensionsteil. Für ihre Mitwirkung bei der Herstellung der Druckvorlagen ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Johannes Bochmann, Christiane Herzog, Dariia Ieremenko, Susen Pönitzsch, Carola Uhlig und Maximilian Silm zu danken. Carola Uhlig danken wir zudem für die sorgfältige Erstellung der Register. Last, but not least gebührt wiederum Lars Hartmann (Berlin) Dank für die umsichtige Betreuung der Drucklegung im Verlag Duncker & Humblot.

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Vorwort

Hingewiesen sei schließlich auf die Internet-Seiten des Jahrbuchs für Recht und Ethik: http://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/_projekte/jre/index.html Dort sind auch weitere Informationen, insbesondere die englische und deutsche Zusammenfassung der Artikel und Bestellinformationen, zum Jahrbuch erhältlich. Die Herausgeber

Preface The Annual Review of Law and Ethics thematically concentrates on law and ethics in Jean-Jacques Rousseau’s works in honour of Rousseau’s 300th birthday on 28th June, 2012. This topic also includes the perception of his ideas in the following history of philosophy. Rousseau’s major impact, e.g. on Kant's and other philosophers’ reasoning, is widely known. In this context the famous excerpt from his “Remarks on the Observations on the Feeling of the Beautiful and Sublime” may be called to mind: “I myself am a researcher from inclination. I feel the entire thirst for knowledge and the desirous unrest to proceed further in it or also the happiness with every acquisition. There was a time when I believed that this alone could constitute the honor of mankind and I despised the mob that knew of nothing. Rousseau brought me around. This blinding preference vanished, I learned to honor human beings and I would think myself less useful than the common worker if I did not believe that this consideration of everything else could have worth in establishing the rights of mankind.”1 Another part of this Review, under the headline On Human Dignity, summarizes contributions to a Special Workshop on the topic “Human dignity – Image of humanity – Responsibility: Analysis of Central Concepts in Bioethical Debates” during the XXV. World Congress of Philosophy of Law and Social Philosophy in Frankfurt am Main (15th–20th August, 2011; congress theme: Law, Science, Technology). These are supplemented by three contributions that were made during the academic year 2009 / 10 at the Center for Interdisciplinary Research (ZiF) at Bielefeld University on the topic of “Challenges to the Image of Man and Human Dignity by New Developments in Medical Technology”. As usual, this volume is completed by the discussion forum and book reviews. Our gratitude goes to Johannes Bochmann, Christiane Herzog, Dariia Ieremenko, Susen Pönitzsch, Carola Uhlig and Maximilian Silm, members of the Chair for Criminal Law and Legal Philosophy at the European University Viadrina Frankfurt (Oder) for their support in preparing the manuscripts for publication. We especially appreciate Carola Uhlig’s contribution in preparing the indices. Last, but not least, we would like to thank Lars Hartmann at Duncker & Humblot (Berlin) for his comprehensive assistance in printing the volume.

1 Translation by Matt Colley / Patrick Frierson, http: / / people.whitman.edu / ~frierspr / kants_bemerkungen1.htm.

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Preface

We would also like to draw the readers’ attention to our website: http:// www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/ intstrafrecht/projekte/jre/index.html where they will find further information on the Annual Review of Law and Ethics, including English and German summaries of the articles it contains and purchasing procedures. The Editors

Inhaltsverzeichnis – Table of Contents Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau – Law and Ethics in Jean-Jacques Rousseau’s Works Alexander Aichele: Reflexive Dispositionen: Jean-Jacques Rousseaus indeterministischer Begriff der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Blaise Bachofen: Das gemeinsame Interesse und jedermanns Interesse: der Ort individuellen Glücks in Rousseaus politischem Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Maximilian Forschner: Rousseaus Konzept einer Zivilreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Frithjof Grell: Rousseaus Grundlegung der Rechte des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hendrik Hansen: Rousseau und die Ambivalenz des politischen Denkens der Moderne . . .

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Karlfriedrich Herb: Autonom oder authentisch? Rousseau und die Ambivalenzen des modernen Bürgerseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jacob Emmanuel Mabe: Ethik und Demokratie bei Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . 105 Elif Özmen: Bürgerschaft und Freundschaft. Über eine mögliche Lösung des problème fondamental . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Michaela Rehm: Obligation in Rousseau: Making Natural Law History? . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Joachim Renzikowski: Strafrecht und Strafbegründung bei Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Jörn Sack: Ein neuer Gesellschaftsvertrag zur Bewahrung der Erde vor den Folgen ungezügelter Zivilisation. Rousseau als Gedankenstifter im 21. Jahrhundert? . . . . . . . . . . . . . . 169 Hans-Jörg Sigwart: Rousseau in Amerika: Liberale Tradition und demokratischer Dissens im US-amerikanischen Selbstverständigungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Stephan Zimmermann: Freiheit, Recht und Ethos in Rousseaus Contrat social . . . . . . . . . . 221 Zur Menschenwürde – On Human Dignity Kris Dierickx / David Kirchhoffer: Human Dignity and Biobanks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Daniel C. Henrich: Eugenische Entscheidungen und natürliche Grundgüter . . . . . . . . . . . . . 259 Altan Heper: Ist Menschenwürde ein gesellschaftlich notwendiger Begriff? Brauchen wir in einer pluralistischen Gesellschaft einen Menschenwürdebegriff? . . . . . . . . . . . . . . . 271

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Inhaltsverzeichnis – Table of Contents

Jacek Hołówka: Abortion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Jan C. Joerden: Maschinen mit Würde? Thesen zu einem Turing-Test für Würde . . . . . . . 311 Peter Schaber: Menschenwürde und Selbstverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Guglielmo Tamburrini: Communication by Brain Computer Interfaces and Human Dignity in Medicine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Paul Tiedemann: Is There a Human Right to Life? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Diskussionsforum – Discussion Forum João Maurício Adeodato: Rhetorik als Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Raphael Cohen-Almagor: Two-State Solution – The Way Forward . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Rezension – Review Hartmut Kreß: Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik (Helmut Goerlich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Hinweise für Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Information for Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau – Law and Ethics in Jean-Jacques Rousseau’s Works

Reflexive Dispositionen Jean-Jacques Rousseaus indeterministischer Begriff der Willensfreiheit Alexander Aichele Niemand wird bestreiten, daß der Begriff der Freiheit eine – wenn nicht gar die – zentrale Rolle im Denken Jean-Jacques Rousseaus spielt. Ebensowenig wird man bestreiten, daß ihn Rousseau normalerweise in unmittelbarer oder mittelbarer Verbindung mit dem Begriff des Willens gebraucht. Dies gilt auch dann, wenn Rousseau dezidiert von politischer Freiheit spricht, manifestiert sich diese doch in der Betätigung des Willens der politischen Gemeinschaft und ihrer Teile.1 Diese Verbindung taucht so regelmäßig auf und ist derart eng, daß es nahezuliegen scheint, Freiheit als eine Eigenschaft aufzufassen, die, wenn sie denn überhaupt von einem Subjektterm wahrheitsgemäß und nicht metonymisch ausgesagt werden soll, ausschließlich dem Willen zugesprochen werden kann. Daraus könnte man weiter folgern, daß Rousseau einen Begriff von Willensfreiheit im klassischen Sinne der weder externen noch internen Determiniertheit vertritt, daß also der Wille weder durch vom Willenssubjekt verschiedene Gegenstände noch durch vom Willen verschiedene Eigenschaften bzw. Fähigkeiten des Subjekts bestimmt wird. Dies führte zu dem Schluß, daß Rousseau einen solchen indifferenten Willen als metaphysische Qualität einer bestimmten Art von Dingen, Menschen nämlich, auffassen und daher jede kompatibilistische Reduktion von Freiheit auf Bewußtseinszustände ablehnen müßte. Daß all dies der Fall ist, soll im folgenden gezeigt werden. Dabei kann freilich nicht eigens auf die heftige und bis heute anhaltende systematische Diskussion dieser Position2 seit ihrer ersten ausdrücklichen Formulierung durch Luis de Molina3 eingegangen werden. Ohnehin ergeben sich schon genug immanente Schwierigkeiten, wenn man versucht, Rousseaus indeterministischer Intention konsequent zu folgen.

1 Vgl. etwa Jean-Jacques Rousseau, Contrat social, in: Œuvres politiques (ét. Jean Roussel), Paris: Garnier 1989, 249 – 358, I.6 / 7 und II.1, und zur Unvertretbarkeit der Willensäußerung ebd., III.15. 2 Vgl. dazu den umfassenden Überblick von Randolph Clarke, Libertarian Accounts of Free Will, Oxford: Oxford UP, 2003. 3 Vgl. Alexander Aichele, „The Real Possibility of Freedom. Luis de Molina’s Theory of Absolute Willpower in Concordia I“, in: Alexander Aichele / Matthias Kaufmann (Hrsg.), A Companion to Luis de Molina, Leiden: Brill, 2012.

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Alexander Aichele

Insbesondere unterscheidet Rousseau etwa häufig genug zwischen einem wahren oder eigentlichen und einem verkehrten oder gleichsam entfremdeten Willen.4 Will man nicht die Schizophrenie zweier, widerstreitender und voneinander verschiedener Willen in einem Subjekt diagnostizieren, erfordert eine solche Unterscheidung eine vom Willen verschiedene Instanz, die irgendwie auf den Willen einwirken können müßte, um ihn wieder zu seiner eigentlichen Ordnung zu bringen. Dann scheint der Wille aber seine eigene wesentliche Inderminiertheit zugunsten der Determination durch etwas von ihm Verschiedenes verlassen zu müssen, so daß er aufhören müßte frei zu sein, sofern seine Freiheit genau und nur in seiner Indifferenz liegt. Dasselbe Problem ergibt sich mit Rousseaus ständigen Mahnungen zur Anpassung des Wollens an die „Notwendigkeit der Dinge“5 wie auch bei der unübersehbaren Spannung zwischen der sogenannten volonté générale, wie sie den Begriff des von einer gesamten Bürgerschaft Gewollten artikuliert, und den jeweils indeterminierten Einzelwillen, die im Verhältnis zur volonté générale gerade nicht frei zu sein scheinen.6 In Frage kommen als Kandidaten für solche determinierende Instanzen insbesondere Natur, Vernunft und Gott. Alle sind zunächst von einem indifferenten Willen zu unterscheiden: Die Natur, weil sie die allgemeine Ordnung bildet, innerhalb deren ihrem Wesen nach bestimmte Dinge existieren und interagieren, während der Wille einerseits von dieser Ordnung abweichen kann und andererseits einzeln ist; die Vernunft, weil sie zwar jene natürlich bestimmte oder widernatürlich veränderte Ordnung zu erkennen, aber nicht extramental zu wirken vermag und selbst noch in ihrer erkennenden Tätigkeit vom Willen dependiert; Gott, weil sein ebenfalls indeterminierter Wille nicht fehlen, mithin nichts Böses hervorbringen kann. Vor diesem Hintergrund darf füglich gefragt werden,7 ob die auf den ersten Blick so naheliegende indeterministische Interpretation von Rousseaus Willensbegriff tatsächlich sachlich – und nicht nur rhetorisch – begründet ist, oder ob die damit unterstellte Annahme von Willensfreiheit doch zugunsten von bloßer Handlungsfreiheit, die Freiheit auf einen Bewußtseinszustand ohne metaphysische Referenz reduziert, zurückgestellt werden muß. Dies soll im folgenden, insbesondere anhand des Zwei4 Vgl. etwa Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalite parmi les hommes, in: Œuvres politiques (Fn. 1), 1 – 111, hier: II., 76 – 79; Übers. nach: JeanJacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (übs. u. hrsg. von Philipp Rippel), Stuttgart: Reclam 1998, 110 – 114. Seitenangaben in Klammern beziehen sich im Folgenden stets auf die deutschen Ausgaben. 5 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Emile ou De l’éducation (ét. par Charles Wirz, prés. et ann. par Pierre Burgelin), in: Œuvres complètes (ed. Bernard Gagnebin / Marcel Raymond), Paris: Gallimard, 1969, vol. IV, 239 – 868, hier: II., 320. Übers. nach: Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (hrsg., eingel. und mit Anm. vers. von Martin Rang unter Mitarb. des Hrg. aus dem Frz. von Eleonore Schkommodau), Stuttgart: Reclam, 1993, 208 f. 6 Vgl. Rousseau, Contrat social (Fn. 1), II.1 / 6. 7 Es ist bezeichnend und, soweit ich sehe, durchaus repräsentativ, daß etwa in einem so anspruchsvollen Durchgang durch die Geschichte des Willensbegriffs, wie ihn Thomas Pink / M.W.F. Stone (ed.), The Will and Human Action. From Antiquity to the Present Day, London / New York: Routledge, 2004, darstellt, Rousseau an keiner Stelle auftaucht.

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ten Diskurses und des Emile bzw. des Contrat social,8 geschehen. Dabei ist zunächst zu zeigen, daß bereits die natürliche, amoralische Freiheit des homme sauvage auf der wesentlichen Indifferenz des Willens beruht. Darauf folgt eine Analyse des speziellen Willensgebrauchs des zivilisierten, moralisch urteilenden Menschen, der sich seinem Wesen nach allerdings gar nicht vom ursprünglichen Menschen unterscheiden kann, da sich erweist, daß die seinen Entscheidungen zugrundeliegende Eigenliebe eine akzidentielle Disposition zu individuell reflexiven Urteilen darstellt. Sodann ist die Möglichkeit moralisch guter Willensbestimmungen vor dem Hintergrund ebendieser Disposition zu untersuchen, die dadurch gewährleistet wird, auch die Selbstliebe als Disposition zu begreifen, jedoch als solche zu universalen reflexiven Urteilen. Abschließend soll vor dem Hintergrund der geleisteten logischen und vermögenstheoretischen Analyse noch auf den in der Tat freiheitsgefährdenden Charakter des Begriffs der volontè générale aufmerksam gemacht werden.

I. Wille ohne Instinkt: Die Freiheit des homme sauvage Zu Beginn des Zweiten Diskurses konstruiert Rousseau einen Begriff des Menschen, „wie e(r) aus den Händen der Natur hervorgegangen sein muß“.9 Diese Konstruktion beruht auf einem durchaus buchstäblich zu verstehenden Abstraktionsverfahren, das indes selektiv angewendet wird. Mögliche physiologische Veränderungen der Spezies Mensch im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte bleiben außer Betracht.10 Rousseaus richtet sein Augenmerk allein auf mentale Potentialitäten. Nur diese bilden den Gegenstand seines Abstraktionsverfahrens. Er sondert nämlich ausschließlich „übernatürliche Gaben“ (dons surnaturels) und „künstliche Fähigkeiten“ (facultés artificielles) vom menschlichen Gemüt als ihrem Träger ab,11 d. h. alle jene Eigenschaften, die ihm nicht von Natur aus zukommen, und bemüht sich folglich – gut aristotelisch – um einen von Akzidentien freien, essentiell bestimmten Begriff des Menschen, insofern er genau und nur ein solcher ist. Dieser Abzug aller naturtranszendenten Kenntnisse und aller auf bestimmte Techniken festgelegten Dispositionen führt zu einem erstaunlichen Ergebnis. Denn vor Rousseaus Augen steht nun „ein Tier, das weniger stark ist als die einen, weniger flink als die anderen, alles in allem genommen aber am vorteilhaftesten von allen ausgestattet“.12 Worin besteht diese natürliche Überlegenheit des Menschen bei gleichzeitiger und in ver-

8 Zum Zusammenhang dieser Schriften vgl. trotz ihrer apologetischen und v. a. hegelianisierenden und daher verunklärenden Tendenz immer noch die Arbeit von Otto Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963. 9 „[E]n le (sc. l’homme) considérant, en un mot, tel qu’il a dû sortir des mains de la nature“. Rousseau, Discours (Fn. 4), I., 26 (36). 10 Vgl. ebd. (35). 11 Ebd. (35 f.). 12 „[J]e vois un animal moins fort que les uns, moins agile que les autres, mais, à tout prendre, organisé le plus avantageusement de tous“; ebd. (36).

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schiedener Weise ausgeprägter körperlicher Unterlegenheit gegenüber den anderen Tieren? Rousseau beantwortet diese Frage sogleich im unmittelbar folgenden Absatz: „Die unter ihnen (sc. den Tieren) verstreut lebenden Menschen beobachten ihre Geschicklichkeit, ahmen sie nach und erheben sich so bis zum Instinkt der Tiere, mit dem Vorteil jedoch, daß jede andere Art nur ihren eigenen Instinkt hat, während der Mensch, der vielleicht gar keinen ihm eigentümlichen hat, sie sich alle aneignet, sich auf die gleiche Weise von den meisten der verschiedenen Nahrungsmitteln ernährt, welche die anderen Tiere unter sich teilen, und der folglich sein Auskommen leichter findet, als irgendeines von ihnen dies kann.“13

Die Überlegenheit des Menschen über die anderen Tiere besteht also präzise in der dispositionalen Nicht-Festgelegtheit bzw. der indifferenten Potentialität der mentalen Vermögen des Menschen, und deren Geistigkeit besteht in ihrer NichtFestgelegtheit.14 Der Mensch verfügt demnach von Natur aus über gar keine Fähigkeiten, die von Natur aus auf bestimmte Tätigkeiten festgelegt sind und deren mit seiner bloßen Existenz schon gegebene, automatische Aktualisierung die fortdauernde Aufrechterhaltung seiner Existenz sichern. Er besitzt keinen ihm allein eigentümlichen Instinkt. Dies unterscheidet ihn zunächst ex negativo von den Tieren. Ein bloß negativer Begriff erbringt aber nicht die Identifikationsleistung, die Rousseau anstrebt. Er ist daher logisch auf eine positive Bestimmung verpflichtet. Er gibt sie, indem er dem Menschen die Tätigkeiten des Beobachtens und Nachahmens zuschreibt. Aus ihnen erst ergibt sich die Adaption jederzeit spezifischer tierischer Instinkte durch den Menschen. Deren Gebrauch dient als Mittel zur Existenzsicherung. Auf der Basis mentaler Operationen – insbesondere Unterscheidung (distinguer), Vergleich (comparer) und Erwartung (attendre), mithin des Urteilens15 –, die im Vergleich zu den allein instinktgesteuerten, nach Rousseau durchaus 13 „Les hommes, dispersés parmi eux, observent, imitent leur industrie, et s’élèvent ainsi jusqu’à l’instinct des bêtes; avec cet avantage que chaque espèce n’a que le sien propre, et que l’homme n’en ayant peut-être aucun qui lui appartienne, se les approprie tous, se nourrit également de la plupart des aliments divers que les autres animaux se partagent, et trouve par conséquent sas subsistance plus aisément que ne peut faire aucun d’eux.“, ebd., I., 27 (36). 14 Vgl. ebd. I., 32 (45). 15 Vgl. ebd., I., 28 (37 f.). Es ist klar, daß diese Aktivitäten zumindest das Vorhandensein und die Betätigung aller intellektuellen Vermögen samt eines artbezogenen Selbstbewußtseins (s. dazu u.) einschließen, die zu so etwas Kompliziertem wie dem Fällen von Urteilen, die womöglich auch contingentia futura betreffen, erforderlich sind. Diese Feststellung, die Rousseau in einer seiner Anmerkungen ( vgl. ebd., Note XV, 107 f. [Anm. o, 152]) noch betont, verträgt sich ausgesprochen schlecht mit Frederick Neuhousers These (Rousseau’s Theodicy of Self-Love. Evil, Rationality, an the Drive for Recognition, Oxford: Oxford UP 2008, 223), daß jeder Vergleich und damit alle Rationalität Eigenliebe voraussetzt. Eine ausführliche Analyse von Rousseaus Erkenntnistheorie, die zu recht deren Schwerpunkt auf die Entwicklung der Urteilskraft legt, findet sich in: Rainer Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2008, 213 – 514.

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mechanisierten,16 d. h. abweichungsfreien, Tätigkeiten der Tiere, bereits ziemlich komplex sind, erwirbt der Mensch Fähigkeiten, die ihm von Natur aus nicht zukommen. Er kann also, kurz gesagt, lernen, und er muß dies tun, um zu überleben. Damit kommt ihm jedoch schon ein kategorial anderes Vermögen zu, als dies eine von Natur aus, mithin unveränderlich auf genau eine Art von Tätigkeit festgelegte Fähigkeit wäre. Vielmehr erfordert das Fehlen solchen, durch einen spezifischen Instinkt festgelegten und demgemäß spezifizierten Verhaltens ein diesbezüglich indifferentes Vermögen, um die Existenz eines derartigen, instinktlosen Wesens zu sichern. Dieses Vermögen muß ein solches zum beliebigen Erwerb spezifischer Fähigkeiten sein. Das Wesen des Menschen scheint daher in seiner indifferenten Potentialität zum Dispositionserwerb zu bestehen. Freilich ist mit der bloßen Gegebenheit dieses Meta-Vermögens noch keine einzige Fähigkeit erworben; – von der Möglichkeit auf die Wirklichkeit führt kein Schluß. Dann ist aber auch die gesuchte Wesensbestimmung noch nicht gefunden. Denn indem man sagt, was etwas sein kann, sagt man ja zunächst einmal nur, was es gerade nicht ist. Klar ist immerhin bereits, daß die Gegenstände jenes Vermögens, d. h. die zu erwerbenden Dispositionen, kontingent sein müssen. Sie könnten sonst gar nicht erworben werden. Ebenfalls klar ist, daß das Wesen, das Träger jenes Meta-Vermögens ist, bestimmte physiologische und intellektuelle Eigenschaften besitzen muß. Letztere müssen die Bildung von Urteilen zulassen. Bis zu diesem Punkt besteht aber nach Rousseaus Auffassung nur ein gradueller Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren: „Es ist also nicht so sehr der Verstand, der den spezifischen Unterschied des Menschen gegenüber den anderen Tieren bildet“.17 Die differentia specifica, welche die Wesensbestimmung vollendet, ist vielmehr in der Weise zu finden, wie Urteile gebildet werden. Die hierfür erforderliche Verbindung von Vorstellungen geschieht nach Rousseau beim nicht-menschlichen Tier mit Notwendigkeit. Sie läßt also keine Alternativen zu. Vielmehr ist sie durch die Natur selbst, d. h. durch die Gesetze der Mechanik,18 determiniert.19 Diese natürliche Determination der Verbindung von Vorstellungen im Urteilen gilt jedoch für den Menschen nicht: „Jenes (sc. das Tier) wählt oder verwirft aus Instinkt, dieser durch einen Akt der Freiheit, was mit sich bringt, daß das Tier nicht von der Regel 16 „Je ne vois dans tout animal qu’une machine ingénieuse, à qui la nature a donné des sens pour se remonter elle-même, et pour se garantir, jusqu’à un certain point, de tout ce qui tend à la détruire ou à la déranger. J’aperçois précisément les mêmes choses dans la machine humaine, avec cette différence que la nature seule fait tout dans les opérations de la bête, au lieu que l’homme concourt aux siennes en qualité d’agent libre.“ Rousseau, Discours (Fn. 4), I., 32 (44). 17 „Tout animal a des idées, puisqu’il a de sens; il combine même ses idées jusqu’à un certain point: et l’homme ne diffère à cet égard de la bête que du plus au moins; […] Ce n’est donc pas tant l’entendement qui fait parmi les animaux la distinction spécifique que sa qualité d’agent libre.“ Ebd. (45). 18 „(L)a physique explique en quelque manière le mécanisme des sens et la formation des idées“; ebd. 19 „La nature commande à tout animal, et la bête obéit.“ Ebd.

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abweichen kann, die ihm vorgeschrieben ist, selbst wenn es vorteilhaft für es wäre, und daß der Mensch oft zu seinem Schaden davon abweicht.“20 Der Natur determiniert die Urteile eines nicht-menschlichen Tieres. Ein Tier kann sich daher nicht irren. Seine Urteile sind also immer wahr. Dies schließt jedoch schon aus, daß es alle überhaupt möglichen wahren Urteile bilden kann. Denn diese umfassen ja auch alle, die der Möglichkeit nach falsch sind. Ein Tier kann daher keine Urteile bilden, die bloß wahrheitsfähig sind, so daß über ihren Wahrheitswert erst noch entschieden werden müßte, wenngleich freilich alle seine wahren Urteile naturgemäß auch wahrheitsfähig sind. Die formale Struktur von Vorstellungsverbindungen in Urteilen ist somit bei Tier und Mensch dieselbe. Beim Menschen kommt nur noch die Indifferenz ihres Wahrheitswertes hinzu. Indem er die Wahrheit einer Vorstellungsverbindung bejaht oder verneint, urteilt er, während ein Tier vermittels seiner natürlichen Determiniertheit ausschließlich über als wahr zu beurteilende Vorstellungsverbindungen verfügt; es besitzt wahre Urteile, ohne urteilen zu müssen. Dem Menschen steht hingegen Bejahung oder Verneinung frei. Er kann sich folglich irren. Einen Irrtum beschreibt Rousseau als Abweichung von der Regel der Natur. Dies wirkt aufgrund der erklärten Nicht-Festgelegtheit seiner Tätigkeiten durch spezifische Regularitäten, d. h. der Abwesenheit spezifischer natürlicher Verhaltensdispositionen bzw. Instinkten, irritierend. Es ist deswegen hilfreich, einen Blick auf Rousseaus Beispiel zu werfen: „So würde eine Taube neben einer mit bestem Fleich gefüllten Schüssel verhungern und eine Katze auf Haufen von Früchten oder Korn, obgleich sich beide sehr wohl von dem Futter, das sie verschmähen, ernähren könnten, wenn sie auf den Gedanken kämen, davon zu kosten. So überlassen sich die ausschweifenden Menschen Exzessen, die bei ihnen Fieber und Tod verursachen, weil der Geist die Sinne verdirbt und der Wille noch spricht, wenn die Natur schweigt.“21 Rousseaus originelle These von der prinzipiellen Omnivorität aller Tiere einmal beiseite gelassen, läßt das Beispiel doch sehen, welches die natürliche Regel ist, von der Menschen abweichen können. Der Mensch teilt mit allen anderen Tieren den Trieb zur Sicherung der individuellen Existenz wie der der Spezies. Zur Verfolgung dieses Zwecks ist er im Unterschied zu allen anderen Tieren nicht durch Instinkte auf spezifische Tätigkeiten bzw. den Gebrauch spezifischer Mittel festgelegt. Welche Tätigkeit bzw. welches Mittel hierfür geeignet ist, untersteht vielmehr seinem Urteil. Indem er urteilt, kann er irren. Er kann daher für die Erreichung des allgemeinen natürlichen Zwecks ungeeignete Tätigkeiten oder Mittel für geeignet 20 „L’une choisit ou rejette par instict, et l’autre par un acte de liberté; ce qui fait que la bête ne peut s’écarter de la règle qui lui est prescrite, même quand il lui serait avantageux de le faire, et que l’homme s’en écarte souvent à son préjudice.“ Ebd. (44). 21 „C’est ainsi qu’un pigeon mourrait de faim près d’un bassin rempli des meilleurs viandes, et un chat sur de tas de fruits ou de grains, quoique l’un et l’autre pût très bien se nourrir de l’aliment qu’il dédaigne, s’il était avisé d’en essayer; c’est ainsi que les hommes dissolus se livrent à des excès qui leur causent la fièvre et la mort, parce que l’esprit déprave les sens, et que la volonté parle encore quand la nature se tait.“ Ebd.

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halten und umgekehrt. Tut er dies, weicht er von der Regel der Natur ab. Diese fungiert daher offenbar als Wahrheitskriterium seiner Urteile, insofern sie seine existenziellen Bedürfnisse bestimmt, die nicht von denen der anderen Tiere verschieden sind. Daher entspricht der Beliebigkeit der Urteile, die der Mensch über mögliche geeignete Tätigkeiten und Mittel zu ihrer Befriedigung fällen kann, nicht Beliebigkeit der tatsächlich geeigneten Tätigkeiten und Mittel. Er ist daher zwar hinsichtlich dieses Fehlerrisikos den anderen Tieren unterlegen, dies wird aber bei weitem dadurch kompensiert, daß er kraft seines Urteilsvermögens Zugriff auf alle möglichen, tatsächlich zur Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse geeigneten Mittel und Tätigkeiten hat. Er ist also gerade aufgrund seiner Instinktlosigkeit instinktdeterminierten Lebewesen überlegen, weil er anders als diese seine Dispositionen erst erwerben muß und ebenso wieder ändern kann. Das Vermögen, das den Wahrheitswert seiner Urteile festlegt, ist nach Rousseau nun der Wille, der in der angeführten Passage erstmals in zentraler Funktion auftaucht. Er ist weder durch die Natur selbst noch durch den Intellekt determiniert. Nicht durch die Natur, weil er genau die Stelle der tätigkeitsdeterminierenden Instanz einnimmt, die bei den anderen Tieren der Instinkt besetzt; nicht durch den Intellekt, weil dieser zwar wahrheitsfähige Vorstellungsverbindungen bereitstellt, aber nicht über deren Wahrheitswert entscheidet. Weil aber der Erwerb einer jeden spezifischen Disposition von einem Urteil über die Eignung der entsprechenden Tätigkeit zur Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse abhängt, muß es auch der Wille sein, der das Meta-Vermögen zum beliebigen Dispositionserwerb aktualisiert, das den Menschen ex negativo von den Tieren unterscheidet. Der Wille selbst ist daher die gesuchte differentia specifica, die den Menschen positiv von den anderen Tieren unterscheidet. Daraus folgt, daß seine artgemäße Existenz nicht von der Betätigung des Willens dependiert, sondern auch in ihr besteht. Der Mensch kann also gar nichts tun, ohne es auch zu wollen. Denn alle seine Tätigkeiten setzen aufgrund ihrer Nicht-Festgelegtheit durch Instinkte Urteile voraus, die durch nichts, was vom Willen selbst verschieden ist, determiniert werden. Es ist genau diese externe, d. h. mechanische bzw. physiologische, wie interne, d. h. intellektuelle, Indeterminiertheit bei gleichzeitiger spontaner22 Selbstdetermination, welche Freiheit ausmacht. Rousseau betont daher zu recht den metaphysischen Charakter dieser Eigenschaft.23 Dieser besteht, systematisch betrachtet, in ihrer Unabhängigkeit von Bewußtseinszuständen: Vielmehr setzt jeder reflexive Zustand, d. h. ein solcher, in dem sich ein Subjekt selbst eine Eigenschaft zuschreibt, bereits Willensaktivität voraus, weil diese Selbstzuschreibung die Struktur

22 „J’apperçois dans les corps deux sortes de mouvement, savoir: mouvement communique et mouvement spontané ou volontaire. Dans le prémier, la cause motrice est étrangére au corps mû, et dans le second, elle est en lui-même“. Rousseau, Emile (Fn. 5), IV., Profession de foi du vicaire savoyard, 574 (557). 23 „Je n’ai considéré jusqu’ici que l’homme physique; tâchons de le regarder maintenant par le côté métaphysique et moral.“ Rousseau, Discours (Fn. 4), I., 32 (44).

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eines Urteils hat. Dabei bietet das indifferente Verhältnis zum von Natur aus Gegebenen den möglichen Anlaß für solche Urteile.24 Reflexives oder auch diesem vorgängiges intuitives25 Bewußtsein ist deswegen nur die ratio cognoscendi von Freiheit, während die auf indeterminierte Vermögen gerichtete, selbst indeterminierte determinierende – „wählende“, wie sie Rousseau nennt – Tätigkeit des Willens ihre ratio essendi bildet.26 Die Freiheit des Willens ist also stets gegeben, egal ob man um sie weiß oder nicht. Rousseau begreift so den Willen in klassisch augustinischer Tradition als liberum arbitrium, d. h. als im indeterministischen Sinne freie Entscheidung. Die Freiheit des Menschen, wie er von Natur aus ist, ist daher als Willensfreiheit – im Unterschied zu bloßer Handlungsfreiheit – zu bestimmen. Rousseau geht dabei von einem agentenkausalen Modell aus,27 wonach der Wille zugleich die Bewegungsursache des Körpers bildet, so daß eine immaterielle, d. h. den mechanischen Gesetzen nicht unterworfene, Aktivität auf nicht weiter erklärbare Weise Wirkungen in der materiellen Welt hervorbringt28 und auf diese Weise in den natürlichen Kausalverlauf eingreift. II. Der böse Wille zwischen Selbstliebe und Eigenliebe Verstanden als metaphysisches Vermögen kann die Freiheit des homme sauvage also gar keine andere als die des zivilisierten Menschen sein, da sie beider Zugehörigkeit zur selben Spezies bestimmt. Dennoch wird Rousseau nicht müde, den extremen Unterscheid zwischen beiden zu betonen.29 Dieser kann freilich nur graduell sein. Er liegt in der Art des Willensgebrauchs. 24 „La nature commande à tout animal, et la bête obéit. L’homme éprouve la même impression, mais il se reconnaît libre d’acquiescer ou de résister;“ ebd. (45). 25 „Vous me demanderez encore comment je sais donc qu’il y a des mouvements spontanés; je vous dirai que je le sais parce que je le sens. Je veux mouvoir mon bras et je le meus, sans que ce mouvement ait d’autre cause immédiate que ma volonté. C’est en vain qu’on voudroit raisoner pour détruire en moi ce sentiment; il est plus fort que toute évidence; autant vaudroit me prouver que je n’existe pas.“ Rousseau, Emile (Fn. 5), IV., Profession, 574 (557 f.). 26 „(E)t c’est surtout dans la conscience de cette liberté que se montre la spiritualité de son âme; car la physique explique en quelque manière le mécanisme des sens et la formation des idées, mais dans la puissance de vouloir ou plutôt de choisir, et dans le sentiment de cette puissance, on ne trouve que des actes purement spirituels, dont on n’explique rien par les lois de la mécanique.“ Rousseau, Discours (Fn. 4), I., 32 (45). 27 Vgl. dazu zum Überblick: Timothy O’Connor, „Libertarian Views: Dualist and AgentCausal Doctrines“, in: Robert Kane (ed.), The Oxford Handbook of Free Will, Oxford: Oxford UP, 2002, 337 – 355. 28 „Comment une volonté produit-elle une action physique et corporelle? Je n’en sais rien, mais j’éprouve en moi qu’elle la produit. Je veux agir, et j’agis; je veux mouvoir mon corps, et mon corps se meut; mais qu’un corps inanimé et en repos vienne à se mouvoir de lui-même ou produise le mouvement, cela est incompréhensible et sans éxemple. La volonté m’est connüe par ses actes, non par sa nature. Je connois cette volonté comme cause motrice, mais concevoir la matiére productrice du mouvement, c’est clairement concevoir un effet sans cause, c’est ne concevoir absolument rien.“ Rousseau, Emile (Fn. 5), IV., Profession, 576 (560). 29 Vgl. etwa Rousseau, Discours (Fn. 4), I., 37 (52) pass.

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Der Wille ist dasjenige natürliche Vermögen des Menschen, welches bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse die Funktion ersetzt, die bei den anderen Tieren die Instinkte erfüllen. Nun kennt der homme sauvage überhaupt nur natürliche Bedürfnisse. Diese können jederzeit leicht befriedigt werden: „Ich sehe es (sc. das Menschentier), wie es sich unter einer Eiche sättigt, am erstbesten Bach seinen Durst stillt und sein Lager am Fuß desselben Baumes findet, der ihm sein Mahl gespendet hat; und damit sind seine Bedürfnisse befriedigt.“30 Ebensowenig Probleme wie die Selbsterhaltung bereitet der Trieb zur Fortpflanzung. Ihm wird bei beliebigen Gelegenheiten zwischen beliebigen Partnern genüge getan.31 Bis auf die Nicht-Festgelegtheit des Menschen auf spezifische Nahrungsquellen, Aufenthaltsorte und Brunftzeiten, welche indes bereits die Spontaneität seiner bedürfnisbefriedigenden Tätigkeit erfordert, läßt sich daher kein Unterschied zum instinktgesteuerten Verhalten der Tiere ausmachen. Der Wille agiert in diesem Zustand allein im Dienst der natürlichen Triebe. Der Mensch ist frei, ohne es zu wissen, und gebraucht seine Freiheit gänzlich unbewußt. Dementsprechend kontingent verläuft auch der Dispositionserwerb, der zwar die Betätigung des Intellekts voraussetzt, aber nicht als solcher bezweckt wird. Es ist folglich die Reflexionslosigkeit, die den Willensgebrauch des homme sauvage auszeichnet. Reflexion bedarf nach Rousseau der Sprache, und der Bedarf nach Sprache ergibt sich erst im Zusammenleben.32 Ohne näher auf Rousseaus Theorie der Sprachentstehung und der Vergesellschaftung eingehen zu müssen, liegt doch auf der Hand, daß erst unter der Gegebenheit dieser sich wechselseitig bedingenden Voraussetzungen Moral möglich ist. Diese besteht zunächst in nichts anderem als in der Möglichkeit, gut und böse zu unterscheiden. Die Fähigkeit, moralisch zu urteilen, muß erst erworben werden. Sie erfordert die begriffliche Bestimmung des Guten und des Bösen als Urteilskriterien, die dem Menschen in seinem ursprünglichen Zustand noch nicht zur Verfügung stehen können.33 Erst unter der Voraussetzung des Wissens um Gut und Böse hat der Wille die Möglichkeit, moralisch zu wählen. Er bleibt auch in moralischer Hinsicht indifferent, insofern er als gut oder böse Erkanntes bestätigen oder verwerfen kann, indem er seine Wahl entsprechend bestimmt. Es ist daher erst an dieser Stelle, d. h. unter der Bedingung der Reflexion, nötig, zwischen Urteilsbildung und Wollen zu unterscheiden. In der reflexionslosen Wahl zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten affirmiert der Wille stets diejenige Alternative, die unmittelbar den natürlichen Bedürfnissen entspricht. Deswegen 30 „(J)e le vois se rassasiant sous un chêne, se désaltérant au premier ruisseau, trouvant son lit au pied du même arbre qui lui a fourni son repas; et voilà ses besoins satisfaits.“ Ebd., I., 26 (36). 31 Vgl. ebd., I., 37 (51 f.). 32 Vgl. ebd., I., 37 f. (52 ff.). 33 „[…] on pourrait dire que les sauvages ne sont pas méchants, précisément parce qu’ils ne savent pas ce que c’est qu’être boms; car ce n’est ni le développement des lumières, ni le frein de la loi, mais le calme des passions et l’ignorance du vice qui les empêchent de mal faire“; ebd., 43 (61).

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kommen andere Alternativen erst gar nicht in Betracht, obwohl prinzipiell die Möglichkeit eines Fehlurteils besteht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sich unter der Bedingung der Reflexion das Wahrheitskriterium der Urteile, die durch den Willen bestätigt oder verworfen werden müssen, um praktisch wirksam zu werden, ändert. Es bleibt stets das der Natur des Menschen, mithin die Übereinstimmung mit seinen existenziellen Bedürfnissen, da dies sich gar nicht ändern kann, ohne die essentielle Identität der Spezies zugunsten etwas davon Verschiedenem zu eliminieren. Was sich allerdings unter der Bedingung der Reflexion, die zugleich die Bedingung von Moral ist, ändert, ist genau jene Eindeutigkeit der Willensbestimmung. Denn es scheint nun wenigstens zwei Kriterien zu geben, die nach Befolgung verlangen und miteinander in Konkurrenz treten können. Rousseau nennt sie Selbstliebe (amour de soi-même) und Eigenliebe (amour-propre). Er bestimmt diesen Unterschied in den Anmerkungen zum Zweiten Diskurs wie folgt: „Man darf nicht die Eigenliebe und die Selbstliebe durcheinanderbringen – zwei Leidenschaften, die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr unterschiedlich sind. Die Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, die jedes Tier dazu antreibt, über seine eigene Erhaltung zu wachen, und das, soweit es im Menschen von der Vernunft geleitet und vom Mitleid abgewandelt wird, die Menschlichkeit und die Tugend hervorbringt. Die Eigenliebe ist nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefühl, das jedes Individuum dazu veranlaßt, sich selbst einen größeren Wert beizulegen als jedem anderen, das den Menschen all die Übel eingibt, die sie sich gegenseitig zufügen, und das die wahre Quelle der Ehre ist.“34

Reflexive Urteile sind solche, in denen sich das urteilende Subjekt selbst Eigenschaften zuschreibt. Sie setzen Selbstbewußtsein in dem Sinne voraus, daß sich das urteilende Subjekt dabei nicht nur kontingenterweise thematisiert, wie es dies mit jedem beliebigen Gegenstand auch tun könnte, sondern so, daß es sich dabei entweder als Repräsentant als dieser, aber nicht jener Art von Gegenständen begreift oder als einzigartiges, von allem anderen unterschiedenes Ich auffaßt. Ließe sich das Urteil im ersten Fall ohne weiteres in der Dritten Person formulieren – etwa: Das Ding, das mit „Ich“ bezeichnet wird, hat die Eigenschaft X. –, so daß es seiner Extension nach universal ist, ist es im zweiten Fall auf die Erste Person festgelegt – etwa: Ich bin x. – und daher singulär. Im ersten Fall ist die Wahrheit des Urteils extern überprüfbar, im zweiten nicht.35 Solche Urteile betreffen daher Privates bzw. thematisieren die eigene individuelle Identität im Gegensatz zur universalen Identität der Art. 34 „Il ne faut pas confondre l’amour-propre et l’amour de soi-même, deux passions très différentes par leur nature et par leur effets. L’amour de soi-même est un sentiment naturel qui porte tout animal à veiller à sa propre conservation, et qui, dirigé dans l’homme par la raison et modifié par la pitié, produit l’humanité et la vertu. L’amour-propre n’est qu’un sentiment relatif, factice, et né dans la société, qui porte chaque individu à faire plus de cas de soi que de tout autre, qui inspire aux hommes tous les maux qu’ils se font mutuellement, et qui est la véritable source de l’honneur.“ Ebd., Note XV,107 (Anm. o, 151). 35 Ob Urteile in der Ersten Person von der zweiten Art überhaupt verständlich sein können, steht hier nicht zur Debatte.

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Betrachtet man Rousseaus Unterscheidung zwischen Selbst- und Eigenliebe vor diesem fürs erste noch sehr grob skizzierten logischen Hintergrund, zeigt sich sogleich, daß letztere auf jeden Fall die Fähigkeit, Urteile in der Ersten Person zu bilden, voraussetzen muß, erstere aber nicht unbedingt. Denn Selbstliebe wird auch den Tieren und damit ebenso dem natürlichen, vorsozialen Menschen zugeschrieben. Sie betrifft daher nur diejenigen Bedürfnisse, die allen Tieren prinzipiell gemein sind und deren Befriedigung nicht unbedingt eine bewußte Willensentscheidung erfordert, wenngleich beim Menschen, um dies zu tun, freilich die Aktivität des Willens notwendig ist. Diese Willensbestimmung hängt jedoch nicht vom individuellen Ich des tätigen Subjekts ab, weil sie bei jedem Subjekt, sofern es derselben Spezies angehört, unter gleichen Umständen von derselben Art wäre. Der homme sauvage kennt keine Individualität. Selbstliebe hat daher stets denselben Gegenstand, nämlich das Lebewesen nicht sofern es sich als von den Artgenossen verschiedenes Individuum begreift, sondern als deren beliebiges Exemplar ausschließlich die Spezies repräsentiert. Das natürliche Selbstbewußtsein ist kein Bewußtsein der eigenen Individualität. Eigenliebe hingegen kann es – wie ebenso das Wissen um die Differenz von Selbst- und Eigenliebe – nur unter der systematischen Bedingung individuell reflexiven Selbstbewußtseins geben. Dies nämlich enthält das Wissen um die Verschiedenheit des urteilenden Subjekts von allen artidentischen Subjekten, die ebenfalls individuell reflexive Urteile fällen können. Erst solches Selbstbewußtsein ermöglicht das Auftreten von Bedürfnissen, die sich von denen der Artgenossen unterscheiden, d. h. zunächst einmal den Wunsch nach Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse durch besondere Mittel unter Ablehnung anderer Mittel, die dazu ebenso taugten. Dies führt zum Erwerb bleibender individueller Dispositionen, welche die ursprüngliche Indifferenz des Willens und damit seine Freiheit unnötigerweise einschränken. Dies verdient nähere Betrachtung. Eigenliebe setzt die Unterscheidung eines seiner selbst bewußten, individuell reflexiv urteilenden Subjekts von anderen Subjekten derselben Art voraus. Sie ist daher nur in einer Gemeinschaft derart selbstbewußter Subjekte möglich. Soll die Identifikation der jeweils anderen Subjekte dieser Gemeinschaft durch ein einzelnes möglich sein, kann sich dies nicht bloß negatorisch von den anderen unterscheiden. Die Unterscheidung muß daher einen Vergleich involvieren, der in einer positiven Bestimmung resultiert. Da alle gemeinschaftsbildenden Subjekte aufgrund ihrer Artidentität von Natur aus die gleichen Eigenschaften haben, kommen für diesen Vergleich nur Akzidentien in Betracht. Diese zeigen sich, wie Rousseau betont, insbesondere bei gemeinschaftlichen Aktivitäten.36 Der Vergleich bezieht sich also zunächst darauf, wie jemand etwas tut. Schon seine Möglichkeit setzt daher die Gegebenheit spezifischer Dispositionen voraus, die willentlich erworben worden sein müssen. Ohne weiter auf Rousseaus Begründung der Entstehung der für solche Vergleiche nötigen, völlig kontingenten Vergleichsmaßstäbe eingehen zu müssen, ist doch klar, daß entsprechende reflexive Urteile die Form haben werden „Ich kann 36

Vgl. Rousseau, Discours (Fn. 4), II., 57 (81).

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die Tätigkeit A besser / schlechter tun als die Person P.“ Das urteilende Subjekt schreibt sich so eine spezifische Disposition zu, die das mit ihm verglichene Objekt zwar auch besitzt, aber nicht in derselben Weise, sondern in anderer Intensität. Das Urteil ist daher sowohl quantitativ als auch relational, weil es zwei Größen in Beziehung setzt. Die qualitativ zu bestimmende Art der Tätigkeit, auf die sich jene Disposition bezieht, ist für Möglichkeit eines solchen Urteils gleichgültig. Sie braucht folglich keinerlei Bedeutung für die Befriedigung der universalen existenziellen Bedürfnisse besitzen. Sie gewinnt ihre Bedeutung vielmehr allein aus sozialen Beziehungen. Dies rechtfertigt indes weder das Interesse an einem Vergleich noch am eigenen besseren Abschneiden. Beides erklärt Rousseau durch kontingente Abwandlungen der Selbstliebe, die externe Ursachen voraussetzen: „Die Quelle unserer Leidenschaften, Ursprung und Prinzip aller anderen, die einzige, die mit dem Menschen geboren wird und ihn bis zum Tode nicht verläßt, ist die Selbstliebe. Sie ist die angeborene Urleidenschaft, älter als alle anderen, die, in gewisser Weise, nur ihre Abwandlungen sind. Wenn man so will, sind in diesem Sinne alle Leidenschaften natürlich. Jedoch haben diese Abwandlungen zum größten Teil von außen kommende Ursachen, ohne die sie überhaupt nicht vorhanden wären. Weit entfernt, uns zu nützen, sind uns diese Abwandlungen sogar schädlich. Sie verändern ihren ursprünglichen Gegenstand und verstoßen gegen ihr eigenes Prinzip: in diesem Augenblick tritt der Mensch aus der Natur heraus und setzt sich in Widerspruch zu sich selbst.“37

Klarzustellen ist zunächst, daß Rousseau hier nicht von determinierenden Ursachen spricht, d. h. nicht von hinreichenden, sondern nur von notwendigen Bedingungen, ohne welche eine Wirkung nicht eintreten könnte. Gegen das Prinzip der Indifferenz des Willens wird also nicht verstoßen. Die Resultate, die als Wirkungen aus der Gegebenheit solcher Gelegenheitsursachen und affirmativer Willensakte hervorgehen, sind Modifikationen der dem Menschen wesentlichen Selbstliebe, d. h. akzidentiell und demzufolge nicht notwendig. Weiterhin haben wir gesehen, daß das Interesse am Vergleich mit Artgenossen nicht zum Wesen des Menschen gehört, sondern durch dieses nur ermöglicht wird. Es ist daher selbst eine solche akzidentielle Wirkung und muß demzufolge unter Gegebenheit einer äußeren Gelegenheitsursache willentlich – geschehe dies bewußt oder unbewußt38 – erworben werden. Nun besteht die Eigenliebe selbst genau in jenem Interesse am individuel37 „La source de nos passions, l’origine et le principe de toutes les autres, la seul qui nait avec l’homme et ne le quitte jamais tant qu’il vit est l’amour de soi; passion primitive, innée, antérieure à toute autre et dont toutes les autres ne sont en un sens que des modifications. En ce sens toutes si l’on veut sont naturelles. Mais la plus-part de ces modifications ont de causes étrangéres sans lesquelles elles n’auroient jamais lieu, et ces mêmes modifications loin de nous être avantageuses nous sont nuisibles, elles changent le prémier objet et vont contre leur principe; c’est alors que l’homme se trouve hors de la nature et se met en contradiction avec soi.“ Rousseau, Emile (Fn. 5), IV., 491 (441). Vgl. Rousseau, Discours (Fn. 4), II., 57 (81), und zur Derivation der Eigenliebe aus der Selbstliebe: Emile (Fn. 5), II., 322 (211). 38 Vgl. Rousseau, Discours (Fn. 4), II., 56 f. (80 f.) pass.

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len Vergleich.39 Sie ist anders als die Selbstliebe nicht notwendigerweise aktualisiert,40 weil sie keine essentielle Eigenschaft des Menschen und verschieden von der Selbstliebe ist, die ihr wiederum in der Weise einer notwendigen Bedingung vorausgesetzt ist. Liegt also Eigenliebe vor, besteht keine notwendige Determination aller möglichen Tätigkeit durch sie, denn sie setzt zumindest zweierlei voraus, nämlich die Gegebenheit geeigneter Vergleichsobjekte und den Vollzug des Vergleichs, in dem ein Akt der Eigenliebe besteht. Die Eigenliebe ist daher selbst eine Disposition, die sowohl nur willentlich erworben als auch nur willentlich aktualisiert werden kann. Wäre dem nicht so, wäre der Vollzug im moralischem Sinne guter Willensbestimmungen und Handlungen unmöglich. Denn es steht gänzlich außer Frage, daß Rousseau Willensbestimmungen und Handlungen, die aus Eigenliebe erfolgen, mit lasterhaften, also im moralischen Sinne bösen Willensbestimmungen und Handlungen identifiziert, während solche die aus Selbstliebe erfolgen stets gut sind. Wäre die Eigenliebe keine willentlich erworbene Disposition, d. h. eine akzidentielle Eigenschaft, des Menschen, wäre er aufgrund seiner Entwicklungsgeschichte, mithin durch historische und sonach kontingente Ursachen ausschließlich zum Bösen determiniert. Dies könnte demzufolge niemand mehr – außer vielleicht Gott – zugerechnet werden. Daß Rousseau all das schärfstens zurückweist, braucht nicht eigens ausgeführt werden.41 Rousseau bezieht damit hinsichtlich des Verhältnisses der menschlichen Willensfreiheit zum Bösen in der Welt vielmehr in aller Härte eine Position, wie sie schon Augustinus vertreten hatte,42 allerdings abzüglich ihrer genuin theologischen Elemente, d. h. vor allem der Erbsündenlehre:43 Alles Böse in der Welt wird durch die Betätigung des freien Willens verursacht. Der freie Wille unterscheidet den Menschen als differentia specifica von allen anderen materiellen Lebewesen. Alles moralisch Böse kann und muß Menschen zugerechnet werden, weil nichts außer einem Menschen selbst seinen freien Willen kontrollieren und determinieren kann. Ebenso 39 „L’amour de soi, qui ne regarde qu’à nous, est content quand nos vrais besoins sont satisfaits; mais l’amour-propre, qui se compare, n’est jamais content et ne sauroit l’être, parce que ce sentiment, en nous préférant aux autres, éxige aussi que les autres nous préférent à eux, ce qui est impossible.“ Rousseau, Emile (Fn. 5), IV., 493 (443). 40 „L’amour de soi-même est toujours bon et toujours conferme à l’ordre. Chacun étant chargé spécialement de sa propre conservation, le prémier et le plus important de ses soins est et doit être d’y veiller sans cesse, et comment y veilleroit-il ainsi s’il n’y prenoit le plus grand intérest? Il faut donc que nous nous aimions pour nous conserver, il faut que nous nous aimions plus que toute chose, et par une suite immédiate du même sentiment nous aimons ce qui nous conserve.“ Ebd., IV., 491 f. (441 f.). 41 Vgl. ebd., IV., Profession, 586 – 589 (574 – 577). 42 Vgl. zu Rousseaus augustinischen Quellen: Christopher Brooke, „Rousseau’s Political Philosophy: Stoic and Augustinian Origins“, in: Patrick Riley (ed.). The Cambridge Companion to Rousseau, Cambridge: Cambridge UP, 2001, 94 – 123. 43 Vgl. zum folgenden: Augustinus, De libero arbitrio, in: PL Tom. XXXII, Paris: Migne, 1861, 1220-1310,.I.I, 1; I. XI, 22-XII, 24; I.VII, 16,-XI, 21; III.III, 7; II.XIX, 51,-XX, 54.

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ist der freie Wille von sich her gut, weil er zum Guten gebraucht werden kann. So wie für Augustin moralisch gute Willensbestimmungen darin liegen, mit dem Willen Gottes übereinzustimmen, bestehen sie für Rousseau im Einklang mit der von Gott und daher gut geschaffenen Natur.44 Allein seine Auslassung der Erbsündenlehre – sie stellt ein reines Theologoumenon dar, das in einer philosophischen Untersuchung nichts zu suchen hat – trennt Rousseau in diesem Punkt von Augustin. Diese Auslassung führt allerdings dazu, daß Rousseau zwischen moralischem Bösen und natürlichen Übeln unterscheiden kann, während Augustin diese Unterscheidung nicht trifft. Für ihn kann es gar keine natürlichen Übel geben, weil alles, was darunter fallen könnte wie Schmerz, Krankheit, Tod usw., nichts als Strafe für den Sündenfall und demnach gerechte Folge der Erbsünde und keine in der Schöpfung angeordnete, gleichsam naturgesetzliche Notwendigkeit ist. Indes sind die Erklärungen, die Augustin einerseits und Rousseau andererseits für das Böse in der Welt liefern, wenigstens strukturanalog: So wie nach Augustin die Bosheit der gesamten materiellen Welt durch den Abfall von Gott bzw. den Verstoß gegen Gottes Ewiges Gesetz willentlich vom Menschen verursacht wurde und wird, so wurde und wird für Rousseau die Bosheit der zivilisiert-gesellschaftlichen Welt durch den Abfall von bzw. den Verstoß gegen die Ordnung der Natur verursacht. Die Wirklichkeit des Bösen in der Welt ist beidenthalben zwar kontingent, ebenso ist jedoch beidenthalben die Möglichkeit des Bösen in der Welt unter der Bedingung der Existenz entscheidungsfreier Wesen notwendig. Ist aber, zum einen, die Wirklichkeit des Bösen in der Welt nicht notwendig, sondern nur möglich, weil, zum anderen, dessen Ursache nicht selber als Wirkung durch eine weitere Ursache determiniert ist, sondern indifferent, ist zwar keine innerweltliche restitutio ad integrum, aber doch immerhin die Vermeidung böser Willensbestimmungen und Handlungen jederzeit möglich.

III. Guter Wille und Vernunft Nach Rousseau ist die Ursache böser Willensbestimmungen und Handlungen die Eigenliebe. Die Eigenliebe ist eine willentlich erworbene Disposition zu einer bestimmten Art von Reflexion. Diese besteht im individuellen Vergleich mit Artgenossen. Sie wird in der Regel unbewußt erworben, indem willentlich der Besitz eines materiellen bzw. sozialen Guts angestrebt wird, das zur Befriedigung der natürlich Bedürfnisse nicht erforderlich ist.45 Daran, daß der Erwerb dieser malignen Disposition üblicherweise unbewußt, aber willentlich im Kindesalter verläuft, läßt das ganze Erziehungsprogramm des Emile kaum Zweifel. Denn es ist ja gerade die höchste Aufgabe des Erziehers, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um jede 44 Auf das komplexe Verhältnis, das nach Rousseau zwischen Gott und Natur besteht, muß hier ebensowenig näher eingegangen werden, wie die augenfälligen Parallelen zwischen Rousseaus und Augustins Behandlung des Theodizee-Problems ausfürlich erörtert werden können. 45 Vgl. Rousseau, Discours (Fn. 4), II., 56 f. (80 f.).

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Bestimmung des Kindeswillens aufgrund sozialer, d. h. externer, Gelegenheitsursachen auszuschließen, indem genau das Auftreten solcher Gelegenheiten verhindert wird.46 Allerdings sind auch Kinder, die im buchstäblichen Sinne Kinder der Gesellschaft und folglich nicht durch die Hände eines rousseauschen Erziehers gegangen sind, nicht zur lebenslänglichen Gefangenschaft ihres freien Willens in den Fesseln der Eigenliebe verdammt, so daß sie zwar aus Gründen der Eigenliebe imstande wären, auch für andere nützliche Handlungen zu vollziehen, aber niemals im moralischen Sinne gute.47 Da die Eigenliebe eine Disposition ist, ist ihre Verwirklichung in der Willensbestimmung kontingent und kann daher auch unterbleiben; da sie erworben ist, ist ihre Gegebenheit kontingent, so daß sie wieder entfernt werden können muß. Ist die Eigenliebe aber gegeben, bedeutet dies zwar keineswegs eine Beschränkung der metaphysischen Freiheit als indifferentes Entscheidungsvermögen, aber durchaus eine faktische Restriktion der zur Verfügung stehenden Entscheidungsoptionen. Denn aufgrund der Verwechslung der im Kindesalter nicht als solcher erworbenen Eigenliebe mit der natürlichen Selbstliebe, deren pervertiertes Derivat sie bildet, steht die Möglichkeit, intentional moralisch gut zu wollen und zu handeln, zwar prinzipiell stets offen. Schließlich ist jene zusätzliche Disposition ein Akzidens, das nichts am Wesen des Menschen ändern kann, weil „es keine ursprüngliche Verdorbenheit im menschlichen Herzen (gibt)“.48 Das durch Eigenliebe disponierte Subjekt ist jedoch gerade damit an der selbsttätigen Aktualisierung des natürlichen Vermögens gehindert, auf Basis der Selbstliebe von selbst moralisch gut zu wollen und zu handeln. Daß diese Blockade spontanen Gut-Wollens – wiederum unter der Bedingung des Auftretens geeigneter Gelegenheitsursachen – aufgebrochen werden kann, zeigt schon die Geschichte des Ich-Erzählers im Emile.49 Die Voraussetzung dafür ist wiederum Reflexion, allerdings von einer anderen Art als derjenigen, in welcher die Eigenliebe besteht. Eigenliebe ist die Disposition zur individuell vergleichenden Reflexion. Ihre Aktualisierung „setzt den Menschen in Widerspruch zu sich selbst (se met en contradiction avec soi)“.50 Diese Formulierung Rousseaus ist nicht ohne weiteres ver46 „La seule passion naturelle à l’homme est l’amour de soi-même ou l’amour-propre pris dans un sens étendu. Cet amour-propre en soi ou rélativement à nous est bon et utile, et comme il n’a point de raport necessaire à autrui, il est à cet egard naturellement indifférent; il ne devient bon ou mauvais que par l’application qu’on en fait et les rélations qu’on lui donne. Jusqu’à ce que le guide de l’amour-propre qui est la raison puisse naitre, il importe donc qu’un enfant ne fasse rien parce qu’il est vu ou entendu, rien en un mot par raport aux autres, mais seulement ce que la nature lui demande, et alors il ne fera rien que de bien.“ Rousseau, Emile (Fn. 5), II., 322 (211). 47 „Nous ne haïssons pas seulement les méchans parce qu’ils nous nuisent; mais parce qu’ils sont méchans.“ Ebd., IV., Profession, 597 (588). 48 „(I)l n’y a point de perversité originelle dans le cœr humain.“ Ebd., II., 322 (211). 49 Vgl. ebd., IV., 538 – 565 (536 – 545). 50 s. Fn. 37.

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ständlich. Wenn man den Ausdruck „Mensch“, der in ihr vorkommt, so versteht, daß er ein einzelnes Ding – diesen oder jenen Menschen da – bezeichnet, ist er sogar unsinnig. Denn Dinge können zueinander nicht in der Relation des Widerspruchs stehen. Dies können nur logische Gegenstände, d. h. Begriffe bzw. Urteile. Nimmt man Rousseaus Formulierung ernst, muß sie einen logischen Sachverhalt thematisieren. Er nennt diesen Selbstwiderspruch. Ein Widerspruch besteht darin, von ein und demselben Subjekt S ein und dasselbe Prädikat P zugleich zu bejahen und zu verneinen. Beide Prädikationen können nicht zugleich wahr sein. Wären beide wahr, könnte es sich nicht um dasselbe Subjekt handeln. Erinnert man sich an Rousseaus Bestimmung des Urteilens als willentlicher Aktivität, muß der Selbstwiderspruch aus einem reflexiven Akt – „se mettre“ – resultieren, bei dem das urteilende epistemische Subjekt sich selbst als einem logischen Subjekt ein Prädikat so zuschreibt, daß die gebildete Prädikation die Relation des Widerspruchs erfüllt. Dies ist dann der Fall, wenn die prädizierte Eigenschaft ein in der Definition des Subjektterms affirmiertes Prädikat negiert oder ein durch die Definition des Subjektterms negiertes Prädikat affirmiert. Es handelt sich dann um eine contradictio in adiecto. Nun zeichnet reflexive Urteile aus, daß an der Stelle ihres Subjektterms der Indikator für die Erste Person Singular steht. Dieser ist bei den Urteilen, über die Rousseau spricht, nur insofern definiert, als es ein Mensch sein muß, der eine solche Prädikation bildet. Denn ein Individuum ist ja aufgrund seiner Singulärität nicht definibel.51 Der Subjektterm in einem reflexiven Urteil, wie es Rousseau auffaßt, muß also universal sein, weil sonst aufgrund der Unendlichkeit des Inhalts eines möglichen Individualbegriffs, die dessen vollständige Analyse verhindert, keine Entscheidung über die Widersprüchlichkeit der Prädikation gefällt werden könnte. Damit also überhaupt der Widerspruch, von dem Rousseau redet, auftreten kann, darf das „Ich“, das den Subjektterm bildet, nicht persönlich verstanden werden: Es denotiert nicht das urteilende Subjekt bzw. den Sprecher, insofern es dieser einzelne individuelle Mensch und kein anderer ist, sondern insofern er diejenige Spezies von vernunft- und willensbegabten Lebewesen repräsentiert, die alle den Ausdruck „ich“ in identischer Weise gebrauchen. Kurz gesagt: „Ich“ fungiert hier nicht als Name, sondern als Begriff. Damit es folglich zu dem Widerspruch kommen kann, den Rousseau indiziert, muß ein urteilendes Subjekt, das über keinen Individualbegriff von sich verfügen kann, sich ein Prädikat zusprechen, das nur einem Individualbegriff zukommen kann. Dies gewinnt es in Rousseaus extensional-logischem Rahmen durch die unabschließbare Operation des Vergleichs,52 mit der es sich von 51 Dieser Ausschluß der vollständigen Explikation singulärer materialer Terme, welche die eineindeutige Identifikation ihrer Referenzobjekte unter allen möglichen Dingen überhaupt erlaubte, gilt freilich nur unter den Bedingungen der Begrenztheit des urteilenden Verstandes und des Gebrauchs extensionaler Logik. Rousseau akzeptiert ganz offenkundig beide. 52 „(L)’amour-propre, qui se compare, n’est jamais content et ne sauroit l’être“; Rousseau, Emile (Fn. 5), IV, 493 (443). Wenngleich Rousseau diese Unmöglichkeit durch den Rekurs auf das natürliche Gefühl der Bevorzugung seiner selbst vor anderen begründet (S. Fn. 39), hat sie doch auch einen logischen Grund, den er mit seinem Gebrauch des Widerspruchsbegriffs unterstellt und implizite nutzt. Daß es sich bei Rousseaus logischem Gebrauch des Wi-

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seinen Artgenossen unterscheidet. Das urteilende Subjekt muß also das universale Ich der Spezies mit dem persönlichen Ich des singulären Individuums identifizieren. Ein solches Urteil hätte dann die Form: „Das Universale ist das Nicht-Universale (sondern Singuläre)“. Dies ist zweifellos ein Widerspruch. Er liegt auch dem performativen Widerspruch zugrunde, den Rousseau hier ausmacht: Denn dieser liegt ja darin, daß die Eigenliebe fordert, daß andere Menschen das Subjekt der Eigenliebe höher schätzen müßten als sich selbst, was der arteigenen Selbstliebe zuwiderläuft.53 Es ist aber genau dieser Widerspruch, den zu begehen die Eigenliebe disponiert.54 Denn sie äußert sich ja gerade in individuellen Vergleichsurteilen, die als notwendige Bedingung moralisch böser Willensbestimmung fungieren. Diese Urteile sind aus Rousseaus Perspektive zwar Unsinn, aber die formale Unverständlichkeit des Inhalts der eigenen Willensbestimmung hält naturgemäß niemand davon ab, dementsprechend bzw. genauer: irgendwie zu handeln, wenn das urteilende Subjekt nur von ihrer Sinnhaftigkeit überzeugt ist, d. h. seinen Fehler nicht bemerkt. Es handelt dann willentlich gegen seinen eigentlichen Willen. Dieser Fehler ist aber vermeidbar, und seine Vermeidung trotz bereits erworbener Disposition setzt schlicht die Erkenntnis der Differenz von Selbst- und Eigenliebe voraus und infolgedessen die vergleichende Reflexion auf das universale und das persönliche Ich. Beides kann es allein unter der Bedingung der Existenz von Eigenliebe geben, weil sie im Gegensatz zur stets aktualen Selbstliebe eine akzidentielle Disposition darstellt, die nicht erkannt werden kann, wenn sie nicht aktualisiert ist oder worden ist, und man nur von einer Wirklichkeit auf das Vorliegen eines entsprechenden Vermögens schließen kann. So wie der Erzieher seinen Zögling vor der Gefahr der Eigenliebe erst bewahren kann, wenn er durch Beobachtung der Gesellschaft oder seiner selbst um ihre Existenz weiß, kann sich derjenige, welcher diese Disposition schon erworben hat, erst von ihr befreien, wenn er sie entweder unter fremder Anleitung oder durch eigene Reflexion auf sich selbst, wozu nach Rousseau vornehmlich krisenhafte Lebensphasen Anlaß bieten,55 an sich selbst feststellt und als moralisch böse beurteilt. Diese Erkenntnis besteht nun in nichts anderem als der Entdeckung des soeben analysierten Selbstwiderspruchs, gleichviel ob in seiner logischen Struktur oder seiderspruchsbegriffs und der darauf beruhenden Argumentation aus intensionaler Perspektive gar nicht um einen echten Namen handelt, sondern nur um einen extrem inhaltsreichen universalen Term, der das Subjekt nur von allen gegebenen, aber nicht von allen möglichen Dingen überhaupt unterscheiden kann, spielt für Rousseaus extensionale Deutung keine Rolle. Vielmehr gibt es im Rahmen empirischer Begriffsbildung gar keine andere Basis für Differenzierungen als die logische Operation des Vergleichs. 53 s. Fn. 39. 54 Gerade umgekehrt argumentiert Neuhouser (Fn. 15), 219 – 229, für die Bedingtheit der Existenz von Rationalität überhaupt durch die Eigenliebe. Allerdings läßt seine zugegebenermaßen (ebd., 12) hegelianisierende Interpretation auch ein etwas anderes Logik-Verständnis als das hier zugrundegelegte vermuten. 55 Vgl. Emile (Fn. 5), IV., Profession, 567 (547 f.).

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ner performativen Ausprägung. Da die reflexiven individuellen Vergleichsurteile, die aus der Aktualierung der willentlich erworbenen Disposition der Eigenliebe resultieren, gar nicht wahr sein können, weil sie aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit nicht wahrheitsfähig sind, können die auf ihnen beruhenden Willensbestimmungen auch nicht moralisch gut, sondern müssen aufgrund ihrer schieren Willentlichkeit böse sein. Rousseau hält dies im Zusammenhang einer durchaus problematisch anmutenden Bemerkung des savoyardischen Vikars fest: „Ich kenne den Willen nur durch das Gefühl des meinigen, und der Verstand ist mir nicht besser bekannt. Wenn man mich fragt, was ist die Ursache, die meinen Willen bestimmt, so frage ich meinerseits, was ist die Ursache, die mein Urteil bestimmt – denn es ist klar, daß die beiden Ursachen nur eine sind. Und wenn man richtig begreift, daß der Mensch in seinen Urteilen aktiv ist, daß sein Verstand nichts anderes ist als die Fähigkeit zu vergleichen und zu urteilen, wird man erkennen, daß seine Freiheit nur ein ähnliches Vermögen ist oder von jenem abgeleitet; er wählt das Gute, wie er das Wahre beurteilt hat; urteilt er falsch, wählt er das Schlechte. Welche Ursache bestimmt also seinen Willen? Und welche Ursache bestimmt sein Urteil? Es ist sein Erkenntnisvermögen, seine Fähigkeit zu urteilen; die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Darüber hinaus verstehe ich nichts mehr.“56

Es ist nicht der scheinbare Rückzug auf eine kompatibilistische Position, welche Freiheit auf einen bloßen Bewußtseinszustand reduzierte, der diese Bemerkung auf den ersten Blick problematisch macht. Denn sowohl im Zweiten Diskurs als auch in den früheren Teilen des Emil betont Rousseau regelmäßig die Unabhängigkeit der Freiheit des Willens von den epistemischen Zuständen seines Trägers: Auch der homme sauvage ist frei, ohne über ein Selbstbewußtsein, d. h. ein Wissen von sich selbst, zu verfügen, das ausreichte, um sich selbst die Eigenschaft der Freiheit zuzuschreiben. Willensfreiheit ist nach Rousseau keine Eigenschaft, deren Existenz von reflexiven Akten abhängt, sondern sie kommt jedem Exemplar der Spezies Mensch im metaphysischen Sinne immer zu und unterscheidet ihn in der Weise einer differentia specifica von allen anderen Tieren. Problematisch wirkt die Bemerkung des Vikars vielmehr, weil sie die von Rousseau sonst so sehr betonte Indeterminiertheit und Spontaneität der Willensentscheidungen zugunsten eines intellektuellen Determinismus in Frage zu stellen scheint. Der Wille akzeptierte oder refüsierte dann nicht mehr von selbst bestimmte, durch den Verstand erzeugte Vorstellungsverbindungen und erklärte sie dadurch für wahr oder falsch, sondern könnte nur demjenigen Urteil folgen, das der Verstand als wahr 56 „Je ne connois la volonté que par le sentiment de la mienne, et l’entendement ne m’est pas mieux connu. Quand on me demande quelle est la cause qui détermine ma volonté je demande à mon tour quelle est la cause qui détermine mon jugement: car il est clair que ce deux causes n’en font qu’une, et si l’on comprend bien que l’homme est actif dans se jugemens, que son entendement n’est que le pouvoir de comparer et de juger, on verra que sa liberté n’est qu’un pouvoir semblable ou dérivé de celui-là; il choisit le bon comme il a jugé le vrai, s’il juge faux il choisit mal. Quelle est donc la cause qui détermine sa volonté? c’est son jugement. Et quelle est la cause qui détermine son jugement? c’est sa faculté intelligente, c’est sa puissance de juger: la cause déterminante est en lui-même. Passé cela, je n’entends plus rien.“ Ebd., 586 (573).

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präsentiert. Die logische Qualität der Urteile entschiede dann nicht nur über die moralische Qualität der Willensbestimmungen, sondern legte auch die Willensbestimmungen selbst fest, da der Wille nur als wahr präsentierten Vorstellungsverbindungen folgen könnte – ungeachtet dessen, daß sie tatsächlich oder nur scheinbar wahr sein können.57 Diese Überlegung bedeutete indes im Kontext von Rousseaus Theorie zum einen eine Verwechslung von notwendiger und hinreichender Bedingung der Willensbestimmung, und zum anderen überginge sie den dispositionalen Charakter der erforderlichen reflexiven Aktivität. Klar ist, daß indifferentes Wollen unmöglich ist. Die Freiheit des Willens besteht zwar in seiner Indifferenz, aber seine Aktualisierung im Wollen beendet ebendiese Indifferenz im Bezug auf einen Gegenstand. Dieser Gegenstand ist ein zukünftiger Zustand des wollenden Subjekts. Dessen Vorstellung enthält ein reflexives Urteil, das den aktuellen Zustand in Beziehung zu einem möglichen setzt. Beider Inhalt ist kontingent und erfordert die Betätigung der Erkenntnisvermögen. Diese bestimmen also nur mögliche Gegenstände des Wollens bzw. mögliche Inhalte einer Willensbestimmung, legen das Wollen des Subjekts aber nicht fest. Der Willensakt ist verschieden vom Akt der Erzeugung eo ipso wahrheitsindifferenter Urteile über contingentia futura oder durchaus wahrheitsdifferenter allgemeiner Urteile über das dem Subjekt Zuträgliche oder Abträgliche. Ohne deren Vorliegen könnte es aber mangels eines Gegenstandes gar nicht zu einer zu einer Willensbestimmung kommen. Die zu deren Erzeugung nötige intellektuelle Aktivität bzw. deren Resultat ist folglich eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Willensbestimmung. Diese kann zustimmend oder ablehnend ausfallen oder auch ganz unterbleiben, was Anlaß zu weiterer intellektueller Aktivität geben kann.58 Von einer Determinierung des Wollens, d. h. der Aktualisierung des Willens, in seiner wesentlichen Kompetenz des Zustimmens oder Ablehnens durch den Intellekt kann daher nicht gesprochen werden, ohne deren notwendige mit ihrer hinreichenden Bedingung gleichzusetzen. Nun könnte die scheinbar kaum bestreitbare Beziehung der Willensbestimmung auf contingentia futura zu einer weiteren Schwierigkeit für Rousseaus Ansatz führen. Denn über entsprechende Urteile kann nicht wahrheitsdefinit entschieden werden, schlicht weil sie kontingente Ereignisse in der Zukunft betreffen, die eben eintreten oder nicht eintreten können. Eine Korrelation der logischen und moralischen Qualität des Urteils, das den Inhalt der Willensbestimmung darstellt, würde dann die Moralität der Willensbestimmung selbst unmöglich machen, weil diese dann ebenso zufällig wäre, wie das Eintreten des thematisierten möglichen Ereignisses. Wahrheitsdefinite moralische Urteile wären dann prinzipiell nur retrospektiv mög-

57 Dies gilt freilich auch für als falsch präsentierte Urteile, da hier ja die Falschheit des Urteils als wahr bejaht wird. 58 Vgl. zu diesem Komplex die ganz ähnliche Argumentation von Luis de Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestionatione et reprobatione Concordia (ed. Iohannes Rabeneck S. I.), Oña / Madrid 1953, pars I; dazu Aichele (Fn. 2).

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lich, aber prospektiv, d. h. bei auf die Zukunft gerichteten Entscheidungen, ausgeschlossen. Hier hilft indes die Erinnerung an Rousseaus dispositionale Auffassung reflexiver Vermögen weiter. Denn moralisch gute Willensbestimmungen, deren Gegenstand wahrheitsdefinit entscheidbare Urteile sein müssen, werden gerade keine contingentia futura involvieren. Urteile über contingentia futura thematiseren einzelne Ereignisse. Daraus folgt, daß sie in reflexiven Urteilen auch auf ein einzelnes Ich bezogen werden müssen, weil Universalien weder Ereignisse herbeiführen noch ihnen Ereignisse widerfahren können. Die Disposition, solche individuellen reflexiven Urteile zu fällen, ist die Eigenliebe. Auf Eigenliebe beruhende Urteile können nach Rousseau gar nicht wahr sein, und ihnen entsprechende Willensbestimmungen sind insgesamt moralisch böse. Also können moralisch gute Willensbestimmungen keine contingentia futura enthalten. Darauf weist auch eine Erklärung hin, die Rousseau seinem savoyardischen Vikar unmittelbar nach der vorhin angeführten irritierenden Passage in den Mund legt: „Ohne Zweifel liegt es nicht in meiner Hand, mein eigenes Wohl nicht zu wollen; es liegt nicht in meiner Hand, mein eigenes Übel zu wollen; aber meine Freiheit besteht darin, daß ich nur wollen kann, was mir angemessen ist oder was ich für mir angemessen halte, ohne daß etwas von außen Kommendes mich dazu bestimmt. Folgt daraus, daß ich nicht Herr meiner selbst bin, weil ich nicht Herr darüber bin, ein anderer zu sein?“59

Die Selbstliebe ist eine natürliche und nicht erworbene, mithin essentielle Disposition, das eigene Wohl dem anderer vorzuziehen. Sie wird durch Willensakte aktualisiert, deren Gegenstand die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse des Menschen sind. Diese sind nicht individuell, sondern universal bestimmt, da sie allen Exemplaren der Spezies gemein sind. Der Selbstliebe entsprechende Willensbestimmungen sind prinzipiell moralisch gut. Da sich der Wille nicht selbst Gegenstände geben kann, sondern dafür auf reflexive Urteile angewiesen ist, muß auch die Selbstliebe ein Reflexionsvermögen bezeichnen. Dies darf nicht wie die Eigenliebe zum Selbstwiderspruch führen, sondern muß wahre Urteile ermöglichen. Der Grund der Selbstwidersprüchlichkeit der Eigenliebe besteht in der Einsetzung des persönlichen Ich an der Stelle des logischen Subjekts. Da die Selbstliebe gar keine individuellen, d. h. bloß scheinbare, sondern nur universale, d. h. echte, Bedürfnisse des Menschen zum Gegenstand haben kann, ist sie ein Vermögen zur Bildung reflexiver Urteile, bei denen das universale Ich, das die Spezieszugehörigkeit anzeigt, die Stelle des logischen Subjekts einnimmt. Solche Urteile sind dann wahrheitsfähig, wenn an ihrer Prädikatstelle ebenfalls kein Term steht, der Einzelnes bezeichnet und das Urteil dadurch individualisiert. Unmöglich im rousseauschen Sinne wäre also ein Urteil des Typs: „Ich habe Hunger auf genau diese eine Nuß bzw. auf Nüsse bzw. auf Schwarzwälderkirschtorte.“ Möglich hingegen wäre: „Ich habe Hunger auf 59 „Sans doute je ne suis pas libre de ne pas vouloir mon propre bien, je ne suis pas libre de vouloir mon mal; mais ma liberté consiste en cela même, que je ne puis vouloir que ce qui m’est convenable ou que j’estime tel, sans que rien d’étranger à moi me détermine. S’ensuit-il que je ne sois pas mon maitre, parce que je ne suis pas le maitre d’être un autre que moi?“ Emil (Fn. 5), IV., Profession, 586 (573 f.).

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irgendetwas, das meinen Hunger stillt und eßbar ist bzw. Menschen nicht schadet.“ Die Reflexion, welche auf Selbstliebe beruht, resultiert also in Urteilen über das Menschen im allgemeinen Zuträgliche oder Schädliche. Freilich determinieren auch solche vernünftigen Urteile den Willen nicht, denn er weist ihnen ja erst ihren Wahrheitswert zu, indem er sie bestätigt oder verwirft. Es ist also der Wille, der irrt, und in dieser Möglichkeit besteht seine Freiheit. Sie ist erst dann von moralischer Relevanz, wenn beide reflexiven Dispositionen zur Verfügung stehen. Genau sie bilden daher die fundamentalen Alternativen, zwischen denen der Wille wählen kann.

IV. Selbstliebe und volonté générale Dies nun ist in der Tat ein singulärer Akt, der allein von einem einzelnen wollenden Subjekt vollzogen werden kann. Ein universales Ich kann keine Ereignisse, auch keine mentalen Ereignisse herbeiführen. Hat allerdings das Willenssubjekt keine Disposition erworben, andere reflexive Urteile zu bilden als diejenigen, die durch Selbstliebe möglich sind, fehlt auch die Bedingung, die notwendig ist, um unnatürliche Bedürfnisse zu entwickeln. Dies zu erreichen, ist das einzige Ziel des Erziehungsprogramms, das Rousseau im Emile entwickelt. Daraus folgt aber, daß die Konstruktion einer volonté générale, die Rousseau im Contrat social – also im unmittelbaren Zusammenhang mit bzw. als Teil des Emile60– entwickelt, schon eine Gesellschaft von mit Erfolg nach rousseauschen Prinzipien erzogenen Leuten voraussetzt.61 Denn allein unter dieser Bedingung ließen sich deren einzelne Willen nicht mehr voneinander unterscheiden, weil sie ausschließlich auf die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse gerichtet sein könnten. Sie wären demzufolge identisch und bildeten eine Einheit auf der Basis der natürlichen Selbstliebe. Es ist weniger die Frage, wer die hierfür erforderlichen Erzieher erziehen soll, die systematisch beunruhigt. Daß das im Contrat social als Endpunkt einer erfolgreichen Erziehung beschriebene Gebilde durchaus utopischen Charakters ist, hat Rousseau gewiß selbst gesehen. Systematisch beunruhigend ist vielmehr die Frage, ob man unter der Bedingung allgemein herrschender Selbstliebe noch an der für Rousseaus Freiheitsbegriff essentiellen Indifferenz des Willens festhalten kann, d. h. ob unter dieser Bedingung überhaupt noch sinnvoll von Willensfreiheit gesprochen werden kann. Diese nämlich zeigt sich in der Möglichkeit des Irrtums über die natürlichen Bedürfnisse, muß sich also, um überhaupt erkennbar zu sein, an der Entwicklung eigentümlicher bzw. individueller Bedürfnisse zeigen. Denn ein reales Vermögen, das nie verwirklicht wird, ist keines, und von der Möglichkeit führt kein Schluß auf die Wirklichkeit.62 Und dies gilt naturgemäß auch von jedem einzelnen Vgl. Vossler (Fn. 8), 208 f. Vgl. dazu Patrick Riley, Rousseau’s General Will, in: Riley (Fn. 42), 124 – 153, insb. 131 f. u. 144. 62 Auf die hier ebenfalls ins Auge springenden weiteren Parallelen zu Augustinus kann nicht mehr eingegangen werden. 60 61

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Produkt rousseauscher Pädagogik,63 die Hand in Hand mit dem rousseauschen Staat alle erdenklichen Vorkehrungen trifft, ihren Zögling im Stand des Besitzes eines bloßen Vermögens zum Dispositionserwerb zu halten. Er scheint damit weniger frei als der homme sauvage.

Summary This contribution examines Rousseau’s idea of human liberty. In doing so, it is argued that Rousseau advocates a notion of indeterministic freedom of will, i.e. that liberty is a metaphysical quality assigned to humans, and cannot be reduced to a mere state of consciousness as compatibilism teaches. Starting from an examination of the liberty the homme sauvage has in absence of natural instincts, it is shown that the possible sources of affections of free will Rousseau assumes, namely amour de soi-même and amour propre, represent reflexive dispositions. Thereby the morally bad amour propre refers to individual comparative judgments, whereas the morally good amour de soi-même refers to universal comparative judgments. These two dispositions form the fundamental alternatives of possible determinations of will.

63 Es würde eine eigene Untersuchung erfordern, um zu sehen, ob nicht gerade der volle Erfolg einer solchen Erziehung, wie sie an der Figur des Emile vorexerziert wird, darin besteht, sich selbst nur im kompatibilistischen Sinne Freiheit zuzuschreiben, d. h. sie auf einen Bewußtseinszustand zu reduzieren. So fühlt sich Emile in der Fortsetzung des Romans, in der ihm Plagen auferlegt werden, auf die ein Hiob stolz gewesen wäre, ausgerechnet in der Sklaverei ganz besonders frei: „Je tirai de ces réflexions la consequence que mon changement d’état étoit plus apparent que réel; que, si la liberté consistoit à faire ce qu’on veut, nul homme ne seroit libre; que tous sont foibles, dépendans des choses, de la dure nécessité; que celui qui sait le mieux vouloir tout ce qu’elle ordonne est le plus libre, puisqu’il n’est jamais forcé de faire qu’il ne veut pas. Oui, mon pere, je puis le dire; le terms de ma servitude fut celui de mon régne, et jamais je n’eus tant d’autorité sur moi que quand je portai les fers des barbares.“ Jean-Jacques Rousseau, Emile et Sophie ou Les solitaires, in: Œvres complètes (Fn. 5), 878 – 924, Lettre 2, 917.

Das gemeinsame Interesse und jedermanns Interesse: der Ort individuellen Glücks in Rousseaus politischem Denken Blaise Bachofen Die Begriffe des „Gemeininteresses“ („intérêt commun“) und des „Partikularinteresses“ („intérêt particulier“) bereiten dem Kommentator von Rousseau beträchtliche Schwierigkeiten. Zwei symmetrische und einander widersprechende Einwände werden gewöhnlich gegen Rousseau erhoben: Entweder wird behauptet, dass der Begriff des „Gemeininteresses“ eine leere Fiktion sei, oder man macht Rousseau den Vorwurf, die Individuen für das Gemeininteresse zu opfern. Was auf dem Spiel steht, ist der Status des Individuums im „wohlgeordneten Staat“1. Ich werde versuchen zu zeigen, dass Rousseau das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft nicht als Opferbeziehung begreift, als Abschaffung der Einzigartigkeit des Individuums und seiner Eigeninteressen. Es handelt sich immer noch um sein eigenes Interesse, oder sein eigenes Wohl, das das Individuum will, wenn es sich daran beteiligt, den Gemeinwillen herauszuarbeiten, und deshalb ist das Gemeininteresse keine leere Fiktion. In meiner Argumentation gehe ich von der Prämisse aus, dass man zwei Bedeutungen von „Partikularinteresse“ („intérêt particulier“) unterscheiden muss: einmal Partikularinteresse im weiteren Sinn (in dem der Begriff dann individuelles Interesse bedeutet), sodann im engeren Sinn (das, was Rousseau das private Interesse2 nennt). Ich möchte schließlich nachweisen, dass dem privaten Interesse ein Platz im wohlgeordneten Staat zukommt, auch wenn ihm angemessene Grenzen gesetzt werden müssen. 1 Dieser Ausdruck wird von Rousseau im Genfer Manuskript verwendet (der ersten Version des Contrat social), I, 2, (OC III, S. 289). Zur Zitierweise: Die Texte Rousseaus werden nach der französischen Edition der Œuvres complètes zitiert (abgekürzt OC), und zwar nach folgendem Muster: Titel der Schrift, ggf. Buch und Kapitel der Schrift, Nummer des Bandes der Œuvres complètes, Seitenzahl; Seitenzahl der jeweiligen deutschen Ausgabe (falls deutsche Ausgabe verfügbar). Hier: Genfer Manuskript des Contrat social, in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]. 2 Siehe besonders Rousseau, Contrat social I, 5, OC III (in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]), S. 359 (deutsch: Vom Gesellschaftsvertrag, hrsg. v. Hans Brockard, Stuttgart: Reclam 1979, S. 15); ebd., II, 3, S. 371 (deutsch S. 31); ebd., III, 15, S. 429 (deutsch S. 103).

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I. Was ist das Gemeininteresse? Rousseau schreibt in Kapitel eins des zweiten Buches des Contrat social: „[…] allein der Gemeinwille [kann] die Kräfte des Staates gemäß dem Zweck seiner Errichtung, nämlich dem Gemeinwohl, leiten […]: denn wenn der Widerstreit der Partikularinteressen die Gründung von Gesellschaften notwendig gemacht hat, so hat der Einklang derselben Interessen sie möglich gemacht. Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaftliche Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmten, könnte es keine Gesellschaft geben.“3

Damit eine „Gesellschaft“ existieren kann, muss sie zugleich „notwendig“ und „möglich“ sein. Um „notwendig“ zu sein, müssen ihre Mitglieder verschiedene, gar entgegen gesetzte Interessen, haben. Um „möglich“ zu sein, muss es jedoch einen „Punkt“ geben, „in dem alle Interessen übereinstimmen“. Das Verhältnis, das sich zwischen den Interessen bildet, ist demnach der Dreh- und Angelpunkt, der die Existenz der Gesellschaft bestimmt. Rousseau verwendet die Begriffe „Gemeininteresse“ („intérêt commun“) und „Gemeinwohl“ („bien commun“) hier als Synonyme. Das bedeutet, dass das Wort „Interesse“ in einem Sinn verstanden werden muss, der sich nicht auf das bloße ökonomische oder materielle Interesse reduzieren lässt und der sich auf das Wohlbefinden oder das Glück in einem sehr weiten Sinn bezieht. Ich habe versucht, das Verhältnis zwischen den Partikularinteressen und dem Gemeininteresse oder Gemeinwohl in drei Schemata auf den folgenden Seiten darzustellen. Das erste Schema (siehe die nächste Seite) zeigt eine bloße Summe von Partikularinteressen; Rousseau nennt das ein „Aggregat“. Im fünften Kapitel des ersten Buches des Contrat social trifft er eine Unterscheidung zwischen einem „Aggregat“ („agrégation“), das heißt einer faktischen Ansammlung von Menschen, und einer „Vereinigung“ („association“)4. Was Rousseau eine „Vereinigung“ nennt, kommt dem Begriff der „wohlgeordneten Gesellschaft“ nahe. Nur eine „Vereinigung“ ist Rousseau zufolge ein echter „politischer Körper“. In einem „Aggregat“ stehen die Individuen nebeneinander, sie begegnen sich gleichgültig oder befinden sich zueinander in Opposition. Sie berühren sich, sie können interagieren, aber nichts „ver-

Ebd. II, 1, OC III, S. 368; deutsch: S. 27 (Übers. geändert). „Wenn zerstreut lebende Menschen nach und nach in die Knechtschaft eines Einzelnen geraten, sehe ich dabei […] [kein] Volk […]; es handelt sich, wenn man will, um ein Aggregat, nicht um eine Vereinigung; es gibt weder ein Gemeinwohl noch einen Staatskörper“ (ebd., I, 5, OC III, S. 359; deutsch: S. 30, Übers. geändert). Die Übersetzung von Hans Brockard (siehe Fußnote 2) für „agrégation“ und „association“ ist „Anhäufung“ und „Zusammenschluss“. Robin Celikates, der eine neue deutsche Edition des Contrat social vorbereitet, schlägt vor, stattdessen von „Aggregat“ und „Vereinigung“ zu sprechen. Diese Übersetzungen scheinen mit der Bedeutung der Begriffe in Rousseaus Text besser übereinzustimmen. Bei „Aggregat“ liegt die etymologische Abstammung vom lateinischen Wort „gregs“ („Herde“) auf der Hand. Der Begriff „Vereinigung“ unterstreicht die Konnotation mit „Einigkeit“, welche laut Rousseau notwendig ist, damit verschiedene Individuen überhaupt fähig sind, gemäß einem Willen und gemeinsamen Gesetzen zu leben. 3 4

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Schema Nr. 1

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bindet“ sie im eigentlichen Sinn, nichts fügt sie zu einer Gesellschaft oder zu einem „politischen Körper“ zusammen. An dem zweiten Schema (siehe folgende Seite) sieht man, was eine „Vereinigung“ oder einen „politischen Körper“ möglich macht. Die Partikularinteressen sind hier miteinander verbunden, und zwar durch das „Gemeininteresse“. Rousseau definiert das „Gemeininteresse“ als das, „was es unter den verschiedenen Interessen an Gemeinsamkeiten gibt“. Man kann sich das als die Ebene vorstellen, auf der alle Elemente miteinander abgeglichen werden, die sich auf dieselbe Weise in allen Partikularinteressen wiederfinden. Es handelt sich also nicht um ein Gut, das zu niemandem gehörte und das auf von den Menschen getrennte und transzendente Weise existierte. Es gibt, meiner Meinung nach, nichts Transzendentes in der Gesellschaft, wie Rousseau sie sich vorstellt. Das Gute, die Gerechtigkeit, das Gemeinwohl befinden sich nicht außerhalb der menschlichen Welt, sie sind sicher nicht in einem undefinierbaren Himmel der Ideen, sie existieren auch nicht als ideale und ewige moralische Prinzipien. Sie sind in der Gesellschaft immanent; sie finden sich in dem konkreten Willen der Mitglieder der Gesellschaft. Um die Sache noch deutlicher zu machen, kann man dank eines dritten Schemas (siehe übernächste Seite) das Verhältnis der Inklusion aufzeigen, das zwischen dem Gemeinwohl und den Partikularinteressen besteht.

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Hier sieht man, dass das Partikularinteresse („intérêt particulier“) in einem doppelten Sinn verstanden werden kann: einmal in einem weiten Sinn (was ich das „Individualinteresse“ nenne), sodann in einem engeren Sinn, der hier als „Privatinteresse“ bezeichnet wird. Die Auswahl und die Bedeutung dieser beiden Ausdrücke werden später erklärt. Was jetzt betont werden soll, ist Folgendes: Das Gemeininteresse ist ein konstitutiver Teil jedes Partikularinteresses, wenn man diesen Begriff im weiten Sinne versteht. Anders gesagt, was dem Gemeininteresse seinen Inhalt gibt, ist ein Teil jedes Partikularinteresses. Wir wissen, dass Rousseau zwischen dem „Willen aller“ („volonté de tous“), das heißt der Summe der Partikularinteressen, und dem „Gemeinwillen“ („volonté générale“), der auf das Gemeininteresse gerichtet ist, unterscheidet.5 Doch es ist noch nicht ganz klar, wie sich diese Unterscheidung mit den hier präsentierten Schemata verbinden lässt. Schon jetzt kann man festhalten, dass diese Unterscheidung nicht 5

Ebd. II, 3 (OC III, S. 371; deutsch: S. 31).

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so zu verstehen ist, als wäre der Gemeinwille den Interessen der Einzelnen („intérêt des particuliers“) entgegengesetzt. Indem er auf das Gemeininteresse abzielt, richtet sich der Gemeinwille auf ein Interesse, das sehr wohl das Interesse aller ist. Das Ziel der politischen Gesellschaft besteht darin, die Interessen der Mitglieder zu befriedigen. Nur das Privatinteresse, dass heißt das Partikularinteresse in seinem engeren Sinn, kann ein Problem für die „wohlgeordnete Gesellschaft“ sein, und nur aus ganz bestimmten Gründen, auf die noch eingegangen wird. Rousseau schreibt in Kapitel sieben des ersten Buches des Contrat social, da „nun der Souverän nur aus den Einzelnen besteht, aus denen er sich zusammensetzt,

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hat er kein und kann auch kein dem ihren widersprechendes Interesse haben […]“.6 Noch klarer wird es in Kapitel vier des zweiten Buches: „Warum hat der Gemeinwille immer recht, und warum wollen alle das Glück eines jeden, wenn nicht deshalb, weil es keinen gibt, der sich dieses Wort Jeder nicht zu eigen macht, und der nicht an sich denkt, wenn er für alle stimmt? Das beweist: Gleichheit und der von ihr erzeugte Begriff von Gerechtigkeit rühren von dem Vorzug her, den jeder sich selbst gibt […]“.7 Man kann sich hier auf eine Analogie stützen, die Rousseau in der Lettre à d’Alembert entwickelt. Rousseau behandelt dort eben das Verhältnis des Individuums zum Gemeinwohl, und er illustriert seine Äußerungen mit einem Bezug auf Molières Menschenfeind. Philinte, der Freund des Menschenfeinds, betrachtet „alle Unordnungen der Gesellschaft mit stoischem Phlegma“. Philinte läßt sich vergleichen mit „dem [Mann], der nicht von seinem Bett aufstehen wollte, obwohl das Haus brannte. Das Haus brennt, schrie man ihm zu. Was schert es mich? antwortete er, ich bin doch nur der Mieter. Schließlich dringt das Feuer bis zu ihm vor. Sogleich rennt er weg, er läuft, er schreit, er erregt sich; er beginnt zu verstehen, dass man sich manchmal für das Haus interessieren muss, das man bewohnt, obwohl es einem nicht gehören mag.“8 Diese Schemata und diese Analogie haben ihre Grenzen, wie jeder Versuch, ein komplexes Thema zu schematisieren. Sie reichen nicht aus, um eine politische Theorie des Gemeininteresses zu entwickeln. Ein starker Einwand gegen die These, der zufolge „die Gesellschaft einzig und allein auf Grundlage des Gemeininteresses regiert werden muss“ ist, dass mehrere Vorstellungen über das Gemeininteresse miteinander konkurrieren, wenn man sie auf politischer Ebene betrachtet, und es unmöglich ist zu wissen, welche davon es wirklich verdient, als richtige Vorstellung des Gemeininteresses angesehen zu werden. Es würde zu weit führen, auf diesen Einwand befriedigend zu antworten, aber es lassen sich zumindest einige Richtungen aufzeigen, in die eine Antwort gehen könnte. Zum Beispiel scheint es schwer zu bestreiten, dass der bürgerliche Friede, die äußere Sicherheit, die Mechanismen zu solidarischem Einsatz im Falle von Industrie-, Gesundheits- oder Naturkatastrophen, die irgendeinen Teil der Bevölkerung treffen könnten, Ziele sind, über die ganz klar Einigkeit besteht.9 Man kann auch

Ebd. I, 7 (OC III, S. 363; deutsch: S. 21). Ebd., II, 4 (OC III, S. 372; deutsch: S. 33). 8 Lettre à d’Alembert sur les spectacles, in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 5, hrsg. v. Marcel Raymond, Paris: Gallimard 1995 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 38 – 39 (Übers. M. R.). 9 Diese Aussage stimmt aber nur, wenn man eine Hypothese zugrundelegt: Dass die Mitglieder einer Gesellschaft deren Existenz schützen wollen, was jene ausschließt, deren Ziel genau darin besteht, sie zu zerstören – zum Beispiel Terroristen oder Aufständische. Aber von genau dieser Hypothese geht Rousseau aus: Wenn wir nach dem Gemeinwohl fragen, suchen wir nach den Bedingungen, die eine Gesellschaft erst möglich machen, und deshalb können 6 7

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ein Beispiel heranziehen, das noch schwerer von der Hand zu weisen ist: Es liegt im Gemeininteresse nicht nur der Bevölkerung einer bestimmten Region, sondern der gesamten Menschheit, dass die Luft auf der Oberfläche der Erde eingeatmet werden kann. Der Staat ist ein Haus, dessen Bewohner gemeinsam davon profitieren. Die Welt ist ein Haus, dessen Bewohner gemeinsam davon profitieren. Und in beiden Fällen liegt es ganz im Interesse aller, sich um den Zustand des gemeinsamen Hauses zu kümmern. Das kann man auch über die Europäische Union sagen, wofür sich Beispiele vermutlich erübrigen. Es ist also nichts Absurdes daran, sich die Existenz von Gemeingütern in großem Maßstab vorzustellen, welche im eigentlichen Sinn politische Entscheidungen erfordern. Und diese Beispiele zeigen außerdem, dass das Gemeininteresse das Interesse aller ist, demnach das eines jeden. Diese Beispiele können aber den Einwand nicht völlig entkräften, dem zufolge es bei der Regelung öffentlicher Angelegenheiten immer beträchtlichen Raum zur Diskussion geben wird. Aber vielleicht ist es sogar notwendig und unvermeidlich, dass das Gemeinwohl zum Gegenstand einer kollektiven Suche wird, deren Ergebnisse nicht a priori definiert werden können. Das Gemeinwohl ist in dieser Hinsicht kein Gut, das sich in essentialistischen Begriffen beschreiben ließe, etwa nach einem Modell des platonischen Typs. Gerade das ist die Rolle der Deliberation, eines zentralen Begriffs im Contrat social, der allerdings nur zu oft vernachlässigt wird10: nämlich das Gemeinwohl ohne Unterlass zu definieren und zu redefinieren, und ihm also einen unterschiedlichen Inhalt zuzuschreiben. Dieser Inhalt beruht auf Variablen, die von der materiellen Situation jedes Volkes abhängen, aber auch von seiner Soziologie und seinen Sitten, also von der Natur der Interessen, die notwendig verschieden und veränderlich sind, und über welche die Individuen eine gemeinsame Basis der Verständigung finden müssen. Jedes Volk hat seine eigenen Angelegenheiten, die es klären muss, jedes Volk muss für sich selbst herausfinden und auch entscheiden, „was es zwischen den verschiedenen Interessen für Gemeinsamkeiten gibt“. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, wie es John Rawls und einige von seiner Argumentation inspirierte Autoren versuchen – Joshuah Cohen insbesondere11 –, eine systematische und umfassende Theorie des Gemeinwohls zu entwickeln. Ich glaube aber auch nicht, dass das nötig ist. Worauf es ankommt, ist zu verstehen, dass jede politische Gesellschaft auf der Annahme – man könnte fast wir per definitionem nicht die Absichten derer integrieren, welche die Gesellschaft zerstören wollen (oder zumindest diese oder jene bestimmte Gesellschaft). 10 Zu diesem kontrovers diskutierten Punkt siehe die erhellende Studie von Bruno Bernardi, „Rousseau et la généalogie du concept d’opinion publique“, in: Jean-Jacques Rousseau en 2012. Puisqu’enfin mon nom doit vivre, hrsg. v. Michael O’Dea, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Oxford, Voltaire Foundation, 2012. 11 Siehe Joshua Cohen, „An Epistemic Conception of Democracy“, in: Ethics 97:1 (1986), S. 26 – 38; „Procedure and Substance in Deliberative Democracy“, in: Democracy and Difference: Contesting The Boundaries and Democracy’, hrsg. v. Seyla Benhabib (Princeton, NJ, 1996).

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sagen, auf der Wette – beruht, dass eine zumindest teilweise Übereinstimmung der verschiedenen Interessen möglich ist. Daraus lassen sich im Übrigen einige ergänzende Vorschläge zum Inhalt des Gemeinwohls ableiten. Die kollektive Deliberation ist für sich selbst genommen ein Gemeingut. Institutionen und Sitten, die eine friedliche und konstruktive Deliberation erlauben, sind kostbare Güter für ein Volk: Ihren Wert und ihre Zerbrechlichkeit lernt man Raymond Aron zufolge erst dann schätzen, wenn man sie verloren hat.12 Die Aktivität in Sachen Deliberation zeugt denn auch von der gemeinsamen Sorge um den Erhalt der Gemeinschaft und um das, was ihre zumindest relative Einheit gewährleistet. In dieser Hinsicht kann die Deliberation selbst, wie das Aristoteles gesehen hat, eine Quelle gemeinschaftlicher Freude sein, die eben auch die Freude eines jeden ist, weil sie eine mehr oder weniger entwickelte Form politischer philia voraussetzt.13 Außerdem gibt es Rousseau zufolge eine Freude, die der gemeinsamen Ausübung der Freiheit zueigen ist, und die er den „Genuss der Freiheit“ nennt.14 Das ist jenes Glück, das allzu oft verkannt wird, weil man es so selten erlebt, und das der Spartiat Brasidas einem persischen Satrapen zu vermitteln versucht: „‚Ich kenne die Genüsse deines Landes‘, sagte der Spartiat Brasidas zu einem Satrapen, der das Leben von Sparta mit dem von Persepolis verglich, ‚aber du kannst nicht die Freuden des meinen kennen‘.“15

II. Die Tyrannei des Privatinteresses Es geht nun darum, Ursprung und Wiederkehr der These zu verstehen, der zufolge Rousseau sich das Gemeininteresse als den Interessen der Einzelnen entgegengesetzt vorstellt. Dazu muss man auf die Unterscheidung der beiden Bedeutungen des Begriffes „Partikularinteresse“ zurückkommen, das heißt „Partikularinteresse“ im weiten und im engeren Sinn. Rousseau schreibt in Kapitel sieben des ersten Buches des Contrat social: „In der Tat kann jedes Individuum als Mensch einen Partikularwillen haben, der dem Gemeinwillen, den er als ‚Citoyen‘ hat, zuwiderläuft oder sich von diesem unterscheidet. Sein Partikularinteresse kann ihm ganz anderes sagen als das Gemeininteresse; […] [er kann] Siehe Raymond Aron, Démocratie et totalitarisme, Paris: Gallimard 1965, II, IX. Siehe Aristoteles, Politik, 1280b 35 – 40. 14 Émile, II, OC IV, S. 301 (Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, hrsg. v. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris: Gallimard 1969 [Bibliothèque de la Pléiade]; deutsch: S. 62 (Emil oder über die Erziehung, hrsg. v. Ludwig Schmidts, Paderborn u. a.: UTB 1998). 15 Rousseau, Discours sur l’inégalité, 2. Teil, OC III, S. 181 (in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]); deutsch: S. 229 – 231 (Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inégalité, hrsg. v. Heinrich Meier, Paderborn u. a.: UTB 1990). 12 13

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das, was er der gemeinsamen Sache schuldig ist, als einen unverbindlichen Beitrag betrachten lassen, dessen Einbuße den anderen weniger schadet, als dessen Leistung für ihn kostspielig ist […], und er könnte gar seine Rechte als ‚Citoyen‘ in Anspruch nehmen, ohne die Pflichten eines Untertanen erfüllen zu wollen […]; [das wäre] eine Ungerechtigkeit, deren Umsichgreifen den Untergang der politischen Körperschaft verursachen würde.“16

Man wird feststellen, dass Rousseau das Wort „Individuum“ hier für ein Kompositum benutzt, das aus zwei Realitäten besteht, die sich zugleich ergänzen und potentiell widersprechen, und das er mit den Begriffen „Mensch“ und „Citoyen“ bezeichnet.17 Rousseaus Gebrauch des Wortes „Individuum“, das die Begriffe „Mensch“ und „Citoyen“ einschließt, erlaubt es, den Ausdruck „Individualinteresse“ einzuführen, obwohl Rousseau selbst ihn nicht verwendet. Das „Individualinteresse“ ist das Interesse der in ihrer Gesamtheit betrachteten Person, welches ihre beiden konstituierenden Aspekte integriert. Rousseau betont hier, dass diese beiden Aspekte des Individuums miteinander in Konflikt stehen können. Der „Mensch“ kann sich, im Individuum, dem „Citoyen“ entgegen stellen. Der Wille, den er als „Citoyen“ hat, verschmilzt mit dem Gemeinwillen, der auf das Gemeininteresse gerichtet ist. Doch als „Mensch“ kann er allein seinem „partikularen“ Willen gehorchen, und sein „Partikularinteresse“ zum Schaden des Gemeininteresses bevorzugen. Man sieht, dass in diesem Abschnitt das „Partikularinteresse“ als etwas dargestellt wird, das sich dem „Gemeininteresse“ widersetzen kann. Das macht die Unterscheidung zwischen den zwei Bedeutungen so stichhaltig, der weiten und der engeren Bedeutung von „Partikularinteresse“.18 In Contrat social (siehe Fußnote 2) I, 7, OC III, S. 363; deutsch: S. 41 (Übers. geändert). Das französische Wort „citoyen“ wird im Deutschen gewöhnlich mit „Bürger“ übersetzt. Das Wort „Bürger“ jedoch ist auch die Übersetzung für das französische Wort „bourgeois“. Rousseau aber unterscheidet immer wieder sehr eindeutig zwischen den Konzepten von „citoyen“ und „bourgeois“. Diese Unterscheidung ist in gewisser Weise die gleiche, die er in den hier untersuchten Texten zwischen „homme“ und „citoyen“ trifft: Unter „homme“ versteht Rousseau hier das Individuum im Allgemeinen, das Mitglied der menschlichen Gattung, unabhängig von jeglicher besonderer politischer Zugehörigkeit, was dem Konzept nahe kommt, das er mit dem Begriff „bourgeois“ bezeichnet. Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen dem „bourgeois“ und dem „homme“: Der „bourgeois“ ist nicht nur ein Glied der menschlichen Gattung, sondern ein Rechtssubjekt, das Mitglied eines Staates. Für Rousseau genügt es jedoch nicht, ein passiver Inhaber bestimmter Rechte zu sein, um als „citoyen“ zu gelten. Man muss auch Anteil an der Souveränität besitzen, ein aktives politisches Individuum sein, das sich seiner Pflichten, und nicht nur seiner Rechte bewußt ist, um den Status eines Mitglieds des politischen Körpers zu erlangen. Um jede Doppeldeutigkeit zu vermeiden, benutze ich den französischen Begriff „citoyen“ und übersetze ihn nicht, weil er von Rousseau in eben dem Sinn verwendet wird, den ich gerade erläutert habe. 18 Solche semantischen Variationen, über die er seine Leserschaft nicht aufklärt, sind bei Rousseau durchaus gebräuchlich: Dazu äußert er sich selbst in Émile. „Ich habe beim Schreiben hundertmal die Beobachtung gemacht, daß es unmöglich ist, […] dem gleichen Wort immer den gleichen Sinn zu geben. […] Trotzdem bin ich überzeugt, daß man, selbst bei der Armut unserer Sprache, klar sein kann, nicht dadurch, daß man dem gleichen Wort immer den gleichen Sinn unterlegt, sondern dadurch, daß die Bedeutung, die man jedem Wort gibt, durch die Begriffe hinreichend bestimmt wird, die sich darauf beziehen, und daß jeder Satz, in dem 16 17

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dem ersten Abschnitt des Contrat social, auf den oben eingegangen wurde (Contrat social, II, 1), wird das Gemeinwohl als das definiert, was allen verschiedenen „Partikularinteressen“ gemeinsam ist. Und da es in jedem Partikularinteresse einen Anteil geben kann, der mit den anderen Partikularinteressen übereinstimmt, muss der Ausdruck „Partikularinteresse“ notwendigerweise zugleich das Interesse des „Citoyens“ miteinschließen, das auf das Gemeininteresse abzielt, und das des „Menschen“, das gesonderte Zwecke Interesse verfolgt: Dieses aus zwei Teilen gebildete Ganze ist es, für das ich die Bezeichnung „Individualinteresse“ vorschlage. Dieses weite Verständnis des Ausdrucks „Partikularinteresse“, der gleichzeitig das Privatinteresse und das Interesse des um das Gemeinwohl besorgten Bürgers mit einschließt, wird im dritten Schema veranschaulicht. In dem Abschnitt, um den es nun gehen soll (Contrat social, I, 7), beichnet das „Partikularinteresse“ wiederum das, was das Individuum besonders partikularisiert, was es seine von den anderen Individuen unterschiedenen, vielleicht sogar diesen entgegengesetzten, Ziele verfolgen lässt. Kurzum, es beschränkt sich auf das, was Rousseau das „Privatinteresse“ nennt. Der spezifische Inhalt des Privatinteresses ist die ökonomische Bereicherung des Individuums, aber auch sein körperliches Wohlbefinden, oder auch seine subjektive Innerlichkeit, sein Geschmack, seine religiösen Überzeugungen, seine kulturellen Vorlieben, seine familiären oder freundschaftlichen Wahlverwandtschaften. Privatinteresse und Individualinteresse werden so oft verwechselt und unangemessen als austauschbare Begriffe, gar als Synonyme verwendet, dass meines Wissens noch kein Kommentator auf die Idee gekommen ist, sie auseinander zu halten. Vor diesem Hintergrund ist es keine Überraschung, dass so viele Kommentatoren zu dem Schluss kommen, Rousseau verstricke sich bei dieser Frage in unüberwindliche Widersprüche. Wie dem auch sei; es kommt darauf an, die Ursache dieser Verwechslung zu verstehen. Rousseau unterscheidet sich von anderen kontraktualistischen Denkern, besonders von Hobbes, der behauptet, es genüge, über eine minimale rationale Begabung zu verfügen, die den normalen Erwachsenen von „Kindern“ und „Schwachsinnigen“19 unterscheide, um den Wert und die Anforderungen des Gesellschaftsvertrags zu erkennen und sich als „Citoyen“ zu begreifen. Einen solchen anthropologischen Optimismus findet man auch, allerdings in anderer Form und auf anderen Grundlagen, im Artikel „Naturrecht“, den Diderot für die Encyclopédie verfasst hat und den Rousseau im Genfer Manuskript des Contrat social kritisiert.20 In dem Abschnitt, den ich zitiert habe (Contrat social I, 7), hebt Rousseau die Schwachstellen dieser optimistischen Sozialpsychologie hervor. Was sagt Rousseau das Wort steht, ihm gewissermaßen als Definition dient“ (Émile – siehe Fußnote 14 – I, II, OC IV, S. 345, Anmerkung; deutsch: S. 90). 19 Thomas Hobbes, De Cive, Sektion I, Kap. I, § II, Anmerkung, S. 76, in: Vom Menschen / Vom Bürger (Elemente der Philosophie II / III), hrsg. v. Günter Gawlick, Hamburg: Meiner 1977 (Philosophische Bibliothek; 158). 20 Siehe Genfer Manuskript des Contrat social, I, 2 (siehe Fußnote 1).

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über das Verhältnis von Partikularinteresse (in seinen beiden Bedeutungen) und Gemeininteresse? Er betont, dass es für das Individuum oft schwierig ist zu begreifen, dass es eigentlich sein Interesse verfolgt – sein umfassendes und aufgeklärtes Interesse, das heißt also sein Individualinteresse – wenn es im Sinne des Gemeininteresses handelt. Diese Diskrepanz des Urteils beruht auf genau dieser Vermengung von Privatinteresse und Individualinteresse. Die objektive Übereinstimmung zwischen Gemeininteresse und Individualinteresse wird meistens verdeckt, wenn es beträchtliche Vorteile gibt, von denen das Privatinteresse profitiert. Zunächst einmal ist es ein kurzsichtigeres Interesse, das eine schnellere Befriedigung verspricht. Sodann ist es konkreter und spürbarer, „sprechender“,21 wie Rousseau schreibt, als das Gemeininteresse. Wenn das Individuum glaubt, sein Glück zu machen, indem es das Gemeininteresse vernachlässigt, urteilt es, dass „das, was es der gemeinsamen Sache schuldet“, ein „unverbindlicher Beitrag“ ist, „dessen Einbuße den anderen weniger schadet, als dessen Leistung für ihn kostspielig ist“, und es denkt dann, es könne „seine Rechte als ‚Citoyen‘ in Anspruch nehmen, ohne die Pflichten eines Untertanen zu erfüllen“. Rousseaus Analyse lässt sich noch mit einigen Beispielen veranschaulichen. Sehen wir uns an erster Stelle die Begriffe an, die er wortwörtlich nimmt. Seine Steuern zu zahlen, ist für das Individuum im wahrsten Sinne des Wortes „kostspielig“. Die Geldsumme, auf die jedes Individuum verzichten muss, um seine Steuerschuld zu begleichen, macht einen spürbaren Teil des Vermögens aus, das ihm zur Befriedigung seiner Interessen zur Verfügung steht. Umgekehrt wird sich leicht das Gefühl einstellen, dass der Verlust für den Staat winzig wäre, nicht zu spüren, ein Wassertropfen weniger im Meer. Es wird den Staat nicht davon abhalten, den Bürgern seine Dienste zu gewähren, und der Steuerhinterzieher wird weiterhin alle Rechte und Vorteile genießen können, von denen er als Bürger profitiert. Das Problem ist, dass diese Überlegung auf den ersten Blick völlig vernünftig ist. Sie wird außerdem von libertären Denkern als legitime Option aufgewertet, verkörpert in der Figur des „Trittbrettfahrers“ („free rider“).22 Das Individuum, das auf solche Weise denkt und handelt, scheint tatsächlich auf jeder Ebene zu profitieren. Doch seine Überlegungen und sein Verhalten bergen in Wirklichkeit eine tödliche Gefahr für die Gemeinschaft, und letzten Endes auch für das Individuum selbst. Weil dieses Denken logisch ist, weil sein scheinbar vernünftiger Charakter sich spontan aufdrängt, werden wohl alle Mitglieder der Gesellschaft, oder zumindest

21 „[…] sein Partikularinteresse kann ihm ganz anderes sagen als das Gemeininteresse […]“, Contrat social I, 7, OC III, S. 363, deutsch S. 41 (siehe Fußnote 2). 22 Dieses Konzept ist erstmals von Mancur Olson erarbeitet worden (Logic of Collective Action, Harvard University Press, 1965). Er selbst beschreibt dieses Phänomen mit Begriffen, die denen Rousseaus verwandt sind, und zeigt, wie Rousseau, dass es in eine Sackgasse führt. Harold Desmetz dagegen hat verschiedene Texte geschrieben, in denen er dazu neigt, die Überlegung des „free rider“ zu legitimieren. Siehe besonders: „The Private Production of Public Goods“, in: Journal of Law and Economics, Bd. 13, Nr. 2, Oktober 1970.

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die meisten von ihnen, auf diese Weise nachdenken. Das ist das, was Rousseau das „Umsichgreifen“ einer „Ungerechtigkeit“ nennt, die „den Untergang der politischen Körperschaft verursachen würde“. Wenn sich dieses Modell rationalen Kalküls ausbreitet und der Staat keine Mittel findet, diese Epidemie mangelnden staatsbürgerlichen Pflichtgefühls einzudämmen, wird die Gemeinschaft machtlos werden, unfähig, den Einzelnen die Dienste zu bieten, welche diese vom Staat erwarten, noch, ihre Rechte zu sichern. Alle wären dann schließlich in einer viel nachteiligeren Lage, als wenn jeder regelmäßig seine Steuern bezahlt hätte. Man kann den Begriff „kostspielig“ auch im übertragenen Sinn verstehen, das heißt im Sinne von „anstrengend“, „unangenehm“. Die Gesetze zu achten, ist oft mühsam, weil sie per definitionem unsere Freiheit beschränken. Deshalb wünscht sich jeder oft für sich selbst (als Privatperson) Straffreiheit oder zumindest eine milde Anwendung des Gesetzes, obwohl er (als „Citoyen“) die Herrschaft der Gerechtigkeit und die Beachtung des Gesetzes will. Im Genfer Manuskript des Contrat social stellt Rousseau diesen inneren Widerspruch anhand des folgenden Beispiels dar: „Würde ein Richter, der einen Verbrecher verurteilt, nicht selbst gern frei gesprochen werden, wenn er selbst der Verbrecher wäre?“23 Wir sind jetzt in der Lage, angemessen zu verstehen, was Rousseau sagen will, wenn er den Gemeinwillen vom Willen aller unterscheidet.24 Zweifellos liegt es objektiv im Interesse aller, dass das Gemeininteresse gewahrt wird. Also müssten alle eigentlich wollen, was im Sinne dieses Gemeininteresses ist. Nichtsdestoweniger riskiert das Individuum jedes Mal, wenn sein Privatinteresse besonders betroffen ist, für die Anforderungen des Gemeininteresses taub zu werden. Die Frage, auf die sich diese Hypothese bezieht, ist keine akademische, sie weist auf eine Bedrohung hin, die alle Gesellschaften belastet, und die in verschiedenen Schweregraden tatsächlich wahr wird. Jeder, der einen korrumpierten oder machtlosen Staat erlebt hat, unfähig, dem Überhandnehmen des anti-sozialen Verhaltens etwas entgegenzusetzen, kann die niederschmetternde Erfahrung einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen bezeugen, unter der alle leiden, über die sich alle beklagen, und zu der doch alle beitragen. Der Wille aller, verstanden als Wille der einzeln befragten Individuen, wird nur in bestimmten Situationen und unter bestimmten Bedingungen mit dem Gemeinwillen verschmelzen. Wenn Rousseau diese Art von Problemen aufwirft und Lösungen dafür sucht, ist er weit davon entfernt, irgendeinen totalitären Staat herbei zu fantasieren. Er konfrontiert uns mit sehr realen Schwierigkeiten, und was hierbei auf dem Spiel steht, ist hoch aktuell. Er bringt die Illusionen ans Licht, in die sich die Welt verirrt, welche gerade vor seinen Augen entsteht, und die mehr als je zuvor die unsrige ist. Eine Welt, in der es – wie er befürchtet – keine „Citoyens“ mehr geben wird,25 ist 23 Genfer Manuskript des Contrat social (siehe Fußnote 1), II, 4, OC III, S. 329 (Übers. M. R.). 24 Contrat social (siehe Fußnote 2) II, 3, OC III, S. 371; deutsch S. 31. 25 Ebd. I, 6, OC III, S. 361 – 362, Fußnote; deutsch: S. 18.

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eine Welt, welche glaubt, sie habe die Zauberformel gefunden, durch die sie zugleich die Vorteile des Gemeinwohls erhalten und auf die Tugenden der Einzelnen verzichten kann. Rousseau ruft Mandeville26 in Erinnerung, par excellence ein Vertreter dieser zweifelhaften Illusion, der sich die besten Geister seiner Zeit hingeben und die weitgehend durch den soziologischen Typus verkörpert wird, den Rousseau mit dem Begriff „bourgeois“ bezeichnet. Wenn er seine Zeitgenossen vor den Gefahren dieser Illusion warnt, wenn er aus den Schriften der antiken Historiker Musterexemplare von „Citoyens“ ausgräbt, gibt sich Rousseau keineswegs einer sterilen Nostalgie hin. Er träumt nicht von einer unerreichbaren, romanhaften Tugend. Mit Hilfe ihrer vollkommensten Erscheinungsformen stellt er dar, wozu die Bürgertugend fähig ist, um dann zu zeigen, dass sie a fortiori auch in weniger erhabenen, weniger heroischen Formen möglich ist. Und sie muss möglich sein, weil sie notwendig ist. Notwendig nicht nur für die Spartiaten oder die Römer der Antike, sondern für alle Mitglieder aller Gesellschaften, die modernen genauso wie die antiken. Wenn die Diagnose einmal gestellt ist, scheint das wirksame Hilfsmittel noch schwieriger zu finden zu sein. Ich werde hier nicht all die komplexen Mittel aufführen, welche der Souverän Rousseau zufolge anwenden kann und anwenden muss, um die Stimme des Gemeininteresses im Individuum hörbar zu machen. Abgesehen von der Strafandrohung betont Rousseau die Entwicklung der Sitten und die Erziehung zur „citoyenneté“, also die Kunst, das Individuum zu „denaturieren“27 – sei es durch Bildung, sei es durch Spiele oder Feste. Hier muss man auch die Bedeutung der komplizierten Bastelarbeit der „Zivilreligion“ in den Blick nehmen, die versucht, Religionsfreiheit und Toleranz zu wahren und doch gleichzeitig den Gehorsam gegenüber ihren Dogmen durch gesetzlichen Zwang durchzusetzen.28 Ganz bestimmt ist es einfach, unter den von Rousseau vorgeschlagenen Lösungen nur jene festzuhalten, welche die individuellen Freiheiten einschränken. Man sollte bei der Beurteilung dieser Vorschläge aber niemals aus den Augen verlieren, wofür er eine Lösung zu finden versucht. Es geht nicht darum, alle Rechte an eine absolutisierte und sakralisierte Gemeinschaft zu übertragen, sondern ganz einfach darum, dem Gemeininteresse in der inneren Deliberation des Individuums eine Chance zu geben.

Discours sur l’inégalité (siehe Fußnote 15), 1. Teil, OC III, S. 155; deutsch: S. 143. Émile (siehe Fußnote 14), I, 1, OC IV, S. 249 und CS II, 7, OC III, S. 381 – 382; deutsch: S. 43 – 44. 28 Siehe Blaise Bachofen, „La religion civile selon Rousseau: une théologie politique négative“, in: La théologie politique de Rousseau, Ghislain Waterlot (Hrsg.), Rennes: Presses universitaires de Rennes, 2010, S. 37 – 62; Blaise Bachofen, „L’institution du peuple“, in: J.-J. Rousseau, Du Contract social ou Essai sur la Forme de la République (Manuscrit de Genève), Text und Kommentare, Blaise Bachofen, Bruno Bernardi und Gilles Olivo (ed.), Paris: Librairie Vrin 2012, S. 219 – 230. 26 27

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III. Der richtige Platz des Privatinteresses Es wurde gezeigt, dass die Sorge um das Gemeininteresse aus dem richtig verstandenen Einzelinteresse abgeleitet wird: Es ist das Interesse des in seiner Ganzheit untersuchten Individuums, das gleichzeitig als „Mensch“ und als „Citoyen“ betrachtet wird. Man kann aber noch weiter gehen: Das ausschließlich private Interesse besitzt selbst in einer wohlgeordneten Gesellschaft einen Wert, und seine Rechte müssen durch das Gesetz geschützt werden. Gewiss muss man das Privatinteresse auf seinen richtigen Platz verweisen, weil das wahre Glück des Individuums davon abhängt. Das bedeutet aber keineswegs, dass es notwendig oder gerechtfertigt wäre, es zu opfern. Nicht die Existenz des Privatinteresses für sich genommen ist das Problem, sondern seine übertriebenen Ansprüche. Das politische Leben, wie Rousseau es sich vorstellt, ist weit davon entfernt, alle Individuen zu einer undefinierbaren Masse verschmelzen zu wollen. Vielmehr bietet es jedem die Möglichkeit par excellence, seine konkrete Einzigartigkeit zu bejahen und in der ersten Person, als Individuum, zu existieren. Das Individuum ist in Rousseaus politischem, anthropologischem und moralischem Denken nie nebensächlich, es wird immer als ein einzigartiges und unersetzliches Wesen betrachtet. Rousseau schreibt in La Nouvelle Héloïse: „jeder Mensch ist der Menschheit nützlich, aus dem einzigen Grund, dass er existiert“.29 Es ist kein Zufall, dass seine politischen Schriften so viele Eigennamen beinhalten. In den Considérations sur la Pologne weist er dem individuellen Ehrgeiz und dem Streben nach öffentlicher Anerkennung eine wesentliche Rolle zu, in öffentlichen Spielen, in denen jeder nach Auszeichnung strebt, aber auch im Rahmen des cursus honorum, durch den die Mitglieder der Republik gemäß ihren Verdiensten und ihrer Tugend ausgewählt werden sollen, um so die Mitglieder der exekutiven und administrativen Gewalt zu bestimmen.30 Aber das konkrete und um seine eigenen Rechte besorgte Individuum ist auch im Zentrum der Gesetzgebung präsent. Rousseau schreibt in einer Anmerkung zu Kapitel zwei des Buches zwei des Contrat social: „Damit ein Wille allgemein sei, ist es nicht immer nötig, dass er einstimmig sei, aber es ist nötig, dass alle Stimmen gezählt werden; jeder förmliche Ausschluß zerstört die Allgemeinheit“.31 Die Ablehnung der Repräsentation bedeutet gerade, dass jedes Mitglied des souveränen 29 Julie ou la Nouvelle Héloïse, 3. Teil, Brief Nr. XXII, OC II (in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, hrsg. v. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Vol. II, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]), S. 393 (Übers. M. R.). 30 Siehe Considérations sur la Pologne, Kap. III, OC III (in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]), S. 955 – 966; Kap. X, ebd., S. 1000 – 1003; Kap. XIII, ebd., S. 1012 – 1029. 31 Contrat social (siehe Fußnote 2) II, 2, OC III, S. 369, Anmerkung; deutsch: S. 28.

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Volkes nicht als einfaches Exemplar einer mehr oder weniger homogenen Kategorie betrachtet werden darf, dessen Wille zumindest annähernd durch einen Repräsentanten ausgedrückt werden könnte. Die einzige Art und Weise, den Willen des Volkes wirklich zu ermitteln, ist, jedem Mitglied des Volkes zu ermöglichen, wirklich und persönlich seinen Willen auszudrücken. Die gesetzgeberische Deliberation muss also den verschiedenen Ansichten und verschiedenen Interessen erlauben, sich so auszudrücken, wie sie wirklich sind, und nicht so, wie es von ihnen angenommen wird. Und wenn es die einzelnen Willen der konkreten Individuen sind, die dem Gemeinwillen seine Gestalt verleihen, drücken diese Willen notwendigerweise die Eigeninteressen der Individuen samt ihrer Privatinteressen aus, bevor versucht wird, sie durch die Deliberation aufeinander abzustimmen. Wenn sich die einzelnen Ansprüche nicht in Form von spezifischen Forderungen zeigten, wenn nicht jeder versuchen würde, seine Privatinteressen zu verteidigen, wäre die Deliberation gegenstandslos und hätte keine Daseinsberechtigung: Warum sollte man überhaupt deliberieren, warum sollte man versuchen, sich über etwas zu einigen, über das ohnehin schon Übereinstimmung herrscht? In dieser Hinsicht ist das Kapitel elf von Buch zwei des Contrat social sehr interessant. Rousseau zeigt dort, dass es unmöglich ist, einen bestimmten Grad gesellschaftlicher und bürgerlicher Ungleichheit zu beseitigen, und dass es deshalb immer etwas geben wird, was man „soziale Klassen“ nennen könnte, die widersprüchliche Interessen haben. In den Lettres écrites de la montagne spricht Rousseau von der „Liga der Starken“ und der „Liga der Schwachen“.32 Nichtsdestotrotz ist es nötig, durch das Gesetz eine zumindest relative Angleichung der Verhältnisse zu gewährleisten. Diese Angleichung ist nicht dazu berufen, absolut zu sein, sie muss ein gerechtes Maß der Gleichheit anstreben, nämlich dasjenige, das für alle Mitglieder der Gesellschaft die Bedingungen einer wirklichen, nicht nur einer formalen, Freiheit schützt. Dass in diesem Punkt ein akzeptabler Kompromiss zwischen allen unerlässlich ist, wünschenswert für die Reichen ebenso wie für die Armen, hat nicht nur einen moralischen, per definitionem zerbrechlichen Grund, sondern einen viel drängenderen, weil politischen Grund: Alle Bürger ohne Ausnahme müssen ein Interesse an der Existenz des Staates und der Achtung der Gesetze haben.33 Unabhängig von ihrer Rolle bei der Bestimmung des Gemeinwillens ist der Schutz der Privatinteressen schließlich selbst ein Zweck, den sich die wohl geordnete Gesellschaft setzen muss. Weil das Privatinteresse eines der beiden konstituierenden Elemente für das Glück des Einzelnen ist, muss es per definitionem durch die Republik geschützt werden – unter der Bedingung, den Prozess der Bestimmung 32 Lettres écrites de la montagne, 9. Brief, OC III (in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]), S. 892 (Übers. M. R.). 33 „In Wirklichkeit sind die Gesetze immer den Besitzenden nützlich und den Habenichtsen schädlich. Daraus folgt, dass der gesellschaftliche Stand für Menschen nur vorteilhaft ist, soweit sie alle etwas besitzen und niemand zu viel besitzt.“ Contrat social (siehe Fußnote 2) I, 9, OC III, S. 367, Fußnote; deutsch: S. 26.

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des Gemeinwillens nicht für sich auszubeuten und das Individuum nicht davon abzuhalten, als „Citoyen“ zu handeln. Rousseau beschreibt das ganz eindeutig im Discours sur l’économie politique: „Die Sicherheit des Einzelnen ist so sehr mit der politischen Konföderation verbunden, dass […] diese Übereinstimmung durch das Recht aufgelöst würde, wenn im Staat ein einziger Bürger zugrunde ginge, den man hätte retten können; wenn ein einziger zu Unrecht im Gefängnis festgehalten würde, und wenn ein einziger Gerichtsprozess mit einer offensichtlichen Ungerechtigkeit verloren würde […]. Ist es nicht tatsächlich die Aufgabe des nationalen Körpers, sich um die Erhaltung des Letzten seiner Mitglieder mit ebenso großer Sorge wie für die aller anderen zu kümmern? Ist das Wohl eines Bürgers weniger eine gemeinsame Angelegenheit, als das des ganzen States?“34

Die Ähnlichkeit zwischen diesem Text und dem von Hannah Arendt mit dem Titel „The Eggs Speak Up“ ist frappierend. Letzterer ist eine Anklage gegen das Sprichwort, „man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen“, also gegen die Anmaßungen des Staates und gegen die Versuchung, das einzelne Individuum gegenüber der Staatsräson für eine „quantité négligeable“ zu halten. In diesem Zusammenhang zitiert Arendt die Formulierung von Clemenceau im Kontext der Dreyfus-Affäre: „die Angelegenheit eines Einzelnen ist die Angelegenheit von allen“35, und das ist exakt die These Rousseaus. Umso erstaunlicher ist es, dass Arendt Rousseau als den Autor angesehen hat, der es am wenigsten verstanden hat, der privaten Existenz, der unersetzlichen Einzigartigkeit des Individuums, in der Gemeinschaft ihren gebührenden Platz zuzuerkennen.36 Aber ich denke, es wäre möglich, jenseits der Missverständnisse die zahlreichen Übereinstimmungen in ihrem politischen Denken zu entdecken. Arendt sagt selbst, die beste Garantie gegen freiheitstötende Politik sei das politische Handeln des Volkes, und dass sich jedes Individuum dementsprechend über seine Rechte und Pflichten als „Citoyen“ bewusst werde.37 Und da der Schutz der Privatinteressen in der Tat eine aus dem öffentlichen Interesse hervorgehende Notwendigkeit ist, wird ein Volk von „Citoyens“, ein aktives, politisiertes Volk, das sich stark mit den öffentlichen Angele34 Discours sur l’économie politique, OC III (in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]), S. 255 – 257 (Übers. M. R.). 35 Siehe Hannah Arendt, „The Eggs speak up“, in: Essays in Understanding, New York, Harcourt Brace, 1994. 36 Siehe Hannah Arendt, On Revolution, New York, Viking Press, 1963, Kap. II. 37 „Totalitarian movements are possible wherever there are masses who for one reason or another have acquired the appetite for political organization. Masses are not held together by a consciousness of common interest. […] The term masses applies only where we deal with people who either because of sheer numbers, or indifference, or a combination of both, cannot be integrated into any organization based on common interest, into political parties or municipal governments or professional organizations or trade unions. Potentially, they exist in every country and form the majority of those large numbers of neutral, politically indifferent people.“ (Hannah Arendt, The Origins of Totalitarism, Teil III, Totalitarianism, Kap. X: „A Classless Society“, New York, Schocken Books, 1951).

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genheiten beschäftigt, ganz besonders anspruchsvoll sein, was eine gute Ausübung von Macht angeht. Es wird besonders wachsam gegen den Machtmissbrauch sein, namentlich gegen die Berufung auf das Gemeinwohl zur Unzeit, und dagegen, dass das öffentliche Interesse vorgeschoben wird, um illegitime Eingriffe in die Individualrechte zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht sollte man nie Rousseaus Unterscheidung zwischen legislativer Gewalt und exekutiver Gewalt vergessen, ebenso wenig den Nachdruck, den er darauf legt, die legislative Gewalt dem ganzen Volk zu gewähren und die exekutive Gewalt der legislativen Gewalt unterzuordnen (siehe Contrat social, III, 10 und 11). Denn Übergriffe der Exekutive auf die Legislative und ihre Tendenz, die Souveränität zu usurpieren und im Namen des Gemeinwohles zu handeln, obwohl sie nur eine partikulare Körperschaft im Staat ist, sind die Hauptgründe für Machtmissbrauch und freiheitstötende Politik. Die richtig verstandene Freiheit des Bürgers lässt im Kontrast die substantielle Armut und Zerbrechlichkeit der minimalistischen und hauptsächlich privaten, apolitischen, Freiheit hervortreten, wie sie Benjamin Constant oder später Isaiah Berlin als zumindest für die Modernen einzige und wahre Freiheit des Individuums propagieren.38 Der Gegensatz, den Constant und Berlin auf verschiedenen Wegen, aber mit übereinstimmenden Schlussfolgerungen künstlich aufbauen, ist in Wirklichkeit eine Scheinopposition. Individualinteresse und Kollektivinteresse, private Freiheit und politische Freiheit schließen sich nicht gegenseitig aus. Das Kollektivinteresse zu vernachlässigen, glauben, man habe Besseres zu tun – und komme damit besser weg – indem man sich dafür entscheidet, sich zugunsten der privaten Angelegenheiten nicht für die öffentlichen zu interessieren, bedeutet, nicht zu verstehen, was das Gemeininteresse überhaupt ist, bedeutet, ruhig schlafend in seinem Bett zu bleiben, während das Haus abbrennt. Die Theoretiker einer auf ihre liberale, also minimale Bedeutung reduzierten Freiheit, der Freiheit definiert als „Fehlen von Widerstand“, wie sie Hobbes begreift,39 sind im Grunde die Theoretiker der schmerzlosen Unterjochung, der freiwilligen Knechtschaft. Rousseau schreibt in den Lettres écrites de la montagne: „Überzeugt alle, dass das öffentliche Interesse das Interesse von niemandem ist, und allein dadurch ist die Knechtschaft eingeführt.“40 Übersetzung: Michaela Rehm

38 Siehe Benjamin Constant, De la liberté des Anciens comparée à celle des modernes [1819], neu hrsg. in: Écrits politiques, hrsg. v. Marcel Gauchet, Paris, Gallimard, coll. FolioEssais, 1997; Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, Oxford: Clarendon Press, 1958. 39 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. v. Iring Fetscher, Frankfurt / Main: Suhrkamp 1991, Kap. XXI, S. 163. 40 Lettres écrites de la montagne (siehe Fußnote 32), 9. Brief, OC III, S. 893 (Übers. M. R.).

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Blaise Bachofen

Summary One current interpretation of Rousseau tends to ascribe to him an apology for the common interest, the price for which must be the sacrifice of the individual to the collective. An adequate comprehension of Rousseau’s theory of the common interest requires a distinction between individual interest and private interest. The private interest forms only one part of the individual interest: it is the interest that makes the individual into a particularized and singular being; whereas individual interests taken as a whole allow us to define the common interest, which otherwise would be the interest of nobody at all. Moreover, if private interests have the effect of acting in the opposite direction to the common interest, and if it is therefore necessary, from a political point of view, to oppose its tyrannical tendencies, we should not conclude that Rousseau does not accord any value to private interests. On the contrary, his moral philosophy and his anthropology witness the detailed attention he gave to what it is in the human condition that corresponds to the private individual. One of the sacred duties of the Republic is to protect the private individuals and their interests.

Rousseaus Konzept einer Zivilreligion Maximilian Forschner Der Gedanke einer Zivilreligion scheint dem Begriff des modernen liberalen Verfassungsstaates fremd zu sein. Die philosophische Theorie dieses Verfassungsstaates setzt Grundrechte des Einzelnen an, die staatlicher Herrschaft vorgeordnet sind, und deren Wahrung staatliche Herrschaft dient. Die Konstitution und Legitimation liberaler politischer Gemeinschaft und Herrschaft wird neuzeitlich (im Gefolge von John Locke) philosophisch so gedacht, dass sie aus einem Vertrag resultiert, in dem die Einzelnen „im Verein“ auf einen Teil ihrer natürlichen Freiheit zugunsten der dadurch geschaffenen staatlichen Macht verzichten, um in derem Schutz den verbliebenen Teil ihrer Freiheit in Sicherheit zu genießen. Die Zweckrationalität dieses Vertragsmodells stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn im Blick auf langfristige Erhaltungsbedingungen oder krisenhafte Umstände und Entscheidungssituationen die Existenz des liberalen Verfassungsstaates auf dem Spiel und Prüfstand steht. Ein liberaler Verfassungsstaat, der „weltanschauungsneutral“ die als persönliches Belieben (liberum arbitrium) verstandene Freiheit der Einzelnen schützt, ist zu seiner Erhaltung einer Sittlichkeit seiner Bürger bedürftig, die er über seine strafbewehrten Gesetze nicht erzwingen kann (ohne sich selbst aufzuheben).1 Man denke etwa an so triviale Sachverhalte wie die Zeugungswilligkeit oder die Arbeitswilligkeit seiner Bürger oder, weniger „selbstverständlich“ und trivial, an ihre Bereitschaft zu unentgeltlichem sozialem Einsatz und altruistischer, gar im Extremfall „heroischer“ Opferbereitschaft. Mit der Frage nach dem erforderlichen „Nährboden“ sittlicher Selbstverständlichkeiten und bürgerlicher, gemeinschaftsstiftender und gemeinschaftsfördernder Selbstlosigkeit und Opferbereitsschaft kommt (unter anderem, aber nicht zuletzt) der Gedanke der Religion ins Spiel. Gilt sie doch seit alters als Basis und wesentliche Stütze gelebter Sittlichkeit. Auch Jean-Jacques Rousseau bemüht für die Begründung politischer Gemeinschaft und Herrschaft die (aus antiker atomistischer Tradition stammende) neuzeitliche Figur des Vertrags. Voraussetzungen und Inhalt seines Vertragskonzepts begründen allerdings keinen modernen liberalen Verfassungsstaat. Rousseau kritisiert vielmehr die präsumierte Vernunft von dessen Prämissengefüge und entwirft mit seinem Contrat Social das Gegenprojekt eines sittlichen Bürgerbundes, dessen radikaldemokratischer Gemeinwille (volonté générale) die Rechte und Pflichten der 1 Die schrittweise Selbstaufhebung erfolgt „in ruhigen Zeiten“ auf dem Wege einer schleichenden gesetzlichen Überregulierung des Alltagslebens.

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Bürger definiert und garantiert. Im Rahmen seines an die griechische Polis- und römische Res-publica-Tradition (und den Schweizer Bürgerbund) anknüpfenden Gegenentwurfs war Jean-Jacques Rousseau der erste, der auf die „sittliche Begründungslücke“ der nur zweckrational argumentierenden, einer säkularen Selbstliebe und arbiträren Freiheitsvorstellung verpflichteten neuzeitlichen Vertragstheorie mit Nachdruck aufmerksam machte. Und er war der erste, der unter Prämissen der Aufklärung die Frage nach Erfordernis und möglicher Beschaffenheit einer Zivilreligion mit philosophischer Radikalität erörtert hat. Rousseau hielt freilich, was er im Contrat Social als einen wahrhaft freien Bürgerbund theoretisch entwarf, nur noch unter ganz besonderen gesellschaftlich-geschichtlichen Voraussetzungen in der Moderne für praktisch realisierbar.2 Sein Konzept einer religion civile steht demnach auch unter diesem Vorbehalt. Es lässt sich nicht einfach als Vorschlag für die Gegenwart verstehen. Gleichwohl verdienen die Gedanken und Probleme, die er im Zusammenhang des Entwurfs und der Begründung dieses Konzepts im Rahmen des Contrat Social namhaft machte, auch im Blick auf unseren aktuellen liberalen Verfassungsstaat und die ihn tragenden Wertvorstellungen seiner Bürger eingehende Beachtung und Diskussion. (1) Rousseau beschließt sein Werk Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique (= CS) von 1762 mit einem Kapitel De la religion civile. Dieses Kapitel3 irritiert manchen modernen Interpreten, weil der CS eine rein säkulare Behandlung des politischen Rechts zu bieten beansprucht. Es irritierte manchen seiner Zeitgenossen, weil es die These vertrat, der Geist des (christlichen) Evangeliums sei dem esprit social einer politischen Gemeinschaft zutiefst zuwider.4 Rousseau verteidigte sich gegen die Genfer Obrigkeit, die mit dem indizierten Émile auch gleich den Contrat Social verbrennen ließ, in seinen Briefen vom Gebirge,5 deren erster Brief, was nicht immer gebührende Beachtung findet, für das Verständnis des Religionskapitels im CS von besonderer Bedeutung ist. Rousseau möchte im CS Religion ausschließlich unter Gesichtspunkten der Politik und des Rechts im Blick auf ein vernünftiges politisches Gemeinwesen verstanden wissen.6 Das veröffentlichte Religionskapitel ist deutlich dreigeteilt. Es führt 2 Über die Einordnung von Rousseaus Contrat Social in den Rahmen seiner Geschichtsphilosophie vgl. M. Forschner, Naturzustand und Geschichte bei J.-J. Rousseau, in: ANOΔOΣ. Festschrift für Helmut Kuhn. Hrsg. von R. Hofmann, J. Jantzen u. H. Ottmann, Weinheim (VCH, Acta Humaniora) 1989, 5 – 21. 3 Vgl. dazu ausführlicher M. Forschner, Rousseau über religion civile, in: Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung. Festgabe für Jürgen Gebhardt zum 65. Geburtstag. Hg. von W. Leidhold, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2000, 21 – 42. 4 OC III, 465. Ich zitiere nach J.-J. Rousseau, Oeuvres Complètes (= OC), ed. par B. Gagnebin et M. Raymond, Bibliothèque Pléiade (Gallimard), Band und Seitenzahl; Bd. III, Paris 1964. 5 Die Lettres écrites de la montagne (= Montagne) sind im Bd. III der Pléiade-Ausgabe enthalten. 6 Dies unterscheidet die Behandlung des Themas im CS von der im Èmile. Im 4. Buch des Émile geht es um persönliche Religiosität. Vgl. dazu M. Forschner, Religion und Aufklärung.

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zunächst mit einem Blick auf die Geschichte des Verhältnisses von Religion und politischer Gemeinschaft in das Thema ein. Es diskutiert dann, in einem systematischen Blick auf drei mögliche Formen von Religion, die Rolle des Christentums in einer politischen Gemeinschaft und skizziert schließlich die Prinzipien einer Bürgerreligion, die mit den Vernunftprinzipien des Rechts vereinbar und unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung einer Rechtsgemeinschaft erforderlich ist. Das unveröffentlichte Religionskapitel des sog. Genfer Manuskripts des CS (= CS MS) nennt eine wesentliche Prämisse, die Rousseaus Überlegungen und deren Ergebnis trägt, und dies in nackter, rhetorisch pointierter Form: „In jedem Staat, der von seinen Mitgliedern das Opfer ihres Lebens verlangen kann, ist derjenige, der gar nicht an ein künftiges Leben glaubt, notwendigerweise ein Feigling oder ein Dummkopf“.7 Dass dieser Gedanke eine wesentliche Prämisse seines Konzepts einer réligion civile darstellt, wird in der neuesten eingehenden Monographie zum Thema8 von Michaela Rehm in Frage gestellt. Sie behandelt Rousseaus Theorie der Stellung und Funktion einer öffentlichen Religion im Rahmen einer vernünftig verfassten politischen Gemeinschaft.9 Für Frau Rehm erweist sich, zu Recht, wie ich finde, Rousseau mit seinem Konzept einer Zivilreligion als „Dialektiker der Aufklärung“, der „die unzureichende Bindewirkung einer rein rechtlichen Verpflichtung der Bürger“10 erkannte und den Atheismus der philosophes zurückwies, der den Dogmatismus und Irrationalismus der traditionalistischen dévots ablehnte, doch die Funktion der affektiven Stützung der Bürgermoral durch Religion für unverzichtbar hielt. Rousseau wollte in der Tat, wie Frau Rehm betont, „Glaube und Wissen, Religion und Aufklärung nicht länger als Gegensätze begreifen“.11 Sein Konzept sollte den Aufklärungsideen von Vernunft, Autonomie und Toleranz Rechnung tragen und den Theismus der philosophischen und religiösen Tradition retten. Die von Rousseau ins Auge gefasste Zivilreligion soll „die soziale Einheit garantieren, die Kraft der Gesetze stärken, die Liebe zur Pflicht lehren und eine ‚Gesinnung des Miteinander‘ schaffen“.12

Oder vom Kanon des Glaubens und vom Kanon der Vernunft, in: Abwägende Vernunft. Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive, hrsg. von F.-J. Bormann und C. Schröer, Berlin / New York (Walter de Gruyter) 2004, 581 – 603, v. a. 597 – 603. 7 CS MS OC III, 336: „Dans tout etat qui peut exiger des ses membres le sacrifice de leur vie celui qui croit point de vie à venir est nécessairement un lâche ou un fou.“ 8 M. Rehm, Bürgerliches Glaubensbekenntnis. Moral und Religion in Rousseaus politischer Philosophie, München (Wilhelm Fink) 2006. 9 Vgl. dazu meine Rezension: Im Westen nichts Neues? Bemerkungen zu neuerer Rousseauliteratur, in: Philosophische Rundschau (Mohr Siebeck) Bd. 57, Heft 1 (2010), 14 – 32. 10 M. Rehm, a. a. O., 12. 11 M. Rehm, ebd. 12 M. Rehm, 147.

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Rousseau sieht diese Ziele nun eindeutig, wie im Folgenden zu zeigen ist, in bestimmten Formen des Christentums, aber auch im bekennenden Atheismus gefährdet, weil dieser die Menschen unfähig mache, „Gesetze und Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und im Notfall sein Leben seiner Pflicht zu opfern“.13 Wer keine Jenseitsperspektive besitzt, so Rousseaus Überzeugung, ist insociable, d. h. letztlich auf sein empirisches Dasein und seine egozentrische Selbstliebe zurückgeworfen. Wenn Frau Rehm nun die geläufige These in Frage stellt, nach der Rousseaus Zivilreligion schlicht ein Mittel sei, „den Bürger gegebenenfalls zum Einsatz seines Lebens für den Staat zu bewegen“,14 und zwar deshalb, weil für Rousseau die Macht des Souveräns, der die Dogmen festlegt und auf sie verpflichtet, auf das Diesseits begrenzt sei, und diese Dogmen „genaugenommen nicht als religiöse Dogmen, sondern als gefühlsbesetzte soziale Einstellungen“ zu verstehen seien,15 so mag man ihr nicht ohne weiteres zustimmen. Rousseau will in seiner politischen Philosophie „die Menschen nehmen, wie sie sind und die Gesetze so, wie sie (sc. nach Gesichtspunkten der Vernunft M. F.) sein können“.16 Die Selbstliebe (amour de soi) gehört zur natürlichen Verfassung des Menschen. In einem guten Bürger (citoyen) ist sie von der Liebe zum corps politique (der amour de la patrie) überformt. Aber auch in der Liebe zum Gemeinwesen besitzt die gesunde Selbstliebe nach wie vor ihr Recht; und dieses besteht im gerechten Anteil am Genuß der „Früchte“, die das Gemeinwesen allen Gliedern bietet, und die ohne ein Leben in einem veritablen Gemeinwesen nicht zu haben sind. Rousseau denkt selbstverständlich an den Lebensgenuß (und nicht so sehr an posthume Ehrung, wie Frau Rehm meint) als prix de la vertu. Gerechtigkeit und Nutzen, so der programmatische Beginn des Contrat Social, sind nicht zu trennen. Eine selbstlose Tugend, die den Preis des Glücks in sich selbst trägt, ist ihm ein theoretischer Gedanke, den vielleicht wenige wahre Philosophen zu leben imstande sein mögen, der jedoch für die Praxis der Menge der Menschen nicht taugt, und mit dem man, ganz wörtlich zu nehmen, keinen Staat machen kann. „Die Voraussetzung eines Volks von Philosophen“, so schreibt Rousseau am unteren Ende der 1. Seite des Genfer Manuskripts des CS, „ist noch chimärischer als die eines Volks von wahren Christen“.17 Tugend motiviert sich für Rousseau nicht restlos selbst. Unter der Prämisse unaufhebbarer Ansprüche der Selbstliebe des einzelnen Menschen ist sie von der Hoffnung und Erwartung eines Ausgleichs für selbstloses Handeln im Jenseits nicht zu trennen.18 CS IV, 8 OC III, 468. M. Rehm, a. a. O., 149. 15 M. Rehm, ebd. 16 CS Prooimion OC III, 351. 17 CS MS OC III, 1427. 18 Die religiöse Hoffnung und Erwartung darf allerdings nicht in Fanatismus ausarten: „Dans tout etat qui peut exiger de ses membres le sacrifice de leur vie celui qui ne croit point de vie à venir est nécessairement un lâche ou un fou; mais on ne sait que trop à quel point l’espoir de la vie à venir peut engager un fanatique à mépriser celle-ci. Otez ses visions à ce fanatique et donnez-lui ce même espoir pour prix de la vertu vous en ferez un vrai citoyen.“ CS MS, OC III, 337. 13 14

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Zivilreligion hat für Rousseau also essentiell mit dem Glauben19 an ein kommendes Leben und an eine göttliche Macht zu tun, die dem einzelnen Bürger den selbstlosen Einsatz für den Erhalt und das zeitliche Wohl der Gemeinschaft in seinem künftigen Leben lohnt. Zivilreligion überbrückt die Kluft, die zwischen (vernünftiger) Selbstliebe und sittlicher Verpflichtung in und gegenüber der politischen Gemeinschaft aufbrechen mag. Ein Staat ist eine rein menschliche Einrichtung, die auf dem Willen und Engagement seiner Mitglieder basiert und über deren vernünftiges Selbstinteresse motiviert ist. Sie dient dazu, als corps politique für alle Glieder die „wesentlichen Gaben“ (dons essentiels) ihrer Natur, und das heißt für Rousseau, ein Leben in Freiheit zu sichern.20 Die Gründung und Erhaltung eines entschluss- und handlungsfähigen Gemeinwillens schließt die Bereitschaft jedes Mitglieds ein, im Not- und Verteidigungsfall auch sein Leben für die Gemeinschaft einzusetzen. Endet dieser Einsatz tödlich, dann erweist er sich für ihn, falls er keine Jenseitsperspektive besitzt, als ein „schlechtes Geschäft“: Der Tod schneidet ihn vom Genuss der Früchte seines Einsatzes ab; die politische Gemeinschaft vermag für ihn nicht mehr das zu leisten, was sie leisten soll. Wer nicht glaubt und gleichwohl sein Leben für den Erhalt des Ganzen aufs Spiel setzt, ist in einer Situation, die ihm einen selbstbezogenen Ausweg des Überlebens bietet, im Blick auf sein Selbstinteresse ein Narr. In der Regel wird jedoch sein Unglaube, soweit er mit Verstand gepaart ist, seiner Tapferkeit Abbruch tun. Rousseau bewegt sich mit diesen Gedanken im Hauptstrom der Aufklärungsphilosophie. „Das Vergessen jeder Religion führt zum Vergessen der Pflichten des Menschen“.21 Eine politische Gemeinschaft bedarf zu ihrer Erhaltung und ihrem Gedeihen der Tugend, des Patriotismus ihrer Bürger; „es ist sehr wichtig für den Staat, daß jeder Bürger eine Religion hat, die ihn seine Pflichten lieben macht“.22 (2) Welche Art von Religion braucht ein moderner Staat zu seiner Erhaltung? In politischer Hinsicht sind für Rousseau zwei wesentliche Funktionen von Religion ersichtlich: (a) Sie hat die verbindenden Wertvorstellungen, die Gesetze, das spezifische Ethos einer politischen Gemeinschaft zu heiligen, ohne diese Heiligung mit dem Preis der Vernunft zu erkaufen. (b) Sie hat den Lebenshorizont ihrer Mitglieder über die diesseitige Dimension hinaus zu erweitern, ohne das Interesse am Diesseits zu depotenzieren. Diese zweifache Funktion gibt den Leitfaden für Rousseaus Ant19 Glaube ist zu verstehen als (selbstverständlich auch gefühlsbesetzte) propositionale Einstellung, die die feste Überzeugung von der Existenz eines allmächtigen, fürsorglichen und gerechten Gottes und vom Weiterleben der Seele des Menschen nach seinem Tod einschließt. Dieser Glaube ist für Rousseau mit der politisch-gesellschaftlichen Einstellung des Bürgers essentiell verbunden. 20 Vgl. dazu ausführlicher M. Forschner, Herrschaft und Herrschaftsfreiheit. Über Rousseaus anthropologische Prinzipien politischen Rechts, in: Rationalität und Prärationalität. Festschrift für Alfred Schöpf, hrsg. von J. Beaufort und P. Prechtl (Königshausen & Neumann) Würzburg 1998, 139 – 150. 21 Émile IV, 561. 22 CS IV, 8 OC III, 468.

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wort auf die Grundfrage des Religionskapitels des CS: „Wie können die religiösen Institutionen Eingang finden in die Verfassung des Staates?“.23 Seine Antwort bedient sich zunächst einer typisierenden Unterscheidung dreier Formen von Religion, der Religion des Menschen (religion de l’homme), der Religion des Bürgers (religion du citoyen) und der Priesterreligion (religion du prêtre). Die religion de l’homme ist gekennzeichnet durch die reine Innerlichkeit der Gottesbeziehung und durch den Universalismus ihres Inhalts. Es ist eine aufgeklärte Religion „ohne Tempel, ohne Altäre, ohne Riten, begrenzt auf den rein geistigen Kult des höchsten Gottes und auf die ewigen Pflichten der Moral“.24 Sie wird im CS nur kurz erläutert, dafür aber im „Glaubensbekenntnis des savoyardschen Vikars“ im 4. Buch des Émile ausführlich entfaltet und begründet. Sie ist „der wahre Gottesglaube“,25 eine reine Vernunftreligion, die Herz und Verstand gleicherweise erfasst, die „das göttliche Naturrecht“26 zu ihrer praktischen Norm hat und als universalistisch-humanitäres stoisch-christliches Weltverhältnis beschreibbar ist.27 Ihr Schwerpunkt liegt auf der Praxis, sie macht die Menschen gerecht, maßvoll und friedfertig.28 Durch sie erkennen und anerkennen sich alle Menschen als Geschwister und Kinder des einen Gottes.29 Es ist die wahre Religion des Evangeliums. Die religion du citoyen sieht in der eigenen politischen Gemeinschaft und ihrem Schutzgott das Heilige, den Dienst am Vaterland als Gottesdienst. Sie verpflichtet den Bürger allein auf die spezifischen Gesetze, Sitten und Riten der partikulären Volksgemeinschaft.30 Patriotismus und Frömmigkeit, Staat und Religion bilden in ihr eine untrennbare Einheit. Es ist, wie Rousseau typisierend sagt, die Religion des „Heidentums“. An der Spitze des corps politique steht ein Gott; die Form der Herrschaft ist theokratisch, der sichtbare Herrscher besitzt eine göttlich Aura bzw. ist Organ und Mittler göttlichen Willens. Der Machtanspruch und Einflussbereich einer Gottheit deckt sich mit dem partikulären Staatsgebilde, die Welt ist polytheistisch strukturiert. Unter günstigen Umständen waren „die Götter der Heiden … nicht eifersüchtige Götter, sie teilten unter sich die Herrschaft der Welt“.31 Diese Einheit von Staat und Religion zerbricht durch den Eintritt des Christentums in die Geschichte: Jesus setzt dem partikulären weltlichen Staat ein universales So Montagne, Lettre 1, OC III, 703. CS MS OC III, 336; vgl. CS OC III, 464. 25 OC III, 464. 26 OC III, 464. 27 CS MS III, 339 ist vom stoicisme des (wahren) Christen die Rede; ebenso CS III, 466; zugleich wird die religion de l’homme mit der „reinen und einfachen Religion des Evangeliums“ identifiziert CS MS III, 336; CS III, 464. 28 Montagne, Lettre III, OC III, 705. 29 CS III, 465. 30 „Volk (peuple)“ bei Rousseau immer verstanden als Staatsvolk, d. h. als die Menge der Untertanen. 31 CS III, 460 f. 23 24

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geistiges Reich entgegen und trennt die politische Ordnung von der religiösen Welt.32 Der Dienst am Staat ist nun nicht mehr Gottesdienst. Die Pflichten gegenüber der eigenen politischen Gemeinschaft und gegenüber Gott bzw. gegenüber jedem beliebigen Menschen als „Nächsten“ grenzen sich ab und treten (unter Umständen) in Konflikt zueinander. Die dritte Form von Religion, die religion du prêtre, ist eng mit der Geschichte des Christentums verbunden, aber nicht für diese spezifisch. Sie verkörpert sich am markantesten im Katholizismus. Sie macht den Menschen zum Bürger zweier Reiche, doch nicht, wie das „wahre Christentum“, zum Bürger eines sichtbaren, zeitlichen und eines unsichtbaren, rein geistigen Reiches, sondern zum Bürger zweier sichtbarer Reiche, eines weltlichen Reiches und eines Reiches der Geistlichen. Der Katholizismus besitzt allerdings nicht das Monopol auf diese Form von Religion. Eine religion du prêtre ist überall dort gegeben, wo ein besonderer Priesterstand bzw. ein Stand von Religionsfunktionären unter dem Anspruch, das geistige Reich im Irdischen zu repräsentieren und vernehmbar auszulegen, sich (im Rahmen des Staates oder staatenübergreifend) zu einer eigenen Körperschaft formiert, die theoretischen Dogmen der Religion verbindlich interpretiert, ihre Heilsmittel verwaltet sowie den öffentlichen und privaten Kult und die moralischen Normen kontrolliert. Der Bürger lebt hier unter zwei Fürsten, einem weltlichen und einem geistlichen, einer Doppelhoheit mit dauerndem Konfliktpotential, die den Bürger zwei widersprüchlichen Verpflichtungen unterwirft und „in den christlichen Staaten jede gute politische Ordnung unmöglich gemacht hat“.33 Wie sieht nun angesichts dieser drei Religionsformen Rousseaus Problemlösung aus? (3) Der Grundsatz, der seine politische Erwägung und Beurteilung von Religion in ihrer Funktion für den Staat leitet, ist der der größtmöglichen Einheit des gesellschaftlich-politischen Ganzen bei gleichzeitiger größtmöglicher Einheit der Glieder mit sich selbst. „Alles, was die gesellschaftliche Einheit aufbricht, ist nichts wert: Alle Institutionen, die den Menschen mit sich selbst in Widerspruch bringen, taugen nichts.“34 Rousseau geht es um Identität und Authentizität des Lebens als Bürger und Mensch in einem freien Bürgerbund. Neben und unter diesem Gesichtspunkt der Einheit verwendet Rousseau in dieser Diskussion die Kriterien der Wahrheit, der Sicherheit, aber auch der naturrechtlichen Zulässigkeit. Im übrigen ist das Recht gesetzlicher Regulierung, das nach Rousseaus Figur des Gesellschaftsvertrags der Souverän erhält, durch den öffentlichen Nutzen und das Wohl des Gemeinwesens (die utilité publique) bestimmt und begrenzt. 32 33 34

CS III, 462. CS III, 462. Rousseau folgt hier gedanklich den Vorgaben von Thomas Hobbes. CS III, 464. Rousseau folgt hier gedanklich den Vorgaben von Nicolo Machiavelli.

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Nach dem bislang Gesagten ist klar, dass die religion du prêtre für die politische Ordnung destruktiv wirkt. Auch wenn sie in der christlichen Welt in beherrschender Weise verbreitet ist, verdient sie für Rousseau keine weitere Diskussion. Doch für ihn ist das Christentum nicht nur in dieser priesterlich-körperschaftlichen Ausprägung, sondern auch in seiner „wahren“ Gestalt politisch destruktiv. Er ist der Überzeugung, „daß das christliche Gesetz der starken Verfassung des Staates im Grunde mehr schadet als nützt“.35 Nicht nur, daß diese Religion den Gesetzen des Staates keine neue Kraft hinzufügt; „mehr noch: weit entfernt davon, die Herzen der Bürger an den Staat zu binden, löst sie sie vielmehr von ihm wie von allen Dingen der Erde; ich kenne nichts, was dem Patriotismus mehr entgegengesetzt wäre“.36 Nach Rousseaus Verständnis ist das „geistige Reich“, das Jesus auf Erden verkündete, „ein Reich von einer anderen Welt“,37 das kein „Reich dieser Welt“ in seinem Wert und Anspruch erhöht. Jesu Botschaft des Reiches Gottes geht vielmehr mit einer radikalen Relativierung des Werts zeitlicher Dinge und Einrichtungen einher. Sie ist eschatologisch, richtet die Gläubigen auf ein anderes Leben in einem jenseitigen Paradies aus. Sie propagiert ein alle kulturellen, nationalen und staatlichen Grenzen übersteigendes Ethos altruistischer Mitmenschlichkeit. Das Christentum bekämpft die Leidenschaften und predigt Gleichmut (une profonde indifference).38 In unseren passions lieben wir Irdisches, Partikuläres, Vergängliches auf eine unbedingte und exklusive Weise: bestimmte Dinge, Personen, Einstellungen39, Orte, Rituale, Traditionen. Der Staat besorgt und sichert unsere irdischen Güter: das Leben, den Wohlstand, den Frieden, die Sicherheit, die Freiheit seiner Bürger.40 Sein Bestand und sein Gedeihen hängt von ihrer Leidenschaft, von ihrer „brennenden Liebe zum Vaterland“ ab.41 Der Stolz irdischer Freiheitsliebe, der eine Republik trägt, gilt dem Christentum als sündhafte Selbstüberhebung. Der christliche Geist der Duldsamkeit, der Milde, der Entsagung, des Gehorsams, der allgemeinen Brüderlichkeit, der Gleichgültigkeit gegenüber dem guten oder bösen Ausgang aller Bestrebungen, das fügsame Einverständnis mit der göttlichen Weltverwaltung um einer reinen Seele und des Lohns himmlischer Seligkeit willen ist für Rousseau politisch betrachtet eine Einstellung von Sklaven, die der Tyrannis unter Menschen Vorschub leistet.42 Rousseau schreibt unter Bedingungen der Zensur; in seiner politischen Charakterisierung des

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CS III, 464. CS III, 465. CS III, 462. CS III, 466. Montagne OC III, 704 f. Montagne OC III, 706. CS III, 466. Vgl. CS III, 467.

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Geists des wahren Christentums folgt er den Spuren Machiavellis,43 ohne ihn zu zitieren. Bezüglich des Verhältnisses von Staat und Religion scheint die religion du citoyen sich als die beste zu erweisen. In ihr bilden Religion und politisches Gesetz eine untrennbare Einheit; sie macht das Vaterland zum Gegenstand religiöser Verehrung. Sie hat nur den einen großen Nachteil, daß sie „unwahr“ ist.44 Die antike Polisreligion, der Polytheismus der vorchristlichen politischen Welt ist für Rousseau auf Irrtum und Lüge gegründet.45 Die exklusiven Schutzgottheiten des „Heidentums“ gibt es nicht.46 Eine religiöse Einstellung des Volkes, die auf Irrtum und Lüge basiert, so Rousseaus dezidierter Aufklärungsstandpunkt, kann auf Dauer nicht die Stütze der politischen Gemeinschaft spielen. Es gibt keinen größeren Feind der Religion als den Verteidiger des Aberglaubens.47 Öffentliches Wohl und Wahrheit gehen langfristig nicht getrennte Wege. Eine politisch positive Funktion von Religion bindet diese an die Wirklichkeit. Ein abergläubisches Volk ist politisch verführbar. Es neigt unter unfreien und unglücklichen Lebensumständen zu Fanatismus und Intoleranz gegenüber seinen Nachbarn und versetzt sich damit in einen gefährlichen Kriegszustand mit ihnen. Über der infizierenden Begegnung mit der Aufklärung verflacht sein Kult zum leeren Zeremoniell, macht die Menschen oberflächlich und verlogen und verliert alle kohäsive und identitätsstiftende Kraft. Damit ist klar, daß unter Bedingungen der Aufklärung eine vernünftige und wirksame religion civile nicht auf dem Weg der Wiederbelebung eines exklusiven nationalen Schutzgottes zu gewinnen ist. (4) Wie sieht also nun für Rousseau jene Religion aus, „ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und treuer Untertan zu sein“?48 Hinsichtlich dessen, was Religion ausmacht, will er nach gängiger Gliederung drei Bereiche bzw. Teile unterschieden wissen: (a) die äußere, im Öffentlichen spielende Form des Gottesdienstes (la forme du culte), (b) die Glaubenslehre (le dogme) und (c) die Sitte und Moral (la morale).

Vgl. etwa Discorsi sopra la prima deca de Tito Livio lib. II, cap.2. CS III, 465. 45 Rousseau folgt hier den gedanklichen Vorgaben von Platon und seiner Mythenkritik in der Politeia. Sein radikaldemokratisches Konzept einer volonté générale und der von ihr autorisierten Regierung hat allerdings keinen Platz für einen (wahrhaft wissenden) Philosophenherrscher, der, wie bei Platon, das Volk auch, wenn es denn erforderlich und heilsam ist, belügen darf. Platons Philosophenherrscher ist bei Rousseau im CS noch in der Figur des weisen „Gesetzgebers (législateur)“ präsent, der eine entscheidende Rolle bei der Gründung einer politischen Gemeinschaft spielt, im einmal gegründeten freien Bürgerbund indessen keine Funktion mehr besitzt. 46 CS III, 460. 47 Montagne OC III, 695 f. 48 CS OC III, 468. 43 44

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Bezüglich der Glaubenslehre ist zu unterscheiden zwischen jenem Teil, „der die Grundsätze unserer Pflichten enthält“ und jenem Teil, der ausschließlich theoretisch-spekulativen Charakter besitzt.49 Ob eine Religionsmeinung in theoretischer Hinsicht wahr, falsch oder zweifelhaft ist, dies zu beurteilen ist Sache allein der Vernunft, nicht des Staates und nicht der Zunft der Theologen. Dem staatlichen Gesetz und seiner Verwaltung dagegen unterliegt die Beurteilung dessen, was an einer Religion im Blick auf das Zusammenleben der Bürger nützlich oder schädlich ist. Dem Staat kommt damit die Jurisdiktion über alles zu, was den öffentlichen Kult und die Moral betrifft. Und zwar haben ihn die Lehren und Verhaltensformen einer Religion nur zu interessieren in ihrer Beziehung zum zeitlichen Wohl der politischen Gemeinschaft. Eine reine Bürgerreligion versieht die politisch-sozialen Pflichten mit übermenschlicher Autorität und enthält nur solches, was „mit dem natürlichen Licht der Vernunft übereinstimmt“.50 Da die Kraft der Vernunft, soweit sie sich auf alle normalsinnigen Menschen annähernd gleich verteilt, nur Weniges und quasi Handgreifliches einleuchtend macht, hat sich eine vernünftige religion civile auf die öffentliche Anerkennung weniger, politisch unverzichtbarer positiver Dogmen zu beschränken: „die Existenz der mächtigen, intelligenten, wohltätigen, voraussehenden und fürsorglichen Gottheit, das kommende Leben, das Glück der Gerechten, die Bestrafung der Schlechten, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze“.51 Und da es keine Polisreligion mehr gibt und geben kann,52 da ferner die Gewissen der einzelnen nach der christlichen Glaubensspaltung und den europäischen Konfessionskriegen (in der Regel bereits) an verschiedene Religionen bzw. Konfessionen gebunden sind, und da schließlich die Sicherung des bürgerlichen Friedens essentiell zu den „Früchten“ eines politischen Gemeinwesens gehört, versteht sich für Rousseau auch das (einzige) negative Dogma einer aufgeklärten religion civile von selbst: der Ausschluß aller intoleranten Religionen als nicht „bürgerfähig“.53 Der Staat verpflichtet die Religiosität seiner Glieder auf die Erfüllung der menschlichen und bürgerlichen Pflichten; im übrigen, so Rousseau, mögen sie glauben, was sie wollen; es ist ihre Privatangelegenheit.54 Doch diese Privatisierung des Glaubens hat es in sich. Sie ist bei Rousseau politisch-rechtlich so gedacht, daß sie von den Bürgern und Gläubigen die Relativierung ihrer eigenen spezifischen Glaubensüberzeugungen (jedenfalls im Blick auf ihre Heilsnotwendigkeit) verlangt. Die politische Toleranz in Religionsangelegenheiten zielt auf die Ruhe und den Frieden der Bürger.55 Eine Religion, die ihre be-

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Montagne III, 694. Montagne III, 701. CS III, 468. Vgl. CS III, 469. In diesem Punkt teilt er, jedenfalls im Prinzipiellen, die Auffassung von John Locke. Montagne III, 701.

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sonderen Dogmen und Riten mit absolutem Geltungsanspruch vertritt und ihre Annahme und ihren Vollzug für heilsnotwendig hält,56 ist unter Bedingungen des religiösen Pluralismus eine permanente Gefahr für den inneren Frieden und damit schlecht.57 Religiöse Toleranz und bürgerliche Toleranz sind nicht zu trennen. „Es ist unmöglich, mit Leuten in Frieden zu leben, die man für verdammt hält; sie lieben hieße Gott hassen, der sie straft; es ist unbedingt nötig, sie zu bekehren oder sie zu belästigen“ bzw. zu verfolgen.58 Ein „dogmatisches oder theologisches Christentum“, aber auch die übrigen dogmatischen, auf ihre Specifica als allein seligmachend pochenden Offenbarungsreligionen, sind für Rousseau religiös intolerant und als solche in seinem aufgeklärten Bürgerbund inakzeptabel. (5) Es bleiben zwei Fragen: Inwieweit ist das „wahre“ Christentum und inwieweit ist der Atheismus im Rahmen von Rousseaus Konzept einer religion civile akzeptabel? Der „Geist“ des Evangeliums ist universalistisch und jenseitsorientiert, der „Geist“ einer vernünftigen politischen Gesetzgebung ist partikulär, exklusiv und diesseitszentriert. Politisches Gemeinschaftsleben und Wirklichkeit des Rechts gedeihen unter Menschen (wie persönliche Freundschaft) durch Ein- und Ausgrenzung, durch partikularisierende Bildung überschaubarer Bürgerbünde, die den Rahmen bilden für eine jedem einzelnen wahrnehmbare Verbindung von Selbst- und Gemeininteresse, von Freiheit und Herrschaft, für das Gedeihen einer sensibilité réciproque, für die Möglichkeit einer Identifikation mit einer kollektiven Einheit und ihrer Geschichte. Die Jenseitsorientierung und die universale Brüderlichkeit des wahren Christentums wirken politisch erodierend und destruktiv; republikanischer Patriotismus und christliche Humanität lassen sich nicht in die Form einer einheitlichen, tatkräftigen Bürgertugend bringen.59 Vom corps politique aus gesehen, so Rousseau, muß das Christentum „entweder entarten oder ein ihm fremder und verwirrender Teil bleiben“.60 Rousseau sieht das Programm der religion civile in einer Verbindung der Vorteile von Nationalreligion und Menschheitsreligion,61ohne deren Nachteile zu übernehmen. „Entartung“ ist hier von Rousseau im politischen Sinne positiv gemeint. Notwendige Entartung (dégéneration) des Christentums besagt demnach Montagne III, 701. Montagne III, 716. 57 Vgl. CS MS III, 341. 58 CS III, 469; im Genfer Manuskript III, 341 steht hier anstelle von tourmenter das Wort persécuter. 59 Montagne III, 706 Fn. 60 Montagne III, 705. 61 CS MS III, 342. 55 56

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ein Zurückfahren der pointiert eschatologischen Lebenseinstellung und des spezifisch christlichen universalen Humanismus. Dem entspricht der Sinn des Dogmas von der Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze.62 Es dementiert explizit die christliche Relativierung des Werts eines (wenn auch noch so guten) irdischen Staates. Rousseaus religion civile setzt für den Bürger eine partikulare, irdische, geschichtliche Entität, das „Leben“ und das „gute Leben“ der eigenen republikanischen politischen Gemeinschaft, in ihrem Wert und Verpflichtungscharakter absolut und macht nur den Mitbürger zum „Nächsten“. Doch diese „Heiligung“ des eigenen Bürgerbundes und seiner Gesetze hat nichts von einem überheblichen und aggressiv-expansiven Nationalismus an sich. Denn der „wahre Gott“ der religion civile steht auch für ein universal verbindliches „heiliges Naturrecht“. Dieses gebietet, alle Menschen als Menschen und Rechtssubjekte zu respektieren, es verbietet, den Fremden hart, grausam, selbstsüchtig zu behandeln und ihn zum bloßen Objekt zu degradieren.63 „Es ist nicht erlaubt, das Band einer (bestimmten) politischen Gesellschaft auf Kosten des Restes des Menschengeschlechtes zusammenzuschnüren“.64 Der Bürger verdankt seine physische und moralische Existenz, seine Freiheit und sein Glück einem partikularen freien Bürgerbund, dessen Mitglied er geworden ist. Für ihn ist das Wohl seiner konkreten politischen Gemeinschaft die wichtigste, eine heilige Sache.65 Doch wie kann der Gott „des wahren Theismus“, der eine Gott für alle Menschen, der Hüter des Naturrechts, die politische Funktion der Heiligung partikulärer Staaten und der Sanktionerung der absoluten Liebe und notfalls des selbstlosen Einsatzes des Lebens für sie übernehmen? Rousseau muß den Gedanken für begründet halten, daß ein universaler Gott, der alle Menschen zu seinen „Kindern“ hat, nicht nur die Konkretion von Recht und Freiheit in partikularen irdischen Staaten will, sondern um der irdischen Verwirklichung von Sittlichkeit willen vom Bürger erwartet, daß er seinen Staat wie einen geschichtlich konkreten (sterblichen) Gott verehrt und den Dienst an ihm wie einen Gottesdienst versteht. Denn, so Rousseau, wir werden erst Menschen und können erst Menschen werden, nachdem wir zu Bürgern geworden sind. Die Beachtung der Normen des Naturrechts ist erst sinnvoll und zumutbar auf der Basis einer sittlich und rechtlich-politisch starken politischen Gemeinschaft, aus der der Bürger seine Identität bezieht, und in der er die Sicherheit und Gewähr besitzt, als naturrechtlich Handelnder nicht der Dumme zu sein und auf seine Weise der Ausweitung von natürlichem Unrecht und Gewalttätigkeit den Weg zu ebnen. Ein abstrakt-universaler politischer Humanismus indessen, der jeden Menschen gleich und gleich gut CS III, 468. Zu Rousseaus Verständnis von Naturrecht und natürlichem Gesetz (loi naturelle) vgl. v. a. die Einleitung zum 2. Discours OC III, 122 – 127; sowie M. Forschner, Rousseau, (Karl Alber) Freiburg 1977, 68 – 88. 64 CS MS III, 337. 65 Vgl. Considérations sur le Gouvernement de Pologne, OC III 962. 62 63

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behandelt wissen will, löst in Wahrheit sittliche Bindungen, Loyalitäten und Opferbereitschaft auf. „Solch ein Philosoph liebt die Tataren, damit es ihm erlassen bleibe, seine Nachbarn zu lieben“.66 Für Rousseau sind sowohl der Atheismus als auch das „wahre“ Christentum politisch abträgliche Glaubenshaltungen. Der Atheismus, weil er dem für die politische Gemeinschaft notwendigen Altruismus, das Christentum, weil es der politisch notwendigen Begrenzung des Altruismus die rationale Basis und emotionale Kraft entzieht. Sie lassen sich als persönliche Einstellungen nicht verbieten; zudem gefährden sie als solche nicht unmittelbar den bürgerlichen Frieden. Im Rahmen eines Staates, der nach Rousseaus Prinzipien des politischen Rechts gebildet ist, hat weder ein Atheist noch ein „wahrer“ Christ etwas zu befürchten, solange er seine bürgerlichen Pflichten erfüllt und der Propagierung einer Meinung sich enthält, die andere von der Erfüllung ihrer Pflichten abbringen könnte.67 Aber ein „weiser“ Gesetzgeber68 wird als Gründer einer politischen Gemeinschaft versuchen, Einrichtungen zu schaffen, die die Ausbreitung dieser Einstellungen ver- bzw. behindern und die Kraft ihrer Wirkung mindern.

Summary The article contains an interpretation of the last chapter of Rousseaus Contrat Social. Rousseau was the first philosopher of the Elightenment who acutely critisized the philosophical premises of the modern liberal constitutional state. In his eyes an enlighted and free civic society needs a civic religion strengthening the moral bond of the citizens and their altruistic patriotism necessary for the conservation and flourishing of their political community. His concept of a civic religion gives an answer to the question, how such a religion is possible without destroying the autonomy of the citizens and the private religious pluralism of the society and without binding the citicens to superstition or even fanatism. The article tries to expose the consistency of Rousseaus concept of a civic religion and to show that, with a view to our modern civic societies his thoughts do not earn thoughtless affirmation or rejection but serious discussion.

OC IV, 248 f. Vgl. Lettre à Voltaire vom 18. 8. 1756, OC IV, 1072; Nouvelle Héloïse OC II, 589. 68 Zur Rolle des Gesetzgebers vgl. B. Gagnebin, Die Rolle des Gesetzgebers, in: JeanJacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Hrsg. von R. Brandt und K. Herb, Klassiker Auslegen (Akademie Verlag), Berlin 2000, 135 – 150. 66 67

Rousseaus Grundlegung der Rechte des Kindes Frithjof Grell

„… dies ist auch noch eine der Widersinnigkeiten der gewöhnlichen Erziehung, dass man gleich anfangs mit den Kindern von ihren Pflichten, niemals jedoch von ihren Rechten redet und ihnen also das Gegenteil von dem sagt, was man sagen muss.“ Rousseau, Emile, 2. Buch

I. Zum Problem der Normativität von Kinderrechten Wer die erziehungswissenschaftliche Kinderrechtsdiskussion unserer Tage verfolgt, dem bleibt nicht lange verborgen, dass sie sich trotz der damit aufgeworfenen Frage der Normativität sehr viel stärker an der historischen Entstehung, Rezeption und Durchsetzung von Kinderrechten interessiert zeigt, als an der Frage, was denn genau deren Verbindlichkeit begründet und woraus sie ihren Geltungsanspruch beziehen. Das historische unbestreitbare Faktum, dass Kinderrechte eine Geschichte haben und dass sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nach mehreren Jahrzehnten einer vielfältigen, aber zersplitterten und wenig aufeinander bezogenen Debatte am 20. 11. 1989 in einer UN-Vollversammlung auf die UN-Kinderechtskonvention verständigt haben, scheint die Normativität der darin festgelegten Normen hinreichend zu begründen. Infolge des Zweifels an der Möglichkeit, ‚überhistorische‘ oder ‚allgemeingültige‘ Normen formulieren zu können, stellen internationale Vereinbarungen den scheinbar letzten verbliebenen Bezugspunkt dar, um Eingriffe in das Leben von Kindern begründen und zugleich begrenzen, ihre Rechte sichern, sowie legitime von illegitimen Formen ihrer Behandlung unterscheiden zu können. Da es sich bei der UN-Konvention um eine freiwillige Vereinbarung handelt, kann an ihrer rechtlichen Verbindlichkeit an sich kein Zweifel bestehen. Ganz anders verhält es sich dagegen mit der Frage nach dem – um mit Rousseau zu sprechen – ‚Ursprung und den Grundlagen‘ ihrer normativen Geltung. So wurde die UN-Konvention bis heute keineswegs von allen Staaten der Erde, und auch von der Bundesrepublik Deutschland erst nach einigem Zögern, im Jahr 1992 von der damaligen Bundesregierung ratifiziert. Trotz ihres universellen Anspruchs ist kein Staat der Erde verpflichtet, die UN-Konvention anzuerkennen, der ihr nicht ausdrücklich zugestimmt hat. Ein Normativitätsproblem stellt sich auch in anderer Hinsicht: So sind Kinder zwar der Vertragsgegenstand der UN-Konvention: Da die Kinder jedoch an ihrem Zustandekommen selbst nicht beteiligt waren, ist ihre Legi-

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timität prima facie aber zumindest fraglich. Zudem können in der Geschichte der Kinderrechte ja bekanntlich mindestens zwei ganz unterschiedliche ‚Haupttendenzen‘ unterschieden werden: „Auf der einen Seite diejenige, die den Schutz und später die Gewährleistung menschenwürdiger Lebensbedingungen für Kinder betont, und auf der anderen Seite diejenige, die die Gleichberechtigung und eine aktive Mitwirkung der Kinder anstrebt.“ (Liebel 2007, S. 15) Es wird zwar eingeräumt, dass beide Tendenzen „nicht in absolutem Gegensatz“ (ebd.) zueinander stehen und in einer höheren Einheit aufgehoben werden könnten. Aber während die UN-Konvention für die Einen schon selbst ein Resultat des „schwierigen Versuches“ darstellt, „beide Auffassungen zu vereinen“ (ebd. S.7), ist die ‚Perspektivenverschränkung‘ von ‚Schutz‘ und ‚Gleichberechtigung‘ in den Kinderrechten nach Ansicht der Anderen erst noch zu leisten (vgl. Kerber-Ganse 2009). Suralls Versuch einer ethischen Grundlegung der Rechte des Kindes (Surall 2009) dürfte wiederum aufgrund ihrer biblisch-christlichen Fundierung kaum geeignet sein, die offensichtlichen Normativitäts- und Legitimationsprobleme von Kinderrechten dem Streit um ‚Traditionen‘, ‚Perspektiven‘ und ‚Sichtweisen‘ zu entziehen. Die etwa in der Frühpädagogik neuerdings fast unisono vertretene Überzeugung, dass Kinderrechte als Kernelemente von Bildungsplänen fungieren und als normative Kriterien herangezogen werden können, um, wie Fthenakis es ausdrückt, „Effektivität und Qualität der Lernprozesse zu evaluieren“ (Fthenakis 2003, S. 27), mutet angesichts der offenen Fragen etwas unbedarft, um nicht zu sagen naiv an und dürfte zudem keineswegs bei allen Kinderrechtlern auf ungeteilten Beifall stoßen, um von den ‚evaluierten‘ Kindern ganz zu schweigen. II. Der Mensch als animal: Selbsterhaltung und Bildsamkeit Um die Rechte des Kindes, und die Grundlagen des Rechts überhaupt, ‚mit Präzision‘ und ex principiis zu bestimmen, wählt Rousseau nicht den Weg des Vertrags, der theologischen Begründung oder des klassischen Naturrechts, sondern er sucht den Zugang in einer im 18. Jahrhundert gerade erst im Entstehen begriffenen neuen Wissenschaft (vgl. Moravia 1989), nämlich in der Anthropologie. Die Wurzeln der Rechte des Kindes liegen demnach in seiner spezifisch leiblichen Verfassung als ein zwar außerordentlich lernfähiges, aber aufgrund seiner spezifischen Lernfähigkeit zugleich auch hilfloses und abhängiges Lebewesen (animal). Dieser Grundlegungsversuch ist nicht zuletzt auch deshalb so bemerkenswert, weil Rousseaus theoretische und praktische Ausgangslage mit der unseren durchaus vergleichbar ist: Die Erfahrung einer verwirrenden Vielfalt widersprüchlicher und einander ausschließender ‚Diskurse‘ über den Menschen und seine Rechte ist ja nun wirklich kein so ganz neues historisches Phänomen, wie manche Vertreter eines doch recht ‚diffusen Postmodernismus‘ (Welsch 1987, S. 41 ff.) anzunehmen scheinen. Auch und besonders Rousseaus Zweite Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen des Ungleichheit(!) muss vor dem Hintergrund der Pluralisierungsund Heterogenitätserfahrungen ihrer Zeit und des rapiden Zerfalls einheitlicher

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Weltdeutungen gesehen und verstanden werden. Rousseau geht es in dieser Situation zum einen darum, die Pluralität der menschlichen Existenzweise und Heterogenität der Weltdeutungen radikal ernst zu nehmen: Pluralität und Heterogenität ernst nehmen bedeutet, sie als ‚real gegebene Tatsache’ anzuerkennen, aber auch, ihren ‚Ursprung‘ und ihre ‚Grundlagen‘ zu verstehen, d. h. sie nicht lediglich „im allgemeinen nachzuweisen, als (vielmehr) ihre wahren Ursachen mit Präzision zu bestimmen“ (*Ungleichheit, S. 47). Die Verschiedenheit der Menschen und Kulturen ist für Rousseau nämlich alles andere als eine schlichte Gegebenheit, sondern ganz im Gegenteil ein in hohem Maße erklärungsbedürftiger Tatbestand. In Anbetracht dieser Lage kann es sich die Menschheit nach Ansicht Rousseaus zum anderen aber weniger als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt ihrer Geschichte leisten, die Frage nach den Möglichkeiten allgemeiner – keinesfalls ‚einheitlicher‘ oder gar ‚vereinheitlichender‘! – rechtlicher und moralischer Prinzipien mit Verweis auf die Vielfalt der Erscheinungen und Meinungen schulterzuckend ad actas zu legen. Denn gerade im Interesse der Ermöglichung kultureller und individueller Vielfalt ist die Frage nach den Grundlagen des Rechts und der Moral in aller Schärfe ins Auge zu fassen: Allerdings muss die Frage ‚unter den heutigen Verhältnissen‘ ganz anders gestellt und noch einmal vollkommen neu aufgerollt werden. Rousseau argumentiert im Kern naturwissenschaftlich. Sein Anliegen dagegen ist kritisch und praktisch-moralisch: Für Rousseau reicht es nicht aus, die Vielfalt der Meinungen, Sichtweisen und ‚Diskurse‘ über den Menschen lediglich zu beschreiben und sie ihrer bloß angemaßten normativen Ansprüche dekonstruierend zu entkleiden. Alles das ist sehr wichtig, aber eben nicht genug. So kann es ganz gewiss auch kein „einheitliches (!) Bild vom Kind und Kindheit“ (Fthenakis 2003, S. 26) mehr geben. „From our postmodern perspective, there is no such thing as ‚the child‘ or childhood, an essential being and state waiting to be discovered, defined and realized, so that we can say to ourselves and others‚ that is how children are, that is what childhood is.“ (Dahlberg, Moss, Pence 1999, S. 43)

Aber ganz abgesehen davon, dass es ein ‚einheitliches Bild vom Kind und Kindheit‘ weder als Wirklichkeit noch als Möglichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte jemals gegeben hat, ist doch zu fragen, ob es angesichts dieser Einsicht wirklich keinen anderen Weg gibt als diesen: „Vielmehr werden unterschiedliche Bilder akzeptiert, die jeweils von den kulturellen und lokalen Gegebenheiten abhängig sind“ (Fthenakis 2003, S. 26) oder diesen: „Instead, there are many children and many childhoods, each constructed by our understandings and what childhood should be. Instead of waiting scientific knowledge to tell us who the child is, we have choices to make about who we think the child is.“ (Dahlberg, Moss, Pence 1999, S. 43)

Diese, ihrem Selbstverständnis nach ‚postmoderne Perspektive‘, würde dann allerdings das Eingeständnis implizieren, dass wir nicht nur die kulturelle und lokale Abhängigkeit der Kindheitsbilder zu akzeptieren hätten. Wir müssten uns dann

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wohl oder übel auch damit abfinden, dass auch die Kinder von den zufälligen kulturellen und lokalen Bedingungen und ‚understandings‘ abhängig bleiben, denen sie ausgeliefert sind – das zumindest dann, wenn man nicht gewillt ist, die „individuelle und biographische Umsetzung“ der anscheinend als fraglos an- und hinzunehmenden gesellschaftlichen „Vorgaben“ schon für einen Akt der Selbstbestimmung zu halten (so offenbar Schäfer 2005, S. 40 f.). Dabei kann es nicht darum gehen, jede Form von Herrschaft abzuschaffen. So wie die Dinge nun einmal liegen, ist sie unvermeidlich und notwendig. Man muss „die Menschen so nehmen, wie sie sind, und die Gesetze so, wie sie sein können“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 270). Wohl muss es uns darum gehen, Kriegszustände zwischen den Regierenden und Regierten ebenso wie den zwischen den Generationen zu beenden. Wollen wir lernen „über unseren Zustand richtig zu urteilen“ (*Ungleichheit, S. 49), dann sind sichere Maßstäbe unverzichtbar, die in Stand setzen, überhaupt legitime Formen Herrschaft und ihre rechtmäßige Ausübung von illegitimen, nur auf Macht, physischer Überlegenheit und Konvention beruhenden Zwangsverhältnissen unterscheiden zu können. „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten. Mancher hält sich für den Herren der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Zustand zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 270)

Das „grausame“ methodologische Grundproblem der Aufgabe, die Grundlagen des Rechts „mit Präzision“ zu bestimmen, liegt Rousseau zufolge darin, „dass wir uns in gewissem Sinne durch das viele Studieren des Menschen außerstande gesetzt haben, ihn zu erkennen“ (*Ungleichheit, S. 45). Nicht zuletzt infolge der Vervielfältigung wissenschaftlichen Wissen und der damit unvermeidlich einhergehenden Pluralisierung anthropologischer und moralischer Perspektiven, muss die Möglichkeit, verbindliche Aussagen über ‚den Menschen‘ oder ‚die Kindheit‘ zu treffen, immer unwahrscheinlicher und als ein a priori vergebliches Unterfangen erscheinen. Jede diesbezügliche Feststellung muss von vorneherein damit rechnen, bloß für ein weiteres ‚Konstrukt‘ unter ‚Konstrukten‘ gehalten zu werden. Um einen philosophischen Standpunkt, d. h. einen Standpunkt außerhalb des bloßen Meinens, einzunehmen, schlägt Rousseau eine überraschende und radikale Übung vor, die nach ihrer methodologischen Seite an die epoché (Urteilsenthaltung) der Phänomenologie oder, in ihrer weit weniger anspruchsvollen Variante, an Lehrer Bömmels ‚Da stelle mer uns mal janz dumm‘ erinnert, nämlich, zunächst einmal alles zu vergessen, was wir über den oder die Menschen wissen oder zu wissen meinen. Da es zum Geschäft von Philosophen und Wissenschaftlern gehört, wahre Aussagen zu treffen, entwickeln sie fast unwillkürlich eine starke Tendenz, ihre Erkenntnisse zu verallgemeinern. Das führt leicht zu jenen „allgemeinen und abstrakten Vorstellungen“ von denen der Vikar im Glaubensbekenntnis spricht. Eben diese ‚allgemeinen und abstrakten Vorstellungen‘, mit denen ja auch die Philosophie und

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Pädagogik unserer Tage so reich gesegnet ist, „sind die Quelle der größten Irrtümer der Menschen. Niemals hat das Kauderwelsch (le jargon) der Metaphysik eine einzige Wahrheit entdecken lassen, und es hat die Philosophie mit Ungereimtheiten erfüllt, deren man sich schämt, sobald man sie ihrer großen Worte entblößt“ (*Emile, S. 347). Als Strategie der Selbstimmunisierung erteilt der Vikar seinem Zuhörer Emile den guten Rat: „Misstraue jeder Philosophie, die durch allgemeine Sätze blendet, aber dir niemals gestattet, sie durch fassbare Beispiele zu individualisieren.“1 In der Zweiten Abhandlung hat Rousseau den Ratschlag der von ihm erfundenen Figur denn auch sehr genau befolgt.2 Einmal darin, indem er die metaphysischen und naturrechtlichen Konstruktionen des Menschen ‚dekonstruiert‘, d. h.als das ‚entblößt‘ was sie allesamt sind: unzulässige Verallgemeinerungen dessen, was ihre Erfinder zuvor in ihn hineinprojektiert haben (vgl. bes. *Ungleichheit, S. 69 f.). Zum anderen ist die Frage nach dem Menschen aber auch so konkret wie irgend möglich zu stellen. Das bedeutet, den Menschen als das zu sehen versuchen, das und was er der Vielfalt seiner kulturellen Erscheinungsweisen zum Trotz doch unbezweifelbar ist, was er allem historischen Wandel zum Trotz immer war, immer bleibt und immer bleiben wird: und das ist ein Lebewese (un animal), das als ein empfindenes Wesen (etre sensible) zunächst einmal ganz unmittelbar an seiner eigenen Erhaltung und seinem Wohlbefinden „interessiert“ ist (*Ungleichheit, S. 57). An dieser ‚Tatsache, an der es keinen Zweifel geben kann‘, an der aber immer alle aufgrund ihrer baren Selbstverständlichkeit vorbeigesehen haben, sollte, kann und darf niemand vorbeigehen, der sich mit dem Menschen in welcher Form auch immer, sei es theoretisch oder sei es praktisch, beschäftigt. Denn hier und nur hier, sind der ‚Ursprung und die Grundlage‘ des Rechts, der Moral, der Politik und der Pädagogik zu suchen – und zu finden. Auf diese scheinbar so schlichte und selbstverständliche Tatsache ist jede Aussage über Recht und Unrecht, über Moral und Unmoral zu beziehen. Rein physisch betrachtet ist der Mensch zunächst einmal nichts anderes als andere Lebewesen3 auch, eine „kunstvolle Maschine“ (*Ungleichheit, S. 99), die so organisiert ist, dass sie sich selbst am Leben erhalten und Nachkommen erzeugen kann. So gesehen ist der Mensch tierähnlich. Tierähnlich, aber ganz und gar anders,

1 Ungenützte Stelle aus dem Manuskript des Glaubensbekenntnisses. Zit nach Rang 1959, S. 98. 2 Die prägnanteste Beschreibung seines antispekulativen anthropologischen Programms hat Rousseau seinem Widersacher Christophe des Beaumont gegeben: „Die Theorie des Menschen ist durchaus keine eitle Spekulation, sobald man sich von der Natur leiten lässt und an der Hand der Erfahrung durch wohlverbundene Schlussfolgerungen fortgeht und die Quelle der Leidenschaften entdeckt und ihrem Lauf zuordnet.“ (*Schriften, 1, S. 514) 3 Rousseau unterscheidet terminologisch zwischen animal und bete, wobei „animal das Tier bezeichnet, das den Menschen mit einschließt, während bete für das ‚nichtmenschliche Tier‘ steht“. (*Ungleichheit, S. 101). Meiers Übersetzung von animal als ‚Tier‘ und nicht etwa mit ‚Lebewesen‘ (beseeltes Sein) verdeckt freilich, dass der Mensch zu keinem Zeitpunkt bloß Tier ist: er ist eben das Tier, das Mensch ist.

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nämlich nicht tierartig (vgl. Buck 1984, S. 134 f.), ist dagegen seine ‚beinahe unbegrenzte‘ Lernfähigkeit. „Selbst die Tiere lernen sehr viel. Sie haben Sinne, sie müssen sie gebrauchen lernen; sie haben Bedürfnisse, sie müssen sie befriedigen lernen; sie müssen fressen, gehen, und fliegen lernen.“ (*Emile, S. 46) Ganz und gar anders als die bei allen Tieren beobachtbaren Formen des Lernens ist die Qualität der spezifisch menschlichen Lernfähigkeit. Diese spezifische Qualität zeigt sich augenfällig an den unterschiedlichen Folgen, die vor allem Veränderungen der Lebensumwelt bei Mensch und Tier bewirken. „So würde eine Taube neben einer mit dem besten Fleisch gefüllten Schüssel Hungers sterben und eine Katze auf Haufen von Früchten oder Korn, obwohl sich beide von der Kost, die sie verschmähen, sehr gut ernähren könnten, wenn sie sich einfallen ließen, davon zu versuchen.“ (*Ungleichheit, S. 99)

Während Tiere Veränderungen der Umweltbedingungen nur innerhalb der Toleranzen überleben, die ihre Instinktausstattung zulässt, besitzt der menschliche Organismus die ‚eigentümliche‘ Fähigkeit, auf die Herausforderungen seiner Umwelt mit der Bildung neuer Fähigkeiten zu reagieren, die ihm auch unter variablen Bedingungen das Überleben und Weiterleben erlauben. Während das Tier ist, was es ist und „immer bei seinem Instinkt bleibt“ (ebd.), artfremde Eigenschaften weder erwerben noch die angeborenen verlieren kann, ist der Mensch und sind die Menschen in der Lage, sich unter dem Druck der Umstände zu verändern: Lernprozesse gibt es bei allen Tieren. Dergestalt tiefgreifende, gleichsam den ganzen Organismus umgestaltende Bildungsprozesse kennen wir nur vom und von Menschen. Evolutionsbiologisch gesehen handelt es sich bei der spezifischen Verfassung (constitution) des und der Menschen um eine neue Form von Umweltabhängigkeit. Auf der einen Seite kann sich der Mensch aufgrund seiner Bildsamkeit unterschiedlichen Umwelten anpassen und sich auch unter kontingenten Bedingungen erhalten. Auf der anderen Seite ist der menschliche Organismus konstitutiv darauf angewiesen, dass er, stark vereinfacht gesprochen, die richtigen Umweltinformationen erhält. Das gilt insbesondere für die Phase der Kindheit, die Lebensphase der größten Lernfähigkeit, in der die Empfänglichkeit für äußere Eindrücke besonders stark ausgeprägt ist. Denn vor allem in der frühen Lebensphase werden die wesentlichen Anpassungsprozesse vollzogen. Ihre besondere und augenfällige ‚Schmiegsamkeit‘ (L. Strauss) sichert der Art und den Gattungsmitgliedern den entscheidenden evolutionären Vorteil, weshalb man, zumindest unter überlebensstrategischen Gesichtspunkten, durchaus sagen kann, dass der Mensch unter den Lebewesen „alles in allem genommen am vorteilhaftesten organisiert ist“ (*Ungleichheit, S. 79). In ‚natürlichen‘ Lebensumwelten und unter halbwegs stabilen äußeren Bedingungen geschieht diese lebens- und überlebensnotwendige Anpassung gleichsam automatisch. Unter instabilen äußeren Bedingungen (conditions), die von starken Veränderungen und Wandlungen betroffen und durch ein hohes Maß an Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Komplexität gekennzeichnet sind, müssen die Bildungsprozesse der nachwachsenden Generation dagegen bewusst geregelt und planvoll gestaltet werden.

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Über alle diese ‚Eigentümlichkeiten‘ des Menschen kann es für Rousseau „keinen Zweifel geben“ (*Ungleichheit, S. 103): Dafür sprechen nicht nur naturwissenschaftliche, ethologische und ethnologische Befunde, die Rousseau vor allem in den Anmerkungen der Zweiten Abhandlung reichlich ins Feld führt. Der schlagendste ‚Beweis‘4 dafür sind aber noch nicht einmal die große Anzahl erdrückender Befunde, sondern vor allem die „real gegebene Tatsache“ der kulturellen Evolution des Menschen als solche: Denn nur unter der Annahme (hypothese) dieser ‚sehr spezifischen‘ Perfektibilität (perfectibilité) des und der Menschen, wird die Existenz der geschichtlichen, kulturellen und sozialen Welt ebenso wie deren Vielgestaltigkeit und Variantenreichtum allererst verständlich. „… faculté qui, à l’aide des circonstances, développe successivement tout les autres, es réside parmi nous tant l’espéce , que dans l’individu, au sera tout sa vie, et son espéce, au bout de mille ans, ce quèlle étoit la premiere année de ces mille ans“5 (*Inegalité, S. 142).

Wie Günter Figal (1989) gegenüber anderslautenden Interpretationen zurecht betont hat, ist Rousseaus berühmter ‚Naturzustand‘ alles andere als eine abstrakte Wesensbestimmung des Menschen. In der unendlichen Geschichte der Anstrengungen von Menschen, den Menschen auf den Begriff zu bringen, handelt es sich bei Rousseaus ‚Theorie des Menschen‘ um einen radikalen Neuansatz, stellt sie doch gerade keine traditionelle Wesensbestimmung des Menschen als vielmehr eine Begründung dar, weshalb es Wesensbestimmungen des Menschen in der bisher gepflegten Form nicht mehr geben kann und alle derartigen Versuche notwendig scheitern mussten und müssen. Das gesamte traditionelle europäische und antikmittelalterliche Denken war immer von der „Voraussetzung eines festen und angebbaren menschlichen Wesensbestandes“ (Buck 1984, S. 136) ausgegangen. Genau das aber ist bei Rousseau nicht mehr der Fall, und ihm zufolge auch nicht möglich: Das Einzige, und das einzig Konkrete, was über den ‚Menschen im Allgemeinen‘ gesagt werden kann, ist dies, „dass er im Stande ist, sich unter kontingenten Bedin4 Rousseau legt Wert auf die Feststellung, dass es sich bei seiner ‚Theorie des Menschen‘ um das Ergebnis einer Beweisführung handelt, die auf empirischer Evidenzen und Schlussfolgerungen beruht, „jenen vergleichbar, welche unsere Naturwissenschaftler alle Tage über die Entstehung der Welt machen“ (*Ungleichheit, S. 71). Wie Rousseau besonders im Brief an Christophe de Beaumont unterstreicht, erhebt er nicht den Anspruch, dass man seinen Beweisen unbesehen Glauben schenkt. Allerdings erhebt er den Anspruch, dass man sich mit seinen Beobachtungen und Argumenten ernsthaft auseinandersetzt. Dieser Anspruch besteht auch heute unvermindert fort und ist insbesondere denen gegenüber zu erheben, die Rousseaus Theorie des Menschen (und alle geistigen Leistungen) unbesehen zu einem ‚bloßen Konstrukt‘ erklären, ohne sich die Mühe zu machen, sich wirklich mit diesen ‚Konstrukten‘ zu befassen. So lässt die vermeintliche ‚Dekonstruktion‘ von Rousseaus Kindheitsbild in Beyond Quality (Dahlberg, Moss, Pence 1999, S. 45 f.) an der Gewissenhaftigkeit der Rousseau-Lektüre durchaus zweifeln. Diese Rousseau-Interpretation ist in der Tat ein bloßes Konstrukt, um nicht zu sagen ein reines Phantasieprodukt. 5 „… eine Fähigkeit, die mit Hilfe der Umstände, sukzessive alle anderen entwickelt und bei uns sowohl der Art als auch dem Individuum innewohnt – während ein Tier nach einigen Monaten ist, was es sein ganzes Leben sein wird, und seine Art nach tausend Jahren, was sie im ersten dieser tausend Jahre war“ (*Ungleichheit, S.103).

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gungen zu erhalten. Was man geneigt ist, für Wesensbestimmungen des Menschen zu halten, bildet sich vielmehr erst unter bestimmten Lebensbedingungen aus“ (Figal 1989, S. 28). Perfektibilität und Bildsamkeit helfen dem Menschen und den Menschen, sich als Lebewesen zu erhalten. Der ‚Naturzustand‘ ist mit dem Eintritt in die Gesellschaft deshalb auch nicht etwa restlos verschwunden, sondern besteht in den Individuen als Drang zur Selbsterhaltung fort. Wie Rousseau vor allem in seinen Politischen Schriften immer wieder betont, sind einzelne Menschen sehr wohl in der Lage, sich für ihr politisches Gemeinwesen zu opfern und ihr Urbedürfnis nach Selbsterhaltung zu negieren6. Für den vom antiken Sparta begeisterten citoyen de Geneve, sind die „guten bürgerlichen Satzungen diejenigen, die am besten wissen, dem Menschen seine Natur auszuziehen (qui savant le mieux dénaturer l’homme), ihm sein absolutes Dasein zu nehmen, um ihm ein relatives zu geben, und das Ich an die gemeinschaftliche Einheit zu versetzen, so dass jede einzelne Person sich nicht mehr für eins, sondern nur noch für einen Teil der Einheit hält und im Ganzen empfindsam ist“ (*Emile, S. 13, Hervorh. F. G.). Der Staatsbürger kann und darf sein Leben für das Ganze hingeben. Und Rousseau würde nur auch denjenigen als einen wirklichen Staatsbürger (citoyen) bezeichnen, der dazu bereit ist, solches zu tun. Freilich würde er auch nur dasjenige politische Gemeinwesen als wirklichen ‚Staat‘ bezeichnen, für das dieses Opfer lohnte: Ohne ‚Staat‘, keine ‚Bürger‘. Aber kein Staatswesen der Welt kann auch nur den geringsten seiner Bürger zu einem solchen Opfer verpflichten. So ist das ‚natürliche‘, d. h. an dieser Stelle das jeder Überlegung vorausgehende Interesse der Individuen an ihrer Selbsterhaltung das Motiv seiner Entstehung (*Gesellschaftsvertrag, S. 279) und bleibt zugleich der fortdauernde und übergeordnete Zweck des Staats. „Der Gesellschaftsvertrag hat die Erhaltung der Vertragsschließenden zum Zweck.“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 296) Die Pflicht des Staates zum Schutz aller seiner Mitglieder, ebenso wie das unveräußerliche Recht auf Selbsterhaltung und auf alles, was der eigenen Erhaltung dient, bleibt uneingeschränkt und in vollem Umfang erhalten. (*Ökonomie, S. 249 f.) Das Bedürfnis nach Selbsterhaltung ist ein Kennzeichen aller Lebewesen und von Leben überhaupt. Im Begriff des Lebens liegt ein ursprüngliches „Interesse“ am Leben. Lebewesen sind aber nicht nur an ihrem Leben interessiert. Sie dürfen sich auch daran interessiert zeigen, d. h. sie dürfen alles unternehmen, was ihnen zu diesem Zweck, freilich auch nur zu diesem Zweck, ihr Leben zu erhalten, dienlich erscheint. Am Leben interessiert zu sein und das auch zu zeigen, ist das gute Recht aller empfindenden Wesen. Wenn Buck mit Blick auf Rousseaus Anthropologie zu Recht von einem latenten „Natur-Sein-Bleiben“ (Buck 1984, S. 198) spricht, so ist das zunächst einmal im Sinne einer Klassifikation zu verstehen: Was Menschen auch immer sein und wer6 Auch die Titelheldin der Neuen Heloise stürzt sich ohne Rücksicht auf das eigene Leben ins Wasser, um eines ihrer Kinder zu retten, das hineingefallen war – und stirbt einen Opfertod.

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den mögen, bis zu ihrem Tod sind und bleiben sie Lebewesen. Rousseaus ‚NaturSein-Bleiben‘ hat damit aber zugleich auch eine rechtliche und moralische Implikation: was immer Menschen sein und werden mögen, bis zu ihrem Tod sind sie Träger unveräußerlicher Rechte, die ihnen wie allen Lebewesen bereits als solche zukommen. In der Tat spricht Rousseau an keiner mir bekannten Stelle von ‚Menschrechten‘7 im Sinne eines exklusiv dem Menschen vorbehaltenden Rechtstitels. Das Recht auf Erhaltung impliziert die Verpflichtung, das Recht aller lebenden Wesen auf Selbsterhaltung zu achten, und, wenn die Erfüllung im konkreten Fall nicht möglich sein sollte, ihr Recht, wenigstens „nicht unnütz misshandelt zu werden“ (*Ungleichheit, S. 59). Der ‚Naturzustand‘ wäre mithin zugleich Rousseaus Chiffre für den ersten und den letzten normativen Bezugspunkt, an dem die Moralität der Moral und die Rechtmäßigkeit des Rechts gemessen werden kann und muss.8 Das mag manchem vielleicht allzu trivial erscheinen. Aber nicht nur angesichts der Kinderrechtsdebatte, ist es vielleicht nicht ganz überflüssig daran zu erinnern, dass die ‚Würde‘ des Menschen zumindest für Rousseau (und Kant) kein ‚natürliches‘ oder definitorisches Faktum, sondern einen moralischen Zustand darstellt, der als solcher davon abhängt, ob sich menschliche Lebewesen der Möglichkeiten, die ihnen als Menschen offen stehen, durch ihre Lebensführung als ‚würdig‘ erweisen – weshalb Menschen auch das, wie alles andere und wie alles, was damit zusammenhängt, erst lernen müssen. „Vom ersten Pulsschlag des Lebens, muss man lernen, des Lebens würdig zu sein.“ (*Ökonomie, S. 246 f.)

III. Über die Ursprünge und Grundlagen elterlicher Pflichten Im Vergleich zur Theorie staatlicher Herrschaft haben Rousseaus Überlegungen zur Begründung und Begrenzung der Herrschaft des Vaters resp. der Eltern sehr viel weniger Aufmerksamkeit gefunden (vgl. Kuster 2005, S. 11 ff.). So geht man in der Regel von Rousseaus grundlegender Unterscheidung zwischen staatlicher

7 Leube übersetzt Rousseaus droits de l’humanité im Vierten Kapitel des Gesellschaftsvertrags ‚Von der Sklaverei‘ wohl irrtümlich mit ‚Menschenrechten‘. (*Gesellschaftsvertrag, S. 274; *Contrat Social, S. 356) 8 Einige Autoren haben sich das Diktum von Leo Strauss zu eigen gemacht, dass der ‚Naturzustand‘ gegenüber Rousseaus ausdrücklicher Intention, a priori keinerlei normative Implikationen enthalten könne: „Wenn der Naturzustand noch nicht menschlich ist, dann ist es absurd, auf ihn zurückzugehen, um in ihm die Norm für den Menschen zu finden.“ (Strauss 1989, S. 286) Diese Fehlinterpretation rührt m. E. daher, dass Strauss es unterlässt, was Rousseau in Bezug auf ‚abstrakte‘ Begriffe ohne Unterlass gefordert hat, nämlich sie zu konkretisieren. So enthält der ‚Naturzustand‘ in der Tat keine reine ‚Norm für den Menschen‘. Mit dem Imperativ, das Recht auf Selbsterhaltung zu achten, formuliert Rousseau freilich eine universale Norm für den Umgang des Menschen mit Lebewesen überhaupt. Kant hat hier klarer gesehen, wenn er Rousseau nicht etwa als ‚Newton der Anthropologie‘, sondern als ‚Newton der Moral‘ bezeichnet.

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und väterlicher Herrschaft aus, und davon, dass staatliche, grundsätzlich auf Vereinbarungen beruhende Gewalt nicht aus der väterlichen Gewalt abgeleiteten werden kann, die „als von der Natur gestiftet angesehen wird“ (*Ökonomie, S. 227). Wie aber schon diese überaus vorsichtige Formulierung aus der Politischen Ökonomie andeutet, sollte die Unterscheidung nicht zu dem Irrtum verleiten, Rousseau habe die Befehlsgewalt des Vaters9 als eine schlichte Gegebenheit betrachtet. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall. Wie Rousseau in der Auseinandersetzung mit John Locke zeigt, stellt die Begründung der väterlichen Rechte und Pflichten sogar ein ganz besonderes Problem dar, da sie weder auf seine ‚natürliche‘ Überlegenheit zurückgeführt noch in einem Vertrag verankert werden kann. Wie Rousseau im berühmten 3. Kapitel des Gesellschaftsvertrages ‚Vom Recht des Stärkeren‘ zeigt, können aus physischer Überlegenheit grundsätzlich kein Rechte und umgekehrt aus physischer Unterlegenheit keine Verpflichtungen abgeleitet werden. Hier wie dort, beim Staat wie bei der Familie, sieht man sich unversehens vor einem ähnlichen Problem, nämlich wie jeweils Stärke in Recht transformiert werden und aus einem bis dato rein machtförmigen Verhältnis eine legitime Form rechtmäßiger Herrschaft werden kann. Wenn Rousseau mit dem berühmten Eröffnungssatz des Gesellschaftsvertrags ‚Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten‘ die Lage des naturwüchsig vergesellschafteten Menschen beschreibt, so ist damit auch exakt die natürliche Lage jedes Kindes bezeichnet, in die es mit seiner Geburt hineingerät. Es mag sein, dass zwischen den erwachsenen Gesellschaftsmitgliedern ein Grundvertrag besteht, auf den sie sich beziehen können, um ihre Verhältnisse zu regeln. Für die Neuankömmlinge der Gesellschaft besitz dieser Vertrag jedoch keinerlei verpflichtenden Charakter. Sie haben ihm weder zugestimmt, noch können die Erwachsenen sicher davon ausgehen, dass ihre Kinder dem Vertrag ebenso zustimmen würden, wie sie selbst das bereits getan haben. Aufgrund ihrer materiellen Abhängigkeit können Kinder das Staatsgebiet auch nicht verlassen, so wie das jedem Erwachsenen freisteht, der dem Vertrag nicht zustimmen möchte. Im Lichte des Vertragsgedankens versetzt die ‚angemaßte‘ elterliche Herrschaft Kinder in den scheinbar vollkommen rechtsfreien Raum des Naturzustands. „… sobald ein Mensch, unabhängig von den Gesetzen sich anmaßt, einen anderem seinen privaten Willen zu unterwerfen, tritt er sogleich aus dem bürgerlichen Stande heraus und versetzt sich ihm gegenüber in den bloßen Naturzustand, wo der Gehorsam nur durch die Notwendigkeit vorgeschrieben wird“ (*Ökonomie, S. 235).

Prima facie stellt das Verhältnis von Eltern und Kindern zunächst einmal ein reines Gewaltverhältnis dar, dessen Bestand bloß auf der physischen Überlegenheit 9 Wie seit Aristoteles und in der Naturrechtslehre üblich, spricht Rousseau überall dort, wo er nicht ausdrückliche Pflichten der Mutter behandelt (etwa *Emile, S. 21 f.), von den Rechten das Vaters und nicht etwa der Eltern. Der Sache nach sind aber immer die Rechte und Pflichten derjenigen gemeint, die das Kind gezeugt haben. Ich verwende deshalb den Ausdruck ‚Eltern‘, wo Rousseau, wie meistens, explizit nur vom Vater spricht.

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der Eltern und andererseits auf dem Interesse des Kindes an seinem eigenen Wohlergehen und seinem instinktiven Bedürfnis nach Selbsterhaltung zu beruhen scheint. Die Lage von Kindern ist durchaus mit derjenigen vergleichbar, in dem sich Untertanen im Naturzustand der Gesellschaft befinden, d. h. in einem Stadium, bevor freiwillige Vereinbarungen greifen. Aufgrund ihrer physischen Abhängigkeit sind sie objektiv gezwungen, dem Willen ihrer Eltern zu gehorchen: Ein Grund für eine irgendwie geartete Verpflichtung ist aus dieser Perspektive zunächst einmal nicht zu erkennen: „Im Naturzustand bin ich denen, denen ich nichts versprochen habe, nichts schuldig.“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 298) „Stärke ist ein physisches Vermögen, ich sehe durchaus nicht, welche moralischen Folgerungen aus ihren Wirkungen entspringen können. Der Stärke nachgeben ist ein Akt der Notwendigkeit, nicht des Willens; es ist höchstens ein Handlung der Klugheit. In welcher Hinsicht könnte es eine Pflicht sein?“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 273)

Im Blick auf die Grundlegung der Rechte des Bürgers einerseits und der Rechte des Kindes andererseits ist die Aufgabe der Transformation machtförmiger in rechtmäßige Zustände vergleichbar: Weil Vereinbarungen aber nur zwischen Gleichen statthaft sind, scheidet auch die Möglichkeit einer vertraglichen Regelung von vorneherein aus. Ebenso wie das Staatsvolk, müsste das Kind potentiell und faktisch die Freiheit haben, „die Herrschaft anzunehmen oder zurückzuweisen“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 275). Aufgrund seiner Unfähigkeit, sich ohne fremde Hilfe selbst erhalten zu können, hat es diese Freiheit jedoch nicht. Zulässige Verträge beruhen zudem auf einer Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten. Selbst unter der Voraussetzung, dass der Vertrag dem Kind weitgehende Rechte einräumt, müsste er doch wenigstens irgendwelche Pflichten des Kindes enthalten. Um das Kind per Vertrag zu irgendetwas verpflichten zu können, müsste das Kind aber zuvor wissen, was es wirklich bedeutet, eine Verpflichtung einzugehen. Wie Rousseau im Emile zeigt, verfügen Kinder über keine derartigen moralischen Begriffe und müssen diese deshalb erst lernen. Damit müssten aber jedem zulässigen Vertrag Lernprozesse vorausgehen, zu denen das Kind wiederum nicht durch einen Vertrag verpflichtet werden kann: regressus ad infinitum. Wie Rousseau in der XII. Anmerkung der Zweiten Abhandlung ausführlich auseinandersetzt, scheidet nicht nur die Vertragslösung als Legitimationsgrundlage aus. Auch die Lösung, die Locke in den Paragraphen 79 und 80 der Zweiten Abhandlung über die Regierung vorgeschlagen hat, führt in die Irre. Dieser hatte die elterliche Autorität aus der Dankbarkeit abgeleitet, die Kinder ihren Eltern für deren Fürsorge schulden. Lockes Argumentation scheint auf den ersten Blick so „bestechend“, dass Rousseau sie auf zwei Seiten wortwörtlich wiedergibt. Aber auch sie „fällt in sich zusammen“ (*Ungleichheit, S. 363), wenn man sie einer kritischen Prüfung unterzieht. So können auch aus dem angenommenen Motiv der Arterhaltung unmittelbar keinerlei Rechte der Eltern noch irgendwelche Pflichten des Kindes abgeleitet werden. Locke hätte sich deshalb weniger mit den Rechten der Eltern und den Pflichten der Kinder, sondern umgekehrt mit den Rechten der Kinder und mit der Frage beschäftigen sollen, ob und warum Eltern überhaupt verpflichtet sind, für ihre Kinder

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Sorge zu tragen. Locke hatte Vernachlässigungen Neugeborener seitens der Eltern mit einem Versagen ihres Brutpflegeinstinkts zu erklären versucht. Wie Rousseau einwendet, deutet beim Menschen nichts, aber auch gar nichts auf einen derartigen Instinkt hin. So liege doch schon im Begriff des Instinkts, dass das unterworfene Individuum gar nicht anders kann, als seine Anweisungen auszuführen. Angesichts der Einschränkungen, die ein Kind für die menschlichen Elterntiere bedeutet, ist die eigentliche Frage doch eher die, warum sich hier überhaupt irgendjemand um irgendeinen kümmern sollte, wenn denn die Familie nichts anderes als sozusagen ‚reiner‘ Naturzustand wäre. „… warum sollte er ihr helfen ein Kind zu erziehen, wenn er nicht weiß, dass es zu ihm gehört und dessen Geburt er weder vorgesehen noch beschlossen hat. Herr Locke setzt offensichtlich das voraus, was in Frage steht: Denn es geht nicht darum zu wissen, warum er nach der Niederkunft bei der Frau bleibt, sondern warum er nach der Empfängnis bei der Frau bleibt. Ist die Lust gestillt, so bedarf der Mann der Frau nicht mehr, sowenig, wie die Frau diesen einen Mann“ (*Ungleichheit, S. 154).

Aber selbst im Naturzustand ist die Familie eben kein reiner Naturzustand. Denn auch hier sind bereits gegenseitige Rechte und Pflichten gegeben und auch tatsächlich wirksam, d. h. allen Eltern schon immer irgendwie bewusst. In den Eltern äußert sich dieses wie dunkel und diffus auch immer vorhandene Bewusstsein in einem nur schwer zu unterdrückenden ursprünglichen Verantwortungsgefühl, das sie bei Anblick ihres Kindes empfinden. Mit dem Verantwortungsgefühl, das der Anblick des Neugeborenen bei seinen Eltern auslöst, gibt es auch bei Menschen ein quasinatürliches Band, das die Familie anfänglich zusammenhält und vor allem die Mutter davon abhält, das Neugeborene gleich nach der Geburt sich selbst zu überlassen. Dieses spezifische Gefühl wurzelt jedoch nicht in einem Instinkt. Sie gehen vielmehr auf eine in allen Lebewesen spontan wirksame Regung des natürlichen Mitleids (pitié naturelle) zurück, den „Widerwillen, seinesgleichen leiden zu sehen“ (*Ungleichheit, S. 83). Wie ja auch das deutsche Wort schön zum Ausdruck bringt, beruht das Mitleid auf einer vorund unbewussten „Identifikation“ (*Ungleichheit, S. 85) mit dem Leiden des anderen Lebewesens, dem dunkel gefühlten Wissen darum, „dass es zwischen ihm und mir etwas Gemeinsames gibt“ (*Ungleichheit, S. 147). Zu dem spontanen Impuls, der auch einen „Wilden davon abhält, einem schwachen Kinde (…) die Nahrung zu entziehen“ (*Ungleichheit, S. 86), kommt im Falle der Eltern aber noch etwas ganz Entscheidendes hinzu. Das Mitleid, das sie für ihr eigenes Kind empfinden, ist nicht dasselbe wie das für irgendein anderes Kind, denn sie wissen zugleich auch, dass niemand anderes als sie selbst dieses Kind da in seine prekäre Lebenslagegebracht haben. Wie für Kant, der diesen Gedanken in den Paragraphen 28 und 29 der Metaphysik der Sitten konsequent zu Ende gedacht und zur Grundlage des Elternrechts ausgebaut hat (vgl. Brumlik 2004, S. 47 ff.), haben Kinder auch für Rousseau ihr Leben den Eltern zunächst einmal weniger zu verdanken. Vielmehr sind Eltern als diejenigen Personen zu betrachten, die ihre Lage ver-

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schuldet haben. Das Zeugen und Gebären eines Menschen kommt demnach „einem von ihm nicht gewollten Verpflanzen in eine zunächst feindliche Umwelt“ gleich (ebd. S. 11), für das die Eltern die volle und ganze Verantwortung tragen. Wenn diese Perspektivenumkehr so wenig der ‚natürlichen‘ Einstellung entspricht, dann liegt das daran, das Erwachsene spontan naturgemäß eher geneigt sind, die Perspektive der erwachsenen Eltern, und damit potentiell die eigene Perspektive, ein- und zu übernehmen. Eltern mögen ihr Kind als Geschenk empfinden: Ihr neugeborenes Kind selbst empfindet das zunächst einmal ganz anders. „Ein Kind schreit, wenn es geboren wird. Seine früheste Kindheit vergeht mit Weinen.“ (*Emile, S. 16)

Kinder sind ihren Eltern zunächst einmal ‚nichts, aber auch gar nichts‘ (Brumlik) schuldig. Vielmehr stehen ihre Erzeuger in der Pflicht, ihrem Kind in seiner Lage und aus seiner bedrängenden Lage herauszuhelfen, in das sie es, sei es gewollt oder ungewollt, hineingebracht haben. Sämtliche Rechte des Kindes ergeben sich aus der Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu ‚erhalten‘. Alle Rechte der Eltern sind deshalb konstitutiv als an die Ausübung ihrer Erhaltungspflicht gebunden, zu betrachten, d. h. daran, dass sie ihren Verpflichtungen auch tatsächlich nachkommen. Grundlegenden und bei Rousseau m.W. erstmals formulierten Gedanken, dass alle Rechte der Eltern an ihre Pflichten gebunden sind10, hat neben Kant dann vor allem auch Wilhelm von Humboldt in den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen in unmissverständlicher Form zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es im XIV. Kapitel Sicherheit für Unmündige: „Ihre (der Eltern, F. G.) Pflicht ist es, die Kinder welche sie erzeugt haben, bis zur vollkommenen Reife zu erziehen, und aus dieser Pflicht allein entspringen alle Rechte derselben als notwendige Bedingung der Ausübung von jener. Die Kinder behalten daher alle Rechte auf Leben, ihre Gesundheit, ihr Vermögen, und selbst ihre Freiheit darf nicht weiter beschränkt werden, als die Eltern dies teils zu ihrer eignen Bildung, teils zur Erhaltung des nun neu entstehenden Familienverhältnisses für notwendig erachten und sich diese Einschränkung nur auf die Zeit bezieht, welche zu ihrer Ausbildung erforderlich wird.“ (Humboldt 1967, S. 178 f.)

Insofern, d. h. unter der Bedingung, dass die Eltern ihren Verpflichtungen nachkommen, können sie von ihren Kindern auch ohne deren ausdrückliche Zustimmung Gehorsam verlangen. Insofern, d. h. unter der Bedingung, dass ihre Handlun10 Die ‚begriffliche Dekomposition“ (Schwab 1972, S. 294) der Familie von einem Rechtsgebilde zu einer wurzelhaft verbundenen ‚natürlichen Gemeinschaft‘ haben in Deutschland Romantik und Historische Schule vollzogen. Die ausdrückliche Aufnahme der Familie in die Grundrechtskataloge blieb indes dem 20. Jahrhundert vorbehalten (Weimarer Reichsverfassung, Art. 119. 120; Grundgesetz der BRD, Art. 6). Die Folgen dieser ‚begrifflichen Dekomposition‘, die einer weitgehenden, nur durch das Verwahrlosungsverbot beschränkten Ermächtigung der Eltern und umgekehrt einer fast vollständigen Entrechtung des Kindes gleichkommt, spüren Kinder in Deutschland bis heute.

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gen, die Erhaltung und das Wohlergehen ihrer Kinder im Auge haben, sind sie rechtmäßig, unabhängig davon ob ihre Kinder die Maßnahmen verstehen oder nicht. Und insofern, d. h. unter der Bedingung, dass ihre Handlungen ihrem Zweck dienen sollen, sind die Kinder ihren Eltern objektiv Gehorsam schuldig, auch wenn diese ihn subjektiv als Zwang empfinden mögen. Auf der anderen Seite sind alle Handlungen, die „offen gegen die Menschlichkeit verstoßen“ und Kinder zu „unglücklichen Opfern (…) ihrer Eltern“ werden lassen (*Ungleichheit, S. 311), unzulässig. So haben Eltern vor allem keinerlei Eigentumsrechte an ihren Kindern: „Könnte auch jedermann sich selbst veräußern, so kann er doch nicht seine Kinder veräußern; sie werden als Menschen und frei geboren, ihre Freiheit gehört ihnen, und kein anderer als sie kann darüber verfügen.“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 275)

Unzulässig sind auch Entscheidungen, die das Kind unwiderruflich der Möglichkeit berauben, die Mittel zu seiner Selbsterhaltung zu einem späteren Zeitpunkt selbst frei zu bestimmen. „Solange sie noch nicht das Alter der Vernunft erreicht haben, kann der Vater in ihrem Namen die Bedingungen für ihre Erhaltung und ihr Wohlergehen festsetzen; aber er kann sie nicht unwiderruflich und bedingungslos weggeben11; denn ein solches Weggeben ist den Absichten der Natur zuwider und überschreitet alle väterlichen Rechte.“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 275)

Schließlich enden auch alle Rechte der Eltern mit dem ‚Alter der Vernunft‘: Eltern haben nur so lange das Recht, die Bedingungen zur Erhaltung ihres Kindes festzusetzen, wie das Kind dazu selbst nicht in der Lage ist. Mit dem Erreichen des ‚Alters der Vernunft‘ löst sich das gleichsam ‚natürliche‘ ursprüngliche Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern auf und geht, wenn die Beteiligten das wollen, in einen freiwilligen Zusammenschluss über. „Sobald dieses Bedürfnis aufhört, lösen sich die natürlichen Bande. Die Kinder werden von ihrem Gehorsam entbunden, den sie dem Vater schuldeten, der Vater von der Fürsorge, die er den Kindern schuldig war. Alle kehren in der gleichen Weise in die Unabhängigkeit zurück. Wenn sie ihre Verbindung fortsetzen, so geschieht es nicht mehr aus Naturnotwendigkeiten, sondern freiwillig, und die Familie besteht nur durch Übereinkunft fort.“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 270)12

11 Man muss davon ausgehen, dass sich Rousseau der ‚Unzulässigkeit‘ seiner Handlung, seine eigenen ungewollten Kinder einer durchaus üblichen Praxis folgend, an eines der eigens für solche Zwecke eingerichteten Waisenhäuser zu übergeben, durch seine Arbeit an den Fundamenten des Rechts überhaupt erst bewusst geworden ist. Seine spätere Weigerung, nach den Kindern zu forschen, war kein Ausdruck von Gleichkültigkeit, sondern von Scham, deren Ausmaß inzwischen so groß war, dass er es selbst in den Bekenntnissen nicht wagte, zu sich selbst in diesem Punkt wirklich ehrlich zu sein. Wie jeder Einwohner von Paris, hatte natürlich auch Rousseau eine dunkle Vorstellung davon, was ein Aufenthalt dort für einen Säugling höchstwahrscheinlich bedeutete: Er hätte sich eingestehen müssen, dass er das auch damals schon gewusst hatte.

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Die Grundlagen aller Rechte des Kindes ergeben sich mithin aus seinem Recht, solange von seinen Eltern erhalten zu werden, bis es sich aus eigenen Kräften selbst erhalten kann. Damit sind sie zugleich verpflichtet, es auch so zu behandeln, dass es sich dereinst selbst erhalten kann. Die Rechte der Eltern sind somit konstitutiv an ihre angemessene und zweckmäßige Ausübung gebunden. Rechtmäßig, zweckmäßig und angemessen sind elterliche Handlungen aber nur dann, wenn sie darauf gerichtet sind, ihr Kind ‚sukzessive‘ dazu zu befähigen, sich später einmal selbst erhalten zu können. „Man muss also, bei aller Sorge für seine Erhaltung, vornehmlich an seine (des Kindes, F. G.) Zukunft denken“ und das bedeutet konkret: „On ne songe qu’à conserver son enfant; ce n’nest pas aussés: on doit lui apprendre à server étant homme.“ (*ÈMILE, S. 253)13

Mit dem ‚Alter der Vernunft‘ wird der Jugendliche zwar rechtlich zum alleinigen „Richter über die zu seiner Erhaltung tauglichen Mittel“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 271). Nicht beantwortet ist aber die Frage, ob die Eltern die Bedingung des gleichsam ‚vorvertraglichen‘ Generationenvertrags, das Kind in Stand zu setzen, „sein eigener Herr“ (*Gesellschaftsvertrag, S. 271) und unabhängig werden zu können, auch wirklich und tatsächlich erfüllt haben. Damit gehen die elterlichen Verpflichtungen für die Verantwortung für die physische Erhaltung des Kindes weit hinaus: Im Interesse der Fähigkeit ihres Kindes, sich später einmal selbst erhalten und in seinem späteren Lebensumfeld behaupten zu können, sind sie zugleich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in vollem Umfang dazu verpflichtet, dessen Lern- und Bildungsprozesse auf eine angemessene und zweckdienliche Weise zu gestalten – um es „leben zu lehren“: „Leben ist nicht atmen; leben ist handeln, d. h. von unseren Organen, Sinnen, Fähigkeiten von allen unseren Bestandteilen Gebrauch zu machen.“ (*Emile, S. 15)

IV. Rousseaus Grundlegung der Rechte des Kindes auf angemessene Erziehung und Bildung Mit dem Recht, physisch erhalten und zunehmend zu seiner eigenen Erhaltung befähigt zu werden, ist die Pflicht der Eltern gesetzt, für eine dem Zweck entsprechende Bildung ihres Kindes Sorge zu tragen. Damit ergibt sich die Pflicht, die Lern- und Bildungsprozesse des Kindes zu regulieren und in Bahnen zu lenken, die

12 Wie das Zitat zeigt, ist Rousseaus Terminologie hier wie auch andernorts alles andere als konsistent. Wie Rousseau in seiner Locke-Kritik zeigt, stellt die Familie zu keinem Zeitpunkt eine reine ‚Naturnotwendigkeit‘, sondern entsteht als moralisches Gebilde aus den Verpflichtungen, die die Erzeuger für ihr Erzeugtes haben. Insofern stellt die Familie ein ganz eigenes ‚vorvertragliches‘ Rechtsverhältnis dar, das von vertraglich begründeten Rechtsformen grundsätzlich unterschieden werden muss (vgl. Kuster 2005, bes. S. 67 ff.). 13 „Man denkt nur daran, sein Kind zu erhalten; das ist nicht genug. Man muss es auch lehren, sich zu erhalten, wenn es erwachsen ist.“ (*Emile, S. 17)

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seine zukünftige Unabhängigkeit und alles, was unter den gegebenen Verhältnissen dazu gehört und erforderlich ist, möglich machen sollen und sogar möglich machen müssen. Unter einigermaßen übersichtlichen und halbwegs überschaubaren Bedingungen, tragen die ‚Umstände‘ meist selbst das ihre dazu bei, dass Kinder auf ‚ganz natürliche Weise‘ das ‚Richtige‘, d. h. das, was sie zu ihrer künftigen Erhaltung brauchen, auch wirklich lernen. Zudem hat die ‚Natur‘ den Eltern mit der ‚Elternliebe‘, die freilich erst aus dem Umgang von Eltern und Kindern entsteht (*Ungleichheit, S. 76), eine gewisse Richtschnur in die Hand gegeben, die ihnen hilft, dass sie oftmals doch intuitiv das halbwegs Richtige tun. Aber auch und besonders „diese Liebe kann ihre Auswüchse, Fehler und Missbräuche haben“ (*Emile, S. 75). Im Emile, vor allem aber auch auf den ersten Passagen der Bekenntnisse hat Rousseau – hier im Blick auf seine eigene Kindheit – beschrieben, was derartige ‚Auswüchse, Fehler und Missbräuche‘ der Elternliebe in einem Kind anrichten können (*Bekenntnisse, S. 11 ff.). Zweifellos wurde der kleine Jean-Jacques geliebt. Trotz des Todes der Mutter, die seine Geburt nicht überlebte, hatte Rousseau nach eigenem Bekunden eine ausgesprochen glückliche Kindheit. Gleichwohl habe die „nachlässige“, inkonsistente und wenig kindgemäße Erziehung, die ihm sein Vater angedeihen lies, in seiner Person zugleich den Keim zu jener inneren Widersprüchlichkeit gelegt, die ihn Zeit seines Lebens gehindert hat, ein auch innerlich freier Mensch zu sein und werden zu können. „So waren meine ersten Neigungen beim Eintritt ins Leben; so begann sich in mir jenes zugleich stolze und zärtliche Herz zu bilden und zu offenbaren, jener weiche und doch unbändige Charakter, der, stets zwischen Schwäche und Mut, Trägheit und Tugend schwankend, mich mit bis zum Ende in Widerspruch mit mir selbst gesetzt hat und verursachte, dass Enthaltsamkeit und Genuss, Vergnügen und Mäßigung mir in gleichem Maße entgangen sind“ (*Bekenntnisse, S. 16).

Nicht zuletzt die autobiographische Arbeit mag Rousseaus Überzeugung verfestigt haben, die man als einen, wenn nicht den Grundzug seines gesamten Denkens bezeichnen kann, die Überzeugung nämlich, dass Entwicklungs- und Bildungsprozesse beim Menschen nur unter besonders günstigen Umständen zu guten, in der Regel aber fast automatisch und fast immer zu dysfunktionalen oder mindestens widersprüchlichen Ergebnissen führen.14 Seinem Selbstverständnis nach hat Rousseau den ‚Beweis‘ für diese ‚Tatsache‘ mit der Zweiten Abhandlung erbracht. So hat der ungeregelte Gang der Mensch-

14 Eben dieser ‚Pessimismus‘ war es, der seine fortschrittsgläubigen deutschen Leser (Lessing, Mendelsohn u. a.) an Rousseau am meisten irritierte. Die mit dem Liberalismus zur ökonomischen und später auch politischen Herrschaft gekommene Idee, dass sich selbst überlassene Prozesse wie von einer ‚unsichtbaren Hand‘ (Smith) gesteuert zu den optimalen Ergebnissen führen, ist Rousseau nicht nur fremd, sondern geradezu entgegengesetzt. Dasselbe gilt natürlich auch für die Vorstellung einer Pädagogik des ‚Wachsenlassens‘, die in Deutschland nicht etwa im Gefolge, sondern im Gegenzug gegen Rousseau mit der Romantik zum Durchbruch kam. (vgl. Grell 1996, S. 280 ff.)

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heitsgeschichte ‚verursacht‘, dass der Mensch ‚mit Hilfe der Umstände, sukzessive‘ gelernt hat, an sich selbst seine sprachlichen, sozialen, kulturellen, moralischen, intellektuellen, künstlerischen ‚auszubilden‘. Er hat aber eben auch die Fähigkeit gelernt, das alles mit Füßen zu treten, zu vernichten, zu zerstören und „folglich tiefer zu fallen als das Tier selbst“ (*Ungleichheit, S. 105). Die Verantwortung für diesen Prozess trägt kein blind wirkender Tanatos oder eine angeborene Bösartigkeit des Menschen. Der Schlüssel zum Problem des Übels in der Welt liegt nirgendwo anders als in seiner ‚fast unbegrenzten‘ Lernfähigkeit. In der Interaktion derart lernfähiger Wesen, wie es Menschen sind, setzen Rückkopplungseffekte Entwicklungsdynamiken frei, deren Wirkungen die überforderten Menschen schon bald nicht mehr in den Griff bekommen, weil ihre durch Lernen erworbenen Fähigkeiten, ihre Fähigkeiten, diese auch kontrollieren zu können, bei weitem übersteigen.15 So wie der Selbsterhaltungstrieb bei entsprechend enger Bepflanzung das Wachstum von Bäume anregt16, sorgt beim Menschen die Kombination von Selbsterhaltungstrieb und Bildsamkeit dafür, dass der Konkurrenzdruck schon bald in einen Krieg aller gegen alle umschlägt. „Je näher sie zusammenkommen, desto mehr verderben sie einander.“ (*Emile, S. 39) Die ‚Schuld‘ am Verlauf der Menschheitsgeschichte und missglückter individueller Bildungsverläufe kann mithin im Ursprung weder den einzelnen Menschen selbst (‚böse Natur‘, ‚Anlagen‘, ‚Charakter‘ etc.) angelastet noch ‚der Gesellschaft‘17 als solcher in die Schuhe geschoben werden. Der ‚Ursprung und die Grundlagen‘ des moralischen Versagens des Menschen und von Menschen muss

15 Rousseaus Einsicht, dass die Menschen noch nicht genug gelernt haben, um mit den Fähigkeiten, die sie im Verlaufe ihrer Entwicklung erworben haben, auch verantwortungsvoll umzugehen, eröffnete nach Kant die ‚Aussicht auf ein künftiges glückliches Menschengeschlecht‘ (Ideen zu einer Allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) und machte Rousseau für Kant nicht nur zu einem ‚Newton der Moral‘, sondern auch zu einem Kopernikus der Pädagogik: Nun erst könne man begreifen, ‚was denn eigentlich zu einer guten Erziehung gehöre‘ (vgl. Grell 1996, S. 294 ff.; Grell, 2005). In der Einschätzung der realen Möglichkeiten, ob nicht nur einzelne Menschen, sondern die Menschheit lernen könnte, ihrer Geschicke wirklich selbst in die Hand zu nehmen und nicht auf ewig Sklave vermeintlicher oder tatsächlicher ‚Sachzwänge‘ zu bleiben, war Rousseau freilich sehr viel zurückhaltender als Kant. 16 Das ist das Bild, das Kant im Fünften Satz der Ideen zu einer Allgemeinen Geschichte verwendet, um den von Rousseau entdeckten Mechanismus zu veranschaulichen: „… so wie Bäume im Walde, eben dadurch dass ein jeder dem anderen Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen, beides über sich zu suchen, und dadurch einen schönen gerade Wuchs bekommen.“ (Kant 1998, S. 40) Rousseau hat die höchst problematischen ‚Seitentriebe‘ des ‚schönen geraden Wuchses‘ freilich sehr viel schärfer herausgearbeitet, als Kant es an dieser Stelle tut. Was den Mechanismus und die Notwendigkeit seiner bewussten Steuerung betrifft, sind Rousseau und Kant einer Meinung. 17 So etwa die beinahe klassische Formulierung Ernst Cassirers, demzufolge Rousseau mit ‚der Gesellschaft‘ ein ‚neues Subjekt der Verantwortung, der Imputabilität‘ gefunden habe: „Dieses Subjekt ist nicht der einzelne Mensch, sondern die menschliche Gesellschaft.“ (Cassirer 1989, S. 38).

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vielmehr in seiner Bildsamkeit gesehen werden, die die ‚Größe‘ des Menschen zwar möglich, ihre Realisierung aber alles in allem eher unwahrscheinlich macht. Für die Lernprozesse der Menschheit kann das gleiche gelten, was Rousseau über die Lernfähigkeit von Kindern sagt: Die „Leichtigkeit, mit der Kinder lernen, ist die Ursache ihres Versagens (L’apparente facilité d’apprendre est cause de la perte des enfants)“ (*Emile, S. 108): „Es wäre traurig, für uns eingestehen zu müssen, dass diese ihn unterscheidende und beinahe unbegrenzte Fähigkeit die Quelle allen Unglücks des Menschen ist; (…), dass sie es ist, die, indem sie mit den Jahrhunderten seine Einsichten und seine Irrtümer, seine Laster und seine Tugenden zum Aufblühen bringt, ihn auf Dauer zum Tyrannen seiner selbst und der Natur macht.“ (*Ungleichheit, S. 105)

Wie Rousseau im Zweiten Teil der Zweiten Abhandlung, und vor allem dann auch im Emile, dort allerdings ex negativo, zeigt, sind widersprüchliche Ergebnisse von Lern- und Bildungsprozessen zumal unter den widersprüchlichen Verhältnissen moderner Gesellschaften nicht nur wahrscheinlich, sondern, wie es der geniale Rousseau-Leser Kant ausdrückt: ‚unvermeidlich‘. Während die Zweckmäßigkeit der individuellen Bildungsverläufe im Naturzustand durch die Macht der natürlichen Lebensumstände, in der Polis durch das homogene Erziehungsklima der politischen Ordnung und in bäuerlich-ländlichen Verhältnissen durch Tradition, Sitte und Konvention auf scheinbar ganz zwanglose und selbstverständliche Weise gewährleistet war oder gegebenenfalls auch noch ist, ist diese Form des ‚natürlichen‘ Aufwachsens, ‚Großwerdens‘ und selbstverständlichen Hineinwachsens in die jeweils vorhandene Sozialform in modernen Gesellschaften nicht mehr möglich: Ohne entsprechende ‚Filter‘ (Mollenhauer 1984), die die Gewalt der gesellschaftlichen Einflüsse und Prozesse in eine für das Kind erträgliche Form transformieren, ‚bereinigen‘ (J. Dewey) und verlangsamen, schlägt die Komplexität, Dynamik und Widersprüchlichkeit moderner Gesellschaften auf die kindlichen Lebens-, Erfahrungs-, und darum Lernwelten ungebremst durch, und erzeugen schon in den Kindern Widersprüche, die „wir unaufhörlich in uns selbst erfahren“. (*Emile, S. 15) Moderne Gesellschaften erzeugen pädagogische Probleme und Herausforderungen, die ‚traditional‘ organisierte Gesellschaften in dieser Form weder kennen noch haben. Die zentrale pädagogische Herausforderung moderner Gesellschaften liegt nach Rousseau darin, dass die Anforderungen, die sie an die Orientierungs-, Selbsterhaltungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit der vergesellschafteten Subjekte stellen, einerseits beständig zunehmen. Die erforderlichen Möglichkeiten der vergesellschafteten Subjekte, alle dafür erforderlichen Fähigkeiten ‚mit Hilfe der Umstände, sukzessive‘ auch tatsächlich ‚auszubilden‘, durch die Lebensverhältnisse selbst nicht gewährleistet und auch nur annähernd sichergestellt sind. Keine Gesellschaft kann es sich so wenig leisten wie moderne und ‚postmoderne‘ ‚Wissens‘- und ‚Informationsgesellschaften‘, die Bildungs- und Lernprozesse der nachwachsenden Generationen, entweder bloß der blind wirkenden Macht der Verhältnisse oder auch den vermeintlichen Selbstorganisationspotentialen der Kinder zu überlassen (vgl. Grell 2010). Letzteres würde nämlich nichts anderes bedeuten, als Kinder zu Spiel-

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bällen der auf sie wirkenden ‚Umstände‘ und damit eben derjenigen gesellschaftlichen ‚Verhältnisse‘ zu machen, mit denen Kinder umzugehen erst lernen müssen, um sich im gesellschaftlichen Getriebe (tourbillon sociale) als eigenverantwortliche Personen und nicht etwa als ein lediglich funktionierendes Etwas zu behaupten. „Unter den heutigen Verhältnissen wäre ein Mensch, den man von der Geburt an sich selbst überließe, völlig verbildet (defiguré). Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen (!), würde die Natur in ihm ersticken, ohne etwas an ihre Stelle zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Wege steht und verkommt, weil ihn die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und ihn nach allen Richtungen biegen.“ (*Emile, S. 9)

„Notre véritable étude est celle de la condition humaine.“ (*Emile, S. 16) Aufgrund seiner konstitutionell bedingten Bildsamkeit, müssen beim Blick auf den Menschen immer zugleich seine konkreten äußeren Lebensbedingungen im Auge behalten werden: Denn eben dadurch ist seine condition humaine bezeichnet. Mit dem unscheinbaren, aber eigentlich kaum zu übersehenden Satz ‚Unser wahres Studium ist das der menschlichen Lebensbedingungen‘ erklärt Rousseau die Frage nach den konkreten Lebensbedingungen, unter denen Kinder zu leben und lernen gezwungen sind, zur Kardinalfrage des pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Interesses. Die ganze und ungeteilte Aufmerksamkeit von Pädagogik und Erziehungswissenschaft hätte demnach vor allem den konkreten Möglichkeiten zu gelten, ob und wie Kinder unter dem jeweils gegebenen Bedingungen lernen können, unabhängig zu werden und sich unter den unübersichtlichen und in vieler Hinsicht so lebensfeindlichen Bedingungen moderner Gesellschaften als Mensch und Person selbst zu erhalten. Der Verpflichtung, zumindest die unmittelbare und nähere Erfahrungswelt ihrer Kinder in eine ordre convenable, d. h. eine ‚ausdrücklich‘ eingerichtete und pädagogisch ebenso ‚angemessene‘ wie ‚zweckdienliche Ordnung‘ (vgl. Grell 2012) zu bringen, ist für Eltern freilich kaum einzulösen. Neben der grundsätzlichen Schwierigkeit, dass ihre Verantwortung für ihre Kinder immer weiter reicht, als ihre Möglichkeiten, dieser auch in dem eigentlich erforderlichen Umfang tatsächlich nachkommen zu können,18 besteht eine andere ‚unvermeidliche‘ Schwierigkeit darin, dass moderne Eltern aufgrund ihrer eigenen Beanspruchungen, Belastungen und Möglichkeiten kaum noch in der Lage sind, ihren Kindern die zwingend erforderlichen Bildungs- und Erfahrungs- und auch Zeiträume in ausreichendem Umfang und Qualität zur Verfügung zu stellen. Unter dem Druck der ‚Umstände‘ müssen sie 18 Kaum jemand war sich dessen so sehr bewusst wie Rousseau. In der Neuen Heloise lässt Rousseau Julie sagen: „Ich muss überdies zugeben, dass ich bei all der Mühe, die ich mir geben konnte, auch noch sehr unterstützt werden musste, wenn ich auf Erfolg hoffen wollte; und dass das Gelingen meiner Bemühen von einem Zusammenwirken von Umständen abhing, das vielleicht nur hier jemals zustande gekommen ist (…) Wirklich wenn man bedenkt, wie viele fremde Ursachen den besten Absichten schaden und die am besten vorbereiteten Pläne umstürzen können, so muss man dem Glück für alles danken, was man im Leben Gutes tut, und gestehen, dass die Weisheit sehr vom Glück abhängt.“ (*Julie, S. 613 f.)

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auf gesellschaftliche Unterstützungssysteme zurückgreifen, die freilich als solche die innere Widersprüchlichkeit moderner Institutionen teilen, auf der einen Seite zwar zur Selbstbestimmung anregen zu sollen, aber auf der anderen Seite doch nur das und ihr eigenes Funktionieren zu wollen. Ein großes theoretisches Problem moderner Bildungssysteme liegt für Rousseau zudem darin, dass die Elterngeneration die zukünftigen Lebensbedingungen ihrer Kinder aufgrund der für moderne Gesellschaften charakteristischen Veränderlichkeit und Dynamik selbst nicht genau kennt.19 Aus diesem Grund, weil sie diese Bedingungen nicht kennen, ist die Erwachsenengeneration verpflichtet, die Erfahrungsund Bildungswelten ihrer Kinder so zu ordnen, dass diese ‚mit Hilfe der Umstände, sukzessive‘ ohne Ausnahme alle diejenigen und wirklich nur diejenigen Fähigkeiten ausbilden, die sie einmal gebrauchen könnten, um sich dereinst eine Lebensund Daseinsform selbst wählen zu können. „Diejenigen, welche dazu bestimmt sind, in ländlicher Einfachheit zu leben, bedürfen nicht der Entwicklung ihrer Fähigkeiten, um glücklich zu sein; und ihre vergrabenen Talente sind wie die Goldminen im Wallis, deren Ausbeutung das allgemeine Wohl nicht gestattet. Im bürgerlichen Stande aber, wo man weniger der Arme als des Kopfes bedarf und wo jeder sich und den anderen von seinem ganzen Werte Rechenschaft schuldig ist, ist viel daran gelegen, dass man den Menschen all das abgewinnen lerne, was ihnen die Natur gegeben hat, dass man sie auf diejenige Bahn lenke, auf der sie am weitesten vorankommen können, und vornehmlich, dass man ihre Neigungen mit allem nähre, was sie nützlich machen kann. Im ersten Fall berücksichtigt man nur die Gattung; jeder tut, was alle anderen tun, das Beispiel ist die einzige Regel, die Gewohnheit das einzige Talent und ein jeder übt von einem Geist nur den gemeinschaftlichen Teil. Im zweiten Falle bemüht man sich um den einzelnen Menschen. Zu dem Menschen an sich fügt man bei ihm noch all das hinzu, was er einem anderen voraushaben kann (…) Unterweisen sie das Bauernkind nicht, denn es taugt ihm nicht, unterwiesen zu werden, Unterweisen sie das Bürgerkind nicht, denn sie wissen noch nicht, welche Unterweisung ihm taugt.“ (*Julie, S. 594 f.)

Die grundsätzlichen theoretischen und die konkreten praktischen Schwierigkeiten sind also beträchtlich. Im Emile, diesem ‚so viel gelesenen und so wenig verstandenen Buch‘ (Rousseau), aber auch im V. Brief des 3. Teils der Neuen Heloise hat Rousseau die äußeren Bedingungen skizziert und an Beispielen veranschaulicht, 19 „In der gesellschaftlichen Ordnung, in der alle Plätze bezeichnet sind, muss jeder für den seinigen erzogen werden. Wenn jemand, der für einen bestimmten Platz ausgebildet ist, diesen verlässt, ist er zu nichts mehr zu gebrauchen. Die Erziehung ist hier nur insoweit nützlich, als das Schicksal mit der Berufswahl der Eltern übereinstimmt. In einem jeden anderen Falle ist die dem Zögling schädlich (…) In Ägypten, wo der Sohn verpflichtet war, seines Vaters Beruf zu ergreifen, hatte die Erziehung wenigstens ein festes Ziel; aber bei uns, wo (…) die Menschen ohne Unterlass ihren Stand verändern, weiß niemand, ob er nicht, wenn er seinen Sohn zu seinem Stande erzieht, wider ihn arbeitet. (…) hinge ein jeder an seinem Schicksal so, dass er es niemals verändern könnte, so würde die eingeführte Gewohnheit in gewisser Hinsicht gut sein. Wenn man aber die Veränderlichkeit der menschlichen Verhältnisse ansieht (…) kann man sich das eine unvernünftigere Art und Weise vorstellen, als dass man ein Kind so erzieht, als ob es niemals aus seinem Zimmer kommen sollte (…) “ (*Emile, S. 15 f.).

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wie derartige Erziehungsarrangements aussehen könnten. Ihr pädagogischer Sinn besteht, mit Julie kurz gesagt darin, „den Kindern mehr wahre Freiheit und weniger Herrschaft zuzugestehen, sie mehr aus sich selbst tun zu lassen und weniger von anderen zu fordern“ (*Julie, S. 606) und d. h. sie zunächst einmal nur durch das Arrangement der ‚Umstände‘ zu ‚leiten‘. Pädagogisch gesehen erzeugen die ‚heutigen Verhältnisse‘ paradoxe und widersprüchliche Konstellationen. Das nach Rousseau und Kant ‚größeste Problem der Erziehung‘, dass ihr ‚einer und ganzer Zweck‘ (Herbart), nämlich die Befreiung der Kinder vom blind wirksamen Zwang der Umstände, auf den sie aufgrund ihrer Bildsamkeit doch auch angewiesen sind, notwendig nur ‚sukzessive‘ und nur ‚mit Hilfe der Umstände‘ erreicht werden kann, ist nicht im Kurzschluss zu lösen, indem man Kinder erst zu selbständigen, selbstbestimmten und autonomen Menschen erklärt und dann beschließt, sie so zu behandeln, als ob sie alles das schon wären.20 Wie schwierig die pädagogischen Aufgaben unserer Zeit auch sein und allen denen erscheinen mögen, die Verantwortung für Kinder tragen: Es ist die Pflicht aller, die Kinder gezeugt und auf die Welt gebracht haben, und zugleich die Pflicht aller, die heutige Eltern in ihre bedrängende Situation gebracht haben, diese Probleme zu lösen, damit Kinder auch wirklich und tatsächlich selbständige, selbstbestimmte und autonome Menschen werden können – ‚um unabhängig zu sein‘ (Kant).

Summary Conventions on the rights of the child are becoming more and more of a reference point for pedagogical thinking and acting because it is doubted by many that binding standards for education and formation can be justified. In this context it is noticeable that educational science is generally more interested in the history, reception and implementation of the rights of the child than in answering the question, how the universal claim of these rights can be justified and where it can be derived from. Considering the two main tendencies in the history of children’s rights this question must not be neglected. While one approach (e.g. Rousseau) stresses the conservation and guarantee of humane living conditions for children, the other (e.g. E. Jebb and J. Korczak) emphasises the equality and participation of children. In a critical engagement with the protagonists of the so-called ‘post-modern Early Childhood Education’ aiming at ‘participation’ and ‘self-determination’, this paper wants to show the basis of children’s rights in the constitution of the child as a human being. According to Rousseau children do not owe a debt of gratitude to their par20 Wie das manche Protagonisten der Kinderrechtsbewegung, der jüngeren ‚sozialkonstruktivistischen‘ Kindheitssoziologie und Kindheitsforschung (zusammenfassend Andresen / Diehm 2006), der neurobiologisch ausgerichteten Entwicklungspsychologie und Säuglingsforschung (Gopnik / Kuhl / Meltzoff 2003) und die ‚postmoderne‘ Früh- und ‚Kindheitspädagogik‘ (Dahlberg / Moss / Pence 1999; Dahlberg 2004; Schäfer 2005; Schäfer 2011) anzunehmen scheinen.

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ents for being alive. In fact, it was the parents’ fault that caused the life of their child. For this particular reason children are not in their parents’ debt. To empower children to look after themselves as adults, it is the parents’ duty to ensure the child’s physical conservation and an adequate education and formation.

Literatur Verwendete Rousseau-Ausgaben Oevres complètes III: Du Contrat Social. Écrits Politiques, edition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris: Edition Gallimard, 1969 (*ÉMILE) Oevres complètes IV: Èmile, Éducation – Morale – Botanique, édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris: Édition Gallimard, 1964 (*Contrat Social; *Inégalité) Schriften, herausgegeben von Henning Ritter, 2 Bände, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988 (*Schriften) Abhandlung über die Politische Ökonomie, in: Rousseau. Sozialphilosophische und Politische Schriften. In der Erstübertragung von Eckardt Koch, Dietrich Leube u. a., München: Winkler, 1981 (*Ökonomie) Die Bekenntnisse. Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers, übersetzt von Dietrich Leube nach einer anonymen Übertragung von 1783, 1996, München, 1996 (*Bekenntnisse) Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inegalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh, 1984 (*Ungleichheit) Emile oder Von der Erziehung. Emile und Sophie oder Die Einsamen. In der deutschen Erstübertragung von 1762. Nach der Edition Duchesne vollständig überarbeitet von Siegfried Schmitz, München: Winkler, 1979 (*Emile) Julie oder Die neue Heloise. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. In der ersten Übertragung (1761) von Johann August Gellius, nach der Edition Rey (1761) vollständig überarneitet von Dietrich Leube, München: Winkler, 1978 (*Julie)

Weitere Literatur Andresen, D. / Diehm, I. (Hrsg.): Kinder, Kindheiten, Konstruktionen. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und sozialpädagogische Verortungen, Wiesbaden: VS-Verlag, 2006. Brumlik, M.: Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe, Berlin: philo, 2004. Buck, G.: Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutchen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn / München: Schöningh / Fink-Verlag, 1984.

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Cassirer, E.: Das Problem Jean-Jacques Rousseau, in: Ernst Cassirer, Jean Starobinski, Robert Darnton. Drei Vorschläge Rousseau zu lesen, Frankfurt am Main: Fischer-Philosophie, 1989. Dahlberg, G.: „Kinder und Pädagogen als Co-Konstrukteure von Wissen und Kultur. Frühpädagogik in postmoderner Perspektive“, in: W. E. Fthenakis / P. Oberheumer (Hrsg.), Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt, Wiesbaden: VS-Verlag, 2004, S. 13 – 30. Dahlberg, G. / Moss, P. / Pence, A.: Beyond Quality in Early Childood Education and Care. Postmodern Perspectives, London: Falmer Press, 1999. Figal, G.: „Die Rekonstruktion der menschlichen Natur. Zum Begriff des Naturzustandes in Rousseaus ‚Zweitem Diskurs‘“, in: Rousseau und die Folgen. Neue Hefte für Philosophie, hrsg. v. R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl, Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht, Heft 29, 1989, S. 24 – 38. Fthenakis, W. F.: „Zur Neukonzeptualisierung von Bildung in der frühen Kindheit“, in: W. E. Fthenakis (Hrsg.), Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können, Freiburg i.Br: Herder-Verlag, 4. Aufl. 2003, S. 18 – 37. Gopnik, A. / Kuhl, P. / Meltzoff, A.: Forschergeist in Windeln. Wie ihr Kind die Welt begreift, München: Piper, 2003. Grell, F.: Der Rousseau der Reformpäagogen. Studien zur pädagogischen Rousseaurezeption, Würzburg: Ergon-Verlag, 1996. – ‚Erst muss man Experimentalschulen errichten, ehe man Normalschulen errichten kann.‘ Kants Plädoyer für Versuschschulen, in: Pädagogische Rundschau 59 / 2005, S. 647 – 661. – Frühkindliche Erziehung in historischer Perspektive, in: Handbuch Frühkindliche Bildungsforschung, herausgegeben von M. Stamm und D. Edelmann. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Erscheinungsdatum Dezember 2012. – Über die (Un-)möglichkeit, Früherziehung durch Selbstbildung zu ersetzen, in: Zeitschrift für Pädagogik, 56 / 2010, Heft 2, S. 154 – 167. Humboldt, W. v.: Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Mit einem Nachwort von R. Haerdter, Stuttgart:Reclam, 1967. Kant, I.: Schiften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Band VI, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. Kerber-Ganse, W.: Die Menschenrechte des Kindes. Die UN-Kinderrechtskonvention und die Pädagogik von Janusz Korczak. Versuch einer Perspektiven-Verschränkung, Opladen: Barbara Budrich, 2009. Kuster, F.: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese des bürgerlichen Familie, Berlin: Akademie-Verlag, 2005. Liebel, M.: Wozu Kinderrechte? Grundlagen und Perspektiven, Weinheim und München: Juventa-Verlag, 2007. Mollenhauer, K.: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, München: Juventa, 1984.

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Moravia, S.: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1989. Schäfer, G. E.: Bildung beginnt mit der Geburt. Ein offener Bildungsplan für Nordrheinwestfalen, Weinheim: Beltz-Verlag, 2. Aufl. 2005. – Was ist frühkindliche Bildung. Kindlicher Anfängergeist in einer Kultur des Lernens, Weinheim und München: Juventa-Verlag, 2011. Schwab, D.: Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, hrsg.v. Otto Brunner, Wener Conze, Reinhardt Koselleck, Band 1: A – D, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 253 – 301, 1972. Strauss, L.: Naturrecht und Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2. Aufl. 1989. Surall, F.: Ethik des Kindes. Kinderrechte und ihre theologisch-ethische Rezeption, Stuttgart: Kohlhammer, 2009. Welsch, W.: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: acta humaniora, 1987.

Rousseau und die Ambivalenz des politischen Denkens der Moderne Hendrik Hansen

Was ist der Grund für die ungebrochene Faszination, die Jean-Jacques Rousseau auf die politische Philosophie der Gegenwart ausübt? Rousseau ist ein französischer Denker: Die Schönheit der Formulierung ist ihm nicht weniger wichtig als die Klarheit des Gedankens. Wer im postmodernen Sinne die Ästhetik über die Vernunft stellt, wird deshalb leicht Gefallen an ihm finden. Zudem bieten sich die Schriften von Rousseau als Projektionsfläche für ganz unterschiedliche politische Strömungen an: Wer eher einer individualistischen Position anhängt, wird eine Präferenz für den ersten Teil des Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes haben; wer im republikanischen Sinne den Ausgleich von Individualismus und Gemeinwohlorientierung durch das Gesetz anstrebt, findet im „Contrat Social“ zahlreiche Passagen, die seiner Position zusprechen; und der kollektivistisch gesonnene Leser wird eine Vorliebe für die Passagen über die Verschmelzung des Individualwillens im Gemeinwillen im Contrat Social haben. Doch Rousseaus Neigung zur Ästhetik und der Pluralismus seiner Argumente können für sich genommen die Faszination, die von seinem Denken ausgeht, nicht hinreichend erklären. Der entscheidende Grund dafür ist vielmehr – so die These dieses Beitrags – dass Rousseau ein tiefes Unbehagen am liberalen, individualistischen Politikverständnis der Moderne formuliert und auf einige tatsächlich bestehende Schwachstellen dieses Verständnisses hinweist. Auch wenn seine Kritik damit nicht ganz unberechtigt ist, bereitet die von ihm formulierte Gegenposition doch dem Kollektivismus von Robespierre, Marx und anderen den Boden. Am Beispiel Rousseaus zeigt sich damit die Ambivalenz des politischen Denkens der Moderne: die Schwäche des Individualismus und des Liberalismus auf der einen, und die Gefahr, dass die Kritik dieser Schwäche in das kollektivistische Gegenmodell umschlägt, auf der anderen Seite. Ob die Verbindung zwischen Rousseau und den nachfolgenden totalitären Kollektivisten dabei so eindeutig ist, wie Talmon sie in seiner Studie über die „Ursprünge der totalitären Demokratie“ darstellt,1 soll hier nicht entschieden werden: Rousseau ist ein durchaus widersprüchlicher Denker, bei dem sich zu vielen Themen ganz unterschiedliche Aussagen finden lassen. 1 Yaakov Leib Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln usw.: Westdeutscher Verlag, 1961.

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Im folgenden ersten Abschnitt werden die Aporien der individualistischen Theorien des Gesellschaftsvertrags behandelt und gezeigt, welches Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft sich innerhalb dieser Theorien ergibt. Der zweite Abschnitt setzt sich mit Rousseaus Kritik dieser Theorien und mit seinem Gegenmodell einer vom Gemeinwillen geleiteten Gesellschaft auseinander. Aus der Analyse der gegenseitigen Abhängigkeit der beiden gegensätzlichen Theorien ergibt sich abschließend die Frage nach der problematischen Annahme, die beiden Ansätzen gemeinsam zugrundeliegt.

I. Aporien der individualistischen Theorie des Gesellschaftsvertrags Ein zentrales Problem individualistischer politischer Theorien, das Rousseau aufgreift, besteht im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. In diesen Theorien bilden die Individuen ausgehend von der Anarchie des Naturzustandes per Vertrag eine Gesellschaft, die auf Regeln beruht, mit denen die konkurrierenden Ansprüche der Individuen zum Ausgleich gebracht werden sollen, und in der es eine politische Gewalt gibt, die die Regeln erlässt und ihre Durchsetzung sicherstellt. Bei allen Unterschieden zwischen dem Unterwerfungsvertrag von Thomes Hobbes und dem liberalen Gesellschaftsvertrag von John Locke ist die Struktur ihrer Theorien ähnlich: Im vor-gesellschaftlichen Naturzustand leben die Menschen vereinzelt und verfügen über keine politischen Institutionen, so dass eine unabhängige und verbindliche Prüfung konkurrierender Ansprüche nicht möglich ist; Konkurrenz führt deshalb zum Konflikt, und weil der Andere von vornherein als potentieller Konkurrent wahrgenommen wird, noch bevor es zu einem konkreten Konflikt kommt, herrscht im Naturzustand der Krieg aller gegen alle. Dieser Kriegszustand ist so unerträglich, dass die Individuen bereit sind, die Freiheit des Naturzustandes aufzugeben und die durch den Gesellschaftsvertrag eingesetzte Regierung und deren Gesetze anzuerkennen. Die Frage, wie die Regeln, die den Ansprüchen der Individuen im Gesellschaftszustand Grenzen setzen, zustandekommen, und aus welchem Motiv die Individuen diese Regeln befolgen, wird jedoch von Hobbes und Locke unterschiedlich beantwortet.2 Nach Hobbes zeichnet sich der Naturzustand dadurch aus, dass die Individuen durch kein Gesetz und keine Pflichten gebunden sind und ein „Recht auf alles“ haben.3 Der Gesellschaftsvertrag umfasst den Verzicht der Individuen auf ihr „Recht auf alles“ und die Übertragung dieses Rechts auf einen Souverän, verbunden mit der Befugnis, den Frieden notfalls mit Gewalt zu sichern.4 2 Zur Deutung der Vertragstheorien von Hobbes und Locke mit weiteren Nachweisen siehe: Hendrik Hansen, Politik und wirtschaftlicher Wettbewerb in der Globalisierung. Kritik der Paradigmendiskussion der Internationalen Politischen Ökonomie, Wiesbaden: VS-Verlag, 2008, S. 171 – 191 (Hobbes) und 223 – 228 (Locke). 3 Thomas Hobbes, Leviathan, Hamburg: Meiner, 1996, Kapitel XIII. 4 Ebd., Kapitel XVII.

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In der Hobbesschen Konstruktion gründet der Gesellschaftsvertrag somit nicht auf dem Recht, sondern auf der Gewalt: Die Individuen willigen in ihn ein, weil die Angst vor dem Tod als „summum malum“ sie dazu drängt.5 Wer sich der Mehrheit der Vertragschließenden nicht beugt, wird vernichtet, weil er im Verhältnis zu den Vertragschließenden weiterhin im Naturzustand bleibt.6 Da die Gewalt nach Hobbes die eigentliche Quelle des Rechts ist, gibt es aus seiner Sicht auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Einrichtung einer politischen Herrschaft durch den Vertrag („commonwealth by institution“) und ihrer Entstehung durch Eroberung und Unterwerfung („commonwealth by acquisition“):7 Im ersten Fall akzeptieren die Individuen die Herrschaft aus Furcht vor dem unerträglichen Naturzustand; im zweiten Fall beugen sie sich der Übermacht aus der Furcht, vernichtet zu werden, und in der Hoffnung, dass der neue Herrscher ein Interesse an der Durchsetzung von Ruhe und Ordnung hat. Die Gewalt findet ihre Fortsetzung nach Abschluss des Vertrags, denn der Souverän darf sich unkontrolliert aller erforderlichen Zwangsmitteln bedienen, um Recht und Gesetz durchzusetzen: Es bedarf einer „sichtbare[n] Macht“, um die Menschen „in Schrecken zu halten und sie durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge […] zu binden“.8 Den Einwand, dass der Mensch somit lediglich die Unsicherheit des Naturzustandes gegen die Unsicherheit der Willkürherrschaft eines allmächtigen Souveräns eintauscht, nimmt Hobbes vorweg; doch aus seiner Sicht kann eine Willkürherrschaft nicht so unerträglich sein wie die Anarchie des Naturzustandes.9 Dieses Gegenargument löst aber nicht die Widersprüchlichkeit seiner Konstruktion des Gesellschaftsvertrags auf: Dass nämlich die Menschen den Gesellschaftsvertrag schließen, um der Unsicherheit und ständigen Todesfurcht des Naturzustandes zu entfliehen, aber danach weiterhin in Unsicherheit und Todesfurcht leben. Dies ist denn auch der klassische Einwand liberaler Vertragstheoretiker gegen Hobbes. So weist John Locke auf das Problem hin, dass ein solcher Unterwerfungsvertrag alle außer dem Souverän bindet und deshalb noch weniger erträglich ist als der allgemeine Kriegszustand. Wer einen solchen Gesellschaftsvertrag konstruiert, hält die Menschen für „Narren“, die „sich zwar bemühen den Schaden zu verhüten, der ihnen durch Marder oder Füchse entstehen kann, aber glücklich sind, ja, es für Sicherheit halten, von Löwen verschlungen zu werden.“10 5 Thomas Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, Hamburg: Meiner, 1949, S. 81 („Vom Bürger“, Kapitel I, Abschnitt 7). Die Bedeutung der Todesfurcht für die politische Philosophie von Hobbes wird besonders hervorgehoben bei Karl-Heinz Ilting, Hobbes und die praktische Philosophie der Neuzeit, in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 72 (1964 / 65), S. 84 – 102. 6 Hobbes (Fn. 4), S. 149 (Kapitel XVIII). 7 Ebd., S. 168 (Kapitel XX). 8 Ebd., S. 141 (Kapitel XVII). 9 Ebd., S. 155 f. (Kapitel XVIII). 10 John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 258 (§ 93), Hervorhebung im Original.

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Deshalb zeichnet sich der Lockesche Gesellschaftsvertrag im Vergleich mit dem von Hobbes dadurch aus, dass das Recht der bürgerlichen Gesellschaft nicht willkürlich von einem absolut herrschenden Souverän formuliert wird, sondern sich vielmehr an den natürlichen Gesetzen orientieren muss, die bereits im Naturzustand gelten: die Freiheit und Gleichheit der Individuen, wobei die Freiheit auch das Recht auf die Aneignung der Früchte der eigenen Arbeit umfasst. Der Gesellschaftsvertrag wird notwendig, weil der ursprünglich friedliche Naturzustand wegen der fehlenden Instanz zur Durchsetzung der Gesetze in einen Kriegszustand umschlägt und die Einsetzung einer Regierung erforderlich wird. Die natürlichen Gesetze beschränken die „Reichweite der legislativen Gewalt“11: Wenn die Regierung sie nicht respektiert, haben die Bürger ein Recht auf Widerstand.12 Das Widerstandsrecht gründet in der Forderung, dass der Gesellschaftsvertrag – anders als bei Hobbes – alle Beteiligten gleichermaßen binden soll: „Niemand in einer bürgerlichen Gesellschaft kann von ihren Gesetzen ausgenommen werden.“13 Auch die Regierung untersteht somit dem Gesetz, wobei es nach Locke jedoch zum Vorrecht der Prärogative gehört, in einzelnen Fällen um des Gemeinwohls willen gegen das Gesetz zu handeln.14 Die Grundlage des Rechts der bürgerlichen Gesellschaft bilden somit die natürlichen Gesetze: Im Gesellschaftszustand soll mit Hilfe des Rechts und der politischen Institutionen eine Annäherung an den ursprünglichen Friedenszustand erreicht werden, in dem die Menschen ursprünglich einmal lebten, der aber wegen der Ambivalenz der menschlichen Natur (d. h. der Neigung der Menschen, aus Habgier die Gesetze zu übertreten) nicht aufrecht erhalten werden konnte. Der Gesellschaftsvertrag soll den Bürgern somit ein Leben in Freiheit ermöglichen, wobei sich das Freiheitsverständnis des Gesellschaftszustandes aus dem des Naturzustandes ableitet: Freiheit im Naturzustand ist – wiederum anders als bei Hobbes – nicht „eine Freiheit für jeden, zu tun, was ihm gefällt, und durch kein Gesetz gebunden zu sein“,15 sondern „vollkommene[ ] Freiheit“ besteht darin, „innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur“ das zu tun, was einem als das Beste erscheint.16 Entsprechend bedeutet „die Freiheit der Menschen unter einer Regierung […], unter einem feststehenden Gesetz zu leben, das für jeden dieser Gesellschaft Gültigkeit besitzt und von der legislativen Gewalt, die in ihr errichtet wurde, verabschiedet worden ist.“17 Die liberale Gesellschaftsordnung wird somit idealiter von Bürgern getragen, die die notwendigen Grenzen ihrer Freiheit in weiten Teilen von sich aus berücksichtigen, während die Untertanen im Hobbesschen Unterwerfungsvertrag die Gesetze nur aus Furcht vor Sanktionen befolgen. 11 12 13 14 15 16 17

So der Titel des 11. Kapitels: ebd., S. 283. Ebd., S. 327 – 332 (§§ 203 – 210). Ebd., S. 259 (§ 94). Ebd., S. 304 (§ 164). Ebd., S. 201 (§ 4). Ebd., S. 201 (§ 4). Ebd., S. 214 (§ 22).

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Das von Locke formulierte Freiheitsverständnis des Liberalismus ist eine notwendige Voraussetzung für einen freiheitlichen Staat: Freiheit ist nur möglich, wenn die Bürger bereit sind, die Gesetze zu respektieren und Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Dieser Gedanke wird später von Kant aufgegriffen, wenn er Freiheit als Selbstgesetzgebung (Autonomie) definiert und herausstellt, dass die Fähigkeit der Bürger zu einer solchen Selbstgesetzgebung sich erst im Laufe eines langen historischen Prozesses entwickelt.18 Fehlt es den Bürgern an Verantwortungsbewusstsein und Respekt vor dem Gesetz, so muss ihr Handeln ständig überwacht werden und Gesetzesübertretungen müssen mit Abschreckungsmaßnahmen verhindert werden – der liberale Staat würde in den Hobbesschen Untertanenstaat umschlagen. Damit stellt sich jedoch die Frage, welches Motiv die Bürger innerhalb einer liberalen Gesellschaftskonzeption haben, Recht und Gesetz als das, was die Gemeinschaft verbindet, zu befolgen. Das Motiv darf sich nicht in einem utilitaristischen Kalkül erschöpfen: Wenn die Bürger die Gesetze nur befolgen, weil ihnen dies einen größeren Nutzen bringt als der Verstoß gegen die Gesetze, hängt die Durchsetzung der Rechtsordnung allein von Anreiz- und Sanktionsmechanismen ab. Das jedoch erfordert erstens (ähnlich wie im Hobbesschen Staat) eine dauernde Kontrolle der Individuen, um Rechtsverstöße zu erkennen und zu sanktionieren. Zweitens stellt sich die Frage nach den Motiven derer, die die Anreiz- und Sanktionsmechanismen gestalten und durchsetzen müssen: Wenn z. B. Richter oder Parlamentarier sich ausschließlich von ihrem individuellen Nutzenkalkül leiten lassen, werden die Rechtsordnung und die Anreiz- und Sanktionsmechanismen so gestaltet, dass sie ihren persönlichen Interessen entsprechen – eine freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung könnte dabei nur durch Zufall entstehen. Eine liberale Ordnung muss somit eine Lösung für das alte Problem finden: „Quis autem custodiet ipsos custodes?“19 Sie liegt aus der Sicht der liberalen Vertragstheoretiker darin, dass die Bürger im Zuge der Aufklärung den Sinn der rechtsstaatlichen Ordnung einsehen. Nach Locke bedarf es einer Internalisierung der Rechtsordnung durch die Erziehung der Bürger zu Gentlemen: Sie sollen die Grenzen, die ihnen die Gesetze vorgeben, in ihrem Handeln stets schon mitberücksichtigen.20 Aus der Sicht von Kant soll die Aufklärung dazu führen, dass die Bürger lernen, ihr individuelles Glücksstreben mit der Pflicht, den Gesetzen zu folgen, zu vereinbaren. Doch die Begründung, aus welchem Motiv die Bürger das Recht respektieren, wenn es doch ständig als Begrenzung des individuellen Glücksstrebens wahrge18 Vgl. z. B. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Werke Bd. VI, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, S. 31 – 50. 19 „Doch wer wacht über die Wächter?“ (Juvenal, Satiren, Stuttgart: Reclam, 1986, 6. Satire, Abschnitt 143). 20 Vgl. dazu Peter Kainz, Unbegrenzte Möglichkeiten? Probleme und Aporien des Individualismus, Baden-Baden: Nomos, 2012, S. 180 – 183.

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nommen wird, fällt sowohl Locke als auch Kant schwer. Locke geht auf dieses Problem gar nicht ein; Kant versucht es dadurch zu lösen, dass die Individuen das Recht aus der Hoffnung auf eine zukünftige Glückseligkeit heraus befolgen. Die Rechtsordnung wird aus seiner Sicht respektiert, weil die Menschen darauf hoffen können, dass sie dadurch in der Zukunft eine florierende Bürgergesellschaft hervorbringen.21 Doch diese Hoffnung ist zu materiell gedacht, um tatsächlich die Bereitschaft zu Opfern zu wecken: Sie unterstellt, dass die Menschen bereit sind, den sicheren materiellen Nachteil in der Gegenwart für einen unsicheren materiellen Vorteil in der Zukunft in Kauf zu nehmen. Die Spannung zwischen der Pflicht, das Gesetz zu respektieren, und der Neigung, um eines persönlichen Vorteils willen dagegen zu verstoßen, kann in logischer Hinsicht nur in zwei Weisen gelöst werden: Entweder die Bürger versprechen sich von der Befolgung einen konkreten Nutzen (bzw. die Abwendung des Schadens, der ihnen durch die Strafe im Falle der Nichtbefolgung eines Gesetzes entsteht), oder sie handeln aus der Einsicht heraus, dass das Befolgen der Pflicht an sich gut ist. Im ersten Fall ergibt sich zusätzlich zu den oben genannten Schwierigkeiten das Problem, dass die Erfüllung der Pflicht nichts anderes ist als ein Preis, den man für die Erzielung eines bestimmten Nutzens in Kauf nehmen muss. Der Begriff der Pflicht wie der der Moral ist in diesem Fall unangemessen, weil das Handeln sich nicht mehr nach einem allgemeinen Grundsatz, sondern allein nach dem Ergebnis des individuellen Kalküls richtet. Im zweiten Fall wird die Erfüllung der Pflicht zu einer Tugend, der ein Eigenwert zukommt; sie stellt als solche bereits einen Beitrag zur Verwirklichung von (und nicht bloß zur Hoffnung auf) Glückseligkeit dar. Das jedoch wäre ein Ausweg, der mit der Dichotomie von Recht und individuellem Glücksstreben, von der liberale Theorien ausgehen, nicht vereinbar wäre, und dem eudämonistischen Rechtsverständnis zuzurechnen wäre.22 Die liberale Theorie des Gesellschaftsvertrags vermag somit die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen individueller Neigung und gesetzeskonformem Handeln nicht aufzuheben. Das Recht ist eine notwendige Schranke der individuellen Freiheit, und das Motiv, diese Schranke zu respektieren, bleibt unklar. Die individualistische Begründung der freiheitlichen Ordnung ist damit in einem entscheidenden Punkt anfällig für Kritik, und die Stärke der politischen Philosophie von Rousseau liegt darin, diese Schwäche der individualistischen Sozialtheorien und des auf ihnen aufbauenden Liberalismus herauszustellen. 21 Vgl. z. B. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Werke Bd. VI, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, S. 125 – 172 (hier: S. 168). Zum Problem des Motivs, die Gesetze zu befolgen: Hansen (Fn. 2), S. 258 f. 22 Nach Kant hat die Freiheit zwei Seiten: Einerseits, frei die Zwecke des eigenen Handelns bestimmen zu können und die Glückseligkeit auf dem Wege zu suchen, der einem gut dünkt, und andererseits die Berücksichtigung der formalen Anforderung, dass diese Freiheit mit derselben Freiheit der anderen Bürger zusammenstimmen muss (Kant, Fn. 21, S. 145).

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II. Rousseaus Kritik am individualistischen Verständnis des Gesellschaftsvertrags Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags lässt sich, wie Peter Kainz in seinem Vergleich paradigmatischer Gesellschaftsvertragstheorien überzeugend gezeigt hat,23 aus der Ablehnung der Hobbesschen und Lockeschen Vertragskonstruktion verstehen. Rousseaus Argumente gegen den Hobbesschen Unterwerfungsvertrag ähneln zunächst denjenigen von Locke. Der Unterwerfungsvertrag beruht auf dem Recht des Stärkeren, das Rousseau als in sich widersprüchlich zurückweist: Wenn man im Sinne des Satzes „Auctoritas non veritas facit legem“ annimmt, dass die Stärke das Recht schafft, dann gilt das Recht nur solange, wie die Stärke besteht. Dann aber, so Rousseau, wird der Stärke durch das Recht nichts mehr hinzugefügt: „Was ist das für ein Recht, das untergeht, wenn die Stärke endet?“24 Rousseaus Einwand bleibt auch gültig, wenn man statt der Stärke die Zustimmung als Kriterium des Rechts ansieht: Hobbes unterstellt, dass jede Zustimmung, also auch die unter Zwang, verbindlich ist;25 da somit jede Form von Zustimmung Recht schaffen kann – auch die Zustimmung in einer Situation, in der einem die Pistole auf die Brust gesetzt wird26 –, gibt es keine ungültige oder widerrechtliche Zustimmung und der Begriff des Rechts würde dem der Zustimmung nichts hinzufügen. Rousseau schließt sich also der Lockeschen Kritik des Unterwerfungsvertrags an, dass es ein Recht jenseits der Stärke und der Zustimmung geben muss, an dem sich der Gesellschaftsvertrag und die durch ihn autorisierte politische Herrschaft messen lassen müssen: Nicht jede Herrschaft und nicht jeder Vertrag sind rechtmäßig. Der Lockeschen Kritik am Unterwerfungsvertrag folgt Rousseau noch mit dem weiteren Argument, dass dessen Nutzen äußerst fragwürdig wäre: „Man wird sagen, daß der Despot seinen Untertanen die bürgerliche Ruhe sichert. Mag sein; aber was gewinnen sie dabei, wenn die Kriege, die sein Ehrgeiz ihnen zuzieht, wenn seine unersättliche Gier, wenn die Mißhandlungen unter seiner Regierung sie elender machen als gegebenenfalls ihre eigenen Zerwürfnisse? Was gewinnen sie, wenn diese Ruhe gerade eines ihrer Leiden ist? Auch in den Verliesen lebt man in Ruhe; genügt das, um sich dort wohl zu fühlen?“27

Dieses Zitat bringt der Sache nach das oben angeführte Argument von John Locke gegen den Unterwerfungsvertrag auf den Punkt. Doch die Parallelen zwischen Locke und Rousseau enden, sobald es um ihre eigenen Theorien des Gesellschaftsvertrags geht, denn Rousseau entwickelt seine Theorie auch in scharfer Abgrenzung von Locke. Letzterer beurteilt den Gesellschaftsvertrag und das positive Kainz (Fn. 20). Jean-Jacques Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Stuttgart: Reclam, 1977, S. 9 (Buch I, Kapitel 3). 25 Hobbes (Fn. 4), S. 116 f. (Kapitel XIV). 26 Rousseau (Fn. 24), S. 9 f. (Buch I, Kapitel 3); siehe dazu Kainz [Fn. 20], S. 209. 27 Ebd., S. 10 f. (Buch I, Kapitel 4). 23 24

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Recht mit dem Maßstab der Freiheit; Freiheit wiederum besteht aus seiner Sicht in der freien Verfügung über das eigene Leben und den eigenen Besitz. Die Sicherung der Eigentumsrechte ist nach Locke eine der zentralen Funktionen des Gesellschaftsvertrags. Rousseau formuliert in der „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ die radikale Gegenposition: Die Sicherung der Eigentumsrechte stellt nicht den entscheidenden Fortschritt in der Geschichte der Menschheit dar, sondern ist die Ursache aller Übel, die sich seit dem Verlassen des Naturzustandes entwickelt haben.28 In der radikalen Freiheit des Naturzustandes zeichnet sich der Mensch durch das maßvolle Streben nach Selbsterhaltung („amour de soi“) und durch die Sympathie für seine Mitmenschen aus. Erst durch die Entstehung der Eigentumsrechte entwickeln sich Habgier und Egoismus („amour propre“), weil die Menschen nun ihre unterschiedlichen Fähigkeiten einsetzen, um sich von ihren Mitmenschen abzuheben. Damit entsteht zugleich die soziale Ungleichheit, die die Ursache für Knechtschaft und Ausbeutung ist. Die Lockesche Gesellschaft mit ihrer Betonung der Eigentumsrechte ist somit aus der Sicht von Rousseau eine zutiefst unfreie Gesellschaft: Der Mensch ist frei geboren, doch in der liberalen Gesellschaft liegt er – wie in allen anderen bisherigen Gesellschaften – in Ketten. Diese Kritik der liberalen Gesellschaftsordnung beruht auf zwei Annahmen, die die Grundlage des kollektivistischen Gegenmodells zum individualistischen Gesellschaftsverständnis bilden: Erstens die Annahme, dass die sozialen Verhältnisse für die diagnostizierte Unfreiheit der Menschen verantwortlich sind; zweitens die Annahme, dass Freiheit nur durch Herrschaftsfreiheit in radikaler Gleichheit erreicht werden kann. Die erste Annahme liegt in der Logik von Rousseaus Geschichtsverständnis: Wenn der Mensch im ursprünglichen Naturzustand gut ist und durch die Entstehung der Eigentumsrechte „entartet“, dann stellt sich zwar die Frage, warum es überhaupt dazu kommt (die Entstehung der Eigentumsrechte deutet auf eine Defizienz des Menschen im Naturzustand hin, denn sonst wäre es nicht zu erklären, weshalb der Mensch Rechte schafft, die ihn korrumpieren), doch sobald die Eigentumsrechte in der Welt sind, kommt es mit einer gewissen Notwendigkeit zur Entwicklung des Egoismus. Jedenfalls liegt der Schlüssel zur Überwindung des Egoismus nicht im richtigen Umgang mit dem Eigentum,29 sondern in einer fundamentalen Veränderung der Gesellschaft, die dem Souverän eine umfassende Kontrolle der Eigentumsrechte ermöglicht.30 Dass die Verhältnisse für die Schlechtigkeit des Menschen verantwortlich sind, wird von Rousseau auch immer wieder explizit formuliert; so 28 Vgl. den zweiten Teil von Rousseaus „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“, Paris: Flammarion, S. 205 – 235. 29 Wie dies z. B. bei Aristoteles der Fall ist: Aristoteles, Politik, Hamburg: Meiner, 1981 (z. B. 12567b5 – 9). 30 Rousseau (Fn. 24), S. 23 – 26 (Buch I, Kapitel 9).

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heißt es zum Beispiel im Zusammenhang mit der Frage nach der Ursache des Krieges, dass es „die Verhältnisse und nicht die Menschen [sind], die den Krieg begründen“ und dass der „Kriegszustand […] nur aus Eigentumsverhältnissen“ entstehen kann.31 Die zweite Annahme lautet, dass der Mensch nur in einer Gesellschaft frei sein kann, in der alle gleich sind. Aus Ungleichheit entstehen Herrschaftsverhältnisse, und anders als liberale Theoretiker geht Rousseau nicht davon aus, dass Herrschaft sich durch entsprechende institutionelle Arrangements kontrollieren lässt. Freiheit lässt sich nur verwirklichen, wenn niemand Macht über andere ausüben kann und sich jeder in gleicher Weise „mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes“ entäußert:32 Denn „[s]chließlich gibt sich jeder, da er sich allen gibt, niemandem“.33 Die besondere Konstruktion des Vertrags, dass jeder nur Vorteile hat und „genauso frei bleibt wie zuvor“,34 lässt sich in den Kategorien der individualistischen Vertragstheorien, nach denen jeder Vertrag auch mit Kosten verbunden ist, nicht verstehen. Für Rousseau jedoch gibt es diesen Widerspruch nicht, denn der Vertrag schafft eine neue Person und ist folglich mit einem üblichen Vertrag, in dem Individuen Tauschhandlungen vornehmen, nicht vergleichbar: „Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält.“35

Auch wenn Rousseau in der Einführung zum Ersten Buch des Contrat Social vorgibt, die Menschen zu nehmen, wie sie sind,36 ist ihm bewusst, dass die Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft als „verblendete Menge, die oft nicht weiß, was sie will“,37 nicht in der Lage sind, den Gemeinwillen zu artikulieren. Es bedarf deshalb eines Gesetzgebers, der nicht nur eine neue Verfassung schafft, sondern die Menschen verändert: „Wer sich daran wagt, ein Volk zu errichten [instituer], muß sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum in gewissem Sinn sein Leben und Dasein empfängt; die Verfaßtheit [constitution] des Menschen zu ändern, um sie zu stärken; an die Stelle eines physischen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur erhalten haben, ein Dasein als Teil und ein moralisches Dasein zu setzen. Mit einem Wort, es ist nötig, daß er dem Menschen

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Ebd., S. 12 (Buch I, Kapitel 4). Ebd., S. 17 (Buch I, Kapitel 6). Ebd., S. 18. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 5 (Einleitung zu Buch I). Ebd., S. 42 (Buch II, Kapitel 6).

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Hendrik Hansen die ihm eigenen Kräfte raubt, um ihm fremde zu geben, von denen er nur mit Hilfe anderer Gebrauch machen kann.“38

Die geforderte Veränderung des Menschen ist radikal: Der Individualismus, den Hobbes und Locke zur Grundlage ihrer Sozialvertragstheorien machen, ist aus der Sicht von Rousseau allein dem Naturzustand angemessen und führt dort, anders als bei Hobbes und Locke, nicht zum Krieg aller gegen alle. Zu Krieg und Unterdrückung kommt es erst, wenn die Menschen auf der Grundlage des Individualismus eine Gesellschaft gründen. Dieser Kriegszustand lässt sich erst überwinden, wenn die Menschen den Individualismus aufgeben und mit ihren Mitbürgern das oben zitierte „gemeinschaftliche Ich“ bilden.39 Rousseau greift damit ein fundamentales Problem der individualistischen Sozialtheorien auf: Die Frage, warum die Bürger einer liberalen Gesellschaft das Gesetz und damit das gemeinschaftliche Wohl respektieren sollen. Doch seine Lösung besteht im kollektivistischen Gegenmodell: Der einzelne soll mit den anderen zu einer Gesamtkörperschaft verschmelzen,40 die als unfehlbar gilt und von keiner Instanz kontrolliert wird. Wer „sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, [wird] von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen […], was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein“.41 Ob Rousseau die Herrschaft der Jakobiner gutgeheißen hätte, ist eine schwer zu beantwortende Frage; doch die in diesem Zitat zum Ausdruck gebrachte Logik, dass die Menschen gelegentlich mit Gewalt zur Freiheit und zum Glück gezwungen werden müssen, entspricht derjenigen von Robespierre, wenn er die Revolution als „die Gewaltherrschaft der Freiheit über die Tyrannei“ bezeichnet.42 Die Gewaltherrschaft ist dann nicht ein notwendiges Übel, sondern ist, zumindest im Kontext einer Revolution, gut: „Der Terror ist nichts anderes als das schlagfertige, unerbittliche, unbeugsame Recht, er ist somit eine Emanation der Tugend“.43 Dass derjenige, der selbst unter Zwang noch nicht frei sein will, als ein Schaden des Staates umgebracht wird, ist nur die logische Konsequenz aus der Rousseauschen Legitimation des Zwangs.

Ebd., S. 43 (Buch II, Kapitel 7). Zur Veränderung des Menschen durch den Gesellschaftsvertrag vgl. auch ebd., Buch I, Kapitel 8. 40 Die Metapher des Verschmelzens verwendet Rousseau immer wieder, z. B. ebd., S. 20 (Buch I, Kapitel 7). 41 Ebd., S. 21. 42 Maximilien Robespierre, Über die Prinzipien der politischen Moral. Rede am 5. Februar 1794 vor dem Konvent, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2000, S. 21. 43 Ebd., S. 20 f. 38 39

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III. Schlussfolgerung Die Kritik an Rousseau, die sich aus der Perspektive individualistischer Sozialvertragstheorien formulieren lässt, hat somit einen guten Grund: Rousseau hebt tatsächlich die Freiheit des einzelnen zugunsten der Gemeinschaft auf. Dass der Gemeinwille als unfehlbar angesehen wird und keiner Kontrolle durch gewaltenteilige Institutionen unterliegt, ist trotz aller Bekenntnisse von Rousseau zur Republik ein gänzlich unrepublikanischer Gedanke. Doch die Berechtigung der Kritik an Rousseau darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die individualistische Gegenposition widersprüchlich ist. Vielmehr sehen beide Seiten in der Schwäche der gegnerischen Position ein Argument für ihre eigene, so dass die Kritik jeweils zum Umschlag in die gegnerische Position führt: Die Kritik des Individualismus führt zum Rousseauschen Kollektivismus, so wie die Kritik an Rousseau umgekehrt zur Legitimation des Individualismus verwendet wird. Aus dieser Dichotomie, die nicht nur die Auseinandersetzungen in der politischen Philosophie seit dem 18. Jahrhundert kennzeichnet, sondern auch das politische Ringen zwischen liberalen und totalitären Systemen im 20. Jahrhundert, kann die Frage nach einem möglichen gemeinsamen Irrtum beider Positionen herausführen. Tatsächlich gehen beide Positionen davon aus, dass der Inhalt der Politik in der Durchsetzung des Willens besteht – sei es des Individualwillens, der genötigt ist, im Vertrag Kompromisse einzugehen, um ein gemeinsames Handeln zu ermöglichen, sei es des Gemeinwillens, der alles individuelle Wollen absorbiert. In beiden Konzeptionen steht der Inhalt des Wollens außer Frage: Weder beim Individualwillen von Hobbes oder Locke, noch beim Gemeinwillen von Rousseau stellt sich die Frage, ob das, was gewollt wird, auch tatsächlich gut ist. Darin aber könnte der Grund des Gegensatzes zwischen Individual- und Gemeinwille liegen, der seine Relevanz verlieren könnte, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob das, was gewollt wird, eigentlich gut ist. Die Frage, ob das, was man will und somit für gut hält, tatsächlich gut ist, steht im Mittelpunkt der antiken politischen Philosophie von Platon und Aristoteles: Platon versteht Politik als Erkenntnis,44 und die entscheidende Erkenntnis, um die es dem Politiker gehen muss, ist die des Guten;45 Aristoteles wendet sich zwar gegen das Verständnis von Politik als Erkenntnis, aber kritisiert zugleich die Vorstellung, dass das, was die Bürger für gut halten, tatsächlich gut sei: vielmehr besteht Politik im Gespräch über das Gute und Böse, das Gerechte und Ungerechte und somit im Ringen um das rechte Verständnis der Tugenden.46 Bei beiden Autoren folgt daraus, dass das Recht nicht auf eine 44 Platon, Politikos, Werke in acht Bänden (gr.-dt.), Bd. 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990, S. 403 – 579, 259c. 45 Platon, Politeia, Werke in acht Bänden (gr.-dt.), Bd. 4. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990, 504a – 505b. Zur Deutung des platonischen Werks siehe Barbara Zehnpfennig, Platon. Eine Einführung, Hamburg: Junius, 20114. 46 Aristoteles (Fn. 29), 1253 a 14 – 18.

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Schranke des individuellen Glückstrebens reduziert wird, sondern Ausdruck des Strebens nach dem Guten ist. Dem Recht zu folgen, ist kein notwendiges Übel, sondern Teil des guten Lebens. Der Eudämonismus der Antike wäre somit ein Weg, die Aporien der politischen Philosophie der Moderne, die in Rousseaus Werk so deutlich zu Tage treten, zu überwinden – doch eine solche Rückbesinnung auf die Antike ist in der politischen Philosophie der Gegenwart derzeit freilich wenig populär.

Summary Rousseau’s “Contrat Social” illustrates the ambivalence of the political thought of modern times. Rousseau criticizes with some justification the inconsistencies of individualistic social contract theories. But his own approach, which is based on the rule of the common will, tends to be collectivistic. Section one of this paper analyzes some contradictions of the individualistic approach as it has been developed by Hobbes and Locke. Most importantly, these theories cannot explain adequately why citizens should care for common goods such as a good legal system. Section two shows how Rousseau tries to solve the conflict between the individual and the common in a way which gives all the weight to the community. The paper explains how the individualistic and the collectivistic approaches are criticizing each other with good arguments, hiding their own weaknesses by emphasizing the logical flaws of the adversary. The dichotomy of individualism and collectivism could be overcome by analyzing the problematic assumptions which underly the arguments of both approaches.

Autonom oder authentisch? Rousseau und die Ambivalenzen des modernen Bürgerseins Karlfriedrich Herb I. Feiern Im Grunde wissen wir es alle. Geburtstagsfeiern haben ihre Tücken. In aller Regel überfordern sie Jubilare und Gratulanten. Die einen haben die Qual bei der Wahl der Gäste, die anderen stresst die Suche nach dem passenden Geschenk, dem angemessenen Outfit und der treffenden Glückwunschformel – schließlich will man die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz wahren und an einem solchen Tag nicht alles zur Sprache bringen. Das gelingt bekanntlich selten. Häufig kommen die falschen Freunde mit den richtigen Themen, und den wahren Freunden fehlen die Worte. Dies wird kaum einfacher, wenn es sich bei solchen Geburtstagen um Geburtstage von Klassikern handelt. Der dreihundertste Geburtstag Jean-Jacques Rousseaus liefert dazu Bestätigung und schlechtes Beispiel zugleich. Gerade bei diesem von Natur aus Unangepassten dürften Kopfzerbrechen über Einladungslisten und Gastgeschenke unvermeidlich sein. Gibt es in seinem Fall überhaupt Anlass zum frohen Feiern bei so vielen guten Gründen zur Klage? Und ist nicht schon alles von allen gesagt? Und wie könnte überhaupt ein gemeinsames Motto zur allgemeinen Begeisterung lauten? Welche Wahlverwandtschaften Rousseaus könnten noch ans Tageslicht kommen, nachdem Rousseaus Politische Philosophie aus dem Schatten kantianischer Vereinnahmung1 und frühbürgerlicher Kleinkrämerei2 herausgetreten ist? Werden frustrierte Republikaner, liberale Dissidenten, unbewegliche Kommunitaristen, hastige Revolutionäre, tugendhafte Despoten, totalitäre Gesetzgeber, professionelle Schwarzseher, grüne Aussteiger und rote Facebooker sich künftig noch auf Rousseaus fragwürdige Autorität berufen dürfen? Als vor einem Jahrhundert Rousseaus 200. Geburtstag in Paris auf der Tagesordnung stand, feierte man den Jubilar in bester Absicht mit einer gemeinsamen Suche nach der Einheit seines Werkes. Heute steht die Feier im Zeichen der Ambivalenz 1 Vgl. Julius Ebbinghaus, Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden. Darmstadt 1968; Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Kant. Frankfurt a. Main 1994. 2 Vgl. Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Frankfurt a. Main ³1975.

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seines politischen Denkens. Offensichtlich sind Rousseaus Zweifel und Widersprüche uns heute wichtiger als seine Gewissheiten und Eindeutigkeiten. Nach dem kurzen, schrecklich-kurzen zwanzigsten Jahrhundert scheint ein neuer Titel, eine neue Orientierung für die Annäherung an Rousseau als politischen Denker geradezu zwingend und logisch. Ist das ein Fortschritt? Und können wir solchen Fortschritt mit Rousseau und für Rousseau gut heißen? II. Ausgraben Dabei scheint nichts naheliegender, als sich den Wahrheiten und Irrtümern Rousseaus unter dem Zeichen der Ambivalenz zu nähern – und das von Rousseaus geistiger Geburt an. Mit einigem Recht kann man die Ambivalenz als den Grundton der Rousseauschen histoire intellectuelle verstehen. Sie beginnt, wenn wir dem Autor selbst trauen dürfen, 1749 mit der berühmten Illumination de Vincennes. Sie macht Rousseau zum Schriftsteller und Philosophen, ja allererst zum Menschen. Der glückliche Zufall befreit ihn von den herrschenden Vorurteilen seines Jahrhunderts und ebnet den Königsweg zur Wahrheit. Dabei ist die Erleuchtung von Anfang an zutiefst zwiespältig. Mit dem Beginn der Reflexion nimmt das Unglück seinen Lauf. „Von diesem Augenblick an war ich verloren“, wird der entzauberte Aufklärer in Erinnerung an seine Anfänge notieren. „Der ganze Rest meines Lebens und all mein Leiden waren die unvermeidliche Wirkung dieses Augenblicks der Verwirrung.“ (OC I 351) Rousseau wird den Zwiespalt von Erkenntnis und Verwirrung, Selbstbewusstsein und Glück, der sich hier auftut, nicht bloß als persönliches Schicksal deuten. In ihm spiegelt sich exemplarisch die ambivalente Geschichte des Menschen auf dem Weg zur Gesellschaft. Um sie zu schreiben, will Rousseau hinter alle Geschichte auf die wahre Natur des Menschen zugehen: auf die nature de l’homme in Gestalt des homme de la nature, hier ist Einssein mit sich, authentisches Leben, mit Händen greifbar. Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit, der zweite Reflex auf die Illumination de Vincennes, straft die politischen Anthropologien der Antike und Moderne Lügen. Selbstbewusstsein, Alterität und Sozialität gehören allenfalls zur zweiten Natur des Menschen, sie tritt erst im Verlust seiner unmittelbaren Natur zutage. Entsprechend anders klingen Rousseaus Zauberworte: Einssein mit sich, Unmittelbarkeit, Authentizität und Einheit prägen die ursprüngliche condition humaine. Ihr sind cogito und Konflikt ebenso fremd wie die Welt des Anderen. In Erinnerung an diesen solipsistischen Anfang wird Rousseau später Authentizität in Anwesenheit des Anderen denken. Seine philosophischen Hauptwerke von 1762, der Gesellschaftsvertrag und der Emile, schwanken zwischen zwei Grundoptionen: Bürger oder Mensch, Gemeinschaft oder Einsamkeit. Das politische Projekt soll Authentizität und Autonomie im neuen Ich des politischen Körpers realisieren, das pädagogisch-private Projekt soll Ganzheit und Selbstbestimmung der Einzelnen außerhalb der politischen Gemeinschaft ermöglichen: in einer künstlichen Enklave am Rande der Gesellschaft, jenseits des Politischen.3 Beide Optionen zehren auf ihre Weise von dem

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Bild, das Rousseau im Diskurs über die Ungleichheit von der ursprünglichen Position des homme naturel zeichnet. Hier glänzt das alter ego durch Abwesenheit. Von Natur aus ist der Mensch nicht auf Sozialität geeicht: ein solitäres Wesen, das weder von sich weiß noch den Anderen kennt – und gerade deshalb eins mit sich selbst ist. Der Archetypus dieses Einsseins ist durch keinerlei Reflexion getrübt – sie würde das unschuldige Glück des Anfangs ruinieren. Kein inneres Telos, sondern reine Kontingenz ist es, die das nicht festgestellte Tier zum potentiellen Vernunftwesen und zum Mitmenschen werden lässt.4 Der Fortgang der Geschichte ist allzu bekannt. Die durch Perfektibilität ermöglichte Entfaltung des Menschlichen ist zutiefst ambivalent. Sie führt zu Aufklärung und Verblendung, Tugend und Laster, Größe und Verfall, Humanität und Verrücktheit. Im Horizont dieses anthropologischen Gesetzes wirkt das Erscheinen des Anderen prekär auf das Selbstsein und die Selbstbestimmung des Einen. Ruht der natürliche Mensch anfangs in sich selbst, ganz im Gefühl der Existenz aufgehend, spielt er von jetzt an vor den Augen der anderen sich selbst – und verliert sich dabei. Der homme de la nature mutiert zum homme de l’homme (OC IV 549).

III. Vereinbaren Wie weit der sozialphilosophische Cartesianismus ohne cogito für Rousseaus Philosophie der Politik und der Pädagogik maßgeblich wird, ist seit langem strittig. Rousseau selbst stellt den Emile in eine Linie mit dem Diskurs über die Ungleichheit, während er für den Gesellschaftsvertrag einen Wechsel ankündigt: aus kritischer Gesellschaftstheorie soll politische Philosophie mit normativem Potential werden. Aber bringen die Prinzipien des politischen Rechts tatsächlich den methodischen Neuanfang? Verträgt sich der kontraktualistische Traktat über politische Autonomie mit seiner Absicht, die Begriffe der cité und des citoyen unter modernen Prämissen neu zu buchstabieren (OC III 361)? Kein Zweifel: Mit dem zögerlich gewählten Titel Vom Gesellschaftsvertrag bekennt sich Rousseau zur Tradition des modernen Kontraktualismus. Politische Herrschaft, so das programmatische Credo, lässt sich allein aus der Idee der Vereinigung freier und gleicher Subjekte begründen. In die kontraktualistische Matrix ist eingeschrieben: der Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft, des Teils vor dem Ganzen, des Rechts vor der Pflicht, der Freiheit vor dem Zwang. Für den Kontraktualisten gehört Bürgersein so wenig zur Natur des Menschen wie der Staat zu den natürlichen Bedingungen der Menschheit. Gott, Gewalt und Natur haben als verlässliche Garanten politischer Herrschaft ausgedient; Autonomie lautet das neue begründungstheoretische Hauptwort. Damit ist Rousseau beileibe nicht allein: „Man 3 Vgl. Karlfriedrich Herb / Bernhard H. F. Taureck, Rousseau-Brevier. Schlüsseltexte und Erläuterungen. München 2012. 4 Vgl. Maximilian Forschner, Rousseau. Freiburg / München 1977.

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kann nämlich nur durch eigenes Handeln verpflichtet werden, denn alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei“ (Leviathan XXI 10), heißt es paradigmatisch in Hobbes’ Leviathan. Rousseau will diesen Grundsatz mit letzter kontraktualistischer Konsequenz verfolgen. „Kann die Verbindlichkeit unter Menschen eine sicherere Grundlage haben als den freien Willen dessen, der sich verpflichtet? Man kann über jedes andere Prinzip streiten, über dieses kann man nicht streiten.“ (OC III 806f) In der Tat scheint das Vertragsmodell wie geschaffen, die angestrebte Versöhnung von Freiheit und Ketten, Autonomie und demokratischem Gesetz zu bewerkstelligen. Um persönliche Unabhängigkeit und politische Autonomie in der Gemeinschaft zu gewährleisten, darf sich Freiheit nicht auf den einmaligen Vertragsakt beschränken, sondern muss permanent zur Geltung kommen. Insofern bildet der Vertrag das Dispositiv der bürgerlichen Ordnung. Die politische Autonomie der Vertragspartner diktiert die Grundstruktur allen staatlichen Handelns. Der gemeinsame Wille aller, die volonté générale, soll herrschen, damit die Selbstbestimmung des Einzelnen als Bürger auf Dauer gesichert ist. Ohne Scheu stattet Rousseau den Gemeinwillen, der aus dem Akt gemeinsamer Selbstverpflichtung hervorgeht, mit allen Attributen staatlicher Souveränität aus. Kein Wunder, dass diese eigenwillige Verbindung von Freiheitsrecht und Souveränität liberalen Argwohn provoziert hat. Hier übt das Schreckgespenst der demokratischen souveraineté une et indivisible seine ersten Schritte: Die volonté générale nimmt an nichts anderem Maß als an sich selbst, und ist dabei selbst maßlos. Vor Tocqueville entdeckt Rousseau damit die ungezügelte Leidenschaft des demokratischen Souveräns, die fragwürdige Besetzung des magischen Ortes der Macht durch das Volk. Losgelöst von allen transzendenten Bindungen haben Gesellschaftsvertrag und Gemeinwille von nun an alle Begründungslasten der Politischen Philosophie zu tragen. Kein Wunder, dass man Rousseau für diesen Mut zum Helden der modernen Demokratie erklärt. Schon Kant würdigt den Gesellschaftsvertrag als Ideal des Staatsrechts (AA XIX 99), und Hegel rühmt Rousseaus Verdienst, als erster „den Willen als Prinzip des Staats“ entdeckt zu haben (Rechtsphilosophie § 258). Auch gestrige Dezisionisten5 und heutige Postdemokraten6 berufen sich gern auf Rousseaus Autorität.

5 Vgl. Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Berlin 2006; dazu kritisch: Franz Halas, Träumer und Kronjurist. Der Zwang zur Freiheit bei Rousseau und Schmitt. In: Rousseaus Zauber. Lesarten der Politischen Philosophie. Hg. v. Karlfriedrich Herb u. Magdalena Scherl. Würzburg 2012, 57 – 65. 6 Vgl. Kevin Inston, Rousseau and Radical Democracy. London / New York 2010.

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IV. Schweigen Folgt man dem Begründungsverlauf des Gesellschaftsvertrages über den fulminanten Anfang hinaus, so zeigen sich allerdings einige paradoxe Wendungen. Die vertragstheoretischen Prämissen geraten durch die lebensweltlichen Voraussetzungen des Gemeinwillens zusehends in Bedrängnis. Besonders deutlich wird dies am Begriff der aliénation totale. Die vollständige Entäußerung aller Vertragspartner ist der Preis für den Eintritt in den bürgerlichen Zustand. Zunächst nur juridische Konversion, versteht Rousseau die aliénation totale zugleich als politische Metamorphose. Er gibt seine Vertragslogik preis, wenn er die existentielle Verwandlung der Vertragspartner in republikanische Bürger fordert und Subjektivität zur Folge des Vertrages macht. Auf diese Weise wird die politische Autonomie des Bürgers zur Bedingung der moralischen Autonomie des Menschen. Anders als von Rousseau anfangs vorgesehen, kann die Republik die Natur des Menschen nun doch nicht lassen, wie sie ist (OC III 381). Um Bürger zu formen, muss die Natur des Menschen verändert, ja zerstückelt werden.7 Der citoyen muss den Menschen in sich völlig zurücknehmen, um ein allgemeines Leben in der Republik zu führen. Hier fällt zusammen, was der vertragstheoretische Anfang noch trennt, nämlich das Schicksal des Einzelnen und das Telos des Gemeinwesens. „Wir beginnen erst eigentlich Menschen zu werden, nachdem wir Bürger geworden sind“ (OC III 286), schreibt Rousseau ungeniert im Genfer Manuskript. Mit dieser Wendung werden Kontraktualismus und Republikanismus zunehmend zu Antagonisten. Theoretisch eng wird es für Rousseau auch dort, wo er das Prinzip der Autonomie bei der institutionellen Ausgestaltung der Republik mit bitterer Konsequenz verfolgt. Politische Repräsentation hat in Rousseaus Republik bekanntlich keinen Platz, das moderne Repräsentativsystem gilt als Tabu. Ohne Wenn und Aber fordert Rousseau die Realpräsenz des Gemeinwillens, will aus der Rechtsfiktion volenti non fit iniuria politische Realität machen. Das Volk soll bis in den letzten Winkel der Republik herrschen. Rousseaus Fetischismus politischer Unmittelbarkeit geht das gouvernement des modernes8 gegen den Strich: Alles mit und für das Volk. Autonomie ist alles, und alles ist Autonomie. Aber ist Rousseau im Gesellschaftsvertrag tatsächlich der radikale Demokrat, der Vordenker starker Demokratie und Apologet deliberativer Politik? Zugegeben: Nirgends ist der Zwang zur Partizipation schärfer als in Rousseaus Republik. Hier kann nichts zum Gesetz werden, was die Bürger nicht durch öffentliche Beschlüsse (déliberations publiques, OC III 441) mit Gesetzeskraft ausstatten. Doch zahlt Rousseau politische Teilhabe nur in kleiner Münze aus. Ein bloßes Wahlrecht genügt zu politischer Selbstbestimmung, ansonsten herrscht Schweigen. Diskurs ist 7 In der Erstfassung akzentuiert Rousseau den Bruch mit der Natur noch drastischer. Hier ist nicht von altérer, sondern von mutiler die Rede (OC III 313). 8 Vgl. Bernard Manin, Principes du gouvernement représentatif. Paris 2008.

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nicht Sache der Bürger. Ihre Zusammenkunft auf der Agora schmiedet keine ideale Kommunikationsgemeinschaft oder rationale Diskursgemeinde. Im Gegenteil, Rousseau rechnet öffentlichen Diskurs bereits zur Pathologie der Republik. Bestimmte Formationen der opinion, der öffentlichen Meinung, können hier gefährlich werden. Je spärlicher also die Kommunikation, desto authentischer der Bürgerentscheid. Im Grunde ist das republikanische Gemeinwohl selbstevident, es braucht nicht diskursiv ausbuchstabiert zu werden: Gesunder Menschenverstand reicht aus, damit jeder Bürger für sich entscheidet, ob der Vorschlag dem vernünftigen Willen eines jeden entspricht. „Der Friede, die Einigkeit und die Gleichheit sind die Feinde politischer Haarspaltereien“ (OC III 437). Auf Politiker und Philosophen kann Rousseaus Republik getrost verzichten. Bürgersein ist der angesehenste Beruf der Republik. Rousseau weiß, dass die Republik mehr verlangt als stillschweigend-verständige Bürger und enge Landesgrenzen, in denen das Volk sich selbst beherrscht. Was ihm letztlich vorschwebt, ist die vollkommene Verschmelzung des Bürgers mit dem Gemeinwesen. Dazu muss die äußerliche Vertragsgesellschaft zur substantiellen Lebensgemeinschaft werden. Das Genie des Gesetzgebers wäre nötig, um die republikanische Metamorphose zu bewerkstelligen. „Wer es wagt, einem Volk eine Verfassung zu geben, muss auch wagen, sozusagen die menschliche Natur umzuwandeln.“ (OC III 381) Eines ist sicher: Mit dem Zwang zur Wandlung geraten die ursprünglichen Ziele des Vertrages, Freiheit durch Selbstbestimmung, aus den Augen. Stillschweigend und unmerklich verändert Rousseau das Profil der Republik: Statt Freiheit wird Authentizität, Übereinstimmung des Einzelnen mit sich selbst, zur Zauberformel republikanischer Politik. Offenbar ist nun Autonomie ohne Authentizität nicht mehr zu haben. V. Wohnen Der Paradigmenwechsel vom vertragstheoretischen zum republikanischen Diskurs führt zur Neuvermessung des politischen Terrains. Die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Leben ist neu auszuhandeln. Kein Zweifel: Rousseaus Republik ist keine Kantische Zwangsanstalt der äußeren Freiheit, die notfalls auch für ein Volk von Teufeln (AA VIII 366) funktioniert.9 Die Republik verknüpft das Schicksal der Bürger brüderlich miteinander (OC III 968). Privates bleibt nicht indifferent, es verliert den Schutz der Dunkelheit. Alles gehört ins rechte Licht gerückt: Transparenz lautet der republikanische Imperativ für Öffentliches und Privates.10 9 Vgl. Mareike Gebhardt, Von Göttern und Engeln. Die Republik zwischen Ideal und Utopie bei Kant und Rousseau. In: Rousseaus Zauber. Hg. v. Karlfriedrich Herb u. Magdalena Scherl. Würzburg 2012, 19 – 31. 10 Vgl. Karlfriedrich Herb / Kathrin Morgenstern / Magdalena Scherl, Im Schatten der Öffentlichkeit. Privatheit und Intimität bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 19 (2011), 275 – 298.

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Schon früh zählt Rousseau die „süße Gewohnheit, einander zu sehen und zu kennen“ (OC III 112) zu den Charakteristika des Bürgerseins. Er verlangt nach überschaubaren und durchsichtigen Verhältnissen. Rousseaus Bürger braucht keinen Schutz vor den Blicken der Allgemeinheit und des Einzelnen. Die Republik ist ein offenes Haus, das Privates und Öffentliches der Helligkeit preisgibt. Den Freunden der Republik ist alles gemein. „Der erste Schritt zum Laster ist der, aus unschuldigen Handlungen Geheimnisse zu machen; und wer sich gern verbirgt, hat früher oder später Ursache, sich zu verbergen. Ein einziges Gebot der Sittenlehre kann aller andern Stelle vertreten, dieses nämlich: Tue und sage niemals etwas, was nicht die ganze Welt sehen und hören könnte. Ich meinerseits habe stets jenen Römer als den hochachtungswürdigsten Mann betrachtet, der wünschte, sein Haus werde so gebaut, daß man alles, was darin vorginge, sehen könnte.“ (OC II 424) Wie man im republikanischen Haus lebt, davon erfährt der Leser des Gesellschaftsvertrages kaum etwas. Das Private kommt lediglich dort zur Sprache, wo es der Republik bedrohlich wird – wenn es droht, dem Bürger die republikanische Libido zu entziehen. Ansonsten ist es kein Thema. Über die Frau in der Gemeinde schweigt Rousseau so hartnäckig, dass man nicht einmal ihre Abwesenheit bemerkt. Warum sollte man? Die Frau nimmt keinen Anteil am öffentlichen Leben, ihr Aktionsradius bleibt auf die Intimität des Hauses beschränkt. Hier ist sie – kraft des Begehrens – Herr im Haus. Wie sehr die republikanische Differenz, die Trennung von Öffentlichem und Privaten, insgeheim durch die Geschlechterdifferenz markiert ist, zeigt ein Blick in den Emile und den Brief an D’Alembert. Dort liefert die heterosexuelle Matrix ein einfaches Muster: Öffentlichkeit ist männlich, Privatheit ist weiblich. Die Republik ist eine exklusive Männergesellschaft. Wird dieses Rollenspiel von Mann und Frau gewahrt, ist in der Republik alles in Ordnung. Dagegen bringen die Frau in der Politik und der Mann im Rock die geschlechtliche und politische Ordnung gleichermaßen durcheinander. Ordnung muss sein! Obwohl die Frau im republikanischen Haushalt gefangen bleibt, ist sie für das öffentliche Leben der Republik von immenser Bedeutung. Als privates Wesen sorgt sie für die affektiven Grundlagen der Republik. Hier erhält das Politische seine eigentliche, weibliche Verfassung: Haushalt und Familie werden zur Keimzelle der Republik. Als kleines Vaterland der Familie (OC IV 700) macht das Haus die Rousseausche Polis überhaupt erst bewohnbar.11

VI. Spielen Freilich ist Rousseaus Begriff von politischer Öffentlichkeit alles andere als eindeutig. Im Gesellschaftsvertrag verfliegt der Charme lebendiger Bürgerbeteiligung, 11 Vgl. Friederike Kuster, Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie. Berlin 2005.

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sobald es um das Buchstabieren des Gemeinwillens geht. Die volonté générale nimmt nicht im gemeinsamen politischen Handeln Gestalt an, sondern konkretisiert sich als kognitive Momentaufnahme: action is good, reflection is better – so lautet die Botschaft des Gesellschaftsvertrages. Im Brief an D’Alembert zeichnet Rousseau allerdings ein anderes Bild der Öffentlichkeit. Hier erschöpft sich Bürgersein nicht in stummer Reflexion, sondern kommt unvermittelt und lautstark zum Ausdruck. Im Namen der Unmittelbarkeit treibt Rousseau seine Kritik an aller Form von Repräsentation auf die Spitze: Politik soll zum Fest werden. Über das Fest denkt Rousseau bereits im Diskurs über die Ungleichheit nach. Hier gehört es zur Pathologie der entstehenden Gesellschaft. Das ursprüngliche Fest entfesselt die Einbildungskraft des Menschen und zeitigt zutiefst zwiespältige Konsequenzen. Zum einen lässt die imagination das Mitleid wirksam werden und mildert die Selbstliebe des Einzelnen. Zum anderen bringt sie neue, künstliche Leidenschaften hervor, die den natürlichen Einklang von Bedürfnissen und Fähigkeiten stören. Letztendlich wirkt die Einbildungskraft fatal: Sie ruiniert authentisches Menschsein, indem sie den ursprünglichen Selbstbezug des homme naturel aufhebt und einer komparativen Existenz den Weg ebnet. Rousseau bringt den Beginn der Selbstentfremdung in Sartrescher Manier zur Sprache: Der Blick des Anderen führt zum Verlust des eigenen Selbst und verhilft der opinion zur Herrschaft. Gegen dieses gattungsgeschichtliche Missgeschick bringt der Brief an D’Alembert eine positive Vision des Volksfestes ins Spiel: das Fest als Selbstinszenierung der Bürgergemeinschaft.12 Anders als im Theater, bei dem „eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle eingesperrt ist“ (OC V 114), wird hier – bei Tageslicht und vor aller Augen – ein neuer Raum des Gesellschaftlichen kreiert. Hier übernimmt niemand eine fremde Rolle, sondern bringt sich in purer Unmittelbarkeit zur Geltung. Die Einmütigkeit der Bürger entsteht zwanglos und selbstläufig: ohne Repräsentation und ökonomischen Tausch. Es wird nicht mit Geld bezahlt – für Rousseau das repräsentative Zeichen schlechthin und der Ruin aller Vaterlandsliebe. Wie sich die Bilder wandeln: Herrscht im Gesellschaftsvertrag das stumme Raisonnement isolierter Bürger, suspendiert das Fest jede Form diskursiver Rationalität. Rousseau will Musik und Tanz als neue Formen der Einheitsstiftung. Sie machen das Fest in seiner Unmittelbarkeit zum neuen Paradigma politischer Gemeinschaft, verwandeln das Öffentliche in einen Raum kommunizierender Körper. Hier ist die Entzweiung von Akteur und Zuschauer, von Repräsentant und Repräsentiertem aufgehoben. Alle sind Akteure und Zuschauer zugleich. Das Volk feiert sich selbst und verwirklicht damit die absolute Transparenz der gesellschaftlichen Beziehungen.13 12 Vgl. Jacira de Freitas, Política e festa popular em Rousseau: a recusa de representação. São Paulo 1997. 13 Vgl. Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Frankfurt a. Main 2003.

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„Was werden aber schließlich die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was wird es zeigen? Nichts, wenn man will. Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele zusammen kommen, auch die Freude. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder besser noch: stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, dass ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, dass alle besser miteinander verbunden sind“ (OC V 115). Als Zelebration kollektiven Glücks hat das Fest nichts zum Gegenstand als sich selbst. Hier ist die republikanische Lebensgemeinschaft ganz bei sich. Wer wollte Rousseau aus diesem Traum wachrütteln?14

VII. Scheitern Womöglich niemand, außer Rousseau selbst. Im Emile bereitet er seinen politischen Träumereien ein jähes Ende. Gleich zu Beginn konfrontiert er seine Leserinnen und Leser mit der bitteren Wahrheit: das Zeitalter des Bürgers ist vorüber, die Figur des republikanischen citoyen nur noch ideengeschichtliches Zitat. Nun erscheint der Gegensatz von Bürger und Mensch als ganz und gar unüberwindbar. Nur kurz lässt Rousseau im ersten Entwurf des Emile die Möglichkeit anklingen, natürliche und politische Erziehung miteinander zu versöhnen. Doch Rousseau ist kein Abenteurer der Dialektik, er nimmt jede versöhnliche Aussicht auf Synthese. Der republikanische Grundsatz Tertium non datur duldet keine Ausnahme: „Man bekämpft […] entweder die Natur oder die sozialen Einrichtungen und muss wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will: Beides zugleich ist unmöglich“ (OC IV 248). Doch die angedeutete Alternative wirkt fadenscheinig. Die Wahl zwischen Mensch und Bürger besitzt lediglich spekulativen Charakter. Damit bestätigt sich der frühe Verdacht aus Rousseaus Erstem Diskurs: „Wir haben Physiker, Geometer, Chemiker, Astronomen, Poeten, Musiker, Maler. Wir haben keine Bürger (citoyens) mehr.“ (OC III 26) Angesichts der vollendeten Tatsachen der bürgerlichen Gesellschaft entpuppt sich die Erziehung zum citoyen als Anachronismus. Mit dem zeitgenössischen bourgeois ist kein Staat, geschweige denn eine Republik zu machen. „Eine öffentliche Erziehung gibt es nicht mehr und kann es nicht mehr geben, denn wo kein Vaterland ist, gibt es auch keine Bürger mehr“ (OC IV 250). Will Rousseau den Bürgerbegriff im Gesellschaftsvertrag noch zu neuem Leben erwecken, zeigt er sich im Emile restlos ernüchtert: Seinetwegen können die Begriffe citoyen und patrie ganz aus dem Wortschatz der modernen Sprachen gestri14 Rousseaus Traum sollte sich allerdings für viele angelsächsische Interpreten im Zeitalter des Kalten Krieges als Alptraum erweisen. Vgl. Jacob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln 1961; Lester Crocker, Rousseau’s social contract. An interpretive essay. Cleveland 1968.

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chen werden. Weil es in Europa beides nicht mehr gebe, werde der Plan einer öffentlichen Erziehung hinfällig. Von nun an führt der zeitgenössische bourgeois sein trauriges Regime. Seine zwitterhafte Existenz besiegelt für Rousseau ein doppeltes Scheitern: Der bourgeois kann weder die autarke Einheit des natürlichen Menschen erlangen, noch ist er in der Lage, als Bruchteil im politischen Ganzen aufzugehen und Eins mit sich zu werden. Das Projekt des republikanischen Bürgerseins kann endgültig ad acta gelegt werden: Es ist weder durch öffentliche Erziehung noch durch geniale Gesetzgeber zu retten. Nur wer die Tatsachen verdrängt, kann weiterhin vom citoyen träumen. In letzter Konsequenz trägt allein das pädagogische Programm der Entzauberung der Moderne Rechnung: Es sucht jenseits des Politischen nach Therapien für den Verlust von Authentizität und Autonomie. Am Schluss des Emile lässt Rousseau diese Therapie auf eigenwillige, ja paradoxe Weise gelingen. Der Dialog zwischen Emile und seinem Erzieher macht deutlich, dass die Suche nach einem Staat, der Emile Unabhängigkeit als Mensch garantiert, scheitert und sich als chimère – als Hirngespinst – erweist. Emiles Selbstfindung stellt die Logik des Gesellschaftsvertrags geradezu auf den Kopf: „Ich wurde um so mehr Mensch, je mehr ich aufhörte, Bürger (citoyen) zu sein“ (OC IV 912). Die politische Versöhnung von Freiheit und Herrschaft kann in Emiles Lebenswelt nicht gelingen. Das Glück des citoyen im Schoße der Republik bleibt ihm verwehrt. Das Wunderkind Emile muss resignieren und lässt das Projekt des Gesellschaftsvertrags alt aussehen: „Ich habe erkannt, daß Herrschaft und Freiheit zwei unvereinbare Begriffe sind“ (OC IV 856).

VIII. Befreien Unter solchen Umständen bleibt der innere Rückzug als letzte Option. Emiles innere Freiheit ist unempfindlich gegenüber den Freiheiten der anderen, mit der Freiheit des citoyen verbindet sie nicht das Geringste: sie ist nicht von dieser Welt: „Die Freiheit besteht in keiner Regierungsform, sie lebt im Herzen des freien Menschen, er trägt sie überall mit sich“ (OC IV 857). Auf diese Weise bestätigt der traurige Schluss des Erziehungsromans seinen illusionslosen Anfang. Rousseau besiegelt damit das Ende einer Illusion. Emiles Geschichte ist damit allerdings noch nicht zu Ende geschrieben. Im Fragment Emile und Sophie oder die Einsamen findet der Erziehungsroman seine Fortsetzung – ohne happy end. Statt eines strahlenden Helden treffen wir einen unglücklichen Einzelgänger, der nach mehreren Schicksalsschlägen als Sklave endet. Scheitert Rousseau erneut – in Gestalt des Emile? Bestätigt das traurige Ende des Zöglings Emile das Scheitern des pädagogischen Projekts? Rousseau wehrt sich gegen diese bittere Konsequenz. Er verleiht dem gesellschaftlichen Scheitern Emiles eine positive Wendung. Aus der Nähe betrachtet erweist sich Emile im Unglück als souveräner Meister seines Schicksals. Er bleibt sich selbst in allergrößter Not

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treu: Er ist frei und authentisch. Mehr noch: Die Erziehung zur Freiheit bewährt sich gerade unter größtem gesellschaftlichem Zwang. In der Sklaverei bleibt Emile freier als seine Unterdrücker. Damit scheint das pädagogische Experiment auf eigenwillige Weise geglückt. Vom Traum der politischen Emanzipation des Menschen bleibt nur die Emanzipation vom Politischen. Das mag die Leser des Emile trösten, die Anhänger des Gesellschaftsvertrags bleiben untröstlich – und auch dessen Autor. Letztlich führt Rousseaus Unbehagen an der Moderne dazu, das Selbstverständnis seiner politischen Philosophie in Frage zu stellen. Ungerührt – und sozusagen ohne Mitleid – fällt der Emile das vernichtende Urteil von der großen und nutzlosen Wissenschaft (OC IV 836) des Politischen. Im System der falschen Bedürfnisse bleibt für den Gesellschaftsvertrag kein Platz. IX. Feiern Können wir uns mit Rousseaus sparsamer Vision eines richtigen Lebens im falschen begnügen? Sollen wir ihn bei solchen Aussichten überhaupt noch feiern? Wir sollten – und den Parisern zeigen, wie man’s macht. Über das Format müsste man sich allerdings noch einigen. Denkbar wäre ein event, wie es Rousseau im Brief an D’Alembert beschreibt. Ein Fest im großen Stile, das Jubilar und Gäste mit Tanz und Musik zusammenbringt und ihr gemeinsames Glück feiern lässt. Wenn es nicht gleich öffentlich sein muss, ließe sich auch eine kleinere, eher private Feier organisieren, wie sie in der idealen Hausgemeinschaft von Clarens gepflegt wird, von Rousseau in Julie ou la nouvelle Héloïse hautnah beschrieben. In der stillen Gemeinschaft der Herzen kommen die Menschen einander näher, ohne von sich selbst Abstand nehmen zu müssen. „Das Vergnügen, beieinander zu sein und die Süßigkeit der Einkehr in uns selbst“ (OC II 558) klingen hier zusammen, in einem intimen Refugium, das vor den korrumpierenden Einflüssen der Gesellschaft schützt und Selbstsein in erlesener Gemeinschaft erlaubt. Hier wird moderne Intimität erfunden.15 Es besteht kein Zweifel, dass sich Rousseau, der Bürger ohne Vaterland, in diesem Ambiente wohlgefühlt hätte. Ob er eine solche Gesellschaft allerdings eigens suchen würde, kann man bezweifeln. Gut denkbar wäre, dass sich Rousseau an seinem Festtag der Gesellschaft entziehen und die Einsamkeit, das stille Selbstgespräch, suchen würde. Um damit die wenigen und unwiederbringlichen Augenblicke seines diesseitigen Glücks wachzurufen, wie er sie auf der St. Peter-Insel erlebt hatte. Dürfen wir Rousseau trauen, war er hier ganz bei sich selbst (OC I 1046). Allein hier können wir uns Jean-Jacques als glücklichen Menschen vorstellen. 15 Daran wird Hannah Arendt gedacht haben, als sie Rousseau den Entdecker des Intimen (Vita activa 49) genannt hat; vgl. dazu Karlfriedrich Herb / Kathrin Morgenstern / Magdalena Scherl, Im Schatten der Öffentlichkeit. Privatheit und Intimität bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 19 (2011), 275 – 298.

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„Ich halte diese beiden Monate für die glücklichste Zeit meines Lebens, für so glücklich, dass sie mir zur Ausfüllung meines ganzen Daseins genügt hätte, ohne auch nur einen Augenblick den Wunsch nach einem anderen Zustand in meiner Seele entstehen zu lassen.“ (OC I 1042)

Summary Over the past centuries, Rousseau’s political philosophy has experienced various and conflicting interpretations. Rousseau was considered as a protagonist of liberal democracy, but also as a theorist of terror and as a precursor of totalitarianism. This article aims at a different interpretation: It reinterprets Rousseau’s political philosophy as a conceptual structure marked by the conflict between autonomy and authenticity. This conflict is dominant throughout the works, imparting similar plausibility to various interpretations. In the course of the article, it becomes apparent that Rousseau’s ideal of authenticity, of man’s unity with himself, jeopardizes his account of the political autonomy of the citoyen.

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I. Einleitung Durch seine außergewöhnliche Art des fach- und kulturübergreifenden Denkens scheint Jean-Jacques Rousseau seine Leser auf den ersten Blick zu überfordern. Wer sich jedoch in seine Schriften und Ideen hineinliest, findet immer neue Anstöße zum Nach- und Weiterdenken. Nicht zuletzt daraus ergibt sich der ungebrochene Aktualitäts- und Universalitätsanspruch seiner Philosophie, welche einen gewaltigen Einfluss insbesondere auf die politischen Diskurse der Gegenwart ausübt. Zu Recht wird er daher, ungeachtet aller Kritik, weltweit als vorbildlicher Meisterdenker sowie wahrhaft intellektuelles Genie geachtet. Der vorliegende Beitrag untersucht das Verhältnis von Ethik und Demokratie bei Rousseau aus einer interkulturellen Perspektive. Sein Ziel besteht darin, den humanistischen und philanthropischen Anspruch seiner Staatstheorie verständlich zu machen. Es wird gezeigt, dass sich Rousseau ausdrücklich von Denkmustern distanziert, die andere Lebensweisen degradieren, und die heute unter dem Stichwort Ethnozentrismus zusammengefasst werden. Zudem beruht sein Humanismus gerade darauf, dass er insbesondere außereuropäische Kulturen wertzuschätzen und außerhalb von Klischees oder Stereotypen wahrzunehmen vermag. Nicht zuletzt ist Rousseau von der Gleichwertigkeit aller Menschen überzeugt, weshalb er nachdrücklich die Wiederherstellung ihrer natürlichen Rechtsgleichheit fordert.1 Dass Rousseau in seinen Werken ausschließlich vom Menschen im Singular spricht, zeugt von der universalistischen Qualität seines Denkens. Wendet er sich dem gesamten Menschengeschlecht als Zuhörer zu, so bemüht er sich gleichwohl um einen Sprachstil, der ihn für alle Kulturen verständlich sein lässt: „Mon sujet intéressant l’homme en général, je tâcherai de prendre un langage qui convienne à toutes les nations.“2 Tatsächlich sind die meisten Schriften Rousseaus so verfasst, dass man sie in jedem kulturellen Kontext sowie aus allen wissenschaftlichen Perspektiven auslegen kann.3 Aus diesem Grund sind unter seinen kritischen Lesern 1 Siehe insbesondere Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social ou Principe du Droit Politique, Présentation de Henri Guillemin, Paris 1973 (Deutsch: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Ditzingen 1983). 2 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes. Présentation de Henri Guillemin, Paris 1973, S. 301.

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und Interpreten nicht nur Philosophen, sondern auch Pädagogen, Philologen, Politologen, Soziologen, Ethnologen, Anthropologen, Linguisten oder Juristen aus allen Kontinenten zu finden. Über die Wirkung Rousseaus hat sich bereits Johann Gottlieb Fichte folgendermaßen geäußert: „Wir werden den Widerspruch lösen. Wir werden Rousseau besser verstehen, als er sich selbst verstand und wir werden ihn in vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst und mit uns antreffen.“4 Die Französische Revolution war nach Fichte der erste Vollzug der Übereinstimmung Rousseaus mit seinem Werk, indem sie zeigte, dass der Mensch „weder ererbt, noch verkauft, noch verschenkt werden“5 könne. Der Beitrag beginnt mit einer Reflexion über die Ethik Rousseaus im Lichte der Interkulturalität. Darauf folgt eine Untersuchung seiner Gesellschaftskritik aus der Perspektive der Ethik. Abschließend wird der Frage nach dem Verhältnis von Governance und Demokratie nachgegangen.

II. Ein interkultureller Blick auf die Ethik Rousseaus Mit Interkulturalität verbindet sich ein Denkprinzip, welches die kulturellen Erkenntnisse der Völker auf ihren metaphysischen, erkenntnistheoretischen, ethischen, ästhetischen und hermeneutischen Hintergrund hin untersucht, um die Vielfalt und den Reichtum der menschlichen Lebenserfahrungen verständlich zu machen. Dabei besteht die Aufgabe einer Philosophie der Interkulturalität nicht in der Hervorhebung der Differenzen oder Divergenzen der Kulturen hinsichtlich ihrer Logik, Moral oder gar Vernunft. Es obliegt ihr vielmehr, diejenigen Gemeinsamkeiten und Momente der Konvergenz auf allen Wissensgebieten zu eruieren, die ein kulturelles und friedliches Miteinander ermöglichen.6 Die der Interkulturalität zugrunde liegende Ethik baut auf dem Prinzip auf, dass die Menschen auf ein Zusammenleben angewiesen sind und damit in einem ständigen Dialogverhältnis zueinander stehen. Auch Rousseau plädiert für eine neue Kultur der Mitmenschlichkeit, die nicht nur der gesellschaftlichen Ordnung zugrunde liegen, sondern den Menschen zugleich zur Einsicht in eine Gemeinschaft in Brüderlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit verhelfen soll.7 Vor diesem Hintergrund 3 Einzelheiten bei Jacob Emmanuel Mabe, Die Kulturentwicklung des Menschen nach Jean-Jacques Rousseau in ihrem Bezug auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Afrika, Stuttgart 1996. 4 Johann Gottlieb Fichte, Prüfung der Rousseauischen Behauptung über den Einfluss der Künste auf das Wohl des Menschen, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Berlin 1845 / 1846, S. 61. 5 Ibid., S. 11. 6 Vgl. Jacob Emmanuel Mabe, Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie, in: Interkulturalität. Diskussionsfelder eines umfassenden Begriffs. Sonderdruck, hrsg. und eingeleitet von Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer, Nordhausen 2010, S. 35 – 52; Franz-Martin Wimmer, Interkulturelle Philosophie, Wien 2004.

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tritt Rousseau als ein unermüdlicher Apologet der Humanität auf, etwa wenn er schreibt: „Je défendrai donc avec confiance la cause de l’humanité devant les sages qui m’y invitent.“8 Die Ethik Rousseaus erhebt insofern einen interkulturellen Anspruch, als sie in jeder demokratischen Kultur Anwendung finden kann. Epochenunabhängigkeit, Kulturinvarianz, Kontextungebundenheit und Raumtranszendenz sind ihre Charakteristika. Zugleich baut sie auf moralischen Kategorien auf, die (wie Güte, Freiheit, Gleichheit oder Sicherheit) natürlich, d. h. zeitlos, sind und aus denen man Konsequenzen für ein wahrhaft globales Denken sowie sittliches Handeln ziehen kann. So lehrt Rousseau, nicht an kulturellen Überlieferungen und gewohnten Vorstellungen von Sittlichkeit festzuhalten, insofern sie nicht natürlichen Ursprungs sind, sondern ihre Entstehung gesellschaftlichen Konventionen verdanken. Weiterhin rät Rousseau davon ab, Kulturen miteinander zu vergleichen, da der Vergleich nicht nur dazu führe, dass man sich ein falsches Bild von seiner eigenen Kultur mache, sondern sie auch sie höher schätze als die anderen. Vor diesem Hintergrund distanziert sich Rousseau vom Ethnozentrismus, welcher meist durch negative Vorstellungen bezüglich anderer Lebenswelten gekennzeichnet ist. Das Ich erhebt sich hier über andere Völker und favorisiert das Menschenbild der eigenen Kultur, während alles andere prinzipiell herabgesetzt wird. Rousseau jedoch warnt vor solchen Vorurteilen oder abschätzigen Grundeinstellungen gegenüber anderen Kulturen, insofern sie erkenntnistheoretisch nicht begründet sind.9 Zudem wendet er sich nicht einer einzelnen Kultur, sondern der gesamten Menschheit zu: Gerade darauf gründet der universelle Anspruch seiner Philosophie. Die interkulturelle Perspektive der Ethik Rousseaus erklärt sich schließlich dadurch, dass seine Vertragstheorie die normativen Grundlagen für den Weltdialog und die globalen Diskurse über Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und die Rechtsgleichheit bereitstellt.

III. Rousseaus Gesellschaftskritik aus der Perspektive der Ethik Rousseau ist der Ansicht, dass man die grundlegenden Probleme der menschlichen Gesellschaft nicht verstehen kann, ohne zuvor die Natur des Menschen untersucht zu haben. So wirft er anderen Philosophen Unwissenheit bezüglich der

7 Einzelheiten bei Guy Besse, Jean-Jacques Rousseau. L’apprentissage de l’humanité, Paris 1988. 8 J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 298. 9 Im Emile schreibt Rousseau: „Je voudrais qu’on choisît tellement les sociétés d’un jeune homme, qu’il […] sache que l’homme est naturellement bon, qu’il le sente, qu’il juge de son prochain par lui-même; mais qu’il voie comment la société deprave et pervertit les hommes; qu’il trouve dans leurs prejugés la source de tous leurs vices.“ Jean-Jacques Rousseau, Emile ou de l’éducation, Paris 1966, Livre IV, S. 309.

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menschlichen Natur vor, welche sie zu einer unpräzisen und widersprüchlichen Konzeption des Naturrechts geführt habe: „C’est cette ignorance de la nature de l’homme qui jette tant d’incertitude et d‘obscurité sur la veritable definition du droit naturel.“10 Zu diesem Missverständnis kann es nach Rousseau nur kommen, wenn man die Erfahrungen mit dem Menschen in der Gesellschaft auf die Natur überträgt oder aber „vom Gesellschaftszustand als Wesensform des Menschen ausgeht“11. Sein Konzept vom natürlichen Menschen verdankt Rousseau den Berichten von Reisenden, die sich auf den Weg in andere Erdteile gemacht hatten. Sie waren es, die ihm zunächst zur Entdeckung des im Wald lebenden Primitiven und damit zu einem „Bild der ersten Zeiten“ („l’image des premiers temps“)12 verholfen haben. „Dann macht er, um von den einzelnen Erfahrungstatsachen weiter fortzukommen, eine Hypothese mittels seiner freien Einbildungskraft.“13 Mit anderen Worten, sein Begriff vom Menschen als einem natürlichen, aber zugleich reflektierenden Wesen, ist eine Hypothese, aus der Rousseau weitere empirische Tatsachen deduziert. Wenn auch Letztere mit der Ausgangshypothese übereinstimmen, so dass die Behauptungen insgesamt glaubwürdig erscheinen, so hat ihnen Rousseau doch keine eigenen Beobachtungen zugrunde gelegt, sondern stützt sich ganz auf die Befunde der Übersee-Reisenden, die auch unvollständig, einseitig oder gar reine Erfindungen hätten sein können. Rousseaus Ausgangsthese beruht zumindest auf der Überzeugung, dass sich der in der Gesellschaft lebende Mensch grundlegend verändert und von seiner ursprünglichen Konstitution weit entfernt habe. So lebe der natürliche Mensch ganz in der Gegenwart, ohne sich Gedanken über seine Zukunft zu machen14; er sei zudem ein obdachloses, besitzloses, eigentumsloses Wesen, das nur dem natürlichen Gesetz folgend lebt.15 Mit Hilfe hypothetischer Überlegungen versucht Rousseau nun, die Entwicklungen zu rekonstruieren, welche die Menschen zur Gesellschaft geführt haben. Er geht davon aus, dass der Mensch vor seinem Eintritt in die Gesellschaft in Harmonie mit sich selbst und mit der Natur gelebt habe. Als Natur bezeichnet er in diesem Zusammenhang ein umfassenderes Ordnungssystem, zu dem auch der Mensch gehört. Er beruft sich dabei auf die klassische Naturrechtslehre, nach der alles gut sei, was von der Natur komme. Doch Rousseau geht über diese Naturrechtsauffassung hinaus, insofern er nicht von der Natur als solcher, sondern vom Naturzustand spricht, d. h. von einem Zustand der Harmonie und Ordnung, dem das ursprüngliche Leben des Menschen entsprechen soll. Zudem kennzeichnet dieser Zustand den wahren Beginn des menschlichen Lebens. J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 292. Jacob E. Mabe, Die Kulturentwicklung des Menschen, S. 89. 12 J.-J. Rousseau, Les Confessions, in: Œuvres complètes, hrsg. von B. Gagnebin und M. Raymond, Paris 1959, Band 1, 2. Teil, Livre VIII, S. 388. 13 Jacob E. Mabe, Die Kulturentwicklung des Menschen, S. 88. 14 H. Röhrs, J.-J. Rousseau. Vision und Wirklichkeit, Heidelberg 1966, S. 90. 15 J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 321. 10 11

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Der Mensch im Naturzustand oder der natürliche Mensch ist seiner Beschaffenheit nach wie ein zahmes Tier, das einsam, ganz in der Gegenwart und allein nach der Maßgabe des natürlichen Gesetzes lebt. Die Einsamkeit bestimmt sein Glück: Er ist autark, frei und unabhängig. Seine Wünsche gehen nicht über seine physischen Bedürfnisse hinaus. In diesem Zustand wird der Mensch wesentlich durch eine Leidenschaft oder einen Trieb bestimmt, die Selbstliebe (amour de soi), die ihn dazu drängt, nach seiner Selbsterhaltung sowie seinem Wohlsein (bien-être) zu suchen. Mit dem amour de soi ist er glücklich, weil seine Bedürfnisse stets befriedigt werden. Dies besagt nach Rousseau jedoch keineswegs, dass der natürliche Mensch, insofern er sich selbst genüge, keine anderen Leidenschaften habe. Gemeint sind hier die Leidenschaften, die Rousseau als Quelle des Sich-Entfaltens des menschlichen Verstandes bezeichnet. Doch diese wiederum haben ihre Quelle in den unersättlichen Bedürfnissen des Menschen, und ihr Fortschritt entsteht aus seinem ständigen Streben nach mehr Wissen und Erkenntnis. Unterwirft sich der Mensch dem Naturgesetz, so bestimmt nur dieses sein Handeln – der natürliche Mensch realisiert seine Selbsterhaltung ohne Vernunftgebrauch und Reflexion: „Il est impossible d’entendre la loi de nature, et par conséquent d’y obéir, sans être un très grand raisonneur et un profond métaphysicien.“16 Doch die Vermehrung der Leidenschaften hat zwangsläufig die Vervollkommnung der Vernunft zur Folge. Strebt der Mensch nach mehr Wissen, so vermehren sich umgekehrt zugleich die Triebe, die er befriedigen muss, um ein Genussleben führen zu können. Was veränderte nun das Leben des Menschen? Es waren, so Rousseau, die Zustände in der Natur selbst, der Kampf mit den Tieren, die Naturkatastrophen, die dazu führten, dass der Mensch anfing zu reflektieren. Wie er freilich zum Gebrauch und damit zum Bewusstsein seiner Freiheit im Naturzustand gelangte, erklärt Rousseau mit weniger überzeugenden Argumenten. So erfolgte der erste Gebrauch der Freiheit seiner Auffassung nach rein zufällig: Der Mensch hätte lediglich bemerkt, dass er im Unterschied zum Tier ein agent-libre in Bezug auf seine Selbsterhaltung sei, weil er die Möglichkeit hatte, zwischen gewissen Handlungen zu wählen, sie auszuführen oder sie aber zu unterlassen. Aus dieser Handlungs- und Willensfreiheit folgte, dass der Mensch ein geistiges Wesen wurde, das sich nicht mehr allein nach seinen Gefühlen ausrichtete. Fortan wurden seine Handlungen von der Vernunft (noch nicht als höheres Denkvermögen, Erkenntnisse und Handlungen zu orientieren, sondern allein als das geistige Vermögen, eine Wahl zwischen Handlungen zu treffen) gesteuert, welche die Selbstsucht (amour-propre) hervorrief, die ihrerseits nicht nur den amour de soi verdrängte, sondern zugleich der Reflexion Nahrung verschaffte. Es ist also die Vernunft, die dem Menschen die Möglichkeit gab, zu transzendieren, zu reflektieren und sich ein Bild von sich selbst und von anderen Menschen zu machen. Daraus folgte, dass der Mensch begann, sich mit den Anderen zu vergleichen oder sich an

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ihnen zu messen, weil er sie übertreffen wollte: „le premier regard qu’il jette sur ses semblables le porte à se comparer avec eux, et le premier sentiment qu’il excite en lui de cette comparaison est de désirer la premiére place.“17 Seitdem wollte der Mensch es nicht nur besser haben als die anderen, seine Begierde begann sich auch auf tendenziell alles zu richten. Mit dem amour-propre, der sich des materiellen Scheins bedient, begann der Mensch, sich zu einem Wesen der unersättlichen Bedürfnisse zu verwandeln. Nachdem er nun nicht mehr gemäß dem natürlichen Gesetz leben konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als immer erneut auf die Reflexion zurückzugreifen, um seine Anpassungsfähigkeit an die sich verändernden Umweltbedingungen zu sichern. Dies bedeutete nach Rousseau das Ende des Naturzustandes und den Beginn der Kulturentwicklung. Die Freiheit ist ab jetzt unauflöslich mit Vernunft und Reflexion verbunden. Doch die Umwälzungen in der Natur haben den Menschen zwar verändert, nicht jedoch sozialisiert. Mit dem Ende der Einsamkeit verlor der Mensch seine natürliche Freiheit und sein Glück. Zwar war auch der natürliche Mensch mit der Fähigkeit zur Vernunft ausgestattet, er machte nach Rousseau jedoch davon keinen Gebrauch. Er setzte ausschließlich seinen Körper ein, um an seine Ziele zu gelangen. Der zum Freiheits- und Vernunftwesen gewordene Kulturmensch dagegen verwendet nicht nur natürliche Mittel (wie Steine, Äste etc.), sondern auch künstliche Werkzeuge, um die Natur zu kultivieren und seine Existenz zu sichern. Insbesondere die Verwendung künstlicher Produkte führt nach Rousseau dazu, dass die Kultur zum unaufhaltsamen Untergang des Menschen wird. Mit anderen Worten, der Übergang von der Natürlichkeit zur Geistigkeit (der Kulturmensch ist ein geistiges Wesen) verstärkt die Tendenz zur Depravation. Zu den primären Bedürfnissen, wie dem nach Ruhe, Wasser oder Nahrung, die vom Selbsterhaltungstrieb (instinct de conservation) gesteuert werden, treten nun das Streben nach Luxus oder Macht sowie die Befriedigung des amour-propre. Die Vermehrung dieser Bedürfnisse hat vor allem die politische Ungleichheit zur Folge. Denn während die Menschen im Naturzustand noch gleich waren, sind ihre Verhältnisse im Gesellschaftszustand durch Konflikte, Konkurrenzkämpfe und gegensätzliche Interessen bestimmt. Nach Verlassen des Naturzustandes entwickeln sich Vernunft, Wille und Perfektibilität als Fähigkeiten des Menschen, sich zweckgerichtet zu verändern und dabei zu vervollkommnen. Dank der Perfektibilität ist der Mensch in der Lage, seine Reflexion dahingehend zu bündeln, die notwendig eintretende Selbst- und Weltzerstörung auf einen immer späteren Zeitpunkt zu verschieben. So kommt der Verfallsprozess nach Rousseau auch nach der Einführung des Eigentums und der daraus entstandenen bürgerlichen Gesellschaft zu keinem Ende.18 Mit der Entstehung letzterer erreichten die Denaturierung und die damit einhergehende Zerstörung des Menschen ihren Höhepunkt. J.-J. Rousseau, Emile ou de l’éducation, Livre IV, S. 306. Einzelheiten bei Alexis Philenenko, Jean-Jacques Rousseau et la pensée du malheur, Paris 1984; Reinhard Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, Stuttgart 1973. 17 18

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Rousseau lehrt weiterhin, dass die Vergesellschaftung der natürlichen Ordnung insofern widerspreche, als sie wie ein Zufallsprozess entstehe, bei dem weder die menschliche Vernunft noch eine Willensentscheidung am Werk seien. Mit anderen Worten, die Bildung der Gesellschaft sei kein vernunftmäßiger Akt, sondern vielmehr das Ergebnis einer durch die Leidenschaften herbeigeführten Entwicklung gewesen, die sich der Kontrolle des Menschen entzieht. Bei dieser Entwicklung überwiegen die egoistischen Motive bestimmter Gruppen, die ihre persönlichen Interessen durchsetzen wollen. Dies ist nach Rousseau der Beweis dafür, dass die Leidenschaften sowie der natürliche Instinkt in menschlichen Angelegenheiten im Gesellschaftszustand unvollkommen seien. Die Ungleichheit als Quelle des menschlichen Unglücks sei somit nicht natürlich, sondern ausschließlich gesellschaftlich bedingt. Während Rousseau im Zweiten Diskurs die Zerstörung für unausweichlich hält, schlägt er im Contrat Social einen therapeutischen Ansatz zur Veränderung des menschlichen Schicksals im Gesellschaftszustand vor. Dies ist nur möglich, weil Rousseau den Menschen nun nicht mehr nur „als isoliertes Naturseiendes“19, sondern auch als ein gemeinschaftliches und politisches Wesen auffasst. Es geht ihm dabei um die Untersuchung derjenigen Bedingungen, unter denen eine Gesellschaftsordnung zustande käme, die das Recht aller Menschen auf Freiheit gewährleisten kann. Dies korrespondiert der Einsicht, dass die in der Gesellschaft entstandenen Probleme politischer Natur und daher nur mit politischen Mitteln zu lösen sind.20 So macht er nicht mehr die Gesellschaft als solche, sondern die schlechte Regierung für die weitere Depravation – jetzt weniger des Menschen als der Völker – verantwortlich: „Il est certain que les peuples sont, à la longue, ce que le gouvernement les fait être.“21 Bedenkt man die politischen Zustände in der globalen Welt insbesondere seit dem 20. Jahrhundert, so ist der These Rousseaus zuzustimmen. Denn alle demokratisch regierten Länder billigen ihren Bürgern ein hohes Maß an Grundrechten und Freiheiten zu, während autoritäre und diktatorische Regimes die Menschenwürde massiv verletzen. Gerade diese „menschliche Würde im Menschen, wie er vor aller Gesellschaftlichkeit war“22, möchte Rousseau rehabilitieren. So baut er seine Ethik auf dem Moralprinzip auf, dass der Mensch von Natur aus gut sei und einen ausgeprägten Hang zu Gerechtigkeit und Ordnung habe: „Le principe fondamental de toute morale, sur lequel j’ai raisonné dans tous mes écrits, et que j’ai développé dans ce dernier (Emile) avec toute la clarté dont j’étais capable, est que l’homme est un être naturellement bon, aimant la justice et l’ordre.“23 Kurz: Natürliche Güte Jacob E. Mabe, Die Kulturentwicklung des Menschen, S. 183. J.-J. Rousseau, Les Confessions, Buch X, S. 516 f. 21 J.-J. Rousseau, Discours sur l’économie politique, in: Œuvres complètes, hrsg. von B. Gagnebin und M. Raymond, Bd. III, Paris 1964, S. 241. 22 Jacob E. Mabe, Die Kulturentwicklung des Menschen, S. 9. 23 J.-J. Rousseau, Lettre à Christophe de Beaumont, in: Œuvres complètes, hrsg. von B. Gagnebin und M. Raymond, Bd. IV, Paris 1969, S. 935 f. 19 20

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sowie die Liebe zu Gerechtigkeit und Ordnung bilden die Eckpfeiler, welche die ethische Einheit der Philosophie Rousseaus zum Ausdruck bringen. Doch der Mensch, den Rousseau empirisch untersucht, ist nicht der natürliche Mensch, sondern derjenige, den die Gesellschaft denaturiert und in Widerspruch mit sich selbst gebracht hat. In der Erkenntnis, dass der Mensch aufgrund seiner Leidenschaften, von denen weder die Natur noch die Kultur ihn befreien können, den Weg zurück zur Natur nicht gehen kann, sucht Rousseau das im Zweiten Diskurs geschaffene Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kultur bzw. Gesellschaft nun im Gesellschaftsvertrag aufzuheben. Dennoch bleibt Rousseaus Verhältnis zur Natur als einem vollkommenen Zustand vor aller Geschichtlichkeit unverändert. So fungiert die Natur auch im zweiten Werk als ein Ideal oder ein Anhaltspunkt, der die Evokation ebenso wie die Theoriebildung politischer Ethik überhaupt erst ermöglicht. Davon ausgehend untersucht Rousseau die Bedingungen, unter denen die Lage des Kulturmenschen verbessert werden kann. Als eine unabdingbare Voraussetzung dafür hält er eine radikale Reform der gesellschaftlichen Institutionen. Der Gesellschaftsvertrag ist insofern eine Staatstheorie, die nicht nur den rationalen Weg zu einem Leben in politischer Gemeinschaft weist, sondern zugleich die Ethik Rousseaus evident werden lässt. Damit ist gemeint, dass er das menschliche Leben zum Maßstab seiner philosophischen Orientierung nimmt. Eduard Spranger bemerkt dazu Folgendes: „Er bleibt nicht stehen bei der Isolierung des Menschen in sich selbst, sondern stellt ihn hinein in alle realen Lebensverhältnisse, rettet ihn an den Staat.“24

IV. Governance und Demokratie Governance ist eine neue Logik des Regierens im Zusammenspiel zwischen staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen sowie privatwirtschaftlichen Akteuren.25 Mit Governance sollen die Exklusivität des Staates bei der Organisation und Steuerung des gesellschaftlichen Lebens oder Handelns aufgehoben und die klassischen Organe der Exekutive zur egalitären Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen animiert werden. Anstelle der obrigkeitlich orientierten vertikalen Strukturen, an deren Spitze der Staat steht, soll ein komplexes, national wie international vernetztes Interdependenzverhältnis entstehen, das für das politische Handeln und Regieren bei der Lösung von lokalen und globalen Problemen weitgehend repräsentativ ist. 24 Eduard Spranger, Jean-Jacques Rousseau: Kulturideale. Eine Zusammenstellung aus seinen Werken mit Einführung von Eduard Spranger, übersetzt von Hedwig Jahr, Jena 1908, S. 29. 25 Vgl. Josef Wieland, Die Ethik der Governance, 5. Aufl., Marburg 2007; Walther C. Zimmerli / Klaus Richter / Markus Holzinger (Hrsg.): Corporate Ethics and Corporate Governance, Berlin and Heidelberg 2007.

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Diese neue Form der Kooperation findet im Dialog statt und erstreckt sich auf alle politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bereiche, von den politischen Verbänden bis zur Finanz- und Medienwelt. Der Governance-Akt soll das konstruktive Zusammenwirken ermöglichen und helfen, politische Entscheidungsprozesse zu beschleunigen.26 So versteht auch Rousseau das Regieren nicht als ein hierarchisiertes Herrschaftssystem, welches Gesetze von oben erlässt, die den sozialen Verbund zerstören und gerade jene horizontalen Strukturen verhindern, die das Mitwirkungsrecht der einzelnen Bürger fördern sollten. Über „bizarre Religionen“ heißt es in diesem Sinne: „Tout ce quirompt l’unité sociale ne vaut rien; toutes les institutions qui mettent l’homme en contradiction avec lui-même ne valent rien.“27 Mit seiner klaren Option für eine politische Lösung des Ungleichheitsproblems suggeriert Rousseau, dass er keine andere Möglichkeit sieht, die soziale Ungerechtigkeit zu überwinden. Damit will er erreichen, dass die Vernunft an die Stelle der Leidenschaften tritt, nicht jedoch um der Domestizierung der Leidenschaften willen, sondern mit dem Ziel der Selbstdisziplinierung des Menschen trotz aller Leidenschaften. Die Rolle der Vernunft besteht dabei darin, den menschlichen Handlungen diejenige Form von Moralität zu verleihen, die ihnen im korrumpierten Gesellschaftszustand abging. Betrachtet Rousseau den Menschen auch nicht als ein politisches Lebewesen von Natur aus, so weiß er wohl, dass der Mensch über die Möglichkeit verfügt, sich zu politisieren, d. h. sich mit anderen zusammenzuschließen, wenn es notwendig wird, indem er von seiner Vernunft Gebrauch macht. Entscheidend für ein gutes Regieren ist dabei nach Rousseau, dass es dem Menschen die Möglichkeit gibt, in Harmonie mit sich und seinen Mitbürgern zu leben. Dies trifft nach seiner Ansicht ebenso für die Demokratie zu wie für die Aristokratie und Monarchie. Eine gute Regierung muss zudem die Einheit des Volkes sichern, egal, ob es sich um ein Königreich handelt, wie etwa in Großbritannien (außer Nordirland), Schweden, Japan oder den Niederlanden, oder eine liberale Republik, wie in manchen Staaten Westeuropas und Nordamerikas. Dagegen sind die Ziviloder Militärdiktaturen in manchen Ländern Afrikas, Asiens und Osteuropas insofern ausgeschlossen, als sie auf einem illusorischen Egalitätsprinzip aufbauen, welches die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher macht. Welche Konsequenzen lassen sich aus der Regierungslehre Rousseaus für die Governance-Ethik unserer Zeit ziehen? Die Demokratieethik Rousseaus erhebt insofern den Governance-Anspruch, als dass sie als moralische und normative Orientierung für die politische Praxis all derjenigen Staaten gelten kann, die sich zu den Prinzipien des Regierens durch gleiche Partizipation aller bürgerlichen Gruppen bekennen. Weiterhin legt sie die Maßstäbe ebenso für die bürgerliche Moral und Freiheit wie für die Menschenrechte, die soziale Sicherheit und die gerechte Verteilung 26 Weitere Details bei Michael Behrens (Hrsg.), Globalisierung als Herausforderung. Global Governance zwischen Utopia und Realität, Wiesbaden 2005. 27 J.-J. Rousseau, Du Contrat Social, S. 214.

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von wirtschaftlichem Wohlstand und Arbeit fest. Ferner schließt Rousseau keine Regierungsform aus, vorausgesetzt, sie kann das Zusammenleben der Menschen auf gesetzlicher Grundlage organisieren und nachhaltig steuern, wie den folgenden Zeilen zu entnehmen ist: „Ich habe keine Regierungsform verworfen, ich verachte keine einzige. Indem ich sie untersuchte und verglich, hielt ich die Waage und beobachtete das Gewicht: mehr habe ich nicht getan.“ Er fährt fort: „Statt alle Regierungen zu zerstören, habe ich sie alle begründet“, denn „die Grundlagen des Staates sind in allen Regierungsformen dieselben.“28 Eine bloße Ordnung in die Gesellschaft einzuführen, bedeutet nach Rousseau noch nicht, sie zu regieren. Regieren besteht in erster Linie im richtigen Gebrauch der Vernunft zwecks gesetzmäßiger Entscheidungen im Dienste aller den Gesellschaftsvertrag unterzeichnenden Bürger: „Le traité social a pour fin la conservation des contractants.“29 Rousseau möchte mit dem Gesetzesstaat erreichen, dass die Autorität eines Staates nicht auf Gewalt beruht, wie dies im Gesellschaftszustand der Fall ist, sondern lediglich auf Gesetzen, die sich die Bürger frei und souverän geben. Regieren setzt weiterhin voraus, dass ethische Bedingungen zunächst und vor allem in der Erziehung und Bildung bereitgestellt werden, um die Menschen darauf vorzubereiten, als freie Bürger an der Bildung ihrer Einheit im Staat aktiv mitzuwirken. Denn rational wird nur regiert, wenn Einheit im Staat herrscht und alle Bürger am Gemeinwillen teilhaben. Der Gemeinwille ist das Vermögen eines jeden Bürgers, das zu sein, was er will, und der Mensch hat nichts anderes in den Staat einzubringen als sich selbst. Rousseau erklärt dies, wie folgt: „Pour qu’une volonté soit générale, il n’est pas toujors nécessaire qu’elle soit unanime, mais il est nécessaire que toutes les voix soient comptées; toute exclusion formelle rompt la généralité.“30 Der Gemeinwille hat außerdem zum Ziel, die Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit und sozialer Gleichheit zu gewährleisten. Worin besteht nun die Einheit im Staat? Rousseaus Antwort lautet: In der Vereinigung seiner Bürger. Woraus entspringt die Vereinigung? Aus der Verbindlichkeit, die alle Mitglieder miteinander verbindet. Was ist die Grundlage für diese Verbindlichkeit? Nicht die Gewalt oder eine transzendente Ordnung, sondern allein die freiwillige Übereinkunft der Menschen, d. h. der Vertrag. Das Regieren hat mithin zum Ziel, die Gesetze gemäß dem Gesellschaftsvertrag auszuüben sowie die bürgerlichen und politischen Freiheiten zu erhalten; die Gesetze sind somit die Bedingung der zivilen Vereinigung: „Les lois ne sont proprement que les conditions de l’association civile.“31

28 J.-J. Rousseau, Briefe vom Berge, sechster Brief, in: Rousseau. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Hrsg. von Winfried Schröder, 1. Aufl., Berlin 1993, S. 255. 29 Contrat Social, S. 94. 30 Contrat Social. Notes de Jean-Jacques Rousseau, page 84 (a), a. a. O., S. 223. 31 Ibid., S. 99. Siehe auch Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 3. Aufl., Frankfurt / M. 1975.

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Was die politische Erziehung betrifft, so besteht ihre Rolle darin, dem Menschen zu helfen, zur Erkenntnis seiner selbst als Individuum und Gattungswesen sowie zu einem Handeln nach diesen Prinzipien zu gelangen. Im Emile entwirft Rousseau ein sehr umstrittenes Erziehungsmodell, auf das hier nicht näher eingegangen werden soll. Erwähnenswert ist nicht, was er über Kinder, sondern was er über Erwachsene sagt. Letztere sollen dazu befähigt werden, die Regeln, die Tugenden und die Gesetze des Handelns zu kennen. Kurz: Sie sollen zu Bürgern erzogen werden. Hieraus entwickelt sich der neue ethische Horizont Rousseaus, nämlich den Aufstieg des Menschen in die Bürgergemeinschaft zu fördern. Da eine Rückkehr in die Natur nicht möglich ist, müssen sich die einzelnen Menschen zu einer Gemeinschaft der Bürger zusammenschließen. Denn nur eine solche Gemeinschaft hält den Staat zusammen. Mit dem Gesellschaftsvertrag, der aus Vernunft (als Denkvermögen, das Erkenntnisse und Handlungen orientiert) geschlossen wird, verzichten die Individuen freiwillig auf ihre partikulären Interessen und Rechte zugunsten eines gemeinsamen Ich. Dieser Vertrag unterscheidet sich von den Konventionen im Gesellschaftszustand, die das Recht des Stärkeren schützen und die Freiheit der Schwächeren einschränken. Rousseau entwirft vielmehr ein Vertragsmodell, das jede Form der politischen Ungleichheit und des sozialen Ungleichgewichts abschafft. Mit diesem Ordnungsmodell will er die verlorene natürliche Freiheit des Menschen rehabilitieren. Rousseau bringt zudem eine Gesetzgebung ins Spiel, die aus der freien Übereinkunft der Bürger unter der Leitung des Gemeinwillens hervorgehen muss. Danach werden alle Bürger frei und bilden gemeinsam ein Volk sowie eine öffentliche Person als den alleinigen Träger der Souveränität. Diese politische Perspektive bietet zwar eine ideelle Lösung für die juristische Ungleichheit, lässt aber das Grundproblem des Übels offen. Dessen ungeachtet bietet Rousseaus Verfassungstheorie eine normative Perspektive, die darin besteht, ein Gesetz zu realisieren, das dem gesamten Staatsapparat zugrunde liegt, die Beziehungen zwischen seinen Institutionen regelt und die bürgerlichen Freiheiten sowie die Menschenrechte garantiert. Eduard Spranger ist daher beizupflichten, wenn er das Gesetz im Sinne Rousseaus als „die Verkörperung des sittlichen Geistes im Staat“32 bezeichnet. Mit seiner Ethik beweist Rousseau, dass nicht alles theoretische Erkennen in Aporien mündet. Die Demokratie als Regierungsform ist nur dann ethisch und rational begründet, wenn das Volk als Gemeinschaft der Bürger das Recht hat, über sich selbst zu bestimmen und zu entscheiden. Darin besteht das Wesen der Souveränität als der Ausübung des Gemeinwillens. Mit dem Gemeinwillen tritt das Volk als politischer Körper in Form einer freien und einheitlichen Subjektivität auf. Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit sind Attribute dieser Souveränität, die nach Rousseau untrennbar mit der bürgerlichen und 32

E. Spranger, Jean-Jacques Rousseau: Kulturideale, S. 32.

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moralischen Freiheit des Menschen verbunden ist. Doch die Souveränität ist kein Vermögen, auf das man verzichten oder das man verschenken oder einfachhin delegieren kann. Rousseau setzt sie sogar mit dem Volk gleich, das nur in seiner Ganzheit und Einheit zu betrachten ist, wobei er seinen Volksbegriff mit allen Kulturen und Nationen verbindet: „C’est le peuple qui compose le genre humain[…] l’homme est le même dans tous les états.“33 Zusammengefasst will Rousseau mit seiner Lehre der Souveränität erreichen, – dass die Selbsterhaltung durch Gesetze geregelt wird, die ausschließlich der Erhaltung aller dienen; er weist damit den Gesetzen die moralische Funktion zu, nur gemeinschaftlichen Nutzen zum Ziel zu haben; – dass nicht mehr das natürliche Mitleid und der Selbsterhaltungstrieb die Handlungen des Menschen im Staat bestimmen, sondern die Vernunft und das Gesetz; – dass aus der Selbstliebe weniger Patriotismus als Barmherzigkeit (charité), Bürgersinn, Staatsgeist, Toleranz und Nächstenliebe hervorgehen

Trotz aller Kritik an der Wissenschaft und den Künsten lässt Rousseau das Wissen über die Unwissenheit mit dem Argument triumphieren, dass es besser sei, aus pervertierten Menschen Gelehrte zu machen, als sie in der Ignoranz zu belassen: „Quand les hommes sont corrompus, il vaut mieux qu’ils soient savants qu‘ignorants.“34 Die Entstehung der gemeinschaftlichen Vernunft, die das Gemeininteresse über alle partikulären Interessen stellt, führt unweigerlich dazu, dass die mit der Selbstsucht verbundene Macht der Begierde schwindet. Das Erkennen von gemeinsamen Interessen verhilft den Bürgern zur Bildung einheitlicher Begriffe, Normen, Werte und Gesetze, insofern sie sich darauf verständigen können, ob etwas allgemein gut oder schlecht sei. Kurz: Das rationale und demokratische Regieren macht den Staat zu einem Ort des Gemeinwohls und Glücks für alle. Aus interkultureller Sicht ermöglicht die politische Bildung und Erziehung nicht nur das Erkennen von kulturellen Gemeinsamkeiten im Hinblick auf eine Ethik, sondern auch die Bildung eines Moralkodex, der den Regelungen globaler Entscheidungen und Handlungen über Recht, Gesetz, Gerechtigkeit, Freiheit und Macht zugrunde liegen soll. Doch die politische Erziehung setzt dringend voraus, dass ethische Theorien aus den moralischen Einsichten, Urteilen und Prinzipien aller Völker stammen. Letztere müssen allerdings im Dialog zwischen Philosophen, Wissenschaftlern, Kirchen, Regierungen und sonstigen zivilgesellschaftlichen oder privatwirtschaftlichen Akteuren aus verschiedenen Ländern diskutiert werden. Auf diese Weise lässt sich nicht zuletzt ein globaler Standard für Sozial- und Rechtsstaatlichkeit realisieren.

J.-J. Rousseau, Emile ou de l’éducation, Livre IV, troisième maxime, S. 292. Jean-Jacques Rousseau, Narcisse ou l’amant de lui-même, comédie, in: Œuvres complètes, hrsg. von B. Gagnebin und M. Raymond, Bd. IV, Paris 1961, Vorwort, S. 971. 33 34

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Summary Hardly any other modern thinker has demanded so much of his readers and interpreters as Jean-Jacques Rousseau. Anyone who reads his works will find new impetus for contemplation and further thought. In his time, Rousseau pursued answers to many questions that are also very pertinent to our present global world. What marks his philosophy and gives it relevance today is its intercultural valency and interdisciplinary quality. Through his methodical blending of literature, cultural studies, and philosophy, Rousseau makes interdisciplinary interpretation of his theory possible and facilitates access to his work by philosophers, educators, philologists, political scientists, sociologists, ethnologists, anthropologists, linguists, lawyers, etc. With his government theory, Rousseau tries to establish an ethic that makes people’s lives possible in a state-run community. This article examines Rousseau’s democratic ethic in an intercultural light and shows that, in respect to its claim to governance, it can serve as a moral and normative orientation for political practice in all states committed to governmental principles through equal participation of all civic groups. Furthermore, it also sets standards for civil morality and freedom and for human rights, social security, and equitable distribution of economic wealth and employment in the global world.

Bürgerschaft und Freundschaft Über eine mögliche Lösung des problème fondamental Elif Özmen

Zwei Jahrzehnte nach der Französischen Revolution spricht Benjamin Constant im Pariser Athénée Royal Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen und führt eine Unterscheidung zwischen antikem und modernem Freiheitsverständnis ein, deren systematischer Gehalt auch gegenwärtig noch die politikphilosophischen Debatten um Freiheit prägt. So wird etwa Isaiah Berlins mittlerweile klassisch zu nennende konzeptionelle Differenzierung von negativer und positiver Freiheit von Constant vorweggenommen bzw. philosophiehistorisch verortet.1 Die (negative) Freiheit der „Heutigen“ interpretiert er als das „Recht, nur den Gesetzen unterstellt zu sein, das heißt, nicht auf Grund willkürlicher Willensentscheidungen einer oder mehrerer Personen verhaftet, gefangengesetzt, hingerichtet noch in irgendeiner Form mißhandelt zu werden (…), kommen und gehen zu können, ohne deswegen um besondere Erlaubnis nachsuchen zu müssen oder es nötig zu haben, über seine Beweggründe und Vorhaben Rechenschaft abzulegen.“2

Für die „Alten“ besteht (positive) Freiheit hingegen darin „gemeinsam mit anderen aber direkt einen erheblichen Teil der gesamten Souveränität auszuüben“, dabei mischt sich in „die Dinge, die uns als die nützlichsten gelten (…) die öffentliche Gewalt ein und hemmt den Willen des einzelnen“, zugleich aber wird „die vollständige Unterordnung des einzelnen unter die Herrschaft der Gesamtheit mit dieser kollektiven Freiheit für vereinbar“ gehalten.3 1 Isaiah Berlin, „Zwei Freiheitsbegriffe“, in: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a. M.: Fischer, 2006, S. 197 – 256. 2 Benjamin Constant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen, in: Werke in vier Bänden, Bd. 4, in der Übersetzung von E. Rechel-Mertens, Berlin: Propyläen, 1972, S. 363 – 396, hier S. 367. Das ist eine treffende Beschreibung dessen, was Berlin mit „negativer Freiheit“ meint, denn diese „bezeichnet den Bereich, in dem sich ein Mensch ungehindert durch andere betätigen kann“, Berlin (Fn. 1), S. 201. Zwar muss die menschliche Handlungsfreiheit im Interesse der gleichen Freiheit aller „gesetzlich eingegrenzt werden“, aber hierbei muss es zugleich „einen bestimmten persönlichen Freiraum geben (…), der unter keinen Umständen verletzt werden dürfe“, S. 203. Dieser Freiraum wird durch die „Freiheit von etwas“ (Ebd.), d. h. durch individuelle liberale Abwehrrechte garantiert. Berlin ist (wie wahrscheinlich auch Constant) der Auffassung, dass dieser Freiheitsbegriff „kaum weiter zurückreicht als bis in die Renaissance oder die Reformzeit“, S. 209.

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Jean-Jacques Rousseau kommt in der Analyse Constants bereits die ambivalente Bewertung zu, die auch die zeitgenössische Perspektive auf sein Werk prägt: einerseits ist er der „erhabene Genius, der von der reinsten Liebe zur Freiheit beseelt war“ und deswegen mit John Locke, Immanuel Kant und John Stuart Mill zu den wichtigsten Autoren des klassischen Liberalismus zu zählen ist.4 Andererseits kritisiert Constant Rousseau als sehnsuchtsvoll rückwärtsgewandten Denker, der, „indem er ein Maß an gesellschaftlicher Macht, an kollektiver Souveränität, die in andere Jahrhunderte gehörte, in unsere modernen Zeiten überführen wollte, für mehr als eine Form der Tyrannei verhängnisvolle Vorwände geliefert hat.“5 Wieso aber Rousseau dieses „alte“, mithin anti-moderne Verständnis von kollektiver Souveränität lebendig halten wollte, wenn doch die Zeiten und Bedürfnisse der Menschen nach individueller Freiheit, Selbstbestimmung und persönlicher Unabhängigkeit verlangten, diese Frage lässt Constant weitgehend unbeantwortet. Auch viele zeitgenössische Interpreten der politischen Philosophie Rousseaus hadern mit den Ambivalenzen und widersprüchlichen Elementen dieses Werks, sei es, dass sie in der Nachfolge Constants das Nebeneinander von zwei Freiheitsbegriffen feststellen, sei es, dass sie eine Spannung zwischen Individualismus und Kollektivismus, Voluntarismus und Einheitsdenken, neuzeitlichen und antiken oder vertragstheoretischen und ethosbezogenen Überlegungen belegen.6 Ein möglicher Erklärungsansatz führt diese methodischen und begrifflichen Vermischungen darauf zurück, was Rousseau als das grundlegende Problem der Begründung der politischen Ordnung verstanden hat, nämlich die Vereinbarkeit der für die Geltung und die normative Kraft des Gesellschaftsvertrages notwendigen vorbehaltlosen Entäußerung des Einzelnen mit seiner individuellen Freiheit. Wie lässt es sich zusammenzudenken, dass der Ein-

3 Constant (Fn. 2), S. 368. Für Berlin leitet sich „positive Freiheit“ zwar „aus dem Wunsch des Individuums ab, sein eigener Herr zu sein“, Berlin (Fn. 1), S. 211, und diese individuelle Souveränität ist auch politisch wirksam zu machen. Aber das gelingt nur unter Preisgabe der individuellen Freiheit – der „Dinge, die uns als die nützlichsten gelten“ – für etwas, „das größer ist als das Individuum, [für] ein gesellschaftliches ‚Ganzes‘, an dem das Individuum nur teilhat: Stamm, Rasse, Kirche, Staat“, S. 212. Vgl. auch Robert Wokler, Rousseau’s two concepts of liberty, in: George Feaver (Hrsg.), Lives, Liberties and the Public Good. New Essays in Political Theory, New York: St. Martin’s Press, 1987, S. 61 – 100. 4 Beispielhaft für die liberale Interpretation Rousseaus sind die Vorlesungen zum Gesellschaftsvertrag von John Rawls, Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2012, S. 285 – 363. 5 Constant (Fn. 2), S. 379. Eine totalitaristische Interpretation Rousseaus findet sich in Lester G. Crocker, Rousseau’s ‚social contract‘: An interpretive essay, Cleveland: Case Western Reserve Press, 1968, und Jacob L. Talmon, The rise of totalitarian democracy, London: Seeker & Warburg, 1952. 6 So schon C. E. Vaughan, The political writings of Jean-Jacques Rousseau, 2 Bde., Cambridge: Cambridge University Press, 1915, und Ernst Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970. Die Widersprüche zwischen antikem und modernem Denken würdigt insbesondere Patrick Riley, „A possible explanation of Rousseau’s general will“, in: The American Political Science Review LXIV, No.1, Washington: APSA, 1970, S. 86 – 97.

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zelne, „indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor?“7 Die folgenden Überlegungen bemühen sich um eine konstruktive Interpretation des problème fondamental mit Rückgriff auf eine zeitgenössische Debatte der politischen Philosophie, die die politische und soziale Funktion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des bürgerschaftlichen Engagements betrifft. Zunächst werden zwei Perspektiven der politischen Philosophie skizziert, die mit ihrem Fokus auf den „bürgerlichen Angelegenheiten“ und der „Konfliktlösung“ für historisch und systematisch verschiedene Begründungsfragen der politischen Philosophie stehen (I). Rousseaus politische Theorie weist charakteristische Elemente aus beiden Perspektiven auf, was als Konsequenz einer unzulänglichen Lösung des grundlegenden Problems der Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Souveränität interpretiert werden kann (II). Eine mögliche Lösung des problème fondamental, die sich aus der Perspektive der bürgerlichen Angelegenheiten anbietet, ist die gemeinschaftliche Integration der Bürger durch „politische Freundschaft“. Diese antike Konzeption erfährt gegenwärtig eine Renaissance, zugleich bedient sich Rousseau, trotz seiner Begeisterung für die antike politische Philosophie, ihrer bemerkenswerterweise nicht. Ich versuche abschließend zu zeigen, dass die Gründe für diese Zurückhaltung in einem Demokratie- und Gemeinschaftskonzept liegen, das sich sowohl von dem der Heutigen wie auch der Alten unterscheidet. Weder ist die Rousseausche Republik eine deliberative Demokratie, noch ist die Bürgerschaft, aus der sich der Gemeinwille schöpft, durch politische Freundschaft vereinigt (III).

I. Die Gemeinschaft der Alten und der Heutigen Für die Constantsche Unterscheidung von Alten und Heutigen stehen im Folgenden zwei Perspektiven der politischen Philosophie, die in Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags gleichermaßen, aber in einem unauflösbar spannungsvollen Verhältnis zum Tragen kommen.8 Die erste Perspektive der Philosophie der bürgerlichen Angelegenheiten meint eine insbesondere für die antike Philosophie charakteristische Gleichsetzung von Politik und Bürgerschaft, die der altgriechischen Bedeutung von politikos für „bürgerlich“ und ta politika für die „bürgerlichen Angelegenheiten“ nachfolgt. Demzufolge hat das, was nur die einzelnen Menschen etwas angeht, seinen Ort im häuslichen Privaten; in der politischen Öffentlichkeit wird hingegen nur diskutiert, ver-

7 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in der Übersetzung von Hans Brockard, Stuttgart: Reclam, 2003, Buch I.6, S. 17, Hervorhebung EÖ. Im Folgenden abgekürzt als GV. 8 Was hier nur skizziert werden kann, ist ausführlich dargestellt in Elif Özmen, Politische Philosophie, Hamburg: Junius, 2013, Kap. 1 und 2.

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handelt, entschieden und praktiziert, was die Angelegenheit aller Bürger sein kann. Diese Differenz von oikos und polis bzw. Mensch und Bürger ist jedoch nicht kategorial zu verstehen, insofern es sich zwar um sachlich und räumlich verschiedene, aber aufeinander verweisende, gleichermaßen natürliche Aspekte des menschlichen Lebens handelt. So ist für Aristoteles das Private gewissermaßen schon immer politisch, wie er in den Ausführungen zu den politischen Verhältnissen zwischen Mann und Frau, Vater und Kind, Herr und Sklave demonstriert.9 Es bedarf daher keiner grundsätzlichen Legitimation der politischen Ordnung, der politischen Autorität oder der bürgerlichen Gehorsamspflicht. Der normativen Anthropologie des zoon politikon zufolge ist es dem Menschen als sozialem und politischem Tier wesenhaft, sein eigenes Wohl im Zusammenleben mit anderen anzustreben. Daraus erschließt sich die Normalität der politischen Ordnung: dass der „Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört“, ja sogar ontologischen Vorrang genießt, ist nicht nur für Aristoteles eine Selbstverständlichkeit.10 Die Infragestellung des Staates durch den, der apolis oder idiotes ist, also außerhalb des Staates leben will oder sich der aktiven Bürgerschaft verweigert, politisch gleichgültig und passiv bleibt, ist keine vernünftige menschliche Option und wird als Ausdruck von Hybris oder Unverstand bewertet.11 Das menschliche gute Leben ist nur im Rahmen des guten Zusammenlebens mit anderen Menschen denkbar, hierin realisiert sich sowohl der ureigene Zweck des Menschen wie auch des Staates. Die Begründung der politischen Ordnung ist daher beschränkt auf die Frage nach der gerechten Verfassung bzw. den Grundsätzen, die allen Bürgern gemeinsam und gut sind. Politeia bedeutet daher gerechte Verfassung und Bürgerschaft, insofern eine politische Ordnung gemeint ist, die den Sinn von ta politika erfüllt und das Wohl und das Gute aller in den Blick nimmt. Der Gegenstand der Politik sind somit die bürgerlichen Angelegenheiten, die als ein gemeinsames Maß des gerechten und guten Lebens und Zusammenlebens zu verstehen sind. Zugleich entwickelt die gemeinsame Orientierung am Guten integrative und bindende Kraft: die Gemeinschaft der (in Hinsicht auf ihre Angelegenheiten) Gleichen wird durch politische, d. h. tugendhafte Praxis geeint, harmonisiert und stabilisiert. In je höherem Maße eine spezifische politische Ordnung diese Verknüpfung von Ethik und Ethos leistet, desto „politischer“ ist sie. Die Tyrannis ist nicht nur die schlechteste, weil dem gerechten und guten Leben der Bürger abträglichste Verfassung, sondern sie ist auch am wenigsten politisch. Dadurch, dass der Tyrann nur seinen eigenen Vorteil verfolgt, wird der Sinn von ta politika völlig 9 Die politischen bzw. Rechtsverhältnisse innerhalb des oikos werden in den Kapiteln zur „Ökonomie“, verhandelt, vgl. Aristoteles, Politik, in der Übersetzung von Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner, 1995, Buch I.4 – 13. 10 Ebd., Buch I.2 (1253a): „Hieraus erhellt also, daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist, und daß jemand, der von Natur und nicht bloß zufällig außerhalb des Staates lebt, entweder schlecht ist oder besser als ein Mensch. (…) Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als die Familie.“ 11 Der „schlecht ist oder besser als ein Mensch“ ist eben weniger, ein Tier, oder mehr als ein Mensch, ein Gott.

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verfehlt. Umgekehrt ist die beste, gerechteste und dem guten Leben zuträglichste Verfassung der Politie zugleich in höchstem Maße politisch, denn sie ist eine Gemeinschaft von Gleichen und Gleichgesinnten, die „abwechslungsweise und auf der Basis der Gleichheit“ regieren.12 Die zweite, neuzeitliche Perspektive der Philosophie als Konfliktlösung bezieht sich nicht mehr auf das Gute im Sinne des gemeinsamen Wohls und des gemeinschaftlichen Engagements, sondern ist gegenüber Fragen der persönlichen Lebensführung, der individuellen oder kollektiven Exzellenz und der durch ein gemeinsames Ethos verbundenen Gemeinschaft autonom. Unabhängig davon, wie der Einzelne leben und handeln sollte, damit er und sein Leben gut und tugendhaft sind, stellt sich eine genuin politische Frage: die Frage nach der Legitimität der politischen Ordnung. Die normative Anthropologie der zoon politikon-Bestimmung hat hier ihre normative Relevanz ebenso verloren wie die daran anschließende Vorstellung eines ethisch-politischen Sachgebiets der bürgerlichen Angelegenheiten. Die politische Ordnung muss nunmehr erst überhaupt begründet werden: weder ist sie von Natur aus, noch Selbstzweck, sondern eine künstliche, durch Verträge und Übereinkommen geschaffene Ordnung. Sie erhält ihre Berechtigung und ihren Zweck erst im Rahmen eines Begründungsprozesses, in dem die Willensbildung und übereinstimmende Willensäußerung der von Herrschaft betroffenen Individuen konstitutiv sind. Anarchie ist somit eine (hypothetische) Option, die ihren systematischen Ort in einem vorpolitischen, vorsozialen und vorethischen Ausgangspunkt der Begründung der politischen Ordnung findet: dem kontraktualistischen Naturzustandsszenario. Die Bewältigung der Konflikte, die im Naturzustand zwischen den Menschen zu erwarten und nicht durch die ihnen zur Verfügung stehenden individuellen Mittel aufzulösen sind, geben dieser Perspektive der politischen Philosophie ihren Gegenstand. Daher wird der vorrangige Berechtigungsgrund politischer Ordnungen in einem Verfahren der Konfliktlösung gesehen, primär der Monopolisierung und Institutionalisierung von bestimmten Normierungs-, Sanktionierungsund Regelungskompetenzen. Das politische Verfahren der Stabilisierung einer durch Rechtsunsicherheit, drastische Konflikte und gegebenenfalls gewalttätige Auseinandersetzungen zerrissenen Gemeinschaft, ihre Befriedung mit den Mitteln von Gesetzen und Sanktionen, stehen im Zentrum dieser Konzeption. Zwei Theorielinien lassen sich unterscheiden. Die erste, mit dem Namen von Thomas Hobbes verbundene, separiert Politik und Moral. Jeder Mensch ist dem anderen Menschen ein grausamer Wolf, die zu erwartenden Konflikte dynamisieren sich daher zu einem kriegerischen, für alle nachteiligen Zustand. Zu dessen Befriedung erscheinen alle Mittel rechtens, die rational und effektiv sind und zu denen der Staat in der Lage ist – selbst wenn er sich damit gegen die Bürgerschaft bzw. einzelne Bürger richtet. In der zweiten Theorielinie, für die etwa John Locke steht, werden Politik und Moral naturrechtlich aufeinander bezogen und die Mittel bestimmt bzw. be-

12 Aristoteles, Nikomachische Ethik, in der Übersetzung von Olof Gigon, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1998, Buch VIII.13 (1161a).

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grenzt, die bei der Einhegung der Konflikte überhaupt ergriffen werden dürfen mit Rücksicht auf die Rechte, die jedem Menschen vor aller Politik zukommen.13 Beiden Theorielinien ist aber die Vorstellung gemeinsam, dass Politik keine Tugend, sondern eine Technik der Konfliktlösung durch Recht und Ordnung ist. Politik schafft auch keine Tugend im Sinne einer Ethos-Gemeinschaft, sondern sie folgt dem Gedanken einer freiwilligen vernünftigen Übereinkunft von sich selbst bindenden Individuen zu einer Kooperationsgemeinschaft zum wechselseitigen Vorteil.

II. Über den Gesellschaftsvertrag und die Sittlichkeit, die er selbst nicht garantieren kann Folgt man dem Titel des politischen Hauptwerks Jean-Jacques Rousseaus Du contrat social ou principes du droit politique und seinen ersten Sätzen: „Ich will untersuchen, ob es in der bürgerlichen Ordnung irgendeine rechtmäßige und sichere Regel für das Regieren geben kann; (…) Ich werde mich bemühen, (…) das, was das Recht zuläßt, stets mit dem zu verbinden, was der Vorteil vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Nutzen nicht getrennt gefunden werden“,14

wird man es vorbehaltlos der kontraktualistischen und konstitutionalistischen Tradition zuordnen und unter der Perspektive der Philosophie der Konfliktlösung verhandeln. Und dafür spricht einiges: zuvorderst die das ganze Werk durchziehende, stellenweise emphatische Herausstellung der gleichen Freiheit als höchstem moralischen und politischen Gut.15 Desweiteren ist das Vertragsmotiv, das sich schon im Titel findet, die rechtfertigungstheoretische Grundlage der gerechten Gesellschaft, 13 So ist zwar der Naturzustand bei Locke ein konfliktreicher, tendenziell kriegerischer Zustand, aber es gibt bereits Individualrechte, die den Handlungen Dritter Grenzen setzen, siehe John Locke, Zweite Abhandlung zur Regierung, in der Übersetzung von Hans Jörn Hoffmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, § 5, S. 201: „Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet“, nämlich dazu, „daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.“ Im Gegensatz dazu Thomas Hobbes, Leviathan: Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, in der Übersetzung von Walter Euchner, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1966, S. 99: „Das natürliche Recht (…) ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht.“ 14 GV I.1, S. 5. 15 Einige Beispiele sind „Der Mensch ist frei geboren, und überall legt er in Ketten“, GV I.1, S. 5; „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. (…) [S]einem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen“, GV I.4, S.11; „daß nämlich der Gesellschaftsvertrage unter den Bürgern eine Gleichheit von der Art schafft, daß sie sich alle unter den gleichen Bedingungen verpflichten und sich der gleichen Rechte erfreuen dürfen“, GV II.4, S. 35; „Wo Recht und Freiheit alles bedeuten, zählen die Nachteile nichts“, GV III.15, S. 104.

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die laut Rousseau eben nicht als reine „Anhäufung“ von Privatinteressen und Privatpersonen verstanden werden kann, sondern eine gemeinwohlorientierte „Form des Zusammenschlusses“ darstellt, beruhend auf einer „ersten Übereinkunft“, wobei die „Bestimmungen dieses Vertrages durch die Natur des Aktes vorgegeben“ sind.16 Die politische Ordnung ist somit weder auf schierer Macht gegründet, der das „Recht des Stärkeren“ zuredet, noch ist sie von Natur aus, sondern ein durch Vereinbarungen konstituiertes, künstliches Gebilde: „Da kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und da Stärke keinerlei Recht erzeugt, bleiben also die Vereinbarungen als Grundlage jeder rechtmäßigen Herrschaft unter Menschen.“17 Man müsste ergänzen, dass die Konventionalität der politischen Ordnung auch für unrechtmäßige Herrschaft gilt, denn die historische Genese des Staates, wie sie im zweiten Diskurs über die Ungleichheit dargestellt wird, beruht auch dann auf Vereinbarungen, wenn die Reichen lediglich „Scheingründe“ ersinnen, um sich ihrer Vorteile durch Recht und Staat zu versichern. Politische Ordnungen verlangen also grundsätzlich die Zustimmung derjenigen, die von Herrschaft betroffen sind, selbst dort, wo diese Willensbekundungen auf falschen Gründen beruhen. Auch für diesen Fall deutet Rousseau an, dass die Menschen „genügend Vernunft [hatten], um die Vorteile einer politischen Einrichtung zu ahnen,“18 dass also Nutzenerwägungen die individuelle Zustimmung anleiteten. Allerdings fehlte es den Menschen an der Erfahrung, dem Misstrauen und der Reflexionsfähigkeit, um die Unrechtmäßigkeit dieser ersten Vergesellschaftung einzusehen. Die leitende Frage des Gesellschaftvertrags ist demgegenüber eine normative: Sie betrifft die Legitimität der politischen Ordnung, ihre „Rechtmäßigkeit“.19 Das Argument von den vernünftigen individuellen Vorteilen einer politischen Ordnung behält zwar seine Gültigkeit – schließlich sollen „Gerechtigkeit und Nutzen nicht getrennt“ werden –, und es gibt jedenfalls einen Hinweis auf die Konfliktträchtigkeit des Naturzustandes, so dass die Vergesellschaftung jedem vorteilhaft erscheinen müsse.20 Aber die Frage der Gerechtigkeit geht in der Frage des Nutzens nicht

16 GV I.5 und 6, S. 15 und 17. Zugleich fehlt der Begründungsfigur des Vertrags ein Kernstück, nämlich der Naturzustand. Dieses Problem, das auch das Verhältnis von Diskurs und Gesellschaftsvertrag betrifft, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ich folge hier Karlfriedrich Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg: Könighausen & Neumann, 1989. Dass sich die Werke systematisch aufeinander beziehen lassen meint dagegen Robert Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, Paris: PUF, 1950. 17 GV I.4, S. 10. In GV I.1 und I.3 werden sowohl das machttheoretische als auch das naturalistische Paradigma, anders gesagt, sowohl Kallikles als auch Aristoteles kritisiert. 18 Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, in der Übersetzung von Heinrich Meier, Paderborn: Schöningh, 2001, S. 217 f. Eine vergleichbare Stelle findet sich in Rousseau, Emil oder über die Erziehung, in der Übersetzung von Ludwig Schmidts, Paderborn: Schöningh, 1971. Im Folgenden abgekürzt als Emil. 19 GV I.1, S. 6: „Einer hält sich für den Herren des anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.“

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auf, ist ihr vielmehr lexikalisch vorgeordnet. Es kann einen Zusammenschluss von rationalen Egoisten zum wechselseitigen Vorteil geben, der zutiefst ungerecht ist. Rousseaus Kritik an Thomas Hobbes ist in diesem Sinne zu verstehen: Der Nutzen des absolutistischen Leviathan bezüglich der Befriedung der drastischen Naturzustandskonflikte mag zweifellos sein, aber der Preis, der für diese „bürgerliche Ruhe“ individuell zu leisten ist, ist nicht nur zu hoch, sondern unanständig und unvernünftig. Wer ihn dennoch bezahlt und seine Freiheit um der Sicherheit willen aufgibt, ist schlicht nicht bei Verstand.21 Die kritische Distanz Rousseaus zur kontraktualistischen und naturrechtlichen Tradition hat aber noch einen zweiten Ursprung in dem Zweifel, dass die Vergesellschaftung durch das Recht die Einheit und die Stabilität des Gemeinwesens garantieren könne. Das Ergebnis des auf wechselseitigem Vorteil beruhenden Vertragsschlusses ist die durch das staatliche Gewaltmonopol sanktionierte Rechtstreue, aber diese rechtliche Verpflichtung rationaler Egoisten kann schwerlich die Art und die Tiefe von Bindung schaffen, die für eine gemeinwohlorientierte bürgerschaftliche Gemeinschaft notwendig erscheint. Die aliénation totale „jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes“22 konstituiert zwar, ganz in der kontraktualistischen Logik, den body politic, indem „jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens“ stellt.23 Aber dieser „Körper, [der] jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen“24 aufnimmt, ist keine schlicht nützliche Korporation, sondern eine sittliche Gesamtkörperschaft. Aus der Perspektive der Philosophie der Konfliktlösung ist diese Transformation von Kooperationsverbund zu moi commun, von nutzenorientiertem Individualismus zu ethosbasierter citoyenneté nicht zu erhellen. Während sich diese mit der rechtlichen Bindung der Bürger zufriedengibt und der Einzelne im Privaten frei ist, zu wollen, zu tun und zu leben, wie er es angesichts seiner individuellen Lebens-

20 GV I.6, S. 16: Es ist der Punkt erreicht, „an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich in diesem Zustand zu halten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht weiterbestehen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte.“ Und GV II.1, S. 27: „der Widerstreit der Interessen [hat] die Gründung von Gesellschaften nötig gemacht“. 21 GV I.4, S. 11: „Zu behaupten, daß ein Mensch sich umsonst hergäbe, ist etwas Ungereimtes und Unverständliches; ein solcher Akt ist null und nichtig, schon allein deshalb, weil derjenige, der ihn vollzieht, nicht voll bei Verstand ist.“ Zur Kritik Rousseaus am Kontraktualismus siehe Wolfgang Kersting, Die Vertragsidee des Contrat social und die Tradition des neuzeitlichen Kontraktualismus, in: Reinhard Brandt / Karlfriedrich Herb (Hrsg.), Jean Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin: Akademie, 2000, S. 45 – 66. 22 GV I.6, S. 17. 23 Ebd., S. 18, Hervorhebungen im Original. 24 Ebd. Zu Rousseaus kritischer Interpretation der body politic-Figur siehe Judith N. Shklar, „Two bodies politic“, in: Men and Citizens. A Study of Rousseau’s Social Theory, London: Cambridge University Press, 1969, S. 197 – 214.

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pläne für angemessen und förderlich hält, lässt die durch den Gesellschaftsvertrag entstehende Gemeinschaft wenig Raum für ein eigenes Leben.25 Dass der Akt der Entäußerung vorbehaltlos erfolgen muss und sich die Vertragsschließenden ohne individuellen Rechts- oder Sicherheitsvorbehalt im moi commun vergesellschaften, ist ein wichtiger Aspekt der Differenz zum Konfliktmodell.26 Für Rousseau ist das bürgerliche Leben idealiter ein allgemeines Leben. Die für das Konfliktmodell charakteristische Trennung von privat und öffentlich, von Mensch und Bürger, verliert ihre Schärfe und weicht dem Gradualismus von „mehr“ oder „weniger politischen“ Staaten, wie er die Perspektive der Philosophie der bürgerlichen Angelegenheiten charakterisiert: „Je besser der Staat verfaßt ist, desto mehr überwiegen im Herzen der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten die privaten. Es gibt sogar viel weniger private Angelegenheiten; denn indem die Gesamtheit des gemeinsamen Glücks einen bedeutenderen Anteil zu dem jedes Individuums beiträgt, muß dieses sein Glück weniger in der Sorge um sein eigenes Wohl suchen.“27

Diese affirmative Identifizierung der Einzelnen mit den öffentlichen bzw. bürgerlichen Angelegenheiten, das Engagement der Bürger für die politische Gesamtheit und das gemeinsame Glück, das Überwiegen der sentiments de sociabilité gegenüber den Privatinteressen, alles das kann sich aber durch die Rechtsbefolgung alleine nicht entfalten. Aus der Perspektive des Konfliktmodells braucht es das allerdings auch nicht: Hier erschöpft sich Bürgerschaft in der Pflichterfüllung gegenüber der politischen Autorität, die zugleich individuelle Rechte garantiert. Ebendiese Vorstellung der Gesellschaft, die ohne individuelle oder politische Moral, ohne Ethos, ohne eine gemeinschaftliche Orientierung auf das Gute auskommt, betrachtet Rousseau als defizitär. Die politische Ordnung des Gesellschaftsvertrags ruht auf einer einheitlichen Gemeinschaft mit einem allgemeinen Willen auf. Den Souverän kümmert weder die Koordinierung, noch die Befriedigung der Interessen der einzelnen Individuen, sondern ausschließlich der sich in der volonté générale ausdrückende Einklang der Interessen in Hinsicht auf die allgemeinen oder eben: bürgerlichen Angelegenheiten. Bürger sind gleichwertige Partner bei der Ausübung der politischen Herrschaft, sie sind die Subjekte der Souveränität und ihr nicht als Objekte gegenübergestellt. Daher bedarf es keiner negativen Freiheits- bzw. Abwehrrechte auf Seiten der Bürger; daher ist die Souveränität unveräußerlich, unvertretbar, unteilbar und unfehlbar. Was den Kritikern Rousseaus unsäglich erscheint, 25 Vgl. hierzu Karlfriedrich Herb / Kathrin Morgenstern / Magdalena Scherl, „Im Schatten der Öffentlichkeit. Privatheit und Intimität bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19, 2001, S. 275 – 298. 26 Im Unterschied zu Hobbes, Locke und Kant duldet er „keinen Bereich nicht-vergesellschafteter Subjektivität (…). Es gibt keinen entäußerungsresistenten Freiheits- und Rechtskern bei Rousseau. In seinem Gesellschaftsvertrag wird das Individuum von der Gemeinschaft mit Haut und Haaren verschlungen“, Kersting (Fn. 21), S. 51. 27 GV III.15, S. 102.

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folgt einer argumentativen Logik: Individuelle Vorbehalte in Form von negativen Freiheitsrechten gefährden bereits die Einheit der Gemeinschaft. Sich gegenüber dem Souverän versichern zu wollen, ist aber nicht nur gefährlich, sondern schlichtweg unsinnig: Der Staat ist der Souverän ist die Gemeinschaft ist der Bürger ist der Einzelne: Warum sollte man sich vor sich selbst (oder anderen, die sind, wie man selbst) fürchten oder versichern wollen? Die Herrschaft des Demos beruht auf der Einheit von Selbstbestimmung und politischer Autorität, von Selbstbindung und gesetzlicher Bindung, von Freiheit und kollektiver Souveränität. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Einheit in der Selbstherrschaft bedingt das problème fondamental: „Wie kommt es, daß sie gehorchen und keiner befiehlt, daß sie dienen und doch keinen Herren haben?“ Ein Teil der Antwort erschließt sich aus der Perspektive der Philosophie der Konfliktlösung: „Dieses Wunder ist das Werk der Gesetze.“28 Der zweite Teil der Antwort bleibt aber letztlich unverständlich, wenn wir nicht in die Perspektive der Philosophie der bürgerlichen Angelegenheiten wechseln: „Die absoluteste Autorität ist jene, die den Menschen völlig durchdringt und sich nicht weniger auf seinen Willen wie auf seine Handlungen auswirkt. (…) [W]enn ihr wollt, daß man den Gesetzen gehorcht, dann tut alles, daß man sie liebt.“29 Aber die Liebe zu den Gesetzen kann nicht durch das Gesetz verordnet werden; sie gehört, in Anwandlung des Böckenförde-Diktums, zu den Voraussetzungen des Staates, die er selbst nicht garantieren kann.30 Als Antwort auf das grundlegende Problem muss der Gesellschaftsvertrag also leisten können, was der Vertragsidee eigentlich fremd ist: eine sittliche Metamorphose der eigeninteressierten Individuen zu gemeinwohlinteressierten Bürgern. Rousseau konstatiert für den „Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Stand (…) eine sehr bemerkenswerte Veränderung“: das stumpfsinnige, instinkt- und triebgeleitete Naturzustandswesen wird zur wahren Menschlichkeit, zu Vernunft, Sittlichkeit und Freiheit erhoben. Erst der bürgerliche Stand verschafft die sittliche Freiheit, „die allein den Menschen zum wirklichen Herrn seiner selbst macht“, denn „der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit“.31 Aber diese durch den Gemeinwillen begrenzte bürgerliche Freiheit schafft nicht nur sittliche Freiheit, sie setzt bereits Sittlichkeit voraus, eine „Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein.“32 Diese Gesinnung kann es in der ursprünglichen Vertragssituation nicht ge-

28 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über die politische Ökonomie, in: Politische Schriften, Bd. 1, in der Übersetzung von Ludwig Schmidts, Paderborn: Schöningh, 1977, S. 9 – 57, hier S. 19. Im Folgenden abgekürzt als Abhandlung. 29 Ebd., S. 23. 30 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 92 – 114. 31 GV I.8, S. 22 f. 32 GV IV.8, S. 151.

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ben, sie muss sich zugleich mit der Vergesellschaftung bemerkenswerterweise ergeben. Dass diese moralische Alchemie der wahren Menschwerdung dem Vertragsmodell fernliegt, ist Rousseau durchaus bewusst, so dass verschiedene Instanzen der Versittlichung und Verbürgerlichung als Ergänzung des Gesellschaftsvertrags formuliert werden.33 Zuvorderst ist die ominöse Figur des législateur zu nennen, der den Menschen eine Verfassung anempfiehlt und dabei hoffen muß, „jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum in gewissem Sinn sein Leben und Dasein empfängt; die Verfaßtheit des Menschen zu ändern, (…) ein Dasein als Teil und moralisches Dasein zu setzen.“34

Erst „wenn kein Bürger mehr etwas ist oder vermag außer durch alle anderen, (…) ist die Gesetzgebung auf dem höchsten Punkt der ihr möglichen Vollkommenheit angelangt“35, erst dann ist sie in höchstem Maße politisch. Für diese Moralisierung und Politisierung der Bürger nimmt der Gesetzgeber „seine Zuflucht zu einer Autorität anderer Ordnung, die ohne Gewalt mitreißen und ohne zu überreden überzeugen kann“, die „Zuflucht zum Himmel“36 und zu transzendenten Autoritäten. Da das intellektuelle und moralische Fassungsvermögen der gewöhnlichen Menschen zur politischen Einsicht nicht hinreicht, man sie aber niemals zwingen darf, bedient sich der Gesetzgeber des Mittels der manipulativen Überredung. Der Unterschied zwischen den „Scheingründen“ der Reichen und des Gesetzgebers erinnert an den Unterschied zwischen lasterhaften und noblen Lügen bei Platon: Auch hier sind „Erzählungen von durchaus sittsamer Art“37 erlaubt, wenn sie letztlich dem Wohl der uneinsichtigen Menschen dienen. Konsequent schließt Rousseau eine Vorteilsnahme des Gesetzgebers durch diese Manipulation aus, indem dieser kein Mitglied der durch den Gesellschaftsvertrag gestifteten Ordnung sein oder werden darf. Die zweite Instanz der Versittlichung ist die Zivilreligion, die die Bürger ihre „Pflichten lieben heißt“38 und ihnen die Gesinnung des Miteinander in die Herzen und das Gewissen einschreibt. Das „rein bürgerliche Glaubensbekenntnis“ ist im Unterschied zu den dogmatischen und autoritativen Offenbarungsreligionen mit 33 GV II.7, S. 46: „Damit ein werdendes Volk die gesunden Grundsätze der Politik schätzen und den grundlegenden Ordnungen der Staatsräson folgen kann, wäre es nötig, daß die Wirkung zur Ursache werde, daß der Gemeinsinn, der das Werk der Errichtung sein soll, der Errichtung selbst vorausgehe und daß die Menschen schon vor den Gesetzen wären, was sie durch diese werden sollen.“ 34 Ebd., S. 43 f. 35 Ebd., S. 44. 36 Ebd., S. 46. 37 Platon, Politeia, in der Übersetzung von Otto Apelt, Hamburg: Meiner, 1998, Buch II (377c). Vgl auch Carl Page, The Truth about Lies in Plato’s Republic, in: Ancient Philosophy 11, 1991, S. 1 – 33. 38 GV IV.8, S. 150.

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Autonomie und Toleranz nicht nur vereinbar, sondern das Ergebnis ihrer konsequenten Geltung. Im Unterschied zu dem manipulativen Einsatz der Religion durch den Gesetzgeber müssen die Dogmen des bürgerlichen Glaubensbekenntnisses, die „einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein“ sollen, vom Souverän selbstbestimmt formuliert und damit in Geltung gesetzt werden. Die Existenz Gottes und des Jenseits geben dem Glauben an den Zusammenhang von Glück und Gerechtigkeit und an „die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze“39 ihre imperative Kraft, das negative Dogma der Intoleranz dämpft hingegen die Gefahr der fundamentalistischen Interpretation dieses Sollens. Zivilreligion ist somit ein politisches Konstrukt in verbürgerlichender Absicht. Und nur als ein solches Konstrukt kann sie die für die soziale Einheit schädlichen Wirkungen der Religionen vermeiden und dennoch die affirmative und integrative Kraft entfalten, die Rousseau der Religion gemeinhin zuschreibt.40 Als dritte Instanz fungiert die moralische Erziehung, die in Emil oder über die Erziehung die entscheidenden „Männerschritte“ des Zöglings einleitet, und ihm verdeutlicht, „daß Gerechtigkeit und Güte nicht nur abstrakte Worte und verstandesmäßig geformte Moralbegriffe sind, sondern wirkliche, durch die Vernunft erhellte Seelenregungen.“41 Moralität gründet nicht auf Vernunfteinsicht, mithin nicht auf Philosophie, sondern sie realisiert sich in einem Prozess der Gefühls- und Gewissensbildung, bei dem erneut der Religion eine wichtige Rolle zukommt. Ohne Religion keine altruistische Moral.42 An dieser Stelle wird das Problem des Atheismus von Rousseau politisch gewendet. Der fanatische Gläubige ist zwar intolerant und steht damit im Widerspruch zum negativen Dogma des bürgerlichen Glaubensbekenntnisses. Aber wenigstens verfügt er als Antrieb für seine blutdürstigen und grausamen Taten über große, aber eben falsch gepolte Leidenschaften, „wogegen der Unglaube und im allgemeinen der räsonierende philosophierende Geist an das Leben bindet, verweichlicht, die Seelen erniedrigt und alle Leidenschaften auf das niedrige Privatinteresse und auf das verächtliche menschliche Ich konzentriert und so geräuschlos die Grundfesten einer jeden Gesellschaft untergräbt.“43

GV IV.8, S. 151. Vgl. hierzu die Studie von Michaela Rehm, Bürgerliches Glaubensbekenntnis. Moral und Religion in Rousseaus politischer Philosophie, München: Wilhelm Fink, 2006. Für die kritische Durchsicht einer früheren Fassung meiner Überlegungen und wertvolle Hinweise danke ich Michaela Rehm sehr herzlich. 41 Emil (Fn. 18), S. 239. 42 Daher nimmt das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ einen prominenten Platz im vierten Buch von Emil ein. 43 Ebd., S. 333. Aus demselben Grund werden Atheisten von Locke vom Toleranzgebot ausgenommen, vgl. John Locke, Ein Brief über Toleranz, in der Übersetzung von Julius Ebbinghaus, Hamburg: Meiner, 1996, S. 95: „Letztlich sind diejenigen ganz und gar nicht zu dulden, die die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der menschlichen Gesellschaft sind, können keine Gültigkeit für einen Atheisten haben. Gott auch nur in Gedanken wegnehmen, heißt alles dieses auflösen.“ 39 40

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Als vierte Instanz, mit der „sich der Gesetzgeber insgeheim beschäftigt“, weil hierin die „eigentliche Verfaßtheit des Staates“ liegt, sind die Sitten, Gebräuche und die öffentliche Meinung zu nennen. Diese sind „weder auf Marmor noch auf Erz, sondern in die Herzen der Bürger geschrieben“44 und entfalten hier ihre identitätsund gemeinschaftsstiftende Kraft. Die innere Einheit und die äußere Identität des Staates bewähren sich in dem Maß, in dem die Bürger die gemeinsame Verpflichtung auf ein Gut verinnerlichen und das, was in ihre Herzen geschrieben ist, leben. Für diesen Prozess der praktisch und öffentlich wirksamen Verinnerlichung kann die antike Tugendkonzeption herangezogen werden, auch wenn Rousseau sich dieser im Gesellschaftsvertrag nicht konstruktiv bedient (dafür aber an anderen Stellen45). Tugendhafte Personen verfügen über eine charakterliche Disposition zum tugendhaften Handeln, d. h. sie sind als Gesamtheit einer empfindenden, reflektierenden, Entscheidungen fällenden und handelnden Person tugendhaft verfasst. Daher deliberieren und entscheiden sie nicht in jeder Handlungssituation aufs Neue, was sie tun sollen, stattdessen verfügen sie über eine innere Haltung, die ihnen das tugendhafte Handeln nahe legt. Die Tugenden sind, metaphorisch gesprochen, in ihre Herzen geschrieben.46 Für die Bildung tugendhafter Personen spielt in der tugendethischen Tradition Erziehung die zentrale Rolle. So auch bei Rousseau, der in der Abhandlung über die politische Ökonomie und anders als in Emil eine genuin politische Pädagogik skizziert: „Wenn die Kinder gemeinsam im Schoß der Gleichheit erzogen werden, (…) dann sollten wir nicht zweifeln, daß sie auf diese Art lernen, sich gegenseitig als Brüder zu lieben, immer nur zu wollen, was die Gesellschaft will.“47 Diese Formulierung erinnert an Aristoteles’ Charakterisierung der Verfassung der Politie, wo er das gleiche Streben der Bürger mit der „Freundschaft unter Brüdern“ vergleicht. „Unter Brüdern und Kameraden ist nun alles gemeinsam“,48 sie haben

GV II.12, S. 60. In der Erstfassung des Gesellschaftsvertrags wird allerdings häufig auf Tugenden verwiesen. Vgl. auch Abhandlung (Fn. 28), S. 18 f.: „Aber um ihm [dem Gemeinwillen] zu folgen, muß man ihn kennen und vor allem vom Partikularwillen unterscheiden, indem man mit sich selbst beginnt. (…) Nur die reinste Tugend kann dabei hinreichend helfen.“ S. 24: „Wollt ihr, daß der Gemeinwille erfüllt werde? Dann müßt ihr alle Partikularwillen darauf abstimmen. Da die Tugend nur diese Übereinstimmung der Einzelwillen mit dem Gemeinwillen ist, (…) (m)acht, daß die Tugend regiert!“. Siehe auch Carol Blum, Rousseau and the Republic of Virtue, Inthaca: Cornell University Press, 1986. 46 Tugend (vertu), die von Rousseau häufig gleichbedeutend mit Gewissen (conscience) verwendet wird, meint eine Form der sittlichen Selbstherrschaft, die die politische Selbstherrschaft stützt, siehe hierzu Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975, S. 83 – 96. 47 Abhandlung (Fn. 28), S. 36. Hier, wie auch in dem Brief an d’Alembert und den Betrachtungen über die Regierung von Polen schwärmt Rousseau im Zusammenhang mit der staatsbürgerlichen bzw. patriotischen Liebe von „Brüderlichkeit“ und auch „Freundschaft“. Das läßt die folgenden systematischen Überlegungen zum Status der philia politike im Gesellschaftsvertrag aber unbenommen. 44 45

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„dasselbe erfahren“ und „zumeist dieselbe Art“, daher „streben die Bürger danach, gleich und tugendhaft zu sein.“ Hingegen „in der Tyrannis gibt es wenig oder gar keine Freundschaft. Wo es nämlich zwischen Regierendem und Regiertem nichts Gemeinsames gibt, gibt es keine Freundschaft und auch keine Gerechtigkeit.“49 Die für die gerechte und stabile Polis notwendige Gemeinschaft wird durch bürgerliche Freundschaft zusammengehalten, hier liegt aus der Perspektive der Philosophie der bürgerlichen Angelegenheiten die Lösung des Problems der politischen Integration, die die Identifizierung des Einzelnen mit der Gemeinschaft und den Vorrang der allgemeinen vor den partikularen Interessen sichert. III. „Was geht’s mich an?“ – Politische Freundschaft und bürgerschaftliches Engagement In philosophischen Konzeptionen der Freundschaft werden seit ihren Anfängen im klassischen Hellenismus die Gefühlsdimension (gegenseitige Zuneigung, Intimität, Vertrauen, Anteilnahme und Fürsorge), die Urteilsdimension (persönliche und / oder moralische Wertschätzung) und die Handlungsdimension (Loyalität, Solidarität, Uneigennützigkeit) dieser besonderen Form der menschlichen Beziehung als ihre definitorischen Merkmale diskutiert.50 Als ethische und politische Tugend ist sie nicht bloß von instrumentellem oder prudentiellem Wert, sondern sie wird in ihrer höchsten Form, der „Freundschaft der Tugendhaften“, als inhärenter Wert angesehen, wenn der Beitrag der Freundschaft zum individuellen oder gemeinsamen Wohl nicht in Begriffen des Nutzens, sondern in Hinsicht auf ein universell verstandenes menschliches Ethos bemessen wird. Wahre Freundschaften entsprechen moralischen Beziehungen, die durch eine gemeinsame Verpflichtung auf das Gute zustande kommen, daher wünschen Freunde „einander gleichmäßig das Gute, sofern sie gut sind, und sie sind gut an sich selbst.“51 Die Wertschätzung des Freundes hängt hier primär von der sittlichen Qualität seines Charakters ab, die Gefühls, Urteils- und Handlungsdimensionen der Freundschaft sind ethisch imprägniert. Charakteristisch für den antiken Freundschaftsbegriff ist, dass philia nicht nur die freundschaftliche Liebe zwischen einzelnen Menschen, sondern auch zwischen den Mitgliedern einer Familie oder einer politischen Gemeinschaft umfassen kann. Laut Aristoteles kann man ohne Freunde weder gut sein noch gut leben, das gilt für den Einzelnen, aber auch für das Gemeinwesen, dessen Teil jeder von Natur aus ist. Das gemeinschaftliche Netz von Rollen, Beziehungen, Erwartungen und Pflichten, in das jeder Mensch eingebunden ist, wird durch Gerechtigkeit und Freundschaft zuAristoteles (Fn. 12), (1159b). Ebd., (1161a). 50 Vgl. die detailliertere Darstellung der historischen und systematischen Freundschaftskonzeption in Elif Özmen, Freundschaft, in: Petra Kolmer / Armin G. Wildfeuer (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 1, Freiburg: Karl Alber, 2011, S. 833 – 841. 51 Aristoteles (Fn. 12), (1156b). 48 49

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sammengehalten: „Es scheint aber (…), daß Freundschaft und Gerechtigkeit dieselben Gegenstände haben und sich in demselben Bereich bewegen. In jeder Gemeinschaft scheint es ein Gerechtes zu geben und ebenso Freundschaft.“52 Nach Maßgabe der verschiedenen Formen der philia politike lassen sich dann auch verschiedene Verfassungen unterscheiden, wobei als beste (weil den Sinn von ta politika voll erfüllende) die Politie – wechselseitige Freundschaft gleicher tugendhafter Bürger – und als schlechteste die Tyrannis – der Tyrann ist mit niemandem befreundet – betrachtet werden. Die politische Freundschaft ist somit konstitutiv für bürgerschaftliche Eintracht, politische Einheit, Stabilität und Gerechtigkeit, denn „Gleichheit und Übereinstimmung ist Freundschaft und vor allem die Übereinstimmung in der Tugend.“53 Freundschaft als Individual- wie als politische Tugend hat einen festen Platz im Themenspektrum der antiken und auch der mittelalterlichen Philosophie bis in die Renaissance hinein. Die sich hier bereits anbahnende Subjektivierung und Privatisierung des Freundschaftsverhältnisses wird in der Philosophie der Aufklärung konsequent fortgeführt, so dass der moralische und politische Aspekt des Freundschaftsverständnisses der „Alten“ letztlich verloren geht.54 Aus der neuzeitlichen Perspektive der Philosophie der Konfliktlösung haben die politisch relevanten Beziehungen der Bürger untereinander wie auch die Beziehungen zwischen Bürgern und Regierenden ausschließlich rechtsförmigen Charakter. Die Vorstellung einer Bürgerfreundschaft hat hier weder einen Ansatzpunkt, noch irgendeine Integrationsfunktion, denn die durch das staatliche Gewaltmonopol abgesicherte Rechtstreue der Bürger erzeugt hinlänglich gesellschaftliche Bindung. So bezeichnet Thomas Hobbes die bürgerlichen Gesetze als „künstliche Ketten“ in einem doppelten Sinn. Zum einen begrenzen sie den Freiheitsraum, der dem Einzelnen verbleibt, auf den Bereich, der nicht durch das positive Recht geregelt ist. Zum anderen symbolisieren diese Ketten (chains) die Bande (bonds), die durch den Vertragsschluss zwischen jedem einzelnen Bürger und der durch den wechselseitigen Vertrag konstituierten souveränen Gewalt geschaffen werden: „Das eine Ende haben sie selbst durch gegenseitige Verträge an die Lippen des Menschen oder der Versammlung, denen sie die souveräne Gewalt übertrugen, geheftet, und das andere an ihre eigenen Ohren.“55 Und wer nicht hören will (und das Recht bricht), muss eben fühlen (wird bestraft). Ebd. (1159b). Ebd. 54 Besonders deutlich bei Montaigne, für den Freundschaft eine persönliche, zutiefst emotionale Erfahrung darstellt, die weder auf die Verpflichtung auf ein gemeinsames Gut, noch auf eine politische Ordnung zurückgeführt werden kann, siehe Michel de Montaigne, Über die Freundschaft, Essais, in der Übersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M: Eichborn, 1998, S. 98 – 104. Vgl. auch Preston King / Heather Devere (Hrsg.), The Challenge to Friendship in Modernity, London: Frank Cass Publishers, 2000. 55 Hobbes (Fn. 13), S. 164. Dieses Bild der begrenzenden und zugleich verbindenden Ketten drückt zugleich das Mittel aus, mit dem der Leviathan seine Schutz- und Friedensfunktion 52 53

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Da Rousseau eben diese ethosfreie, nur auf die Bindungskraft von Gesetzen vertrauende Perspektive als defizitär bewertet, da er die politische Integration der Bürger in eine Gemeinschaft mit einem allgemeinen Willen für notwendig hält und hierbei zahlreiche Anleihen aus der antiken Philosophie der bürgerlichen Angelegenheiten macht,56 stellt sich die Frage, ob die Konzeption der Bürgerfreundschaft sinnvoll und konstruktiv an Rousseaus Überlegungen zum problème fondamental angeschlossen werden kann. Jedenfalls läßt sich in der zeitgenössischen politischen Philosophie seit einigen Jahrzehnten eine Renaissance, wenn nicht des Freundschaftsbegriffs, so doch des Freundschaftsthemas feststellen.57 In der LiberalismusKommunitarismus-Debatte, der Theorie der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements, den Debatten um gesellschaftliche Stabilität, Solidarität und Gemeinsinn, werden die normativen Übereinstimmungen der Bürgerinnen und Bürger als die gemeinschaftlichen Bande thematisiert, die die Gesellschaft und damit die politische Ordnung zusammenhalten. Dass der demokratische Staat diese Bande nicht garantieren kann, auf sie aber nachdrücklich angewiesen ist, ist gewissermaßen das problème fondamental der zeitgenössischen politischen Philosophie, das sich für säkulare, pluralistische und freiheitliche Demokratien in besonders drastischer Weise stellt.58 Solche nicht erzwingbaren Bindungen und die damit einhergehenden Verpflichtungsgefühle unterfüttern demzufolge die politische Loyalität der Bürger gegenüber staatlichen Institutionen mit bürgerschaftlicher Substanz – sie schaffen sozusagen ein moi commun. Die bürgerschaftliche Identität und das damit verbundene Engagement für die gemeinsamen Angelegenheiten knüpfen an das antike Verständnis von politischer Freundschaft an, wo die freundschaftlichen Beziehungen die Grundlage und zugleich den Fortbestand der politischen Gemeinschaft sicherstellen. Dabei braucht man weder persönlich befreundet zu sein, noch ist man zur universellen Menschenfreundschaft und Menschenliebe aufgefordert: philia politike ist ein partikulares Verhältnis, das aber durch die gemeinsame Orientierung auf ein Allgemeines gestiftet wird. Das bürgerschaftliche Ethos resultiert aus dem Bewusstsein um das konkrete Gemeinsame der politischen Institutionen, der Geerfüllt: durch absolute Herrschaft (die „Lippen“ des Souveräns), die absoluten Gehorsam verlangt (die „Ohren“ der Untertanen). 56 Neben dem in Abschnitt II bereits Dargestelltem wäre noch zu verweisen auf die Regierungsformenlehre und das Lob der Bürgertugend ab GV III.3 und den Vorbildcharakter der Republik Rom ab IV.4. 57 Aber es gibt auch Autoren, die sich des Begriffs explizit bedienen, etwa Marilyn Friedman, „Dislocating the Community“, in: Ethics 99, 1989, S. 275 – 290; James Schall, „Friendship and Political Theory“, in: Review of Metaphysics 50, 1996, S. 121 – 141; Gianfrancesco Zanetti, Political Friendship and the Good Life. Two Liberal Arguments against Perfectionism, The Hague: Kluwer, 2002; James Grunebaum, Friendship. Liberty, Equality, and Utility, Albany: State University of New York Press, 2003; Eduardo Velásquez, Love and Friendship. Rethinking Politics and Affection in Modern Times, Lanham: Lexington Books, 2003, und Sibyl Schwarzenbach, On Civic Friendship. Including Women in the State, New York: Columbia University Press, 2009. 58 Vgl. Julian Nida-Rümelin / Elif Özmen, „Zur Normativität des Politischen in der säkularen, liberalen und sozialen Demokratie“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19, 2011, S. 51 – 63.

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setze und anderer, geschriebener und ungeschriebener Normen, mit denen sich die Bürger als Einzelne und als Gemeinschaft identifizieren. Zugleich ist politische Freundschaft konstitutiv für den Bestand des Gemeinsamen, so Aristoteles: „Und wo Freunde sind, da bedarf es keiner Gerechtigkeit, aber die Gerechten brauchen die Freundschaft dazu.“59 Rousseaus Ausführungen, dass „[j]e mehr die Tugend regiert, um so weniger Talente sind vonnöten“60 oder dass der gemeinwohlorientierte „Staat braucht sehr wenig Gesetze“,61 können ganz in diesem Sinne gelesen werden. Fehlt es nämlich an Bürgersinn und Bürgertugend, ist mit Gesetz und politischem Talent kein Staat mehr zu machen: „Sobald einer bei den Staatsangelegenheiten sagt: Was geht’s mich an?, muß man damit rechnen, daß der Staat verloren ist.“62 Ist also die Volksversammlung als eine Form der antiken Agora zu verstehen, in der sich die starke und direkte Demokratie mittels Deliberation über die gemeinsamen Angelegenheiten der einander im Freundschaftsverhältnis begegnenden Bürger realisiert? Ist es nur Zufall, dass Rousseau das Konzept der politischen Freundschaft nicht explizit aufgreift? Dafür spräche eine prozeduralistische Interpretation des Gemeinwillens, der zufolge sich dieser als Ergebnis von gemeinsamen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen in demokratischen Verfahren ergibt.63 Dagegen spricht aber, dass Rousseau keine gemeinsamen Beratschlagungen, kein diskursives Pro- und Contra, keine Diskussionen der pluralen Meinungen, keine Deliberationen über die Partikularinteressen vorgesehen hat. Ein Pluralismus der Meinungen ist für ihn vielmehr Ausdruck des politischen Verfalls: „Wenn aber nach und nach das gesellschaftliche Band sich lockert, der Staat schwach wird, wenn die Sonderinteressen sich bemerkbar machen (…), erlahmt das gemeinsame Interesse und findet Widersacher, bei Abstimmungen herrscht keine Einstimmigkeit mehr und der Gemeinwille ist nicht mehr der Wille aller, es entstehen Widersprüche und Auseinandersetzungen, und der beste Vorschlag geht nicht mehr unbestritten durch.64 (…) Je mehr Übereinstimmung bei den Versammlungen herrscht, d. h. je näher die Meinungen der Einstimmigkeit kommen, um so mehr herrscht auch der Gemeinwille vor; lange Debatten jedoch, Meinungsverschiedenheiten, Unruhe zeigen das Emporkommen der Sonderinteressen und den Niedergang des Staates an.“65 Aristoteles (Fn. 12), (1155a). Abhandlung (Fn. 28), S. 27. 61 GV IV.1, S. 112. 62 GV III.15, S.103. 63 Ein jüngeres Beispiel für diese Interpretation ist Rawls, demzufolge die Idee der deliberativen Vernunft von Rousseau stammt, siehe Rawls (Fn. 4), S. 339 f. In seinem eigenen Werk wird der Gerechtigkeitssinn an einer Stelle als Bürgerfreundschaft bezeichnet, siehe John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975, S. 562: „Die Anerkennung der Grundsätze des Rechten und der Gerechtigkeit knüpft die Bande der Freundschaft zwischen den Bürgern und schafft die Grundlage der Gemeinschaft bei allen verbliebenen Gegensätzen.“ 64 GV IV.1, S. 113. In großer Spannung hierzu aber S. 114, wo Rousseau das Recht abzustimmen ergänzt durch „das Recht, seine Meinung zu äußern, Vorschläge zu machen, einzuteilen und zu diskutieren.“ 59 60

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Widersprüche und Auseinandersetzungen, Debatten und Dissense, durch den Pluralismus bedingte, wohlmöglich auch gut begründete Uneinigkeit und nichteinstimmige Abstimmungen sind aber das Charakteristikum der deliberativen Demokratie. Auch die Agora sollte man sich als Marktplatz der Ideen und Argumente vorstellen; deswegen ist sie wohl der bevorzugte Ort der provozierenden Vorträge und Diskurse des Sokrates.66 Die volonté générale stellt hingegen kein konsensuales Ergebnis von Deliberationen dar, sondern sie geht aus einem spontanen und realen Akt der einmütigen Übereinstimmung der Einzelwillen hervor. Das gelingt, paradox anmutend, indem „jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt“67 und sich nicht vorab in Diskurse und Dispute mit anderen verstrickt. In sich selbst findet der versittlichte und verbürgerlichte Einzelne, wiewohl ohne seinen Partikularwillen aufgeben zu können, die normativen Ressourcen, aus denen der Gemeinwille sich schöpft. Deswegen sollen die Bürger bei den Abstimmungen nur auf ihr Gewissen hören – das verlangt aber Ruhe statt „Unruhe“, Geradlinigkeit statt „lange Debatten“, Übereinstimmung mit sich selbst statt Übereinstimmung mit den anderen oder gar „Auseinandersetzungen“. Die Integrität und Authentizität des Rousseauschen Ideal-Bürgers beruht letztlich darauf, dass er nur auf sich selbst hört. Und derart „(r)echtschaffene und einfache Menschen sind aufgrund ihrer Geradheit schwer zu täuschen, Köder, und raffinierte Scheingründe machen auf sie keinen Eindruck.“68 Am klarsten tritt der Unterschied zwischen Gemeinwille und volonté de tous daher hervor, wenn „die Bürger keinerlei Verbindung untereinander hätten, [dann] würde, wenn das Volk wohlunterrichtet entscheidet, aus der großen Zahl der kleinen Unterschiede immer der Gemeinwille hervorgehen, und die Entscheidung wäre immer gut.“69 Das Konzept der politischen Freundschaft setzt allerdings voraus, dass die Bürger untereinander verbunden sind. Die Bürger streben gemeinsam, durch das vertrauensvolle Zusammenleben, durch gegenseitige Wertschätzung und vor allem durch die Herausforderung zum gemeinsamen (Streit-)Gespräch danach, gerecht

GV IV.2, S. 114 f. Vgl. Xenophon: Erinnerungen an Sokrates, in der Übersetzung von Rudolf Preiswerk, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 5: „Doch wahrlich, Sokrates hielt sich immer in der Öffentlichkeit auf: Am Morgen ging er in die Wandelhallen und zu den Turnplätzen, und wenn der Markt voller Leute war, konnte man ihn dort sehen, auch während der übrigen Tageszeiten war er dort, wo er hoffte, mit der größten Gesellschaft zusammen sein zu können.“ 67 GV II.3, S. 31. Vgl. auch GV IV.2, S. 117: „Wenn man in der Volksversammlung ein Gesetz einbringt, fragt man genaugenommen nicht danach, ob die Bürger die Vorlage annehmen oder ablehnen, sondern ob diese ihrem Gemeinwillen entspricht oder nicht; jeder gibt mit seiner Stimme seine Meinung darüber ab, und aus der Auszählung der Stimmen geht die Kundgebung des Gemeinwillens hervor.“ In diesem Sinne auch Wolfgang Kersting, Jean Jacques Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002, S. 112: „Diskutiert die Republik Rousseaus? Ist die öffentliche Arena erfüllt vom Gewirr der Stimmen? Kämpfen Meinungen um Anerkennung und Gefolgschaft? Wird gehandelt, gefeilscht? Werden Kompromisse eingegangen? (…) Nichts von alledem.“ 68 GV IV.1, S. 112. 69 GV II.3, S. 31. 65 66

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und tugendhaft zu sein. Wenngleich die Rousseausche Republik auf einer Gemeinschaft der Gleichen und Freien gründet, die ihre, d. h. die bürgerlichen Angelegenheiten souverän regeln, läßt diese Gemeinschaft zu viele oder zu tiefe Verbindungen zwischen den Bürgern nicht zu. Einerseits befürwortet Rousseau „einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk einfach zu versammeln ist und jeder Bürger alle andern leicht kennen kann“,70 andererseits neigt der Partikularwille „seiner Natur nach zu Bevorzugung.“71 Anteilnahme, Wertschätzung und Gunst sind aber charakteristisch für Freundschaft, die eben nicht allen gelten kann, wenn sie ihre integrierende Kraft, nicht zuletzt affirmativ, entfalten können soll. Ganz so, wie Rousseau die Bildung von Teilgesellschaften, Parteien, Fraktionen und anderen Interessensgruppen als Gefahr für die Einheit und Einmütigkeit des Souveräns betrachtet, würde er wohl auch den für Freundschaft charakteristischen Partikularismus als Anfang vom Ende der politischen Ordnung bewerten. Das moi commun kann daher nicht als moi amical aufgefasst werden.

Summary In recent years the notion of civil society and civic or political friendship has become important (again) for the debates in political philosophy and political theory. The leading question is about the willingness of the citizens to endorse the political and legal norms that they hypothetically have good reason to consent to. Are the means of law and force adequate to guarantee political unity and stability? Rousseau was well aware of these questions as the tension between modern and ancient elements in the Contract Social shows (I). Moreover, there are many passages where he emphasises the importance of the “bond of union” for unifying the community (II). In this paper I propose that Rousseau’s republican idea of the necessity of publicly shared norms of concern could neither be reconstructed in (modern) terms of deliberative democracy, nor as standing in line with (ancient) philia politike (III). Therefore the crucial problème fondamental of compatibility of individual and collective sovereignty remains an open question.

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GV III.4, S. 73. GV II.1, S. 27.

Obligation in Rousseau: Making Natural Law History? Michaela Rehm I. Introduction Is Rousseau an advocate of natural law or not?1 At first sight, his thinking exhibits some of the right characteristics: It is historically situated in a period which thought is still highly preoccupied with the natural law tradition, and many citations and hints demonstrate Rousseau’s familiarity with the proponents of this tradition such as Grotius, Hobbes and Pufendorf.2 What is more, it presents a social contract theory, and reflections on the pre-political state of man, both of which are standard frameworks for the presentation of natural law doctrines during the early modern period. Still, the question tends to be answered in the negative: Interpretations focusing on a mainly rationalist view of natural law claim that Rousseau’s thinking is so strongly characterized by an emphasis on the limitations of rationality that such a sceptic could hardly be counted among the party of natural law philosophers. Readings with a voluntarist take upon natural law stress the fact that Rousseau rejects the idea of divine lawgiving and does not come forward with any principles in the form of laws. They imply that political norms have to meet the standard that is set by the natural laws. Given the lack of law-like principles in the state of nature, it seems Rousseau cannot model the state according to pre-political standards, and according to such interpretations that is a central reason to count him out of the natural law tradition. 1 Arthur Melzer, The natural goodness of man: On the system of Rousseau’s thought, Chicago: Chicago University Press 1990, p. 129 gives a survey of the debate. C. E. Vaughan asserts in his introduction to The political writings of Jean Jacques [sic] Rousseau that Rousseau “sweeps away the idea of natural law, root and branch”, Vol. 1, p. 16; Robert Derathé, Rousseau et la science politique de son temps, Paris: Presses universitaires de France, 1950, p. 151 – 171, tries to show that Rousseau belongs to the tradition of natural law philosophy. Robert Wokler, “Rousseau’s Pufendorf: Natural law and the foundations of commercial society”, in: History of Political Thought 15 (1994), p. 373 – 402, tries to refute Vaughan and Derathé; Roger Masters, The political philosophy of Rousseau, Princeton: Princeton University Press, p. 275, claims that Rousseau “from the perspective of political philosophy […] rejects any notion of natural law as the basis of society”; Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique. Les principles du système de Rousseau, Paris: Vrin, 1973, assumes that Rousseau has the ambition to rival with the natural law thinkers (p. 169 – 176). 2 For Rousseau’s reception of early modern natural law, see Gabriella Silvestrini, “Rousseau, Pufendorf and the eighteenth-century natural law tradition”, in: History of European Ideas 36 (2010), p. 280 – 301.

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The purpose of this paper is to suggest a positive answer to the question raised above. My thesis that Rousseau actually is a philosopher of natural law is based on the following premisses: a) There are different possibilities to establish natural values and norms. The notion that natural law is necessarily grounded upon rationality offers too narrow a reading of the natural law tradition. It leaves aside the fact that the focus on rationality presents only one, though powerful, of many strains within the theory of natural law. That Rousseau’s starting-point is not human rationality does not imply he is saying goodbye to natural law thinking. He simply puts the focus on other presumably natural human qualities than rationality. b) Natural law does not have to be presented in the form of laws by necessity. It comes in a variety of shapes, and therefore many natural law thinkers feel the need to explain what they mean if they talk about “law” – natural drives and advices, for example, are all treated under this headline.3 Indeed, Rousseau does not propose any concept of natural law that takes “law” to be the authoritative word of a legislator, issued in the grammatical form of a command and enforced with a threat of punishment. To conclude from this fact that Rousseau has no natural law theory at all would be wrong – it only means he does not belong to the voluntarist school of natural law. c) Once it is accepted that neither the concentration on rationality as the basis of natural law nor the focus on voluntarist lawgiving can be identified with the natural law tradition as a whole, it shows that Rousseau actually has a concept of pre-political moral principles which serves very well as standard for norms within his theory of the state. II. Is there a Human Nature at all? One reason for the many claims that Rousseau does not belong to the natural law tradition may be that he is not sparing with criticism of it. Given his thesis that the knowledge of man is the most useful of all human sciences, he thinks the ignorance about human nature is scandalous, and he rebukes natural law philosophers for their neglect of finding a common definition of natural law.4 In Rousseau’s view, they are 3 Rousseau himself discusses the various uses of the term “natural law” in the preface to the Second Discourse (in: Jean-Jacques Rousseau, Discourse on the origins of inequality [Second discourse], Polemics, and Political Economy, The collected writings of Rousseau, Vol. 3, ed. Roger D. Masters and Christopher Kelly, Hanover and London: University Press of New England, 1992), p. 13 – 14 (in French: Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin and Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade] = OC III, p. 124 – 125). In this article the English references to Rousseau’s writings will be followed by references to the standard edition of the Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin and Marcel Raymond, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1959 f., using the abbreviation OC. If an English translation of a work is not available, the references will be given according to the Œuvres complètes only. 4 On the prominent role of the science of man see Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), preface, p. 12 (OC III, p. 122); on the disagreements among natural law philosophers see ibid., p. 124 – 125 (OC III, p. 13 – 14).

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all bound to fail because their search for human nature takes civilized man as an object. They investigate into the qualities of man long after he has left the state of nature, then ask what rules would be beneficial for him in this situation and finally call this arbitrarily gathered body of rules “law of nature”.5 It is textbook wisdom that Rousseau wanted to show in the Discourse on Inequality that inequality was not authorized by the law of nature. But he not only tried to demonstrate that inequality was the product of civilization, legitimated by positive laws, his ambitions went much further: He repudiates the history of natural law from the very beginning until his days and claims to have the clue to find the true definition of human nature and of the law that corresponds to it. “Non in depravatis, sed in his quae bene secundum naturam se habent, considerandum est quid sit naturale”6, that is the motto for the Discourse on Inequality – a citation from Aristotle, but for Rousseau without doubt even Aristotle was not fit for the task he had set for himself. Rousseau however likes to play the part of showing he is ready, willing, and able to finish with two millenniums of errors concerning natural law and this time do it right. Seen in this light, the preface of the Discourse on Inequality constitutes the selfconfident manifesto for a fresh start in natural law theory. The basis for this project consists in the promise to master what Rousseau’s predecessors in his view had not managed to do: the enterprise of distinguishing the original aspects in human nature from the artificial ones.7 Rousseau gets on with “stripping” man “of all the supernatural gifts he could have received and of all the artificial faculties he could only have acquired by long progress” and discovers an “animal”8 who differs from other creatures less in rationality than in his quality of “being a free agent” (“sa qualité d’agent libre”)9. This being is presented as “neither good nor evil, [having] neither vices nor virtues”10, and Rousseau offers an interesting explanation for this absence of moral faculties: “[…] Savages are not evil precisely because they do not know what it is to be good […]”.11 There is no law to hinder savage man from doing bad, no enlightened insight, and being ignorant of vice, the idea of doing something civilized generations in the future might call vicious does not even enter his mind.12 Rousseau distances himself from Christian theologies which claim that fallen man is in need of rules from the very beginning. Given his “ignorance of vice”13, no law is necessary to guide natural man.

Ibid., preface, p. 14 (OC III, p. 125). Aristotle, Politics, L. 2., cited at the front-page of Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), p. 1 (OC III, p. 109). 7 Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), preface, p. 13 (OC III, p. 123). 8 Ibid., part I, p. 20 (OC III, p. 134). 9 Ibid., part I, p. 25 (OC III, p. 141). 10 Ibid., part I, p. 34 (OC III, p. 152). 11 Ibid., part I, p. 35 (OC III, p. 154). 12 Ibid. 5 6

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Rousseau is looking for the “first and simplest operations of the human soul”, to find out the basic principles in the behaviour of natural man: “self-love” (“amour de soi”) and “pity” (“pitié”) which he believes to be the origins of “all the rules of natural right”.14 Self-love consists in the care for self-preservation, and is a natural drive common to animals and men that makes them do what is necessary to survive.15 This drive however is bridled by an “innate repugnance to see his fellow suffer”.16 Unless he is legitimately forced to secure his survival, natural man will never hurt any “sensitive being”.17 His natural drive of pity is so powerful that he would have to resist it actively in order to be able to do any harm at all. Men (as well as animals) in the original state of nature possess the ability to identify with suffering beings, a process happening sub-consciously and without reflection, quasi automatically, as it were.18 Rousseau claims it is “evident that this identification must have been infinitely closer in the state of Nature than in the state of reasoning”.19 The reason why it is much more difficult to sympathize with man or animal in the civilized state is that civilized man is rational, and “[r]eason engenders amour propre and reflection fortifies it”.20 “Philosophy isolates” man, he is ingenious in finding good reasons why he does not need to identify with another man in trouble and to bother to help.21 This adjusting of arguments will hinder civilized man from intervening when he is needed, a “talent”, Rousseau sarcastically says, that is completely absent in natural man, who will always follow his “first feeling of humanity”.22 Rousseau’s message to the “modern” representatives of natural law theory23 is clear: they all presuppose man as a being that has no reliable intrinsic motivation Ibid. Ibid., preface, p. 14 – 15 (OC III, p. 126). 15 Ibid., preface, p. 15 (OC III, p. 126). 16 Ibid., preface, p. 36 (OC III, p. 154). Despite of directing his reflections concerning pity to man in the first place, Rousseau says animals sometimes show symptoms of pity, too (ibid.). 17 Ibid., preface, p. 15 (OC III, p. 126). 18 Ibid., part I, p. 37 (OC III, p. 155). 19 Ibid., part I, p. 37 (OC III, p. 155 – 156). 20 Ibid., part I, p. 37 (OC III, p. 156). 21 Ibid. 22 Ibid. 23 In the Second Discourse (footnote no. 3), preface, p. 13 – 14 (OC III, p. 124 – 125), Rousseau discusses the errors of the ancient and the “modern” philosophers of natural law. In his criticism, he concentrates on the “moderns” like Hobbes, Grotius, Pufendorf, Burlamaqui and Barbeyrac. In this text, the theories of these early modern natural law philosophers are simplified and streamlined concerning their variety in order to be able to contrast Rousseau’s position more clearly. Their theories undeniably vary a lot, but for the sake of the argument, the emphasis is put on the ideas they have in common: They are of one mind that pre-political norms are not efficient enough to secure a peaceful life (even if they are taken to be obligating because of a divine legislator); in order to be efficient they have to be enforced by the state, the power of which however has to be restricted by the natural law. And they agree that these 13 14

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not to harm others, and has to be guided by laws in order to prevent the worst. But it is not natural man they are talking about, they refer to man in the civilized state. As far as the truly natural man is concerned, the talk about law is pointless – a being who is naturally driven to do right does not need any orders. Prescribing a certain behaviour becomes an issue only after the natural inclinations are weakened by the process of civilization. In “the state of nature, [pity] takes the place of Laws, morals, and virtue, with the advantage that no one is tempted to disobey its gentle voice”24, temptation being a consequence of the establishment of artificial guidelines that entice into trespassing them. As soon as such rules enter the stage, the age of moral innocence is over – Rousseau agrees that duties, customs and laws may help man to act well, but they have the side-effect of making him realize the tempting possibilities to do the contrary.25 Compared with the natural inclination of pity, rules are only second-best, and in the historical perspective they also come second. They become necessary only after society has developed and men suddenly need “qualities different from those they derived from their primitive constitution” in order to cope with the change.26 Fortunately, human nature for Rousseau is well equipped to adapt itself to transformations in its environment: “It was by a very wise Providence that his potential faculties were to develop only with the opportunities to exercise them, so that they were neither superfluous and burdensome to him beforehand, nor tardy and useless when needed”.27 The “meta-faculty” that enables man to adjust to change is what Rousseau calls “perfectibility” (“perfectibilité”).28 Perfectibility, along with free agency29, is what distinguishes men from animals. It does not refer to the simple ability, say, to avoid stinging nettles after a first ignorant and hurtful contact, i. e., it is not just learning from experience, common to men and animals alike. What is special about perfectibility is that it is “a faculty which, with the aid of circumstances, successively develops all the others”; it brings forward faculties man potentially has, but that according to Rousseau he does not need from the start – such as sociability or rationality.30 That is a slap in the face of most natural law thinkers before Rousseau, who presupposed a natural sociability making human beings favorably disposed towards their fellow men. Rousseau elegantly dis-

pre-political norms are represented as laws, in the grammatical form of commands, issued by a lawgiver (God). 24 Ibid., part I, p. 37 (OC III, p. 156). 25 Ibid., part I, p. 38 (OC III, p. 157) and Rousseau, Émile, in: Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin and Marcel Raymond, Vol. IV, Paris: Gallimard, 1969 [Bibliothèque de la Pléiade], book II, p. 334. 26 Rousseau, Second Discourse, part II, p. 48 (OC III, p. 170). 27 Ibid., part I, p. 34 (OC III, p. 152). 28 Ibid., part I, p. 26 (OC III, p. 142). 29 Ibid., part I, p. 26 (OC III, p. 141). 30 Ibid., part I, p. 26 (OC III, p. 142) and ibid., p. 33 – 34 (OC III, p. 151).

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misses this pillar of natural law theory, claiming that “from the little care taken by Nature to bring Men together through mutual needs and to facilitate their use of speech, one at least sees how little it prepared their Sociability, and how little it contributed to everything men have done to establish Social bonds”.31 Sociability does not come naturally, it only developed after the population grew and the circumstances drove men to have closer contact with others. The same holds for rationality. Again, Rousseau goes on the offensive against an idea which in natural law thinking was taken for granted for ages – the idea that man is endowed with reason by nature. Rousseau puts forward the objection that man in his original state has no grounds to use his brains, as only “desire and fear” could make him search for knowledge, states of mind he is completely free of.32 Therefore, rationality is a faculty man possesses from the beginning potentially, but not actually, as it will develop only “with the opportunities to exercise” it, and such opportunities are absent in the original state.33 Now perfectibility “resides among us as much in the species as in the individual”, making man able to become more perfect whereas there is no substantial change in animals.34 Perfectibility and free agency35 are the only differentiae specificae of man, and the ironic point of these classifications is that they make it impossible to fix a constant human nature – the two only constants in man being faculties that keep him flexible. Talking about human nature, what can be legitimately said according to Rousseau is that man always has the (by definition) wobbly faculties of free choice and of perfectibility, but statements like “man is sociable” are inappropriate unless specifications concerning the circumstances in question are added. It follows a) that there is no such thing as a constant human nature, b) that exactly because human nature is subject to change, it is impossible to draw constant norms from it.36 That makes it difficult to talk correctly about natural law, on the one hand because of the meaning of “law”: “Law” has no place in the original state of nature, when man does not need any guidance or pressure because pity will prevent him from doing harm. It is only possible to talk about natural “law” in a metaphorical sense, and this is what Rousseau does when he for example calls the natural inclinaIbid., part I, p. 33 – 34 (OC III, p. 151). Ibid., part I, p. 27 (OC III, p. 143). 33 Ibid., part I, p. 34 (OC III, p. 152) + p. 42 (OC III, p. 162). 34 Ibid., part I, p. 26 (OC III, p. 142). 35 Ibid., part I, p. 25 (OC III, p. 141). 36 „Les règles de justice ne se trouvent pas dans une nature humaine ou un modèle unique des relations pré-civiles. […] elles sont des solutions plus ou moins heureuses, et relativement provisoires à des problèmes engendrés par tel ou tel état des relations humaines: elles sont liées aux circonstances de leur énonciation. C’est pourquoi il y a non pas une, mais plusieurs normativités pré-politiques, et c’est pourquoi aussi l’état civil ne dépend pas des lois naturelles. Le droit n’est pas une parole universellement valide, mais la norme qui se dégage d’un fait ou d’une situation, soit spontanément et nécessairement (mœurs, propriété), soit artificiellement […]” (Gabriella Radica, L’histoire de la raison. Anthropologie, morale et politique chez Rousseau, Paris: Honoré Champion, 2008, p. 148). 31 32

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tion of self-preservation a natural “law”.37 On the other hand, assuming a natural law is problematic because of the sense of “natural”, as the so-called “natural” laws usually refer to faculties and rules that are products of civilization. Rousseau leaves no doubt that the establishment of norms results from an adjustment to the times that are a-changing. They become necessary only when it turns out that the natural goodness of man, so appropriate for the original state, is not suited to the altered circumstances. And as this adjustment of human nature as a result of perfectibility cannot be brought to a standstill, neither can the corresponding norms. They need to be revised constantly to make sure they will not become superfluous or detrimental to the situation in question.38

III. Pre-political Moral Faculties: Rationality Revised The change in human nature prompts the question whether there is any faculty enabling man to judge which ways of adjustment are good. After all, the fact that natural pity is weakened in the course of civilization may be answered quite differently. You might welcome the vanishing of pity as it will help you to shrug your shoulders at the misery of others without any annoying natural inclination interfering with your egotism. You might as well regret the weakening of pity and look for a way to replace it, fearing you might become a plague for your fellow men otherwise. And Rousseau leaves no doubt that not any change and not any way to adapt to it is good. But what is the standard of judgement, and how does such a judgement take place? The answer that might be expected of a 18th century philosopher would most probably be the claim that reason helps you to distinguish a positive change from a negative one and to assess how you should adjust to it. But Rousseau – not surprisingly – does not belong to the usual suspects which are customarily detained whenever an example for an optimistic take on rationality in Enlightenment philosophy is needed. Already in the preface of the Discourse on Inequality he makes it clear why he will not join the group of rationalists in moral philosophy. He is criticizing the “modern” natural law theorists who understand “law” to be “only a rule prescribed to moral being, that is to say, intelligent, free […]”, limiting “the competence of natural Law to the sole animal endowed with reason, namely man”.39 Rousseau obviously rejects this concept of natural law as too narrow (“only a rule”, “limiting”) as it presupposes the existence of man as a rational agent and focuses on his faculty of reason alone. Again, the problem according to Rousseau is that no such rational creature exists in the original state; therefore, the said natural law theorists wrongly assume natural man “must have used […] enlightenment which only devel37 38 39

Rousseau, Émile (footnote no. 25), book III, OC IV, p. 467. Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), part I, p. 34 (OC III, p. 152). Ibid., preface, p. 14 (OC III, p. 125).

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ops with great difficulty and in very few People in the midst of society itself”.40 The very fact that the rationalist natural law advocated by this “modern” natural law theory places such high demands on man for Rousseau speaks against the plausibility of its arguments. Very “few people [are] capable of comprehending these principles” even among his own civilized contemporaries, he claims, let alone in the original state of nature, and they are “far from being able to find them by themselves”.41 This last point is a knockout in Rousseau’s view: to be able to call something a “law”, “not only must the will of him who is bound by it be able to submit to it with knowledge; but also, for it to be natural, it must speak directly by Nature’s voice”.42 Therefore, the law that modern philosophers take for “natural” is a product of civilization, as it cannot be known without a certain degree of learning unavailable for natural man. And what is more, this law’s not speaking “directly by Nature’s voice” means its content cannot be grasped by every man equally. Whoever is advocating this “modern” concept of natural law should be aware of the consequences, as for Rousseau it implies the admission “that it is impossible to understand the Law of Nature and consequently to obey it without being a great reasoner and a profound Metaphysician”.43 The author of the Discourse on Inequality, apt to show that inequality is opposed to natural law, has set himself the goal here to demonstrate that “modern” natural law thinkers had nothing better to do than drafting a socalled natural law biased in favour of learned men, viz., themselves. This is why Rousseau stresses he is leaving aside “all scientific books which teach us only to see men as they [the authors of those books, we might specify] have made themselves”.44 The outcome of their efforts is a natural law theory that unfairly favours rationality, a faculty not yet developed in natural man and distributed extremely unequally in civilized man. Rousseau harshly rebukes those early modern philosophers of natural law who suppose all the principles of morals are rational and can be recognized by every rational being, that is every man. One of his aims in the Discourse on Inequality was to show they were wrong in assuming rationality is a faculty all men possess by nature, in a degree sufficient to understand the demands of a natural law conceived as rational. When Rousseau claims to have discovered the two “first and simplest operations of the human soul”, “self-love” and “pity”45, he praises the advantage of his own concept: it does not need to “make man a Philosopher”46, a dig at rationalist natural law theory. To sum up his criticism, rationality is too elitist a 40 41 42 43 44 45 46

Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. p. 14 (OC III, p. 126). Ibid., p. 14 – 15 (OC III, p. 126). Ibid., p. 15 (OC III, p. 126).

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faculty to serve as a foundation for moral judgements. In Émile Rousseau proposes another way to find out which principles for his behaviour man should follow. He makes the Savoyard vicar say he is “not deducing these rules from the principles of high philosophy, but he is finding them at the bottom of his heart, where nature has engraved them uneffaceably. […] The best advocate is conscience.”47 Again, Rousseau voices here a polemic against a philosophy that tries to lure men into believing it is by reflection they will learn to act well. The background of this thought very probably is Rousseau’s suspicion that philosophers want to make disciples, they don’t want to help people to make up their own mind.48 This is why Rousseau insists the real natural law must be understood “directly“ (“immediatement”)49, without any mediation, be it by clergymen or by philosophers, for only then it can be said to be “natural”, guiding all men equally. Conscience according to Rousseau is an “innate principle of justice and virtue”50, proper to every man, easily recognized by everybody independent of any intellectual talent. It seems that conscience is a promising candidate in our search for a natural faculty helping to discern which change and which adjustment to it is appropriate. And Rousseau says indeed that “one cannot establish a natural law with reason alone, independent of conscience”.51

IV. Obligation: Political, not Natural So according to the Discourse on Inequality pity prevents man from causing damage, and following Émile the innate faculty of conscience helps man to check any egotist tendencies. But no matter what pre-political moral principle is consulted, the trouble is that all of them are not as effective as one might wish. Pity is weakened in the course of civilizational progress52, conscience is “timid” and tends to move back if its bearer dwells in a loud environment and prejudice tries to gain the upper hand inside him53. In theory it is possible to preserve a pitying heart and to listen faithfully to the voice of conscience even if the state of nature is long gone and one historically and geographically lives in a hotspot of civilization. But be it in the advanced state of nature or in the civilized state, the difficulty is that one cannot count on every individual’s striving for moral goodness: “the sublime concepts of a God of the wise, the gentle laws of brotherhood He imposes upon us, the social virtues of pure souls […] will always escape the multitude”54. In the original state

47 48 49 50 51 52 53

Rousseau, Émile (footnote no. 25), book IV, OC IV, p. 594 (transl. M. R.). Ibid., p. 568. Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), preface, p. 14 (OC III, p. 125). Rousseau, Émile (footnote no. 25), book IV, OC IV, p. 598 (transl. M. R.). Ibid., p. 523 (transl. M. R.). Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), part I, p. 37 (OC III, p. 156). Rousseau, Émile (footnote no. 25), book IV, OC IV, p. 601.

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of nature, there was no need to compel anybody not to harm his fellow men, as pity was gently leading him to do what was necessary.55 With the progress of civilization, one cannot count on the work of natural drives for goodness any more, and is therefore well-advised to make use of the institution of law56: Man now has to be guided by more powerful means, with the help of obliging norms, the violation of which is punished. And law becomes even more necessary, the more the faculty of reason is developed. Reason enables man to clearly perceive what will serve his own needs, and there are some who will eagerly make use of their rationality for their egotist purposes. In the Geneva Manuscript of the Social Contract, Rousseau presents a prime example for such a person: the “independent man”. If somebody tries to lecture him about his moral duties in the state of nature, his answer will be the following: “I am aware that I bring horror and confusion to the human species […], but either I must be unhappy or I must cause others to be so, and no one is dearer to me than myself.”57 Rousseau is quoting literally Denis Diderot’s Encyclopedia article on “Natural Right“ here.58 Diderot introduces the person he calls the “violent reasoner” as somebody who claims to be “equitable” as he is no free rider who has to count on most people’s altruism in order to be able to profit from them. The “violent reasoner” accepts that others will try to live at his expense as well, he is “not so unjust [to] require of another a sacrifice that [he does] not want to make for him”.59 His maxim of legitimate mutual exploitation obviously is the consequence of his reasoning, and as Diderot presupposes that “it is necessary to reason about everything” and that reason is the “means to discover the truth”, the “violent reasoner” seems to be a challenge to this rationalist philosophy of natural law.60 Diderot tries to save

54 Rousseau, Geneva Manuscript (in: Rousseau, On the social contract, with Geneva Manuscript and Political Economy, ed. Roger D. Masters, New York: St. Martin’s Press, 1978), book I, chapter 2, p. 160 (OC III, p. 285). 55 Compare Bruno Bernardi, Le principe d’obligation. Sur une aporie de la modernité politique, Paris: Vrin 2007, p. 288: “La pitié et l’amour de soi sont bien la racine naturelle de sentiments moraux mais ceux-ci doivent être pensés sous la modalité d’amour, non sous celle de l’obligation.” 56 Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), part I, p. 37 (OC III, p. 156). 57 Rousseau, Geneva Manuscript (footnote no. 54), book I, chapter 2, p. 170 (OC III, p. 284 – 285). 58 Denis Diderot, “Natural Right” (Encyclopedia Vol. V), in: Rousseau, Jean-Jacques, Discourse on the origins of inequality (Second discourse), Polemics, and Political Economy, The collected writings of Rousseau, Vol. 3, ed. Roger D. Masters and Christopher Kelly, Hanover and London: University Press of New England, 1992, p. 135 – 139, here p. 136. However, there are pieces of evidence that this article is copied from Samuel Clarke’s Discourse concerning the being and attributes of God (see Anthony Burns, “The source of the Encyclopédie article ‘Loi naturelle [morale]’”, in: British Journal for Eighteenth-Century Studies 7 [1984], p. 39 – 48, here p. 39 – 40). 59 Denis Diderot, “Natural Right” (footnote no. 58), p. 136. 60 Ibid.

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his theory by saying that the error of the “violent reasoner” is to “constitute himself judge and party”; therefore the question what is just and unjust should be brought not before individuals, but “before the human race”.61 Diderot assumes the existence of a “general will” proper to humanity, a will that teaches every man the right “rule of conduct” if only he renounces listening to his “private will” and “reasons in the silence of the passions” instead.62 Rousseau proceeds to examine Diderot’s considerations and challenges his focus on rationalism by continuing the speech of the “violent reasoner”. He makes him say, “I admit that I see in this the rule that I can consult, but I do not yet see […] the reason for subjecting myself to this rule. It is not a matter of teaching me what justice is, but of showing me what interest I have in being just.”63 Therefore, even if Diderot was right in supposing the existence of a rational and rationally accessible “general will” – what Rousseau denies –, his concept was useless: A person might recognize the “rule of conduct”, but such an insight will not reliably move him or her to act accordingly. Surely it is Rousseau’s skepticism concerning the powers of reason that comes to light here: reason is a neutral faculty helping men to choose the right means for their ends, but it does not necessarily enlighten them about which ends and means are good. Furthermore, he thinks the concentration on rationality is unfair as reason is not distributed equally; and that makes him favour faculties like conscience or pity that he originally takes to be egalitarian. But this awareness of the limits of rationality is not decisive here; what counts is that reason alone is not obliging. That is what the “violent reasoner” points at when he says that you “try vainly to tell me that in renouncing the duties that natural law imposes on me, I deprive myself at the same time of its rights and that my violence will justify every violence that others would like to use against me. I am all the more willing to agree because I fail to see how my moderation could protect me”.64 The bitter truth is that you have to be able to afford being moderate, and in the state of nature this is not the case – it would be much too risky to comply with the rational “rule of conduct”. Even if every individual would recognize what behavior was desirable, this general knowledge would not lead to a peaceful social life: Rational insight per se does not obligate. Rousseau assumes there is nothing at all in the state of nature that could make such insights obligatory – a farewell to the Christian tradition in natural law that presupposes god is the obligating power. Therefore, the claim of the “violent reasoner” is perfectly justified: “Either give me guarantees against all unjust undertakings or do not expect me to refrain from them in turn.”65 Searching for such guarantees, you cannot count on rationality, and you Ibid., p. 137. Ibid., p. 138. 63 Rousseau, Geneva Manuscript (footnote no. 54), book I, chapter 2, p. 161 (OC III, p. 286). 64 Ibid., book I, chapter 2, p. 160 (OC III, p. 285). 61 62

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cannot rely upon sociability either: the “general society” of humanity that Diderot supposed to be the moral framework for each individual only exists “in the systems of philosophers” according to Rousseau: “[…] the term human race suggests only a purely collective idea which assumes no real union among the individuals who constitute it”.66 In consequence, rationality and sociability have to be ruled out in the quest for candidates that provide guarantees that will make the “violent reasoner” change his mind. What is needed is an institution powerful enough to deliver such sureties, thereby enabling each individual to be moderate without risk. “Let us use new associations”, Rousseau suggests, “to correct, if possible, the defect of the general association”.67 The general association of all mankind incapable of obligating its members is replaced by particular, political associations with the capacity to obligate their citizens. This is a thought that sounds familiar – after all, many thinkers in early modern natural law (see footnote no. 23) supposed that the existence of pre-political moral standards was not enough to secure peace among men, and consequently they entrusted the institution of the state with this task. In the Social contract, these are exactly the philosophers (particularly Hobbes and Grotius) Rousseau attacks for their eagerness to guarantee security, an ambition that leads them to advocate absolute power, as absolutist governments seem to successfully obligate their subjects not to harm each other.68 Rousseau affirms their efficiency in this regard but criticizes that they make freedom perish in favour of security. Consenting to such a government according to Rousseau is the political equivalent to selling oneself into slavery:69 “To renounce one’s freedom is to renounce one’s status as a man, the rights of humanity and even its duties. […] Such a renunciation is incompatible with the nature of man, and taking away all his freedom of will is taking away all morality from his actions.”70 Therefore, the “nature of man“ for Rousseau indeed is the standard for judging the quality of a political system or a government. In this respect, he is in agreement with virtually every natural law philosopher before him. Absolutist systems, for example, in his view are illegitimate exactly because they impose demands on the individuals that make them act against their very nature as human beings.71 Rousseau just simply diverges from the prominent natural law theories in his defi-

Ibid. Ibid., book I, chapter 2, p. 159 (OC III, p. 284). 67 Ibid., book I, chapter 2, p. 162 (OC III, p. 288). 68 Compare Rousseau, Social Contract (in: Rousseau, On the social contract, with Geneva Manuscript and Political Economy, ed. Roger D. Masters, New York: St. Martin’s Press), book I, chapter 4, p. 49 (OC III, p. 355 – 356). 69 Ibid. 70 Ibid., book I, chapter 4, p. 50 (OC III, p. 356). 71 Compare ibid., book I, chapter 4, p. 50 (OC III, p. 357), where the system of King Louis IX of France is condemned as being “contrary to the principles of natural right”. 65 66

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nition of man’s nature. The definition he goes back to in the Social contract is well-known from the Discourse on Inequality: human nature is basically characterized by “freedom”, more precisely “freedom of will” or “free agency”.72 This freedom has an intrinsical connection with “perfectibility”: if man’s nature implies constant change, it is vital not to tie man down to a particular faculty he possesses at a given time. Natural law thinkers who suppose that rationality and sociability are the virtually eternal features of human nature to which all laws must correspond, thereby try to freeze man in a historically and anthropologically contingent condition. Rousseau insinuates that a political agenda is responsible for the attempts to design a human nature that can only be adequately met by a particular political system or government that unfortunately often happens to be despotic or even tyrannical. “Modern” natural law thinkers in Rousseau’s mind are not interested in discovering what is truly natural in man. They prefer to construct a vision of man’s nature suitable for their political ends: They seek “rules on which, for the common utility, it would be appropriate that men agree among themselves, and then one gives the name natural Law to the collection of these rules […]”.73 The second half of the prize question proposed by the Academy of Dijon in 1754 – “What is the origin of inequality among men, and is it authorized by natural Law?”74 – was answered by eight out of ten participants in the competition in the affirmative (and it goes without saying that one of them won the prize)75. That is just one instance that shows Rousseau has a point when he judges that theories of natural law are often modelled “for the common utility”, to fit the political status quo. Rousseau wants to stop the artificial construction and political instrumentalization of so-called human nature. But if it is right to assume that Rousseau is a natural law thinker himself, taking human nature as the moral standard for the realm of politics, the question is how he tries to escape the reproach of exploiting it for political ends. Rousseau thinks himself to be on the safe side because he does not engage human nature to legitimize systems of rule subjecting men to heteronomy. Just like the mainstream philosophers within the early modern tradition of natural law (see footnote no. 23), he thinks obligation is essential as men will not reliably abstain from harming each other just because of, say, a rational insight. Men need to know there is a law that obliges them not to injure anybody, or else they have to reckon with punishment – so far Rousseau agrees with his colleagues. “But what is the foundation of this obligation?”, Rousseau asks and proceeds to discuss the standard answers: “Some say, it’s force; others, paternal Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), part I, p. 25 (OC III, p. 141). Ibid., preface, p. 14 (OC III, p. 125). 74 Ibid., p. 17 (OC III, p. 129). 75 See Heinrich Meier’s commentary to the prize question of the Academy of Dijon in Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inégalité, ed. Heinrich Meier, Paderborn et al.: Schöningh (UTB für Wissenschaft; 725), p. 64 – 65. 72 73

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authority, others, the will of God. […] I put the body politic on the basis of the agreement of his members.”76 His theory is superior to all the others, he claims, because there is no safer foundation for obligation than “the free consent of the person who obliges himself”.77 Selfobligation according to him is “the condition of liberty”, it is appropriate for human beings and does not contradict the natural laws, which is important because it is not permitted “to offend against the natural laws by means of the social contract”.78 Therefore, any other foundation for obligation than free consent is rejected, and Rousseau presents free consent as obligation’s only legitimate basis, the only one that truly corresponds to human nature: man’s differentia specifica being free agency, he cannot be obliged but by his own agreement. However the notion of self-obligation can be used to justify the subjection to heteronomous principles as well, as Thomas Hobbes’ concept of authorization shows: The individuals agree to authorize the sovereign, thereby once and for all consenting to accept any decision of the sovereign as their own.79 Rousseau wants to make sure that such irrevocable, unchangeable decisions cannot have a place within his system, even if they should be based on agreement. His notion of self-obligation implies that it is illegitimate to bind one’s will once and forever, as that would be contrary to free agency. Whoever sells himself into slavery, proudly stating that it was his free decision to do so, is in Rousseau’s eyes a madman.80 For free agency to make any sense, the individual must have the liberty to revoke his decisions, to change his mind, to make improvements. The political system drafted by Rousseau in the Social contract is meant to do justice to man’s freedom of will: “It is apparent […] that there is not, nor can there be, any kind of fundamental law that is obligatory for the body of the people, not even the social contract.”81 A constitution would inadmissibly bind the will of the citizens, as would be the case with natural laws in the prominent modern variant as well – pre-political norms in the grammatical form of a command, setting the standard for political legislation. Such a concept of natural law limits the task of the political lawgiver to transferring the natural laws into positive laws. Rousseau dismisses 76 Rousseau, Lettres écrites de la montagne (in: Rousseau, Œuvres complètes, ed. Bernard Gagnebin and Marcel Raymond, Vol. III, Paris: Gallimard, 1964 [Bibliothèque de la Pléiade]), 6th letter, p. 806 – 807 (transl. M. R.). 77 Ibid. (transl. M. R.). 78 Ibid., p. 807 (transl. M. R.). 79 See Thomas Hobbes, Leviathan, ed. Richard Tuck, Cambridge: Cambridge University Press, chapter XVI, p. 112: “[…] when the Actor maketh a Covenant by Authority, he bindeth thereby the Author, no lesse than if he had made it himself; and no lesse subjecteth him to all the consequences of the same.” 80 Compare Rousseau, Social contract (footnote no. 68), book I, chapter 4, p. 49 (OC III, p. 356) and Rousseau, Lettres écrites de la montagne (footnote no. 76), 8th letter, p. 842: “the true liberty is never self-destructive” (transl. M. R.). 81 Rousseau, Social contract (footnote no. 68), book I, chapter 7, p. 54 (OC III, p. 362).

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it by claiming that “in any event a people is always the master to change its laws – even the best laws […]”.82 Talking about autonomy would be futile if the citizens would be bound to the natural laws presented by the standard variant of modern natural law theory. The trouble with this variant is furthermore that it presupposes pre-political norms valid for every human being, no matter when or where it has lived. If the idea of perfectibility is taken seriously, the thought of laws universally applicable to men of all periods and in every corner of the world is absurd. This is why Rousseau dispatches the notion of a “general society of mankind” and opts for the creation of “new associations” instead, particular body politics which members are at liberty to choose the laws fit for them at a given time, laws that are binding only because they oblige themselves to obey them.83 This constitutes a politicization of obligation that claims to put an end to the universalist standard of traditional natural law. Any obligation according to Rousseau is a political self-obligation. There are no other powers – like God – or faculties – such as reason – that are capable of obligating man. Following the standard reading of early modern natural law theory, the power of the state is restricted by natural law. Natural law is an instrument to diagnose the shortcomings of the positive law, and it represents the remedy as well. Rousseau rejects the idea of pre-political norms in the form of laws which the laws of the state have to imitate. But the indisputable fact that Rousseau does not advocate the standard version of early modern law does not mean that he is no philosopher of natural law at all. He also makes use of the notion of “natural law”, however he does not define “law” in terms of “command”, but in terms of the “first and simplest operations of the human soul” and of man’s quality of being a free agent.84 The point is that freedom, so essential for man, cannot exist without laws: even in the state of nature, Rousseau claims, man is free only thanks to the natural law.85 Guarantees that every individual will respect his fellow man’s freedom being absent in the original state, it is the political association that has to provide such a surety. From this point of view, Rousseau’s republic is the facilitating condition of freedom. Rousseau is trying to design a political system with built-in measures to secure man’s freedom: For example, the citizens are asked in each assembly if it “please[s] the sovereign to preserve the present form of government”.86 What he ventures here

Ibid., book II, chapter 12, p. 76 (OC III, p. 394). Rousseau, Geneva Manuscript (footnote no. 54), book I, chapter 2, p. 162 (OC III, p. 288). Therefore, the “general will” is called “general” only in relation to the state it corresponds to; in relation to other states it is a “particular will” (Rousseau, Political Economy, in: Rousseau, On the social contract, with Geneva Manuscript and Political Economy, ed. Roger D. Masters, New York: St. Martin’s Press, p. 140 – 170, here p. 144; OC III, p. 246). 84 Rousseau, Second Discourse (footnote no. 3), preface, p. 14 – 15 (OC III, p. 126). Compare Rousseau, Émile (footnote no. 25), book III, OC IV, p. 467: “The first natural law is the care of self-preservation” (transl. M. R.). 85 See Rousseau, Lettres écrites de la montagne (footnote no. 76), 8th letter, p. 842. 82 83

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is the squaring of the circle in the field of politics: the establishment of a (by definition inflexible) institution, adaptable to the (by Rousseau’s definition infinitely flexible) human nature. Rousseau’s solution to the “fundamental problem” of reconciling a political “form of association” that provides security with a freedom as unrestricted as in the state of nature87 consequently claims as well to show how natural law can be respected and represented by the state. Therefore, Rousseau on the one hand bids farewell to the tradition of natural law theory. On the other hand, he claims to have found out what is truly natural in man, and what political system corresponds to it. And that is how he is making natural law history.

Zusammenfassung Ist Rousseau ein Naturrechtsdenker oder nicht? In diesem Aufsatz soll eine positive Antwort auf diese kontrovers diskutierte Frage gegeben werden. Rousseau schreibt zum einen eine kritische Geschichte des traditionellen Naturrechts, das aus seiner Sicht auf falschen Prämissen beruht: nicht auf natürlichen, sondern auf erworbenen Fähigkeiten des Menschen, zu denen er auch Rationalität und Soziabilität zählt. Zum anderen stellt er die seiner Auffassung nach korrekte Version der Geschichte des Naturrechts vor, basierend auf der wahren menschlichen Natur. Der Aufsatz demonstriert, dass die einzigen natürlichen Eigenschaften des Menschen, die laut Rousseau konstant bleiben, diejenigen sind, die ihn flexibel halten, nämlich Perfektibilität und Willensfreiheit. Und es soll deutlich werden, dass genau diese Eigenschaften für Rousseau als naturrechtlicher Maßstab des politischen Systems und seiner Gesetze dienen: Nur derjenige Staat wird der Perfektibilität und Willensfreiheit gerecht, der auf der freiwilligen Zustimmung der Individuen beruht. Die dadurch erlangte Selbstverpflichtung aber muss revidierbar sein, weshalb die Republik des Contrat social keine Verfassung haben soll und es kein Gesetz geben darf, das die Bürger nicht ändern könnten. Die Rousseausche Republik, so wird gezeigt, ist damit die Ermöglichungsbedingung natürlicher Freiheit.

Rousseau, Social contract (footnote no. 68), book III, chapter 18, p. 107 (OC III, p. 436). Ibid., book I, chapter 6, p. 53 (OC III, p. 360): “’Find a form of association that defends and protects the person and goods of each associate with all the common force, and by means of which each one, uniting with all, nevertheless obeys only himself and remains as free as before’. This is the fundamental problem which is solved by the social contract.” 86 87

Strafrecht und Strafbegründung bei Rousseau Joachim Renzikowski I. „C’est la faute à Rousseau“ „Doch schuld daran ist nur Rousseau“, lässt Victor Hugo den Gassenjungen Gavroche auf den Barrikaden des Pariser Juniaufstandes von 1832 in seinem Drama „Les Miserables“ singen.1 Dieses Bänkellied, in dem auch Voltaire vorkommt, spielt auf die geistige Urheberschaft beider Philosophen für die französische Revolution von 1789 an. Mit seiner Staatsphilosophie gilt Rousseau als einer ihrer wichtigsten Wegbereiter. So verweist etwa Art. 6 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen vom 26. August 1789 auf den „allgemeinen Willen“2 – ein zentraler Begriff bei Rousseau.3 Maximilien Robespierre, einer der radikalsten Jakobiner der französischen Revolution, war ein begeisterte Bewunderer Rousseaus und wollte seine aufklärerischen Ideale, so wie er sie verstand, politisch umsetzen.4 Die insbesondere von Robespierre maßgeblich initiierte Terrorherrschaft des Wohlfahrtsausschusses führte zwischen Sommer 1793 und Juli 1794 zu rund 16.500 Hinrichtungen.5 1 Victor Hugo, Les Miserables (1862), édition établie et annoteé par Maurice Allem, Dijon 1951, 5e partie: Jean Valjean, livre premier, XV (S. 849); deutsch „Die Elenden“ übersetzt von Paul Wiegler und Wolfgang Günther, 4. Aufl., Berlin 1990, 5. Teil, S. 55. 2 „La loi est l’expression de la volonté générale.“ – Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. 3 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social ou principes du droit politique (1762), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, übersetzt von Erich Wolfgang Skwara, Frankfurt am Main / Leipzig, 1996, 2. Buch, 4. Kapitel (S. 42 ff.), 6. Kapitel (S. 51 ff.) et passim. 4 Vgl. Alfred Cobban, „The Political Ideas of Maximilien Robespierre during the Period of the Convention“, The English Historical Review 61 1946), S. 45 ff.; Carol Blum, Rousseau and the Republic of Virtue. The Language of Politics in the French Revolution, Ithaca / London, 1986, S. 153 ff.; Marisa Linton, „Robbespierre’s political principles“, in: Colin Haydon / William Doyle (ed.), Robespierre, Cambridge 1999, S. 37 (39 ff.); Norman Hampson, „Robespierre and the Terror“, ibid., S. 155 (156). 5 Näher dazu Donald Greer, The Incidence of the Terror during the French Revolution: a statistical Interpretation, Cambridge 1935. William Doyle, The Oxford History of the French Revolution, Oxford 1989, S. S. 247 ff. schätzt die Zahl der Opfer auf insgesamt etwa 30.000, wobei ein großer Teil in den Provinzen ums Leben kam (S. 258). Weitere Einzelheiten bei Mona Ozouf, „War and Terror in French Revolutionary Discours (1792 – 1794)“, The Journal of Modern History 56 (1984), S. 579 ff.; zur Entfesselung der Strafjustiz s. ferner Wolfgang Naucke, „Zur Entwicklung des Strafrechts in der französischen Revolution“, in: Die Bedeu-

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Robespierre rechtfertigte den Terror durch die Errichtung eines Tugendstaats. Am 5. Februar 1794 bezieht er sich in einer Rede vor dem Nationalkonvent auf eine Passage im „Contrat Social“, in der Rousseau die Regeneration einer korrupten Gesellschaft für möglich hält.6 Dazu bedarf es allerdings drastischer Mittel: „… le ressort du gouvernement populaire en révolution est à la fois la vertu et la terreur: la vertu, sans laquelle la terreur est funeste; la terreur, sans laquelle la vertu est impuissante. La terreur n’est autre chose que la justice prompte, sévère, inflexible; elle est donc une émanation de la vertu; elle est moins un principe particulier, qu’une conséquence du principe général de la démocratie, appliqué aux plus pressans besoins de la patrie.“7 Auch die Betonung der Tugend für die Gesellschaft findet sich schon bei Rousseau. Spätere Autoren haben Rousseau für die Terrorherrschaft des Wohlfahrtausschusses mitverantwortlich gemacht. So behauptet etwa Engels im „Anti-Dühring“: „Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag hatte seine Verwirklichung gefunden in der Schreckenszeit.“8 Lemaître wirft Rousseau vor: „Alle blödsinnigsten und mörde-

tung der Wörter. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér, München 1991, S. 295 (302 ff.). Allerdings trifft seine Behauptung, gemäß Art. 7 der Déclaration des Droits habe man dem Gesetz sofort gehorchen müssen, sonst habe man sich durch Widerstand strafbar gemacht, nicht zu. Ein derartiges, in der Tat inhumanes Prinzip ist der Déclaration nicht zu entnehmen. Vielmehr bezieht sich die Strafbarkeit lediglich auf die Weigerung, einer Vorladung oder einer Festnahme zu gehorchen. Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ wurde in Art. 8 ausdrücklich anerkannt. 6 Rousseau, Contrat (Fn. 3), 2. Buch, 8. Kapitel (S. 61 ff.) schreibt dort: „Wie manche Krankheiten den Kopf des Betroffenen verwirren und diesem die Erinnerung an Vergangenes rauben, so gibt es auch im Bestehen der Staaten manchmal Zeiten der Gewalt, in denen Revolutionen bei Völkern dasselbe bewirken wie gewisse Krisen bei Einzelnen, in denen das Erschrecken vor dem Vergangenen an die Stelle des Vergessens tritt und wo der Staat durch Bürgerkriege in Brand geraten, sozusagen aus seiner Asche aufersteht und, sich aus den Armen des Todes befreiend, erneut die Kraft seiner Jugend annimmt. So war es in Sparta zur Zeit Lykurgs, so in Rom nach den Tarquiniern; und so erging es in unserer Zeit in Holland und in der Schweiz nach der Vertreibung der Tyrannen.“ Angesteckt von diesem Pathos wird daraus bei Robbespierre: „Une nation est vraiment corrompue, lorsqu’ après avoir perdu, par degrés, son caractère et sa liberté, elle passe de la démocratie à l’aristocratie ou à la monarchie; c’est la mort du corps politique, par la décrépitude. Lorsqu’ après quatre cents ans de gloire, l’avarice a enfin chassé de Sparte les mœurs avec les lois de Lycurgue, Agis meurt en vain pour les rappeler. Démosthène a beau tonner contre Philippe, Philippe trouve dans les vices d’Athènes dégénérée des avocats plus éloquens que Démosthène. Il y a bien encore, dans Athènes, une population aussi nombreuse que du temps de Miltiade et d’Aristide; mais il n’y a plus d’Athéniens.“ Œuvres de Maximilien Robespierre, Tome X: Discours. 5e partie (27 juillet 1793 – 27 juillet 1794). Édition préparée sous la direction de Marc Bouloiseau et Albert Soboul, Paris 1967, S. 355. 7 Œuvres de Maximilien Robespierre (Fn. 6), S. 357 (Hervorhebung im Original). – „Das Mittel der Volksregierung ist zugleich die Tugend und der Terror: die Tugend, ohne die Terror verhängnisvoll ist; der Terror, ohne den Tugend ohnmächtig ist. Der Terror ist nichts anderes als die schnelle, strenge und unerbittliche Gerechtigkeit; sie ist also eine Emanation der Tugend; sie ist weniger ein besonderes Prinzip als vielmehr die Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie, angewandt auf die dringlichsten Bedürfnisse des Vaterlandes.“

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rischsten Vorurteile der Revolution kamen vom Contrat Social.“9 Ob diese Deutung zutrifft, ist jedoch zweifelhaft.10 Zu utopisch erscheint sein Ideal einer Republik, in der alle Bürger ihre privaten Interessen den Forderungen des Gemeinwohls unterordnen. Ungeachtet dessen soll hier ein Blick auf seine Überlegungen zur Begründung der Strafe und des Strafrechts geworfen werden.

II. Zwischen vertragstheoretischer Strafbegründung und Feindstrafrecht Das Strafrecht steht ersichtlich nicht im Fokus der rousseauschen Überlegungen zur Gesellschaft. Verstreute Bemerkungen finden sich hie und da im Contrat social. Eine dezidierte Strafbegründung wird an keiner Stelle entfaltet. Eher geht es Rousseau darum, die aus seiner Sicht praktisch unentbehrliche Strafe in seine Lehre vom Gesellschaftsvertrag, insbesondere die Vorstellung einer unveräußerlichen Freiheit, zu integrieren.11 Eine längere Passage zum Strafrecht enthält das 5. Kapitel des zweiten Buches mit der Überschrift „Vom Recht über Leben und Tod“.12 Wie sich gleich zeigen wird, sind die dortigen Ausführungen zur Strafe nicht konsistent.

1. Eine vertragstheoretische Begründung der Strafe Rousseau beginnt mit der Frage, ob der Einzelne das Recht, sein eigenes Leben zu nehmen, auf den Souverän übertragen kann. Eine Antwort auf diese Frage ist deshalb problematisch, weil der Einzelne dieses Recht nicht besitzt. Vielmehr ist es „oberstes Gesetz, auf seine eigene Erhaltung zu achten“, und jeder wird gerade dadurch zum eigenen Herrn, dass er „reif genug ist, vernünftig und allein über die 8 Friedrich Engels, „Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft“ (1878). Dritter Abschnitt: Sozialismus, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Gesamtausgabe, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Ost-Berlin, 1962, S. 239. 9 Jules Lemaître, Jean Jaques Rousseau, translated by Jeanne Mairet, Reprint der Ausgabe von 1907, Port Washington 1968, S. 278: „All the most stupid and murderous prejudices of the Revolution came from the Social Contract.“ Siehe ferner Norman Hampson, Will & Circumstance. Montesquieu, Rousseau and the French Revolution, London 1983, S 216 ff.; dens., „The Heavenly City“, in: Colin Lucas (ed.), Rewriting the French Revolution, Oxford 1991, S. 46 (48 ff.). 10 Joan McDonald, Rousseau and the French Revolution 1762 – 1791, London 1965, S. 3 ff. weist zutreffend darauf hin, dass man zwischen der Verwendung Rousseauscher Terminologie („revolutionary phraseology“) und der eigentlichen Bedeutung differenzieren müsse. Sie selbst hält seinen Einfluss für überschätzt (S. 34 ff.) und spricht von einer Art revolutionärem Kult um Rousseau (S. 155 ff.): „It was the myth of Rousseau rather than his political theory which was important in the mind of the revolutionary generation.“ (S. 173) 11 Ludwig von Bar, Handbuch des Deutschen Strafrechts. Erster Band: Geschichte des Deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Berlin 1882, S. 232. 12 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 48 ff.

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rechten Mittel zu seiner Selbsterhaltung zu entscheiden“.13 Damit ist es vereinbar, dass man sein Leben riskiert, um es zu retten – etwa indem man bei einem Brand aus dem Fenster springt. Nun bezweckt der Gesellschaftsvertrag die Erhaltung der Vertragspartner. „Wer das Ziel erreichen will, muß auch die Mittel dafür hinnehmen, und diese Mittel sind von einigen Gefahren, ja sogar einigen Verlusten untrennbar.“14 Da der Bürger unter der Bedingung der Existenz des Staates in Sicherheit lebt, muss er deshalb sein Leben hingeben, wenn es der Fürst von ihm verlangt, weil es der Erhaltung des Staates dient. Ein Beispiel hierfür wäre etwa der Einsatz als Soldat in einem Krieg. Diese Erwägung überträgt Rousseau auf die Rechtfertigung der Todesstrafe. „Um nicht das Opfer eines Mörders zu werden, ist man bereit zu sterben, falls man selbst zum Mörder wird. Weit von der Absicht entfernt, sich unter dem Gesellschaftsvertrag das eigene Leben zu nehmen, will man es durch diesen Vertrag nur absichern, und es darf wohl kaum vermutet werden, daß einer der Vertragspartner sich vorsätzlich hängen lassen will.“15 Diese Überlegung hat mehrere Implikationen: Zunächst einmal impliziert sie die Unterscheidung zwischen primären Verhaltensnormen und sekundären Sanktionsnormen, die üblicherweise auf Binding zurückgeführt, aber schon von Bentham ausgearbeitet wird.16 Auch Rousseau schreibt an anderer Stelle über die Einteilung der Gesetze, dass die Strafgesetze, die das Verhältnis von Ungehorsam und Strafe betrachten, „im Grunde weniger eine besondere Art von Gesetzen darstellen als nur die Bestätigung aller anderen“17, d. h. der Staats- oder Grundgesetze, die das Verhältnis des Souveräns (d. h. des Volks) zum Staat regeln, und der bürgerlichen Gesetze, die das Verhältnis der Gesellschaftsmitglieder untereinander regeln. Außerdem geht Rousseau implizit von einer Präventionstheorie aus, denn er betont den Schutzzweck der Strafe und spricht nicht von Vergeltung. Diesen Schutz kann das Strafrecht nach einer Tat dem Opfer gegenüber nicht mehr erreichen, sondern nur dadurch, dass durch die Androhung der Strafe andere von vornherein von der Begehung einer Straftat abgeschreckt werden oder dass die Vollstreckung der Strafe die Gesellschaftsmitglieder bzw. den Täter davon abhält, weitere Straftaten zu begehen. Vertragstheoretische Strafbegründungen sind jedoch im 18. Jahrhundert keine Seltenheit.18 Sie werfen ein grundsätzliches Problem auf: Eine bewusste und ausRousseau, Contrat (Fn. 3), S. 11. Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 48. 15 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 49. 16 Näher dazu Joachim Renzikowski, „Die Unterscheidung von primären Verhaltensnormen und sekundären Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie“, in: Festschrift für Karl Heinz Gössel, Heidelberg 2002, S. 3 ff. 17 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 75. 18 Näher dazu Kurt Seelmann, „Vertragsmetaphern zur Legitimation des Strafens“, in: Die Bedeutung der Wörter. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér, München 1991, S. 441 ff. 13 14

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drückliche Selbstverpflichtung zur Strafe ist – auch als bloß hypothetisches Gedankenexperiment – schwer vorstellbar. Die wunden Punkte spricht bereits Pufendorf an: „Denn Straffe ist eine Sache, so denen Verbrechern wider ihren Willen zugefüget wird, dergleichen aber kan nichts seyn, was einer sich selbsten thut oder gethan haben will, und dannenhero scheinet es schwer zu fallen, wenn da erkläret werden soll, welcher Gestalt jemand das Recht sich selbst zustraffen habe, und dernach dergleichen an andere übertragen könne?“19 Es liegt im Begriff der Strafe als Übelszufügung für begangenes Unrecht, dass sie dem Verbrecher gerade gegen seinen Willen zugefügt wird – sonst wäre sie ja kein Übel. Daher kann nicht erklärt werden, wie jemand dieses Recht auf Bestrafung (gegen sich selbst?) auf einen anderen übertragen kann. Wer zudem mit bösen Hintergedanken den Gesellschaftsvertrag abschließe, gehe nicht davon aus, dass er nach der Begehung einer Straftat erwischt und bestraft werde.20 Für Rousseau kommt es aber nicht darauf an, ob der Verbrecher tatsächlich – oder hypothetisch – in den konkreten Akt seiner Bestrafung einwilligt oder nicht. Grundlage seiner Bestrafung ist das Strafgesetz als Ausdruck des allgemeinen Willens und allein die Übereinstimmung mit dem allgemeinen Willen garantiert Freiheit. Wenn also der Verbrecher aktuell aus verständlichen Gründen nicht mit der Strafe einverstanden ist, dann verfolgt er seinen Einzelwillen, der gegenüber dem allgemeinen Willen keine Bedeutung hat. In Rousseaus Staatsmodell gibt es keinen Gegensatz zwischen der individuellen Freiheit und den staatlichen Gesetzen bzw. ihrem Vollzug. Bürgerliche Freiheit ist nicht Freiheit vom Gesetz, sondern sie verwirklicht sich gerade und nur in der Herrschaft des Gesetzes. Nun hat Beccaria vom Boden einer vertragstheoretischen Strafbegründung21 weiter eingewendet, dass niemand im Gesellschaftsvertrag das Recht zu töten auf den Staat übertrage und so – immerhin – die Todesstrafe kritisiert.22 Abgesehen davon, dass eine derartige Argumentation eine vertragstheoretische Strafbegründung komplett in Frage stellt,23 verfängt auch diese Kritik gegenüber Rousseau nicht. Denn die Gültigkeit des einzelnen Strafgesetzes hängt ebenfalls nicht von der Zustimmung des potentiellen Straftäters ab. Nur der Gesellschaftsvertrag, der den Souverän konstituiert, setzt Einstimmigkeit voraus. Ansonsten genügt die Mehrheit als 19 Samuel Pufendorf, Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Recht, mit des weitberühmten JCti. Johann Nicolai Hertii, Johann Barbeyrac under anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerckungen erläutert und in die teutsche Sprach übersetzet, Bd. 2, Frankfurt am Main 1711, Achtes Buch, Capitel III, § 1 (S. 753 f.); s. ferner § IV (S. 760): „Was einer nicht wider seinen Willen leydet, das ist ihm keine Straffe.“ 20 Pufendorf (Fn. 19), § 5 (S. 768): „Man kann aber deßhalben mit Bestand der Warheit nicht sagen, daß jemand in seine Bestraffung unmittelbar und geradezu gewilliget haben wolle, oder daß er sich durch selbst eigene Einwilligung, sie außzustehen, verpflichtet und anheischig gemacht habe. Denn niemand begehet ein Laster, daß er nicht zugleich hoffen sollte, der Straffe auf dem einen oder auf dem anderen Weg zu entgehen.“ 21 Cesssare Beccaria, Dei delitti e delle pene (1764), Von den Verbrechen und von den Strafen, aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum, Berlin 2004, § 2 (S. 9 ff.). 22 Beccaria (Fn. 21), § 16 (S. 48). 23 von Bar (Fn. 11), S. 234; Seelmann (Fn. 18), S. 448 ff.

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Folge des Vertrages: „Der Bürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst jenen, die man gegen seinen Willen erlässt, und auch den Gesetzen, die ihn strafen, wenn er es wagt, eines zu verletzen. Der beständige Wille aller Mitglieder des Staates ist der allgemeine Wille; durch ihn ist man Bürger und frei.“24 Nicht nur im Hinblick auf den Gesetzesvollzug, sondern bereits beim Beschluss eines Gesetzes gibt es für Rousseau daher keinen Gegensatz zwischen individueller Freiheit und dem allgemeinen Willen. Es kommt folglich ausschließlich darauf an, ob ein Strafgesetz auf dem allgemeinen Willen beruht. Die Gesellschaft kann sich so für die Androhung der Todesstrafe entscheiden, muss es aber nicht. Jedenfalls steht die Art der vorgesehenen Sanktion nicht zur Entscheidung des einzelnen Bürgers. Ungeachtet dessen liegt ein allgemeines Problem aller vertragstheoretischen Rechtsbegründungen darin, wie der Gesellschaftsvertrag verstanden wird: als historisches Ereignis oder als bloß hypothetische Denkfigur. Rousseau selbst behandelt diese Frage ziemlich handfest. Zwar ist der Abschluss eines Gesellschaftsvertrages ein Gebot der Vernunft, um sich selbst erhalten zu können,25 denn „der Stärkere ist niemals stark genug, immer der Herr zu sein, wenn er seine Stärke nicht in Recht und den Gehorsam nicht in Pflicht umwandelt“.26 Jedoch konstituiert sich das Volk erst durch die einstimmige Übereinkunft als „wahre Grundlage der Gesellschaft“.27 Wer nicht zustimmt, ist nicht dabei, sondern ein „Fremde[r] unter den Bürgern“28 – außer er nimmt seinen Wohnsitz innerhalb des Staatswesens und unterwirft sich auf diese Weise – stillschweigend – seiner Souveränität.29 Freilich kann er den Gesellschaftsvertrag immer noch dadurch aufkündigen, dass er das Land verlässt.30 Im Gegensatz zur Zustimmungsfähigkeit sind Einstimmigkeit, Wohnsitznahme oder Auswanderung tatsächliche Akte. Andererseits hält Rousseau die Bestimmungen dieses Vertrages für „durch die Natur des Aktes solchermaßen vorgegeben“, so dass sie, „obwohl sie vielleicht niemals in Worten ausgesprochen wurden, (…) stets die gleichen [sind] …“31 Statt von der Natur des Vertrages könnte man auch von der Vernunft sprechen, was die Vertragsmetapher als hypothetisch ausweisen würde. Das aber ist schon wieder ein anderes Thema.

Rousseau, Contrat (Fn. 3), 4. Buch, 2. Kapitel; das Zitat steht auf S. 142. Rousseau, Contrat (Fn. 3), 1. Buch, 6. Kapitel (S. 23 ff.). Das ist die gängige Begründung der meisten Vertragstheorien. 26 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 14. 27 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 22 f. 28 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 142. 29 Ibid. 30 s. Jean-Jacques Rousseau, Émile, ou De l’éducation (1762), Emil oder Über die Erziehung, besorgt von Ludwig Schmidts, Paderborn / München / Wien / Zürich, 11. Aufl. 1993, S. 501 f. 31 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 24. 24 25

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2. Der Verbrecher als Staatsfeind Im Anschluss an die vertragstheoretische Begründung der Strafe bringt Rousseau eine zweite Überlegung. „Darüber hinaus wird jeder Übeltäter, der das Recht der Gesellschaft angreift, durch seine Missetaten zum Aufrührer und Verräter am Vaterland; indem er seine Gesetze verletzt, hört er auf, dessen Mitglied zu sein, ja er erklärt diesem sogar den Krieg. Die Bewahrung des Staates ist unvereinbar mit der des Verbrechers, einer von beiden muß untergehen, und wenn man den Schuldigen sterben läßt, richtet sich diese Strafe weniger gegen den Bürger als gegen den Feind.“32 Wer demzufolge den Gesellschaftsvertrag bricht, ist nicht mehr Mitglied dieses Staates, sondern ein Feind. Rechtskräftig festgestellt wird dieser Status im Gerichtsurteil aufgrund einer Strafverhandlung. Was sagt diese Passage über das Wesen des Verbrechens aus? Eine Straftat erschöpft sich für Rousseau nicht in der Verletzung individueller Rechtspositionen, sondern der Täter greift zugleich das gesellschaftliche Recht an und wendet sich so gegen den Gemeinwillen.33 Seine Verfolgung von Partikularinteressen ist mit dem allgemeinen Willen und damit mit der Idee der Freiheit unvereinbar. „Die Bosheit ist im Grund nur der Widerstand des Einzelwillens gegen den öffentlichen Willen. Darum kann es unter den Bösewichtern keine Freiheit geben, weil, wenn jeder seinen Willen durchsetzt, dieser den öffentlichen Willen oder den Willen seines Nachbarn (oder alle beide) behinderte.“34 Die Rechtsfolge ist ebenso unmissverständlich wie rigoros: Da sich der Straftäter „– zumindest durch den Ort seines Aufenthalts – als ein Mitglied dieses Staates verstanden hat, muß er als Vertragsbrecher durch Exilierung oder als öffentlicher Feind durch den Tod davon abgetrennt werden; ein solcher Feind ist nämlich keine moralische Person, es handelt sich nur um einen Menschen, und das Kriegsrecht fordert unter diesen Umständen den Tod des Besiegten.“35 Das ist ein Feindstrafrecht in seiner reinsten Ausprägung36 und wirft eine Reihe von Fragen auf. Zunächst einmal unterscheidet Rousseau zwischen Menschen und Personen. Der Mensch ist – nur – biologisches Wesen und wird erst dadurch zur Person, dass er moralisch handelt. Der Bürger als freie sittliche Person fasst keinen anderen als den Gemeinwillen, während der „Mensch“ nach seinem eigenen Sonderwillen handelt und dadurch das vorhandene gesellschaftliche Band leugnet.37 Das kann man durchRousseau, Contrat (Fn. 3), S. 39. s. auch Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 28: „Sobald diese Menge sich … zu einer Körperschaft vereint findet, kann keines ihrer Mitglieder verletzt werden, ohne daß damit das Ganze angegriffen würde; …“. 34 Jean-Jacques Rousseau, Fragments politiques, Politische Fragmente, übersetzt von Ludwig Schmidts, in: Rousseau, Politische Schriften, Band 1, Paderborn 1977, S. 209 (217). 35 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 49. 36 So auch Günther Jakobs, „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“, Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (HRRS) 2004, S. 88 (89). 32 33

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aus so sehen, weil Personalität nichts von selbst Vorhandenes, sondern normativ konstituiert ist: Person ist, wer sein Verhalten an den Normen einer Gesellschaft ausrichtet.38 Mit der von Rousseau an anderer Stelle verwendeten Terminologie passt die Rede vom Krieg jedoch nicht zusammen. So schreibt er, es könne „den Privatkrieg oder Krieg zwischen einem Menschen zum anderen nicht geben, und zwar weder im Naturzustand (…), noch im gesellschaftlichen Bereich, wo alles der Herrschaft der Gesetze unterliegt. (…) Der Krieg ist somit auf keinen Fall eine Beziehung zwischen Mensch und Mensch, sondern zwischen Staat und Staat. (…) So kann jeder Staat nur andere Staaten zu Feinden haben und keine Menschen, da unter Dingen unterschiedlichen Wesens keine wirkliche Beziehung bestehen kann.“39 Gewichtiger als dieser Einwand gegen die Kriegsmetaphorik als eine Kategorienverwechslung ist eine weitere Überlegung: Wenn dem Straftäter die Personalität abgesprochen wird, werden nicht nur die Grenzen der Gesellschaft vom Normbrecher abhängig, sondern die Straftat wird überhaupt nicht als gesellschaftlicher Konflikt verarbeitet.40 Tatsächlich geht es dann auch nicht mehr um Strafe, sondern um die Abwehr einer Gefahr, also um eine Sicherungsmaßnahme, und man kann sich fragen, weshalb überhaupt eine schuldhafte Tat verlangt werden sollte. Aber ist eine derartige Folgerung notwendig? Man muss doch die Übertretung eines einzelnen Gesetzes, selbst wenn dadurch der allgemeine Wille negiert wird, nicht mit der Verletzung des Gesellschaftsvertrages gleichsetzen. Ein Verbrechen stellt in der Regel noch nicht den gesamten Staat in Frage. Entsprechende Passagen finden sich denn auch bei Rousseau. So schreibt er im dem Kapitel „Vom Souverän“: „Jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, [kann] durch die gesamte Körperschaft dazu gezwungen werden (…): Was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein.“41 Freiheit ist für Rousseau nur in einer rechtlich verfassten Gemeinschaft – und damit nur für Personen – möglich. Und im Émile heißt es: Die Schädigung des Gesellschaftsvertrages könne nur von dem Einzelnen kommen, aber „sie sind übrigens dann nicht von ihrer Verpflichtung befreit, sondern bestraft, weil sie sie verletzt haben“.42

37 s. auch Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’économie politique (1755), Abhandlung über die Politische Ökonomie, übersetzt von Ludwig Schmidts, in: Rousseau, Politische Schriften, Band 1, Paderborn, 1977, S. 9 (20): „Denn wenn ein Mensch, unabhängig von den Gesetzen, vorgibt, einen anderen seinem eigenen Willen zu unterwerfen, tritt er im gleichen Augenblick aus dem bürgerlichen Stand heraus und versetzt sich ihm gegenüber in den reinsten Naturzustand, weil der Gehorsam nur durch die Notwendigkeit [d. h. vernunftgemäß, nach dem allgemeinen Gesetz zu handeln] vorgeschrieben ist.“ 38 s. dazu Günther Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft. Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Berlin 2008, S. 108 f. 39 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 18 f. 40 s. Jakobs, Norm (Fn. 38), S. 110; ders., Bürgerstrafrecht (Fn. 36), S. 89 f. 41 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 29. 42 Rousseau, Émile (Fn. 30), S. 508.

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3. Synthese oder Widerspruch Damit stellt sich die Frage, ob sich beide Begründungen des Strafrechts irgendwie miteinander vereinbaren lassen. Beide Argumentationen sind gegensätzlich: Die erste, vertragstheoretische Strafbegründung bezieht den Delinquent in die Strafbegründung mit ein. Ihm gegenüber wird die Bestrafung mit seiner potentiellen Zustimmung gerechtfertigt. Bei der zweiten Strafbegründung kommt es dagegen auf den Delinquenten nicht an. Ihm gegenüber muss die Bestrafung nicht gerechtfertigt werden, da er infolge seiner Verletzung des Gesellschaftsvertrages als Feind nicht – mehr – Vertragspartner ist. Die Strafe ist damit nicht mehr notwendig ein ursprünglicher Regelungsgegenstand des Gesellschaftsvertrages, sondern eine Folge seiner Verletzung. Der Gesellschaftsvertrag spielt allenfalls insofern eine Rolle, als den anderen Gesellschaftsmitgliedern und insbesondere dem Opfer der Fortbestand der Gesellschaft trotz des Verbrechens garantiert werden muss. Die erste, vertragstheoretische Begründung impliziert ein Mindestmaß an Proportionalität: Die Strafe muss sich aus Rechtsgründen an der Schwere des Delikts ausrichten, und so rechtfertigt Rousseau die Todesstrafe als Mittel zum Schutze des Lebens. Die feindstrafrechtliche Begründung lässt den Verbrecher rechtlos werden. Hier bedarf es keiner Proportionalität, denn die Rechtlosigkeit ist nicht graduierbar („jeder Übeltäter“). Fichte hat dieses Problem gesehen. Zwar wird auch bei ihm der Straftäter grundsätzlich rechtlos.43 Jedoch muss der Staat den Verbrecher nicht eliminieren, wenn er ihn erhalten kann, ohne den Staatszweck als solchen in Frage zu stellen. Die Rechtlosigkeit des Verbrechers wird so – partiell – durch die Konstruktion eines „Abbüßungsvertrages“ abgemildert. „Alle versprechen Allen, sie, inwiefern dies mit der öffentlichen Sicherheit vereinbar ist, um ihrer Vergehungen nicht vom Staate auszuschliessen, sondern ihnen zu verstatten, diese Strafe auf andere Weise abzubüßen.“44 Aus diesem Abbüßungsvertrag folgt ein Recht des Bürgers, bestraft zu werden. Dadurch eröffnet sich für den Verbrecher – gewissermaßen als ein Akt der Gnade – die Tür zur Rückkehr in die Gesellschaft, und das ist nur vernünftig: Wer sich selbst durch die Straftat aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen hat, befindet sich wieder im Naturzustand. Hier gilt das Gebot der praktischen Vernunft, sich in den rechtlich gesicherten bürgerlichen Zustand zurück zu begeben, weil man im Naturzustand gerade nicht sicher ist. Das ist der Ausgangspunkt aller Lehren vom Gesellschaftsvertrag, auch von Rousseau. 43 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweiter Theil oder angewandtes Naturrecht, Jena / Leipzig, 1797, § 20 (S. 95): „Wer den Bürgervertrag in einem Stüke verlezt, sey es mit Willen, oder aus Unachtsamkeit, da, wo im Vertrage auf seine Besonnenheit gerechnet wurde, verliert der Strenge nach alle seine Rechte als Bürger, und als Mensch, und wird völlig rechtslos.“ 44 Fichte (Fn. 43), S. 97 f.; der Abbüßungsvertrag ist freilich nur in den Grenzen des Talionsprinzips möglich (S. 100). Bei „formaliter bösem Willen“ (S. 102), also Straftaten aus purem Mutwillen, Rebellion und Hochverrat (S. 109 f.) oder „absichtlichem, vorbedachtem Mord“ (S. 120) ist eine Abbüßung unmöglich. Die Tötung des Verbrechers ist dann nicht Strafe, sondern Sicherungsmittel (S. 120).

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Jedoch ist diese Konzeption selbstwidersprüchlich. Wie soll eine vertragliche Bindung mit einem Rechtlosen, dem man ja nicht mehr zutraut, sich normgetreu zu verhalten, zustande kommen, ja überhaupt gedacht werden können? Fichte sagt selbst: „Es findet zwischen ihm [d. h. dem Verbrecher] und den übrigen Bürgern nicht mehr das durch den Bürgervertrag errichtete rechtliche Verhältniß, und da es ausser diesem keines, und keinen möglichen Grund desselben giebt, überhaupt gar kein rechtliches Verhältniß zwischen beiden Partheien mehr statt.“45 Jede wie auch immer geartete Vertragskonstruktion setzt daher voraus, dass der Verbrecher gerade nicht rechtlos wird. M.a.W: Soll die Straftat gesellschaftlich verarbeitet werden, so muss der Verbrecher trotz seiner Tat ein Mitglied der Gesellschaft und damit Rechtsperson bleiben. Der Gesellschaftsvertrag schließt dann mindestens „stillschweigend die Verpflichtung [ein], die allein den anderen Gewicht verleiht: jedweder, der dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, wird vom ganzen Körper dazu gezwungen werden.“46 Dann ist es nur noch eine terminologische Frage, ob man einen besonderen „Abbüßungsvertrag“ annehmen möchte oder die Fragen einer Vertragsverletzung als im Gesellschaftsvertrag mitgeregelt auffasst – so wie man auch sonst gewöhnlich in Verträgen die Folgen der Verletzung einzelner Bestimmungen vereinbart. Beide Strafbegründungen könnten allerdings dann nebeneinander Bestand haben, wenn man die vertragstheoretische Begründung auf den Verbrecher beschränkt, der trotz seiner Tat Mitglied der Gesellschaft bleiben kann, weil er zwar gefehlt hat, aber ihm eine Besserung zugetraut werden kann. Hier ist die Todesstrafe unangemessen, denn „man darf – nicht einmal zur Abschreckung – niemand sonst töten als den, den man ohne Gefahr nicht erhalten kann.“47 Wenn aber der Verbrecher die Gewähr für eine Wiedereingliederung nicht mehr bietet, kann er als Feind ausgeschlossen werden. So heißt es etwa bei Kant in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ in einer Anmerkung: „Der Mensch aber (…) im bloßen Naturzustande benimmt mir diese Sicherheit, und lädirt mich schon durch eben diesen Zustand, in dem er neben mir ist, obgleich nicht thätig (facto), doch durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedrohet werde, und ich kann ihn nöthigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen.“48 Kurz: Entweder Bürger, oder

Fichte (Fn. 43), S. 96. Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 29. 47 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 50. 48 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Frankfurt und Leipzig 1796, S. 17 f.; auf diese Passage beruft sich Jakobs, Bürgerstrafrecht (Fn. 36), S. 90 f.; gegen eine derartige Kantinterpretation Jochen Bung, „Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und die Person“, Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (HRRS) 2006, S. 63 (69); Katrin Gierhake, „Feindbehandlung im Recht“, Archiv für Rechtsund Sozialphilosphoe 94 (2008), S. 337 (347 ff.); dagegen Jakobs zustimmend Carlos Pérez del Valle, „Zur rechtsphilosophischen Begründung des Feindstrafrechts“, in: Festschrift für Günther Jakobs, Köln / Berlin / München 2007, S. 515 (517 ff.). 45 46

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Feind! In jüngerer Zeit wird ein solches Nebeneinander von Bürger- und Feindstrafrecht insbesondere von Jakobs vertreten.49 Rousseau selbst hat eine vergleichbare Position nicht ausgearbeitet. Zwar behauptet Pèrez del Valle, dass Rousseau sich „offensichtlich“ nicht auf jeden beliebigen Straftäter beziehe, sondern nur auf die, die den Gesellschaftsvertrag verletzen, denn nur ihre Existenz sei mit dem Erhalt des Staates nicht vereinbar.50 Die Differenzierung zwischen verschieden schweren Straftaten findet sich bei Rousseau jedoch nicht einmal andeutungsweise. Vielmehr verletzt jeder Straftäter den Gesellschaftsvertrag, weil er sein Eigeninteresse auf Kosten des allgemeinen Willens verfolgt. Gerade darin besteht das Unrecht einer jeden Straftat. Es ist freilich noch eine ganz andere Frage, ob man die Unterscheidung zwischen Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht aus inhaltlichen Gründen teilt.51

III. Totalitäre Tendenzen bei Rousseau Es bleibt die Frage, ob und inwieweit Rousseau als geistiger Vorläufer der jakobinischen Terrorherrschaft während der französischen Revolution angesehen werden kann. Vordergründig lädt Rousseaus Position zu Missverständnissen ein. Ausgangspunkt ist der zentrale Begriff des volonté général. Der allgemeine Wille hat für das Strafrecht eine doppelte Bedeutung: Er funktioniert, wie bereits erläutert, erstens als Richtigkeitskriterium für die Gesetze52 und seine Verletzung durch den Straftäter, der sein partikuläres Interesse verfolgt, ist zweitens das Charakteristikum eines jeden Verbrechens. In der Regel offenbart sich der allgemeine Wille in der Mehrheitsentscheidung, idealerweise in Einstimmigkeit. Auch die unterlegene Minderheit stimmt dem so zustande gekommenen Gesetz zu, da sie auf den allgemeinen Willen verpflichtet ist und sich ihre Auffassung offenkundig als Irrtum erwiesen hat.53 Jedoch muss das Mehrheitsvotum nicht immer den allgemeinen Willen reprä49 s. Jakobs, Bürgerstrafrecht (Fn. 36), S. 89 ff.; ders., „Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit“, Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung 2008, S. 289 ff. 50 Pérez del Valle (Fn. 48), S. 527. 51 Aus der umfangreichen, vorwiegend kritischen Diskussion über das „Feindstrafrecht“ s. etwa Tatjana Hörnle, „Deskriptive und normative Dimensionen des Begriffs ‚Feindstrafrecht‘“, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2006, S. 80 ff.; Urs Kindhäuser, „Schuld und Strafe. Zur Diskussion um ein „Feindstrafrecht“, in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder, Heidelberg 2006, S. 81 ff.; Geraldine Louisa Morguet, Feindstrafrecht – eine kritische Analyse, Berlin 2009; Luís Greco, Feindstrafrecht, Baden-Baden 2010; Stefan Schick, „Feindstrafrecht als regulative Idee“, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2012, S. 46 ff.; zustimmend dagegen Michael Pawlik, Der Terrorist und sein Recht, München 2008, S. 25 ff.; Pérez del Valle (Fn. 48), S. 515 ff.; Miguel Polaino Navarrete, „Die Funktion der Strafe beim Feindstrafrecht“, in: Festschrift für Günther Jakobs, Köln / Berlin / München 2007, S. 529 ff. 52 s. Rousseau, Contrat (Fn. 3), 2. Buch, 6. Kapitel „Vom Gesetz“ (S. 51 ff.).

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sentieren. Neben das formale Kriterium der Abstimmungsmehrheit stellt Rousseau ein inhaltliches Kriterium, welches er allerdings nicht näher expliziert. Der allgemeine Wille muss nämlich, „um wirklich als solcher zu gelten, in seinem Zweck wie in seinem Wesen allgemein sein“.54 Rousseau unterscheidet folglich zwischen einem „wirklichen“ und einem bloß formal allgemeinen Willen. „Man kann dadurch ersehen, daß der Wille weniger durch die Anzahl der Stimmen als durch das gemeinschaftliche Interesse, das diese vereint, allgemein gültig wird.“55 Der allgemeine Wille ist also nicht identisch mit der Summe der Einzelinteressen. Der „wirkliche“ allgemeine Wille wird Rousseau zufolge dann verfehlt, wenn eine Abstimmung nicht von der Verpflichtung auf den allgemeinen Willen, sondern von Einzelinteressen getragen ist.56 Freilich: Wie soll man sich eine Verpflichtung der Bürger auf den allgemeinen Willen vorstellen, wenn er sich noch gar nicht gebildet hat? Wie auch immer: Rousseau ist sich bewusst, dass diese Verpflichtung auf das Allgemeinwohl unter beständiger Hintansetzung der eigenen Interessen sich nicht von selbst versteht, sondern den tugendhaften Bürger verlangt. „Jeder Mensch ist tugendhaft, wenn sein Partikularwille in allem mit dem Gemeinwillen übereinstimmt.“57 Es liegt auf der Hand, dass es nur eines charismatischen Anführers mit Sendungsbewusstsein bedarf, der für sich selbst die vollkommene Tugend und den Besitz der Wahrheit reklamiert, die er seinen Gegnern abspricht. Und so nimmt Robespierre für sich in Anspruch: „Je ne suis ni le courtisan, ni le modérateur, ni le tribun, ni le défenseur du peuple! Je suis peuple moi-même.“58 So wird die formale Mehrheit durch die qualitative moralische Selbstüberlegenheit ersetzt, und dieser Weg führt direkt in den Terror: Denn jeder Andersdenkende vertritt nur ein partikulares Interesse und gefährdet damit den allgemeinen Willen und die Freiheit. Er wird zu einem Staatsfeind erklärt und muss liquidiert werden.59 Dieser Geist steht hinter dem „Grundgesetz“ der Terrorherrschaft des Wohlfahrtsausschusses, dem Gesetz vom 22. Prairial II (10. 6. 1794). „Feinde des Volkes …, die die öffentliche Freiheit durch Gewalt oder List vernichten wollen“ (Art. 5) werden ausnahmslos mit dem Tode bestraft (Art. 6).60 s. Rousseau, Contrat (Fn. 3), 4. Buch, 2. Kapitel „Vom Wahlrecht“ (S. 142 f.). Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 44. 55 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 45. 56 s. Rousseau, Émile (Fn. 30), S. 509. 57 Rousseau, Politische Ökonomie (Fn. 37), S. 27 f. 58 Œuvres de Maximilien Robespierre, Tome VIII: Discours. 3e partie (3 octobre 1791 – 18 septembre 1792). Édition préparée sous la direction de Marc Bouloiseau, Georges Lefebvre et Albert Soboul, Paris 1953, S. 311. – „Ich bin weder der Höfling, noch der Vermittler, noch der Tribun, noch der Anwalt des Volkes, ich bin selbst das Volk!“ 59 Vgl. Cobban (Fn. 4), S. 75 ff.; Hampson (Fn. 4), S. 164 ff.; John Hardman, Robespierre, Harlow 1999, S. 14 f., 214 f.; Geoffry Cubitt, „Robespierre and conspiracy theories“, in: Colin Haydon / William Doyle (ed.), Robespierre, Cambridge 1999, S. 75 (83 ff.). 60 Quelle: Walter Grab (Hrsg.): Die Französische Revolution, München 1973, S. 301 ff.; zu den in Art. 6 genannten Feinden des Volkes zählt etwa, „wer die öffentliche Meinung irrezu53 54

Strafrecht und Strafbegründung bei Rousseau

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Rousseau hat eine derartige Funktion des Strafrechts zu keiner Zeit in irgendeiner Weise propagiert. Wenn er auch keine vergleichbar strafrechtskritische Position wie seine Zeitgenossen Montesquieu, Voltaire oder Beccaria einnimmt, so hält er doch eine exzessive Bestrafungspraxis keineswegs für das Zeichen eines starken Staates. Im Gegenteil „ist die Häufigkeit der Todesstrafen immer ein Zeichen für Schwäche und Trägheit in einer Regierung“. Dagegen gibt es „in einem wohlregierten Staat … wenig Strafen, … weil es wenige Verbrecher gibt“.61 Seiner Meinung nach hängt die Macht der Gesetze mehr von ihrer eigenen Weisheit als von der Strenge der Behörden ab.62 Anstatt zu bestrafen soll sich die Regierung darum kümmern, die Bürger zur Tugend zu erziehen: „Das Vaterland kann ohne Freiheit nicht überleben; und die Freiheit nicht ohne Tugend und die Tugend nicht ohne die Bürger: Ihr könnt alles haben, wenn ihr die Bürger heranbildet.“63 Eine Regierung, die ständig darüber wacht, den Patriotismus und die guten Sitten aufrechtzuerhalten und in Erinnerung zu bringen, kommt dadurch schon früh den Übeln zuvor. Eine tugendhafte Gesellschaft benötigt letztlich keine Gesetze und keine Verwaltung mehr.64 Die Vorstellung eines verbindlichen bürgerlichen Glaubensbekenntnisses für alle, ohne das man weder ein guter Staatsbürger noch ein treuer Untertan sein kann,65 birgt jedoch auch totalitäre Risiken, etwa besondere Erziehungslager für schwer Erziehbare. Letztlich erkennt auch Rousseau, dass seine Idee einer freien Gesellschaft, in der alle als Bürger den republikanischen Zusammenschluss wollen und ihre privaten Interessen den Forderungen des Gemeinwohls unterordnen, eine Idealvorstellung bleibt. Vielleicht zeigt der Schluss des Kapitels zum Strafrecht das Schwanken Rousseaus zwischen pädagogischem Impetus und rauer Wirklichkeit recht gut. Nachdem er kurz zuvor für die Strenge des Gesetzesvollzugs und gegen die Schwächung des Gesetzes durch das Begnadigungsrecht plädiert hat, endet er: „Aber ich merke, daß mein Herz hier murrt und meine Feder stocken lässt; lassen wir diese führen und die Information des Volkes zu behindern, wer die Sitten zu verderben und das öffentliche Bewusstsein zu trüben, wer die Kraft und Reinheit der revolutionären und republikanischen Prinzipien zu verfälschen oder ihren Fortschritt durch gegenrevolutionäre oder Hetzschriften oder mit sonstwie arglistigen Mitteln aufzuhalten versucht“. Ein ordentliches Strafverfahren, beispielsweise mit dem Recht auf einen Verteidiger ist für „Verschwörer“ nicht vorgesehen (Art. 16). 61 Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 50. 62 Rousseau, Politische Ökonomie (Fn. 37), S. 21. 63 Rousseau, Politische Ökonomie (Fn. 37), S. 33. 64 s. Rousseau, Politische Ökonomie (Fn. 37), S. 37. 65 s. Rousseau, Contrat (Fn. 3), 4. Buch, 8. Kapitel: „Von der bürgerlichen Religion“ (S. 172 ff.). Wie weit entfernt ist von der Vorstellung einer bürgerlichen Religion die religiöse Verbrämung der Vernunft als eines höchsten Wesens – s. dazu Michel Vovelle, „The Adventures of Reason, or from Reason to the Supreme Being“, in: Colin Lucas (ed.), Rewriting the French Revolution, Oxfort 1991, S. 132 ff.; Frank Tallett, „Robespierre and religion“, in: Colin Haydon / William Doyle (ed.), Robespierre, Cambridge 1999, S. 92 ff. – durch die Jakobiner?

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Fragen doch von einem Gerechten erörtern, der nie gefehlt hat und daher selber niemals der Gnade bedurfte.“66

Summary In his “Contrat social” Rousseau discusses the justification of the death penalty. He gives two different reasons. First, in the social contract every citizen expresses his consent to all measures which are necessary to save their lifes. By contrast the second explanation refers to the criminal as an enemy. A person who follows his or her individual interest against the general will breaks the social contract and is at war with the society. Both arguments raise different questions – and don’t fit together.

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Rousseau, Contrat (Fn. 3), S. 50.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag zur Bewahrung der Erde vor den Folgen ungezügelter Zivilisation Rousseau als Gedankenstifter im 21. Jahrhundert? Jörn Sack I. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat 2011 ein Gutachten unter dem Titel ‚Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation‘ vorgelegt.1 Das Gutachten zeigt Mittel und Wege auf, die durch den Menschen seit der Industrialisierung verursachte Erderwärmung auf tragbare 2° zu begrenzen und so schweren Schaden von unserer Zivilisation durch noch stärkere Erwärmung abzuwenden. Dazu soll die Energiegewinnung bis zur Mitte des Jahrhunderts von den fossilen Quellen dauerhaft auf erneuerbare umgestellt werden (Stichwort: Dekarbonisierung ohne Atomkraft). Ziel ist es, „den Übergang in eine Gesellschaft zu schaffen, die durch die Einhaltung der planetarischen Leitplanken ihre natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt.“2 Terminologisch nimmt diese für die Zukunft der Menschheit bedeutende Ausarbeitung Anleihen bei dem Genfer Schriftsteller, Staatsdenker, Philosophen und Komponisten Jean-Jacques Rousseau auf, dessen 300. Geburtstages wir in diesem Jahr gedenken. Im Mittelpunkt des Gutachtens steht der Begriff eines neuen Gesellschaftsvertrages; aber die Sprache des Gutachtens wie auch einige institutionelle (also nicht rein technische) Vorschläge zeigen generell das Bemühen, von Rousseau geprägte Begriffe wie etwa Allgemeinwohl und Allgemeinwillen (volonté générale) in einem neuen Kontext auf neue Weise fruchtbar zu machen. Ausdrücke wie ‚Lebensstiländerungen‘ und ‚postmaterielle Werthaltungen‘ klingen zudem an Rousseaus Ideal eines einfachen naturverbundenen Lebens an.3 Mehrfach fällt sogar das 1 Offiziell wird es Hauptgutachten genannt. Es besteht aus acht Kapiteln, die einzelne Sachgebiete abhandeln (nachfolgend ‚Gutachten‘). Die Bezeichnung erklärt sich aus Sondergutachten zu wichtigen Themenbereichen sowie „Fact Sheets“ (kurzen Ausarbeitungen zu Einzelproblemen). Außerdem gibt es eine Zusammenfassung des Hauptgutachtens für Entscheidungsträger (nachfolgend ‚Zusammenfassung‘). 2 Gutachten, S. 349 oben. 3 Gutachten, S. 73 ff., 272 ff; Zusammenfassung, S. 3, rechte Spalte a. E. und S. 8. linke Spalte unten; vgl. dazu Rousseau, Emile, insbes. Livre Premier sowie grundlegend, Discours sur l’inégalité parmi les hommes (Rousseaus Abrechnung mit Hobbes).

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Wort Revolution; allerdings kleingeschrieben, als Teil der seltsamen Wortschöpfung ‚Kooperationsrevolution‘.4 Im Unterschied zu Rousseaus Schriften fehlt im Gutachten jede zivilisationskritische Tendenz. Einer der Autoren, der Potsdamer Professor Schellnhuber – er ist Wortführer der Kampagne für verstärkten Klimaschutz – scheut sich jedoch nicht, auch im Bereich der für die erfolgreiche Propagierung eines Ziels nötigen Schlagworte an Rousseau anzuknüpfen. Mit der Losung „Vorwärts zur Natur!“ fordert er vehement den Ausbau erneuerbarer Energien.5 Ein gewitztes Vorgehen, das aufhorchen lässt. Die Tatsache, dass Umwelt- und Klimaschützer im 21. Jahrhundert Teile von Rousseaus Terminologie aufgreifen und ihn so, wenngleich sehr mittelbar, zu einem Urvater ihrer Anliegen erheben, legt nahe zu untersuchen, inwieweit die Indienstnahme über taktische Vorteile hinaus, die aus dem Gebrauch durch Rousseau bekannter Begriffe erwachsen, geistig gerechtfertigt ist und ob Rousseau im 21. Jahrhundert als Gedankenstifter zur Bewältigung der durch unsere weit fortgeschrittene Zivilisation entstandenen Gefahren für das Überleben der Menschheit nützlich sein kann. Es war das Schicksal Rousseaus, dass er aufgrund seines Gedankenreichtums, der Vielfalt seiner Begabungen und Aktivitäten sowie seiner Sprachfertigkeit Denkanstöße für Kunst, Wissenschaft und Staatsleben in enorm viele Richtungen gegeben hat (neuzeitliche Demokratie, Menschenrechte, Sozialismus, Individualismus, Anarchismus, Föderalismus, Anthropologie, Romantik, Aufbrechen alter Literaturformen, Pädagogik, auch Musikpädagogik, Psychologie, Soziologie). Fast alle ihm nachfolgenden Fachdenker und viele Schriftsteller wurden von ihm erweckt oder entscheidend inspiriert. Ausdrücklich auf ihn berufen oder zu ihm bekannt haben sich die wenigsten (wie etwa Kant).6 Denn selbst wenn sie einzelne seiner Gedanken begierig aufgriffen, erschienen ihnen andere zu anstößig, um sich offen zu Rousseau als Quelle oder Eingeber zu bekennen.7 Mit den Klima-, Umwelt- und Naturschützern von heute, der Grünen Bewegung überhaupt, verhält es sich nicht anders. Rousseaus Werk ist ihnen Material, auf das sie hin und wieder zurückgreifen; aber sich auf ihn beziehen, möchte man nicht. Es gibt zu viel Trennendes, Unangenehmes in seinen Überzeugungen. Das Zivilisationskritische, Religiöse vor allem.8 Rousseaus Denken ist vergleichbar den Worten der Bibel, wenn man sie ernst nimmt: Von abschreckender Radikalität, obwohl sie sanft daherkommen. 4 Gutachten, S. 332; Zusammenfassung, S. 19. Rousseau hat niemals konkret zur Revolution aufgerufen, sie aber unter bestimmten Umständen als unausweichlich anerkannt. Vgl. Fn. 60. 5 Vgl. seine Gastbeiträge in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 1. Mai 2011; der FAZ vom 3. Mai 2011 sowie das Gespräch mit dem Tagesspiegel vom 27. März 2011. Die neualte Losung stammt aber wohl von Gert Kaiser, der sie in seinem intelligenten Leitartikel ‚Vorwärts zur Natur!‘ (Tagesspiegel vom 15. 3. 1999) aufgebracht zu haben scheint. 6 Vgl. dazu Vorländer, Immanuel Kant – Der Mann und das Werk, II. 2. (1924). 7 So zutreffend Starobinski, Zeitschrift für Ideengeschichte, 2010, IV, S. 68.

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II. Die Schwierigkeit speziell ‚der Grünen‘ mit Rousseau rührt unter anderem daher, dass dessen Naturbezogenheit und verherrlichende Beschwörung eines glückseligen Urzustands des Menschen9 sozial begründet ist, nicht ökologisch.10 Unsere Sicht auf die Natur und verbliebene natürliche Lebensräume ist völlig von ihrer Schutzbedürftigkeit her bestimmt, weil unsere rapide zivilisatorische Entwicklung in den vergangen zwei Jahrhunderten – wie wir nun endlich gewahr werden – auf rücksichtloser Ausbeutung der Natur bis hin zur Zerstörung ganzer Landschaften, der Auslöschung von Völkern, ihrer Kultur und traditionellen Lebensweisen beruht (Extremfälle: Die beiden Amerika, Australien). Wir haben endlich – viel zu spät – erkannt, dass das Überleben der Menschheit von der Erhaltung eines Restbestands natürlicher Lebensverhältnisse auf der Erde abhängt (etwa der Regenwälder, der Korallenriffe, der Eiszonen). Gleichwohl ‚erobern‘ Touristenschwärme nahezu unbehindert nun auch noch das Hochgebirge, die Tiefsee und die Antarktis. Der Weltraumtourismus hat begonnen. Wir leben in einer Zeit offen praktizierter Widersprüche. Zu Rousseaus Lebzeiten waren Bedrohungen der Lebensgrundlagen durch Werke der Technik nicht einmal randständig. Rousseau verherrlichte die vorgeblich ur8 Typisch: Obwohl in der Zusammenfassung der Terminus „contrat social“ fällt (S. 47), wird Rousseaus Name im gesamten Text nicht erwähnt. Im Gutachten taucht er zwar zweimal kurz hintereinander auf, aber ganz allgemein als Vorläufer zur geistesgeschichtlichen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert (S. 91). Bei der Darstellung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag (S. 293 f.) wird er neben Hobbes, Locke und Kant genannt; während aber eine kurze Auseinandersetzung mit den Grundthesen der anderen Autoren stattfindet, werden die Rousseaus übergangen. Kants Kosmopolitismus liefert dem Gutachten die gefälligere Piste für die eigenen Vorstellungen. 9 Siehe vor allem Rousseau, Discours sur l’origine de l‘inégalité parmi les hommes, Première Partie. 10 Das übersieht Gert Kaiser (siehe Fn. 5 am Ende). Er nimmt Rousseau, der ein Fortschrittsfeind aus sozialen Gründen war, in erster Linie als einen Technikfeind wahr. Für Rousseau stellte sich die Frage aber gar nicht wie für uns heute, da seinerzeit die Technik kaum entwickelt war. Rousseaus Befund in Le rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les moeurs?, wonach das Aufblühen von Wissenschaften und Künsten den Menschen nicht (moralisch) gebessert, sondern ihm größere Möglichkeiten gegeben habe, ‚Böses‘ zu tun, dürfte im Kern weiter richtig sein, gerade wenn man sich das Ausmaß der möglichen Zerstörung durch weitere bedenkenlose Energiegewinnung vor Augen hält. Anderer Meinung zur Gewaltbereitschaft des Menschen mit durchaus eindrucksvoller Argumentation ist Pinker, The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined (Edge Editions 2011). Er übersieht, dass bei unserem Stand der Technik, sanfte Gewalt die ungeheuerlichsten Folgen haben kann (Atomunfälle, Börsenkrach). Sich Rousseaus Befund ständig vor Augen zu halten, kann für unseren Umgang mit der Technik, da er zur Vorsicht mahnt, nur nützlich sein. Enthusiasmus, lange Zeit der spontane Impuls der Menschheit als Reaktion auf bahnbrechende Erfindungen, ist im Hinblick auf den technischen Fortschritt, da wir nun seine kumulierten Folgen erkennen, generell nicht mehr angebracht. Technikfeindlichkeit hilft uns bei unserem Entwicklungsstand aber erst recht nicht weiter. Überzeugend deshalb die vom Gutachten empfohlene Kultur der Achtsamkeit (S. 294) als weiser Mittelweg.

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sprünglichen Lebensverhältnisse des Menschen, weil er die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte missbilligte, insbesondere die sozialen Zustände in den großen Städten für unerträglich befand,11 und dafür die zivilisatorische Entwicklung seit der Antike verantwortlich machte. Rousseaus Blick richtete sich (zurück) auf die Natur, weil er in einer ungerechten, auf Standeszugehörigkeit gegründeten und die freie Persönlichkeit des Menschen strangulierenden Gesellschaft nach Freiheit und Gleichheit sowie voller Entfaltung der Persönlichkeit für alle suchte. Er wusste, dass sich solches Bestreben wirksamer durchsetzen ließ, wenn die Ziele nicht als bloße Forderung der (und nach mehr) Menschlichkeit erhoben wurden, sondern unter Berufung auf eine höhere Autorität erfolgten. Mit Gott und der Bibel zu argumentieren, war angesichts der erbärmlichen machtbezogenen Haltung der Kirchen zu gesellschaftlichen Fragen schwierig. Zudem hätte es Agnostiker und Atheisten, die in der Zeit der Aufklärung an Einfluss gewannen, nicht überzeugt. Was lag unter den gegebenen Umständen näher, als sich auf die Natur (sei es als gottgegebene oder jedenfalls lebensspendende) Kraft und Autorität zu berufen? In Zeiten beginnender naturwissenschaftlicher Erkenntnis stand sie im Mittelpunkt des Interesses. Jedoch als bloßes Studienobjekt. Rousseau erhob die (vorgeblich) natürliche, ursprüngliche Lebensweise zu einem individuellen und sozialen Anspruch an seine Zeit. Rousseaus Verhältnis zur Natur ist also unwissenschaftlich. Dazu rückbezogen spekulativ und zugleich sehnsuchts- wie achtungsvoll. Voltaire und viele andere zogen daraus den falschen Schluss, Rousseaus Denken sei rückwärtsgewandt und weltfremd,12 er sei wegen seiner Zivilisationskritik ein Narr.13 Dabei ist Rousseaus Sehnsucht nach neuer Natürlichkeit klar zukunftsbezogen; nicht Wehmut über ‚verlorene Paradiese‘. Rousseau war kein Träumer, kein konservativer und schon gar kein retrograder, sondern ein höchst dynamischer Denker. Führende Jakobiner hatten zu Recht den Nutzen seiner Philosophie für ihre revolutionären Zwecke erkannt: Eine fiktive Vergangenheit des Menschen in der Natur diente als Begründung für die Forderung nach radikalen gesellschaftlichen Veränderungen in der Gegenwart.14 11 Vgl. etwa Rousseau, Confessions, Partie I, Livre IV ( 1732): Beschreibung seiner Eindrücke von Paris bei seinem ersten Aufenthalt in der Stadt. Seine späteren Aufenthalte sind zwar glamouröser, aber immer bleibt der Beigeschmack von Leere, Vanitas, Ungerechtigkeit und Verdorbenheit, der er sich selbst nicht entziehen kann, sondern sogar verfällt (Abgabe seiner Kinder im Findelheim), Confessions, Partie II, Livre VII gegen Ende. 12 Voltaires berühmtes Zitat aus einem Brief vom 30. 8. 1755 an Rousseau lautet: „On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes. Il prend envie de marcher à quatre pattes quand on lit votre ouvrage.“ (abgedruckt in Rousseau, Oeuvres complètes, Bd. III, S. 1379 – Paris, 2003). 13 So ausdrücklich Friedrich der Große, Über den Nutzen der Künste und Wissenschaften im Staat (vor der Berliner Akademie der Wissenschaften am 27. 1. 1772 verlesene Rede, in der (bereits ominös?) Rousseaus Name nicht fällt, GS, Bd. 8, S. 54 ff., Ausgabe von 1913). 14 Es ist nicht auszuschließen, dass Marx aufgrund des Umgangs der Jakobiner mit den Vordenkern der Aufklärung zu der Überzeugung gelangte, die Philosophie könne auch für das Proletariat das geistige Werkzeug im Dienste der Revolution sein (vgl. Kritik der Hegelschen

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Sie kürten Rousseau deshalb ungeachtet vieler Widersprüche seiner Lehre mit ihren Überzeugungen im Übrigen zu einem ihrer Geistesväter und überführten 1794 seinen Leichnam in einer feierlichen Prozession ins Pariser Pantheon. Rousseaus Rückgriff auf die Natur und vorgeblich natürliche Lebensverhältnisse als Referenz ist etwas grundsätzlich anderes als die nachfolgende romantische Verklärung der Natur durch das Bildungsbürgertum. Auch mit modernem Natur- und Umweltschutz hat Rousseaus Lehre im Ausgangspunkt nichts gemein. Eine gewisse Verbindung besteht zur Idee des Naturrechts. Die dem Einzelnen von der Naturrechtslehre zuerkannten Rechte werden jedoch nicht aus vorgeblich natürlichen Lebensverhältnissen, auf die sich Rousseau in erster Linie bezieht, sondern aus der menschlichen Natur (dem Wesenskern eines jeden Menschen) abgeleitet. Der Begriff Natur hat in beiden Fällen also eine gänzlich andere Bedeutung. Dies führt häufig zu Missverständnissen. Ob der das Wesen des Menschen bestimmende Verstand, also des Menschen besondere Natur in der Natur tatsächlich die Krone der Schöpfung ist, wie die meisten traditionellen Denker bis Hegel annahmen, oder nicht vielmehr ein Fremdkörper in der Natur, jedenfalls eine Entgleisung der in ihr angelegten Kräfte,15 bleibt fraglich. Menschliche Natur und Fortbestand der Natur angesichts der vom Verstand entfesselten technischen Kraftentfaltung (wieder) in Einklang zu bringen, ist unstrittig die politisch-ökologische Hauptaufgabe der Gegenwart. Ihr wendet sich das Gutachten zu. Durch unsere Fähigkeit oder Unfähigkeit, die Aufgabe zu lösen, wird sich erweisen, ob sich die menschliche Natur in die Natur tatsächlich dauerhaft einfügt oder in einem alles Leben bedrohenden Widerspruch zu ihr steht, der erst allmählich erkennbar wurde, den aber Rousseau bereits zu Beginn des Konflikts, der vollen Inbesitznahme des Menschen durch seine Vernunft im Zeitalter der Aufklärung, erkannt hatte.

III. Hätte sich Rousseaus Denken rasch und vollständig, nicht (wie tatsächlich) nur in einigen (zumeist verbogenen) Auszügen durchgesetzt, wäre die zivilisatorische Entwicklung (der wissenschaftlich-technische Fortschritt) gleich zu Beginn der Aufklärung, wenn nicht abgebrochen, so doch entscheidend gedämpft worden. Es hätte demnach weder die transzendentale Verklärung der Natur in der Romantik gegeben (ein der Natur urtümlich verbundener Mensch ist dazu unfähig; Naturreligionen sind etwas gänzlich anderes), noch der Notwendigkeit bedurft, Natur und Umwelt gegen exzessive Ausbeutung bis hin zur unwiderruflichen Zerstörung des ihr innewohnenden Gleichgewichts durch den fortschrittsbesessenen Menschen in beRechtsphilosophie, a. E.) und er deshalb Hegel ähnlich für seine Zwecke verbog wie die Jakobiner Rousseau für die ihren. 15 So vor allem Klages, Der Geist als Widersacher der Seele (1929); vgl. auch Freud, Warum Krieg? (1932) gegen Ende; Safranski, Das Böse oder Das Drama der Freiheit (1997); Nancy, La déconstruction du monothéisme in La déconstruction du christanisme 1 (2005).

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schwörenden Appellen zu schützen.16 Diese Betrachtung belegt, dass es doch einen Zusammenhang gibt zwischen Rousseaus Bezug auf die Natur als ‚Mutter alles Guten und Wahren‘ wegen Ungenügens an den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit (soziale Motivation) und der ‚Wiederentdeckung der Natur‘ als Lebensspenderin und Erhalterin im 20. Jahrhundert angesichts der von unserer Zivilisation ausgehenden Bedrohung ihres Gleichgewichts (ökologische Motivation). Wie eng der Zusammenhang ist, wollen wir näher untersuchen; denn nur von daher lässt sich klären, ob und inwieweit Rousseaus Denken über rein terminologische Rückgriffe hinaus (wie wir sie beim WBGU-Gutachten und Professor Schellnhubers Werben für den Klimaschutz feststellen) zur Lösung der Schicksalsfrage unserer Zeit beitragen kann.

IV. Rousseaus gedankliches Grundgerüst ist einfach: Der Mensch ist von Natur aus gut (weil Gott ihn gut geschaffen hat – so seine persönliche Überzeugung). Lebt der Mensch im Einklang mit der Natur (Schöpfung), bleibt er gut. Die zivilisatorische Entwicklung, insbesondere die mit ihr verbundene Anhäufung von ungleich verteiltem Reichtum, verbösert den menschlichen Charakter und führt gesamtgesellschaftlich untragbare Verhältnisse herauf.17 Die extreme Raffung der Gedanken Rousseaus zeigt zur Genüge, dass Gesellschaftsordnung und Ökologie seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ein einheitliches Problemfeld bilden. Die (nach Rousseau überflüssige) Anhäufung von Reichtum durch die zivilisatorische Entwicklung führt zu sozialem Gefälle und letztlich extremer Ungleichheit der Menschen, damit zu Unfrieden unter ihnen. Dies war Rousseaus zentrales Problem im vorindustriellen Zeitalter. Wir wissen nunmehr darüber hinaus: Je mehr Reichtum die Menschheit erstrebt und erzeugt, desto intensiver muss sie die Natur ausbeuten und desto ungewisser wird deren und damit der Menschheit eigener sicherer Fortbestand. Die Frage, wieweit sich der Mensch noch (sei es privat oder kollektiv) auf Kosten von Natur und Umwelt bereichern darf, ist das zentrale Problem unserer Zeit. Das Problem der gerechten Verteilung des angehäuften Reichtums bleibt dabei bestehen und stellt sich (wieder) desto drängender, je weniger aus wirtschaftlichem Wachstum durch ständig vorangetriebene Ausbeutung der Natur verteilt werden kann.18 Rous16 Man denke etwa an (längst wieder vergessene) Bücher wie Gruhl, Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik (1975). 17 Vgl. Fn. 9. Rousseau ist sicher einer der Auslöser der in der Literatur, besonders der russischen, sehr verbreiteten Verkörperung des Bösen im Reichen und des Guten im Armen, der die amerikanische Zivilisation (weniger die amerikanische Literatur) sehr viel entschiedener als die europäische entgegentrat. Rousseau stellt sich mit seiner Position klar in Widerspruch zu seiner calvinistischen Konfession, nicht dagegen zum Christentum an sich, das Armut lobpreist (z. B. in der Bergpredigt; Gleichnis vom Kamel und dem Nadelöhr). 18 Vgl. Gutachten S. 238. In Zusammenhang mit der sich seit Längerem öffnenden Einkommensschere zwischen einer kleinen Oberschicht und einer bedrängten Mittelschicht ent-

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seau wollte den Konflikt seinerzeit durch kollektive Bescheidenheit lösen, indem kein Mensch mehr Vermögen besitzen sollte, als er zur angemessenen Befriedigung seiner existentiellen Bedürfnisse benötigte. Er versuchte es, selbst vorzuleben. Der Vorschlag mag richtig gewesen sein – allein, er widerspricht dem menschlichen Wesen, das in der Mehrzahl seiner Individuen auf Raffgier angelegt ist.19 Rousseaus Denken blieb deshalb insoweit jeder Erfolg versagt, während sich seine Lehre vom Gesellschaftsvertrag mit der darin angelegten Volkssouveränität durchsetzte. Bevor wir uns der Frage zuwenden, ob Rousseaus Aufforderung zur Bescheidenheit in der Lebensführung angesichts des Ausmaßes der existentiellen Bedrohung durch unseren brutalen Umgang mit der Natur neue Aktualität erlangen kann, wollen wir – wegen des Zusammenhanges – einen kurzen Blick zurück auf Rousseaus Erfolge in der europäischen Geistesgeschichte richten.

V. Anzusetzen ist bei dem Begriff des neuen Gesellschaftsvertrags im Gutachten. Wenn es einen neuen Gesellschaftsvertrag geben soll, muss es einen alten Gesellschaftsvertrag gegeben haben oder noch geben. Die Autoren des Gutachtens äußern sich dazu nicht präzise, gehen also wohl davon aus, dass die Leser vom ‚alten Gesellschaftsvertrag‘ eine hinreichend klare Vorstellung haben. Dabei ist die Frage, worum es sich dabei handelt, nicht ganz leicht zu beantworten. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag war eines der beherrschenden politischen Themen der Aufklärung, weil die Staatlichkeit als Idee von ihrer rein historischen Entwicklung als bloße faktische Ausdehnung von Herrschaftsmacht über ein Gebiet samt seiner Bevölkerung abgelöst und auf vor der Vernunft aller (auch der Untertanen) beständige Gründe gestellt werden sollte. Rousseau hat zwar am meisten zur Propagierung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag beigetragen, weil er diesen zum Titel seines wichtigsten und trotz Verbots sehr erfolgreichen politischen Buches machte (‚Du contrat social‘);20 jedoch haben zwei britische Denker, Hobbes und Locke, zuvor die Grundlagen für die neue Lehre vom vernunftbestimmten Zusammenleben von Menschen in einem Staatsverband gelegt. Gemeinsam ist allen Verdeckt der kapitalismusfreundliche Politologe Fukuyama die daraus entstehende Gefahr für die Demokratie und stellt fest, natürlich gleichfalls ohne auf Rousseau zu verweisen, was der Genfer immer schon klar erkannt hatte: „Wenn Einkommen einigermaßen gleich verteilt sind, vertrauen Bürger einander mehr – und es gibt keine kleine Elite, die privilegierten Zugang zu den Politikern genießt, um ihre Interessen durchzuboxen.“ (Spiegel-Gespräch in Ausgabe 5 / 2012). 19 Eine sehr realistische, wohl zu realistische Position nimmt deshalb das Gutachten in der Lebensstil-Frage und den Möglichkeiten eines radikalen Wandels ein, vgl. S. 71 f. Dies steht in Widerspruch zur Anspruchshöhe der Vorschläge im Allgemeinen. 20 Das Buch sollte ursprünglich Teil eines umfassenden Werks über die politischen Institutionen sein (vgl. Rousseau, Lettres de la Montagne, (Briefe vom 15. 7. 1762 und 25. Juli 1767). Dazu kam es nicht mehr.

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tretern der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, dass sie vom freien Einzelnen ausgehen (Renaissance und aufklärerisches Denken haben dafür gesorgt) und das Zusammenleben in einem Staat deshalb auf freiwilligem Zusammenschluss beruhen soll. Hobbes hat dabei die Position des Absolutismus gestärkt, weil für ihn der Gesellschaftsvertrag ein Unterwerfungsvertrag ist. Um dem ‚Krieg aller gegen alle‘ zu entgehen, unterwerfen sich die vielen einer starken Persönlichkeit, die durch ihre Autorität und die Konzentration der Macht in einer Hand den inneren Frieden und die äußere Stärke am wirksamsten zu begründen und zu sichern vermag.21 Das Tragische an Hobbes Lehre ist, dass sie der historischen Wahrheit wohl am nächsten kommt, aber langfristig für die Entwicklung der Menschheit am unfruchtbarsten bleiben musste, weil große, moderne Staatswesen nicht mehr auf die Macht eines Einzelnen oder einer kleinen Elite sicher gegründet werden können, sondern aktive Teilnahme aller Bürger verlangen, gerade in schwierigen Zeiten.22 Rousseaus Lehre (freie Einzelne schließen sich aus Gründen größerer Effizienz zu einem dauerhaften Bund zusammen),23 obwohl historisch unhaltbar, also nur als Fiktion denkerisch zu vertreten, ist dagegen enorm fruchtbar für die weitere Entwicklung gewesen, weil sie den mit der Aufklärung heraufziehenden Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit aller vernunftbegabten Menschen wunderbar entsprach und diesem Denken eine historische Aura verlieh. Jede Autokratie stand im Widerspruch mit solchen Vorstellungen. Volkssouveränität und Demokratie sind die logische Folgerung. Ebenso verhielt es sich mit Lockes Lehre vom Gesellschaftsvertrag,24 die gedanklich die überzeugendste ist, weil sie jeden historischen Bezug unterlässt und wie das Naturrecht auf das Wesen des Menschen, das von Freiheitswillen und Vernunft getragen wird, abstellt.25 Der Gesellschaftsvertrag ist demnach ein Prinzip, an dem sich die existierenden staatlichen Ordnungen in der Zukunft auszurichten haben. Locke sah sehr deutlich, dass es einen solchen Gesellschaftsvertrag nie gegeben hatte und er auch in Zukunft nie idealtypisch abgeschlossen werden würde. Seine Lehre ist für die Rezeption durch die Menge zu intellektuell, sie richtet sich – anders als Rousseaus Ableitungen – ausschließlich an die Eliten. Geht man von der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Idee vom Gesellschaftsvertrag aus, müsste man unter altem Gesellschaftsvertrag den von den führenden Denkern der Aufklärung historisch angenommenen oder zum Organisationsprinzip erhobenen ‚Urvertrag‘ von Menschen zum Zusammenschluss in einem 21 Vgl. Hobbes, Leviathan or The Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil. Eine sehr ähnliche Sicht, wenngleich ganz anders abgeleitet, hat in neuerer Zeit Freud vertreten (vgl. Fn. 15). 22 Das Gutachten stellt das sehr gut heraus (S. 55 ff., 215 ff.). 23 Rousseau, Du contrat social, Livre I, Chapitre VI. 24 Vgl. Locke, Two Treatises of Government. 25 Friedrich der Große argumentiert im Anti-Machiavell ähnlich, hält aber die Kräfte der Vernunft bei der Mehrzahl der Menschen für nicht ausreichend entwickelt, um mit der Freiheit recht umgehen zu können. Bei ihm kommt es daher nur zur Selbstverpflichtung des Monarchen gegenüber seinem Volk, das glücklich zu machen, er berufen ist.

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geordneten Staatswesen verstehen. Dies ist aber im Dokument des WBGU nicht gemeint; denn es ist nicht staatstheoretischer, sondern praktischer Art. Gemeint ist offenbar die Herausbildung des modernen Verfassungsstaats im (sich industrialisierenden) Europa des 19. Jahrhunderts,26 die von der Lehre vom Gesellschaftsvertrag politisch ausgelöst wurde und in einem über drei Jahrhunderte27 andauernden schmerzhaften Prozess zur Ablösung aller autokratischen Regierungsformen in Europa führte.28 Demnach sind die Verfassung eines freiheitlich begründeten Staates und die darauf gegründete und praktizierte Ordnung der Gesellschaftsvertrag, den seine Bürger miteinander zur politischen Gestaltung ihrer Zukunft schließen. Der alte Gesellschaftsvertrag ist demgemäß ein Plural oder, wenn man so will, als Singular der den neuzeitlichen freiheitlichen Staatsverfassungen gemeinsame Kernbestand eines Geflechts aus Rechten und Pflichten des Einzelnen und der Institutionen (Demokratie; Rechtsstaat und Menschenrechte; Sozialstaatlichkeit).

VI. Die Französische Revolution hatte mit ihrem Losungsdreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Maßstäbe für den alten Gesellschaftsvertrag auf der Ebene einer Nation prägnant und für alle Zeit gültig vorgegeben. Die praktische Umsetzung der schönen Formel, insbesondere die Auflösung der inneren Spannung zwischen ihren drei Basiselementen, erwies sich jedoch als ein schwieriges Unterfangen. Es bedurfte vieler Anläufe, um daraus ein der politischen Wirklichkeit gewachsenes harmonisches Staatsganzes zu formen. Vollauf gelungen ist es in Europa erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. In anderen Teilen der Welt ist man noch weit davon entfernt, obwohl die Entwicklung dahin nicht aufzuhalten ist. Gleichzeitig wird aber der mühsam errungene Erfolg des modernen Verfassungsstaates (= alten Gesellschaftsvertrags) zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch den unverhält26 Vgl. Zusammenfassung S. 2, vorletzter Absatz der linken Spalte. Im Gutachten (S. 293) wird der alte Gesellschaftsvertrag jedoch weniger verfassungsgeschichtlich, sondern mehr soziologisch als „Interaktion von Unternehmen, Ingenieuren und Bankiers mit einer aufgeschlossenen fortschrittlichen Verwaltung und einem selbstbewussten Bürgertum“ (man beachte die Reihenfolge und die kuriose Gruppenbildung!) definiert (vgl. auch die Illustration am Beispiel der deutschen Gründerzeit, S. 96). Ohne Verfassungsgrundlage ist das aber nicht möglich. Grund und Folge werden im Gutachten also nicht klar voneinander abgegrenzt und zeitlich verkürzt. Außerdem geht der gewaltsame (revolutionäre) Charakter der Entwicklung in den meisten Ländern verloren. Die rasch hinzutretende Arbeiterschaft wird überhaupt nicht erwähnt. Der Blick zurück des Gutachtens ist (offenbar weil er modellhaft für die Zukunft sein soll) viel zu harmonisch, viel zu kooperativ angelegt, dabei war die relativ harmonische Entwicklung in Deutschland von 1870 – 1914 nach dem Scheitern der Revolution von 1848 eindeutig ein gesellschaftspolitischer Sonderfall. 27 Gerechnet von der Glorious Revolution (1688) im Vereinigten Königreich bis zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums in Ost- und Mitteleuropa 1990. 28 Gewisse Rückfälle in Nachfolgestaaten der Sowjetunion sollen hier vernachlässigt werden. Sie sind als temporär anzusehen.

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nismäßigen Machtzuwachs der Unternehmen und ihrer Manager, der die politischen Amtsträger nichts Vergleichbares mehr entgegenzusetzen haben, bereits wieder aus den Angeln gehoben. Die übermäßige Macht der Unternehmen vor allem bedroht die natürlichen Lebensgrundlagen; denn es ist offensichtlich: Die undemokratische und rein materialistisch ausgerichtete Wirtschaft, nicht der demokratische Staat als Ausdruck gemeinsam beschlossener Sittlichkeit bestimmt seit 1945 den Fortgang unserer Zivilisation. Als schwierigste Aufgabe bei der Umsetzung des alten Gesellschaftsvertrages entpuppte sich, den Begriff der Brüderlichkeit zu konkretisieren und ihn ins rechte Verhältnis zu Freiheit und Gleichheit zu setzen. Diesem Aspekt der Staatlichkeit hatten die frühen Denker des Gesellschaftsvertrages keine oder – wie Rousseau – nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie ganz von der Auseinandersetzung zwischen einem autokratischen Monarchen und seinem Anhang mit einer sozial noch weitgehend homogenen Bürgerschaft eingenommen waren. Der Rest der Bevölkerung wurde als zu vernachlässigende Randgruppen wahrgenommen, quasi als Asoziale. Wie später das Lumpenproletariat bei Marx. Schon wenige Jahrzehnte nach den ersten Siegen der bürgerlich-revolutionären Bewegungen in Teilen Europas stellte sich jedoch heraus, dass, wie es das Bürgertum mit der Brüderlichkeit im Nationalstaat hielt, zur Schicksalsfrage der neuen Ordnung geworden war, während Freiheit und Gleichheit sich praktisch-politisch, wenngleich nicht problemlos, doch einfacher ineinander fügen ließen. Durch die rasch voranschreitende Industrialisierung und die Landflucht infolge starker Bevölkerungszunahme war in die Großstädte ein ganz neuer Stand, das Industrieproletariat, eingezogen. Klasse nannte es sich. Für die Arbeiterschaft waren Freiheit und Gleichheit leere Begriffe, weil es für sie im täglichen Existenzkampf um das nackte Überleben ging. Das Aufkommen und die wegen fürchterlicher Einkommens- und Wohnverhältnisse zunehmende Radikalisierung des Proletariats hinderten den fälligen Übergang vom feudalen, autokratischen Regierungssystem zum bürgerlich-freiheitlichen erheblich. In den rückständigeren Staaten Süd-, Mittel- und Osteuropas zog es das Bürgertum vor, sich mit den herrschenden feudalen Kräften zu verbünden, um vereint eine sozialistische Revolution abzuwenden. Selbst in Frankreich konnten wegen der Zersplitterung des Bürgertums im Hinblick auf die soziale Frage autokratische Kräfte immer wieder die Staatsgewalt an sich reißen. Im Gefolge der neo-imperialen und nationalistischen Verirrungen, die im Ersten Weltkrieg gipfelten, spaltete sich die Arbeiterbewegung in international und national gesinnte Kräfte. Wo sich diese mit durch Wirtschaftskrisen verarmtem Klein- und Mittelbürgertum verbanden, kam es zur Machtübernahme durch Faschisten und Nationalsozialisten. Erst nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges gelang es endgültig, die soziale Frage zu lösen, die den freiheitlichen Verfassungsstaat (den alten Gesellschaftsvertrag) mehr als ein Jahrhundert nicht hatte zur Ruhe kommen lassen. Die neue Weltordnung sollte nicht nur eine Friedensordnung sein (Gründung der Vereinten Nationen), sondern auch allen Schichten der Bevölkerung eines jeden Landes

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durch soziale Sicherungssysteme und wirtschaftliche Entwicklung über freien Handel (GATT, OECD und Europäische Gemeinschaften) sowie weltweit zu respektierende Mindestarbeitsbedingungen (Internationale Arbeitsorganisation ILO) Wohlstand bieten. In Deutschland wurde diese Kombination liberaler Wirtschaftsordnung mit sozialer Sicherung für die Arbeiter als Soziale Marktwirtschaft propagiert. Die Vollendung des Verfassungsstaates durch seine soziale Komponente vollzog sich in den USA und Westeuropa weitgehend parallel, wobei die Betonung entweder mehr auf der liberalen oder auf der sozialen Komponente lag. Der internationale Wettbewerb sorgte dafür, dass tendenziell die liberale Komponente größeren Auftrieb erhielt. Gleichwohl arteten soziale Spannungen nicht mehr zu Staatsfrakturen aus. Leistungsfähigere Maschinen verringerten die körperliche Belastung der Arbeiterschaft und erhöhten die Produktivität in nie gekannter Weise. Intensivierte Ausbeutung der Natur mit Hilfe erheblich verbesserter technischer Mittel (Industrialisierung der Landwirtschaft, Landschaftsfraß durch Industrieanlagen und Infrastruktur, großflächige Ausbeutung der Bodenschätze bis in die entlegensten Gebiete) ersetzte die frühere Ausbeutung der Arbeiter. Der Produktivgewinn war derart gewaltig, dass die Arbeiterschaft angemessen daran beteiligt werden konnte, ohne die Kapitalinteressen im Mindesten zu schädigen. Die von Marx erwartete Verelendung des Proletariats blieb wegen ganz ungemeinen Wirtschaftswachstums aus. Die Weltrevolution verlor die als sicher angenommene Grundlage. Dauerhaft kann ein solches Wirtschaftssystem nur bei anhaltendem Wirtschaftswachstum bestehen. Ist kein Zuwachs mehr zu verteilen, flammen die alten Kämpfe zwischen den Sozialpartnern um den jeweiligen Anteil am erarbeiteten Bestand wieder auf. Sie bedrohen den gesellschaftlichen Frieden und damit den bestehenden Gesellschaftsvertrag. Bei Verschärfung in Krisenzeiten gerät die staatliche Ordnung darüber ins Wanken.

VII. Seit Beginn der 70er Jahre war klar geworden, dass ungezügeltes weltweites Wirtschaftswachstum das Ökosystem der Erde aus seinem relativen Gleichgewicht werfen würde.29 Die Grundlage für den ungeschriebenen historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit zulasten der Natur wurde damit, kaum erfolgreich in Gang gesetzt, brüchig. An der sozialen Wirklichkeit in den 60er und 70er-Jahren gescheiterte linke Sektierer (APO) erkannten in der heraufziehenden ökologischen Krise der entfesselten und staatlich gestützten Wirtschaft einen neuen, besseren Ansatz für ihre anti-kapitalistischen Bestrebungen als ihn der herkömmliche sozialistische bot. So kam es 1980 zur Gründung der Grünen Partei in Deutschland; auch in anderen Ländern Europas fasste die Bewegung Fuß. Wegen der linken und öko29

Studie des Club of Rome von 1972: Die Grenzen des Wachstums; Gruhl (Fn. 16).

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fundamentalistischen Ausrichtung schien eine Rückbesinnung auf Rousseaus Ideal von einem anti-materialistischen (bescheidenen) Menschen nahe.30 Gab es doch in der Partei viele ‚Narren‘, die öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrrad den Vorzug vor dem Privatwagen gaben, sich einfach, aber gesund ernährten und Eingriffe in die Natur durch hyperdimensionierte Industrie- oder Verkehrsanlagen strikt ablehnten. Mit dem raschen Einzug der Grünen in die Parlamente, sogar Regierungen, den Karrieren früherer Linksradikaler in Staat und Gesellschaft, dem Eintritt ‚bürgerlicher‘ Wähler sowie durch die Fusion mit dem freiheitlich gesinnten Bündnis 90 aus der ehemaligen DDR ging die zunächst klar antikapitalistische Ausrichtung der Partei weitgehend verloren. Andererseits öffneten sich wegen des Erfolgs der Grünen und der ganz offensichtlich gewordenen Notwendigkeit, Natur und Umwelt fortan zu schonen, nahezu alle anderen Parteien dem ursprünglich verlästerten ‚grünen‘ Gedankengut. Heute besteht zumindest in Deutschland, aber auch weit darüber hinaus in Europa, allgemeiner Konsens dahin, dass weder der Kapitalismus noch das wirtschaftliche Wachstum abgeschafft werden sollen, sondern es gilt, das Wirtschaftswachstum umweltverträglich zu gestalten.31 Es ist eine politisch sehr bequeme Position. Die permanente kollektive und individuelle Bereicherung aus der Natur soll nicht beendet, sondern durch Einzug von Leitplanken nachhaltig gemacht werden. Dagegen kann niemand sein. Die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Wirtschaftswachstum und Umweltverträglichkeit generell und dauerhaft (nicht nur hinsichtlich der Klimaziele oder für einige weitere Jahrzehnte) zu vereinbaren (es ist die ‚Geschäftsgrundlage‘ des vorgeblichen Konsenses = Allgemeinwillens), kann hier nicht beantwortet werden. Es ist eine Herkulesaufgabe, darüber zu klaren Befunden zu gelangen. Der ‚grüne Konsens‘ hat jedoch den Vorteil, dass die mühsam errungene und stets fragile soziale Eintracht nicht ernsthaft in Frage gestellt wird und somit der alte Gesellschaftsvertrag insgesamt gültig bleibt, erweitert um eine ökologische Komponente. Auf der Grundlage dieses Konsenses bewegt sich das WBGU-Gutachten, obwohl es eine radikale Neuausrichtung der Politik und eine Zeitenwende beschwört, die in Bedeutung und Ausmaß nur dem Übergang des Menschen vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern im Neolithium und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert vergleichbar sei.32 Es hält ökologisch vertretbares Wachstum nicht nur für möglich, sondern zur Bewältigung der Probleme einer Weltgesellschaft, die noch größtenteils in Armut lebt, sogar für nötig.33 Der Ruf „Vorwärts zur Natur!“ Vgl. Fn. 3 a. E. Eine solche grundsätzlich positive Einstellung einer Mehrheit von Menschen weltweit in Sachen Ökologie hebt das Gutachten hervor, um daraus auf eine Art ‚volonté générale‘ zu schließen (S. 71 ff.; Zusammenfassung, S. 8, rechte Spalte unten). Dort ist sogar von einer ‚Weltbürgerschaft‘ – ohne Anführungszeichen – die Rede, die das Ziel teile. Einen sehr viel tiefergreifenden weltweiten Bewusstseinswandel hielt dagegen Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem gleichnamigen Buch (1988) zur Lösung der großen Zukunftsaufgaben für nötig. 32 Gutachten, S. 29, 87 ff. Man bemerke die ins Enorme gesteigerte Geschwindigkeit von Zeitenwenden! 30 31

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drückt es verdichtet aus. Er bezieht sich im Gutachten wesentlich auf die Einführung erneuerbarer Energien, die alte umwelt- und klimaschädliche Energiegewinnung ersetzen sollen. Mit der Entscheidung für ‚grünes Wachstum‘ bleibt Rousseaus Idealbild vom schlichten, naturverbundenen Menschen trotz einiger gezielter Annäherungen im Text des Gutachtens in der Versenkung. Rousseaus Menschenbild zu propagieren, hieße, den festgestellten Konsens der Weltbürgerschaft in Frage stellen. Es eignet sich weiterhin nicht als Grundlage für eine Ethik der menschlichen Gesellschaft, weil der Mensch nicht stehen bleiben, sondern immer weiter voranschreiten will. Das ist seine Natur, und insoweit ist er einzigartig in der Natur. Obwohl Einbußen an Wohlstand für die Bürger der westlichen Hemisphäre im Rahmen eines Interessenausgleichs mit den weniger entwickelten Ländern anklingen,34 schlägt sich Rousseaus Rückbesinnung auf die Natur und sein Eintreten für eine natürliche Lebensweise letztendlich nicht, nicht einmal terminologisch, im Gutachten nieder. Darüber, ob es in einem späteren Stadium der Menschheitsgeschichte doch einmal nötig und die Menschheit reif dazu sein wird, sich Rousseaus auf Rückkehr zur Natur angelegtem Menschenbild anzunähern, obwohl es eine wirklich entschiedene Abkehr von Wachstum und Komfort bedeuten würde, lässt sich derzeit nur spekulieren.

VIII. Nachdem wir beim Menschenbild definitiv nicht fündig geworden sind, wollen wir untersuchen, ob im Hinblick auf den neuen Gesellschaftsvertrag und den Allgemeinwillen, der zu seinem Abschluss erforderlich ist, sowie den institutionellen Mechanismen zu seiner Umsetzung Rousseau mehr als bloßer Lieferant eingeführter Begriffe ist, die für neue Zwecke zielführend sein mögen, aber mit der Substanz seiner Lehre wenig gemein haben. Rousseaus Lehre vom ‚contrat social‘ und von der ‚volonté générale‘ ist untrennbar mit der Idee von der Volkssouveränität als Gegenstück zur monarchischen Souveränität verbunden. Es ist deshalb nahezu unmöglich, sie von der Sache her vom (National-)Staat, zu dem sie gehört, auf die internationale Ebene zu erstrecken. Dies wäre aber nötig, weil die Erde nur durch eine rasche kollektive Aktion der Menschheit insgesamt vor der Bedrohung durch vom Menschen selbst verursachte Umweltkatastrophen (darunter die Erwärmung der Atmosphäre über 2° hinaus in den nächsten 40 Jahren) bewahrt werden kann. So nützlich Vorreiterkoalitionen sind,35 angesichts des internationalen wirtschaftlichen Wettbewerbs und des engen zur Verfügung stehenden Zeitfensters kann es den neuen Gesellschaftsvertrag (anders als den 33 Gutachten, S. 1, 99 ff., 117 ff., 135, 143 ff., vor allem S. 189 f.; vgl. auch Zusammenfassung, S. 1 f., 4. 34 Gutachten, S. 238 f.; Zusammenfassung, S. 8, 17 (Gerechtigkeitsausgleich zugunsten der Entwicklungsländer). 35 Vgl. dazu Gutachten, S. 260 ff., Zusammenfassung, S. 18.

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alten) von vorneherein nur weltweit, also in der Einzahl geben, mögen auch verschiedenen Ländergruppen unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Vorgehen gestattet werden.36 Die Lehre von der Souveränität ist eine neuzeitliche Schöpfung der Staatslehre. Sie war die verneinende (französische) Antwort auf den Anspruch universaler Mächte (Papst- und Kaisertum) nach Oberherrschaft in Europa und darüber hinaus.37 Der Begriff der Souveränität hatte also abwehrenden und territorial restriktiven Charakter. Für die Lehre von der Volkssouveränität (souveraineté nationale) gilt das in gesteigertem Maße, weil sie per definitionem auf ein Staatsvolk beschränkt ist, während ein Monarch durchaus über mehrere Staaten herrschen oder ihr Oberherrscher sein, also mehrfach Souveränität ausüben kann.38 Für die Volkssouveränität ist mehrfache Ausübung oder gar Herrschaft eines Volkes über ein anderes ein Oxymoron. Insofern war in ihr das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Volkes, eine spätere und äußerst schwierig zu praktizierende Emanation dieser Lehre, bereits angelegt. Weil Volkssouveränität die Grundlage der modernen Demokratie (Volksherrschaft) und damit an ein Staatsvolk gebunden ist, lässt sich Demokratie im Grunde nicht übertragen auf Formen internationaler Zusammenarbeit, auch nicht ganz neuartig enge und besondere wie die der Europäischen Union. Das viel beklagte Demokratiedefizit der Europäischen Union ist ein immanent strukturelles und wird sich allein durch die Herstellung eines europäischen Bundesstaats beheben lassen.39 Ein

36 Vgl. Gutachten, S. 97, wo zu recht die zentrale Bedeutung der Schwellenländer betont wird, sowie S. 185 und vor allem 239 f., 293 ff., 337. Allerdings zeichnet sich das Gutachten auch hinsichtlich des neuen Gesellschaftsvertrages durch eine bedenkliche Unklarheit der Begriffsbildung aus. Auf S. 216 wird nämlich im Gegensatz zu anderen Passagen der Eindruck erweckt, der neue Gesellschaftsvertrag werde auf der Ebene des Nationalstaats geschlossen, sei jedoch rein fiktiv, also nur eine Art neuen Umgangs von Staat und Zivilgesellschaft miteinander im Hinblick auf die Dekarbonisierung der Energiegewinnung. Gleichwohl sollen daraus Rechte und Pflichten entstehen. Das ist unmöglich, wenn der Vertrag fiktiv ist. Die historische Fiktion eines Gesellschaftsvertrages durch Rousseau machte dagegen Sinn, weil sie als idealtypisches Muster für eine neue Ordnung diente. Nicht als Anspruchsgrundlage für Rechte und Pflichten, sondern als Forderungsgrundlage für eine neue Lebensordnung. Selbst als nationale ‚Grünfärbung‘ bestehender Verfassungen führte ein neuer Gesellschaftsvertrag i. S. von S. 216 nicht weit im Sinne der Ziele des Gutachtens (siehe S. 239, 293 a. E., 335). Man steht konsterniert vor dieser plötzlichen Wendung zur Ebene des Nationalstaats und bloßen Praktiken bei einem zentralen Begriff des Gutachtens. Eine ähnliche Unschärfe war bereits in Fn. 26 im Hinblick auf den alten Gesellschaftsvertrag festgestellt worden. 37 Grundlegend Bodin, Six livres de la république (das letzte Wort war wie das lateinische res publica, also als Staat gemeint. Bodin war Monarchist). 38 Zu denken ist hier nicht nur an die klassische Personalunion (im Commonwealth bis heute gebräuchlich), sondern jedwede Form von Oberherrschaft. So war Napoleon I. nicht nur Kaiser der Franzosen (in dem Titel schwingt die revolutionäre Idee der Volkssouveränität in der neuen Monarchie fort), sondern auch Protektor des Rheinbundes, dessen Mitglieder also nicht souverän waren, sowie Mediator der Schweiz, die nach der Niederlage gegen den Kaiser ihre Souveränität eingebüßt hatte.

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Bundesstaat ist trotz vielfach aufgefächerter Macht souverän und vermag damit im vollen Sinne demokratisch zu sein, weil das Bundesvolk die gesamtstaatliche Souveränität ausübt. Ein Staatenbund und erst recht eine internationale Organisation, auch eine sogenannte supranationale wie die EU, sind nicht souverän.40 Ob man im Falle eines Staatenbundes oder einer supranationalen Organisation, die das Bundesverfassungsgericht Staatenverbund getauft hat,41 von einer geteilten Souveränität sprechen kann, erscheint fraglich. Solange es ein Austrittsrecht gibt, dürfte die Souveränität bei den Staaten verbleiben. Insofern stellt der Lissabon-Vertrag, der in der EU ein Austrittsrecht eingeführt hat, einen deutlichen Rückschritt in der Integration da. Volkssouveränität und somit Demokratie im strengen, jedenfalls Rousseaus Sinne, kann es bei internationalen Organisationen, selbst den höchstentwickelten, nicht geben. Allenfalls lassen sich demokratieähnliche Strukturen oder demokratische Teilstrukturen herstellen, wie sie besonders ausgeprägt in der Rolle des Europäischen Parlaments in der EU zu finden sind. Nachdem die politische Entwicklung seit Ausgang des Mittelalters auf die Herausbildung souveräner Nationalstaaten gegen sowohl universale geistliche und weltliche Machtansprüche als auch regionale Vormachtstellungen oder Reichsbildung einzelner mächtiger Staaten zugelaufen war – sie erreichte mit der Entkolonialisierung in den 60er Jahren ihren Höhepunkt – erweist es sich heute angesichts der Globalisierung aller existentiellen Probleme als notwendig, neue universale oder regionale Machtzentren zu schaffen, die über die klassische Kooperation von Staaten hinausgehen. Die zunehmende Zahl internationaler Organisationen belegt es. Das freiwillige und völlig neuartige Zusammenwachsen der Menschheit lässt sich ohne Verlust an Demokratie nicht vollziehen.42 39 Näheres zur Demokratie-Problematik in der EU bei Sack, Die Europäische Union als Demokratie – Plädoyer für eine europäische Streitkultur, ZEuS 2007, Heft 3, S. 457 ff. m. w. N. sowie sehr pointiert Manow, Ach Europa – Ach Demokratie, Merkur 1 / 2012, S. 20 ff. 40 Die EU ist, wie sich aus Artikel 220 Abs. 1 UA 2 des Vertrags über ihre Arbeitsweise ergibt, weiterhin de jure eine internationale Organisation, weil in der Bestimmung gesagt wird, sie könne mit anderen internationalen Organisationen Beziehungen unterhalten. Sieht man sich ihre Zuständigkeiten und Verfahren an, handelt es sich um ein juristisches Understatement, das als tragi-komisch anzusehen ist. Es ist jedoch bezeichnend für die Rechts- und politische Praxis der EU, dass solche ‚Klarstellungen‘ in abgelegenen Bestimmungen versteckt werden, weil sie bei den Integrationisten zu Recht Ärgernis erregen. Schaut man sich Zuständigkeiten und Struktur an, ist die EU ein Bundesstaat im Werden. In diesem Sinne bereits Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat (Wien / Düsseldorf 1969). Aktuell will ihn allerdings niemand mehr. Daraus ist eine fatale institutionelle Hängepartie entstanden. 41 Vgl. BVerfGE 89, 155 ff. 42 Das Gutachten erkennt dies (S. 208, 212) und versucht, über diese Schwierigkeit hinwegzukommen, indem es sich auf die guten Grundsätze globalen Regierens (global governance), nämlich Transparenz, Legitimation, Partizipation, Demokratisierung zurückzieht, die es weltweit in der Staatenordnung als Voraussetzung für den Abschluss des neuen Gesellschaftsvertrages ansieht und meint, die Entwicklung sei auf gutem Wege dahin (S. 53, 204, 215 ff.). Ausgangspunkt aller demokratischen Legitimation bleibt dabei der Nationalstaat (S. 213).

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Die mühsam errungene Volkssouveränität wird demnach von zwei Seiten bedrängt: Von außen sind es die internationalen Organisationen, auf die zunehmend Entscheidungsgewalt verlagert wird, obwohl sie sich demokratischer Kontrolle weitgehend entziehen. Gleichzeitig stranguliert von innen und außen die Macht der Märkte die Staatsgewalt, weil Macht und Erfolg ihrer Unternehmen im internationalen Wettbewerb das Schicksal der Nation entscheiden, nicht mehr die Staatsmacht. Märkte und Wirtschaft können nicht mehr ausreichend vom demokratisch verfassten Staat kontrolliert werden, will er nicht seinen internationalen Erfolg als Staat sabotieren. Der verzweifelte Ruf nach einem starken ‚gestaltenden Staat‘ im Gutachten als Voraussetzung für die ‚Große Transformation‘ dürfte unter diesen Umständen ins Leere gehen. Die Wirtschaft (z. B. in Person eines Steve Jobs) gestaltet wesentlich unser Leben, nicht mehr der Staat. Wenn er stark ist, vermag er der Wirtschaft einige Zügel anzulegen, zu mehr reicht es nicht, und selten genug ist es der Fall. Wo Volkssouveränität nicht mehr in staatliches Handeln umzusetzen ist, läuft der Allgemeinwille (volonté générale) ins Leere, weil dieser der Ausdruck des Volkswillens als Souverän ist.43 Deshalb erscheint der Versuch des Gutachtens, eine Weltbürgerschaft zu konstituieren und ihr einen politisch wirksamen Allgemeinwillen zuzuschreiben, sowohl aus der Sicht des Juristen wie der eines fundamentalistischen, an Rousseau ausgerichteten Demokraten aberwitzig. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bei Rousseau, weil sein idealer Staat die Polis, der überschaubare Kleinstaat war (vorzüglich bis heute verkörpert in den Schweizer Kantonen mit ihrer direkten Demokratie), nicht der moderne, weit größere Nationalstaat,44 sich die Notwendigkeit zu überstaatlicher Zusammenarbeit von Beginn an stellte. In einer vorindustriellen Zeit konnte sich diese jedoch im Wesentlichen auf eine Friedensordnung und die Handelsfreiheit beschränken. Auch insoweit lieferte die Schweiz als lockerer Staatenbund ein gültiges Vorbild. Richtig ist demnach, dass in Rousseaus am Kleinstaat ausgerichtetem Denken die föderale Idee zwingend angelegt war. Näher entwickelt hat er sie jedoch nicht, insbesondere nicht mögliche Konflikte mit der Idee der Volkssouveränität abgeklopft.45 Der föderalen Idee (bis hin zur Weltföderation) dürfte eher die Zukunft gehören als der von einer schicksalhaft verschmolzenen Weltbürgerschaft als agierende Einheit.46

Rousseau, Du contrat social, Livre II, Chapitres I – IV. Vgl. insbes. Rousseau, Discours sur l’économie politique. 45 Zu Rousseau als Vorläufer der Europäischen Integration siehe Rosas, The European Union as a Federative Association, Durham European Law Lecture, 2003. 46 Das Gutachten ist in dieser Hinsicht keinesfalls festgelegt. Es regt vielmehr Forschung über die menschliche Kooperationsfähigkeit und den (neuen) Gesellschaftsvertrag an (S. 345 ff.). Forsthoff gab in Der Staat in der Industriegesellschaft (2. Auflage, 1971) sehr früh die Prognose ab, der Staat sei außerstande den technischen Prozess in die Schranken zu weisen, welche die Humanität gebiete (S. 168). 43 44

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IX. Bevor wir aber auf der Grundlage Rousseauscher Begrifflichkeit ein endgültiges Werturteil über die Bemühungen fällen, eine politisch und rechtlich relevante Weltbürgerschaft zu konstituieren, lohnt es sich zu erwähnen, dass es einen sehr prominenten, allerdings weitgehend unerkannt gebliebenen ersten Versuch dahin bereits gegeben hat. Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 beginnt (in sicher nicht zufälliger Parallelität zur Verfassung der USA) geradezu revolutionär für ein internationales Abkommen mit den Worten: WE THE PEOPLES OF THE UNITED NATIONS … Völkerrechtliche Abkommen nennen normalerweise zunächst förmlich die Vertragsparteien. Dazu werden funktionell die jeweiligen Staatsoberhäupter der Vertragschließenden aufgeführt. Denn Staaten, nicht Völker sind die Rechtssubjekte des Völkerrechts.47 Die EU hat aus erkennbaren Gründen bis heute nicht gewagt, dem Vorbild der VN folgend, von dieser Praxis abzuweichen.48 Der Vorgänger der VN, der Völkerbund wurde im Rahmen der Friedensverträge von 1919 in klassischer Form gegründet.49 Selbst die deutsche Reichsverfassung von 1871 hatte als Bund von Fürsten und Hansestädten noch die Form eines Staatsvertrages. Die VN-Charta gibt sich dagegen äußerlich als Verfassungsurkunde und erweckt damit den Eindruck, als sollte eine Weltkonstituante geschaffen werden – eine Welt-Völkerversammlung als Obersouverän aller Völker und Staaten.

Siehe etwa Ipsen, Völkerrecht, 3. Auflage, S. 55 ff. Viele Formulierungen der Präambeln und Artikel ihrer Verträge klingen sogar geradezu obrigkeitsstaatlich. So ist etwa im Lissabon-Vertrag in Bezug auf die Vertragsschließenden von ‚ihren Völkern‘ bzw. ‚ihren Ländern‘ die Rede (Erwägungsgründe 9, 11 und 12). Im Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags sah es besser aus. In Artikel I-3 war von ‚ihren‘ Völkern bzw. Bürgern nur in Bezug auf die Union, nicht die Vertragsschließenden die Rede. Außerdem betonte Artikel I-1, dass dem Vertrag der Wille der Bürger und Staaten zugrunde liege. Das näherte sich dem Text einer Verfassungsurkunde an, obgleich sich der Bürgerwille nirgendwo anders konkret artikulierte als durch die jeweiligen Staatsorgane (mit Ausnahme der wenigen Staaten, in denen Volksabstimmungen stattfanden). Insofern handelte es sich bei dem Versuch der doppelten Legitimation um Etikettenschwindel. Ausdruck von Volkssouveränität auf höherer Ebene war der pauschal festgestellte Bürgerwille nicht. Er hätte es nur werden können, wenn unionsweit zur Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag aufgefordert worden wäre. Das wagte man nicht. Denn es sollte wohl gar kein Staat gegründet werden, obwohl der Anschein davon erweckt wurde. Im Nachhinein kann man getrost feststellen, dass eine solche hybride, auf das Vereinen von Widersprüchen angelegte Konstruktion den Keim des Scheiterns in sich trug. Bürgerbeteiligung, gar Bürgerentscheid braucht Klarheit über Ziel und Methode einer Aktion. 49 Zudem unter extrem erniedrigenden Umständen für die Besiegten. Die Völkerbundsatzung war Teil des Friedensvertrages der Alliierten mit jeder einzelnen der unterlegenen ‚Mittelmächte‘, ohne dass diese jedoch Mitglieder des Bundes wurden. Ein dümmeres Verhalten bei der Gründung war kaum denkbar. So wurde diese innovative Form der Staatenkooperation von vorneherein als politisches und rechtliches Instrument der Sieger gegen die Besiegten diskreditiert. Der Montanunion-Vertrag von 1951 war dagegen genial angelegt, weil er Deutschlands Schwerindustrie (und damit seine Kriegskapazität) auf der Grundlage strikter Gleichberechtigung kontrollierte. Und nicht nur Deutschlands Schwerindustrie. 47 48

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Dementsprechend enthält die VN-Charta im Corpus eine deutliche Einschränkung der Souveränität der Mitglieder der Organisation. Artikel 103 stipuliert den Vorrang der aus der Charta erwachsenden Verpflichtungen vor allen anderen vertraglichen, auch bereits bestehenden Verpflichtungen, und der Anspruch der VN auf universelle rechtliche, nicht nur moralische Autorität lässt sich nicht nur aus dem gesamten Text, sondern auch aus ihrer Praxis herauslesen: Zunehmend wurden in den letzten Jahrzehnten gegen den erklärten Willen eines Mitglieds Aktionen auf dessen Territorium beschlossen. Man kann darin den Beginn einer effektiven Weltinnenpolitik sehen.50 Der ungewöhnliche Bezug auf die Völker in der Präambel zur Charta der Vereinten Nationen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neugeschaffene Weltautorität mit Ausübung von Souveränität, gar Volkssouveränität auf einer überstaatlichen Ebene, nichts zu tun hat. Der Begriff macht auf der Welt-Ebene keinen Sinn; denn gegen wen sollte diese Souveränität gerichtet sein? Souveränität ist eine nach außen gerichtete Machtstellung des Staates, keine im Inneren relevante. Eine starke innere Machtstellung ist allerdings Voraussetzung für Verteidigung der Souveränität nach außen. Eine Weltautorität, gipfelnd im Weltstaat, entsteht durch Aufgabe staatlicher Souveränität, begründet jedoch im Gegensatz zu einem regionalen Staatenzusammenschluss keine neue Souveränität, sondern universale Macht. Auf die Ausbildung eines allgemeinen Weltwillens (über die Resolutionen der Vollversammlung) ist die VN-Charta durchaus angelegt. Nur bleibt dieser Weltwille für die souveränen Staaten unverbindlich, also von rein moralischer Autorität (Artikel 10, 11, 13). Verbindliche Beschlüsse kann allein der Sicherheitsrat treffen (Artikel 43, 45. 48, 49, 103). Dessen Maßnahmen liegen jedoch völlig in der Hand der fünf Veto-Mächte, sodass von einer allgemeinen Weltwillensbildung insoweit nicht einmal im Ansatz die Rede sein kann. Fünf Mächte dürfen, selbst gemeinsam, nicht die Erde beherrschen. In den Bestimmungen über den Sicherheitsrat hat die Realpolitik über den großartigen politischen Mantel der Präambel zur Charta gesiegt.

X. Die Ergebnisse unserer bisherigen Analyse, inwieweit Rousseau gedankenstiftend für die Lösung der Schlüsselfragen unserer Zeit sein kann, sind demnach ernüchternd: Volkssouveränität, Allgemeinwille und Demokratie verlieren in den Staaten, in denen sie in einem langen historischen Kampf durchgesetzt worden sind, als tragende Elemente politischer Gestaltung an Wert, obwohl sie in anderen weiter zu erringen sind,51 und auf eine internationale Ebene lassen sich Rousseaus 50 Habermas, Der gespaltene Westen, S. 68 ff. hat diesen schönen Begriff, wenngleich in etwas anderem Zusammenhang, geprägt. Im Anschluss daran fragt man sich natürlich, wo und wann es je eine Weltaußenpolitik geben könnte. Sehr bescheiden im Ansatz demgegenüber (und im Widerspruch zu anderen ambitionierteren Passagen, siehe etwa Fn. 52) das Gutachten auf S. 236 über die Rolle der VN.

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Gedanken kaum übertragen. Trotzdem wollen wir noch näher untersuchen, ob nicht nur seine Begrifflichkeit, sondern auch sein Denken wenigstens für den Umweltschutz, speziell das Klimaziel, die Erderwärmung auf 2° zu begrenzen, fruchtbar zu machen ist. Die Idee des WBGU, zur Durchsetzung dieser Überlebensfrage der Menschheit auf der Ebene der VN permanente, dem Sicherheitsrat ähnliche Strukturen zu schaffen,52 verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil zum einen diese Aufgabe völlig zu Recht als gleichrangig, wenn nicht sogar bei der gegenwärtigen Weltlage als vorrangig im Verhältnis zur Gewährleistung des Weltfriedens eingestuft wird – die ganz auf Friedenssicherung zugeschnittene VN-Charta enthält insoweit eine anachronistische Lücke – und zum anderen die faktischen und rechtlichen Verhältnisse im Bereich der Sicherung des Weltfriedens und der Sicherung des Überlebens der Menschheit durch Steuerung der Abläufe des technischen Fortschritts durchaus anders liegen. Sie können deshalb nicht nur nach unterschiedlichen Regeln ablaufen, sondern müssen es sogar, wenn man jeder der beiden gerecht werden will. Mag Rousseausches Denken für die Abläufe der Friedenssicherung heute wenig zu bieten haben,53 könnte es sich bei der Steuerung des zivilisatorischen Fortschritts anders verhalten, weil die Unterschiede gewichtig sind. Was den Weltwillen betrifft, so ist er in keiner anderen Frage so allgemein wie in puncto Frieden. Nur seelisch Kranke können gegen Frieden als grundlegendes Lebensprinzip unter den Menschen sein.54 Noch die größten Kriegstreiber in der Tagespolitik treten auf feierlichen Konferenzen für den Frieden ein. Die Einmütigkeit im Grundsätzlichen endet zwar rasch in konkreten Streitfällen und der Frage, inwieweit speziell zu ihrer Lösung kriegerische Mittel eingesetzt werden sollen oder wer Angreifer und wer Angegriffener ist und deshalb militärische Unterstützung verdient. Und doch ist alle Welt für den Frieden, mag auch nur eine Minderheit pazifistisch gesinnt sein. Trotzdem hat die VN-Charta der Tatsache Rechnung getragen, dass militärisches Vorgehen gegen eine Großmacht, sei es unmittelbar oder jedenfalls mittelbar gegen deren erklärte Interessen, selbst zu Zwecken der Friedenssicherung unrealistisch ist. Daher die Veto-Regelung im Sicherheitsrat, die trotz zahlreicher Missbräuche niemand ernsthaft in Frage stellt. Auslöser der zumindest im Ansatz starken Vorschriften der VN-Charta zur Friedenssicherung war der

51 Siehe dazu die Darstellung über die historischen Demokratieschübe und die weltweit noch verbleibenden Demokatiedefizite im Gutachten auf S. 53 ff. 52 Gutachten, S. 336 f.; Zusammenfassung, S. 20. 53 Zu erinnern ist jedoch daran, dass Rousseau die Pläne für universellen Frieden des Abbé St. Pierre aufgriff und nach dessen Tod im Jugement sur la paix perpétuelle (de l’Abbé St. Pierre) propagierte. Daran knüpfte Kants Projekt Zum Ewigen Frieden an. 54 Es wird oft gefragt, was den Nationalsozialismus von anderen Formen der Gewaltherrschaft, insbesondere kommunistischer, als einzigartig abscheulich abhebt. Seine Einstellung zum Krieg ist ein Kriterium von mehreren. Für den Nationalsozialismus war Krieg ein Lebensprinzip, Gerede von Frieden diente nur der erfolgreicheren Kriegsführung. In diesem Sinne war er eine durch und durch kranke Ideologie. Selbst grausiger Irrweg (als den man den Stalinismus bezeichnen könnte) wäre eine Untertreibung.

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Schock von zwei Weltkriegen in einem Zeitraum von nur 30 Jahren auf höchster, je erreichter Stufe der Zivilisation. Bei der Überlebensfrage der Menschheit in Zusammenhang mit Klimaänderungen liegen die Verhältnisse deutlich anders. Ein Vetorecht für Großmächte ist im Bereich des Umweltschutzes nicht angemessen. Alle Staaten sind gleichermaßen gefordert und gleichberechtigt zu beteiligen. Zwar ist die grundsätzliche Einmütigkeit geringer als in der Friedensfrage, weil viele, auch Wissenschaftler, weiter bestreiten, dass (oder ab wann) es eine Bedrohung gibt. Auch über den Preis für ihre Abwehr sowie bei Abwägung der verschiedenen Interessen besteht erheblicher Streit.55 Aber gerade die Tatsache, dass es ein Thema ist, über das noch heftig gerungen wird, während über die Notwendigkeit zum Weltfrieden vernünftigerweise kein Dissens bestehen kann, macht es für das Rousseausche Herrschaftsmodell interessant. Ein wirklich weltweiter Allgemeinwille, der alle Kontinente erfasst und dann zentral zur Entscheidungsfindung führt, muss sich erst noch herausbilden, mag es gute Fortschritte dahin geben.56 Der Dialog innerhalb der Weltgesellschaft über diese Frage ist weiterhin intensiv zu führen, insbesondere in den am meisten betroffenen Schwellenländern. Hier wartet auf die Nichtregierungsorganisationen eine riesige Aufgabe, die sie bisher vernachlässigt haben zugunsten von Lobbyarbeit bei den Regierenden westlicher Staaten und spektakulären Einzelaktionen, die ganz offensichtlich darauf angelegt waren, Medien und Öffentlichkeit dieser Länder zu beeindrucken. Wären die einschlägig tätigen Nichtregierungsorganisationen mit Breitenarbeit weltweit erfolgreich, könnte daraus wirklich eine Grüne Bewegung als Allgemeinwille der Menschheit entstehen, die sich dann nahezu automatisch in Maßnahmen der VN übertrüge, da alle (oder nahezu alle) Staaten der Welt hinter dem Anliegen stünden und es aktiv vertreten würden. Ist eine solche Entwicklung möglich und, wenn nicht, überhaupt nötig?57 Es bestehen ganz erhebliche Zweifel daran. Bisher ist Greenpeace, um nur die prominenteste der relevanten Organisationen zu nennen, vor allem von ihrer Struktur und Mitgliedschaft her keine internationale politische Bewegung, wie sie einst etwa die Sozialistische Internationale war, noch früher die Heilige Allianz, sondern das Projekt einer Elite aus den fortgeschrittensten Ländern, das hauptsächlich auf die Öffentlichkeit dieser Länder ausgerichtet ist und sie zu beeinflussen versucht. Zudem erscheint ausgeschlossen, dass Umweltorganisationen angesichts der hochkomple55 Das Gutachten stellt sehr einseitig allein auf die positive Grundstimmung ab, vermag aber fortbestehenden, auch wissenschaftlichen Dissens nicht zu leugnen (S. 73 ff. und 83 ff., 202). 56 Das Gutachten erklärt etwas vorschnell, es bestünde insoweit schon ein weltweiter Allgemeinwille, obwohl selbst unter den westlichen Ländern die USA und Australien von den Europäern deutlich abgegrenzte Positionen vertreten. 57 Das Gutachten (S. 1 f.) greift gern Fälle von Volksbewegungen aus jüngster Zeit vorbildhaft auf, um sie als beispielhaft für die Möglichkeit rascher und tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen hinzustellen. Es handelt sich jedoch immer um klassische Umstürze für (mehr) Demokratie (vgl. auch Fn. 51).

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xen und technischen Fragen, um die es heute geht, mehr sein können als Lobbyisten für eine gute Sache. Für Freiheit, Gerechtigkeit, ‚Brot‘ kann man breite Volksschichten mobilisieren, für die Frage, welche Form der Energiegewinnung geboten ist, nicht.58 Es gibt folglich keine Internationale der Grünen Parteien. Sie wäre angesichts des schmalen Wählerpotentials dieser Parteien vermessen. Historisch gesehen, wird der Versuch von Marx und Engels, im Anschluss an Rousseau mit der Losung „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ den Allgemeinwillen des Volkes auf eine übervölkische Ebene zu heben, wohl der letzte gewesen sein. Eine grüne Weltrevolution, obwohl wir sie brauchten, ist nicht vorstellbar, und auch das Gutachten redet nur von einer Kooperationsrevolution.59 Es meint dabei eine umwälzend neue, viel intensivere Form der Zusammenarbeit von Staaten. Auch dies ein Fall, in dem das Gutachten Terminologie einer unwiderruflich vergangenen Zeit unter ganz neuartigen Verhältnissen für neue Zwecke einsetzt. Wir müssen erkennen: Angesichts der Höhe unseres Entwicklungsstandes ist, selbst wenn es um zentrale Fragen unserer Zukunft geht, die Ausbildung eines völkerübergreifenden Allgemeinwillens, welcher der Ausübung von Volkssouveränität ähnelt, unmöglich geworden, wenn darunter ein aktiver, einsatzbereiter, notfalls auch revolutionärer Wille zu verstehen ist.60 Das beste Beispiel für diese Einsicht liefert die Europäische Union, die das Gutachten mehrfach zum Vorbild erhebt.61 Sie ist es leider auch im Negativen. Es ist eine (betrübliche) Tatsache, dass die Bürger der Mitgliedstaaten die Entwicklung der Gemeinschaft / Union stets nur wohlwollend, aber nie engagiert oder gar kämpferisch begleitet haben.62 Alle Wohltaten und Errungenschaften, die mit der europäischen Integration verbunden waren, kamen ‚von oben‘, auf Antrieb der Regierungen oder der Unternehmen, manchmal aus Einzelinitiativen. Nie wurden sie von unten eingefordert oder gar kämpferisch betrieben. Ins Positive gedreht, kann man mangelndes Engagement für eine gute Sache Zustimmung nennen. Tatsache bleibt: Die Europäischen Gemeinschaften, später zur EU verschmolzen, waren in den gesamten 60 Jahren ihrer Existenz kein demokratisches Projekt in dem Sinne, dass sie

58 Allenfalls Angst kann zur Ablehnung bestimmter Formen der Energie in breiteren Schichten der Bevölkerung führen (so in Deutschland hinsichtlich der Nutzung der Kernenergie). Angst ist aber eine sehr unsichere und bedenkliche Grundlage für politisches Handeln, auf welcher Ebene auch immer. 59 Gutachten, S. 332 f.; Zusammenfassung, S. 19 f. 60 Vgl. Rousseau, Du contrat social, Livre II, Chapitre VIII. Rousseau geht mit dem revolutionären Willen des Volkes allerdings sehr vorsichtig und sparsam um. Vgl. Fn. 4. 61 Vgl. dazu eingehend Gutachten, S. 112 ff. 62 Die Europa-Union / Le Mouvement européen, ein transnationaler Zusammenschluss von Bürgern für einen europäischen Bundesstaat, war nur kurzzeitig in den 50er-Jahren (noch unter dem Schock des Krieges) aktiv. In den 60er-Jahren verschwand diese Bürgerbewegung völlig aus der Öffentlichkeit und deren Bewusstsein. Es war selbst für karrierebewusste Politiker nicht mehr attraktiv, im Nebenamt an der Spitze solcher Bewegung zu stehen. Heute sind eher europakritische Bewegungen in der Bevölkerung manifest.

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vom Volkswillen vorwärtsgetragen wurden. Ganz anders verhielt es sich bei der schwer erkämpften Herausbildung von Demokratie, Freiheit, Rechts- und Sozialstaat (dem alten Gesellschaftsvertrag). Zuletzt 1989 / 90 in Mittel- und Osteuropa. In der jetzigen großen (durch Fehlentscheidungen auf höchster Ebene ausgelösten) Krise fehlt es der EU deshalb an Rückhalt in und aus der Bevölkerung. Sie steht schwer erschüttert, fast halt- und ziemlich orientierungslos da. Nur Interessen halten sie weiter zusammen. Nur an solche Interessen (und Angst!) wird ständig appelliert. Mit schwindendem Erfolg der EU sinkt bei der Bevölkerung der Wille zur Integration. Das als Nation schon nach einigen Jahrzehnten rasanten Aufstiegs erfolglose Deutschland stellte dagegen nie mehr seinen einmal gefundenen Zusammenhalt in Frage. Nicht im schwersten Scheitern, in Schmach und Schande 1945. Trotz jahrzehntelanger Teilung. Wie erklärt sich die tragische Entwicklung eines so großartigen und einzigartigen, zunächst höchst erfolgreichen Projekts? Die einfache Antwort ist: Aus der Natur der Fragen, um die es ging und weiter geht. Sie sind nicht emotionaler oder elementarer, sondern in ihrer großen Mehrzahl ausgesprochen technischer Natur, also wenig durchschaubar. Es geht nicht um Grundbedürfnisse, sondern um Mehrwert, der mit stets gewissen Nachteilen erkauft wird, also um diffizile Abwägung. Weil dem so ist, wird von Politikern immer wieder die Vergangenheit beschworen und so getan, als sei Krieg in Europa nur dank der EU unmöglich geworden. Was für ein Unsinn! Damit schreckt und gewinnt man niemanden mehr. Und Angst ist, wie bereits festgestellt, ein schlechter Berater für richtiges Handeln. Von Rousseau lässt sich also durchaus noch lernen: Ohne einen darauf gerichteten Allgemeinwillen des Volkes oder der Völker bleibt jedes politische Gebilde, jede politische Errungenschaft, jedes Ziel provisorisch, ohne sicheres Fundament.63 Gerade die EU zeigt freilich, dass ein gutes Projekt als reine Schöpfung einer Elite mit allgemeiner Billigung durchaus erfolgreich sein kann. Wird es im Laufe seiner Geschichte aber nicht irgendwann zu einem echt demokratischen, bleibt sein Bestand gefährdet. Jede größere Krise gerät zur existentiellen. Einer der Gründe, warum Rousseau für sein Demokratiemodell den Kleinstaat als Ideal propagierte,64 dürfte sein, dass er nur in einem solchen die dauernde unmittelbare Betroffenheit der Bürger und die notwendige Überschaubarkeit der Verhältnisse für von allen getragene Entscheidungen als gegeben sah. Nicht anders als mit dem Projekt Europa verhält es sich in Bezug auf die für das Überleben der Menschheit zentrale Klimafrage. Ihre ungeheure Bedeutung allein 63 In diesem Zusammenhang ist an Hegel zu erinnern, der festgestellt hatte, eine Verfassung zu schreiben, falle jedem Experten leicht. Eine Verfassung (= ein Gesellschaftsvertrag) sei aber ein Göttliches, Geistiges, das durch die Geschichte und die in ihr wirkenden Kräfte gemacht werde, nicht durch Professoren und Redakteure. Die fassen sie lediglich in Worte (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Plato). Der geistige Anschluss an Rousseau ist mehr als deutlich. 64 Rousseau, Discours sur l’économie politique sowie Du contrat social, Livre II, Chapitre IX.

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führt nicht bei breiten Bevölkerungsschichten weltweit zur Ausbildung eines zielgerichteten Willens, der sich hinreichend in Handeln konkretisierte. Dem Gutachten gelingt es zwar, mit großem Eifer festzustellen, dass weltweit mittlerweile in allen Ländern, unabhängig von ihrem Entwicklungsstand, dem Umweltschutz generell und dem Kampf gegen die Erderwärmung speziell ein hoher Stellenwert eingeräumt wird und die Bereitschaft, Aktionen zur Durchsetzung des Klimaziels mitzutragen und sogar persönliche Opfer dafür zu bringen, vorhanden ist.65 Gleichzeitig wird anerkannt, dass zwischen solch grundsätzlicher Billigung und konkretem Verhalten, z. B. als Verbraucher, eine deutliche Kluft besteht.66 Bei der Analyse werden zudem entscheidende Beeinflusser des mehrheitlichen Verhaltens aus der Wirtschaft wie Konkurrenzkampf und Werbung nicht ausreichend berücksichtigt. Solange beide auf vollen Touren laufen, wird es schwer sein, bessere Einsicht in konkretes umweltfreundliches Verhalten auf Erzeuger- wie Verbraucherebene umzusetzen. Zudem werden vom Menschen ausgelöste Störungen oft als Naturkatastrophen, wie es sie immer gegeben hat, angesehen und dementsprechend mit Fatalismus hingenommen. Die Abgrenzung der reinen von den vom Menschen ausgelösten Naturkatastrophen ist äußerst schwierig. Wie dem im Einzelnen auch sei, und welche Möglichkeiten der Aufklärung gegen die Macht von Markt und Werbung bestehen, klar ist, dass sich wie im Falle der Europäischen Union bestenfalls die Billigung einer Mehrheit der ‚Weltgesellschaft‘ zu der für notwendig erachteten ‚Großen Transformation‘ mit ihren strengen Klimaschutzmaßnahmen infolge der Dekarbonisierung der Energiegewinnung67 erreichen lässt. Von einem dahin gerichteten aktiven demokratischen Allgemeinwillen im Sinne Rousseaus bleibt dies weit entfernt. Bevor Umweltschäden weltweit nicht ein dramatisches Ausmaß erreichen, gehen sie den Menschen nicht unter die Haut wie tagtäglich erlebte Unfreiheit, Ungerechtigkeit, soziale Not. Sie treiben also nicht die Menge, sondern nur Eliten zur Aktion. Im Gegensatz zum alten Gesellschaftsvertrag wird der neue Gesellschaftsvertrag demnach, wenn er denn zustande kommt und gelingt, wie die EU ein Eliteprojekt unter allgemeiner Akklamation sein,68 das sich optimal in einer neuausgerichteten Charta der Vereinten Nationen niederschlägt, um nachhaltig wirksam zu sein.69 Die elitäre Zeugung spricht nicht gegen den neuen Gesellschaftsvertrag, nicht einmal gegen die Verwendung von aus früheren Jahrhunderten überkommenen und nicht recht passenden Begriffen, wenn sie seiner Propagierung dienen. Aber man muss die Unterschiede zu früheren gesellschaftlichen Entwicklungen klar sehen und sich darauf einlassen. Das Gutachten ermangelt in dieser Hinsicht der Tiefenschärfe, obwohl es insgesamt gesehen durch Realismus und Offenheit überzeugt. Es betont, dass es sich bei der Großen Trans65 66 67 68 69

Gutachten, S. 77. Gutachten, S. 81 ff. Vgl. dazu im einzelnen Gutachten, S. 117 ff. Vgl. Gutachten, S. 283. Gutachten, S. 335 ff.

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formation um einen (‚von oben‘) ganz gezielt gesteuerten Prozess handelt,70 der starke, gestaltende Staaten erfordert,71 die innerhalb eines engen Zeitfensters handeln müssen,72 wobei den VN die zentrale Rolle bei der Steuerung zukommt.73 Hinzuzufügen ist, dass sein Gelingen, weil ihm der basisdemokratische Impuls fehlt, immer fragil bleiben wird. Hinsichtlich Freiheit, Gerechtigkeit, Rechts- und Sozialstaat – elementaren Bedürfnissen jeder gesellschaftlichen Ordnung – musste man nie Zweifel haben, dass sie auch gegen die heftigsten Widerstände langfristig erkämpft würden. Diese Aussage gilt weiter für die Länder, in denen die Errungenschaften des alten Gesellschaftsvertrages noch ferne scheinen. Dass sich bahnbrechende technische Erfindungen wegen der mit ihnen verbundenen Vorteile durchsetzen würden, war noch weniger zweifelhaft. Allgemeine Zustimmung zu einem gesellschaftlichen Projekt, selbst größter Bedeutung, erzeugt dagegen nicht die in der Krise nötige Standkraft und kämpferische Entschlossenheit der Menge zur Durchsetzung.

XI. In dem erreichten Stadium unserer zivilisatorischen Entwicklung sind alle Lebensfragen zu technischen, sogar höchst technischen geworden und damit für die Mehrzahl der Menschen wenig durchschaubar und verortbar. Lösungsversuche können also nur noch in Eliteprojekte münden und nicht mehr wie bis ins 20. Jahrhundert hinein aus einem Allgemeinwillen, einem Drängen und Stürmen des Volkes, erwachsen, dem die Eliten lediglich ihre guten Dienste leisten, um ihn bestmöglich auszuformen. Auf solch neue Art (die Elite zieht die Masse mit, statt dass die Masse die Elite vorandrängt) müssen die ‚Große Transformation‘ und der ‚neue Gesellschaftsvertrag‘ umgesetzt werden, ehe dieser – vielleicht – in einem späteren Stadium zu einem demokratischen Projekt auf der Grundlage des Weltwillens einer föderiert vereinten Weltbürgerschaft74 und damit im Sinne Rousseaus von einem lebendigen und gesicherten Volkswillen, der mehr ist als bloße Akklamation, weiter getragen wird. Etwa, indem die Masse der Verbraucher weltweit und aktiv gegen die Macht der kommerziellen Werbung die Seite der Vernunft und der Ökologie ergreift. 70 Gutachten, S. 90 f., 256 ff., 332 f. Auf S. 185 f. wird das Ausmaß der Steuerung auf bloße Richtungsweisung reduziert. Das dürfte für den Erfolg innerhalb des gegeben Zeitrahmens zu wenig sein. Es handelt sich um eine der zahlreichen inneren Widersprüche des insgesamt exzellenten Gutachtens. 71 Gutachten, S. 97, 185 f. (als „verbesserte Staatlichkeit“ bezeichnet), 215; Zusammenfassung, S. 10. 72 Gutachten, S. 1 f., 29 f. Zusammenfassung, S. 1 a. E. 73 Gutachten, S. 213, 335 f. 74 Zur Problematik und Notwendigkeit einer Weltföderation siehe Sack, Friedrich der Große und Jean-Jacques Rousseau – eine verfehlte Beziehung und die Folgen. Zugleich ein Essay zum vernünftigen und zum künftigen Staat (2011).

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Unabdingbare Voraussetzung – und das verschweigt das Gutachten – für das Gelingen eines Eliteprojekts ist das Vertrauen der Bürger in ihre Eliten. Im Unterschied zu der Zeit vor dem alten Gesellschaftsvertrag, als Adel, Priester und Gelehrte die Eliten bildeten, ist es nicht mehr überwiegend mystisch oder suggestiv erzeugtes Vertrauen, das zum Erfolg einer Gesellschaft erforderlich ist,75 sondern ein auf einer Basis soliden Allgemeinwissens kognitiv und empirisch begründetes Vertrauen der Bürger in ihre Eliten (Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler). Demgegenüber bedeutete die Blütezeit der Volkssouveränität, die sich im alten Gesellschaftsvertrag in bis heute gültigen Verfassungen niederschlug, Vertrauen der Bürger in ihr eigenes Urteils- und Entscheidungsvermögen, also Selbstvertrauen. Damit ist es wegen der Höhe der zivilisatorischen Entwicklung (Technizität) vorüber. Sie überfordert den Normalbürger. Unsere Verfassungen sind deshalb in vieler Hinsicht zu Denkmälern vergangener Ideale geworden. Der Triumph Rousseauscher Vorstellungen von Volkssouveränität und ihrem idealen Gebrauch war nicht mehr als eine Episode in der Geschichte des neuzeitlichen Staates. In nur sehr wenigen Staaten wurde er je erreicht. Bedenklich für die Zukunft stimmt, dass die Politiker das für die moderne Demokratie notwendige Vertrauen der Bürger in ihre Eliten, wie alle Umfrage zeigen, als politische Klasse verspielt haben. Die Unternehmer hatten es als Klasse nie; sie haben es heute weniger denn je. Kann die Wissenschaft allein durch die im Gutachten beschworene Teilnahme aller an der Wissensgesellschaft76 in genügendem Ausmaß das nötige Vertrauen generieren, um die großen Zukunftsprojekte der Menschheit gegen die Widerstände aus der Wirtschaft zum Erfolg zu führen? Die Tatsache, dass das Gutachten eindringlich den starken gestaltenden Staat fordert, belegt, dass sie selbst meint, es könne nur mit Hilfe einer neuen Generation von Politikern anderen Kalibers gelingen: Den Mächtigen der Wirtschaft ebenbürtige; solche, die sich nicht von deren kurzfristigen Interessen einkaufen lassen. Wird der Allgemeinwille weltweit wenigstens solche neue, unabhängige Politikerklasse erzwingen und so der Ausübung der Volkssouveränität wiederum eine, wenngleich schmälere Dimension eröffnen? Die Chancen dafür stehen schlecht, solange man der Wirtschaft erlaubt, dass sie Parteien finanziert – und damit Wahlkämpfe, deren Niveau einer Wissensgesellschaft meist unwürdig ist.

Summary In 2011, the German Federal Government’s Advisory Board for Global Environment Changes presented an expert opinion which tries to pave the way for keeping 75 Gneisenau wird der treffende Satz zugeschrieben, die Sicherheit der Throne beruhe auf Poesie (Entgegnung auf einen Einwand des Königs, wonach Pläne für eine Volksbewaffnung und die Beförderung in der Armee allein nach Verdienst als Poesie, aber nicht für die Praxis gut seien). 76 Gutachten, S. 378.

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the global warming definitively within a limit of 2°C. To remain under this threshold is considered to be tolerable because its consequences could still be mastered by the united skills of mankind. To that end, the experts established an ambitious programme for the coming decades, covering a wide range of political, economic and technical measures at local, regional and global level (“decarbonisation without recourse to atomic energy”). The aim is to replace all traditional sources of energy production by renewable ones. The board members consider that to achieve it requires the conclusion of a new social contract by mankind. They also refer to other terms launched in the beginning of the Age of Enlightenment by Jean-Jacques Rousseau, i.e. the famous volonté générale, and assume that we are globally close to reaching it with regard to the aim pursued. They turn the slogan “Back to Nature”, ascribed to Rousseau, into a new direction: Forward to Nature! The article examines whether the references are only semantic ones, or whether Rousseau’s ideas and legal and ethical principles are still able to inspire the creation of a new world order based on sustainable growth controlled by reliable UN institutions. The conclusion is that Rousseau’s thinking was focused on the best possible running of small scale states (the ideal state for him was the Greek polis). Thus it cannot be transferred to large international entities and bodies which are by their very nature not constituted democratically. Consequently, the laudable “Great Transformation” plan, like the European Union (which is often quoted as a model), will remain a project devised and promulgated by an élite of experts, without real popular support, and as such its realisation remains extremely uncertain.

Rousseau in Amerika: Liberale Tradition und demokratischer Dissens im US-amerikanischen Selbstverständigungsdiskurs Hans-Jörg Sigwart

Dass die Wirkung von Jean-Jacques Rousseaus Werk im europäischen politischen Denken und auch über Europa hinaus kaum überschätzt werden könne, ist in der Forschung zur politischen Ideengeschichte der westlichen Moderne beinahe ein Allgemeinplatz. Für die These, dass die Auseinandersetzung mit Rousseaus Philosophie in der Tat einen prägenden Einfluss auf wesentliche Aspekte des Selbstverständnisses nicht nur Europas, sondern der westlichen Moderne insgesamt und damit also auch auf deren Entwicklungsgeschichte jenseits des Atlantiks ausgeübt hat, lassen sich auch im angelsächsisch-amerikanischen philosophischen Diskurs prominente Fürsprecher finden. Rousseaus Einfluss, so etwa die entsprechende Einschätzung Allan Blooms, „was overwhelming, and so well was it digested into the bloodstream of the West that it worked on everyone almost imperceptibly. Even the mainstays of democratic liberalism were affected by Rousseau; they were impressed by his critique of the harshness of the political and economic relations characteristic of the modern state and sought to correct them on the basis of his suggestions. The influence was direct on Alexis de Tocqueville, indirect, by way of Wordsworth, on John Stuart Mill. The Thoreau who for America represents civil disobedience and a way of life free from the distortions of modern society was only reenacting one part of the thought and life of Jean-Jacques.”1

Für Charles Taylor, dessen groß angelegte Rekonstruktion der „Entstehung der neuzeitlichen Identität“ sicherlich zu den bedeutendsten Versuchen einer philosophisch-historischen Charakterisierung des Selbstverständnisses der westlichen Moderne gehört, gibt es sogar kaum einen anderen einzelnen Denker, der innerhalb dieser Entstehungsgeschichte ähnlich einflussreich war wie Rousseau: „Rousseau steht am Ursprung sehr vieler Bereiche der heutigen Kultur, der philosophischen Theorien der Selbsterkundung ebenso wie jener Überzeugungen, denen die Freiheit durch Selbstbestimmung als Schlüssel zur Tugend gilt. Er ist der Ausgangspunkt eines Umgestal-

1 Bloom, Allan, Rousseau’s Critique of Liberal Constitutionalism, in: Orwin, Clifford / Tarcov, Nathan (Hrsg.): The Legacy of Rousseau, Chicago / London (University of Chicago Press) 1997, S. 143 – 167; hier: S. 145.

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tungsprozesses, der in der neuzeitlichen Kultur zu tieferer Innerlichkeit und zu radikaler Autonomie hinführt. Die Entwicklungsstränge setzen alle bei Rousseau ein …“.2

Angesichts dieser Einschätzungen mag es überraschen, dass die Frage, welche besondere Rolle die Rezeption Rousseaus innerhalb des amerikanischen Entwicklungsstrangs der westlichen Moderne spielt, weder in der Rousseau-Forschung noch in der amerikanischen Ideengeschichtsschreibung zu den besonders prominenten und breit diskutierten Gegenständen gehört. Folgt man dem Eindruck, den die diesbezüglich einschlägige Literatur vermittelt, so scheint Rousseaus direkter Einfluss auf das amerikanische politische Denken, verglichen etwa mit der Wirkung John Lockes oder auch des englischen Republikanismus des 17. Jahrhunderts, weit weniger stark zu sein, als die eben zitierten Einschätzungen es erwarten lassen. Das trifft insbesondere auf die zeitgenössische Rezeption von Rousseaus Werken im amerikanischen politischen Denken des späten 18. Jahrhunderts zu. Von diesem Befund ausgehend, werde ich im Folgenden die These vertreten, dass die Rezeption von Rousseaus politischer Philosophie im Diskurs um das Selbstverständnis der amerikanischen Republik eine zwar in der Tat in gewissem Sinne „marginale“, aber dennoch bedeutende Rolle spielt. Denn insofern erstens das politische Denken der Gründungsperiode in vielerlei Hinsicht geradezu als liberal-republikanisches Gegenmodell zu den Grundprinzipien von Rousseaus politischer Philosophie verstanden werden kann, erweist sich zumindest die dezidiert kritische Auseinandersetzung mit Rousseaus Schriften doch als einflussreich. Zweitens teilt die in wichtigen Punkten Rousseau-kritische politische Theorie der „Founding Fathers“ mit Rousseau ein wesentliches begründungstheoretisches Prinzip, nämlich das Prinzip der Volkssouveränität bzw. die Idee des „popular government“ als letzter Legitimitätsgrundlage freiheitlicher politischer Herrschaft und Ordnung. Mit dieser besonderen Beziehung zu Rousseaus politischem Denken ist innerhalb des amerikanischen politischen Selbstverständnisses eine Grundspannung angelegt, die drittens seit der Revolutions- und Gründungsperiode der Ansatzpunkt für eine von Rousseauschen Ideen inspirierte direkt- bzw. radikaldemokratische Kritik des amerikanischen politischen Mainstream werden konnte und bis in aktuelle Debatten hinein geblieben ist. Im letzten Abschnitt werde ich anhand einiger Beispiele skizzieren, inwiefern diese Tradition immanenter demokratischer Kritik den „hegemonialen Liberalismus“3 der „American political tradition“ gleichsam als die „dissenting opinion“ eines genuin „American Rousseauism“ kontinuierlich begleitet.

2 Taylor, Charles, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1996, S. 631. 3 Vorländer, Hans, Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776 – 1920, Frankfurt a. M. (Campus) 1997.

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I. Stellt man die Frage nach der zeitgenössischen Rezeption von Rousseaus Werken in Amerika und also nach dessen Einfluss innerhalb der amerikanischen Revolutions- und Gründungsgeschichte, so ergibt sich in der Tat ein weniger klares Bild, als man es angesichts der oben zitierten Einschätzungen der Bedeutung Rousseaus für die politische Moderne erwarten würde. Einerseits sind die wichtigsten von Rousseaus Schriften am Vorabend der Amerikanischen Revolution in den nordamerikanischen Kolonien durchaus bekannt und zum Teil bereits in den 1760er Jahren in englischen Übersetzungen erhältlich.4 Die Novelle Heloise, der Emilé und der Contrat Social werden bereits Ende des 18. Jahrhunderts in eigenen amerikanischen Ausgaben veröffentlicht – „an honor not accorded even Montesquieu“, wie Paul Merrill Spurlin in seiner klassischen Untersuchung von „Rousseau’s direct impact upon American thought“ bemerkt.5 Der Name Rousseaus ist auch im öffentlichen Diskurs und das heißt insbesondere in der amerikanischen Zeitungslandschaft der Zeit durchaus präsent.6 Und im Rahmen der obligatorischen Referenzen auf prominente Autoren, die ein weit verbreitetes, geradezu charakteristisches Argumentations- und Stilmittel in den revolutionären und später konstitutionellen Debatten in der amerikanischen Öffentlichkeit des späten 18. Jahrhunderts darstellen, ist Rousseau einer der selbstverständlichen Bezugspunkte.7 Seine Schriften sind Teil des reichen Fundus an Inspirationsquellen, die sich der amerikanische Gründungsdiskurs im Zuge von zum Teil sehr eigentümlichen, an unmittelbar praktischen Absichten orientierten Interpretationen und Transformationen anverwandelte. Das politische Denken der amerikanischen Gründer verstand sich ganz bewusst, mit den Worten von John Adams, als „Locke, Sidney, and Rousseau and De Mably reduced to practice.“8 Andererseits lässt sich ein tatsächlicher direkter Einfluss von Rousseaus Denken auf die zentralen politischen Diskurse im Amerika des späten 18. Jahrhunderts, der über dieses allgemeine, aber vage bleibende Interesse hinaus ginge, weit weniger eindeutig belegen. Nimmt man etwa direkte im Sinne von mit expliziten Verweisen auf Rousseau belegbare Einflüsse zum Maßstab, so scheint insbesondere seine politische Philosophie, zu diesem Ergebnis kommt schon Spurlin in seiner empirischliteraturhistorisch orientierten Untersuchung von 1969 in Bezug auf den Contrat Social, „little or nothing … to the climate of political opinion“ beigetragen zu haben:

4 Spurlin, Paul Merrill, Rousseau in America. 1760 – 1809, Alabama (University of Alabama Press) 1969, S. 23. 5 Ebd., S. 102, S. 12. 6 Ebd., S. 29 ff. 7 Bailyn, Bernard, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge (Belknap Press) 1967, S. 23 ff. 8 Adams, John, Works, Vol. 4, Boston (Little, Brown & Co.) 1851, S. 216.

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„Many read the book. A few quoted it. But quotation of characteristic passages was extremely rare. Some praised it; others criticized it adversely. Jefferson passed over it in silence. The Social Contract exerted no perceptible influence on American political thought.”9

Eine empirische Studie von Donald Lutz aus dem Jahr 1984, die auf der Grundlage der Analyse von Zitationen in insgesamt 916 Quellen aus dem Zeitraum zwischen 1760 und 1805 den relativen Einfluss europäischer Denker auf das amerikanische politische Denken im späten 18. Jahrhundert zu bestimmen versucht, bestätigt diesen Befund. Während Lutz’ „citation count“ abgesehen von der Tatsache, dass sich in ihm das Alte Testament als die mit Abstand am häufigsten zitierte Quelle im amerikanischen Revolutionsdiskurs herausstellt, für Denker wie Blackstone, Hume und allen voran für Montesquieu eine deutlich stärkere Präsenz in den Debatten der Zeit nachweisen kann, als es ihrer wahrgenommenen Bedeutung in der Forschung zur US-amerikanischen Geistesgeschichte entspricht, erweist sich auch bei ihm der „zählbare“ Einfluss Rousseaus als eher vernachlässigbare Größe. Auf der von Lutz ermittelten Liste der zwischen 1760 und 1805 „most cited thinkers“ belegt Rousseau lediglich den 15. Platz.10 Der Blick sozusagen auf die diskursive Oberfläche scheint also nahezulegen, dass ein politischer „American Rousseauism“11 eher nicht zu den dominanten ideologischen Einflüssen innerhalb der formativen Phase des amerikanischen politischen Selbstverständnisses gehört. Aber auch wenn man über diese quantitativen Ergebnisse zur Frage „which European writers were consulted and with what frequency“12 hinaus nach indirekten inhaltlichen Einflüssen sucht und „Rousseau’s presence in America … in analogies or parallel intellectual development, rather than … in direct influence“13 zu finden versucht, ergibt sich keineswegs zwingend eine Korrektur dieses Bildes.14 Ein Blick in die maßgeblichen wissenschaftlichen Debatten zur US-amerikanischen politischen Ideengeschichte scheint eher den EinSpurlin 1969: S. 105 f. Lutz, Donald S., The Relative Influence of European Writers on Late Eighteenth-Century American Political Thought, in: American Political Science Review 78 (1984), S. 189 – 197; hier: S. 194. 11 Ich übernehme den Begriff von Jost, François, Immanence or Influence? Jean-Jacques Rousseau and North American Thought, in: ders.: Introduction to Comparative Literature, Indianapolis / New York (Pegasus) 1974, S. 41 – 61; hier: S. 41. 12 Lutz 1984: S. 191. 13 Jost 1974: S. 48. 14 Zwar lassen sich durchaus plausible Argumente für die Existenz solcher rousseauschen „Analogien“ in den Werken prominenter amerikanischer Autoren der Gründerzeit anführen, von Thomas Paine über Benjamin Franklin bis hin zu Thomas Jefferson. Insofern es sich dabei aber oft um sehr allgemeine inhaltliche Parallelen handelt, denen nur selten direkte namentliche oder begriffliche Bezüge auf Rousseau entsprechen, sind damit teilweise eher vage Hinweise auf, mit Allan Blooms Formulierung, sehr „well digested influences“ identifiziert. Vgl. den ausführlichen, allerdings nicht immer überzeugenden Versuch des Nachweises solcher Analogien bei Dame, Frederick William, Jean-Jacques Rousseau in American Literature. Traces, Influence, Transformation 1760 – 1860, Frankfurt a. M. (Peter Lang) 1996. 9

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druck vom vergleichsweise geringen Einfluss Rousseaus auf seine amerikanischen Zeitgenossen zu bestätigen. Zumindest wird diese Frage in der Forschung zur amerikanischen Geistesgeschichte traditionellerweise eher selten thematisiert bzw., wo sie in den Blick kommt, meist zurückhaltend beantwortet. Ein eigenständiger „Rousseauian Moment“ (so könnte man in Abwandlung der berühmten Formel von J.G.A. Pocock sagen15) spielt innerhalb des Panoramas der amerikanischen politischen Ideengeschichte, wie es im geschichtswissenschaftlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts sukzessive herausgearbeitet wurde, eine untergeordnete Rolle. Dieses Panorama entfaltet sich nach gängiger Auffassung vor dem religiösen kolonialen Hintergrund des amerikanischen Puritanismus als das spannungsreiche Wechselspiel zwischen einer dominanten, den Ideen von Lockes politischer Philosophie folgenden „liberal tradition“ einerseits und einer diese liberale Tradition ergänzenden und kritisch korrigierenden republikanischen Traditionslinie andererseits. Was letztere betrifft, so gilt sie als vor allem durch die italienische Renaissance und durch den englischen Republikanismus des 17. Jahrhunderts inspiriert.16 Rousseaus radikaldemokratischer Republikanismus hingegen hat offenbar weder auf die eine noch auf die andere dieser beiden Hauptstränge der „American Political Tradition“ einen maßgeblichen Einfluss ausgeübt. Selbst die direkte Wirkung Rousseaus auf das politische Denken Thomas Jeffersons, dessen stark partizipatorisches, die Bedeutung von lokaler Selbstverwaltung und von agrarisch geprägten sozioökonomischen Verhältnissen betonendes Politikverständnis eine solche Wirkung besonders nahe legt, wird vor diesem Hintergrund meist eher gering eingeschätzt, teilweise sogar vehement bestritten.17 Die amerikanische Reaktion auf Rousseau am Ende des 18. Jahrhunderts ist im Ganzen gesehen also, zumindest was direkte und konstruktive Bezüge auf seine Werke betrifft, offenbar weit weniger stark als etwa in Europa. Hält man hingegen nach dezidiert kritischen Stellungnahmen Ausschau, dann ergibt sich ein anderer Eindruck, nämlich dass die Reaktion auf Rousseau für den zeitgenössischen amerikanischen Diskurs doch eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen scheint. Diese Reaktion ist allerdings in der Tat eher von Zurückhaltung und kritischer Abgrenzung, teilweise sogar von vehementer Abwehr als von konstruktiver Rezeption, In15 Pocock, J.G.A., The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton (Princeton University Press) 1975. 16 Für eine Zusammenfassung der traditionellen Perspektive der amerikanischen Geschichtswissenschaft und der entsprechenden Hauptströmungen in der Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Selbstverständnisses vgl. Vorländer, Hans, Auf der Suche nach den moralischen Ressourcen Amerikas. Republikanischer Revisionismus und liberale Tradition der USA, in: Neue Politische Literatur XXXIII (1988), S. 226 – 251; ders. 1997; Hildebrandt, Mathias, Grundprobleme der amerikanischen Konzeptionen des Selbst, in: Zeitschrift für Politik 47 (2000), S. 420 – 445. 17 Vgl. Spurlin 1969: S. 20. Zu Jeffersons politischer Theorie allgemein vgl. auch Vorländer 1997: S. 81 ff., Appleby, Jocye, Thomas Jefferson, New York (Times Books) 2003 und die Beiträge in Wasser, Hartmut (Hrsg.): Thomas Jefferson. Historische Bedeutung und politische Aktualität, Paderborn (Schöningh) 1995.

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spiration und dem aktiven Aufgreifen genuin Rousseauscher Gedanken geprägt.18 Das trifft insbesondere auf den politisch-intellektuellen Mainstream der Zeit und die maßgeblichen Hauptprotagonisten des amerikanischen Revolutions- und Gründungsdiskurses zu. Zwar teilt ihr politisches Selbstverständnis, das nicht unerheblich von dem Bewusstsein geprägt ist, sich in der historisch herausragenden Rolle von „Gesetzgebern“ eines neu zu stiftenden politischen Gemeinwesens zu befinden, mit Rousseaus politischem Denken das ausgeprägte, leidenschaftliche Interesse an dem politischen Fundamentalproblem der Gründung und Verfassungsgebung.19 Aber davon abgesehen fallen inhaltlich-konzeptionell vor allem deutliche Unterschiede zwischen dem politischen Denken der „Founding Fathers“ und dem Rousseaus auf. So wie die Amerikanische Revolution in mancher Hinsicht als historische Manifestation eines politischen Gegenmodells zur Französischen Revolution, insbesondere zu ihren radikalen Phasen verstanden werden kann, so lässt sich der Mainstream des politischen Denkens im Amerika des 18. Jahrhunderts zumindest hinsichtlich einiger wesentlicher Aspekte in der Tat als praktischer und teilweise auch als politisch-theoretischer Gegenentwurf zur politischen Philosophie Rousseaus verstehen. Ganz in diesem Sinne hat etwa Hannah Arendt die Amerikanische Revolution und die sich aus ihr herleitende amerikanische Tradition politischen Denkens interpretiert und dabei unmittelbar mit einer vehementen Kritik der politischen Philosophie Rousseaus verknüpft.20 Die Theorie der Gründerväter erscheint vor diesem

Vgl. dazu noch einmal Spurlin 1969: S. 91 ff. Für das entsprechende Selbstverständnis Alexander Hamiltons vgl. Kenyon, Cecilia, Alexander Hamilton: Rousseau of the Right, in: Political Science Quarterly 73 (1958), S. 161 – 178; hier: 163 ff. und stellvertretend die sich direkt auf Rousseau beziehende Artikulation dieses Selbstverständnisses bei Theophilus Parsons: „To determine what form of government, in any given case, will produce the greatest possible happiness to the subject, is an arduous task, not to be compassed perhaps by any human powers. Some of the greatest geniuses and most learned philosophers of all ages, impelled by their solicitude to promote the happiness of mankind, have nobly dared to attempt it: and their labors have crowned them with immortality. (…) The man who alone undertakes to form a constitution, ought to be an unimpassioned being; one enlightened mind; biased neither by the lust of power, the allurements of pleasure, nor the glitter of wealth; perfectly acquainted with all the alienable and unalienable rights of mankind; (…) Rousseau, a learned foreigner, a citizen of Geneva, sensible of the importance and difficulty of the subject, thought it impossible for any body of people, to form a free and equal constitution for themselves, in which, every individual should have equal justice done him, and be permitted to enjoy a share of power in the state, equal to what should be enjoyed by any other. Each individual, said he, will struggle, not only to retain all his own natural rights, but to acquire a control over those of others. Fraud, circumvention, and an union of interest of some classes of people, combined with an inattention to the rights of posterity, will prevail over the principles of equity, justice, and good policy. The Genevans, perhaps the most virtuous republicans now existing, thought like Rousseau. They called the celebrated Calvin to their assistance. He came, and, by their gratitude, have they embalmed his memory.“ (Parsons, Theophilus The Essex Result (1778), in: Hyneman, Charles S. / Lutz, Donald (Hrsg.): American Political Writing During the Founding Era, Vol. 1, Indianapolis (Liberty Press) 1983, S. 480 – 522; hier: S. 485). 18 19

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Hintergrund nicht nur als die mit republikanischen Momenten angereicherte Artikulation der spezifisch amerikanischen Variante eines von seiner feudalen Vergangenheit abgelösten angelsächsischen Liberalismus, als Artikulation der Ideen von „Locke without Filmer“, wie es Louis Hartz in seiner klassischen Studie zur „liberal tradition“ in Amerika auf den Punkt gebracht hat,21 sondern außerdem, so ließe sich ergänzen, als spezifisch amerikanische Variante eines modernen bürgerlich-revolutionären Bewusstseins ohne radikaldemokratische Spitze – gleichsam einer bürgerlichen Revolution ohne Rousseau.22 Dass etwa die politische Theorie von John Adams unmittelbar Rousseau-kritische Züge hat, ist eindeutig23 und zeigt sich inhaltlich zum Beispiel besonders klar im Zusammenhang seiner These von der unvermeidlichen Tendenz einer jeden Gesellschaft zur Ausbildung einer ökonomisch-kulturellen „natural aristocracy“.24 Zur konstruktiven Einbindung dieser sowohl den öffentlichen Diskurs als auch die politischen Institutionen mehr oder weniger stark dominierenden gesellschaftlichen Eliten sind für Adams nicht nur stark repräsentativ konzipierte politische Institutionen, sondern insbesondere die Teilung der Legislative in ein demokratisch orientiertes Repräsentantenhaus und einen in seiner Funktion in der Tat aristokratischen Senat unumgänglich. Zwar erkennt Adams in einer solchen geteilten Legislative gerade auch ein entscheidendes Mittel zur relativen Begrenzung des Einflusses von Eliten, da die zweite Kammer gleichsam die Funktion eines permanenten, institutionalisierten „Ostrakismos“ im Sinne einer „Verbannung“ der allzu mächtigen und einflussreichen „Wenigen“ aus den Institutionen der politischen Selbstorganisation und Repräsentation der „Vielen“ erfülle.25 Aber dennoch stellen vor diesem Hintergrund 20 Arendt, Hannah, Über die Revolution, München / Zürich (Piper) 1986, vor allem S. 96 ff. Zum komplizierten Verhältnis Hannah Arendts zum Werk Rousseaus vgl. Canovan, Margaret, Arendt, Rousseau, and Human Plurality in Politics, in: The Journal of Politics 45 (1983); S. 286 – 302; Herb, Karlfriedrich, Licht und Schatten. Zum Republikideal bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2001. Hrsg. von Karl Ballestrem et al., Stuttgart / Weimar (Metzler) 2001, S. 59 – 68; Herb, Karlfriedrich / Morgenstern, Kathrin / Scherl, Magdalena, Im Schatten der Öffentlichkeit. Privatheit und Intimität bei JeanJacques Rousseau und Hannah Arendt, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19 (2011), S. 275 – 298. 21 Hartz, Louis, The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Political Thought Since the Revolution, New York (Harcourt, Brace & World) 1955. 22 In einem ähnlichen Sinne – und damit gleichsam als Parallelbewegung zur Amerikanischen Revolution – lässt sich auch die erste, liberale Phase der Französischen Revolution interpretieren. Im französischen geschichtswissenschaftlichen Diskurs wird eine solche Interpretation vor allem von François Furet vertreten. Vgl. dazu Paulus, Simone, François Furet und die Französische Revolution. Monarchie, Aristokratie und Demokratie im 19. Jahrhundert, Stuttgart (Kohlhammer) 2012. 23 Vgl. dazu die Darstellung von Adams’ Rousseau-Rezeption bei Haraszti, Zoltan, John Adams and the Prophets of Progress, Cambridge (Harvard University Press) 1952, S. 80 ff., die sich vor allem auf Adams’ umfangreiche Randnotizen in seinen Ausgaben von Rousseaus Schriften stützt. 24 Adams 1851: S. 391 ff.

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demokratisch anspruchsvollere, etwa die von Rousseau vertretenen Vorstellungen eines „free government“, die das Prinzip der Gleichheit zum bestimmenden Leitprinzip der institutionellen Ausgestaltung politischer Ordnung (insbesondere aber der Legislative) machen wollen, für Adams nicht nur unrealistische, weil allzu abstrakte und nicht praktikable Idealisierungen,26 sondern buchstäblich „Ideologien“ dar: „(A) project of such a Government, over five and twenty millions people, when four and twenty millions and five hundred thousands of them could neither write nor read: (is) as unnatural irrational and impracticable; as it would be over the Elephants Lions Tigers Panthers Wolves and Bears in the Royal Menagerie, at Versailles. Napoleon has lately invented a Word, which perfectly expresses my Opinion (…). He calls the Project Ideology. (…) Inequalities of Mind and Body are so established by God Almighty in his constitution of Human Nature that no Art or policy can ever plain them down to a Level. I have never read Reasoning more absurd, Sophistry more gross, in proof of the Athanasian Creed, or Transubstantiation, than the subtle labours of Helvetius and Rousseau to demonstrate the natural Equality of Mankind. Jus cuique [Justice for everyone]; the golden rule; do as you would be done by; is all the Equality that can be supported or defended by reason, or reconciled to common Sense.“27

25 Ebd., S. 290 f: „The rich, the well-born, and the able, acquire an influence among the people that will soon be too much for simple honesty and plain sense, in a house of representatives. The most illustrious of them must, therefore, be separated from the mass, and placed by themselves in a senate; this is, to all honest and useful intents, an ostracism. A member of a senate, of immense wealth, the most respected birth, and transcendent abilities, has no influence in the nation, in comparison of what he would have in a single representative assembly. When a senate exists, the most powerful man in the state may be safely admitted into the house of representatives, because the people have it in their power to remove him into the senate as soon as his influence becomes dangerous. The senate becomes the great object of ambition; and the richest and the most sagacious wish to merit an advancement to it by services to the public in the house. When he has obtained the object of his wishes, you may still hope for the benefits of his exertions, without dreading his passions; for the executive power being in other hands, he has lost much of his influence with the people, and can govern very few votes more than his own among the senators.“ Vgl. die entsprechende Interpretation bei Dewey, John, Individuality, Equality and Superiority, in: ders.: Middle Works, Carbondale / Edwardsville (Southern Illinois University Press) 1983, Vol. 13, S. 295 – 300; hier: S. 298 f., der Adams’ „realistische“ Konzeption von natürlicher Aristokratie in ihren moralisch egalitaristischen Implikationen in die Nähe von Rousseaus Position rückt. 26 In einem zu wenig erfahrungsfundierten und daher zu abstrakten, nicht praktikablen Charakter von Rousseaus politischem Denken sieht schon Spurlin den hautpsächlichen Grund für seinen relativ geringen Einfluss auf den amerikanischen zeitgenössischen Diskurs: „Noah Webster’s comment on (the Social Contract) rings in our ears – ‚The ideas are too democratic & not just. Experience does not warrant them.‘ Rousseau’s ideas were based entirely on theory and those of the American leaders on practical experience. In addition to the wisdom taught by affairs on this continent, these leaders had inherited the practical knowledge gained from long centuries of English trial and error. To the American way of thinking, theories of liberty, equality and government came to the aid of experience, but they had to be made to harmonize with it. (…) To Webster and others, though not to everyone, divers principles of the Social Contract were visionary. They considered Rousseau impractical.“ (Spurlin 1969: S. 106 f.)

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Die Tatsache, dass der zuletzt zitierte Kommentar aus dem Briefwechsel mit Thomas Jefferson stammt und sich Adams mit ihm auch kritisch gegen die entsprechende Position seines Korrespondenzpartners abgrenzt, macht allerdings schon deutlich, dass der ausgeprägte und stark an der englischen frühneuzeitlichen Idee der Mischverfassung ausgerichtete politische Realismus Adams’ und dessen antirousseausche Stoßrichtung alleine nicht repräsentativ für den Mainstream des amerikanischen Gründungsdiskurses stehen kann. Aber auch in den Federalist Papers, die als der maßgebliche Verfassungskommentar der amerikanischen Verfassungsväter und als der wichtigste politisch-theoretische Grundtext der US-amerikanischen Gründungsgeschichte gelten,28 lassen sich deutliche Züge dieses gegen das rousseausche Modell gerichteten Charakters des politisch-theoretischen Mainstream im Amerika des 18. Jahrhunderts finden. An den Stellen, an denen die FederalistAutoren sich unmittelbar solchen Fragen zuwenden, die auch im Contrat Social eine wichtige Rolle spielen, erweisen sich die politischen Theorien insbesondere James Madisons und Alexander Hamiltons tatsächlich geradezu als Gegenentwürfe zu Rousseaus Republiktheorie. Den Begriff der „Republik“ selbst etwa bestimmt Madison in direkter Abgrenzung vom Begriff der „reinen Demokratie“ durch eine affirmative Interpretation der politischen Prinzipien der „Repräsentation“ und der „extended republic“ und damit sachlich in direktem Gegensatz zu Rousseaus Bestimmung von Republik als „Gesetzesherrschaft“ im Sinne einer direktdemokratischen, nicht delegierbaren Legislativgewalt der souveränen Volksversammlung aller Bürger, die daher von der Verwirklichungsbedingung eines räumlich und mitgliedschaftlich begrenzten politischen Gemeinwesens abhängt.29 In diesem Zusammenhang erfährt bei Madison außerdem die Institution des Privateigentums eine im Wesentlichen positive Deutung, die in ihren politischen Konsequenzen dem Lockeschen naturrechtlichen und vorpolitischen Eigentumsbegriff erheblich näher steht als Rousseaus entsprechender Position.30 Als unmittelbare Konsequenz daraus spricht sich Madison für eine liberal27 The Adams-Jefferson Letters, The Complete Correspondence between Thomas Jefferson and Abigail and John Adams. Edited by Lester J. Cappon, Vol. 2, Chapel Hill (University of North Carolina Press) 1959, S. 355. 28 Zur politischen Theorie der Federalist Papers allgemein vgl. Gebhardt, Jürgen, Selbstregierung und republikanische Ordnung in der politischen Wissenschaft der Federalist Papers, in: ders.: Politik, Hermeneutik, Humanität. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Clemens Kauffmann et al., Berlin (Duncker und Humblot) 2004, S. 195 – 225; Adams, Angela / Adams, Willi Paul, Einleitung, in: Hamilton, Alexander / Madison, James / Jay, John: Die Federalist Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Hrsg., übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela Adams und Willi Paul Adams, Paderborn et al. (Schöningh) 1994, S. xxvii – xciii; Zehnpfennig, Barbara, Einleitung, in: Hamilton, Alexander / Madison, James / Jay, John: Die Federalist Papers. Hrsg. von Barbara Zehnpfennig, München (Beck) 2007, S. 1 – 47. 29 Hamilton / Madison / Jay 1994: S. 50 ff. und S. 74 ff.; Rousseau, Jean-Jacques, Du Contrat Social Ou Principes Du Droit Politique, in: Ouevres Completes, Bibliothéque de la Pleiade, Vol. III, Paris (Gallimard) 1964, S. 349 – 470; hier: S. 378 ff. 30 Vgl. Hamilton / Madison / Jay 1994: S. 52 f.

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pluralistische Lösung des republikanischen Urproblems der „factions“, also der problematischen Politik von lediglich am Eigeninteresse orientierten Parteiungen innerhalb eines freiheitlich regierten politischen Gemeinwesens aus. Als eine Alternative zu seinem Lösungsvorschlag einer Vervielfältigung und konstruktiven Ausbalancierung von solchen eigeninteressegeleiteten Gruppierungen diskutiert Madison die Möglichkeiten der direkten „Beseitigung der Ursachen“ von „factions“ mittels der Methode, „alle Bürger mit den gleichen Meinungen, den gleichen Leidenschaften und den selben Interessen zu versehen.“31 Seine Kritik dieser Lösungsoption scheint sich nun in der Tat unmittelbar gegen Rousseaus Fundamentalprinzip der volonté générale zu richten. Die direkte Beseitigung der Ursachen von dem Gemeinwohl entgegengesetzten Partikularinteressen sei, so Madison im berühmten Federalist No. 10, aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen: „Solange die menschliche Vernunft fehlbar ist, und der Mensch frei ist, sie zu benutzen, wird es unterschiedliche Meinungen geben. Solange zwischen seiner Vernunft und seinem Egoismus ein Zusammenhang besteht, werden sich seine Ansichten und seine Leidenschaften wechselseitig beeinflussen und aus seinen Meinungen Ziele erwachsen, an die sich dann die Leidenschaften heften. Die Vielfalt der menschlichen Fähigkeiten, in denen die Eigentumsrechte ihren Ursprung haben, bildet ein ebenso unüberwindliches Hindernis für die Gleichheit der Interessen. Der Schutz dieser Fähigkeiten ist die vornehmste Aufgabe von Staaten. Aus dem Schutz der unterschiedlichen und ungleichen Fähigkeiten beim Erwerb von Eigentum ergeben sich unmittelbar unterschiedliche Arten und Mengen von Eigentum; und aus dem Einfluss, den diese auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer haben, ergibt sich die Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Interessen und Parteien. Die latenten Ursachen für Faktionen sind also in der menschlichen Natur angelegt …“32

Die Vervielfältigung von Faktionen, für die sich Madison als Konsequenz dieses geradezu anthropologischen Arguments für die liberale Affirmation des gesellschaftlichen Interessenpluralismus ausspricht, findet sich zwar als pragmatische Erwägung einer zweitbesten Lösung auch schon bei Rousseau.33 Aber die jeweiligen prinzipiellen Überlegungen von Rousseau und Madison stehen sich in diesem Punkt dennoch diametral gegenüber.34 Ähnliches lässt sich auch, um ein weiteres besonders wichtiges Beispiel herauszugreifen, über die Begriffe von Souveränität sagen, wie sie von Rousseau im Contrat Social einerseits und von Hamilton und Madison in den Federalist Papers andererseits vertreten werden. Zwar bezieht sich Rousseaus These von der Unteilbarkeit der Souveränität, seinem am Begriff der Gesetzgebung orientierten Republikverständnis entsprechend, auf die legislative Gewalt und schließt daher keinesHamilton / Madison / Jay 1994: S. 50. Ebd., S. 52. 33 Rousseau 1964: S. 372. 34 Vgl. dazu auch Conniff, James, On the Obolescence of the General Will: Rousseau, Madison, and the Evolution of Republican Political Thought, in: The Western Political Quarterly 28 (1975), S. 32 – 58. 31 32

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wegs jegliche Möglichkeit horizontaler Gewaltenteilung aus. Eine vertikale Gewaltenteilung im Sinne einer tatsächlich geteilten Souveränität innerhalb eines föderalen Bundesstaates allerdings ist mit Rousseaus Republikbegriff tatsächlich nicht vereinbar. Während für Rousseau in diesem Sinne die „Unteilbarkeit“ zu den wesentlichen Bestimmungsmerkmalen von Souveränität gehört, geben die Federalists die Idee einer „monolithischen Souveränität“35 bewusst auf und entwickeln im Zuge ihrer spezifischen Theorie horizontaler,36 vor allem aber im Rahmen ihrer föderalen Theorie vertikaler Gewaltenteilung explizit den Begriff einer „geteilten Souveränität“, nach der sowohl jeder Einzelstaat innerhalb der föderalen Union als auch die Union als Ganze jeweils als Träger souveräner Gewalt, aber eben jeweils als Träger nur eines Teils der Souveränität verstanden werden.37 Zwar ist auch die Idee des Föderalismus bei Rousseau angesprochen, allerdings ohne dass dies zu einer erkennbaren Modifikation seiner These von der Unteilbarkeit der Souveränität führen würde.38 Gerade darin scheint etwa Madison einen wesentlichen Grund für die Schwäche von Rousseaus Föderalismuskonzeption zu erkennen, die rein auf der Ebene internationaler Kooperation zwischen unabhängigen Staaten verbleibe, allerdings ohne die Grenzen der Möglichkeiten solcher Formen internationaler Kooperation zu sehen:39 „The project of Rousseau was, consequently, as preposterous as it was impotent.“40 Auch hinsichtlich ihres Verständnisses von Föderalismus und Souveränität stehen sich Rousseau und die Federalists Adams / Adams 1994: S. l ff. Hinsichtlich der horizontalen Gewaltenteilung ist in diesem Zusammenhang die Befürwortung der Federalists einer geteilten Legislative entscheidend. Vgl. Hamilton / Madison / Jay 1994: S. 291 ff. 37 Vgl. Hamilton / Madison / Jay 1994: S. 180 ff. und 228 ff. und die entsprechende Kritik der Widersprüchlichkeit des vor der Gründung der USA bestehenden Status Quo des Staatenbundes auf Grundlage der Articles of Confederation ebd.: S. 256. 38 Vgl. dazu Riley, Patrick, Rousseau as a theorist of National and International Federalism, in: Publius 3 (1973), S. 5 – 18 und Asbach, Olaf, Staatsrecht und Völkerrecht bei Jean-Jacques Rousseau. Zur Frage der völkerrechtlichen Vollendung, in: Brandt, Reinhard / Herb, Karfriedrich (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin (Akademie Verlag) 2000, S. 241 – 269. 39 „Among the various reforms which have been offered to the world, the projects for universal peace have done the greatest honor to the hearts, though they seem to have done very little to the heads of their authors. Rousseau, the most distinguished of these philanthropists, has recommended a confederation of sovereigns, under a council of deputies, for the double purpose of arbitrating external controversies among nations, and of guaranteeing their respective governments against internal revolutions. He was aware, neither of the impossibility of executing his pacific plan among governments which feel so many allurements to war, nor, what is more extraordinary, of the tendency of his plan to perpetuate arbitrary power wherever it existed; and, by extinguishing the hope of one day seeing an end of oppression, to cut off the only source of consolation remaining to the oppressed.“ (Madison, James, Writings, hrsg. von Gaillard Hunt, Vol. 6, New York (G. P. Putnam’s Sons) 1906, S. 88.) Zu den begrenzten Möglichkeiten reiner Staatenbünde vgl. auch Hamiltons ähnliche Einschätzung in Hamilton / Madison / Jay 1994: S. 84. 40 Madison 1906: S. 89. 35 36

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in ihren prinzipiellen Akzentsetzungen also tatsächlich eher als theoretische Gegendenn als Parallelentwürfe gegenüber. Bei allen gravierenden, zum Teil wesentliche Grundfragen betreffenden Unterschieden zwischen den Positionen der einzelnen Federalist-Autoren stimmen sie also gerade darin überein, dass ihre politisch-theoretischen Überlegungen in der Tat prinzipiell andere Akzente setzen als Rousseau, in nicht wenigen Fällen sogar der Rousseauschen direkt entgegengesetzte Positionen vertreten. II. Diese Rousseau-kritischen Akzente verbinden sich allerdings mit einer entscheidenden Gemeinsamkeit, die die politische Theorie der Federalists mit Rousseau teilt. Denn ungeachtet der differenzierten Theorie geteilter und fragmentierter Souveränitäten, die man als direkte begründungstheoretische Entsprechung sowohl des horizontal und vertikal vielfach differenzierten Systems der „checks and balances“ politischer Institutionen als auch ihrer liberal-pluralistischen gesellschaftstheoretischen Grundlegung in den Federalist Papers verstehen kann, ist dieses System differenzierter Institutionen, Interessen und „Gründe“ als Ganzes letztlich dennoch auf das fundamentale Prinzip des „popular government“ rückgebunden, das dem Anspruch nach die vielfältigen Differenzierungen umgreift und begründungstheoretisch integriert.41 Die in vielen Punkten Rousseau-kritische politische Theorie der Federalists beruft sich damit zugleich selbst auf das moderne demokratische, paradigmatisch von Rousseau formulierte Prinzip der Volkssouveränität als unhintergehbare letzte Legitimitätsgrundlage der amerikanischen Verfassungsordnung. Obwohl die Federalist-Autoren auch dieses legitimationstheoretische Grundprinzip des „popular government“ bzw. der „popular sovereignty“ in die Richtung einer möglichst weitgehenden Ausklammerung seiner „rousseauistischen“, nämlich partizipativen und direktdemokratischen Implikationen interpretieren,42 ist mit ihm dennoch von vorneherein eine begründungstheoretische Grundspannung in ihrer politischen Theorie angelegt, in welcher der Anspruch auf demokratische Legitimität zugleich immer schon die kritische Frage nach den tatsächlichen Grundlagen dieses Anspruchs impliziert. Diese Grundspannung weist bereits für Hannah Arendt auf die entscheidende Bruchstelle innerhalb der amerikanischen republikanischen Tradition hin, ungeachtet der Tatsache, dass sie insgesamt keinen Zweifel an der politisch-theoretischen Wertschätzung lässt, die sie der Amerikanischen im Unterschied zur Französischen Revolution entgegenbringt.43 Im letzten Kapitel ihrer Revolutionsstudie kommt Vgl. zum Beispiel Hamilton / Madison / Jay 1994: S. 50 ff., 132, 226. Vgl. die kritische, im Ganzen überzeugende entsprechende Analyse der Federalist Papers von Miller, Joshua, The Ghostly Body Politic. The Federalist Papers and Popular Sovereignty, in: Political Theory 16 (1988), S. 99 – 119. 43 Vgl. in diesem Zusammenhang allerdings die kritische Interpretation von Disch, Lisa, How could Hannah Arendt glorify the American Revolution and revile the French? Placing 41 42

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Arendt auf diese Grundspannung zu sprechen, die sie gerade in der liberalen, gemäßigt-demokratischen, sich erfolgreich gegen radikaldemokratische Alternativen durchsetzenden und in der Etablierung stabiler politischer Institutionen so erfolgreichen Amerikanischen Revolution angelegt sieht. Der „entscheidende Geburtsfehler der neuen Republik“44 liege in der Tatsache, dass sie nicht imstande gewesen sei, „den Geist zu konservieren, der während der Revolution selbst manifest geworden war. (…) Sie gab zwar dem Volke die Freiheit, aber sie enthielt keinen Raum, in dem diese Freiheit nun auch wirklich ausgeübt werden konnte. Nicht das Volk, sondern nur seine gewählten Repräsentanten hatten Gelegenheit, sich wirklich politisch zu betätigen, was heißt, dass nur sie in einem positiven Sinne frei waren.“45 In diesem graduellen Scheitern an den eigenen normativen Ansprüchen scheint sich für Arendt offenbar eine der Logik der liberalen, gemäßigt-demokratischen, sich stabilisierenden Revolution notwendig inhärente Aporie zu manifestieren.46 Und die politische Konsequenz, die Arendt aus diesem Befund zieht, ist, „dass das Volk dazu verdammt ist, entweder ‚in Lethargie zu versinken, welcher der Tod öffentlicher Freiheit auf dem Fuß folgt‘, oder ‚den Geist des Widerstands‘ gegen jede von ihnen gewählte Staatsmacht zu bewahren, da die einzig ihnen verbleibende wirkliche Macht ‚die in Reserve gehaltene Macht der Revolution ist‘.“47 Diese begründungstheoretische Grundspannung, die auch Arendt bereits im Gründungsakt der amerikanischen Republik angelegt sieht und die sie hier mit den Worten Thomas Jeffersons artikuliert, kann in der Tat, obwohl bei Arendt ein entsprechender direkter Bezug auf Rousseau fehlt,48 als der eigentliche „Rousseauian On Revolution in the historiography of the French and American Revolutions, in: European Journal of Political Theory 10 (2011), S. 350 – 371, die argumentiert, dass Arendts im Ganzen affirmative Haltung gegenüber der Amerikanischen Revolution ihrem eigenen partizipativdemkratischen normativen Anliegen und isnbesondere ihrem Interesse am Rätesystem eigentlich widerspreche. 44 Arendt 1986: S. 302. 45 Ebd., S. 298, 302. 46 „Dem Versagen des nachrevolutionären Denkens, der Unfähigkeit, den Geist der Revolution nachträglich begrifflich zu erfassen und zu artikulieren, war das Versagen der Revolution selbst vorangegangen, die für alles Institutionen gefunden hatte, nur nicht für den sich in ihr manifestierenden Geist. (…) Wenn mit der Gründung die Revolution ihr Ziel erreicht hat und an ihr Ende gekommen ist, dann ist der Geist der Revolution nicht nur nicht das Neubeginnen, sondern das Beginnen von etwas, das weiteres Neubeginnen erübrigen soll; eine dem Geist des Neubeginnens entsprechende Institution würde gerade die revolutionären Errungenschaften wieder in Frage stellen. Woraus leider zu folgen scheint, dass nichts die revolutionären Errungenschaften mehr gefährdet als eben der Geist, der sie hervorbrachte. Sollte Freiheit, die sich in ihrer erhabensten Form im Handeln manifestiert, der Preis sein, den wir für die Gründung zu zahlen haben?“ (Ebd., S. 298 f.) 47 Ebd., S. 305. 48 Dieses Fehlen eines Bezugs auf Rousseau in diesem Punkt hat bei Arendt allerdings insofern auch sachliche Gründe, als sich ihr eigentümliches Verständnis von politischem Handeln und Pluralität unmittelbar mit einer Kritik des Begriffs der „Souveränität“ überhaupt verbindet, der allerdings ein sehr enges Verständnis dieses Begriffs zugrunde liegt. Vgl. Arendt,

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Moment“ innerhalb des amerikanischen politischen Denkens der Gründungsperiode verstanden werden. In diesem Sinne nimmt Rousseau schon für J.G.A. Pocock im amerikanischen Gründungsdiskurs die Rolle des „Machiavelli of the eighteenth century“ ein, „in the sense that he dramatically and scandalously pointed out a contradiction that others were trying to live with.”49 Und auch für Allan Bloom ergibt sich die besondere Stellung Rousseaus im amerikanischen politischen Diskurs unmittelbar aus dieser Grundspannung: „In the moment the Framers wrote ‚We the people of the United States …‘, the word ‚people‘ had been made problematic by JeanJacques Rousseau.“ Ausgehend von denselben Grundproblemen moderner Politik, die auch in Rousseaus politischer Philosophie im Zentrum stünden, nämlich erstens von der Grundfrage, „(h)ow (to) get from individuals to a people, that is, from persons who care only for their particular good to a community of citizens“ und zweitens von der Grundprämisse, dass „consent“ und „popular sovereignty“ die einzig denkbaren Legitimationsgrundlagen moderner politischer Herrschaft seien, sei das amerikanische politische Selbstverständnis durch ebendiese Grundspannung zwischen kritischer Abgrenzung von Rousseau einerseits und rousseauistisch inspirierter demokratischer Selbstkritik andererseits geprägt: „All this and much more provides the common ground of modernity where Rousseau walks arm in arm with his liberal predecessors and contemporaries. He does not reject the new principles, but he radicalizes them by thinking them through from the broadest of perspectives. (…) Rousseau’s reflections had the effect of outflanking the Framers on the Left, where they thought they were invulnerable. (…) In doing so he set up the stage on which the political drama has been played until this day. The element that was so much more extreme in the French Revolution than in the American Revolution can be traced, without intermediaries, to Rousseau’s influence on its principal actors. And it was by Rousseau’s standard that it was judged a failure and only a preparation for the next, and perhaps final, revolution. The camp of radical equality and freedom has very few clear political success to show for itself, but it contains all the dissatisfactions and longings that put a question mark after triumphant liberalism.“50

Also nicht nur die Negativfolie, vor der die „Founding Fathers“ das spezifisch amerikanische Modell einer bürgerlichen Revolution und Gründung entfalten, und nicht nur die Verankerung ihres liberalen, pluralistischen und gewaltenteiligen Republikverständnisses in der Idee einer „popular sovereignty“, sondern insbesondere auch der eigentümliche legitimatorische Vorbehalt, das begründungstheoretische „Fragezeichen“, das sich aus der Logik dieser Konzeption ergibt, sind zum Teil explizit, zum Teil der Sache nach auf Rousseau bezogen. Und in der Tat scheint mit Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich (Piper) 1999 (11. Auflage), S. 299. 49 Pocock 1975: S. 504. Pocock weist hier darauf hin, dass Rousseaus Einfluss auf den amerikanischen Selbstverständigungsdiskurs durchaus „comparable to that of Machiavelli’s“ sei, klammert diese Frage aber explizit aus dem Bereich seiner Fragestellung aus (ebd.: S. 504 f.). 50 Bloom 1997: S. 143 f.

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diesem Rousseauschen Moment ein grundsätzliches und regelmäßig wiederkehrendes Thema innerhalb des amerikanischen „political drama“ gesetzt.

III. Vor dem Hintergrund dieser eigentümlichen begründungstheoretischen Spannung ist es nicht überraschend, dass Rousseaus Werk im weiteren Verlauf der amerikanischen politischen Selbstverständigungsdebatten seit dem frühen 19. Jahrhundert oft dort zu den wichtigen Inspirationsquellen gehört, wo es um eine grundsätzliche Kritik des amerikanischen politischen Mainstream geht.51 Das zeigt sich bereits in der Auseinandersetzung der Federalists mit den Vorstellungen radikaldemokratischer Gegner des Verfassungsentwurfs, deren „most radical move“ darin bestand, die „doctrin of popular sovereignty“ wörtlich und das heißt im Sinne Rousseaus zu verstehen.52 Ungeachtet der Tatsache, dass auch für die sogenannten „Anti-Federalists“ der explizite Bezug auf Montesquieu eine deutlichere, sichtbarere Rolle spielt, ist ihre Kritik der liberalen und elitären Züge der politischen Konzeption der Federalists dennoch „surprisingly close to Rousseau and to the notions of republicanism which influenced him“.53 Sie waren „wie Rousseau der Überzeugung, dass eine republikanische Staatsform nur bei einer Begrenzung der Größe des Landes, der Bevölkerungszahl und der sozialen Unterschiede möglich sei“54 und unterzogen neben dem stark repräsentativen und zu wenig partizipativen Charakter der US-Verfassung auch deren entsprechende gesellschaftstheoretische Begründung durch die Federalists einer vehementen Kritik. Zwar teilen die Anti-Federalists mit den Befürwortern der Verfassung die Grundlage eines ausgeprägt skeptischen Menschenbilds, so dass idealisierte Interpretationen von Rousseaus anthropologischen Ideen etwa im Sinne eines Rousseauschen Glaubens „an das Gute im natürlichen, nur von den zivilisatorischen Zwängen freizusetzenden Menschen … in der Debatte um Amerikas neue Ordnung“ im 18. Jahrhundert in der Tat zunächst „keine Rolle“ gespielt haben.55 Aber spätestens in der 51 Dasselbe gilt auch für die kritische Außenperspektive auf die amerikanische Politik. Vgl. stellvertretend die Einschätzung bei Blankertz, Stefan, Rousseau, Staat und Anarchie – Der ‚Contrat Social‘ und die Amerikanische Revolution, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 63 (1986), S. 19 – 32, der „die Geschichte der USA (als) eine vorzügliche empirische Illustration von Rousseaus Problem“ (S. 28) interpretiert. 52 Miller, Joshua, The Rise and Fall of Democracy in Early America, 1630 – 1789, University Park (Pennsylvania State University Press) 1991, S. 74. 53 Kenyon, Cecilia, Men of Little Faith: The Anti-Federalists on the Nature of Representative Government, in: The William and Mary Quarterly 12 (1955), S. 3 – 43; hier: S. 9. Zu den Rousseauschen Momenten in den politischen Vorstellungen der Anti-Federalists vgl. auch Miller 1988: S. 100 ff. 54 Vorländer 1997: S. 75. 55 Adams / Adams 1994: S. l xxix f. Wo die „Gründerväter“ sich auf Rousseaus anthropologische und kulturkritische Überlegungen beziehen, geschieht dies meist wiederum eher in kri-

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Gesellschaftskritik der amerikanischen Transzendentalisten des 19. Jahrhunderts, die vor allem die Kritik einer ökonomistisch reduktionistischen Variante amerikanischen Individualismus ist, zeigt sich, dass auch der kulturkritische bzw. „romantische“ Strang modernen Selbstverständnisses, der sich direkt von Rousseau herleitet, einen nicht unerheblichen Einfluss auf das amerikanische Selbstverständnis hatte. In diesem Sinne haben etwa Robert Bellah et al. in ihrer grundlegenden Studie „Habits of the Heart“ das in der amerikanischen Geschichtsforschung tradierte Narrativ von einer dominanten liberal-republikanischen ideengeschichtlichen Konstellation mit überzeugenden Argumenten durch einen sich vor allem von den Transzendentalisten des 19. Jahrhunderts herleitenden und sich kritisch gegen den liberalrepublikanischen Mainstream richtenden „expressive individualism“ als eines weiteren charakteristischen Bestandteils des amerikanischen Selbstverständnisses zu ergänzen versucht.56 Zwar bleibt die Frage nach einem Einfluss Rousseau’scher Ideen in der Studie von Bellah et al. selbst, die sich maßgeblich an Tocquevilles Demokratietheorie orientiert, überraschenderweise ungestellt. Aber vor dem Hintergrund etwa von Charles Taylors Untersuchungen zu Rousseaus entscheidender Rolle für die Herausbildung der spezifisch modernen Ideen der Innerlichkeit und der Selbstverwirklichung drängt sich diese Frage hier eigentlich auf.57 Dass die libetischer denn in affirmativer Absicht. Vgl. allerdings die folgende Bemerkung bei John Adams, die deutlich an Rousseaus Kritik im Ersten Diskurs erinnert und diese allerdings konstruktiv auf den Begriff der „experience“ bezieht (vgl. dazu auch weiter unten): „Are riches, honors, and beauty going out of fashion? Is not the rage for them, on the contrary, increased faster than improvement in knowledge? As long as either of these are in vogue, will there not be emulations and rivalries? Does not the increase of knowledge in any man increase his emulation; and the diffusion of knowledge among men multiply rivalries? Has the progress of science, arts, and letters yet discovered that there are no passions in human nature? no ambition, avarice, or desire of fame? (…) There is no connection in the mind between science and passion, by which the former can extinguish or diminish the latter. It, on the contrary, sometimes increases them, by giving them exercise. (…) Is there less emulation for the chair of Sir Isaac Newton than there was, and commonly will be, for all elective presidencies? Is there less animosity and rancor, arising from mutual emulations in that region of science, than there is among the most ignorant of mankind? Go to Paris. How do you find the men of letters? united, friendly, harmonious, meek, humble, modest, charitable? prompt to mutual forbearance? unassuming? ready to acknowledge superior merit? zealous to encourage the first symptoms of genius? Ask Voltaire and Rousseau, Marmontel and De Mably. (…) Americans! Rejoice, that from experience you have learned wisdom; and instead of whimsical and fantastical projects, you have adopted a promising essay towards a well-ordered government. Instead of following any foreign example, to return to the legislation of confusion, contemplate the means of restoring decency, honesty, and order in society, by preserving and completing, if anything should be found necessary to complete the balance of your government. In a well-balanced government, reason, conscience, truth, and virtue, must be respected by all parties, and exerted for the public good.“ (Adams 1851: S. 275 ff.) 56 Bellah, Robert et al., Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life. Updated Edition With a New Introduction, Berkeley 1996, S. 33 ff. 57 Für einen entsprechenden Einfluss Rousseaus auf klassische Vertreter des amerikanischen Transzendentalismus, etwa auf Ralph Waldo Emerson und Henri David Thoreau, vgl. zum Beispiel Temmer, Mark J., Rousseau and Thoreau, in: Yale French Studies 28 (1961),

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ralismus- und kulturkritische Zeitdiagnose und eine entsprechende Kritik des „zweischneidige(n) Potential(s) der Demokratie in Amerika“, wie sie etwa ganz im Sinne dieser Tradition aktuell von Benjamin Barber vertreten wird, sich maßgeblich auf Rousseau bezieht, ist jedenfalls vor diesem Hintergrund nicht überraschend.58 Barbers politische Theorie kann übrigens insgesamt als prägnantester Beitrag amerikanisch-rousseauistischer Kritik innerhalb der aktuellen politisch-theoretischen Debatten verstanden werden.59 Und bei Barber, der sich selbst bewusst in eine von Rousseau inspirierte „alternative tradition of thinking“ einordnet,60 zeigen sich einige charakteristische Züge dieses kritischen amerikanischen Rousseauismus besonders deutlich, etwa die Tatsache, dass es sich in ihm trotz der kulturkritischen Akzente gegen den Ökonomismus der „liberal tradition“ in erster Linie um die Position eines dezidiert politischen partizipatorischen Egalitarismus handelt, der sich zum Teil auch in kritischer Abgrenzung zu einem selbst primär ökonomisch fundierten klassischen Sozialismus versteht:61 „Indeed, the entire political project (he had others) of Rousseau can be understood as an attempt to impose the hegemony of the political (construed in terms of the participatory democratic politics of the General Will) on the schizophrenic history of man as a creature both social and natural, individual and communal, free and enslaved, perfectible and corrupt. Politics was a response to inequality, just as legislation was a response to private interest.“62

Barbers Kritik des politischen Liberalismus im Allgemeinen, des amerikanischen politischen Mainstream im Besonderen und von deren Idee und Praxis einer „thin democracy“ setzt genau an diesem Punkt an und spitzt die Forderung nach einer „Hegemonie des Politischen“ zu einer Grundsatzkritik der allzu ausschließlich am Prinzip der Repräsentation orientierten amerikanischen Verfassungswirklichkeit zu: „Traditional democratic theorists have always been suspicious of representative institutions, thinking them bad compromises at best, and, at worst, in Rousseau’s vision, destroyers of S. 112 – 121; Cascardi, Anthony J., The Logic of Moods: An Essay on Emerson and Rousseau, in: Studies in Romanticism 24 (1985), S. 223 – 237. 58 Vgl. Barber, Benjamin, Consumed. Wie der Markt Kinder verführt, Erwachsene infantilisiert und die Bürger verschlingt, München 2007, S. 213; vgl. auch ders., Rousseau and the Paradoxes of the Dramatic Imagination, in: Daedalus 107 (1978), S. 79 – 92 und ders., „Occupy Rousseau“ and Challenge Inequality in America, in: Huff Post Politics vom 08. 03. 2012, www.huffingtonpost.com/benjamin-r-barber/occupy-rousseau-and-chall_b_1333812.html (Stand: 30. 6. 2012). 59 Vgl. dazu auch Reedy, W. Jay, The Relevance of Rousseau to Contemporary Communitarianism. The Example of Benjamin Barber, in: Philosophy and Social Criticism 21 (1995), S. 51 – 84. 60 Barber, Benjamin, Political Participation and the Creation of Res Publica, in: Ritter, Alan / Bondanella, Julia C. (Hrsg.): Roussau’s Political Writings, New York / London (Norton & Company) 1988, S. 292 – 306; hier: 294. 61 Vgl. z. B. Barber, Benjamin, A Passion for Democracy. American Essays, Princeton (Princeton University Press) 2000, S. 31 ff. 62 Barber, Benjamin, Review of Rousseau. Sociologue de la Connaissance by Gérard Namer, in: Contemporary Sociology 10 (1981), S. 427 – 428, hier: S. 428.

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liberty. ‚The moment a people allows itself to be represented‘, he warns in On Social Contract, ‚it is no longer free.‘ Americans have permitted themselves to be everywhere represented, in everything represented, by (almost) anyone represented; as a consequence they have lost the freedom of self-government and must make do with the far more pallid liberty of debating the size, efficacy, equity, and accountability of the institutions with which they have allowed themselves to be replaced.“63

Gegen den demokratischen Minimalismus, der sich für Barber in diesem Übergewicht des Repräsentationsprinzips seit der Gründung der Republik in der amerikanischen Politik manifestiert, und gegen James Madisons entsprechende begründungstheoretische Position einer liberalen „moral geometry“, die die „possibility of a public good that (is) more than an aggregate of individual and particular goods“ ebenso ausschließe wie die Idee von Normen „that (are) not reducible to private interests“, macht Barbers Konzeption einer „strong democracy“ den Versuch, „the Rousseauist effort to reconcile individual and community in a General Will“64 für die Gegenwart und insbesondere für die amerikanische Gesellschaft neu zu denken. Das Ergebnis ist ein das Primat bzw. die „Souveränität“65 des Politischen betonendes Verständnis von partizipatorischer Demokratie und „citizenship“, in dem die Rousseausche volonté générale allerdings transformiert wird in die Idee einer besonderen bürgerlichen Form von „common knowledge“ bzw. „experience“, der ein weniger stark voluntaristisch als vielmehr diskursiv akzentuiertes Verständnis von Politik als „the application of political judgment as public decision-making or public willing and the realization of common talk and common will as common work and common action“ entspricht.66 Ungeachtet seines im Einzelnen sehr eigenwilligen Verständnisses partizipatorischer Politik artikuliert Barber mit dieser Reformulierung des „Rousseauschen politischen Projekts“ konzeptionelle Grundideen, die im kritisch-demokratischen amerikanischen Diskurs von allgemeiner Bedeutung sind. Ähnliche Applikationen rousseauscher Ideen, die zugleich grundlegende Transformationen sind, nämlich insbesondere erstens die Verbindung der Kritik sozioökonomischer Verhältnisse mit der These vom Primat des Politischen und zweitens das weniger auf einen gemeinsamen „Willen“ als vielmehr auf gemeinsame „experience“ fokussierte Verständnis von partizipatorischer Politik, spielen nicht nur im amerikanischen Kommunitarismus insgesamt, besonders deutlich etwa in Michael Walzers kritischer Gesellschaftstheorie eine Rolle (insbesondere was ihre begründungstheoretischen Grundlagen betrifft).67 Sie prägen teilweise auch schon die kritische Perspektive des „American progressivism“ des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.68 Barber 1988: S. 292 f. Barber, Benjamin, Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age. Twentieth Anniversary Edition With a New Preface, Berkeley (University of California Press) 2003, S. 171 f. 65 Ebd., S. 168. 66 Ebd., S. 169, 173. 67 Vgl. Spector, Celine, Au Prisme de Rousseau: Usages Politiques Contemporains, Oxford (Voltaire Foundation) 2011, S. 146 ff. 63 64

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Ihre paradigmatische Formulierung hat diese spezifisch amerikanische Variante des „Rousseauschen politischen Projekts“ einer partizipatorisch-demokratischen Theorie von „popular sovereignty“ im Werk von John Dewey gefunden. Deweys Demokratietheorie, vor allem aber seine Theorie der Öffentlichkeit, die er in den 1920er Jahren in kritischer Reaktion auf die liberal-realistische, stark repräsentativ orientierte Demokratietheorie Walter Lippmanns formuliert (welche ihrerseits als gegen die „in der Bewegung von Rousseau über die Jakobiner und Marx (…) historisch geworden(e) Gegenrevolution der Leidenschaften“ gerichtet verstanden werden kann69), kann sicherlich als die theoretisch anspruchsvollste Konzeption partizipatorischer Demokratietheorie und einer entsprechenden Kritik der amerikanischen Gesellschaft und der amerikanischen liberalen Tradition gelten.70 Dewey findet nicht nur seine eigene Kritik an der liberalen „doctrine of ‚natural‘ economy which held that commercial exchange would bring about such an interdependence that harmony would automatically result“ in Rousseaus Werk vorweggenommen. Auch „the nature of the only possible solution“ für das Problem von „popular government“ sei bereits bei Rousseau angedeutet: nämlich „the perfecting of the means and ways of communication of meanings so that genuinely shared interests in the consequences of interdependent activities may inform desire and effort and thereby direct action.“71 Der Bezug auf Rousseau an dieser konzeptionell entscheidenden Stelle ist kein Zufall. Im Hintergrund von Deweys theoretischer Grundlegung der politisch konstituierten Öffentlichkeit einer „great community“ als der Quelle von „genuinely shared interests“, die er der rein funktionalistisch-ökonomisch verfassten „great society“ der liberalen amerikanischen Gesellschaft entgegen setzt, steht eine Auseinandersetzung mit Rousseaus Souveränitätsverständnis, die sich bis in Deweys Frühwerk hinein zurückverfolgen lässt. In einem Aufsatz von 1894 zu dem im 19. Jahrhundert einflussreichen positivistischen Rechtstheoretiker John Austin etwa betont Dewey die zentrale Bedeutung von Rousseaus Idee der Volkssouveränität für jede authentisch demokratische Theorie von „popular sovereignty“. Austins Theorie, die insofern an die oben skizzierte amerikanische Gründungsdebatte erinnert, 68 Vgl. dazu Kloppenberg, James T., Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870 – 1920, New York (Oxford University Press) 1986, S. 175 ff. 69 Gebhardt, Jürgen, Die Krise des Amerikanismus. Revolutionäre Ordnung und gesellschaftliches Selbstverständnis in der amerikanischen Republik, Stuttgart (Klett) 1976, S. 280. 70 An Deweys Werk ließe sich übrigens auch exemplarisch zeigen, wie innerhalb dieses sich gegen den liberalen Mainstream richtenden kritischen Diskurses der Begriff des „Liberalismus“ selbst eine veränderte, soziale bzw. sozialdemokratische, nun seinerseits kritische und sich auf die von Rousseau herleitende „doctrine of the forgotten man and the forgotten masses“ beziehende Bedeutung annimmt. Vgl. Dewey, John, A Liberal Speaks Out for Liberalism, in: ders.: The Later Works, Carbondale / Edwardsville (Southern Illinois University Press) 1981 ff., Volume 11, S. 282 – 288; hier: S. 282. 71 Dewey, John, The Public and its Problems, in: ders.: The Later Works, Vol. 2, S. 235 – 371; hier: S. 332.

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als sie die Quelle der Souveränität nicht im Ganzen, sondern in einem Teil der Gesellschaft bzw. unmittelbar in bestimmten Regierungsinstitutionen verortet sieht, stelle, so Dewey, eine entscheidende Frage an das amerikanische politische Selbstverständnis. Diese Frage sei „of special interest in this country; for if Austin’s theory is correct, the theory of popular sovereignty is obviously wrong, not only in the crude form in which it is ordinarily stated, but in any possible development of it.“ Austin repräsentiere damit einen „important type of political theory“,72 nämlich die konsequente „Antithese“ zu Rousseau.73 Vor dem Hintergrund dieser alternativen Souveränitätstheorie, die bei Austin im Gesamtzusammenhang einer die Kategorien von „command“ und „obedience“ betonenden politischen Herrschaftslehre steht, erweist sich Rousseaus Idee der Volkssouveränität für Dewey als unverzichtbare Grundlage einer demokratischen Begründungstheorie: „Although not all thinkers who rejected Rousseau’s idea of sovereignty as resident in the common will have come to these conclusions, I cannot resist the feeling that it is because they are less logical (…). At all events, I would raise the question whether there is any alternative between a theory like Austin’s which, placing sovereignty in a part of society, makes government an entity per se, whose operations are all commands, and a theory which finds the residence of sovereignty in the whole complex of social activities, thus making government an organ – an organ the more efficient, we may add, just in proportion as it is not an entity per se, but is flexible and responsive to the social whole, or true sovereign.“74

Zwar macht Dewey im selben Text auch auf eine entscheidende Schwachstelle in Rousseaus Idee der Volkssouveränität aufmerksam, nämlich darauf, dass die in ihr artikulierte begründungstheoretische Forderung nach „generality“ „all special modes of operation“ faktisch ausschließe und sich damit als ein praktisch-politisch kaum umsetzbares „equivalent to vagueness“ herausstelle.75 Aber dennoch formuliert Dewey hier mit Rousseau ein politisch-theoretisches Grundproblem, das zu den zentralen Fragen seiner Demokratietheorie und seiner Theorie der Öffentlichkeit gehört. Deweys Vorschlag einer Lösung dieses Problems greift die demokratischen Implikationen der Rousseauschen Idee von Souveränität auf und wendet seine gleichzeitige Kritik an Rousseaus Souveränitätsidee konstruktiv, indem er diese in die Idee einer Fundierung von Politik und Recht in der „generality“ nicht

72 Dewey, John, Austin’s Theory of Sovereignty, in: ders.: The Early Works, London / Amsterdam (Southern Illinois University Press) 1971, Vol. 4, S. 70 – 90; hier: S. 76, 89. 73 Ebd., S. 76 (Fußnote 12): „Austin’s theory is thus the complete antithesis of Rousseau’s. According to Rousseau, it is of the essence of sovereignty to belong to the whole as a whole, i.e., to the general will. According to Austin, it is of its essence to be partial. (…) (B)oth find it in will, but … one conceives of this will as necessarily inhering in a part, the other as inhering in the whole of society.“ 74 Ebd., S. 89 f. 75 Ebd., S. 90. Problematisch sind aus Deweys Sicht daneben auch die nationalistischen Potentiale, die er in Rousseaus Idee eines „Common Will“ angelegt sieht. Vgl. Dewey, John, Freedom and Culture, in: ders.: The Later Works, Vol. 13, S. 63 – 187; hier: S. 149.

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so sehr eines gemeinsamen „Willens“, sondern von pluralistisch verfassten, aber gemeinsam gestalteten gesamtgesellschaftlichen Erfahrungs- und Interpretationsprozessen umdeutet, in denen sich gleichsam die hermeneutisch generierte kollektive Identität einer „great community“ herausbildet.76 An die Stelle des Begriffs von „Souveränität“ und der hinter ihm stehenden voluntaristisch akzentuierten Idee der volonté générale tritt bei Dewey die diskursiv und hermeneutisch akzentuierte Idee einer „general experience“.77 Damit bringt Dewey eine konzeptionelle Transformation auf den Begriff, die meines Erachtens zu den wesentlichen theoretischen Eigentümlichkeiten der genuin amerikanischen konstruktiven Aneignung von Rousseaus politischer Philosophie und der in ihr gestellten Grundfragen gehört, einer Aneignung, in der es somit immer auch um die Versöhnung von Rousseaus begründungstheoretischer Radikalität mit den realen Erfordernissen konkreter politischer Praxis, also in der Tat um einen Rousseau „reduced to practice“ geht.78 Aber auch in dieser erfahrungstheoretisch und pragmatisch transformierten Variante bleiben die von Rousseau aufgeworfenen Grundfragen innerhalb des amerikanischen Selbstverständigungsdiskurses vor allem Ansatzpunkte einer demokratischen Kritik, die die amerikanische Gesellschaft und Politik mit den ihrem Selbstverständnis inhärenten und uneingelösten Legitimitätsansprüchen konfrontiert – oder auch mit den in ihm angelegten, aber nicht verwirklichten Möglichkeiten. In diesem kritischen Sinne bezieht sich auch noch John Rawls’ Charakterisierung seiner politischen Philosophie als einer „die Grenzen dessen, was wir gewöhnlich für praktisch-politisch möglich halten“ erweiternden „realistischen Utopie“ direkt auf Rousseau.79 Auf die These, dass gerade die politisch so außerordentlich erfolgreiche und stabile amerikanische Republik in besonders hohem Maße einer beständigen Kritik im Sinne einer solchen realistischen Utopie bedürfe, läuft schon die klassische Studie von Louis Hartz hinaus, dessen Charakterisierung von der Dominanz der „liberal tradition in America“ zugleich auch als eine grundsätzliche Kritik der Begrenztheit dieser liberalen Tradition und der in ihr angelegten „tyrannical force of Lockian sentiment“ gemeint ist.80 Was der Hartz-Schüler Benjamin Barber ganz in diesem Sinne über die Beziehung von Rousseaus politischer Philosophie zu des76 Zu Deweys Konzeption von „great community“ und Öffentlichkeit vgl. ausführlicher Sigwart, Hans-Jörg, Politische Hermeutik. Vertstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2012, S. 248 ff. 77 Vgl. etwa Dewey, John, My Philosophy of Law, in: ders.: The Later Works, Vol. 14, S. 115 – 122; hier: S. 119 ff. 78 Vgl. hier oben das Zitat von John Adams. Diese erfahrungstheoretische konzeptionelle Transformation nimmt einige Aspekte diskurstheoretischer Rezeptionen und Reinterpretationen des Rousseauschen Grundproblems der volonté générale vorweg, wie sie etwa Jürgen Habermas formuliert hat. Zu Habermas’ Rousseau-Rezeption vgl. Kaufmann, Matthias, Politischer Rousseauismus. Einige Kapitel aus der Wirkungsgeschichte des Contrat Social, in: Kersting, Wolfgang (Hrsg.): Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis, Baden-Baden (Nomos) 2003, S. 177 – 200; hier: S. 193 ff. 79 Rawls, John, Das Recht der Völker, Berlin / New York (de Gruyter) 2002, S. 4 f. Für Rawls’ Rezeption von Rousseau insgesamt vgl. auch Spector 2011: S. 103 ff.

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sen Schweizer Heimat schreibt, lässt sich insofern unmittelbar auf die Rolle der Rezeption Rousseaus im amerikanischen Selbstverständigungsdiskurs übertragen: „Rousseau (…) reflects an unseen Switzerland: not his dream of empty places, not the perfect republic – neither Clarens nor Geneva – but an all-too-human Switzerland that, like Rousseau, is more aptly honored for what it would be than for what it is.“81 Summary The essay examines Jean-Jacques Rousseau’s influence on the „American political tradition“. This influence appears to be comparatively marginal at first sight, particularly within the political discourse during the American revolutionary and founding era. On closer inspection, however, the critical involvement with Rousseau’s political thought turns out to be significant in various respects. It serves, first, as a major object of critique against which the „Founding Fathers“ articulated their understanding of political liberty and republican government. Being virtually an alternative model to Rousseau’s more radically democratic ideas, the Founder’s conception of republican government nonetheless, secondly, shares with Rousseau the distinct emphasis on the principle of „popular government“ as its ultimate basis of legitimacy. This twofold and partly contradictory connection towards Rousseauian ideas results in a principal normative tension inherent in the mainstream of American political self-understanding. This tension, which may be understood as a „Rousseauian moment“ in the political theory of the American Founding, has, thirdly, served as a theoretical starting point of a genuinely American tradition of Rousseauian political critique that has continuously accompanied the liberal tradition of the American mainstream as its democratic „dissenting opinion“.

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Freiheit, Recht und Ethos in Rousseaus Contrat social* Stephan Zimmermann

Der Gedanke, der wohl wie kein anderer das philosophische Schaffen JeanJacques Rousseaus durchzieht und prägt, ist der Gedanke der Freiheit. Dabei kennen Rousseaus Werke durchaus eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Freiheitsbegriffe. Da ist etwa jene Freiheit im Sinne von Autarkie, Selbstgenügsamkeit, wie sie der Lebensweise des homme naturel noch vor aller Entstehung dauerhafter Sozialverbände und der Entwicklung zivilisatorischer Eigenschaften wie Sprache und Vernunft eignet; diese natürliche Freiheit dient Rousseau im zweiten Discours als vorzüglicher Maßstab seiner Kulturkritik an der zeitgenössischen Gesellschaft. Im Contrat social dagegen rückt der Menschenrechtsgedanke in den Mittelpunkt. Das Recht auf individuelle Selbstbestimmung fungiert als Richtschnur für die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen eine zwangsbewehrte staatliche Herrschaft rechtens ist. Und aus dem Gesellschaftsvertrag als der ersten, wenngleich nicht alleinigen Legitimitätsvoraussetzung entspringen in der Folge weitere Arten von Freiheit. Vor allem gewinnt der Mensch überhaupt erst als homme civil die Fähigkeit zur Autonomie, zur moralischen Selbstgesetzgebung, was Rousseau an zentraler Stelle als sittliche Freiheit bezeichnet. Und darin ist zugleich die andere notwendige Ermöglichungsbedingung legitimer politisch-staatlicher Herrschaft vorhanden. Im Folgenden werde ich, erstens, diese drei Freiheitsvorstellungen anhand der genannten Schriften Rousseaus dokumentieren und inhaltlich näher entwickeln. Und ich will, zweitens, darlegen, dass Rousseau alle drei Konzepte menschlicher Freiheit – überraschenderweise und nicht ohne sich in gewisse argumentative Schwierigkeiten zu verstricken – in seiner Theorie des Gesellschaftsvertrages im Contrat social zusammenfließen lässt und sie systematisch miteinander verbindet: nur zusammen bilden sie die hinreichende Bedingung für die Rechtmäßigkeit staatlicher Herrschaft und gesetzlichen Zwangs. Und dafür lässt sich ein guter Grund namhaft machen, wie ich argumentieren werde. Man kann Rousseau nämlich so lesen, dass er mit den Mitteln kontraktualistischen Rechtsdenkens (unter anderem gegen Hobbes und Locke) den Standpunkt motiviert, wonach das individuelle Selbstbestimmungsrecht allein noch keine freiheitliche Einrichtung des Staates zu gewährleisten vermag. Die Fähigkeit der Einzelnen zu moralischer Selbstgesetz* Für hilfreiche Anregungen und Hinweise danke ich Rainer Schäfer und Jens Rometsch.

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gebung ebenso wie das darin unter anderem wirksame Streben nach Erhaltung der wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit des Gemeinwesens ist unabdingbar. Die jedem Bürger juridisch zustehende Freiheit hat ihre Wirklichkeit mithin nur dank eines mit seinen Mitbürgern gemeinsam geteilten gemeinwohlorientierten Ethos.

I. Die Selbstgenügsamkeit des Naturmenschen Der Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi des hommes ist bekanntlich aus dem Essay hervorgegangen, mit dem Rousseau 1754 an dem Preisausschreiben der Académie de Dijon teilgenommen hat. Die von der Akademie ausgegebene Fragestellung lautete: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ob sie durch das Naturgesetz (loi naturelle) gerechtfertigt ist“ (DII, 5).1 In seiner Antwort unterscheidet Rousseau zwischen zwei verschiedenen Begriffen von Naturgesetz. Diese Unterscheidung findet sich, noch vor den eigentlichen Überlegungen, im „Vorwort“ der Schrift. Sie ist von so grundsätzlicher Bedeutung, dass sie in systematischer, methodischer und terminologischer Hinsicht allererst den Rahmen vorgibt, in dem sich die nachfolgenden Ausführungen bewegen. Und diese Unterscheidung bleibt auch im späteren Contrat social in Kraft. Ganz im Sinne der querelle des anciens et des modernes des 17. und 18. Jahrhunderts historisiert Rousseau den Naturgesetzgedanken. Er diagnostiziert bei den namentlich nicht genannten Alten, les anciens philosophes, ein anderes Verständnis als bei den Neueren, les modernes. „Die römischen Rechtsgelehrten“, so schreibt er, „unterwerfen den Menschen und alle anderen Lebewesen gleicherweise demselben Naturgesetz, weil sie unter diesem Namen eher das Gesetz verstehen, das die Natur sich selbst auferlegt, als das, was sie anbefiehlt.“ (DII, 124) Die Geltungsweite des Naturgesetzes, von dem hier die Rede ist, bleibt nicht auf bestimmte Wesen eingegrenzt, sie ist gerade so weit, dass alle Lebewesen überhaupt derartigen Regeln, und zwar alle ein und denselben Regeln, unterstehen. Es handelt sich um Gesetze, „welche die Natur allen belebten Wesen für ihre gemeinsame Erhaltung mitgegeben hat“ (ebd.). Dagegen verstehen die Neueren „unter dem Namen Gesetz nur eine Regel, wie sie einem moralischen Wesen (être moral) vorgeschrieben ist, das heißt einem Wesen, das vernünftig (intelligent) ist, frei (libre) und in seinen Beziehungen zu anderen Wesen betrachtet wird“ (ebd.). In diesem Fall sind die Adressaten des Naturgesetzes ausschließlich solche Lebewesen, die vernünftig, moralisch und frei 1 Die Schriften Rousseaus werden nach der Pléiade-Ausgabe durch Angabe von Sigle und Seitenzahl zitiert. Es gelten die folgenden Siglen: Discours sur les sciences et les arts = DI; Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi des hommes = DII; Du contrat social ou principes du droit politique = CS; Du contrat social ou essai sur la forme de la république. Prèmiere version, manuscrit de Genéve = CSMS; Émile ou de l’éducation = Émile; Les confessions = Conf.; Lettre à Christophe de Beaumont = Lettre; Fragment sur des mœurs = Mœurs; Fragment sur le bonheur public = Bonheur; Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa réformation projettée = Pol.; Projet de constitution pour la Corse = Corse.

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sind. Und das trifft nur auf den Menschen zu. „Sie“, und dabei hat Rousseau neuzeitliche Naturrechtslehrer wie Pufendorf und Grotius vor Augen, mit denen er sich an späteren Stellen des Werkes auch explizit auseinander setzt, „beschränken die Zuständigkeit des Naturgesetzes infolge dessen auf das einzige mit Vernunft begabte Lebewesen, das heißt: den Menschen.“ (DII, 124 f.) Welchem Gesetz der Mensch seiner Natur nach untersteht, hängt aber von der vorgängigen Antwort auf die Frage ab, worin überhaupt die Natur des Menschen besteht. „Gerade diese Unkenntnis der Natur des Menschen (nature de l’homme) bringt so viel Unsicherheit und Dunkelheit in die rechte Definition des Naturrechts (droit naturel).“ (DII, 124) Man muss bereits über einen zulänglichen Begriff von der menschlichen Natur verfügen, sind doch daraus allein, wie Rousseau mit einem wörtlichen Zitat, das allerdings nicht als solches gekennzeichnet ist, des Genfer Naturrechtslehrers Jean-Jacques Burlamaqui bemerkt, die Prinzipien des Naturrechts und damit der gerechten Einrichtung der sozialen und staatlichen Existenz des Menschen „abzuleiten (déduire)“ (ebd.).2 Das Naturrecht ist in der Anthropologie verwurzelt. Der Vorwurf aber, den Rousseau mit großer Geste erhebt, sowohl gegen die anciens philosophes als auch gegen die modernes, geht dahin, dass sie in anthropologischer Hinsicht fatalen Irrtümern aufsitzen und infolge dessen in naturrechtlicher Hinsicht zu verfehlten Resultaten kommen. Es bedarf daher eines Neubeginns: einer Untersuchung über die wahre Natur des Menschen. Diese Untersuchung durchzuführen, ist dem zweiten Discours aufgegeben. Am Anfang dieser Untersuchung steht ein Gedankenexperiment. Durch eine Abstraktion von all jenen Eigenschaften und Fähigkeiten, die der Mensch erst und nur in der Gesellschaft erwirbt und die Rousseau als „künstlich (artificiel)“ bezeichnet, will er den eigentlichen und durch zivilisatorische Fortschritte überformten, ja bis zur Unkenntlichkeit denaturierten Wesenskern des Menschen freilegen, den er demgegenüber als „ursprünglich (originaire)“ (DII, 123) apostrophiert.3 Der Philosoph muss von allen kontingenten, weil vom Menschen im Laufe seiner wechselvollen Kulturgeschichte entwickelten, Bedürfnissen und Vermögen absehen; was bleibt, ist die natürliche, das heißt im Menschen selbst angelegte und nicht weiter zurückführbare, Bedürfnis- und Vermögensstruktur. Der „Naturmensch (homme naturel)“ (DII, 124) ist so ein Produkt philosophischer Gedankenarbeit, von dem keinesfalls behauptet werden soll, dass es ihn irgendwann einmal gegeben hat, gibt 2

Vgl. Jean-Jacques Burlamaqui, Principes du droit naturel, Genf: Barrillot, 1747, Kap. I,

§ 2. 3 Rousseau veranschaulicht dies anhand des Glaukos-Mythos (vgl. DII, 122), den bereits Platon im 10. Buch seiner Politeia verwendet, obgleich in anderem Zusammenhang (vgl. 611c – 612a). Glaukos war ein Fischer, der nach dem Genuss eines am Ufer wachsenden wundersamen Krautes in Rausch versetzt ins Meer sprang, wo ihn Okeanos und Tethys in eine Meeresgottheit verwandelten. Sein Körper veränderte sich, Muscheln, Tang und Gestein wuchsen an ihm, so dass der Mensch, der er ursprünglich war, nicht mehr zu erkennen war. Vgl. Hans von Geisau, „Glaukos“, in: Konrat Ziegler / Walther Sontheimer (Hrsg.): Der Kleine Pauly, Bd. 2, Stuttgart: Druckenmüller, 1967, S. 810 – 813.

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oder geben wird4 – obgleich Rousseau freilich bisweilen durchaus so spricht.5 Auf diese Weise meint Rousseau ein Ideal für sein gesellschaftskritisches Unternehmen an die Hand zu bekommen, um danach „den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können“ (DII, 123). Inwieweit, so versteht Rousseau die Preisfrage der Akademie, entspricht die zeitgenössische Gesellschaft mitsamt der in ihr herrschenden sozialen Ungleichheit der natürlichen Wesensbestimmung des Menschen? Rousseau zeichnet den Naturmenschen als ein von anderen Tieren sich kaum abhebendes Wesen. Negativ ist er vor allem durch das Fehlen von gemeinhin als menschlich geltenden Eigenschaften und Fähigkeiten charakterisiert. Danach hat der Mensch im pur état de nature keinen nennenswerten Hang zur Geselligkeit, selbst das Aufziehen der Kinder stiftet keine anhaltenden Bindungen. Ferner besitzt er keine Vernunft, er ist kein Subjekt von Rechten und Pflichten, mithin kein moralisches Wesen, und er kennt keine dementsprechende Freiheit. Positiv ist sein Begehren und Verhalten dagegen durch zwei „Prinzipien (principes)“ (DII, 126) charakterisiert. Das eine Prinzip dient der Erhaltung des Individuums, das andere der Erhaltung der Gattung. „Das eine macht uns leidenschaftlich um unser Wohlergehen und unsere eigene Erhaltung besorgt. Das andere flößt uns einen natürlichen Widerwillen dagegen ein, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen.“ (ebd.) Das letztere nennt Rousseau für gewöhnlich „commisération“ (ebd.) oder „pitié“ (DII, 154), also Mitleid. Beide Prinzipien aber, das darf man nicht übersehen, sind gerade nicht dem Menschen allein eigentümlich. Rousseaus Anthropologie des homme originel hat die Pointe, dass dieser Naturgesetzen untersteht, denen auch alle Tiere, welche geradeso vernunftlos, amoralisch und unfrei sind, gleichermaßen unterworfen sind.6 Die Wiederherstellung der ursprünglichen Natur des Menschen in der philosophischen Reflexion bringt indessen eine Art von Freiheit zum Vorschein. Denn die Reduktion der Bedürfnisse des zivilisierten Menschen auf diejenigen des natürlichen Menschen lässt nur solche übrig, die Rousseau die „wahren Bedürfnisse (vrais besoins)“ (DII, 126) nennt. Wahre Bedürfnisse sind die, die der Einzelne selbständig befriedigen kann. Rousseau spricht diesbezüglich zusammenfassend von der amour de soi-même, der Selbstliebe, im Gegensatz zur amour-propre, der Selbst4 Vgl. Ernst Cassirer, „Das Problem Jean-Jacques Rousseau“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie (1933), S. 188. 5 Siehe zum Beispiel DII, 122 f., 133, 167. 6 Leo Strauss hat deutlich gemacht, dass Rousseau hier an das von Hobbes inaugurierte Naturrechtsverständnis anschließt, indem er einerseits akzeptiert, dass zur Darstellung des Naturrechts auf den Naturzustand des Menschen zurückgegangen werden muss; nicht von ungefähr stellt Rousseau dem ganzen Discours die lateinische Übersetzung eines Satzes aus Aristoteles Politik als Motto voran: non in depravatis, sed in his quae bene secundum naturam se habent, considerandum est quid sit naturale (vgl. Rep. 1254a36 – 38). Andererseits nimmt er an, dass das Naturrecht in etwas verankert sein muss, das noch vor der menschlichen Vernunft da ist und das Verhalten des Menschen ohnehin bestimmt. Für Hobbes war das der Selbsterhaltungstrieb, Rousseau ergänzt ihn um das Mitleid. Vgl. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart: Koehler, 1956, S. 275 ff.

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sucht. Letztere entsteht erst mit der Vergesellschaftung und meint gerade solche Bedürfnisse, die durch das „Vergleichen (comparaisons)“ (DII, 219 Anm.) seiner selbst mit Anderen entstehen und deren Befriedigung den Menschen auf Andere verweist.7 Die Selbstsucht hat ihren Ursprung in der Arbeitsteilung und sozialen Ungleichheit, den Institutionen Geld und Eigentum, den durch Wissenschaft und Technik ermöglichten Fortschritten sowie der Asymmetrie von Ansehen und Geltung. Anders die Selbstliebe. Sie ist kein „relatives“ (ebd.) Gefühl. Der Naturmensch, wie Rousseau ihn charakterisiert, ruht ganz in sich selber, er ist „sich selbst genügend (se suffisant á lui-même)“ (DII, 160). Denn sein Verlangen geht allein auf das, was zur Selbsterhaltung nötig ist; es verbleibt in den Grenzen dessen, was dieser sich unabhängig von Anderen selbst zu verschaffen vermag. „Seine Wünsche gehen nicht über seine physischen Bedürfnisse hinaus.“ (DII, 143) Mit einem Wort, der natürliche Mensch hat seine Freiheit darin, dass er autark, selbstgenügsam lebt.8 Dieser vormoralische Freiheitsbegriff dient Rousseau alsdann zum hauptsächlichen Maßstab seiner Fortschritts- und Zivilisationskritik.9 Durch die Rekonstruktion des Naturzustandes, des ursprünglichen Menschen und seiner wahren Bedürfnisse nimmt Rousseau den vertrauten gesellschaftlichen Konventionen der Gegenwart den Anschein der Normalität. Und die menschliche Gattungsgeschichte, wie er sie im Anschluss an sein Gedankenexperiment Schritt um Schritt nachzeichnet, offenbart sich als eine Verfallsgeschichte der Menschheit. „Solange sie nur Werke herstellten, die einer allein machen konnte, und Künste pflegten, die nicht die Zusammenarbeit mehrerer Hände erforderten, lebten sie so frei (libres), gut und glücklich, wie sie es ihrer Natur nach sein konnten“ (DII, 171). Die zeitgenössische Gesellschaft jedoch mit all ihren vermeintlichen Errungenschaften unter anderem auf den Gebieten der Wissenschaft und Politik, der Wirtschaft und Kunst widerstreitet der Natur des Menschen zutiefst, denn sie verwehrt dem Individuum eine autarke Lebensweise. Die der menschlichen Natur ursprünglich einwohnende Selbstgenügsamkeit, das heißt das Ausgeglichensein von Wollen und Alleinkönnen, ist zerstört. Man begehrt stets mehr, als man erreichen kann; und man ist fest in ein komplexes „System der Bedürfnisse“10, das heißt in vielfältige gegenseitige Abhängigkeitsstrukturen, eingebunden.11 7 Rousseau spricht daher auch vom „homme de l’homme“ (Émile, 549; Conf., 388), da sein Selbstwertgefühl durch die Wertschätzung, die ihm Andere entgegenbringen, vermittelt ist. 8 Vgl. Émile, 309, 311, 456. 9 Das übersieht Rüdiger Bubner, der Rousseaus Kritik zu einer ausschließlich moralischen verkürzt. Vgl. Rüdiger Bubner: Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklärung, in: Ders.: Innovationen des Idealismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, S. 98. 10 Georg F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 6 2000, S. 346. 11 Ist diese Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft auch eine vormoralische, entwickelt der Mensch doch im Laufe von Rousseaus hypothetischer Erzählung seine ihm eigentümlichen Anlagen und reift so von selbst zum möglichen Objekt moralischer Kritik heran. Aber

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Rousseaus Historisierung des Naturgesetzgedankens geht sonach noch weiter: auch das Objekt des Gesetzes, der Mensch und seine Wesensnatur, muss geschichtlich gedacht werden. Man darf nicht leichthin Eigenschaften und Fähigkeiten, die den zeitgenössischen Bürger auszeichnen, als zum Wesen des Menschen qua talis gehörig erheben. Das aber haben beispielsweise Rousseaus Vorgänger in Sachen Gesellschaftsvertragslehre, Hobbes und Locke, getan, sie haben in Rousseaus Augen den Menschen des Naturzustandes mit dem des bürgerlichen Zustandes verwechselt („confondre“ (DII, 139)), den homme civil irrigerweise in den homme naturel hineingelesen und fälschlich eine Konstanz dieser vermeintlichen Wesensbestimmtheit des Menschen behauptet. Rousseaus Grundgedanke ist demgegenüber, dass der Mensch des ursprünglichen Naturzustandes noch vorvernünftig, vormoralisch und in diesem Sinne unfrei und damit dem Naturgesetz in seinem ersten Verständnis unterstellt ist, dass der Mensch erst mit zunehmender Vergesellschaftung seine Vernünftigkeit, Moralität und seine entsprechende Freiheit erlangt und so das Naturgesetz in seinem zweiten Verständnis Gültigkeit gewinnt. Beide Konzepte von Naturgesetz bzw. Naturrecht (Rousseau gebraucht beide Ausdrücke promiscue) haben folglich ihre volle Berechtigung, jedoch – so lautet Rousseaus geschichtsphilosophische Behauptung – in ganz unterschiedlichen Phasen der historischen Realisierung menschlichen Daseins.

II. Das Recht auf individuelle Selbstbestimmung Der Contrat social setzt demgegenüber neu an. Er steht im Dienst einer anderen Aufgabenstellung. Das „Grundproblem“, dessen Lösung die Lehre vom Gesellschaftsvertrag geben will, formuliert Rousseau an berühmter Stelle des „Ersten Buches“, in Kapitel 6, wie folgt: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitgliedes verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und so frei (libre) bleibt wie zuvor.“ (CS, 360)

Die Freiheit, von der hier die Rede ist, ist juridischer Art. Rousseau charakterisiert sie insbesondere im 4. Kapitel durch den Begriff der „Menschenrechte (droits de l’humanité)“ und den der „Pflichten (devoirs)“ (CS, 356). Und zwar ist damit das Recht eines jeden gemeint, unbehindert durch Nötigung und Zwang durch Andere sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen – und die korrespondierende Pflicht, diese Freiheit Anderen ebenso zu gewähren. Es ist das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung.12 Ein solches Freiheitskonzept aber ist durch Distanz

auch in dieser Hinsicht fällt Rousseaus Urteil entschieden negativ aus. Da die bürgerliche Gesellschaft wechselseitige Abhängigkeiten institutionalisiert, befördert sie die amour-propre der Menschen und damit Laster wie Neid und Geltungssucht, Luxus und Müßiggang, falsche Höflichkeit und Unaufrichtigkeit usf. Vgl. DI, 8, 15, 18; DII, 139, 168, 203 Anm.

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zur Natur geprägt. Denn der Gedanke von Menschenrechten und -pflichten unterstellt einen Träger, der ein vernünftiges und moralisches und entsprechend freies Wesen ist. Zu solch einem Wesen jedoch entwickelt sich der Mensch dem Discours sur l’origine zufolge erst nach dem Ausgang aus dem status naturae purae und im Durchgang durch verschiedene historische Etappen der Vergesellschaftung. Dagegen argumentiert der Contrat social gewissermaßen geschichtsvergessen: wie auch immer die Geschichte des Menschen verlaufen sein mag, sobald sich seine anthropologischen Anlagen dahin gehend entfaltet haben, dass zu seiner Natur wesenhaft jene „Qualität“ (ebd.) gehört, die der Menschenrechtsgedanke ausdrückt, ist das Naturrecht auf eine neue Grundlage gestellt. So hat es schon der Discours in Aussicht gestellt: „Diese Regeln [des Naturrechts; der Verf.]“, so schreibt Rousseau im „Vorwort“ unmittelbar im Anschluss an die Darstellung der beiden Prinzipien der Selbsterhaltung und des Mitleids, „muss die Vernunft sofort auf anderer Grundlage neu errichten, sobald sie es infolge ihrer allmählichen Fortschritte fertig gebracht hat, die Natur zu ersticken.“ (DII, 126) Daran knüpft der Contrat social an und fragt nach den Bedingungen der Vereinbarkeit jenes individuellen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen mit freiheitseinschränkendem Zwang durch staatliche Gesetze. Rousseau bleibt demnach seiner Unterscheidung von zwei verschiedenen Begriffen von Naturgesetz bzw. Naturrecht treu. Diese Unterscheidung steckt zugleich den Boden ab, auf dem auch noch der Contrat social steht: während im Discours sur l’origine das erste, vormoralische Verständnis von Naturgesetz zum Tragen kommt, das Rousseau den Alten zugeschrieben hat, findet nun das zweite, moralische Naturgesetzverständnis der Neueren seine Anwendung, welchem unterstellt zu sein, den Menschen für Rousseau vor allen Tieren hervorhebt. Während also dort aus der Anthropologie des unvernünftigen, amoralischen und unfreien Menschen „alle Regeln des Naturrechts […] fließen“ (ebd.) – welche allerdings lediglich beschreiben, was ohnehin geschieht –, ist das Naturrecht hier anthropologisch anders fundiert. „Die allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen (nature de l’homme)“ (CS, 352), vermerkt Rousseau kurz und bündig im 2. Kapitel. Das besagte Naturrecht ist normativ; es gibt Regeln, die vorschreiben, was zu tun und was zu lassen ist, Regeln nicht dessen, was ist, sondern dessen, was sein soll. Der Contrat social entwickelt so in erster Linie rechtsphilosophische Behauptungen. Damit fügt er sich zwar insgesamt in das größere Bild der Historisierung des Naturgesetzgedankens durch den zweiten Discours, argumentiert aber selbst nicht historisch. Gewiss, Rousseau hat bereits im „Vorwort“ des Discours ankündigt, über die „wahren Grundlagen des politischen Körpers“ und „die wechselseitigen Rechte seiner Glieder“ (DII, 126) dadurch aufzuklären, dass er in einem Gedankenexperiment auf das Konstrukt eines ursprünglichen, jeglicher Form von Vergesellschaftung 12 Vgl. Reinhard Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1973, S. 71 ff.

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noch vorausliegenden Naturzustandes rekurriert. Doch ist das nicht, was das Werk in Wahrheit leistet. Selbst die staats- und vertragsrechtlichen Partien im „Zweiten Teil“, die sich kritisch mit rechtsphilosophischen Positionen etwa von Hobbes, Grotius und Pufendorf beschäftigen – beispielsweise der Rückführung staatlicher Herrschaft auf väterliche Autorität oder der so genannten Doppelvertragslehre – und in deren Verlauf auch das Menschenrecht auf Selbstbestimmung kurz Erwähnung findet,13 sind von der geschichtsphilosophischen Theorie des pur état de nature und der sich daran anschließenden „hypothetischen Geschichte der Regierungen“ (DII, 127) argumentativ unabhängig. Diese Partien haben lediglich den Charakter eines Einschubs. Rousseau bemisst die soziale Ungleichheit der bürgerlichen Gesellschaft primär am Maßstab natürlicher Gleichheit; dieser vorrechtliche Ausgangspunkt der Autarkie des Naturmenschen lässt jedoch keine Schlüsse über die Rechtsgrundlagen des Staates und die Legitimitätsbedingungen gesetzlichen Zwangs zu.14 Überdies darf man beide Schriften auch nicht so aufeinander beziehen, dass sie sich scheinbar ergänzen: indem man die entwicklungsgeschichtliche Theorie des Naturzustandes des Discours dem vornehmlich an legitimationstheoretischen Fragen interessierten Contrat social unterlegt.15 Nicht nur fehlt im letzteren jeder Hinweis, der eine solche Anbindung an den ersteren gestattete. Vor allem verfehlte man auf diese Weise die entscheidende Spitze von Rousseaus Kontraktualismus gegen seine Vorgänger. Diese besteht darin, dass es laut Rousseau eine ausgearbeitete Naturzustandstheorie überhaupt nicht braucht. Während bei Hobbes und Locke die Schilderung des Naturzustandes jeweils die Darstellung eines Problems annimmt, welches ohne das Herrschaftsgebilde Staat auftritt und zu dessen Überwindung ein staatlicher Zusammenschluss auf der Basis eines Vertrages angeraten ist, so dass sich das funktionale Profil des Staates aus der naturzuständlichen Problemstellung deduzieren lässt,16 hält man nach einer solchen Naturzustandsschilderung und der Darstellung eines vorstaatlichen Problems im Contrat social vergebens Ausschau. Rousseau begnügt sich im 6. Kapitel stattdessen mit der Hypothese eines für den solitär lebenden Einzelnen nicht mehr existenzfähigen Zustandes: „Ich unterstelle (suppose), dass die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse (obstacles), die ihrer Erhaltung (conservation) in dem Naturzustand schädlich 13 Rousseau nennt sie dort die „edelste aller Fähigkeiten (plus noble des facultés) des Menschen“ (DII, 183). Man kann sich ihrer auf keinen Fall „entäußern (dépouiller)“, denn sie ist „ein Geschenk“, das Kinder „von der Natur in ihrer Eigenschaft als Menschen erhalten“ (DII, 184). Und auch der Discours sur les sciences et les arts erwähnt diese „ursprüngliche Freiheit (liberté originelle), für die sie [die Menschen; d. Verf.] geboren zu sein scheinen“ (DI, 7). 14 Vgl. Karlfriedrich Herb, Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1989, S. 85 f., 98. 15 So etwa Émile Durkheim, „Le Contrat social de Rousseau“, in: Revue de métaphysique et de morale 25 (1918), S. 4. 16 Wolfgang Kersting spricht diesbezüglich vom kontraktualistischen Argument. Vgl. Wolfgang Kersting, „Zur Logik des kontraktualistischen Arguments“, in: Volker Gerhardt (Hrsg.): Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart: Metzler, 1990, S. 216 – 237.

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sind, in ihrem Widerstand die Oberhand über die Kräfte gewinnen, die jeder einzelne aufbieten muss, um sich in diesem Zustand zu behaupten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht länger fortbestehen, und das menschliche Geschlecht müsste zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte.“ (CS, 360)

Selbsterhaltung ist hier zwar das präsumierte Motiv für den Ausgang aus dem Naturzustand. Allein, worin jene Hindernisse bestehen, denen sich das Individuum ausgesetzt sieht und deren Überwindung seine Kräfte übersteigt, bleibt dermaßen unterbestimmt – Rousseau gibt nicht einmal an, ob diese Hindernisse in Naturkatastrophen bestehen oder, wie bei Hobbes und Locke, im Gegeneinander der Menschen selbst zu sehen sind –, dass sich daraus kaum die berechtigte Forderung nach Gründung eines Staates mit einer bestimmten Herrschaftsorganisation herleiten lässt. Das ist aber auch gar nicht nötig. Für Rousseau bildet lediglich das Wie des Zusammenschlusses das zu lösende problème fondamental. Und dieses entsteht allein vor dem Hintergrund des Menschenrechts auf individuelle Selbstbestimmung. Dieses Recht steht nicht nur am Beginn des legitimationstheoretischen Kontraktualismus schlechthin, da sich ohne seine Voraussetzung Freiheitseinschränkungen qua staatlicher Institutionen und gesetzlichem Zwang nicht vor dem einzelnen Individuum rechtfertigen müssten und es keiner freiwilligen Selbstverpflichtung der Beteiligten in Form eines omnilateralen Vertrages zur Aufrichtung legitimer Herrschaft bedürfte. In dieser Hinsicht ist die neuzeitliche Gesellschaftsvertragslehre eine Gestalt liberalen politischen Denkens. Wie Hobbes und Locke auch – ersterer noch implizit, letzterer ausdrücklich – geht Rousseau von einer dem Menschen angeborenen Freiheit aus: „Der Mensch ist frei geboren“ (CS, 351), beginnt die berühmte Eröffnungspassage des Contrat social.17 Rousseau glaubt jedoch, dass das funktionale Profil des Staates in diesem natürlichen Freiheitsrecht bereits wie in einer Nussschale beschlossen liegt und daraus zu entwickeln ist. Die naturzuständlichen Konfliktschilderung eines Hobbes oder Locke bleiben demgegenüber, so der Einwand, äußerlich, denn der Staat hat vor allem anderen die Aufgabe der Wahrung und Konkretisierung jenes angeborenen Rechts auf Freiheit. Das bedeutet: warum auch immer es dahin kommen mag, dass Menschen sich zu einem gemeinsamen staatlichen Verband zusammenschließen, die menschenrechtliche Freiheit, die jeder kraft seines Menschseins mitbringt, ist alles, was für Rousseau nötig ist, um festzulegen, wie Herrschaft in diesem Verband organisiert werden muss. Erster und beständiger Bezugspunkt seiner politischen Vertragslehre ist das Freiheitsrecht des Einzelnen. Denn dieses individuelle Recht auf Selbstbestimmung, da es als angeborenes unverlierbar und unveräußerlich ist, kann nicht mit dem Eintritt in den Staat niedergelegt oder weggegeben werden – sei es an einen machtvollkommenen Leviathan (Hobbes), sei es an eine treuhänderische Regierung (Locke). „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch […] verzichten.“ (CS, 356) Was der Gesellschaftsvertrag leisten kann, ist lediglich, die Weise zu ändern, wie der Einzelne seine Rechte wahrnimmt. An die 17

Vgl. CS, 356, 440.

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Stelle der vereinzelten und daher uneinheitlichen Rechtsausübungsstrategie der Individuen setzt er die allgemein-einheitliche, deren Träger der vereinigte Wille aller ist: jeder Kontrahent verpflichtet sich freiwillig allen Anderen gegenüber, sich einem Herrscher zu unterstellen, der nicht anders denn mit der Menge der Vertragschließenden selbst identisch sein kann. „Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelpersonen jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat“ (CS, 361). Es genügt sonach nicht, sein Freiheitsrecht nur ein einziges Mal, nämlich im Akt des gesellschaftsvertraglichen Zusammenschlusses, wahrzunehmen, um dadurch das Herrschaftsgefüge des Staates zu etablieren. Und hinterher nicht mehr. Vielmehr muss ein jedes Gesetz, das im Staat erlassen wird, und damit der etwaige Zwang nach Maßgabe dieser Gesetze aus der realen Beteiligung aller Herrschaftsbetroffenen am Gesetzgebungsgeschehen hervorgehen, wenn es sich um ein legitimes Gesetz und legitimen Zwang handeln soll. Individuelles Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und freiheitseinschränkender Zwang durch staatliche Gesetze sind nur unter der Bedingung miteinander verträglich, dass das Objekt des Gesetzes zugleich dessen Subjekt, der Normadressat zugleich der Autor der Norm ist. Dem staatlichen Herrschaftsschema ist bei Rousseau immer schon das entsprechende Herrschaftspersonal vorherbestimmt: die Mitglieder der Gesellschaft sind gleichermaßen „Bürger (citoyens), sofern sie Teilhaber an der Souveränität, und Untertanen (sujets), sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind“ (CS, 362). Mithin verlangt der Menschenrechtsbegriff der Freiheit, konsequent zu Ende gedacht, eine Verstetigung der ursprünglichen Vertragssituation, die damit zur „Verlaufsform gesellschaftlichen Lebens“18 wird. Er lässt als einzige rechtmäßige Herrschaftsorganisation nur die der Republik, ja der bürgerlichen Autonomie zu. Die Gesetzgebung muss um der Freiheit der Individuen willen in eben deren Händen liegen; sie muss Selbstgesetzgebung sein. Jeder hat das „Recht, bei allen Akten der Souveränität abzustimmen, ein Recht, das den Bürgern durch nichts genommen werden kann“ (CS, 439).

III. Die moralische Selbstgesetzgebung des Bürgers Durch den Erwerb des bürgerlichen Standes kommen die Menschen in den Besitz diverser Freiheiten, die sie vorher nicht schon besessen haben und auch nicht schon besitzen konnten. Denn Rousseau präsentiert sie als direkte Folge des Vertragsakts. 18 Wolfgang Kersting, „Vom Vertragsstaat zur Tugendrepublik. Die politische Philosophie Jean-Jacques Rousseaus“, in: Ders. (Hrsg.): Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis, Baden-Baden: Nomos, 2003, S. 18. Maurice Halbwachs spricht diesbezüglich von einer Anwendung des theologischen Begriffs der „creatio continua“ auf die staatlich-politische Ordnung. Maurice Halbwachs, „Commentaire“, in: Ders. (Hrsg.): JeanJacques Rousseau. Du contrat social, Paris: Aubier 1943, S. 328.

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Diese Freiheiten sind aufgrund ihrer kontraktlichen Herkunft selber juridischer Art. So etwa die, die Rousseau im 8. Kapitel des „Ersten Buches“ unter dem Namen der „bürgerlichen Freiheit (liberté civile)“ (CS, 364) anspricht. Sie tritt an die Stelle der durch den Vertragsschluss überwundenen „natürlichen Freiheit (liberté naturelle)“, welche „ihre Schranken nur in der Stärke des Individuums“ (CS, 364 f.) hatte. Während die vorvertragliche liberté naturelle im staatlich noch ungebundenen Verfügenkönnen des schon rechtsfähigen Menschen über alles und jeden besteht, das nur an der überlegenen Kraft Anderer seine Grenze findet – und daher keineswegs mit der autarken Existenzweise des vorgeschichtlichen Menschen im zweiten Discours verwechselt werden darf –, ist die nachvertragliche liberté civile eine rechtsförmige, nämlich „durch den Gemeinwillen (volonté générale) begrenzte“ (CS, 365), Freiheit. Erst indem sich alle der Rechtsmacht des gesetzgebenden Gemeinwillens unterstellen, gibt es überhaupt einheitliche und justiziable Rechts- und Eigentumstitel, die jedem Bürger einen bestimmten Freiheitsraum abgrenzen, welchen er „in vollkommener Unabhängigkeit von allen anderen“ (CS, 394) ausgestalten kann, und der genau dort endet, wo der der Anderen anfängt. Dieser Freiheitsgedanke ist auch dem Hobbes’schen und Locke’schen Kontraktualismus vertraut.19 Eine im Gegensatz dazu ganz anders geartete, merkwürdigerweise aber auch aus dem Gesellschaftsvertrag unmittelbar hervorgehende Freiheit ist die, die Rousseau als „sittliche Freiheit (liberté morale)“ (CS, 365) einführt. Diese ist alles andere als unspektakulär, was sich bereits an dem Textumfang abnehmen lässt, den ihr Rousseau einräumt. Nahezu das gesamte 8. Kapitel des „Ersten Buches“ ist diesem Freiheitskonzept gewidmet. Danach ist der „bürgerliche Stand (état civil)“, von dem dieses Kapitel seiner Überschrift nach handelt, ganz wesentlich durch sittliche Freiheit charakterisiert. Bürger sein heißt über liberté morale verfügen. Rousseau führt dazu im ersten Absatz Folgendes aus: „Der Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Stand erzeugt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung (changement très rémarquable), weil dadurch in seinem Verhalten die Gerechtigkeit (justice) an die Stelle des Instinkts tritt und seinen Handlungen die Sittlichkeit (moralité) verliehen wird, die ihnen zuvor fehlte. Erst jetzt, da die Stimme der Pflicht (voix du devoir) an die Stelle des körperlichen Triebs und das Recht (droit) an die der Begierde tritt, sieht sich der Mensch, der bis dahin lediglich auf sich selbst Rücksicht genommen hatte, gezwungen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft (raison) um Rat zu fragen, bevor er seinen Neigungen Gehör schenkt. Obgleich er in diesem Stand mehrere Vorteile, die er von Natur aus hat, aufgibt, gewinnt er dadurch so bedeutende andere, seine Fähigkeiten üben (s’exercent) und entwickeln sich (se développent), seine Vorstellungen erweitern sich (s’étendent), seine Gefühle veredeln (s’ennoblissent), seine ganze Seele erhebt sich zu solcher Höhe, dass er […] unaufhörlich den glücklichen Augenblick segnen müsste, […] der aus einem stumpfsinnigen (stupide) und beschränkten

19 Siehe etwa Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 163 ff. (Kap. 21).

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(borné) Tiere ein intelligentes Wesen (être intelligent) und einen Menschen (homme) gemacht hat.“ (CS, 364)

Und erneut im dritten und letzten Absatz des Kapitels: „Nach dem Vorhergehenden könnte man zum Erwerb des bürgerlichen Standes noch die sittliche Freiheit hinzufügen, die allein den Menschen zum wirklichen Herrn seiner selbst macht; denn der Antrieb der bloßen Begierde ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber gegeben hat (l’obéissance à la loi qu’on s’est prescrite), ist Freiheit (liberté).“ (CS, 365)20

Diese Zeilen erinnern nicht nur durch ihren enthusiastischen Tonfall an den Discours sur l’origine. Auch der Sache nach greifen sie ein von daher bekanntes Motiv wieder auf: das einer Veränderung der menschlichen Natur. Die Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag soll mit einem „bemerkenswerten“ Wandel verbunden sein, der kein juridischer ist.21 Es ändern sich nicht nur äußerlich die rechtlichen Positionen der Vertragsbeteiligten und die rechtlichen Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen; es handelt sich nicht allein um einen rechtsschöpferischen Akt der freiwilligen Selbstverpflichtung und entsprechenden Fremdberechtigung, wie das bei Verträgen üblich ist. Der Gesellschaftsvertrag, obwohl qua Vertrag ein Rechtsgeschäft, hat für die Kontrahenten nicht bloß Rechtsfolgen. Vielmehr verändert sich durch ihn die innerste anthropologische Wesensbestimmtheit der Beteiligten, und zwar gründlich. Der Eintritt in den bürgerlichen Stand macht, wie Rousseau mit aller Entschiedenheit formuliert, aus einem „stumpfsinnigen und beschränkten Tiere […] einen Menschen“. Der Mensch wird erst eigentlich Mensch, wo er Bürger ist.22 Die Eigenschaften und Fähigkeiten, welche von dieser vertragsinduzierten Denaturierung betroffen sind, sind gleichfalls aus dem zweiten Discours bekannt. So begibt sich der Mensch zwar auf der einen Seite einiger „Vorteile, die er von Natur aus hat“. Rousseau spricht diesbezüglich von „Instinkt“ und instinktsicherem Ver20 Es scheint zunächst so, als würde Rousseau hier auf etwas Neues zu sprechen kommen („Nach dem Vorhergehenden könnte man […] noch […] hinzufügen“). Jedoch endet der Absatz mit den Worten: „Aber ich habe über diesen Punkt schon mehr als genug gesagt“ (CS, 365). Und das muss man wohl auf die längeren Ausführungen des zitierten ersten Absatzes zurückbeziehen. 21 Es kann daher nicht ohne Weiteres richtig sein, wenn Rousseau im mittleren Absatz des Kapitels schreibt, der besagte anthropologische Wandel ließe sich „auf leichter vergleichbare Begriffe“ (CS, 364) zurückführen, Rousseau dann aber unmittelbar auf den juridischen Begriff der liberté civile zu sprechen kommt. 22 So heißt es auch im Genfer Manuskript: „Wir beginnen erst eigentlich (proprement) Menschen zu werden, nachdem wir Bürger geworden sind.“ (CSMS, 287) Das ist gewiss Rousseaus augenfälligster Berührungspunkt mit dem politischen Aristotelismus, dem zufolge der Mensch seiner Wesensnatur nach auf den Bürger hin angelegt ist und nur in der Polis diese seine Natur voll entfalten kann (vgl. Rep. 1253a2). Allerdings stellt Rousseau, und das ist der ebenso markante wie folgenreiche Unterschied, das antike Natur- und Polisdenken auf das Fundament des modernen Kontraktualismus und dessen voluntaristisches Argumentationsmuster. Vgl. Patrick Riley, „A Possible Explanation of Rousseau’s General Will“, in: The American Political Science Review 64 (1970), S. 86 – 97.

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halten, vom Angetriebensein allein durch „körperliche Triebe“ und sinnliche „Begierden“. Andererseits jedoch „gewinnt“ der Mensch „dadurch […] bedeutende andere“. Und Rousseau zählt mehrere solche Eigenschaften und Fähigkeiten auf. Unter anderem kommt der Mensch, indem er in den état civil übergeht, im wahrsten Sinne des Wortes zur „Vernunft“ und wird ein „intelligentes Wesen“; das wiederum verleiht ihm eine gewisse Freiheit von seinen „Neigungen“ und damit die Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung nach „Grundsätzen“; und schließlich untersteht sein Handeln fortan Prinzipien der „Gerechtigkeit“ bzw. „Sittlichkeit“, des „Rechts“ bzw. der „Pflicht“. Verkürzt auf das Wesentliche, kann man sagen, durch das Eingehen des Gesellschaftsvertrages wird der Mensch von einem vorvernünftigen, amoralischen und insofern unfreien Wesen in eines transformiert, das Vernunft, Moralität und Freiheit besitzt. In Rousseaus Rede von sittlicher Freiheit drückt sich demnach eine Anthropologie aus, die dem Menschen eine doppelte Motivationsstruktur zuerkennt.23 Neben sinnlichen verfügt der Mensch, zum Bürger erwacht, auch über rationale Handlungsmotive. Vermittels seiner Vernunft ist er aber nicht bloß in der Lage, Kosten und Nutzen einer beabsichtigten Handlung und deren voraussichtliche Folgen zu kalkulieren und auf diese Weise die Befriedigung gegenwärtiger und künftiger Interessen nach Maßgabe bisheriger Erfahrungen so wirkungsvoll wie möglich zu gestalten. Von viel größerer Bedeutung ist, dass die Vernunft seinem Handeln auch solche Grundsätze vorschreibt, die nicht im Dienst partikularer Neigungen stehen, bei denen es sich vielmehr um moralische Grundsätze handelt und die als solche eine allgemeine Geltung haben. Dabei ist zwar in beiden Betätigungsweisen der Vernunft Freiheit am Werk. Als rationales Wesen hat der Mensch eine gewisse Distanz zu dem, was ihn sinnlich einnimmt. Dieses bindet ihn nicht völlig und zwingt nicht unweigerlich zur Tat. Doch ist es eines, sich aus Gründen der Klugheit dazu zu entschließen, die Verwirklichung einer Absicht aufzuschieben oder ganz aufzugeben. Hier steht die Vernunft immer noch unter der Botmäßigkeit subjektiver Interessen; und es handelt sich um eine Freiheit des Entscheidenkönnens, die Rousseau umstandslos auch demjenigen zubilligt, der noch nicht Bürger (aber auch nicht mehr Bewohner des ursprünglichen Naturzustandes) ist.24 Etwas ganz anderes ist es dagegen für Rousseau, imstande zu sein, sich aus Gründen der Moralität über seine Sinnlichkeit hinwegzusetzen. Die liberté morale „allein (seule)“, wie er betont, macht „den Menschen zum wirklichen Herrn seiner selbst“. Und sie besteht, so lau23 Vielleicht sogar ein doppeltes Selbst. Zur Frage, inwieweit Rousseau eine substanzdualistische Anthropologie vertritt, was etwa sein Brief an den Pariser Erzbischof Christophe de Beaumont nahe legt (vgl. Lettre, 936), siehe Robert Derathé, Le rationalisme de Jean-Jacques Rousseau, Paris: P. U. F., 1948, S. 100 ff.; Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1959, S. 171 ff.; Leo Strauss (Fn. 6), S. 277 f. 24 Rousseau bezeichnet diese Freiheit im zweiten Discours als die „des Wollens oder vielmehr des Wählens (choisir)“: „Die Natur befiehlt jedem Wesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch fühlt gleichfalls ihr Drängen, aber er erkennt sich als frei (libre), um nachzugeben (acquiescer) oder zu widerstehen (résister).“ (DII, 141 f.) Der Mensch, von dem hier die Rede ist, ist jedoch schon vom pur état de nature abgefallen.

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tet die ebenso kurze wie bedeutsame Formulierung, im „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber gegeben hat“. Sittliche Freiheit kommt dem Menschen demnach aufgrund seiner Autonomie, seiner Fähigkeit zu moralischer Selbstgesetzgebung zu. Obwohl Rousseau im Contrat social einer genuin rechtsphilosophischen Problematik nachgeht, flicht er an zentraler Stelle doch unversehens Überlegungen ein, die dem gedanklichen Horizont des zweiten Discours entstammen und die geschichtsphilosophischer Art sind. Es ist gerade das Spezifikum der Rousseau’schen Vertragskonzeption, dass sie beides miteinander verquickt. Allerdings bürdet Rousseau dem Vertrag damit eine schwere Last auf, die dieser nicht zu tragen vermag. Denn die geforderte Denaturierung kann er kaum leisten. Ein Vertrag enkulturiert und zivilisiert Menschen nicht schlagartig, verwandelt nicht tierähnliche Wesen jählings in allgemeinheitsfähige Mitglieder einer moralischen Welt. All das kann nur das Resultat eines Werdeprozesses sein, der seine Zeit benötigt. Eine solche historische Langzeitperspektive jedoch widerstreitet der Augenblicklichkeit des Entstehens juridischer Vertragsfolgen. Für den Übergang von status naturalis und status civilis als realgeschichtliche Phasen, die sich durch unterschiedliche Realisationsformen menschlicher Daseinsmöglichkeit auszeichnen, ist der Vertrag gewiss eine verfehlte Denkfigur.25 Und mehr noch. Durch die Engführung rechtsphilosophischer und geschichtsphilosophischer Überlegungen untergräbt Rousseau sogar die Voraussetzungen seiner Gesellschaftsvertragslehre. Denn die positive anthropologische Auszeichnung des homme civil wirft seinen Schatten auf den homme naturel zurück und macht sich an diesem als dessen Mangel an den betreffenden Eigenschaften und Fähigkeiten bemerkbar. Nimmt man Rousseau beim Wort, muss man den Erstgenannten als dem vormoralischen Verständnis von Naturgesetz unterworfen ansehen. Jedoch, der unvernünftige, amoralische und unfreie Mensch ist kein Träger jenes Menschenrechts auf individuelle Selbstbestimmung, welches den systematischen Ausgangspunkt des Contrat social bildet, und damit kein Protagonist eines kontraktlichen Rechtsgeschäfts. Das trifft erst auf den Letztgenannten zu. Der Gesellschaftsvertrag scheint allererst zur Folge zu haben, was doch seine eigene Ermöglichungsbedingung ist, und das ist die Anwendbarkeit des moralischen Naturgesetzverständnisses.26

IV. Die Verbindung von Recht und Ethos Warum aber, so steht zu fragen, ist eine anthropologische Veränderung des Menschen überhaupt vonnöten? Warum glaubt Rousseau, der vertraglichen Gründungs25 Vgl. Wolfgang Kersting, Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002, S. 65 ff. 26 Vgl. Karlfriedrich Herb, „Zur Grundlegung der Vertragstheorie (I 1 – 8)“, in: Reinhard Brandt / Ders. (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin: Akademie Verlag, 2000, S. 40.

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geste politischer Gemeinschaften eine über alle Rechtsfolgen weit hinausgehende Wirksamkeit auferlegen zu müssen, die darin besteht, dass der Mensch sittliche Freiheit erlangt? Ich denke, dass man dem Contrat social in der Tat einen guten Grund entnehmen kann, der Rousseaus diesbezügliche Überlegungen bis zu einem gewissen Grad verständlich werden lässt. Ausgangspunkt ist weiterhin das Menschenrecht auf individuelle Selbstbestimmung. Wie gesehen, macht dieses Recht laut Rousseau ein demokratisches Herrschaftssubjekt alternativlos. Der, welcher Gesetze gibt, ist zugleich der, welcher von den Gesetzen betroffen ist. Es gilt die strikte Identität von Herrschenden und Beherrschten: der Souverän kann kein anderer als das Volk selbst, der Untertan muss zugleich Bürger sein. Doch damit hat es nicht sein Bewenden. Es ist keineswegs ausreichend, dass jeder an der Ausübung der Souveränität, der Gesetzgebung, bloß beteiligt ist, wie oben gesagt wurde. Das „Grundproblem“ der politischen Philosophie sieht Rousseau schließlich darin, eine Form des gesellschaftlichen Zusammenschlusses zu finden, in der ein jeder, indem er sich mit allen vereinigt, doch „nur sich selbst gehorcht“. Wann aber gehorcht der Einzelne nur sich selbst, wo er staatlichen Gesetzen gehorcht? Offenkundig nur dann, wenn er den betreffenden Gesetzen selber seine Zustimmung gegeben hat. Das erst ist der volle Sinn des Gedankens einer Verstetigung der ursprünglichen Vertragssituation, dass der nach Maßgabe eines Gesetzes ausgeübte Zwang vonseiten des Staates nur so als legitim gelten kann, dass der Untertan, gegen den sich der staatliche Zwang richtet, das Gesetz selbst gewollt hat – was, wie Rousseaus provokantes Diktum lautet, „nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein“ (CS, 364). Mit einem Wort, dem individuellen Freiheitsrecht wird nur dadurch wirklich entsprochen, dass die Mitglieder eines Gemeinwesens über die bloße legislatorische Partizipation hinaus Gesetze einstimmig verabschieden.27 Diese Argumentation findet im 2. Kapitel des „Vierten Buches“ ihre Bestätigung, welches „Von den Abstimmungen (suffrages)“ handelt. Dort schreibt Rousseau, „dass die Art und Weise, wie die öffentlichen Angelegenheiten behandelt werden, ein hinreichend sicheres Anzeichen für den gegenwärtigen Stand der Sitten (mœurs) und für die Gesundheit (santé) der politischen Körperschaft abgeben kann. Je mehr Übereinstimmung (le concert) bei den Versammlungen herrscht, das heißt je näher die Meinungen der Einstimmigkeit (unanimité) kommen, umso mehr herrscht auch der Gemeinwille (volonté générale) vor; lange Debatten (débats) jedoch, Meinungsverschiedenheiten (dissensions), Unruhe (tumulte) zeigen das Emporkommen von Sonderinteressen (intérêsts particuliers) und den Niedergang des Staates an.“ (CS, 439)28

Rousseau kommt zwar im Contrat social mehrfach auf das Thema Mehrheitsbeschlüsse und Majoritätsgrundsatz zu sprechen,29 anders aber als zum Beispiel Locke 27 Vgl. Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt: Primus 1996, S. 129. 28 Vgl. CS, 438. 29 Siehe etwa CS, 359.

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baut er die freiwillige Selbstverpflichtung, künftige Entscheidungen der Mehrheit als bindend anzuerkennen, nicht in den vertraglichen Konstitutionsakt des Staates mit ein.30 Der Gesellschaftsvertrag leistet gerade keine explizite Begründung des Prinzips der Majorität. Und er kann das auch gar nicht. Der rein formale Grundsatz der Stimmenmehrheit, wonach gilt, was auch immer die faktische, nicht weiter qualifizierte Majorität beschließt, wäre mit dem radikal freiheitsrechtlichen Legitimationsdenken von Rousseaus Vertragslehre nicht kompatibel. Mag die Einmütigkeitsbedingung auch ein Risiko für die Handlungsfähigkeit des politischen Körpers bedeuten, indem sie jedem Einzelnen nachgerade mit Vetomacht ausstattet, so ist sie doch durch das natürliche Recht eines jeden Einzelnen auf Selbstbestimmung unweigerlich vorgegeben. Die Dignität eines wahrhaften Gesetzes besitzt das Ergebnis einer Abstimmung idealerweise nur, wenn es die Gesamtheit der Bürger geschlossen und einhellig hinter sich weiß.31 Die naturrechtliche Forderung nach Einmütigkeit der Abstimmungen, so kann man nun weiter argumentieren, muss aber den Blick auf Vorbedingungen lenken, die bereits erfüllt sein müssen, damit bei Abstimmungen regelmäßig solche Einmütigkeit erzielt und damit dem Freiheitsrecht jedes Beteiligten Genüge getan werden kann. Diese Vorbedingungen sind aber nicht mehr selber juridischer Art. Tatsächlich lässt sich im Contrat social eine ganze Liste derartiger Bedingungen zusammentragen. Dazu zählt, um nur einige herauszugreifen, Rousseaus leidenschaftliches Plädoyer für den überschaubaren Kleinstaat nach dem Vorbild antiker Poleis: ein Gemeinwesen mit nicht allzu großer räumlicher Ausdehnung und geringer Bevölkerungszahl, in dem sich das Leben unter den Augen persönlich Bekannter abspielt und die gegenseitigen Loyalitäten durch alle Lebensbereiche hindurch entsprechend hoch sind.32 Ferner sein funktionales Verständnis von Religion, das die staatstheoretische Nützlichkeit eines bürgerlichen Glaubensbekenntnisses (religion civile) herausstellt, weil dieses dem Gesellschaftsvertrag zusätzliche Autorität ver30 Vgl. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 261 f. (§§98 f.). 31 Damit ist die Frage nach der legitimationstheoretischen Möglichkeit von Majoritätsvoten indes noch nicht abschließend beantwortet. Wenn in der Volksversammlung, so führt Rousseau im gleichen Kapitel aus, „die meiner Meinung entgegengesetzte siegt, beweist dies nichts anderes als dass ich mich getäuscht habe und dass das, was ich für den Gemeinwillen (volonté générale) hielt, es nicht war“ (CS, 441). Der Mehrheitswille als Entscheidungsregel besitzt für Rousseau unter gewissen Umständen sehr wohl staatsrechtliche Legitimität. „Dies setzt allerdings voraus, dass alle Kennzeichen des Gemeinwillens noch bei der Mehrheit sind: wenn sie dort nicht mehr sind, gibt es keine Freiheit (liberté) mehr, welche Partei man auch ergreift.“ (ebd.) Die Mehrheit ist dann und nur dann zur Gesetzgebung befugt, wenn sie Träger des Gemeinwillens ist. Auch wenn dieser Gedanke nicht ganz unproblematisch ist, ausschlaggebend bleibt, dass in dieser Qualifizierung der gesetzgebungsbefugten Majorität die Einstimmigkeit als legitimationstheoretisches Ideal aufrechterhalten bleibt: die abweichende Minderheit war nur in einem Irrtum befangen, sie hat aufgrund dieses Irrtums gegen ihren eigentlichen Willen entschieden, und sie wird nun von der gesunden Mehrheit zurecht- und zur volonté générale zurückgebracht. Vgl. Karlfriedrich Herb (Fn. 14), S. 205. 32 Siehe dazu die Kapitel 9 und 10 des „Zweitens Buches“ (CS, 386 ff.).

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schafft und das gesellschaftliche Band festigt.33 Des Weiteren spricht sich Rousseau wiederholt für eine möglichst homogene, ländlich geprägte Sozialstruktur mit kaum spürbaren Standes- und Klassenunterschieden oder sonstigen sozialen Differenzierungen aus, die der gesellschaftlichen Integration gefährlich werden könnten.34 Schließlich misst er jedweden Sitten (mœurs) und Gebräuchen (coutumes) bis hin zu Nationalkostümen eine nicht zu überschätzende Bedeutung bei; durch sie sind die Angehörigen eines Volkes zu einer Einheit verbunden und sichtbar von anderen Völkern unterschieden.35 Der Gesichtspunkt, unter dem die genannten und andere Faktoren für Rousseaus politische Philosophie relevant werden, ist der, dass es sich dabei sämtlich, wie der Sozialpsychologe sagen würde, um Kohäsionsfaktoren handelt. Sie sind geeignet, unter den Mitgliedern eines Gemeinwesens Zusammenhalt zu stiften und soziale Bindewirkungen zu erzeugen. Und darauf kommt es an, weil nur dann der souveräne Akt der Legislation mit großer Wahrscheinlichkeit und gewohnheitsmäßig einmütig vollzogen wird. Man kann diesbezüglich auch mit einem älteren Ausdruck von ‚Ethos‘ sprechen. Die von Rousseau ins Spiel geworfenen Vorbedingungen sind ethischer, gesinnungsbildender und gesinnungsstabilisierender Natur. Durch sie werden die Einzelnen über ihre subjektiven Interessen und partikularen Neigungen hinaus und zur Allgemeinheit erhoben. Sie werden im doppelten Sinne zu allgemeinen Wesen, denn sie begreifen sich als „gemeinsames Ich (moi commun)“ (CS, 361), wie Rousseau das Subjekt des Gemeinwillens fasst, und sie werden allererst empfänglich für die Erfordernisse des „allgemeinen Wohls (bien commun)“ (CS, 368),36 worin Rousseau das Objekt der volonté générale erblickt. Mithin setzt die volle Einlösung des Menschenrechts auf individuelle Selbstbestimmung eine sozial hoch kohäsive Gemeinschaft von Menschen voraus, die durch verlässliche und selbstverständliche lebensweltliche Übereinstimmungen im Denken, Fühlen und Handeln bestimmt sind: Menschen mit einem ebenso gemeinsam geteilten wie gemeinwohlorientierten Ethos.37 Siehe dazu Kapitel 8 des „Vierten Buches“ (CS, 460 ff.). Es ist eine Lehre aus dem zweiten Discours, dass soziale Ungleichheiten zwar nicht rundweg abzulehnen oder zu beseitigen sind, dass sie aber – weil sie nicht natürlich, sondern historisch entstanden und damit prinzipiell dem gesellschaftlichen Reformwillen zugänglich sind – unter Legitimitätsbedingungen stehen. Der Contrat social erklärt soziale Ungleichheiten (wie auch Wissenschaft und Kunst) dann auch für in dem Maße zulässig, als sie den Realisierungserfordernissen des individuellen Selbstbestimmungsrechts der Menschen nicht widerstreiten. Vgl. Dieter Sturma, Jean-Jacques Rousseau, München: C. H. Beck, 2001, S. 106. 35 Vgl. CS, 387, 394, 397, 439; Mœurs, 555; Pol., 962. 36 Vgl. CS, 437. An anderer Stelle ist die Rede vom „öffentlichen Wohl (utilité publique)“ (CS, 371) bzw. dem „allgemeinen Wohlergehen (bien-être général)“ (CS, 437). 37 Vgl. CS, 437, 438. Siehe dazu Wolfgang Kersting, „Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und „volonté générale“. Das systematische Zentrum der politischen Philosophie von Jean-Jacques Rousseau“, in: Ders. (Hrsg.): Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis, Baden-Baden: Nomos, 2003, S. 89. 33 34

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Recht und Ethos sind demnach im Contrat social unauflöslich miteinander verwoben. Bürgerliche Autonomie des Staates einerseits und moralische Autonomie der Person andererseits lassen sich nicht voneinander trennen. Vielmehr ist das Problem der politischen Herrschaftsorganisation und das des tugendhaften Lebens für Rousseau im Grunde nur eins.38 Denn das „Gesetz, das man sich selber gegeben hat“, sei es in öffentlichen Abstimmungen gemeinsam mit Anderen, sei es für sich allein in foro interno, ist grundsätzlich von ein und eben derselben Art. In beiden Fällen handelt es sich um nichts anderes als den Ausdruck des Gemeinwillens. Einziger Unterscheid ist, dass die Bestimmungen der volonté générale, indem diese sich im Zuge staatlicher Legislation äußert, nicht nur die Möglichkeit zu innerer Herrschaft des Einzelnen über seine partikularen Neigungen begründen, sondern darüber hinaus das rechtliche Charakteristikum äußerlicher Erzwingbarkeit erlangen. Indem Rousseau die legislatorische Souveränitätsausübung des Gemeinwesens in legitimationstheoretischer Hinsicht derart an die sittliche Freiheit der Einzelnen bindet, behauptet er die ethische Voraussetzungsbedürftigkeit des Rechts. Gesetze verdienen ihren Namen nur, wenn sie von tugendhaften Bürgern beschlossen sind; tugendhafte Bürger aber sind die, die ihre subjektiven Interessen jederzeit zugunsten des gemeinsamen Wohls zurückzustellen vermögen. Bloße Einmütigkeit bei den Abstimmungen ist also keinesfalls hinreichend. Die Einstimmigkeit muss vielmehr motiviert sein durch die allen Beteiligten gemeinsame Ausrichtung am bien commun. Legitime, mit Zwang bewehrte staatliche Gesetze gibt es für Rousseau nicht ohne Bürger mit habitualisiertem Gemeinsinn bzw., wie er sich auch ausdrückt, lebendiger „Vaterlandsliebe (amour de la patrie)“ (CS, 429)39. Und im Begriff des gemeinsam geteilten und gemeinwohlorientierten Ethos, das sich gleichermaßen in der moralischen wie der bürgerlichen Selbstgesetzgebung erneuert und bestätigt, kehrt auch der Autarkiegedanke des Discours sur l’origine wieder. Jetzt allerdings nicht mehr unter geschichtsphilosophischen Vorzeichen. So antwortet Rousseau auf die im 10. Kapitel des „Zweiten Buches“ gestellte Frage „Welches Volk ist also für die Gesetzgebung geeignet?“ unter anderem: das, welches „ohne andere Völker auskommen kann und dessen kein anderes Volk bedarf“ (CS, 390). Und kurz zuvor schreibt er, „dass das Land ausreichen muss zum Unterhalt seiner Bewohner und dass es so viele Bewohner geben soll, wie das Land er38 Vgl. Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 81999, S. 93 ff. 39 Vgl. DI, 9, 11, 24; DII, 112, 113, 119. Rousseau denkt die Einstimmigkeit, mit der Gesetze zu verabschieden sind, ganz offenkundig nicht als Resultat eines Diskurses. Die Möglichkeit eines über argumentative Verfahren erzielten Konsenses kommt für ihn nicht in Betracht. Sein Ideal ist vielmehr das der Unmittelbarkeit: wenn alle tugendhafte Bürger sind, Gemeinsinn besitzen und in der gelebten Gemeinschaftlichkeit aufgehen, sprechen sie unmittelbar mit einer Stimme. Dann muss man nicht diskutieren und verschiedene Interessen durch Kompromisse zum Ausgleich bringen. Und dieses Ideal rührt aus dem zweiten Discours her. So wie der Naturmensch völlig in der natürlichen Ordnung aufgeht, so soll der vergesellschaftete Mensch ganz an die sittliche Ordnung des Gemeinwesens hingegeben sein. Vgl. CS, 360 f., 381, 382, 394. Siehe dazu Wolfgang Kersting (Fn. 25), S. 112 ff.

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nähren kann“ (CS, 389).40 Im Hinblick auf die Wirtschaftsordnung der idealen Republik bevorzugt Rousseau bewusst eine einfache und bescheidene, vorwiegend rurale Lebensform hauswirtschaftlicher Selbstversorgung. Autarkie ist das volkswirtschaftliche Ideal: alles, was ge- und verbraucht wird, soll weitestgehend aus eigenen Ressourcen gewonnen werden können und so die ökonomische Unabhängigkeit des politischen Verbandes nach außen gewahrt bleiben.41 Rousseau restituiert damit in rechtsphilosophischen Zusammenhängen und auf höherer, kollektiver Ebene einen essenziellen Gedanken des zweiten Discours. Es ist das Gemeinwesen als Einheit, welches nun als Träger wahrer Bedürfnisse figuriert und das dem Aufkommen von Eigensucht wehren muss, das heißt von Bedürfnissen, die es nicht aus sich heraus befriedigen kann, durch die es vielmehr von außerhalb seines Einflussbereichs liegenden Quellen abhängig wird. In Wahrheit ist so auch der Contrat social nicht unwesentlich an der Vorstellung der Selbstgenügsamkeit orientiert: wie der Naturmensch allein für sich eine autarke Lebensweise pflegte, soll nun das republikanische Gemeinwesen ein être absolut sein, womit gewissermaßen die Ordnung der Natur (künstlich) wiederhergestellt wird. Das moi commun soll in sich ruhen und sich selbst genügen. Der Autarkiegedanke verdankt sich nun aber nicht einem Gedankenexperiment, sondern der Überlegung, dass ein Gemeinwesen, wenn es autark ist, darin eine Freiheit hat, die zwar an sich keine rechtliche, die aber doch rechtlich relevant ist. Man muss Rousseau so verstehen, dass das Streben nach Erhaltung ökonomischer Selbständigkeit des Gemeinwesens der „gemeinsamen Erhaltung (commune conservation)“ und dem „allgemeinen Wohlergehen (bien-être général)“ (CS, 437) förderlich ist. Es ist daher integraler Bestandteil des republikanischen Bürgerethos. Und weil dieses Ethos in Rousseaus Kontraktualismus seinerseits im Dienste der ungeschmälerten Realisierung des Menschenrechts auf Selbstbestimmung steht, ist auch das Bemühen um wirtschaftliche Autarkie, so muss man wohl sagen, mittelbar um dieses Rechts willen geboten. Abhängigkeit von Güterimport und mit ihr Handel und Geldwirtschaft jedenfalls haben, wie Rousseau gelegentlich feststellt, die Tendenz, das Gemeinschaftsethos zu schwächen und das Aufkommen von Sonderinteressen zu begünstigen42, und gefährden damit indirekt die Freiheit eines jeden. Mithin ist ökonomische Unabhängigkeit aus strikt freiheitsrechtlichen Gründen unerlässlich. V. Schluss Zweifellos kann man Rousseaus Überschwang, mit dem er im 8. Kapitel des „Ersten Buches“ den Eintritt in den Staat zum Akt der Menschwerdung verklärt, mit Rousseau selbst auf ein nüchternes Maß herabmindern. Der anthropologische Abstand zwischen prä- und postkontraktlichem Zustand muss keineswegs derart 40 41 42

Vgl. CS, 390; Bonheur, 512; Corse, 902, 1731 Anm. Vgl. Iring Fetscher (Fn. 38), S. 237. Vgl. CS, 389, 392, 428 f.; Pol., 1004 f.

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krass ausfallen, dass ein geradezu unvernünftiges, amoralisches und unfreies Tier durch das Eingehen des Gesellschaftsvertrages allererst zum Menschen metamorphosiert wird. Es genügt, mit Rousseaus eigener kulturkritischer Diagnose im Discours sur l’origine zu unterstellen, dass das Personal der gegenwärtigen Gesellschaft schlimmstenfalls aus selbstsüchtigen Egoisten besteht. Als solche jedoch verfügen sie durchaus über die den Menschen auszeichnenden Eigenschaften der Vernunft, Moralität und Freiheit. Die Veränderung, die der Gesellschaftsvertrag herbeiführen muss, fiele so jedenfalls deutlich geringer aus, womit mindestens die zweite der beiden oben vorgebrachten Schwierigkeiten der Rousseau’schen Argumentation hinfällig wäre. Der Mensch des vorstaatlichen Naturzustandes unterstände sehr wohl dem moralischen Verständnis von Naturgesetz und wäre damit ein Subjekt des Menschenrechts auf individuelle Selbstbestimmung. Die erste Schwierigkeit hingegen bleibt bestehen. Meiner im Vorstehenden skizzierten Argumentation zufolge zeigt Rousseau, dass das Menschenrecht aus sich selbst heraus keine freiheitliche Ordnung des Gemeinwesens verbürgen kann. Und er zeigt dies allein durch konsequente Ausschöpfung des natürlichen Rechts, was eine fundamentale Kritik am Kontraktualismus von Hobbes und Locke bedeutet; wird doch der Nachweis der ethischen Voraussetzungsbedürftigkeit des Rechts ausschließlich unter Rekurs auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen geführt, dessen Gültigkeit Hobbes und Locke gleichfalls präsupponieren. Damit aber bleibt ein gewisser, nämlich ein spezifisch ethischer, Wandel der Protagonisten des Gesellschaftsvertrages unerlässlich, ist doch dem zweiten Discours zufolge mit dem zeitgenössischen Menschen kein freiheitlicher Staat zu machen. Freiheit verträgt sich nicht mit der amour-propre, Selbstsucht ist eine unrepublikanische Charaktereigenschaft. Die Menschen müssen um der ungetrübten Verwirklichung ihres eigenen Freiheitsrechts willen zu anderen werden, als sie sind; sie müssen ihre Fähigkeit zu moralischer Selbstgesetzgebung entfalten und ineins damit unter anderem das ökonomische Selbstgenügsamsein des Gemeinwesens verinnerlichen. Der Gesellschaftsvertrag als solcher allerdings vermag dies kaum zu vollbringen. Als Rechtsakt kann er einen derartig fundamentalen Gesinnungswandel nicht instantan herbeiführen. Dafür ist vielmehr eine dauerhafte soziale Praxis, sind gemeinschaftliche Sitten und Gebräuche, eine alle Lebensbereiche mit einschließende Charakterbildung und Erziehung nötig. Und es müssen entsprechende Vorbedingungen erfüllt sein. Nicht nur das äußerliche Verhalten der Einzelnen soll ja aufeinander abgestimmt werden, wie es die Funktion des Rechts ist, die infrage stehenden Vorbedingungen sind eben solche, die sich auf die innere Einstellung eines jeden auswirken und ein dauerhaftes, allen gemeinsames gemeinwohlorientiertes Ethos befördern. Kurzum, in Rousseaus politischer Philosophie stehen zwei an sich durchaus veritable, aber nicht ohne Weiteres miteinander vereinbare Motive politischen Denkens zusammen.43 Der Vertragsgedanke scheint ein unpassendes Symbol für 43 Vgl. Ludwig Siep, „Vertragstheorie. Ermächtigung und Kritik von Herrschaft?“, in: Udo Bermbac / Klaus M. Kodalle (Hrsg.): Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre

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das Ethosdenken, das am Grunde des Rousseau’schen Kontraktualismus begegnet. Diese Spannung zwischen den geschichts- und den rechtsphilosophischen Elementen des Contrat social, zwischen Freiheit, Recht und Ethos lässt sich zuletzt nicht befriedigend auflösen.44

Summary The thought that arguably runs through the philosophical work of Jean-Jacques Rousseau and shapes it like no other is the idea of freedom. Rousseau’s writings are familiar with quite a variety of very different concepts of freedom, though. The paper shows that Rousseau’s political philosophy in the Contrat social seeks the sufficient condition for the legitimacy of state authority and legal coercion in the connection between law and ethos. Juridical freedom, i.e. the natural right of man to individual self-determination has its unadulterated reality within the living together with others only thanks to a welfare-oriented ethos he shares with his fellow human beings. Concerning this matter, Rousseau speaks of moral freedom. And therein lies another and third form of freedom, namely in the sense of autarchy; the republican ethos of citizens includes, among other things, the pursuit of the conservation of the economic self-sufficiency of the polity. By this connection between law and ethos, however, Rousseau’s contractualism gets caught up in argumentative difficulties which, after all, it cannot resolve satisfactorily.

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Stephan Zimmermann

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Zur Menschenwürde – On Human Dignity

Human Dignity and Biobanks* Kris Dierickx and David Kirchhoffer

I. Introduction Despite their potential benefits to medical research, biobanks pose several ethical challenges. This paper aims to demonstrate the added value of the concept of human dignity in both understanding and evaluating such challenges. First we introduce biobanks. Then we present the understanding of human dignity that we believe is most helpful to biobanks. Through the lens of this multidimensional understanding of human dignity we then detail some of the ethical challenges facing biobanks. We conclude by summarising what we believe to be the added value of human dignity in considering the ethical challenges facing biobanks. II. Biobanks: History, Context, and Potential The word biobank may be a new term, but the systematic collection of human tissue and cells has occurred for hundreds years.1 During the last decade or so, there have been significant developments within the life sciences that have increased the need for biological material and associated biographical data in the production of scientific knowledge.2 This need has led to mounting pressure for the creation of biobank networks on a transnational scale.3 Accordingly, a number of large biobanks have been established to meet these demands. Today, there is an extraordinary range of human tissue sources available to researchers. There are biobanks for brain tissue, breast tissue, blood, umbilical cord cells, and sperm, as well as targeted tissue repositories for the study of aging and diseases such as AIDS and Alzheimer’s. In the USA alone, there are estimated to be over 282 million archived and identifiable specimens from more than 178 million individuals. Some 20 million new specimens are being added each year.4 * A version of this paper in german language will be published in: Joerden / Hilgendorf / Thiele (eds.), Menschenwürde und Medizin, Duncker & Humblot, Berlin 2012. 1 Gottweiss 2008, 22. 2 See Fobelets / Nys 2009, 20. 3 See Shickle / Griffin 2009, 2 f. 4 Andrews 2009, 31.

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It is believed that the establishment and exploitation of such large, transnational biobanks, during a period of rapid improvements in large-scale research in cell and molecular biology, will enable new possibilities for health research, knowledge production, and the understanding of the progression, prognosis and eventual treatment of diseases.5 “Ultimately … biobanks might be an important step towards the improvement and development of preventive, genetic, and ‘personalized’ medicine,”6 although as yet there is little evidence of this. Yet, biobanks remain repositories of human biological specimens. These specimens may be named, unlinked from names, or carry codes for personal identification. And patients and research participants are not always aware that their tissue and medical records are being stored, compiled, used and shared with others. “Between newborn screening, routine medical visits, specialized research biobanks, forensic DNA banks, and so forth, virtually everyone in an industrialized nation has their tissue on file somewhere.”7 Thus, despite the unparalleled opportunities for important new research, “everyone has a stake in the policies that are created about tissue and data use in research.”8 One of the terms that might be used to give expression to this ‘stake’ is the idea of human dignity. Biobanks have both positive and negative potential consequences for human dignity.

III. Human Dignity and Its Ethical Relevance Not all references to human dignity are helpful in resolving ethical problems. Dignity is least helpful when it is either reduced to a single feature of the human person – e.g. autonomy or life – or appealed to as a sort of debate-ending trump card. The two are often closely related. Dignity is most helpful when it serves to remind us of the complex multidimensionality of human living and ethics, as well as the worth of each individual as a Gestalt and of her attempt to live her life meaningfully through the way in which she morally engages in her relationships. If we accept that all human beings have dignity because of the potential inherent in a broad range of capacities – including not only the traditional notions of reason and free choice, but also the capacities of emotion, affiliation, play, imagination, and so on –9 that enable them to engage in a morally meaningful way10 in the historically situated set of relationships in which they find themselves,11 and because Gottweiss 2008, 23; see Berg 2001, 67. Gottweiss 2008, 23. 7 Andrews 2009, 31. 8 Andrews 2009, 31. 9 See Nussbaum 2008, 299; Nussbaum 2006, 161 f.; Nussbaum 2000, 78 ff. 10 See van Tongeren 1994, 58; Taylor 1989, 112. 11 See Janssens 1980, 10. 5 6

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they acquire dignity as a sense of self-worth12 through these moral interactions, then to protect human dignity means to protect both the potential inherent in these capacities – regardless of whether or not they are developed to a significant degree – and the realised sense of self-worth that results from the development and application of these capacities in moral behaviour.13 Human dignity thus rightly refers to, and should never be separated from, the human person, who is a multidimensional existential being always in relationship with others and all of reality. Though this relatedness is a fundamental constituent of human dignity, for without it no life or moral interaction would be possible, it is at the same time an existential threat to dignity, because the relationships can also frustrate the development of capacities and the full realisation of a sense of selfworth. In other words, one’s relatedness both makes one’s dignity vulnerable to (perceived) violation, and is the necessary conduit for the (perceived) realisation of one’s dignity. This point is essential to understanding the ethical issues surrounding biobanks from the perspective of human dignity. Employed in the complex multidimensional manner described above, human dignity prevents us from reducing ethics to the simplistic application of one-dimensional legalistic solutions on the one hand, and encourages prudence and humility, on the other, by highlighting the tentative nature of both our individual moral behaviour and our collective mores (including laws) as mere attempts to realise the ultimately unattainable fullness of human dignity for all. IV. Human Dignity and the Ethical Challenges of Biobanks In light of the aforementioned understanding of human dignity, it should be clear that research that could lead to new cures, thereby reducing suffering and increasing the prospect of human flourishing, clearly recognises and furthers human dignity. The intention of such research clearly affirms the worth of human beings as individuals and as a species. Therefore, biobanks, as facilitating this kind of research, could likewise be seen as being for the ultimate good of human dignity in the broadest sense of promoting human flourishing. Yet, there are also several ethical issues that cannot be overlooked. Human dignity is a useful lens through which we can come to understand these issues. The central problem is that biobanking entails risks to one’s personal dignity without significant direct benefits. One quite literally invests a significant aspect of one’s identity (one’s genetic makeup)14 in something that is unlikely to give any direct therapeutic benefit, and over which one has little direct control.15 The storage 12 13 14 15

See Taylor 1989, 15, 23 ff.; Gilligan 1997, 45 ff., 110, 112. See Kirchhoffer 2009, 55 f., 63 ff. See Hauskeller 2004, 286 f. See Skrikerud 2009, 62 f.

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of and research on one’s genetic and biographical material increases one’s vulnerability to (perceived) violations of dignity, both as one’s sense of self-worth and as the conditions necessary for the realisation of one’s sense of self-worth, by increasing the scope and unpredictability of relationships to which one is knowingly or unknowingly exposed. Just about all ethical discussions concerning biobanks revolve around this central fact, and seek ways to minimise this existential risk to the dignity of particular individuals while maximising the benefit, either for the individual participant or for society as a whole. The problem is that every potential solution has its own advantages and disadvantages. 1. Data Protection and Anonymization The size of many biobanks, the sensitive character of the collected personal data, and the nature of the samples (e.g. as diseased in some way) are elements that justify considerable protection of these data. The fact remains, however, that there is no absolute guarantee that the samples, associated information, or research results will never be used for malicious purposes. This uncertainty and hence vulnerability means that participation in a biobank carries risks to a person’s dignity because it may lead to information or practices (e.g. genetic discrimination,16 breaches of confidentiality,17 damage to reputation)18 that place additional limits on a person’s potential to live a morally meaningful life. Anonymization of the samples is often proposed as a solution to these problems, but this is not always desirable from the perspective of the goods that could be realised by research. The more data available, the greater the potential for meaningful results, which would in the long run serve the cause of human dignity by improving the conditions necessary for human flourishing. To encourage the production of useful data for research, the number of people available and therefore the number of related samples are increasing. Moreover, for scientific reasons, public biobanks must allow access to the samples in order to insure that researchers are able to verify other researchers’ findings.19 In addition, recent literature has questioned whether full anonymization is actually feasible. The inherent richness of the data means that even ‘anonymized’ samples are potentially identifiable,20 which is problematic in light of the fact that one cannot absolutely guarantee that this data will never be used for malicious purposes. At present, multiple coding with several different key holders seems to

16 17 18 19 20

See McGregor 2007, 357 f. See Lunshof / Chadwick / Vorhaus / Church 2008, 407 f. See Cooper / Nelson / Friedman Ross 2004, 214 f., 217. See Helgesson / Dillner / Carlson / Bartram / Hansson 2007, 974. See Gertz 2004, 232, 235.

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form a strong, although not absolute, guarantee for the protection of participants’ privacy. Finally, anonymization actually weakens the participant’s position, because it makes it impossible for the researcher to return relevant results to the participant (2.); and impossible for the participant to review his consent or to ask for the destruction of his samples or the modification of his personal data (5.). 2. Return of Results Allowing one’s tissue to be used for research entails an existential risk that this research will discover something, for example, the discovery that one has a terminal disease, that would have significant implications for one’s attitude to life, sense of self-worth, and relationship to others. This discovery in itself is not a problem from the perspective of human dignity. What is done with the new information, however, could be. There are three major viewpoints concerning the return of relevant findings to individual biobank participants. The crux of the problem is an unavoidable tension, namely, that between the duties of researchers and the rights of participants. This is further complicated precisely because one could argue that participants have both a right not to know and a right to know. Similarly, researchers could be said to have a duty to inform, and a duty to respect the wishes of the participant not to be informed. A first line of thought is that individual research results should never be returned to research participants. For example, one could argue that once a participant has made a donation, either out of solidarity or for monetary gain, the link between the participant and her tissue is broken. The tissue is owned by the bank21 and so no obligation exists to inform the participant. One might also argue that since genetic results are usually inconclusive, informing the participant without the necessary genetic counselling and further investigation (which is beyond the scope of what a biobank or medical researcher should be expected to do) would cause anxiety for the participant and her immediate circle.22 From the perspective of human dignity, however, there is little to support this position, unless a participant expresses a wish not to know. It is true that such information can be life-changing, and may even have negative consequences, but this would not be a violation of dignity if due care was taken to help the person find an existentially meaningful way to deal with this new information and its effects. If anything, withholding this information is more of an offence to dignity because it wilfully denies the person information that is of existential significance for the realisation of a dignified life.

21 22

See Capron / Mauron / Elger et al. 2009, 109. See McGuire / Lupski 2010, 200.

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Hence, a second viewpoint states that individual results should be given to the research participants should they so wish, as a sign of respect for the autonomy of the individual participant. Autonomy is an important component of dignity. Autonomous moral behaviour is the means by which we realise our potential and acquire dignity as self-worth. Thus, the wishes of the participant to know or not to know should play an important role in policies regarding return of results. In the third position, participants have a right to individual research results if these are of clinical significance, scientifically valid and provide a potential benefit to the participants. This is more stringent than the former. Here one is not only seeking to respect autonomy. Indeed, this position may even go so far as to override autonomy because not to do so would be an offence to dignity. Consider, for example, a researcher inadvertently discovers that a participant has HIV. Surely a person should be informed of his status even if he does not himself wish to know it, because not to inform him would be an offence both to his dignity as a morally responsible human person, and to the dignity of those who may have sexual relations with him? If they were to contract HIV through sex with him it would place an avoidable additional limitation on their lives and hence on their capacity to realise the fullness of their dignity. Indeed, one could argue that not informing such a person of his status makes the researcher and / or the biobank morally culpable for the avoidable infection of others. The realised dignity of the researchers in this case would then also be diminished. And if the researchers were obliged not to inform, such an obligation would constitute an offence to the dignity of the researcher, the dignity of the participant, and the dignity of those closest to the latter. At the same time, however, this viewpoint does not mean that biobank researchers have a duty to search actively for these kinds of findings. That is not their purpose, and to expect them to do so could arguably be seen as an offence to their dignity, since they find meaning and purpose not as diagnosticians but as researchers. It is as researchers that participants expect them to act, and so, to oblige the researchers to also act as diagnosticians would also be an offence to the dignity of the participants who donated because they believed in the goals of the research as meaningful and valuable to society and not under the illusion of some therapeutic benefit for themselves. 3. Access to Samples Biobanks are not inexhaustible resources. Therefore, it is important to ask which researchers or kinds of research should be allowed to use the limited number of samples available. This requires a thorough reflection on the optimal and prudent use of such samples if the research conducted is to really aim at maximizing longterm human flourishing. Not to do so with the appropriate gravitas would constitute an offence to the dignity of the donors who believe in the meaningfulness and value of their donation for the good of others. Their morally good action would be cheapened. This is arguably even more relevant when samples were taken unknowingly

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or are from deceased persons. The biobank bears an even greater responsibility to ensure that the ‘sacrifice’ of such ‘unwitting’ donors (bearing in mind the fact that the risks described in 1. above apply as much to the reputation of dead as of living individuals) is appropriately used for the greater good. Generally, biobanks will only make samples available for research that is compatible with the general goals underpinning the biobank’s establishment, for example, for the study of a specific disease. An independent ethics committee should play a major role in evaluating the applications for access to ensure that these goals are met and to avoid possible abuse. Furthermore, in the literature there is no consensus on whether biobank donors or participants should have a say on the goals for which their samples will be used. In this regard it is important to bear in mind that the potential benefits of research conducted on biobank samples is maximized when no restriction is placed on the kind of research that may be conducted; one cannot know where medical research will lead in the future and what kinds of research will be desirable. Some commentators claim that participants in a biobank should not have the right to determine the goals of research, precisely because the objectives of future research are not always clear at the moment of procurement. From the perspective of human dignity, this position favours the dignity of human persons in general by giving priority to the good that may result from potential research rather than to the specific wishes, and hence acquired dignity, of a specific participant. Other authors state that the participants should have the right to limit the scope of use or at least to limit the further use of biobank samples beyond the original goals. From the perspective of human dignity, there may be several reasons for this. Most notably, since a person’s meaning-making and moral behaviour is part of her acquired dignity, not to respect morally meaningful convictions could be considered an offence to human dignity. For example, to use a person’s tissue to generate embryonic stem cells or human-animal chimeras may be counter to a person’s moral convictions. Moreover, in the case of children, it has been questioned whether the right to make decisions on behalf of children should include the right to give broad consent to any future unspecified genetic research on these samples. This belief is based on the idea that children are allowed to develop and express their own values – the development and realization of the dignity inherent in their human capacities – as they grow older, and that these values – as expressions of their dignity – should be respected. Since medical research is not value free, because it furthers the values of specific researchers and institutions, for example research into transhumanism or reproductive technologies, a child who has yet to form such values of his own should not unknowingly and unwillingly have his genetic material, which as already mentioned is constitutive of his identity, used for such value-loaded research.

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4. Benefit Sharing Benefit sharing constitutes a symbol of the recognition of public interest by creating an element of solidarity between the research community and the public. It is, if you will, a concession to the ‘risks’ to dignity described above, by trying to offer at least some form of benefit. Proponents of benefit sharing argue for the recognition of a more active participation of the public in large-scale research projects in which, at least in the short run, there is no direct therapeutic benefit for the participants. Since the realisation of dignity is at least in part accomplished through morally good behaviour, by acknowledging the participants contribution, for example as an act of solidarity, the participant stands to gain in standing as a morally reputable person and hence as a person of dignity, thereby offsetting other risks. Note, however, that benefit sharing is a multilayered container concept with many different aspects. Biobank projects may only in the future (if at all) produce health or monetary benefits and these benefits are hardly measurable in an exact way. Therefore, the rules and techniques of distributing these positive outputs are also unclear. Moreover, it has to be taken into account that most of the funds for biobank projects are currently provided from public sources. So compensating the public at large would be equal to sending taxpayers’ money back to taxpayers. Sharing the generated benefits only with the donors or research participants, however, would actually create problematic financial incentives for participating in research. Ironically this could diminish the ‘moral goodness’ feature of participation and hence the value for a person’s acquired dignity. On the one hand, the existence of financial incentives themselves could be considered as unethical, for example by ‘objectifying’ the body. Financial incentives could also lead to an overrepresentation of groups that are economically vulnerable. In some societies such groups are also dominated by genetically identifiable minorities. While their financial status may have nothing to do with their genetic makeup, the consequently skewed nature of the data enhances the risk of ‘genetic prejudice’ against such groups for no other reason than that other groups are under studied. This would clearly constitute an offence to human dignity because it would not acknowledge the members of such minorities as individual persons trying to live morally meaningful and dignified lives. Furthermore, the realisation of the dignity of those who adopt such prejudice is equally limited: their unwillingness to recognise and further the dignity of other human beings constitutes immoral behaviour which diminishes rather than confers dignity. 5. Consent The ethical issue most broadly discussed is consent. Traditionally, in the context of research, informed consent assumes a fully informed, mostly written consent by a participant to a specific research proposal. In traditional research fields this is necessary because the research, for example participation in a clinical trial, constitutes

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a direct threat to the physical well-being of the patient. It is debatable, however, whether this kind of consent is appropriate for the inclusion of samples in biobanks. The ‘risk’ in biobanks, as already pointed out, is far more existential, in the sense that one may end up unwittingly contributing to ends against one’s moral convictions, or information about one may be used for malicious or discriminatory purposes. It is not only unclear whether this consent should be a formal, written consent or an oral consent; there is also wide discussion on the nature of this consent: should a presumed consent be sufficient, or is an explicit consent required? And if explicit, is a blanket consent sufficient or should the participant be contacted for each new use of her sample? Ironically, human dignity can be used to underpin arguments for all three. For example, in the case of presumed consent it could be argued that since human dignity is acquired and realised through morally good behaviour for the good of others, it is assumed that since biobanks serve the good of others and their flourishing, one would naturally want to contribute. In the case of a blanket consent, one could argue that consent is necessary to acknowledge the morally good act of the individual participant as an autonomous individual and thereby actively enhance his dignity. Finally, in the case of specific consent for each use, one could argue that this not only respects a person’s dignity by seeking to avoid exposing them unwittingly to research that they may in principle oppose, but also because this kind of ongoing contact may actually improve their sense of contributing to the good and hence their acquired dignity.

V. Human Dignity as Interpretive Lens and Normative Vision In this paper we have seen human dignity used to support, critique, and understand various positions in biobanking. The fact that it has been employed in different arguments should not however mean that it is “useless”23. On the contrary, as a concept that refers to the worth of every human being as a meaning-seeking and meaning-giving multidimensional moral person embedded in a world in which disvalues are so ubiquitous that almost no moral behaviour can be perfectly good, human dignity is very valuable. A multilayered understanding of human dignity that captures the multidimensionality of the human person enables us to affirm that all of the above ‘solutions’ to the ethical issues facing biobanking are in their way trying to do good and avoid evil. They all attempt to grapple with the problem that every ethics committee must face: respect and protect the dignity of research participants; further the dignity of those who potentially benefit from the research.24 The solutions that are proposed all depend on the anthropological, philosophical, and sometimes religious presupposi23 24

Macklin 2003. See Auray-Blais / Patenaude 2006.

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tions of the proposers. Therefore, as much as they all might be trying to serve the normative vision of a world in which human dignity can be fully realised, they cannot be expected to come up with perfect solutions. For this reason, a broad multidimensional understanding of human dignity is vital in the day to day practice of biobanks. How people are shown respect can vary, but that they are shown, and feel that they have been shown respect is vital.25 For some this may mean not feeling compelled to participate, for others, this may mean being left alone after they have given their sample, for some this may mean feeling like they are able to actively participate in decisions regarding their samples, and in the ongoing successes of genetic research in general. All of these ways of engaging with biobanking will be existentially meaningful to the people who choose them. Ultimately, therefore, a multidimensional understanding of human dignity shows that sometimes the only solution is a compromise. This should always be done with an awareness of the necessary gravity for those who may be compromised. Thus, though policy-makers may believe that biobanks may significantly benefit the public, they cannot make those who don’t believe this, believe it. At best, they can ensure that a person’s potential to live a meaningful life (their inherent dignity) is not compromised, and this should be done by at the very least making it possible to opt out.

Zusammenfassung Trotz ihres potentiellen Nutzens für die medizinische Forschung stellen sich im Zusammenhang mit Biobanken einige ethische Probleme. In diesem Artikel versuchen wir aufzuzeigen, welche Bedeutung die Menschenwürde sowohl für das Verständnis als auch für die Bewertung dieser Probleme haben kann. Zunächst werden wir das Phänomen Biobank vorstellen. Im Anschluss daran werden wir ein Verständnis der Menschenwürde darlegen, von dem wir glauben, dass es für die Bewältigung des Problemkreises Biobank am hilfreichsten ist. Aus dem Blickwinkel dieses – noch zu erläuternden – mehrdimensionalen Verständnisses werden wir schließlich einzelne Probleme eingehender erörtern. The authors gratefully acknowledge the financial support of the European Commission under the DISC REGENERATION project (NMP3-LA-2008-213904)

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Eugenische Entscheidungen und natürliche Grundgüter Daniel C. Henrich

I. Einleitung Biotechnologien sind in vielen Bereichen auf dem Vormarsch. Innerhalb der Reproduktionsmedizin haben sie unter anderem neue eugenische Handlungsoptionen eröffnet, die auch in ethischer Hinsicht relevant sind.1 Bereits Ende der 1970er Jahre wurde es durch die In-Vitro-Fertilisation (IVF) möglich, Embryonen im Reagenzglas zu erzeugen, was neben einer verbesserten Infertilitätsbehandlung auch eine neue Form des Zugriffs auf den Embryo zur Konsequenz hatte. Mit der Entwicklung der Präimplantationsdiagnostik (PID) Anfang der 1990er Jahre konnte dann eine genetische Analyse des Embryos vor der Transplantation in die Gebärmutter durchgeführt werden, wodurch die Möglichkeit entstand, mehrere Embryonen im Hinblick auf zuvor festgelegte Kriterien zu vergleichen und anschließend nur jene Embryonen für eine Implantation auszuwählen, die diesen Kriterien entsprechen. Auch wenn die Anwendung dieser Technologie in Deutschland noch auf medizinische Indikationen beschränkt ist, besteht doch die Option, sie auch für nicht-medizinische Zwecke zu verwenden. So ist es etwa in den Vereinigten Staaten bereits heute erlaubt, die PID für die so genannte ‚sex selection‘ einzusetzen: In diesem Fall können Eltern einen Embryo für die Implantation auswählen, der dem von ihnen gewünschten Geschlecht entspricht. Eine noch umstrittenere Anwendungsmöglichkeit, für die es allerdings keine rechtliche Grundlage gibt, stellt das so genannte ‚designer disability‘ dar: Hier würden die entsprechenden Biotechnologien genutzt, um Kinder mit spezifischen Behinderungen wie etwa Taubheit oder Kleinwüchsigkeit für die Implantation auszuwählen. Von Seiten einiger Betroffener besteht durchaus der Wunsch, den Einsatz der PID auch für diesen Zweck zu öffnen.2 Dahinter steht die Überzeugung, dass auch vorgeblich physische Behinderungen oft sozial konstruiert sind und das Verbot ihrer Erzeugung ideologische Vorurteile perpetuiere.

1 Für einführende Überlegungen zum Thema Gendiagnostik und Gentherapie siehe Düwell, Marcus, „Bioethik“, Stuttgart, Metzler, 2008, 214 ff. 2 Vgl. Spriggs, M., „Lesbian Couple Create a Child Who Is Deaf Like Them“, in: Journal of Medical Ethics, 28, 2002.

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Da eine direkte Veränderung des embryonalen Genoms allerdings (noch) nicht möglich ist, können die durch pränatale Diagnostik erhobenen Daten bisher nicht als Grundlage für eine direkte Veränderung des Genoms verwendet werden. Sie dienen daher derzeit nur als Entscheidungsgrundlage für oder gegen die Selektion einzelner Embryonen.3 Langfristig sind allerdings auch direkte Eingriffe in das Genom eines Menschen denkbar, um dieses nach spezifischen Vorstellungen zu transformieren (genetic engineering). Im Folgenden möchte ich mich ausschließlich mit den ethischen Implikationen dieses (Zukunfts)Szenarios beschäftigen.

II. Eugenik und natürliche Bestimmtheit Im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachraum, in dem sich die Bezeichnung ‚new‘ oder ‚liberal eugenics‘ eingebürgert hat, existiert in Deutschland eine historisch bedingte Zurückhaltung, das Thema unter diesem Label zu behandeln. Ihre Vertreter weisen allerdings darauf hin, dass sich die ‚neue Eugenik‘ in zentralen Punkten von der so genannten ‚alten Eugenik‘ unterscheide und nicht mit deren Methoden gleichzusetzen sei: Im Gegensatz zur ‚alten Eugenik‘ habe die moderne Anwendung nämlich nicht das Ziel, eine autoritär geführte Verbesserung der Rasse durchzusetzen, sondern beabsichtige vielmehr, den Eltern selbst die Entscheidung über die genetische Ausstattung ihrer Kinder zu überlassen. Dies ist allerdings kaum ausreichend, um eine Orientierung an spezifischen Gütern und einer Konzeption des Guten tatsächlich überflüssig zu machen. Wird diese Orientierung nämlich abgelehnt und der Freiheitsbegriff der liberalen Eugenik ausschließlich als Entscheidungsfreiheit der Eltern verstanden, besteht erstens die Gefahr, dass eine Praxis, wie die des ‚designer disability‘ nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Eine weitere Gefahr liegt darin, dass die bestehenden sozialen Bedingungen sozusagen a tergo über die eugenischen Entscheidungen (mit)bestimmen: Viele Eltern würden sich für bestimmte Eigenschaften wie etwa Hautfarbe oder Geschlecht entscheiden, weil dies den höchsten Nutzen für sie oder das zukünftige Kind verspricht. Mittel- oder langfristig führen solche Entscheidungen aber zu einer Verstärkung bereits existierenden Vorurteile und zu gesellschaftlichen Einseitigkeiten, die erhebliche ethische und soziale Konflikte mit sich bringen können. Interessant ist, dass diese Gefahr, wie angedeutet, auch nicht dadurch behoben werden kann, dass man ausschließlich die Interessen der zukünftigen Personen ins Zentrum stellt. Indem die liberale Position also versucht, autoritäre und paternalistische Aspekte durch den Ausschluss expliziter Aussagen über Güter und ein gutes Leben zu ver3 Vgl. Buchanan, Allen E. / Brock, Dan W. / Daniels, Norman, „From chance to choice“, Cambridge, Cambridge University Press, 2001, S. 242. Vgl. auch Düwell, Marcus (Fn. 1), S. 214.

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meiden, leistet sie unter der Hand womöglich gerade schädlichen oder antipluralistischen Tendenzen Vorschub und nähert sich damit zumindest im Ergebnis der ‚alten‘ Eugenik erneut an.4 Nicholas Agars Ansatz einer liberalen Eugenik versucht, diesen Problemen durch eine Orientierung an der Autonomie zukünftiger Personen zu begegnen: Bisher, so Agar, standen Lebensentwurf und Individuum in einem direkten Ausdrucksverhältnis: Der Lebensentwurf eines Menschen brachte ausschließlich dessen Wünsche und Absichten zum Ausdruck. Mit der Möglichkeit, einen Menschen bereits vor seiner Geburt auf bestimmte Eigenschaften festzulegen, ändere sich dies jedoch: Der Lebensentwurf könne nun zumindest teilweise zum Ausdruck der Interessen anderer Personen werden, womit langfristig die Gefahr einer Vereinheitlichung der Lebensentwürfe (‚emptying of lifeplans‘) entstehe – dies entspricht dem, was oben als antipluralistische und doktrinäre Tendenz bezeichnet wurde. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, schlägt Agar vor, sich bei pränatalen Eingriffen ausschließlich an der Autonomie der zukünftigen Personen zu orientieren und nicht die Interessen und bevorzugten Güter der Entscheidungsträger als Maßstab zu verwenden. Nur wenn die Eingriffe keine Einschränkung der betroffenen Person zur Konsequenz hätten, sei ihre Anwendung daher ethisch legitim. Vor diesem Hintergrund entwickelt Agar ein an John Rawls orientiertes ‚güterethisches Maximin-Prinzip‘ gentechnischer Transformation, dessen Ziel nicht vorrangig darin besteht, eine zukünftige Person mit bestimmten als positiv eingeschätzten Eigenschaften auszustatten, sondern welches an der Frage orientiert ist, wie sehr die genetische Transformation den zukünftigen Menschen dabei unterstützt, seine eigenen Vorstellungen umzusetzen. Genetische Manipulation wäre demnach genau dann legitim, wenn ihre Folgen zur Unterstützung aller denkbaren Lebensentwürfe der zukünftigen Person beitragen. Goods of genetic engineering must be allocated to an individual in a way that improves prospects associated with all possible life plans – most especially the worst off potential life plan.5

Gibt man zu, dass dieses Prinzip aufgrund der Fokusierung auf abstrakte Eigenschaften wie mentale und motorische Fähigkeiten den impliziten Antipluralismus liberaler Eugenik möglicherweise vermeiden kann, so lässt sich doch argumentieren, dass jeder Eingriff in das Genom einer zukünftigen Person die Festlegung auf die Vorstellungen eines fremden Willens beinhaltet – selbst wenn diese hochabstrakt bleibt. In diesem Sinne ist die Erhöhung des Autonomiepotentials durch einen pränatalen gentechnischen Eingriff notwendigerweise ausgeschlossen oder zumindest eingeschränkt, da dieser immer Ausdruck eines fremden Willens ist und damit eine spezifische Form der Fremdgestaltung beinhaltet, die ohne Zustimmung der betrof4 Vgl. Sparrow, Robert, „A Not-So-New Eugenics“, in: Hastings Center Report, 41, 2011. Siehe auch. Buchanan, Allen E. / Brock, Dan W. / Daniels, Norman (Fn. 3), S. 177. 5 Agar, Nicholas, „Liberal Eugenics“, in: Public Affairs Quarterly, 12, 1998, S. 178.

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fenen Person vollzogen werden muss. Der im pränatalen Stadium vorgenommene Eingriff ordnet nämlich das ursprünglich nach natürlichen, also nicht-intentionalen Mustern zusammengesetzte materiale Substrat der zukünftigen Person, ihre ‚natürliche Bestimmtheit‘, im Sinne intentionaler Subjektivität ohne ihre Zustimmung neu an und impliziert daher notwendigerweise eine spezifische Form der Fremdbestimmung. Allerdings ergibt sich der normative Charakter der natürlichen Bestimmtheit nicht aus der Natürlichkeit des materialen Substrats als solcher, sondern ex negativo aus der Tatsache, dass der Eingriff die Zustimmung der betroffenen Person nur unterstellen und nicht voraussetzen kann. In diesem Sinne bildet die ‚natürliche Bestimmtheit‘ die Grundlage der unversehrten Leiblichkeit des Menschen. Plädiert man daher dennoch für die ethische Legitimität der pränatalen Eugenik, muss man zugestehen, dass jeder Eingriff in das Genom eines zukünftigen Menschen – gleichgültig ob er sich an der Autonomie der kommenden Person, an ihrer Gesundheit oder anderen natürlichen Gütern orientiert – mit dem ethischen Imperativ, diese Natürlichkeit zu schützen, kollidiert und daher einen Güterabwägungsprozess impliziert. Intuitiv wird uns diese Unvermeidlichkeit des Güterbezuges auch daran deutlich, dass wir gegenüber therapeutischen Eingriffen weniger skeptisch wären als gegenüber verbessernden Eingriffen (Enhancement) – selbst wenn diese an der Autonomie der zukünftigen Person orientiert wären. Das liegt daran, dass wir das Gut der Gesundheit intuitiv höher einschätzen und eine ex post Zustimmung der betroffenen Person für wahrscheinlicher halten als im Falle des Eingriffs zum Zwecke der Verbesserung (Enhancement). Die Bezugnahme auf spezifische Güter, von denen wir annehmen, dass sie jeder Mensch benötigt oder zumindest erstrebt, ist demnach zum Zwecke der ethischen Legitimierung (mindestens) immer dann notwendig, wenn eine Zustimmungsoption der betroffenen Person real nicht gegeben ist – eine Handlungsenthaltung aber ebenfalls keine Option darstellt. Im folgenden Abschnitt soll diese These noch einmal kurz anhand einer Kritik des Ansatzes von Jürgen Habermas verdeutlicht werden.6 Für Jürgen Habermas spielt der Aspekt der Fremdgestaltung für die ethische Beurteilung eugenischer Eingriffe im pränatalen Zustand eine zentrale Rolle. Seiner Auffassung nach entsteht durch den eugenischen Eingriff im pränatalen Stadium nämlich die Gefahr, dass „die kategoriale Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Naturwüchsigkeit und Gemachtem“ unterminiert wird, was wiederum „die Selbstverständlichkeit stören könnte, mit der wir als Leib existieren oder gewissermaßen unser Leib ‚sind‘“7. Mit dieser Kritik bezieht sich Haber6 Zu einer detaillierten Kritik des Ansatzes von Habermas vgl. Henrich, Daniel C., „Human Nature and Autonomy“, in: Ethical Perspectives, 2011. 7 Habermas, Jürgen, „Die Zukunft der menschlichen Natur auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Erweiterte Ausgabe“, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2005, S. 77.

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mas genau auf jene Fremdgestaltung, die hier als unvermeidbare Konsequenz jedes pränatalen eugenischen Eingriffs bezeichnet wurde. Obwohl Habermas damit einerseits grundlegende Gründe gegen jeden eugenischen Eingriff formuliert, hält er andererseits dennoch an ihrer ethischen Legitimität zum Zwecke der Therapie fest.8 Habermas selbst begründet dieses Vorgehen mit der Bezugnahme auf die „Logik des Heilens“9: In dieser stellen wir uns „auf den Embryo als die zweite Person ein, die er einmal sein wird“10. Somit ist die Legitimierung eugenischer Eingriffe nach Ansicht von Habermas möglich, „weil sich ein unterstellter Konsens nur auf die Vermeidung unzweifelhaft extremer Übel beziehen [kann], die, wie erwartet werden kann, von allen abgelehnt werden“11. Damit behauptet Habermas, dass die Gefährdung der Unterscheidung von Objektivität und Subjektivität – also die Gefährdung dessen, was hier als ‚natürliche Bestimmtheit‘ bezeichnet wurde – genau dann akzeptabel ist, wenn man Gründe für die Annahme hat, dass der zukünftige Mensch dem Eingriff zustimmen würde. Allerdings bleibt völlig unklar, weshalb ein Eingriff zur Verbesserung bestimmter Eigenschaften den Embryo nicht ebenfalls als zweite Person adressieren können soll. Gerade in Bezug auf hochabstrakte Güter wäre dies nämlich durchaus naheliegend. Habermas’ Argumentation ist ein Versuch, die Bezugnahme auf spezifische Grundgüter zu vermeiden12, weil er grundlegende Annahmen seiner praktischen Philosophie, der Diskursethik – und mit ihr spezifische deontologische Überzeugungen – im Rahmen der Eugenikdiskussion fruchtbar machen möchte. Allerdings ist die ethische Legitimierung prinzipiell problematischer Handlungen aufgrund eines unterstellten Konsenses auch und gerade im Rahmen der Diskursethik nicht einholbar: Denn für diese ist eben nur die tatsächliche (und nicht die unterstellte) Ja / Nein Stellungnahme diskursfähiger Personen maßgebend. Dies wird vor allem an der Kritik der monologischen Struktur des Kategorischem Imperativs bei Kant deutlich: Habermas kritisiert hier, dass die Verallgemeinerungsprüfung der Interessen aller betroffenen Personen nicht nur, wie bei Kant, präsumtiv sondern in einem realen Diskurs berücksichtigt werden müssen.13 Dass sich Habermas angesichts der ethischen Herausforderungen, die durch die Anwendung der Eugenik innerhalb der Reproduktionsmedizin entstehen, auf das Konzept eines unterstellten Konsenses beziehen muss, zeigt also dass die Rahmen-

Ebd. S. 79 ff. Ebd. S. 79. 10 Ebd. S. 78. 11 Habermas, Jürgen (Fn. 7), S. 79. Hervorhebung D.C.H. 12 An anderer Stelle lehnt Habermas den Bezug auf ‚genetische Grundgüter‘ explizit ab. Vgl. Assheuer, Thomas / Habermas, Jürgen, „Auf schiefer Ebene. Ein Gespräch mit Jürgen Habermas über Gefahren der Gentechnik und neue Menschenbilder“, in: Die Zeit, 2002. 13 Vgl. etwa Habermas, Jürgen, „Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: Habermas, Jürgen, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2001, S. 77. 8 9

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bedingungen der Konfliktsituation eine strikt diskursethische Argumentation – und damit auch die darin enthaltenen deontologischen Annahmen – nicht mehr zulassen. Habermas‘ Rede vom unterstellten Konsens erweckt nur den Anschein, noch in der Tradition einer Ethik des Diskurses zu stehen – in Wirklichkeit orientiert sich der unterstellte Konsens aber an Gütern, deren von der zukünftigen Generationen geteilte Bedeutung den rationalen und ethischen Kern der Unterstellung ausmacht. Es geht um die Orientierung an „certain primary goods […] that every rational man is presumed to want“14.

III. Eugenik, Grundgüter und die Konzeption des Guten Die bisherigen Überlegungen sollten die These verteidigen, dass jeder pränatale eugenische Eingriff die Orientierung an spezifischen Gütern voraussetzen muss, da die Zustimmung der betroffenen Person nur unterstellt werden kann. Im letzten Abschnitt möchte ich unter anderem erörtern, ob die Bezugnahme auf spezifische Grundgüter innerhalb einer rein liberalen Position, die auf eine starke Bestimmung des guten Lebens verzichten muss, möglich ist. Für diesen Zweck ist vor allem der Ansatz von Fritz Allhoff instruktiv, da er das Konzept der Grundgüter („primary goods“) von John Rawls auf die Debatte über die moralische Legitimität eugenischer Eingriffe anwendet.15 Dieses Konzept ist vor dem Hintergrund der bisherigen Argumentation vor allem deshalb interessant, weil Rawls mit dem Begriff der Grundgüter die Möglichkeit einer rationalen Zustimmung ohne realen Diskurs verknüpft. Dies ist möglich, weil er die Grundgüter, wie oben zitiert, so definiert, dass sie von jedem vernünftigen Wesen angestrebt werden. Im Folgenden möchte ich daher zunächst etwas näher auf die Bedeutung der Grundgüter innerhalb der Theory of Justice eingehen, um anschließend zu verdeutlichen, dass sie nicht in der Weise moralisch neutral sind, wie Rawls behauptet: Die systematische Funktion der Grundgüter in A Theory of Justice besteht darin, den im Urzustand („original position“) verhandelnden Individuen eine ‚Verhandlungsmasse‘ zur Verfügung zu stellen, ohne die eine Einigung auf die Prinzipien der Gerechtigkeit aufgrund der speziellen Wissensbedingungen des Urzustandes („veil of ignorance“) nicht möglich wäre. Da aufgrund dieser Beschränkungen niemand weiß, welches Leben er führen und welche spezielle Vorstellung des Guten er bevorzugen wird, ist der Abstraktionslevel der Grundgüter so hoch anRawls, John, „A theory of justice“, Cambridge, Mass, Belknap Press, 1971, S. 62. Allhoff, Fritz, „Germ-line genetic enhancement and Rawlsian primary goods“, in: Kennedy Institute of Ethics journal, 15, 2005. Allhoff verbindet mit seinem Ansatz zugleich den Anspruch, eine Alternative zu utilitaristischen Positionen vorzulegen. Vgl. ebd. 48 f. Auch Rawls geht in A Theory of Justice kurz auf das Problem der Eugenik ein. Vgl. Rawls, John (Fn. 14), S. 107 f. 14 15

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gelegt, dass „these goods normally have a use whatever a person’s rational plan of life“16. In diesem Sinne treten die Grundgüter als eine Art ‚Allzweckmittel‘17 in Erscheinung, deren Bedeutung angesichts der vorhergehenden Überlegung offensichtlich wird: Denn unter Bezugnahme auf diesen Begriff ist es nun möglich, zu postulieren, dass die zukünftige Person – Allhoff spricht im Hinblick auf Eingriffe in die Keimbahn sogar von „every future generation” – dem Eingriff zustimmen wird, insofern damit ein Anstieg der natürlichen Grundgüter bzw. der Fähigkeiten, die einen Anstieg zur Folge haben, verbunden ist. Building off of Rawls’s concept, I propose that germ-line genetic enhancements are morally permissible if and only if they augment primary goods or create abilities that would lead to their augmentation.18

Darüber hinaus – und diesen Punkt erwähnt Allhoff nicht – ist mit ihnen zugleich die These verknüpft, dass man keine (oder nur eine sehr schwache) Theorie des Guten benötigt, um den eugenischen Eingriff zu rechtfertigen. Die Anwendung des rawlsschen Ansatzes würde es also ermöglichen, die Legitimität eugenischer Eingriffe im pränatalen Zustand auch unter liberalen Gesichtspunkten zu verteidigen. Im Hinblick auf den ersten Punkt ist zu bemerken, dass die Bezugnahme auf den Begriff der Grundgüter einen Fortschritt darstellt, da die Frage nach der Legitimität eugenischer Eingriffe im pränatalen Zustand andernfalls – wie oben zu zeigen versucht wurde – nicht beantwortet werden kann. Der Abstraktionslevel der Grundgüter erhöht dabei das Potential einer rationalen Begründung des Eingriffs und somit zugleich die Wahrscheinlichkeit einer nachträglichen Zustimmung durch das betroffene Subjekt. Entscheidend ist dann aber zunächst die Frage, auf welche Weise sich die Grundgüter bestimmen lassen: Ist diese Bestimmung wirklich rein formal und moralisch neutral, wie Rawls behauptet19, oder benötigt man doch einen spezifischen Begriff des guten Lebens, um die primary goods als solche auszuzeichnen? Rawls selbst listet die Grundgüter zunächst ohne nähere Begründung auf und unterscheidet dabei zwischen „social“ und „natural primary goods“20: Zu den ‚social primary goods‘ zählen Rechte, Freiheiten, Chancen („powers“), Einkommen 16 Rawls, John (Fn. 14), S. 62. Hervorhebung D.C.H. Auf diese Weise möchte Rawls vermeiden, dass seine Konzeption auf eine starke Theorie des Guten („full theory of the good“) angewiesen ist. Theoretische Konstruktionen dieser Art werden auch ‚primacy of right‘-Konzeptionen genannt, da sie in der Tradition Kants davon ausgehen, dass es möglich ist, moralische Prinzipien ohne Rückgriff auf eine Bestimmung des Guten zu ermitteln. Siehe dazu auch Rawls, John, „The Priority of Right and Ideas of the Good“, in: Philosophy & Public Affairs, 17, 1988. 17 Buchanan et al. sprechen von „all-pupose means“ (Buchanan, Allen E. / Brock, Dan W. / Daniels, Norman (Fn. 3), S. 178). 18 Allhoff, Fritz (Fn. 15), S. 50. 19 Vgl. Rawls, John (Fn. 14), S. 404, 424. 20 Ebd. 62.

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und Vermögen, zu den ‚natural primary goods‘ Lebenskraft („vigor“), Intelligenz und Phantasie. Eine detaillierte Begründung der Liste hält er für überflüssig, „since their claims seem evident enough“21. Ihre systematische Stellung innerhalb der rawlsschen Konstruktion ist jedoch ausnehmend wichtig, denn „this list [of primary goods, D.C.H.] is one of the premises from which the choice of the principles of right is derived“22. Die Bestimmung der Grundgüter muss demnach unabhängig vom und systematisch primär zum Begriff der Gerechtigkeit erfolgen. Damit wird deutlich, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit von der Definition der Grundgüter abhängig sind und nicht umgekehrt. Lässt sich nun nachweisen, dass auch die Bestimmung der Grundgüter auf einen spezifischen Begriff des Guten angewiesen ist, wäre damit gleichzeitig gezeigt, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit keine rein liberalen Grundsätze darstellen und ihre Anwendung auch im Kontext der Eugenik den Rahmen einer liberalen Konzeption überschreitet. Rawls gibt zwar selbst zu, dass die Grundgüter auf einen Begriff des Guten bzw. des guten Lebens angewiesen sind, weshalb er sich im siebten Kapitel auch ausführlich mit diesem Thema auseinandersetzt.23 Allerdings ist er der Ansicht, dass eine schwache Konzeption („thin theory of the good“), die auf alle Menschen im Urzustand angewandt werden kann, ausreichend ist. Diese beginnt mit einer Gleichsetzung des Guten und des Vernünftigen: We must assume, then, that the list of primary goods can be accounted for by the conception of goodness as rationality …24

Bereits an diesem Punkt stellt sich aber die Frage, wie der Begriff des Vernünftigen zu verstehen ist: Bezieht sich Rawls auf einen rein instrumentellen Begriff der Vernunft oder geht es ihm möglicherweise, wie Adina Schwartz andeutet, um ein rationalistisches Lebensideal, das ein „rationalistic criticism of ends“25 impliziert? In diesem Fall wäre eine moralisch neutrale Bestimmung des Guten schon jetzt kaum mehr möglich. In Anbetracht der kontraktualistischen Methode Rawls‘ ist es allerdings plausibel, zu behaupten, der verwendete Vernunftbegriff sei instrumenteller Natur, womit die Gleichsetzung des Guten mit der Vernunft zumindest im Hinblick auf die Frage nach einer neutralen Bestimmung des Guten weniger problematisch ist.26 In diesem Fall muss Rawls nämlich keine Zweckkritik vornehmen, da er die Zielsetzung der einzelnen Lebenspläne den jeweiligen Individuen überlassen kann.27 Vernünftig ist es dann bereits, einen Lebensplan zu haben und diesen rational zu verfolgen.28 21 22 23 24 25 26 27

Ebd. 434. Ebd. 433. Ebd. 395 ff. Ebd. 434. Schwartz, Adina, „Moral Neutrality and Primary Goods“, in: Ethics, 83, 1973, S. 300. Vgl. dazu ebd. 299 – 300. Vgl. Rawls, John (Fn. 14), S. 408.

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Die Skepsis gegenüber einer neutralen Bestimmung des Guten bei Rawls nimmt allerdings zu, wenn man sieht, welche weiteren Aspekte er bei seiner ‚schwachen‘ Theorie berücksichtigen muss: [We must assume, then, that the list of primary goods can be accounted for by the conception of goodness as rationality] in conjunction with the general facts about human wants and abilities, their characteristic phases and requirements of nurture, the Aristotelian Principle, and the necessities of social interdependence.

Wie auch Schwartz betont, mag es prima facie zwar wenig strittig sein, zu behaupten, jeder Mensch habe gewisse Grundbedürfnisse, allerdings erscheint es doch problematisch, daraus eine Liste von Grundgütern zu entwickeln und diese als schwache und damit auf alle Menschen anwendbare Konzeption zu begreifen. However, when one considers how one would employ psychological facts to arrive at a list of human goods, the moral neutrality of this kind of enterprise seems dubious. Human motivational patterns seem so diverse that any use of ‚facts‘ about motivation to arrive at a substantive list of human goods would seem to involve a controversial view of human nature.29

Bezogen auf die natürlichen Grundgüter bedeutet dies, dass auch ihre Rechtfertigung von einer spezifischen Theorie des guten Lebens abhängig ist. In dieser würde beispielsweise behauptet, dass Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie Güter sind, die jedes gute – und nicht nur jedes vernünftige – Leben benötigt, und die genau deshalb von jedem vernünftigen Wesen angestrebt werden sollten. Dies mag für den universalistischen Anspruch von Rawls Theorie ein größeres Problem sein30 als für die Eugenik: Hier hat diese Erkenntnis vor allem die Konsequenz, dass sich die Frage nach der ethischen Legitimität eugenischer Eingriffe im pränatalen Zustand weder durch Bezug auf universale Gerechtigkeitsansprüche noch durch Rekurs auf rein liberale Grundsätze sondern nur in Bezug auf eine Vorstellung des guten Lebens beantworten lassen. Die Bezugnahme auf einen unterstellten Konsens wird dadurch nicht überflüssig, sie steht allerdings nicht, wie in der Diskursethik, im Zentrum der Überlegungen, da ein realer Diskurs nicht möglich ist. Im Zentrum stehen vielmehr jene Grundgüter, die wir aus guten Gründen für ein gutes Leben als unabdingbar erachten und von denen wir ebenfalls mit guten Gründen annehmen dürfen, dass sie die Zustimmung der zukünftigen Generation finden werden. Auch wenn prinzipielle Antworten in diesem Bereich also nicht zu erwarten sind, könnte man angesichts des Eingriffs in die ‚natürliche Bedingtheit‘, die mit jeder 28 Allerdings hat dieser instrumentelle Vernunftbegriff Konsequenzen für Rawls’ Bezugnahme auf Kant, da sich auf diese Weise nur hypothetische und keine kategorischen Imperative begründen lassen. Vgl. dazu Nagel, Thomas, „Rawls on Justice“, in: The Philosophical Review, 82, 1973 / 04 / 01, S. 223, Fußnote 3. 29 Schwartz, Adina (Fn. 25), S. 301. 30 Rawls hat seinen eigenen Anspruch in einem späteren Aufsatz daher auch relativiert. Vgl. Rawls, John, „Justice as Fairness: Political not Metaphysical“, in: The Philosophical Review, 67, 1985.

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eugenischen Handlung im pränatalen Zustand verknüpft ist, argumentieren, dass nur therapeutische Eingriffe erlaubt werden sollten. Denn selbst wenn die Moral durch eugenische Handlungen nicht „ins Rutschen kommen“31 mag, so ist ein positiver Selbstbezug des Menschen nicht nur von seinen mentalen und geistigen Fähigkeiten sondern auch von der Unversehrtheit seines Leibes abhängig. Summary The present paper deals with the ethical challenges of eugenic interventions in the prenatal state. Its thesis is that decisions about that kind of genetic engineering presuppose a reference on primary goods as well as a conception of the good. Thus neither purely liberal approaches – which focus on the freedom of the individual – nor purely deontological theories – that centers on questions of justice – are able to cope with the ethical challenges of these new technologies. To defend this thesis, first some eugenic techniques and their applications will be presented, followed by a critical analysis of the approaches by Nicholas Agar and Jürgen Habermas. The next step introduces a proposal by Fritz Allhoff, who applies the term ‘primary goods’ by John Rawls to the debate on eugenic interventions. This concept is particularly interesting because Rawls uses the concept of ‘primary goods’ within a liberal approach and, as Rawls is convinced, without any reference to a ‘full theory of the good’. Following the criticism by Adina Schwartz and Thomas Nagel, I will argue that this is not possible – neither within the theory of John Rawls nor in the eugenic context. This means that although Allhoff’s use of the term ‘primary goods’ within the debate over prenatal genetic engineering is instructive indeed, a strong theory of the good, however, is still necessary. Literatur Agar, Nicholas: „Liberal Eugenics“, in: Public Affairs Quarterly, 12, 1998. Allhoff, Fritz: „Germ-line genetic enhancement and Rawlsian primary goods“, in: Kennedy Institute of Ethics journal, 15, 2005. Assheuer, Thomas / Habermas, Jürgen: „Auf schiefer Ebene. Ein Gespräch mit Jürgen Habermas über Gefahren der Gentechnik und neue Menschenbilder“, in: Die Zeit, 2002. Buchanan, Allen E. / Brock, Dan W. / Daniels, Norman: „From chance to choice“, Cambridge, Cambridge University Press, 2001. Düwell, Marcus: „Bioethik“, Stuttgart, Metzler, 2008. Habermas, Jürgen: „Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: Habermas, Jürgen, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2001. 31

Habermas, Jürgen (Fn. 7), S. 115.

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Ist Menschenwürde ein gesellschaftlich notwendiger Begriff? Brauchen wir in einer pluralistischen Gesellschaft einen Menschenwürdebegriff?* Altan Heper**

I. Soziologische Tatsachen, Pluralisierung der Gesellschaft Es ist offensichtlich, dass sich die deutsche Gesellschaft pluralisiert hat. Betrachtet man die Pluralisierung weltweit, so stellt man fest, dass heutzutage fast keine heterogenen Gesellschaften mehr existieren. Durch Einwanderungen und Auswanderungen wandeln sich homogene Gesellschaften in heterogene Gesellschaften. Dieser Prozess führt zunehmend zu Multikulturalität und folglich auch zu Pluralität. Multikulturelle Gesellschaften sind Gesellschaften, in denen Menschen verschiedener Ethnien, Religionen und Sprachen zusammenleben. Durch die kulturellen Unterschiede ergeben sich unterschiedliche Lebensstile, Werte und Vorstellungen von Leben. Zwei andere, wichtige Ursachen der Heterogenität sind neben Bevölkerungsbewegungen (Immigration und Emigration), die in den 80er Jahren verstärkt aufgetreten sind, die Globalisierung und die Internationalisierung der Welt. Die drei wichtigen Faktoren Multikulturalität, Globalisierung und Internationalisierung führen dazu, dass Pluralität zunehmend an Bedeutung gewinnt.1 Dieser Umstand gilt insbesondere für westeuropäische Länder. In Deutschland leben Ende 2010 insgesamt rund 6 Millionen Personen, die ausschließlich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Dabei sind Staatsbürger aus 186 der insgesamt 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in Deutschland vertreten.2 Die wichtigsten Herkunftsländer der in Deutschland lebenden Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit sind die Türkei mit einem Anteil von 25%, Italien mit 8% und Polen mit 6 %. Bei der Berechnung der Anzahl der Personen mit * Überarbeite Fassung des am 16. 08. 2011 im Rahmen der IVR-Veranstaltungen in Frankfurt / Main gehaltenen Vortrages. ** Universität Özyegin, Istanbul, Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen. 1 Astrid Erll / Marion Gyminish, Interkulturelle Kompetenzen. Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen, Stuttgart, 2007, S. 6. 2 Pressemitteilung des Statistischen Bundesamt Deutschland vom 04. 03. 2010, www.destatis. de/jetspeed/portal/cms/Sites/Internet/DE/Presse/pm/2010 Abruftag 15. 03. 2010.

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Migrationshintergrund sind aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen Einbürgerungen zu berücksichtigen. So steigt die Zahl der Personen mit Herkunftsland Türkei aufgrund von ca. 600.000 Einbürgerungen auf ca. 2,3 Millionen. Berücksichtigt man Spätaussiedler aus den ehemaligen GUS-Staaten, kommt man auf eine Zahl von 14 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Jede fünfte Eheschließung ist binational, jedes vierte Neugeborene hat mindestens einen ausländischen Elternteil, jeder dritte Jugendliche in den alten Bundesländern einen Migrationshintergrund. Die Tendenz ist steigend. Ökonomische, demografische und humanitäre Ursachen haben diese Entwicklung der letzten 50 Jahre tief beeinflusst. Trotz der anfänglichen Ablehnung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, haben sich die gesellschaftlichen Strukturen vehement verändert. Sprachliche, ethnische, kulturelle und religiöse Diversität sind längst Tatsachen, mit denen wir im Alltag konfrontiert werden. Die christlichen Kirchen prägen in den europäischen Ländern und in Deutschland nicht mehr allein die Religion und die Weltanschauung. In zunehmendem Maße kommen Einflüsse aus anderen Kulturen und Religionen hinzu, vor allem aus dem Islam. In Europa leben schätzungsweise rund 15 Millionen Muslime, davon allein 11 bis 12 Millionen in Westeuropa. In vielen europäischen Ländern bilden Muslime unterschiedlicher Glaubensausrichtung nach den Christen inzwischen die zweitwichtigste Religionsgruppe.3 Die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime mit Migrationshintergrund beträgt zwischen 3,8 und 4,3 Millionen.4 Die aus der Türkei stammenden Migranten bilden – mit großem Abstand zu den Muslimen aus anderen Ländern5 – die größte muslimische Gruppe mit ca. 2,5 Millionen. Soziologische Fakten zeigen, dass die deutsche Gesellschaft auch in religiöser Hinsicht pluralistisch geworden ist. So gehören noch ca. 60% der Bürgerinnen und Bürger zumindest formal einer der beiden christlichen Großkirchen an; 30% lassen sich dem Katholizismus und 30% dem Protestantismus zuordnen. Rund 30% der Bevölkerung sind konfessionsfrei, 5% sind Muslime und 2 % besitzen eine andere religiöse Orientierung, z. B. Buddhisten6. In Ostdeutschland existieren sehr viele Weltanschauungsvereinigungen. Immer mehr Menschen in Deutschland besitzen einen Migrationshintergrund; in Großstädten wie Berlin und Hamburg weisen viele Grund- und Hauptschulen einen 3 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Muslime in Europa, www.integration-indeutschland.de/nn_282926/Subsites/Integration/DE/02_Z. Die Daten über Muslime sind keine gesicherten, präzisen Daten. Sie basieren auf Statistiken, denen die Herkunftsländer der Einwanderer und die Elternteile der im Inland neugeborenen Kinder zugrunde liegen. Eingehend über Muslime in der EU Riedel, Muslime in der Europäischen Union. Nationale Integrationskonzepte im Vergleich. 4 Angaben basieren auf der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom Juli 2009 im Auftrag des deutschen Islam Konferenz www.deutsche-islam-konferenz.de/cln_117/nn_1318688/sid_0729757B35EE96. 5 Diese Zahl ist ebenso aus den oben genannten Gründen eine Schätzung. 6 Vgl. www.fowid.de.

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Ausländeranteil von über 50 % auf. Eine Stadt wie Offenbach, die von unserem Tagungsort nicht weit entfernt ist, hat einen Ausländeranteil von über 30%. Die Bemühungen, die seit den 60er Jahren Zugewanderten in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, waren nur teilweise erfolgreich. Vor allem Menschen türkischer Herkunft leben oft heute noch in dritter Generation in sog. „Parallelgesellschaften“, ohne Anschluss an die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu finden.7

II. Menschenwürde als Leitwert Auf Grund dieser Tatsachen stellen wir fest, dass die deutsche Gesellschaft kein einheitliches Welt- und Menschenbild besitzt. Der Pluralismus der Weltanschauungen ist in Deutschland wie in der modernen Welt eine unumstrittene Tatsache. Daher scheint auch ein gemeinsames Handeln auf Grund gemeinsamer Wertvorstellungen kaum mehr möglich. Beispielweise ist es oftmals schwer, wegen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und Weltanschauungen einen Konsens bezüglich umstrittener bioethischer Fragen wie der Stammzellenforschung oder des Klonens zu therapeutischen Zwecken zu erreichen. Pluralismus wird nicht als normativer Begriff verstanden, sondern als kulturhistorische Empirie. Er kennzeichnet die geschichtlich-kulturelle Tatsache, dass eine Vielzahl letzter Positionen in Glaubens-, Denk- und Lebensfragen in der Gesellschaft vorhanden sind.8 Pluralismus, dessen Fakten oben dargestellt wurden, ist für uns umso bedrängender, als wir heute global in Konfrontation mit anderen Nationen, ja sogar mit völlig anderen Kulturen – alten und neuen – stehen, die den gleichen Wahrheitsanspruch stellen, wie wir es oft tun. Die pluralistische Gesellschaft bringt auf Grund der multikulturellen und multireligiösen Gestaltung ein neues Bewusstsein dafür hervor, dass sich das, was Menschen für wahr und richtig erachten, je nach kultureller Zugehörigkeit und Lebensform verändert.9 Die pluralistische Gesellschaft birgt große Herausforderungen. Vorverständnisse ändern sich in dem Maße, in dem sich auch Grundwerte ändern, auf denen eben jene Vorverständnisse basieren. Ehemalige Befürworter der multikulturellen Gesellschaft finden heute, dass die multikulturelle Gesellschaft wenig solidarisch, sehr hart und mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden ist. Befürworter von Multikulturalität wie Daniel CohnBendith wiesen bereits in 80er Jahren auf die Risiken, die mit Multikulturalität verbunden sind, hin. Die Frage ist, ob Menschenwürde angesichts des breit gefächerten 7 Eric Hilgendorf, Das Recht und die weltanschaulich pluralisierte Gesellschaft, Zur Notwendigkeit eines gemeinsamen Werteunterrichts in den Schulen, in: Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat, Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstages, hrsg. Stephan Kirste / Gerhard Sprenger, Berlin, 2010, 121 – 131, S. 123. 8 Andreas Cesana, Normen und Kulturen, in: Rechtsethik, M. Fischer / M. Strasser (Hrsg.), Frankfurt 2007, S. 11 – 28, hier S. 11. 9 Cesana, S. 12.

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Pluralismus und innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft als gemeinsamer Nenner, als Leitwert in Frage kommen kann oder ob das christliche, aus der abendländischen Welt stammende Konzept der Menschenwürde kein geeigneter Begriff für eine pluralistische Gesellschaft ist. Der Staat soll – trotz der herausragenden Stellung der Menschenwürde – seine verfassungsgemäße Neutralität bewahren. Dabei ist aber die Frage zu stellen, ob Art. 1 GG hinreichend bestimmt ist. Art. 1 wurde als Reaktion auf die Nazi-Ära in das GG eingeführt. Bis in die 80er Jahre herrschten in der Nachkriegszeit gleiche Werte in der deutschen Gesellschaft vor, das Vorverständnis war ähnlich. In dieser Zeit war es noch problemlos möglich, mit dem Menschenwürdeargument zu operieren. Doch die Zeiten haben sich geändert und ändern sich noch. Kulturelle und ethische Diversität sowie die rasche Technisierung des Lebens und vor allem der Medizin stellen viele Selbstverständlichkeiten in Frage. Unter diese Selbstverständlichkeiten fällt auch eine Interpretation des Begriffs der Menschenwürde. Dieser Vortrag beschäftigt sich mit dieser Frage und versucht, sowohl Gründe zu finden, die gegen Menschenwürde als gemeinsamen Wert sprechen, als auch Gründe, die dafür sprechen.10 1. Gründe, die gegen Menschenwürde als Leitwert sprechen Erst die Unbestimmtheit des Begriffs macht den Begriff zu einer „kleinen Münze“, die für jede Rechtsangelegenheit herangezogen wird.11 Dieter Birnbacher bezieht eine skeptische Position und weist darauf hin: „Der Begriff der Menschenwürde ist mit dem Leerformelverdacht in ganz besonderer Weise konfrontiert. Denn gerade bei diesem – in der deutschen moralischen und politischen Debatte besonders häufig bemühten – Begriff steht das Pathos, mit dem er gemeinhin invoziert wird, in einem umgekehrten Verhältnis zu seiner inhaltlichen Festgelegtheit.“12 Wenn man mit keiner anderen Argumentation weiter kommt, hilft die Menschenwürdeargumentation stets weiter. Einige Beispiele hierzu sind: Bezüglich einer notwendigen Teilnahme an einem MPU-Kurs beim Führerscheinentzug wurde der Einwand erhoben, die notwendige Teilnahme sei mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Hier liegt der Verdacht nahe, dass die Berufung auf die Menschenwürde meistens nur der rhetorischen Dramatisierung der jeweils eigenen Position dient.13

10 Im Folgenden greife ich auch auf von Eric Hilgendorf am 15. 10. 2009 vorgetragene Gedanken zurück. Eric Hilgendorf hat den Vortrag am ZIF an der Universität Bielefeld im Rahmen der Forschungsgruppe „Herausforderungen für Menschenbild und Menschenwürde durch neuere Entwicklungen der Medizintechnik“ gehalten. 11 Vgl. Günter Dürig, Art. 1, Rn. 29, in: T. Maunz / G. Dürig, Grundgesetz, München, 1958. 12 Dieter Birnbacher, Instrumentalisierung und Menschenwürde. Philosophische Anmerkungen zur Debatte um Embryonen- und Stammzellenforschung, im Jahrbuch der HeinrichHeine-Universität 2001, 243 – 257, 249.

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Nach Birnbacher fungiert der Begriff der Menschenwürde als „conversationstopper“.14 Der Begriff der Menschenwürde spielt eine Rolle als „Totschlagargument“. Das Argument dient allein dem Sieg über die Diskussion. Es gibt bekanntlich unterschiedliche Disziplinen, die um die Interpretationshoheit konkurrieren. Die Philosophie, die Theologie und die Rechtswissenschaft konkurrieren um den Begriff; ihre Methoden und Argumentationsweisen sind dabei sehr unterschiedlich. In der Alltagssprache hat der Begriff „Menschenwürde“ unterschiedliche Bedeutungen und diese Bedeutungen ändern sich mit dem Lauf der Zeit. Der Begriff der Menschenwürde wird oft lediglich als ein Teil der europäischabendländischen Geistesgeschichte gesehen. Insbesondere bei der theologischen Diskussion und Begründung von Menschenwürde werden christliche Ursprünge herangezogen.15 Dieser Umstand löst – unter anderem auch aus diesem Grund – seitens der anderen Kulturen eine Distanzierung gegenüber diesem Begriff aus. Der christliche Ursprung des Begriffs wird durch die Gottebenbildlichkeit des Menschen und seine unmittelbare Beziehung zu Gott begründet, die durch die Menschwerdung Gottes in Jesus bestätigt wurde.16 Diese Vorstellung der christlichen Autoren der Antike und des Mittelalters ist wiederum auf die Anhänger der Stoa zurückzuführen, die die unverlierbare Menschenwürde durch die Teilhabe des Menschen an der Vernunft erklärten. Aber der moderne Begriff der Menschenwürde ist hauptsächlich auf den Humanismus und die Aufklärung zurückzuführen. Möchte man die Begriffsgeschichte zusammenfassen, sollte man stichwortartig zunächst den italienischen Humanisten Pico della Mirandola nennen. Nach Pico della Mirandola vereint der Mensch alles in sich und stellt somit einen Mikrokosmos dar, in dem alle Möglichkeiten angelegt sind. Nach Pico della Mirandola ist es nun die dem Menschen von Gott gegebene Bestimmung, zwischen diesen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. Die den Menschen auszeichnende Würde ist also seine Freiheit.17 Der neuzeitliche französische Philosoph Blaise Pascal sieht Vernunft und

13 Vgl. Heiner Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde, warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen, Freiburg, 2012, S. 7. 14 Dieter Birnbacher, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde, in: Aufklärung und Kritik ,1995 Sonderheft 1, S. 4. 15 Vgl. Susanne Baer, Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz. Die Bedeutung von Enttabuisierungen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2005, S. 571 – 588, S. 574. 16 George P. Fletcher, In Search of Absolutes: Human Dignity and its Biblical Roots, 62 – 72, in: Kurt Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts-und Sozialphilosophie (IVR), Schweizer Sektion Basel, 25. – 28. Juni 2003, Stuttgart, 2004. 17 Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, Hamburg, 1998, S. 7; Paul Tiedemann, Menschenwürde als Begriff, eine philosophische Klärung, Berlin, 1997, S. 154 – 156; Rolf Gröschner, Menschenwürde als Konstitutionsprinzip der Grundrechte, in: Menschenwürde im interkulturellen Dialog, Anne Siegetsleitner, Nikolaus Knoepfler (Hrsg.), S. 17 – 39, 27 – 29; Eckhard Keßler, Menschenwürde in der Renais-

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Freiheit als Inhalt der Würde;18 so hat bereits eine Abkehr von der religiösen Begründung des Begriffs der Menschenwürde begonnen. Der deutsche Völkerrechtler Samuel Pufendorf hat die Vernunftbestimmung in die Menschenwürdediskussion eingebracht.19 Diesen Denkern zufolge besteht die Würde in der Freiheit des Menschen, das durch Vernunft Erkannte zu wählen und zu tun. Pufendorfs Menschenwürdethese zeichnet sich dadurch aus, dass er die Würde mit der Gleichheit aller Menschen verbindet.20 Die Menschenwürdediskussion erreicht in der Aufklärungszeit und mit Kant ihren Höhepunkt, auf welchen als Klassiker immer verwiesen wird. Bei Kant finden sich drei wesentliche Elemente in Bezug auf die Menschenwürde: Zum einen verbindet Kant den Menschenwürdebegriff mit dem emphatischen Begriff personaler Autonomie im Sinne der Fähigkeit, nach – von der Vernunft selbst gegebenen – moralischen Gesetzen zu handeln. Zum zweiten bezieht Kant den Begriff der Menschenwürde auf die Konzeption des Menschen als eines „Zwecks an sich“, der seine grundsätzliche Unverrechenbarkeit mit partikulären Zwecksetzungen zum Ausdruck bringt. Schließlich bildet die so gefasste Würde des Menschen den Geltungsgrund derjenigen moralischen und rechtlichen Pflichten, die autonome Vernunftwesen gegeneinander haben. In der Menschenwürdediskussion wird oft auf Immanuel Kant Bezug genommen. In der bekannten Passage in Kants Metaphysik der Sitten wird bezüglich der wechselseitigen Achtung der Mensch allein als Person betrachtet, d. h. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, der über alles erhaben ist. In dieser Eigenschaft (homo noumenon) verfügt der Mensch nicht bloß über die Mittel, sich selbst zu schätzen. Er besitzt auch Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen vernünftigen Weltwesen Achtung für sich abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.21 In Bezug auf die Feststellung der Verletzung der Menschenwürde wird oft die sog. Objektformel angewandt. Diese Formel knüpft an das Instrumentalisierungsverbot Kants an. „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.“22 sance, in: Menschenwürde im interkulturellen Dialog, Anne Siegetsleitner, Nikolaus Knoepfler (Hrsg.), S. 41 – 66, 58 – 62. 18 B. Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände, Ditzingen, 2004. 19 Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. und übers. von Klaus Luig, Frankfurt am Main, 1994, S. 78 – 81. 20 Für die Ideengeschichte des Menschenwürdebegriffs statt aller Horst Dreier, Grundgesetzkommentar, Bd. 1, Art. 1 Rn. 1 in: GG Kommentar, hg. H. Dreier, 2004,Tübingen. 21 Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd. 8, hrsg.von Willhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1974 § 11, S. 569.

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Für Dürigs Objektformel, die das Bundesverfassungsgericht zeitweise übernommen hatte, war die christliche Interpretation nicht ausschlaggebend. In neuerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht jedoch die Auslegung des Begriffs der Menschenwürde anhand der bloßen Objektformel aufgegeben und orientiert sich verstärkt an den Umständen des Einzelfalles und bestimmten Fallgruppen (BVerfG, 30, 18 [Abhörurteil]). Danach ist eine Voraussetzung für eine Würdeverletzung, dass der Betroffene einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell infrage stellt, oder dass in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen muss also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personenseins zukommt, also eine in diesem Sinne verächtliche Behandlung sein. Die politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben den modernen Menschenwürdebegriff entscheidend geprägt. Die Erfahrungen der Stalin-Ära und der NaziDiktatur führten dazu, dass man zukünftig grausame Taten dieser Art auf jeden Fall verhindern wollte. Der Gedanke „Du bist Nichts, Dein Volk ist Alles“ sollte niemals wieder die Oberhand gewinnen.23 Die oben dargestellten Entwicklungen zeigen, dass die Menschenwürdediskussion eine säkularisierte Grundlage hat, die sich von einer rein christlichen Grundlage stark unterscheidet.24 Trotz meiner obigen Ausführungen könnte man als letzten Einwand gegen die Menschenwürde die Frage stellen, ob die Bindung des Staates an die Menschenwürde ein verkapptes Religionsbekenntnis ist und ob dadurch die religiös-ethische Neutralität des Staates verletzt wird. Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man auf den Neutralitätsbegriff eingehen. Alle modernen Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass jedes Mitglied dieser Gesellschaft selbst bestimmt, was gut ist, wie sein / ihr individuelles Leben gestaltet sein sollte, was er / sie vom Leben hält, was in der Welt wichtig ist etc. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch mehrere, unterschiedliche Konzeptionen des Guten aus. Sie führen zu ethischem Pluralismus. In traditionellen Gesellschaften hingegen ist eine religiös-weltanschauliche Homogenität und zum Teil Wertmonismus vorherrschend. Moderne Gesellschaften sind wertepluralistisch und es finden sich zahlreiche, unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen.25 Der moderne Staat entstand historisch durch die Beendigung der Konfessionskriege, und aus der bitteren Erfahrungen dieser 22 Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, hg. Bernd Ludwig, Hamburg, 1990, § 38, S. 110; Die Objektformel lässt sich vereinfacht so formulieren „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“; Günter Dürig, in: Theodor Maunz / ders.: Grundgesetz, 1958, Art. 1 Abs.1 Rn. 28, 34. 23 Nikolaus Knoepfler, Menschenwürde heute – ein wirkmächtiges Prinzip und eine echte Innovation, in: Facetten der Menschenwürde, hg. N. Knoepfler / P. Kunzman / M. O`Malles, Freiburg, 2011, S. 9 – 30, S. 13. 24 Bauer, a.a.O; anders Norbert Hoester, Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218, Frankfurt, 1991, S. 121. 25 Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002 Stuttgart, S. 7 ff.

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Kriege zog der Staat die Lehre, gegenüber allen Religionen und Konfessionen in gleichem Maße Distanz zu halten. Diese Entwicklung hat auch mit der Entstehung des Liberalismus zu tun. Nach dem Liberalismus bestimmt der Staat nicht, was für ein Leben das Individuum führt. Der Staat interveniert grundsätzlich nicht in den Lebensentwurf des Einzelnen.26 Durch die Säkularisierung des Staates hat sich der Staat von der Religion distanziert. Die Frage ist, ob durch Art. 1 GG eine bestimmte Konfession oder eine bestimmte Religion bevorzugt wurde und dadurch die staatliche Neutralitätspflicht verletzt wird. Wie steht es mit dem Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes und noch deutlicher in den Länderverfassungen? Wir stellen fest, dass Art. 1 GG säkulare Grundlagen hat und dass in der Entstehungsgeschichte von Art. 1 GG der christliche Bezug nicht maßgebend war. Weder die herrschende juristische Lehre noch die Rechtsprechung sehen in Art. 1 GG ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis. Philosophen wie Heiner Bielefeldt, die diese Fragen stellen, kommen zu dem Ergebnis, dass ein „wertgebundener, gleichzeitig religiös-weltanschaulich neutraler Staat“ durch den Menschenwürdebegriff mit Neutralitätspflicht nicht in Widerspruch gerät. Nach Bielefeldt bedeutet die religiöse-weltanschauliche Neutralität auch keine „Wertneutralität“ oder Wertabstinenz.27 Folglich verstehen wir den Menschenwürdebegriff heute nicht als religiöse Rückbesinnung im christlichen Sinne.28 2. Gründe, die für die Menschenwürde als gemeinsamen Wert sprechen a) Allgemeine Akzeptanz, juristisch, philosophisch, theologisch Der Begriff der Menschenwürde findet allgemeine Zustimmung. Im alltäglichen Leben akzeptieren die meisten Menschen diesen Begriff und die Verletzung der Menschenwürde wird abgelehnt. Menschenwürde wird in Art. 1 GG positiv rechtlich geregelt. Die Tatsache allein, dass der Schutz der Menschenwürde den ersten Artikel des GG bildet, verdeutlicht die Bedeutung dieses Begriffs. Die Menschenwürde ist im Grundgesetz nicht nur positivistisch geregelt, sondern wird darüber hinaus auch überpositiv verstanden. Durch die Positivierung der Menschenwürde in Art. 1 GG geht ihr überpositiver Charakter nicht verloren. Auf diesen Charakter weist das Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen hin: Ein Zitat einer diesbezüglichen Bundesverfassungsgerichtsentscheidung lautet: „Dadurch, dass der Gesetzgeber des Grundgesetzes in seine Grundentscheidung Normen eingezogen und damit im Grundgesetz positiviert hat, die vielfach als übergesetzlich bezeichnet Eingehend Huster. Heiner Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, 2007, 85 ff. 28 Anders Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart, S. 242, 127; Stefan Lorenz Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche. Die Geschichte eines Begriffs, Darmstadt 2010, S. 260 ff. 26 27

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werden (etwa in Art. 1, aber auch in Art. 20 GG), haben sie ihren besonderen Charakter nicht verloren.“ (BVerfGE, 3, 225 (233)). Das Bundesverfassungsgericht hat schon in einer der allerersten Entscheidungen auf das überpositive Recht als Auslegungsmaßstab hingewiesen. Nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“ (BVerfGE1, 14 (18)). In der Rechtsliteratur wird der Begriff der Menschenwürde zwar sehr unterschiedlich begründet und über den Inhalt und die Funktion der Menschenwürde, über ihre Absolutheit oder Relativität und Abwägbarkeit wird heftig gestritten.29 Über eine mögliche Aufgabe dieses höchsten Wertes wird jedoch nie ernsthaft debattiert. Dagegen wird ernsthaft über den Inhalt und über die Tragweite sowie Träger von Menschenwürde diskutiert. Trotz heftiger Auseinandersetzungen hat die Menschenwürde bei den Philosophen nicht an Bedeutung verloren. Sowohl die praktische Philosophie als auch die angewandte Ethik beschäftigen sich mit der Menschenwürde, beispielsweise in Bezug auf viele bioethische, medizinethische Fragen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns beispielsweise an die Stammzellenforschungsdebatte, die Embryonenforschung, die PID, die Sterbehilfe, das reproduktive Klonen oder auch die Leihmutterschaft erinnern. Es gibt viele Philosophen, die die Menschenwürde als Ausdruck von Autonomie sehen. Sie machen Autonomie und Menschenwürde zum zentralen Argument. Menschenwürde ist ohne Zweifel nicht nur ein Rechtsbegriff, sondern auch ein moralischer Begriff. b) Weltweite Anerkennung Der Menschenwürdebegriff besitzt auf internationaler Ebene große Akzeptanz. Bereits in der mexikanischen Verfassung von 1917 und auch in der Weimarer Verfassung taucht der Begriff der Menschenwürde auf. Zahlreiche Verfassungen auf der ganzen Welt enthalten einen Menschenwürdebegriff. Das Menschenwürdeprinzip ist in vielen internationalen Dokumenten verankert. Auch das wichtigste internationale Dokument im Bereich der Menschenrechte, die Allgemeine Menschenrechtserklärung der UN (AEMR) von 1949, enthält einen Verweis auf die Menschenwürde. Im Völkerrecht und in internationalen Beziehungen kommt der AEMR eine große Bedeutung zu. Die internationalen Pakte von 1966, d. h. der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthalten einen Verweis auf die Menschenwürde. Auch die EU-Grundrechtecharta enthält einen Verweis auf die Menschenwürde, der von der deutschen Verfassung stark inspiriert wurde. Sowohl die Anden-Gemeinschaft als auch die Afrikanische Union verweisen in ihren Dokumenten als regionale internationale Organisationen auf die Menschenwürde.30 Die 29 30

Statt aller Nils Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, Tübingen, 2011. Eingehend Tiedemann, S. 9 – 50.

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Internationale Erklärung der UNESCO über Menschenwürde und Bioethik von 2005 enthält ebenso einen wichtigen Verweis auf den Menschenwürdebegriff. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch die Bioethikkonvention des Europarats zu erwähnen.31 Schon vor dem zweiten Weltkrieg war in einigen Verfassungen der Welt der Begriff zu finden. In Art. 3 c der mexikanischen Verfassung von 1917 oder in der Weimarer Verfassung tauchte dieser Begriff auf. Die zahlreichen Verweise in wichtigen internationalen Dokumenten zeigen die internationale und transkulturelle Bedeutung der Menschenwürde und auch deren kulturübergreifende Akzeptanz. c) Menschenwürde findet in anderen Kulturkreisen Zustimmung Auch in Kulturkreisen und Gesellschaften, die keine vertiefte Menschenwürdetraditionen besitzen, findet man heute Ansätze für Menschenwürdebegründungen und Rezeptionen des Menschenwürdebegriffes. Für den ostasiatischen Kulturkreis wird im Zusammenhang mit dem konfuzianistischen Gedankengut eine Menschenwürdekonzeption von Menzius, dem zweitwichtigsten Denker des Konfuzianismus, abgeleitet.32 In der Kairoer Menschenrechtserklärung von 1990, der Allgemeinen Islamischen Menschenrechtserklärung von 1981 sowie der Arabischen Menschenrechtscharta von 1994 wird der Begriff der Menschenwürde verwendet.33 Es gibt zahlreiche Ansätze, Menschenwürde anhand von islamischen Quellen, hauptsächlich vom Koran ausgehend, zu begründen.34

III. Minimalmoral und Menschenwürde Meine zweite Fragestellung behandelt das Thema, ob in einer pluralistischen Gesellschaft eine Minimalmoral oder eine Kernmoral notwendig ist und ob diese Minimalmoral möglicherweise mit dem Begriff der Menschenwürde im Sinne des Art. 1 GG deckungsgleich ist. Wie soll diese Minimalmoral strukturell aussehen? Vom Vorschlag des Philosophen Theodor Leibner ausgehend kann eine Minimalmoral auf den anthropozentrischen Grundregeln aufgebaut werden, die eine „universalisierbare Minimalmoral“ konstituieren können.35 Diese Minimalmoral soll weder ethnozentrisch, noch kultur31 Roberto Andorno, Human Dignity and human rights as a common ground for a global bioethics in: Journal of medicine and philosophy 34: 223 – 240. 32 Ottfried Höffe, Medizin ohne Ethik, Frankfurt am Main, 2002, S. 60. 33 Ausführlich Tiedemann, S. 137; Anja Katarina Weilert, Grundlagen und Grenzen des Folterverbotes in verschiedenen Rechtskreisen, Heidelberg, 2009, S. 328 ff. 34 Weilert, S. 317 ff.; Shahin Aawani, Menschenwürde als ethisches Prinzip der Kodifikation von Menschenrechten, Bonn, 2003, 110 ff. 35 Theodor Leiber, Natur-Ethik, Verantwortung und Universalmoral, Münster, 2002.

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zentrisch, religionszentrisch oder metaphysikzentrisch sein. Ihr Anwendungsbereich soll universell sein, d. h. sich für alle moralfähigen Wesen als gültig erweisen. Es werden moralische Grundregeln aufgestellt, die eine universalisierbare Minimalmoral und die Basis der elementaren Menschenrechte und der anthropozentrischen Grundrechte stützen sollen. Die zugrunde liegende Eigenschaft dieser moralischen Rechte besteht in einer minimalistischen Basismoral, die nicht nur in der ethischen Strategie der Übelvermeidung verfolgt werden kann. Jede Person, die rational denkt und wohl informiert ist, würde dieser Strategie öffentlich zustimmen und ein solches Leid niemals am eigenen Leib erleben wollen. Die Grundübel sind: Das Erleiden von Tod, Schmerzen und anderen körperlichen und gesundheitlichen Schädigungen und Beeinträchtigungen, der Entzug der Grundbedingungen einer angemessenen Lebensführung und Unfreiheiten. Die minimalistische Moralbasis behauptet mit der These nun, dass das Bedürfnis, diese Grundübel zu umgehen, letztlich für jede rationale Person gilt, die das weltliche Leben noch schätzt und nicht in der Lage ist, auf all dies bewusst zu verzichten.36 Diese Vermeidungsstrategie der Grundübel deckt die Menschenwürde insofern, als das Erleiden von Tod (Todesstrafe, Totschlag oder Mord), Schmerzenszufügung (z. B. Folter) und andere körperliche und gesundheitliche Schädigung oder Beeinträchtigung (Brechmittel oder Abhacken der Hand bei Diebstahl), der Entzug der Grundbedingungen einer angemessenen Lebensführung (Arbeit ohne Urlaub) sowie nicht unerhebliche Zeit einer Freiheitsberaubung gleichzeitig wichtige Menschenwürdeverletzungen sind. Insofern finden wir eine Ähnlichkeit mit der Ensembletheorie der Menschenwürde, die Hilgendorf aufgestellt hat.37 Hilgendorf versteht unter Menschenwürde ein Ensemble aus bestimmten elementaren subjektiven Rechten. Diese subjektiven Rechte sind ein materielles Existenzminimum, autonome Selbstentfaltung, Schmerzfreiheit, Wahrung der Privatsphäre, geistig-seelische Integrität, grundsätzliche Rechtsgleichheit und minimale Achtung. Aus meiner Sicht findet sich ein ähnlicher Ansatz bei Dieter Birnbacher. Birnbacher rekonstruiert in seinem Aufsatz „Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar?“ den Menschenwürdebegriff mit drei Definitionen von Menschenwürde; nämlich Menschenwürde als Ensemble unabwägbarer, moralischer Rechte, Menschenwürde als Respektierung des Humanum und Menschenwürde als Gattungswürde,38 weil der Anwendungsbereich und die normative Kraft dieser drei Begriffe von Menschenwürde unterschiedlich sind.39 Während sich Menschenwürde gemäß der ersten und zweiten Bedeutung auf Leiber, S.77. Eric Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 7, 1999, 137 ff., 148; ders., Recht durch Unrecht? Interkulturelle Perspektiven in: Juristische Schulung, 9 / 2008, 761 – 767, 766. 38 Birnbacher, Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin die menschliche Würde?, in: Leist (Hrsg.), Um Leben und Tod, 1990, S. 266. 36 37

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Individuen, in der dritten auf ein Kollektiv bezieht, bezieht sich die Menschenwürde in ihrer ersten Bedeutung auf Pflichten „gegenüber“, in ihrer zweiten und dritten Bedeutung auf Pflichten „in Anbetracht“.40 Zunächst formuliert Birnbacher Menschenwürde in einem starken Sinne. Nach ihm gehören mindestens fünf Rechte zum starken Sinn: Das Recht von Würdeverletzungen im Sinne der Verächtlichmachung und Demütigung verschont zu bleiben, das Recht auf Hilfe in unverschuldeten Notlagen, das Recht auf ein Minimum an Lebensqualität im Sinne von Leidensfreiheit und das Recht, nicht ohne Einwilligung und in schwerwiegender Weise zu fremden Zwecken instrumentalisiert zu werden.41 Er formuliert selbst: „Menschenwürde im starken Sinne impliziert, dass ihr Träger eine Reihe von moralischen Rechten besitzt, die anderen bestimmte negative (Unterlassungs-) und positive (Handlungs-)Pflichten auferlegen.42 „Allerdings ist diese Unabwägbarkeit nur dann aufrechtzuhalten, wenn der Gehalt des Menschenwürdebegriffs bewusst minimalistisch interpretiert wird.43 „Die starke normative Kraft des starken Begriffs kann durch die basale Natur der Bedürfnisse begründet werden.“ Zusammenfassend bin ich der Meinung, dass die Menschenwürde nach Birnbacher im starken Sinne eine minimale Moral umfasst. Durch die Menschenwürde sind nicht nur elementare materielle Grundrechte gedeckt, sondern auch der Kern des staatlichen Rechts. In modernen pluralistischen Gesellschaften gibt es Regeln, die dem Schutz und dem friedlichen Leben der unterschiedlichen Überzeugungen und Lebensformen dienen und die daher für alle Bürger verbindlich sein müssen. In diesem Zusammenhang sagt Stefan Huster, dass diese Rahmenordnung den Kern des staatlichen Rechts bildet.44 Nach Huster kommt in dieser Rahmenordnung eine politische Minimalmoral zum Ausdruck, die von allen ethischen Überzeugungen angenommen werden muss und auch angenommen werden kann. Diese Normen enthalten keine ethischen Vorentscheidungen. Sie tragen Sorge für einen gerechten Ausgleich zwischen den verschieden Überzeugungen und Lebensweisen, die in einer pluralistischen Gesellschaft vorhanden sind. Diese Normen könnten auch als Regeln des Richtigen, des Rechten oder das Rechte bezeichnet werden.45 Andererseits gibt es die Vorstellung der Bürger, wie die die Rahmenordnung des Rechts bildende Freiheit, d. h. die Rechtsordnung, gewährleistend zu nutzen ist. Der Bürger ist frei, von den garantierten Freiheitsrechten der staatlichen Rahmenordnung beliebig Gebrauch zu machen. Der Staat setzt lediglich die rechtlichen Rahmenbedingungen von Möglichkeiten, die der Bürger nach eige39 Birnbacher, Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar?, in: Kettner (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde, 2004, S. 253. 40 Birnbacher, S. 253, 254. 41 Birnbacher, S. 254. 42 Birnbacher, S. 254. 43 Birnbacher, S. 259. 44 Huster, S. 11. 45 Huster, a. a. O.

Ist Menschenwürde ein gesellschaftlich notwendiger Begriff?

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nen Vorstellungen wahrnimmt. Das staatliche Recht verhält sich hierzu neutral und überlässt dies der individuellen, ethischen Entscheidung; die Bürger können sich daher an die Rahmenbedingungen halten, die sie aus ihrer jeweiligen eigenen Vorstellung des Guten ableiten. Diese Vorgaben sind aus juristischer Sicht nicht allgemein bindend; sie nehmen Bezug auf die Idee, das eigene Leben zu gestalten, und auf die Betrachtung eines guten Lebens für sich. Die von der staatlichen Rahmenordnung garantierten Grundfreiheiten sind durch die Menschenwürde gedeckt. Jedes Individuum erkennt diese Rahmenordnung an und respektiert gegenseitig die Grundfreiheiten eines anderen. Die vorhandene rechtliche Möglichkeit dazu, dass das Individuum nach seinem Lebensentwurf die Grundfreiheiten nach der Rechtsordnung genießen kann, schafft ein menschenwürdiges Leben. IV. Neuere Diskussionen In multikulturellen Gesellschaften wird darüber diskutiert, wie der liberale Staat auf die Forderungen illiberaler Gruppen reagieren sollte und wie die Rechte der Schwächsten innerhalb einer Gruppe geschützt werden. Sollten beispielweise die Ansichten fundamentaler, religiöser Gruppen in Schullehrplänen ihren Niederschlag finden oder sollten solche Gruppen staatliche Unterstützung für eigene Schulen erhalten, d. h. Steuergelder für fundamentalistische Zwecke verwendet werden dürfen? Müssen Kinder religiöser Eltern vom Sexualkunde- oder Schwimmunterricht oder einem gemeinsamen Sportunterricht befreit werden? Ist es angemessen, die Täter kulturell motivierter Verbrechen (wie z. B. Ehrenmorde oder Zwangsehe) unter Rekurs auf ihre kulturelle Identität von moralischer und strafrechtlicher Schuld zu entlasten? Sollen diese Umstände bei der Strafzumessung berücksichtigt werden? Und führen abweichende Wertvorstellungen zur Strafmilderung? Wie soll das aggressive Verhalten bestimmter religiöser Gruppen gegen die Presse- und Kunstfreiheit (ich meine z. B. die Mohammedkarikaturen in Dänemark) behandelt werden? In diesen Fragen kann die Menschenwürde als Leitwert eine Funktion einnehmen. Wir können feststellen, dass in diesen Fallkonstellationen Menschenwürdeverletzungen relevant sind. In einer Zwangsehe wird der Wille der Frauen ignoriert und die Frau als bloßes Objekt gebraucht. Außerdem wird die Grundfreiheit auf Geschlechtergleichheit massiv verletzt, weil von der Zwangsehe fast ausschließlich Frauen betroffen sind. Die Nichtteilnahme eines türkischen oder afghanischen Mädchens am Sport- oder Schwimmunterricht isoliert das Mädchen von der Klassengemeinschaft und führt zu Demütigung. Es ist zudem auch menschenunwürdig, jemanden aufgrund seines westlichen Lebensstils zu töten. Daher weisen die sogenannten Ehrenmorde Menschenwürdeverletzungen auf. Auch bei Grenzfällen erreichen wir mit Hilfe des Begriffs der Menschenwürde allgemein akzeptierte Lösungen wie bei dem finalen Rettungsschuss. Zusammenfassend: In pluralisierten Gesellschaften ist ein Leitwert wie die Menschenwürde ein wichtiger Orientierungspunkt, auf den sich Menschen unterschiedlicher kultureller Hintergründe und Wertvorstellungen einigen können. Ein solcher

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Menschenwürdebegriff könnte in der pluralistischen Gesellschaft, in der wir leben, tatsächlich als „normativer Anker“ dienen.46 Der Menschenwürdebegriff sollte für einen inflationistischen Gebrauch nicht geeignet sein. Daher muss er möglichst die wichtigsten elementaren Grundrechte umfassen, um von einer möglichst großen Zahl an Menschen akzeptiert zu werden.

Summary Is “human dignity” a socially necessary term? Do we need a concept of human dignity in a pluralistic society? It is clear that the German society has become pluralistic. In view of the global development it is beyond doubt that nowadays almost all societies are heterogenic. Pluralism concerning life philosophies, both in Germany and the modern world, is an undeniable fact. Thus, joint action based on shared values hardly appears possible. The question is, whether the concept of human dignity might be a common denominator and guiding principle in view of wide-ranging pluralism and in pluralistic societies. This article deals with this question, trying to find reasons for and against the concept of human dignity as shared value. In addition, it examines whether a minimal moral code or a core moral code are necessary in a pluralistic society and whether this minimal moral code is congruent with the concept of human dignity as defined by Art.1 of the German constitution. The reasons arguing against the concept of human dignity as guiding principle are as follows: Different disciplines like philosophy, theology and law are competing with one another for the definition and interpretation of the concept of human dignity. The concept of human dignity is often seen as part of the European – western intellectual history. It is doubtful whether the relation between the state and the concept of human dignity reflects the states’ hidden religious confession and is therefore disturbing its religious and ethical neutrality and independence. The reason for the concept of human dignity as shared value is its broad acceptance within all different disciplines. The concept of human dignity is accepted worldwide and by all important international documents. It meets with approval among diverse cultural groups. In summary, in pluralistic societies the guiding principle – like the concept of human dignity – is an important point of orientation, which is shared and agreed upon by people with different cultural backgrounds and life philosophies.

46 Eric Hilgendorf, Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde, in: Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion, FS für Ingeborg Puppe, hg. H.-U. Paeffgen / M. Böse / U. Kindhäuser / S. Stübinger / T. Verrel und R. Zaczyk, Berlin, 2011, 1653 – 1671, hier 1653.

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Controversies about permissibility of abortion are intractable and often hostile. It is possible, however, to formulate an initial opinion that, as far as I can see, is universally accepted. (1) Every innocent person has a prima facie well founded right to life. Belief (1) is acceptable to all parties irrespective of their specific views about permissibility of abortion. For that reason, it offers a good starting point for the discussion of several normative issues. If we introduce two additional claims (2) and (3), we will see that each of them can be derived from the universally accepted (1) by specific additional assumptions, which are less persuasive, however. The controversy about abortion hinges on the credibility of these assumptions. (2) Not every fetus is an innocent human being and no fetus has an absolute right to life. (3) Every fetus is an innocent person and each has an absolute right to life. Belief (1) is compatible with both (2) and (3), which means that you can hold (1) and (2) together, or (1) and (3) together. But (2) and (3) are incompatible and you cannot hold them together. Now, it would be helpful to see how tenets (2) and (3) can be obtained from (1) to assess their persuasiveness. Obviously, they are obtained by some additional assumptions which modify terms used in (1). If we can see how (1) is reduced to either (2) or (3), we shall be able to decide which derivation is more convincing, and we can form our normative beliefs more rationally. Let us begin by identifying several claims encapsulated by (1). (1) Every (I.) innocent (II.) person has (IV.) a prima facie (V.) well founded (III.) right to life. Belief (1) can be modified in many ways. It is conceivable that not only (I.) innocent persons, but also some guilty non-persons have a right to life. It is also possible (II.) that not only existing persons but potential persons have a right to life. Moreover we may decide that in numerous cases the right to life is not only (IV.) a prima facie right but an effective, absolute right that trumps all other rights. Which* A German version of this article will be published in: Joerden / Hilgendorf / Thiele (eds.), Handbuch “Menschenwürde und Medizin”, Duncker & Humblot, Berlin 2012.

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ever way we go, we may rest that right on various foundations. Some of them will be found convincing (V.), others may seem spurious or fictitious. In accordance with preceding decisions, we will either find (III.) the right to life absolute and unconditional, or we may decide that it depends on certain vital circumstances concerning all living organisms, or perhaps only humans, and their environment.

I. The Presumed Innocence of the Fetus Some women strongly desire to become pregnant, and if they are, the expected child adds new and essential meaning to their lives. Other women, however, or even the same women but at a different time in their lives, are deeply shocked and dismayed to find out they have become pregnant against their plans and expectations. They loathe the idea of having a baby and shrug at the thought that they might have to adapt their lives to demands of motherhood. In such circumstances it is natural that they ask themselves the question whether the fetus is not some sort of intruder, assailant, parasite or an annoying burden in their life. We may be recalled in this context of the grim fate of women presented by Anonyma in Eine Frau in Berlin. Soviet (and Polish) troops have invaded the city, many women are raped, several are led to think they can only save some dignity and independence if they agree to find a protector to whom they will act as almost consenting lovers, some fight back and die. After a few months, large numbers of women find themselves pregnant with children of men whom they despised and by whom they had been dominated against their will, a fate which they opposed openly or privately. Many cannot bring themselves to think they will stay with a child of their enemies for the rest of their lives. So understandably, several facilities that procure abortion are quickly established, no questions asked, and many women make use of them. They do not hesitate, for they understand that the babies would become a terrible burden to them, a vital threat, an unwelcome encumbrance persisting to the end of in their lives. But the fetuses, we must admit, are morally innocent. They were not assailants or aggressors, they had exercised no ill will against their mothers and were not even causally responsible for their pregnancies. Still, anyone who reflects on this situation must see how desperately these women desired to avoid giving birth to a child they could not force themselves to accept and care for. It is natural to think in these circumstances that to a fetus the fact that it is morally innocent is not an immunity against harm or premature death. But this example shows something more, too. An act of elimination of an innocent individual is not always obviously or necessarily immoral. When the invaders made their appearance in Berlin, the endangered women could have initially fought tooth and nail to protect themselves. Any one of them could kill an assailant and say it was an act of war and he was enemy. So if in fact she has killed no one but was overpowered and raped instead, she could easily feel fully justified in thinking the offspring planted in her uterus was an enemy’s

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accomplice. Perhaps morally innocent but still hateful and repulsive. She would find it very inaccurate if someone described her abortion as an act of vengeance, or insisted that the aborted fetus was a victim of the victim. Even the fathers did not think so. Any woman who decided to abort in this situation could honestly say she was only fighting for a life that suited her sensibilities, for the possibility to have her own child in the future, for a vision of a close and trusting family with a man she understood and wanted to keep as a husband and life partner. If so much is granted, the innocence of intention is not a fully exonerating factor. Any well meaning individual can become an inadvertent perpetrator of harm, or a chance witness of indiscretion, or a clumsy wrongdoer. So one may be morally innocent but technically or instrumentally involved, and thereby causally responsible for somebody’s misery. It is understandable and excusable that people often feel justified in taking hostile action against such agents, and a fetus that finds itself in such a precarious position may pay with its life. We are faced with an unpleasant choice. We must either condone this state of affairs as inevitable predicament in human existence, or we must say that the raped women should have reconciled themselves with their misery and accepted what befell them. If you do the first, you declare yourself as a liberal with respect to abortion, if you choose the second, you declare yourself as a conservative. The problem is a reflection of a broader question discussed in ethical literature as the case of a trolley that comes to a fork and, depending on the position of the switches, either kills one man standing on one track or ten men standing on another, or it is discussed as the problem of a fat man that blocks the passage of rescue to some stranded tourists. No conclusive solution has been found to these queries, but some illuminating proposals were offered and it is helpful to study them. First, we must be clear about what counts as self-defense and what does not. If someone’s life is suddenly threatened, the person is entitled to protect herself resolutely, even if the protection results in the death of the attacker. For instance, anyone is permitted to use her gun when threatened by a robber with a knife. There is an asymmetry between the attacker and the victim in such a situation, the former is guilty, the latter is innocent. We would not like the innocent to perish in result of a strict adherence to the rule that all human life is of equal worth. For moral reasons an attacker’s life is of lesser worth than the victim’s. Moreover, it is an important caveat. The defender is entitled to kill the aggressor only if she has grounds for believing that her life is endangered. She will remain morally innocent though technically involved if she has no time to call and wait for help, and she has no means of pacifying the attacker by applying less radical but equally effective measures to stop him. Killing of the aggressor is not a right of the victim but a lesser evil. This situation also generates an obligation to help the victim on the part of any observer. Nancy Davis makes this point: [W]hen the attacker is a hostile aggressor or a deranged assailant, then one can argue that there is a morally relevant asymmetry that justifies our rendering assistance to the victim and our denying it to the attacker.1

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Secondly, we should distinguish between active and passive threats. An active threat arises if someone undertakes an action, perhaps quite benign in itself, in result of which a serious harm will be done to somebody else. For instance, if some people are washing windows standing on a scaffolding platform that is attached to the roof parapet, and another man who wants that job begins to detach the cables that hold the platform in position, it is excusable if you push the man over the edge of the roof in order to stop him when you know that other means of restraining him will be futile. This form of rescue is the only way to stop the assailant. If, on the other hand, you see a repair team servicing a high voltage network, and you notice that the truck driver has fainted and is sinking towards the acceleration pedal which will move the truck and cause the man standing on the platform to get enmeshed in the live lines he is repairing, you need not intervene. This is a case of passive threat which gives you no basis to distinguish between a perpetrator and a victim. The two parties must be treated as equally innocent, and therefore you have no moral reason to try to save one at the expense of another. Nancy Davis again: It is considerably less obvious how we are to justify killing to preserve our own life when the attacker has done nothing at all to threaten us but is, instead, a passive threat: someone whose mere movements qua physical object or mere presence constitutes a threat to our life.2

Thirdly, we should differentiate between a situation when somebody is taking a questionable action all by herself, and one in which she engages other agents to assist her in the dubious procedure under the pretext that they should help her. Thus you may be obligated to rescue a person attacked by an aggressor and threatened with her life. But this case cannot be extended to cover a situation when someone is soliciting your assistance not to save her life, but her possession, honor, good name, comfort, or most favorite life plan. This distinction implies that if a robber demands a wallet from his victim, but tells her he will not hurt her with the knife he is holding in his hand if she follows the order, she is presumably not fighting for her life and must not use her gun to kill the attacker. She can maim him, perhaps, but must not take his life. This distinction also shows that you are not obligated to assist the women in killing the assailant, and it indicates that you are not obligated to help a woman in procuring abortion for herself. These are three essential conditions that distinguish self-defense from other cases of defense against undesirable aspects of one’s current situation.3 They are not usually satisfied when a woman decides to have an abortion. First, the unwelcome fetus does not genuinely jeopardize the life of its mother. It does not, even if in the result of her pregnancy she contemplates to commit suicide. The fetus has no hand in her decision which is primarily motivated by her conception of a prosperous life.

1 2 3

Davis 1984, 197. Davis 1984, 190. Nancy Davis enumerates some more in Davis 1984.

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The situation is comparable to suicide committed out of overwhelming love. A man who kills himself because he has been rejected by a woman without whom he believes he cannot go on, is not, literally speaking, killed by that woman; he is a victim of suicide, not of homicide. Secondly, in general the fetus is not an active threat to its mother, as it takes no action against her at all, at best (or perhaps worst) it is a passive threat. Thirdly, the woman who wants to get rid of the gestating baby is fighting for her ideals, reputation, life plans and perhaps a good standard of living, but not for her life. So we can conclude that abortion is not an act of selfdefense in spite of some suggestion to the contrary arising from an influential article by Judith Jarvis Thomson,4 where she discusses the supposed right of a person who finds herself in a clinic and physically attached with tubes to a famous violinist, to whom, while she was unconscious, she has been connected upon his kidney failure because she has a rare blood group, the same that he has. This example may show that it is right to extricate oneself from the violinist, but at the same time, if our life is not threatened but only our freedom of movement is seriously limited, we are not, literally speaking, fighting for our life. But there is complication, and this conclusion is not final. It is not obvious that we are entitled to respond by killing an individual only when our life is at stake. Firstly, if our fundamental life plans and our freedom are essentially threatened we may decide this is worse than losing our life altogether. Secondly, it is not clear that the distinction between active and passive threats has such a strong bearing on the moral quality of an act. Thirdly, if we have the right to risk our life for other purposes than survival – which must be the case, for risking one’s life for survival is a self-defeating procedure – then we may be entitled, perhaps, to risk the life of others, if they attempt to stultify our life completely. Our fundamental life plans are indeed very essential to us. Slavery is commonly despised because it imposes the will of one man upon another reducing thereby the life of the latter to the passive unrolling of events over which she has no control. Michael Tooley invented an interesting test in which he compared negative preferences for having one’s life completely altered and the prospect of dying. Suppose that it becomes possible to completely “reprogram” an adult human’s brain while the person is unconscious – that is to act on the person’s brain in such a way as, first, to destroy all of that person’s memories, beliefs, attitudes, and personality traits, and then, second, to program in whatever new beliefs, attitudes, personality traits, and apparent memories one chooses.5

The results showed that most people are almost indifferent between becoming somebody else and dying. Basically, we want to remain what we are. We want to be in control not only of our contact with other people and the environment, but also of our emotions, opinions and attitudes. We want to be masters of our lives. Some

4 5

Cf. Thomson 1971. Tooley 2009, 30.

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individuals would rather survive as slaves than die, but there are not many who think so. Most, having a choice of approximately 95% chance of death, and 100 % chance of total brain erase and reprogramming say it makes no difference to them which option comes true. This means that a meager 5 % chance of remaining what we are is better to us than saving our life while being forced to become somebody else. The […] people to whom I have presented these options […] almost always preferred the option where the chance of death is less than 100 percent [and their brain is left intact] to the option where one is reprogrammed 100 percent.6

Also, the distinction between active and passive threat is not as simple as it looks. Consider an example constructed by Nancy Davis: Alice and Ben are mountain climbing when a rockslide occurs that threatens to sweep Ben off the ledge that he has been standing on. If Ben falls straight down – as he is virtually certain to do – he will fall onto Alice, for she is standing on the narrow ledge beneath his, and surely kill her. If Ben manages to land on Alice’s ledge, however, he is unlikely to be killed: indeed, he is unlikely even to be seriously hurt. Alice can determine how Ben falls, for she can manipulate his rope if she chooses to do so. If she gives his rope a tug, she will deflect Ben’s fall and thus preserve her life. But she will kill Ben in the process, for if he does not land on Alice’s ledge, then he will tumble down the side of the mountain to his death. Alice cannot survive unless she deflects Ben’s fall; Ben cannot survive if she does.7

Here Ben poses a passive threat to Alice if she pulls the rope; and he poses an active threat to her if he jumps. Alice poses a passive threat to Ben if she knows he cannot jump out of consideration for her; and she poses an active threat to him if she tugs the rope in an attempt of saving herself. If Alice does not pull, and Ben does not jump, they both presumably die. Passively. It is not clear in this situation that an active response is better than the passive one, or that by taking an active stance the agent incurs moral responsibility, while by remaining inactive shuns it. This intractable conundrum has been dissected many times in many versions of the trolley problem,8 initially developed by Philippa Foot,9 and the Fat Man problem. Suppose a normal course of events, if it is uninterrupted, will cause death of a sizable number of people. Our intervention can save some of them. Is it our obligation to intervene? Imagine you stand in front of a burning house. You can see five children’s faces in a first floor window. You can easily save one or two children, and no doubt you will try. But getting a third child out may be dangerous to you, and getting out all five of them is out of the question. When shall you stop, at the third or at the fourth child? Probably it is a blessing you will never know exactly 6 7 8 9

Tooley 2009, 31. Davis 1884, 190 – 191. Cf. Parfit 1984. Foot 2003.

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how hard it is for you to get the fourth and the fifth child. Maybe you will manage to carry them out under your arms in pairs and then you will save them al plus yourself. But it does not matter now, because here comes a further complication. You are in front of a burning house again, and there are five children’s faces in one window, but still one more, of the sixth child, in the window on the other side of the front wall. Where shall you go now? Must you always save the multitude at the cost of a lonely individual. Is it morally irrelevant whether you leave the fifth child to its doom or not even try to save the single child on the other side of the house? A utilitarian would say, save the happy ones, an advocate of virtue ethics would advise you to follow your good character, a game theorist would suggest to toss a coin.10 An ethical pluralist would say (and you had better think twice before you reject this answer) it does not matter essentially how you choose, as long as you follow well known rules of the thumb: save as many as you can, start from the easy cases, help those who can help themselves or whom your compassion orders you to help. Many additional rules, produced ad hoc, are less reliable, e.g. first come first served, or if life-saving considerations are inconclusive consult property rights. Such principles are rather doubtful but nevertheless have been offered. Alcove: You are in a tunnel and see a runaway trolley headed straight for you and it will kill you if do not escape. You can only escape the trolley by squeezing into a small alcove in the tunnel. Unfortunately for you, there is already someone in the small alcove. You could pull them out of the alcove and onto the tracks, where they will die, so you may fit in the alcove and save yourself. The person already in the alcove is an Innocent Obstructor. Innocent Obstructors are not morally responsible for what threatens your life, but they block your path to safety and can only be moved at the cost of their life. I believe it is clear that in cases such as Alcove it is impermissible to kill Innocent Obstructors.11

What Jonathan Quong says here has important implications for abortion. If a fetus is like an Innocent Obstructor, it must be spared. It is protected especially from any possible claims to the place on behalf of other zygotes – even if the claims are supported by the argument that the zygotes will be jointly created in a few years by the woman and the man she will love. Such demands must be dismissed because the current fetus, as an Innocent Obstructor, enjoys immunity. Jonathan Quong offers one more principle that may be applicable in the situation of an unwelcome fetus. Its practical consequence works in the opposite direction. Consider the following example. Meteor: A small meteor is falling toward you and will kill you if it lands on you. The only safe place where you can avoid the meteor is your very tiny one-person car. But there is already someone in your car – this person was placed there without [your] consent by some third party. You could, however, pull [her] out of the car, thereby ensuring [she] will die, so you can get inside to safety. I think it is clear that you may act [so] in this case – it is, after all, your car. It is unfortunate that you and the other

10 11

Cf. Szaniawski 1994, 513. Quong 2009, 526.

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person cannot both survive the oncoming meteor, but you have a prior claim to your car and so can permissibly remove the other person from the car to save your life.12

This example seems to suggest that a pregnant woman can decide whether the fetus nested in her uterus will remain there or not. After all the uterus is part of her body and she is entitled to get the intruder out of her property. We can note that the theoretical construction of this argument resembles the reasoning used in Roe v. Wade,13 which gave women the exclusive right to decide about the condition of their bodies, with the implication that they may abort through the second and third trimesters without consulting the state interest in the further existence of their fetuses. As for permissible involvement of third parties without their agreement in dubious action, the matter is only remotely related to self-defense and abortion. In one possible version a fully developed argument is never seriously put forward. It would have to say that a woman who undergoes an abortion in a clinic forces the doctor to some extent to do things that he is reluctant to do under the pretext that he must help her in the act of self-defense against fetus. This is by far not the normal case. The doctor will usually agree to conduct an abortion if it is part of his professional duties, and if he objects for moral reasons against the procedure, he will not work in a clinic whose policy is to consider abortion legitimate and allow his patients to cajole him into acts that he finds unprofessional. The question of saving the life of the patient can arise only if the patient has started performing an abortion on herself and her action led to serious health complications. But generally speaking, saving life is not the same with assisting in self-defense. Finally, the idea that a woman defends herself against the demands of her fetus is not credible. This strategy of defending abortion will not work. In the other possible version of the argument, one must say that the doctor is a willing accomplice and the fetus is a morally innocent third party that may be involved in making a huge sacrifice for the benefit of somebody else. If abortion is so described it is morally unacceptable. But it is not clear that it has to be described in these terms. This is what J. J. Thomson says about it: Compare the following possibility. I am asked for a donation to Oxfam. I want to send them some money. I am able to send money of my own, but I don’t feel like it. So I steal some from someone else and send that money to Oxfam. That is pretty bad. But if the bystander proceeds to turn the trolley onto the one on the right-hand track in Bystander’s Three Options, then what he does is markedly worse, because the cost in Bystander’s Three Options isn’t money, it is life. In sum, if A wants to do a certain good deed, and can pay what doing it would cost, then – other things being equal – A may do that good deed only if A pays the cost himself.14

12 13 14

Quong 2009, 527. Cf. Feinberg 1984; Baird / Rosenbaum 2001. Thomson 2008, 367.

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This is true, but largely irrelevant. Thomson’s example shows only that magnanimity does not have a redeeming value over theft. Robin Hood is not everybody’s hero. But this observation cannot directly refer to abortion. We cannot say that if a pregnant woman wants to be free she must pay for her freedom out of her own resources, and not with the life of the fetus. Her freedom can be bought only by death of the fetus and this cost is not transferable. The woman does not have a choice of either paying the cost or deferring it on the fetus, as the two facts are identical. Accepting the costs means that the fetus will die. Also, the case of Fat Man does not seem to fit well in the circumstances of the abortion dilemma. Admittedly, an unwelcome fetus is an obstacle to a woman’s future, so the fetus is to some extent like a fat man blocking the passage to her further life. And J. J. Thomson argues now,15 clearly against the drift of her argument in the earlier paper,16 that such sacrifices must not be made. Consider Fat Man again. It would be strikingly abhorrent for me to shove the fat man off the footbridge down onto the track, thereby killing him, even though more people will live if I do than if I don’t. Consider a case often called Transplant: I am a surgeon, and can save my five patients who are in need of organs only by cutting up one healthy bystander – a bystander who has not volunteered – and distributing his organs among the five. Here, too, it would be strikingly abhorrent for me to proceed. Even more so, in fact. By contrast, it does not strike people generally as abhorrent for the bystander to turn the trolley. However, that difference cannot be thought to explain why people think that the bystander may proceed whereas the agents in Fat Man and Transplant may not. Rather it is what has to be explained.17

No doubt all will agree that chopping up a healthy patient in order to save five others, who are in need of organ transplants, is not acceptable. The main reason why we think so is, I would say, that the healthy patient is neither morally nor technically responsible for the misery of the five. But whether we would say the same thing about the Fat Man is a debatable question. He is technically responsible for the misery of the people that he is blocking. So we may find that although it is abhorrent, the Fat Man has to be sacrificed. Once we make that decision our scruples about abortion may be lessened. After all, the Fat Man realizes what is happening to him, and the fetus does not, so presumably he will not suffer.

II. The Fibers of Personhood A strong argument against killing a fetus is the claim that every fetus is a person. This tenet can be interpreted in linguistic, religious or metaphysical terms, and unfortunately these aspects are not always clearly distinguished. They should be, be15 16 17

Thomson 2008. Thomson 1971. Thomson 2008, 373.

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cause a linguistic claim is about words, not about objects; a religious claim is about what certain congregations are obligated to believe and how they should behave; and solely the metaphysical claim tells us what persons are. Thus, for instance, what Loren E. Lomasky primarily, and Randy Alcorn essentially, say about persons are statements about how the word “person” is used, and as such they are undeniably true. There are numerous moral considerations that apply to persons but either do not apply at all or only with lessened force to nonpersons. One may kill an animal but (logically) not murder it. Nor can an animal be a murderer. Conventional actions creating obligations such as making a promise can only be performed between persons.18 Dictionaries define person as a “human being,” “human individual,” or “member of the human race.” What makes a dog a dog is that he came from dogs. His father was a dog and his mother was a dog, and therefore he is a dog. What makes a human a human is that he came from humans. His father was a human person and his mother was a human person, so he can be nothing other than a human person.19

A religious claim is made, for instance, by the Catechism of the Catholic Church in paragraph 2274 by stating that human fetuses and embryos ‘must be treated from conception as a person.’ This requirement may be supported by the belief that human fetuses are composed of a body and soul, and consequently by killing a fetus the body is separated from the soul, and the resulting death is human death. It may be connected with controversies about infant baptism, though John T. Noonan Jr. emphasizes that historically there was no such connection: “The Christian position as it originated did not depend on a narrow theological or philosophical concept. It had no relation to infant baptism.”20 The requirement that human zygotes, fetuses and embryos are to be treated as persons was confirmed by the Vatican’s Instruction on Bioethics Dignitas personae in 2008. If Donum vitae, in order to avoid a statement of an explicitly philosophical nature, did not define the embryo as a person, it nonetheless did indicate that there is an intrinsic connection between the ontological dimension and the specific value of every human life. Although the presence of the spiritual soul cannot be observed experimentally, the conclusions of science regarding the human embryo give “a valuable indication for discerning by the use of reason a personal presence at the moment of the first appearance of a human life: how could a human individual not be a human person?”. Indeed, the reality of the human being for the entire span of life, both before and after birth, does not allow us to posit either a change in nature or a gradation in moral value, since it possesses full anthropological and ethical status. The human embryo has, therefore, from the very beginning, the dignity proper to a person.21

18 19 20 21

Lomasky 1984, 161. Alcorn 2000, 74. Nonnan 1984, 9. Dignitas personae, para. 5.

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The metaphysical claim that human fetuses are persons is the most interesting of the three, the most difficult to defend, and the most important in virtue of its normative consequences which are presumably valid universally, not only within specific churches. The metaphysical conception of personhood has two versions described by Derek Parfit as the Reductionist View and the Non-Reductionist View.22 The distinction is based on the following considerations. There may be two different sports club. One is a football club, the other is a swimming club. But it may happen that exactly the same members belongs to the two clubs. If they meet outside of their club premises we may be in doubt if they meet as footballers, or if they meet as swimmers, or if they meet in a still different capacity. Thus club identity is not reducible to membership. If you want to know what it means to be a club member it is not enough to observe what the members do. It is important to know what they do qua club members. But we can have an opposite situation as well. We can have one football club with two different sets of members, say, seniors and juniors. Then, although the members are distinguishable as individuals or as age groups, they are not distinguishable as club members. Club identity is reducible to membership. If you want to know what it means to be a club member, you will be told. You must play football wearing appropriate outfit plus support your club, respect your club, cheer with your club, etc. On the Non-Reductionist View, being a person is not reducible to any set of physical, biological, mental or social properties of human beings. Observable properties may all change, as they usually do for a human being between childhood and adulthood, but the individual will remain the person which she was for ever after. “On [this] view, we are separately existing entities, distinct from our brain and bodies and our experiences, and entities whose existence must be all-or-nothing.”23 Our identity is firmly established by some hidden entities, like the soul or the Cartesian ego with which we must identify. It is not only anathema for a Non-Reductionsit to surmise that he might refuse to identify with his soul. For him, it is metaphysically impossible. Being himself means for him being identical with his soul, the invisible, unobservable, mute, passive, practically non-existent partner, always present with him but never communicating. On the Reductionist View you are a specific person because you have specific properties, your individual DNA, your memory, skills, attitudes and aptitudes. But not because you descended from your parents on a particular date, or because you took monastic vows or because the president of the republic honored you with a specific distinction on a specific occasion which presumably distinguishes you from every other individual on earth. What properties are person-making properties is not a crucial question. It is essential that such properties exist and that their occurrence

22 23

Cf. Parfit 1984, especially Part 3. Parfit 1984, 273.

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can be empirically ascertained. Parfit is a Reductionst,24 and on his views we are only roughly identical with ourselves – though no one can be more identical with us than ourselves – because our identity does not terribly matter. Parfit does not claim that Reductionism is scientifically or philosophically true. I concede that the Non-Reductionist View might be true. There might for example have been evidence supporting the belief in reincarnation. But there is in fact no good evidence for this view, and much evidence against it.25

The advantage of the Reductionist View is that it rejects hidden facts and refuses to solve intractable problems of elusive identity. Imagine a man in the style of Franz Kafka’s short story who wakes up to discover he is a huge cockroach. He may be troubled by the question, has he entered the body of the cockroach and become a cockroach, or has the cockroach which lived in his kitchen devoured him and overpowered his mind and memory? The difference is that he may still be himself but changed into a cockroach, or he may be dead, and the cockroach now has become himself. A Non-Reductionist must speculate on these possibilities; a Reductinist may say they are indistinguishable. On the Reductionist View, my continued existence just involves physical and psychological continuity. On the Non-Reductionist View, it involves further fact. It is natural to believe in this further fact, and to believe that, compared with the continuities, it is a deep fact, and is the fact that really matters. When I fear that, in Teletransportation, I shall not get to Mars, my fear is that the abnormal cause may fail to produce this further fact. As I have argued, there is no such fact. What I fear will not happen, never happens. I want the person on Mars to be me in a specially intimate way in which no future person will ever be me.26

A Reductionist and a Non-Reductionist must view the personhood of fetuses differently. A Reductionist would say there is as much personhood in the fetus as can be found in it; a Non-Reductionist would say that a fetus is a person like you or me simply because it belongs to the category of persons, and the fact of belonging cannot be empirically confirmed because it is not empirically observable. Reductionists have to face bitter irony. A pamphlet distributed by Milwaukee Save Our Unwanted Souls points out that under current U.S. law, corporations are considered legal persons, while humans in prenatal development are denied this moral status.27

Non-Reductionists have to meet with derision. How is the claim that all fetuses are persons different for the postulate that all innocent carrots have a serious right to life? Both are groundless, says Michael Tooley.28

24 25 26 27 28

Parfit 1984, 273. Parfit 1984, 275. Parfit 1984, 279 – 280. Murti 2006, 41 – 42. Tooley 2009, 27.

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The proposal to establish personhood by using empirical indexes is by some critics found to be naïve. There is no single core of necessary and sufficient features which we can draw upon with the assurance that they constitute what really makes a person; there are only features that are more or less typical.29

To other students of the problem, personhood can be established without difficulty if it is there, with some uncertainty if it is only fragmentary or latent, and with much hesitation if it is imperfectly developed and frozen in this state.30 There can […] be human fetuses with such severe deformities that they will never develop a brain capable of sustaining thought, or even any brain at all. […] One could, I suppose, characterize such a fetus as a person whose capacity for thought simply happens to be “blocked” by the contingent fact about its head. But then it is difficult to see why we should not also call the spider crawling up my window a person.31

The Non-Reductionist View is often supported by the species essence argument. The argument says that whatever is a human organism is a human person. The quoted opinion of Alcorn and the position of Dignitas personae belong in this category. If this argument is intended as an analytic claim to the effect that someone will use the terms ‘human organism’ and ‘human person’ as interchangeable, it must be taken at face value. If it is intended as an injunction that every human organism is to be treated as a bearer of all human rights, the argument is ad hoc and groundless. If it means something in between, it is not clear what it means. The species essence argument rests at least in part on the claim that the fact that you now have the capacity to be able to do something later imposes moral limits on how we are permitted to treat you now. […] Now, an argument in defense of the moral relevance of such potentiality may well be forthcoming. […] But even if such an argument succeeds, this will [only] show that the fetus has a right to life because of facts about its capacities, [and] not because of facts its species membership.32

The Reductionist View is compatible with major changes in personal identity as long as these changes are continuous, firmly ingrained, do not involve a forking out as in the case of split personality or fictitious simultaneous teletransportation to different planets. It is clearly plausible to say that we will never be a being other than the being we were as a zygote, but it is clearly implausible to say that we will never be anything more than what we once were, at least if this means possessed of more rights than we possessed at some earlier point.33

29 30 31 32 33

English 1984, 153. Cf. Warren 1984, passim. Boonin 2003, 24. Boonin 2003, 25. Boonin 2003, 53.

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To a Reductionist, personal identity may be slightly blurred in cases of identity confusion, and personhood may be graded. To be fully a person means having full citizens’ rights, being capable of arranging one’s life, possessing typically human emotions and the ability to enter in various social relations. Mary Anne Warren also mentions consciousness, reasoning, self-motivated activity, the capacity to communicate, possession of self-concepts.34 Obviously, by these criteria fetuses are not persons and consequently do not possess a right to life, which does not mean that they may be wantonly killed but that the kind of protection they must be given is different from the protection that a society accords to children and adults. We do not need to insist that a potential person has no right to life whatsoever. There may well be something immoral, and not just imprudent, about wantonly destroying potential people, when doing so is not necessary to protect anyone’s rights.35

So fetuses may have several rights even if they are not persons. These rights, like the entitlement to parental care, to emotional support and to have broad chances of development may be more important to them than the alleged right not to be killed. As they grow up, however, the scope of their right changes and gradually resembles the range of rights of adults. Given our awareness of the spectrum from poverty to riches, from baldness to a full head of hair, and from conception to adulthood, we can specify quite precisely where an individual falls along any of these spectrums. […] It is this reasoning, I find, that influences our moral thinking about abortion. It explains (1) why no one favors infanticide, since with infants there is no conflict of rights [between mother and offspring], (2) why we think one should save the life of the mother if it is necessary to choose between her life and that of the unborn, (3) why we find it impossible to draw a line […] and insist that abortions a few minutes earlier are significantly morally different, (4) why we are more and more reluctant (as we go back in the life of a fetus) to say that this is a human being and must be treated as such, and (5) why the use of the “morning after pill” seems to so many people to be morally unobjectionable.36

III. The Right to Life and Its Flexibility The process of ascribing specific rights to zygotes, fetuses, embryos, newborns, etc., can be based on the principle of proportionality. The logical form of […] proportionality is (L) if x units of some property Q justify that one have x units of some right or duty E, then y units of Q justify that one have y units of some right or duty E. […] Now, whatever nonmoral properties one selects as a basis for determining human rights, it seems likely that those properties will be comparative and thus involve (L) in any assessment of whether a being has any rights.37 34 35 36 37

Warren 2001, 274 – 275. Warren 2001, 115. Gillespie 1984, 96. Gillespie 1984, 95.

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By applying this principle we can determine what is important for an individual that has to be cared for and protected. In the case of zygotes, fetuses, etc., these requirements are comprised in the rules of child care. Those rules do not specify whether a particular child should be fed more vegetables or more proteins, but they are specific enough to let its mother make her own decisions about what the child needs. Advocates of absolute rights find such vagueness unacceptable. They want to have clear cut recommendations that firmly state what every child must obtain. As children are to some extent different, universally valid requirements must be few, simple and categorical. They may say e.g. that a fetus has a right to life and a right to a proper name, but not that it has to be nurtured, supported with attention and love by their parents. Love cannot be prescribed and attention can be faked, so such recommendations are often found to be arbitrary and unenforceable. Some advocates of absolute rights believe moreover that the principle of proportionality, or any other conception of flexible rights, is susceptible to the slippery slope objection. Suppose that somebody proposes that fetuses may be aborted in the first trimester, but not later. An antiabortionist may then ask why abortion is permissible only through the first trimester and not through the first trimester plus one day, or plus two days, etc. Consequently, he will argue, whoever proposes to make abortion legal, must accept infanticide. As one advocate of the [slippery slope] argument put it, “My question to my pro-abortion friend who will not kill a newborn baby is this: ‘Would you kill this infant a minute before he was born, or a minute before that, or a minute before that, or a minute before that?’ This slippery slope argument appeals to many people. Indeed, it is perhaps the single most common argument against abortion.38

David Boonin has a good reply to this objection. One common response to the slippery slope argument is to insist that it embodies a simple logical fallacy. For one could apparently say precisely the same thing about brightness of the sky at noon and the darkness of the sky at midnight.39

As we have learned to distinguish between day and night even though there are hours of twilight, we can learn that some fetuses are, say, non-sentient until the end of the first trimester but probably acquire vestigial sensitivity to some aspects of their conditions after that time. The moment when this ability appears may be difficult to establish but it is not arbitrary or conventional. The problem since when the life of a developing human individual is to be defended as an autonomous value needs not be decided by a priori metaphysical assumptions. It may be solved by scientific findings.

38 39

Boonin 2003, 34. Boonin 2003, 35.

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[T]he fetus acquires the right to life that you and I have when it begins to have conscious desires, […] this occurs when it begins to have a certain kind of electrical activity in its cerebral cortex, and […] this occurs at some point from 25 to 32 weeks after fertilization.40

To proponents of absolute rights this is unacceptable. To proponents of flexible rights this proposal is convincing on the condition that human rights will be based on some conception of interests and desires which is not overly arbitrary and presumptive. David Boonin has proposed some distinctions that can make flexible rights sufficiently firm to be credible, though not absolute. Rights should serve not to defend and protect actual desires that may be short-termed and based on false premises, but durable desires, even if they are only potential, but which would be competently formed and consciously approved, if they had a chance. He calls them ideal desires. Since ideal desires, as I defined them, are simply the content of actual desires corrected to account for the distorting effects of imperfect circumstances, and since a zygote has no actual desires to suffer such distortions, I conclude […] that the best version of the future-like-ours account of the wrongness of killing failed to establish that the conception criterion should be accepted. But […] it did not follow from this that there was no point in fetal development at which the argument would justify attributing to the fetus such moral standing.41

The conception criterion states that a human being is a human person from the moment of conception. And because every human person has an absolute right to life, so does a conceptus and a fetus. But this claim cannot be rested on either actual or ideal desires, argues Boonin, because ideal desires are always derived from actual desires, and a fetus does not have any actual desires until quite some time after conception, and then, it does not have an actual desire to continue living on which the ideal desire to live could be based. So it does not have a right to life. [U]nlike the cases of the temporarily comatose adult and the suicidal teenager, it is not reasonable to attribute the preconscious fetus a present ideal dispositional desire that its personal future be preserved. If this claim is correct, then my version of the future-like-ours principle does not imply that the conception criterion is correct, while Marquis’s version does imply that it is correct.42

Another way of arguing to the same conclusion is to say that all rights must be addressed to some agents. If parents have a right to know where their children want to spend an evening, this right is addressed to the children, and they must tell their parents. To ascribe a right to A is, therefore, to assert that there is at least one person who has a duty to act or to forebear from acting in the interest of A, in a manner indicated by the content of the duty in question.43

40 41 42 43

Tooley 2009, 127. Boonin 2003, 124 – 125. Boonin 2003, 79 – 80. Campbell / McKay 1978, 20.

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This proposal sounds convincing in principle, but it may not be sufficient for solving controversial cases. Even if we agree to apply the principle of proportionality we may be uncertain at which point parents lose their right to know where their children want to spend the evening, to say nothing of the night. At sixteen, at twenty one? This uncertainty explains why some philosophers believe that by reference to rights alone it is impossible to solve conflicts of rights. [S]o long as the recipients of the obligation are neither all others nor specified others, there are no rights holders, and nobody can either claim or waive performance of any right. […] The obligations of roles such as parent or social worker are commonly taken to require more than meeting those rights which are institutionalized with the role.44

Onora O’Neill consequently favors discourse on obligation rather then one on rights. This preference can be supported by several arguments, but one of them says that every conflict of interests can be translated into a conflict of respective rights. Presumably, up to a certain moment parents have a right to know where their children are going in the evening. But after that moment, the children have a valid right to go out without telling their parents where they go to. How is this moment of the expiration of one right and the maturation of another to be established? Similarly, if an advocate of absolute rights proclaims that every fetus has a right to life, one can propose an equally general right, and presumably absolute as well, that “there is no such thing as the right to be born.”45 It is not helpful, therefore, to reduce an alleged conflict of interests between a woman who does not want to have a baby and the fetus present in her womb as a conflict of rights. The belief that fetus’s right to life is absolute while mother’s right to freedom of movement is conditional cannot be supported apart from the premise that a fetus is a person. But that claim obviously begs the question as it is tantamount to saying that the fetus has an absolute right to life. On the contrary, one can offer several arguments to support superiority of mother’s rights, which do not beg the question. [B]ecause the fetus is (unilaterally) dependent upon the pregnant woman, different relative strengths are to be assigned to the woman’s claims and the fetus’s claims ab initio: the fetus is not (for it never was) the woman’s moral peer.46

If the fetus is not the woman’s moral peer, it is at her mercy, so to speak, not only technically but also morally. Having a baby must be construed as an act of supererogation. If we think the fetus owes the woman a debt of gratitude, then it appears that we are regarding pregnancy as a continuing act of supererogation: when a woman prefers to discontinue the pregnancy because the burden of providing fetal life-support has become too onerous, then she does not wrong the fetus, for she is merely declining to continue doing it a favor.47

44 45 46

O’Neill 1988, 448 – 449. Campbell / McKay 1978, 27. Davis 1984, 204.

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Probably it would be safer for the fetus, if it could and had a real interest in its own life, to opt for protection by flexible rights than by absolute rights. It is essentially in the interest of the fetus to secure its well being rather than future existence. What is typically described as a right to life is not at bottom a right that organisms possess. It is, instead, a right that persons have, and, as reprogramming objection, for example, shows, what that right is, most fundamentally, is not a right to life, but a right to continued existence as the person that one is.48

We may also note that in contemporary times a court has ruled that a particular fetus must be given a particular form of care, while probably no court has decided, though such decisions were made in ancient Rome, that a particular fetus must be born against the will of its mother. A 1964 New Jersey Court ruling required a pregnant woman to undergo blood transfusions – even if her religion forbade it – for the sake of her unborn child. One could argue, therefore – apart from religion – that recognizing the rights of the human unborn, like the rights of blacks, women, lesbian and gays, children, animals, and the environment, is a sign of secular social progress.49

There is one more undesirable consequence that is incurred by establishing an absolute right to life for fetuses. This right is massively violated by women who become pregnant, but within one or two weeks lose their fertilized ova without being aware of the fact. No one seriously believes that human persons are then dying. Moreover, if zygotes are human beings then high risk pregnancies become a dangerously frivolous play with death. Consider, for example, what it would imply about women who are highly prone to miscarriage. If the claim is true, then if such a woman chooses to try to become pregnant, she seriously harms each fetus that she fails to carry to term.50

IV. Inconclusive Entitlements Admissibility of abortion can be viewed as a problem determined by the rights of pregnant women and the rights of their fetuses, but it can also be viewed as an act of killing. To most people the idea that some actual or potential human being will be deprived of its life is repulsive. This consideration may countervail any findings about rights. Opponents of abortion argue in different ways that killing a fetus is wrong even if it is permissible in some circumstances. A widespread and rhetorically forceful argument claims that there is no morally important difference between a fetus and a child. The argument is called SLED. 47 48 49 50

Davis 1984, 200. Tooley 2009, 59. Murti 2006, 8. Boonin 2003, 178.

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The pro-life position is philosophically sound (SLED test). There are only four differences between a fetus and a newborn, none of them relevant: (S)ize: The child in the womb is smaller than a newborn, but since when has size had anything to do with the rights that people have? (L)evel of development: Is a four year old girl who has yet to develop her reproductive system less human than an adult woman? (E)nvironment: Where one is has no bearing on who one is. A child in an incubator is not less of a child than one in her mother’s arms. (D)egree of dependency: If viability makes you human, then those depending on kidney machines and insulin are non-persons and we may kill them.51

To a liberal opponent this argument is worthless. Klusendorf is obviously wrong when he maintains that there are only four differences between fetuses and newborns. There are many more. For instance, no fetus has any of the five characteristic of persons enumerated by M. A. Warren (consciousness, reasoning, self-motivated activity, the capacity to communicate, possession of self-concepts). Another anti-abortionist argument says that if we are ready, in some circumstances, to risk our life in order to save somebody else’s life, we cannot consistently terminate some human life in order to make our own life more comfortable. For instance, a woman who once jumped in water in order to save a drowning child of people she did not know cannot consistently show no interest in the life of her own potential child, or even be ready to terminate it. [Supposing that the sacrifices we would have to make in two cases were comparable] we must distinguish the taking of X’s life from the saving of X’s life, even if we assume that one has a duty not to do the former and to do the latter. Now that second duty, if it exists at all, is much weaker than the first duty; many things will relieve us of it which will not relieve us of the first one. Thus, I am certainly relieved of my duty to save X’s life by the fact that fulfilling it means a loss of my life savings. It may be noble for me to save X’s life at the cost of everything I have, but I certainly have no duty to do that. And the same thing is true in cases in which I can save X’s life by giving him use of my body for an extended period of time. However, I am not relieved of my duty not to take X’s life by the fact that fulfilling it means the loss of everything I have and not even by the mere fact that fulfilling it means the loss of my life. […] [S]omething more is required before rights like self-defense become applicable. A fortiori, it would seem that I am not relieved of my duty not to take X’s life by the fact that its fulfillment means that some other person, who is innocently occupying it, continues to use my body. I cannot see, then, how the woman’s right to her body gives her a right to take the life of the fetus.52

This argument is emotionally persuasive, even if not logically impeccable. As a matter of fact, it is not inconsistent for a person who does not want to have a child of her own to show compassion to a drowning child of somebody else. She may believe that she could never make a good mother, for instance. But that belief does not compel her to remain indifferent to a child that fights for its life. A third kind of argument highlights the fact that abortion is a brutal and violent procedure and that it leaves bad memories. 51 52

Klusendorf 2002, 43. Brody 1972, 339.

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One method used after twenty weeks is dilation and extraction (D&X) – the notorious “partial birth abortion.” This procedure is performed from the threshold of viability to well into the period when the fetus would certainly be viable. Because it becomes harder as pregnancy progresses to dismember the fetus, this method removes the baby in one piece except the brain, which is sucked out through an incision made in the skull while the head is still in the womb to decompress the head and make it easier to deliver through the cervix, while avoiding a live birth.53 Long-term negative psychological effects have been found to include depression, eating disorders, flashbacks, nightmares, lowered self-esteem, numbness, feeling of powerlessness, emptiness and loss, anger distrust, difficulties in establishing intimate relationships, problems bonding with subsequent children, and self damaging behaviors such as substance abuse and suicide.54

These discouraging arguments are justified and basically true. But people who use them should bear in mind that one can sweeten a prohibition with discouragement, but not justify it in this way. It makes sense – though it may not always be wise – to tell a woman who intends to have an abortion that she may regret this decision afterwards. It does not make sense to tell her that because she may regret that decision in the future she must now be prohibited to make it. It is also inaccurate – though sometimes such an argument is offered, too – to say that any person who considers abortion permissible lacks understanding of the true nature of the relationship between a parent and a child. By denying any obligation to care for our own offspring, Thomson treats every parent / child relationship as an adoptive one.55

The mere fact that a woman deliberates whether she has to give birth to a child already nested in her organism does not indicate that she cannot be a good mother, that she is cold and unsympathetic, that she cannot share sentiments of women who have close emotional ties with their children. Nancy Davis rightly points out that a pregnant woman, and then a good mother, must devote a large part of her life to the care of the child. She must often give up her professional career, or slow down its progress, she may be compelled to renounce many kinds of pleasures she enjoyed, and usually she must reconcile herself with systematic preoccupation with nurturing routines that are dull and debilitating. A woman who refuses to do so may simply act on the conviction that such changes in her life will make her a sour, disappointed hag who will blame her misery on the child. Moreover, pregnancy causes some changes in a woman’s body that some ladies are not ready to accept. A pregnant woman is thus not in the position of someone who is (merely) reluctantly providing a time-consuming and exhausting service to another person. Nor is she (merely) in 53 54 55

Wolf-Devine / Devine 2009, 77. Wolf-Devine / Devine 2009, 87. Wolf-Devine / Devine 2009, 74.

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the position of someone whose body is regarded by others as a resource of the community, in the way that the possessor of a rare blood type might be so regarded in an emergency, or the possessor of two healthy kidneys might be regarded in a society beset by hereditary kidney disease. Pregnancy is, by its nature, a more intimate invasion, for it modifies a woman’s self: it takes her over by hormonal alteration, as well as in more subtle ways.56

One more important issue is whether pregnant women can have an accurate image of their future life in its two possible versions, with and without a child. There is no reason to believe that they all will or that they all will not. Some pregnant women are emotionally and intellectually mature, some are not. But it is presumptuous to assume that in general, whether pregnant or not, we are unable to imagine our future moods and conditions, or that we cannot now correctly assume that we will have some emotions in the future which are now yet absent. In the little controversy between J. David Velleman on the one hand, and T. D. Campbell and A. J. McKay on the other, I think the latter are right at least in most cases. [I]n the case of procreative decisions, some of the most significant attitudes are essentially retrospective – such as love for a particular child, which is not available antecedently to guide the decision. It makes no sense to conceive a child out of love for it, an attitude that will not be possible until it exists. After the child exists, both thankfulness and regret may make sense as responses to it under different modes of presentation; and they may make sense all things considered, as parts of a holistically intelligible set of responses.57 [T]he interests of future generations and the future interests of existing persons may have to be weighed against the present interests of those now living.58

V. Rights versus Obligations The foregoing considerations indicate that an abortion decision should not be made exclusively in the perspective of a theory of rights, nor exclusively in the perspective of a theory of obligations. Both seem pertinent and relevant. Nancy Davis and Onora O’Neill seem to agree on this point, though Davis is primarily concerned to point out that women’s actual and competent interests take precedence over potential interests of the fetus, and O’Neill highlights the role of imperfect obligations. I believe that it is a mistake to approach the abortion dispute with the assumption that a satisfactory strategy for its resolution is one that attempts to resolve the conflict between the woman and the fetus by seeking to balance the rights of the one against the rights of the other.59 If rights are taken as the starting point of ethical debate, imperfect obligations will drop out of the picture because they lack corresponding rights.60 56 57 58 59

Davis 1984, 200 – 201. Velleman 2008, 287. Campbell / McKay 1978, 26. Davis 1984, 184.

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Imperfect obligations are those which are binding for an agent but may be executed at his or her convenience in contexts they choose, on occasions they like. It is good, for instance, to sing lullabies to your child, but which lullaby you choose and when you will sing is not relevant. Imperfect obligations are traditionally thought to comprise matters such as help, care or consideration, and the development of talents, to whose specific enactments others have no right, but which agents are obliged to provide for some others in some form.61

Onora O’Neill seems to expect quite a lot from good parents. In effect, she indicates that many parents do not fulfill their duties, but act negligently without understanding what they do and without a sense of guilt. Cold distant or fanatical parents and teachers, even if they violate no rights, deny children “the genial play of life”: they can wither children’s lives. Children can hardly learn to share or show “the unbound grace of life” if we are concerned with their enforceable claims against others.62

But obviously children cannot get better parents to make sure that they have better parental care. They cannot rebel against their parents to show them they need more love and care. In most cases of emotional neglect and abandonment they do not even realize they have been deprived of something very essential for them. They cannot close ranks and fight as an oppressed class. [T]he analogy between children’s dependence and that of oppressed groups is suspect. When colonial peoples, or the working classes or religious and racial minorities or women have demanded their rights, they have sought recognition and respect for capacities for rational and independent life and action that are demonstrably there and thwarted by the denial of rights.63

These arguments forcefully show that abortions are not an isolated social problem. They are a side effect of several unresolved issues. Firstly, a lot of children who are emotionally neglected by their parents grow up with bitter memories of their childhood and do not feel confident they could make good parents because they do not have appropriate models of behavior. Secondly, a lot of pregnant women are left alone and compelled to cope on their own. Their irresponsible male partners and ineffectual social policies which deny their children easy and inexpensive access to nursing schools make them think the lives of their children, along with their own, will be miserable. Thirdly, in many countries and many cultures it is not difficult to get pregnant but very difficult to learn how to avoid it. “Want to stop abortions?”: asks the June 1995 newsletter for the Colorado Peace Mission in Boulder, CO. “Make them unnecessary. Provide everyone with: a choice of whether to have

60 61 62 63

O’Neill 1988, 449. O’Neill 1988, 457. O’Neill 1988, 451. O’Neill 1988, 461.

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sex and with whom; Comprehensive sex education; Non-coercive family planning; Safe, affordable birth control; Open, honest talk about sex; Loving parents …”64

VI. Conclusions I set forth to outline main considerations concerning (1) and leading to two different modifications (2) and (3). (1) Every (I.) innocent (II.) person has (IV.) a prima facie (V.) well founded (II.) right to life. On liberal interpretation (1) becomes (2), on conservative it becomes (3). Whoever chooses (2) will probably want to say (I.) that an unwelcome fetus is not fully innocent. Though it is morally innocent, it is technically involved in bringing misery on its mother without any fault of its own. It is a passive threat, but we are often entitled to get rid of such threats at the expense of those who create it. An unwelcome fetus can essentially ‘reprogram’ our life, and such a change is to some people almost as bad as death. The passive role of fetus does not mitigate unconditionally. A fetus is to some extent in a comparable position to a bystander threatened with a runaway trolley or a fat man that is stuck in the only exit to safety. But, admittedly, abortion is not a case of self defense. A liberal would also say that (II.) a being person is different from being a human being, and we are obliged to save persons’ lives but we are not obliged to save the lives of human beings whenever the two differ. Fetuses are not persons, and we become persons only gradually by developing consciousness, rationality, emotional needs, capacity for social roles, etc. Being a person is a role that can be reduced to a set of characteristic human functions. It does not involve the existence of separate unobservable entities like a soul. Personal identity presupposes continuity but otherwise it may develop in unexpected ways. (III.) The right to life is not absolute but flexible. It is not our obligation to continue an utterly miserable life, and third parties must not impose such life on us or on fetuses with the slippery slope argument. Instead, relying on the principle of proportionality we may establish the scope of our obligations to those whose survival may be our responsibility. (IV.) Having an abortion is a traumatic experience and women should be forewarned. But discouragement must not be treated as a justification for introducing prohibition of having an abortion. Women who decide to abort at one time may turn to be good mothers at another time. They are capable of imagining their future accurately, or at any rate not worse than other people. (V.) Abortion is not a separate personal and social problem, but it is strongly connected with dominant forms of care within family, social policies favorable to child care, and sexual education in schools. On the conservative reading of (1) opposite convictions will be chosen at each juncture resulting in a consistent support for (3). There may be some points of 64

Murti 2006, 50.

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agreement, for instance with respect to the traumatic character of abortion, but basically every issue from (I.) to (V.) will have different interpretations in (2) and (3). As a result, the liberal and the conservative views will imply different moral injunctions, respectively (4) and (5). (4) Making abortion illegal is prima facie seriously wrong. (5) Having an abortion is prima facie seriously wrong.65

Zusammenfassung Der Beitrag geht aus von der These (1) „Jede unschuldige Person hat prima facie ein wohlbegründetes Recht auf Leben.“ Unbeschadet ihrer spezifischen Ansichten über die Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen ist diese Auffassung (1) für alle Parteien akzeptabel und bildet daher einen guten Ausgangspunkt für die Diskussion verschiedener normativer Fragestellungen. Wenn wir zwei weitere Behauptungen (2) und (3) aufstellen, werden wir erkennen, dass jede von ihnen unter spezifischen, zusätzlichen, jedoch weniger überzeugenden Annahmen aus der allgemein akzeptierten These (1) hergeleitet werden kann. Kontroversen über Schwangerschaftsabbrüche hängen an der Plausibilität dieser Annahmen. (2) „Nicht jeder Fötus ist ein unschuldiges menschliches Wesen und kein Fötus hat ein absolutes Recht auf Leben.“ (3) „Jeder Fötus ist eine unschuldige Person und jeder einzelne hat ein absolutes Recht auf Leben.“ Folgt man einer liberalen Interpretation wird die These (1) zu These (2), konservativ betrachtet wird sie zu These (3). Wer (2) wählt, wird wahrscheinlich sagen wollen (I.), dass ein unwillkommener Fötus nicht in vollem Umfang als unschuldig gelten kann. Auch wenn er moralisch als unschuldig gilt, so ist er doch technisch gesehen an dem Leid beteiligt, das er seiner Mutter bringt, obwohl er nichts dazu kann. Es handelt sich um eine passive Bedrohung; in vielen Fällen sind wir jedoch berechtigt, Bedrohungen dieser Art auf Kosten derjenigen zu ‚beseitigen‘, die die Verursacher sind. Ein unwillkommener Fötus kann unser Leben im Kern ‚umprogrammieren‘, und eine solche Veränderung ist für einige Menschen fast so schlimm wie der Tod. Die passive Rolle des Fötus macht das Problem nicht unbedingt kleiner. Ein Fötus ist bis zu einem gewissen Grad in einer Position, die vergleichbar ist mit dem Unbeteiligten, der von einem außer Kontrolle geratenen Trolley bedroht wird, oder mit dem dicken Mann, der den einzigen sicheren Weg versperrt. Man muss aber einräumen, dass eine Schwangerschaftsunterbrechung kein Akt der Selbstverteidigung ist. – Ein Liberaler würde daher auch sagen, dass sich (II.) das Sein einer Person von dem Sein eines menschlichen Wesens unterscheidet und wir verpflichtet sind, das Leben von Personen zu retten, wir aber nicht auch das Leben menschlicher Wesen retten müssen, wann immer die zwei differieren. Föten sind keine Personen, wir werden nur schrittweise zu Personen, indem wir ein Bewusst65

Cf. Tooley 2009, 35.

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sein entwickeln, eine vernünftige Denkweise, emotionale Bedürfnisse, die Fähigkeit, soziale Rollen auszufüllen, etc. Eine Person zu verkörpern, ist eine Rolle, die auf eine Reihe charakteristischer menschlicher Funktionen reduziert werden kann. Dies umfasst nicht das Vorhandensein separater, unbeobachtbarer Wesensheiten wie eine Seele. Persönliche Identität setzt Kontinuität voraus, ansonsten kann sie sich auf unerwartete Weise entwickeln. – (III.) Das Recht auf Leben ist nicht absolut, sondern flexibel. Wir sind nicht verpflichtet, ein völlig unglückliches Leben fortzuführen, von dritter Seite darf weder uns noch dem Fötus mit dem ‚slippery slope Argument‘ ein solches Leben aufgezwungen werden. Stattdessen können wir unter Bezugnahme auf das Proportionalitätsprinzip das Ausmaß unserer Pflichten auf diejenigen begrenzen, deren Überleben in unserer Verantwortung liegen mag. – (IV.) Ein Schwangerschaftsabbruch ist eine traumatische Erfahrung und Frauen sollten vorgewarnt werden. Eine Entmutigung darf aber nicht als Rechtfertigung genommen werden, ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen zu verhängen. Frauen, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt zu einem Abbruch der Schwangerschaft entscheiden, mögen sich zu einer anderen Zeit als gute Mütter erweisen. Sie sind in der Lage, sich ihre Zukunft genau auszumalen – auf jeden Fall können sie dieses nicht weniger gut, als andere Menschen. – (V.) Ein Schwangerschaftsabbruch ist kein isoliertes persönliches und soziales Problem, es ist eng verknüpft mit den vorherrschenden Formen von Betreuung innerhalb der Familie, kinderfreundlicher Sozialpolitik und Sexualerziehung in der Schule. Bei der konservativen Interpretation von These (1) wird immer auf zum Vorstehenden widersprechende Überzeugungen zurückgegriffen, und dies führt dann zu einer konsistenten Unterstützung für These (3). Es mag einige Übereinstimmungen geben, z. B. hinsichtlich der traumatischen Prägung eines Schwangerschaftsabbruchs, grundsätzlich jedoch findet jeder Punkt von (I.) bis (V.) unterschiedliche Interpretationen in (2) und (3). Folglich werden die liberale und die konservative Sichtweise unterschiedliche moralische Entscheidungen implizieren, und zwar (4) „Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten ist prima facie falsch.“ Und (5) „Einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen, ist prima facie falsch.“ Literature Alcorn, Randy (1992): Pro-Life Answers to Pro-Choice Arguments, Colorado Springs. Baird, Robert M. / Rosenbaum, Stuart E. (2001): The Ethics of Abortion, New York. Boonin, David (2003): A Defense of Abortion, Cambridge. Brody, Baruch (1972): Thomson on Abortion. In: Philosophy and Public Affairs, Vol. 1, No. 3, pp. 335 – 340. Campbell, T. D / McKay, A. J. (1978): Antenatel Injury and the Rights of the Fetus. In: The Philosophical Quarterly, Vol. 28, No. 110, pp. 17 – 30. Davis, Nancy (1984): Abortion and Self-Defense. Philosophy and Public Affairs, Vol. 13, No. 3, pp. 175 – 207.

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English, Jane (1984): Abortion and the Concept of a Person. In: Feinberg, Joel (ed.): The Problem of Abortion, Belmont / California. Feinberg, Joel (ed.) (1984): The Problem of Abortion, Belmont / California. Foot, Philippa (2003): The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect. In: Virtues and Vices, Oxford, pp. 19 – 33. Gillespie, Norman C. (1984): Abortion and Human Rights. In: Feinberg, Joel (ed.): The Problem of Abortion, Belmont / California, pp. 94 – 101. Klusendorf, Scott (2002): Pro-Life 101: A Step-by-Step Guide to Making Your Case Persuasively, Signal Hill / California. Lomasky, Loren E. (1984): Being a Person – Does It Matter? In: Feinberg, Joel (ed.): The Problem of Abortion, Belmont / California, pp. 161 – 172. Murti, Vasu (2006): The Liberal Case Against Abortion. RAGE Media. O’Neill, Onora (1988): Children’s Rights and Children’s Lives. In: Ethics, Vol. 93, No. 3, pp. 445 – 463. Noonan Jr., John T. (1984): An Almost Absolute Value in History. In: Feinberg, Joel (ed.): The Problem of Abortion, Belmont / California, pp. 9 – 14. Parfit, Derek (1984): Reasons and Persons, Oxford. Quong, Jonathan (2009): Killing in Self-Defense. In: Ethics, Vol. 119, No. 3, pp. 507 – 537. Szaniawski, Klemens (1994): O formalnych aspektach sprawiedliwości dystrybutywnej. In: Szaniawski, Klemens: O nauce, rozumowaniu i wartosciach. Warszawa. Thomson, Judith Jarvis (1971): A Defense of Abortion. In: Philosophy and Public Affairs, Vol. 1, No. 1, pp. 47 – 66. – (2008): Turning the Trolley. In: Philosophy and Public Affairs, Vol. 36, No. 4, pp. 359 – 374. Tooley, Michael et al. (2009): Abortion. Three Perspectives, Oxford. – (2009): Abortion: Why the Liberal View is Correct. In: Tooley, Michael et al. (2009): Abortion. Three Perspectives, Oxford. Velleman, J. David (2008): Love and Nonexistence. In: Philosophy and Public Affairs, Vol. 36, No. 3, pp. 266 – 288. Warren, Mary Anne (2001): On the Moral and Legal Status of Abortion. In: Baird, Robert M. / Rosenbaum, Stuart E.: The Ethics of Abortion, New York. Wolf-Devine, Celia / Devine, Philip E. (2009): Abortion. A Communitarian Pro-Life Perspective. In: Tooley, Michael et al., Abortion. Three Perspectives, Oxford.

Maschinen mit Würde?* Thesen zu einem Turing-Test für Würde Jan C. Joerden

I. Im Wettbewerb um EU-Fördermittel steht mit einer ganzen Reihe weiterer Großprojekte ein Vorhaben, das in der Wochenzeitschrift Die Zeit1 als „Das 1-MilliardeEuro-Hirn“ bezeichnet wird. Offiziell heißt es „Human Brain Project“2. Ziel dieses Projekts ist es, das menschliche Gehirn als einen Computer „nachzubauen“. Es liegt auf der Hand, dass dies ein ehrgeiziges Vorhaben ist, wenn man bedenkt, dass bisher „drei Pfund Hirnmasse mehr leisten als jeder Supercomputer“3. Dabei ist zwar klar, dass der Computer dem menschlichen Gehirn in vielen Hinsichten (etwa bei der Durchführung von massenhaften Rechenoperationen in kürzester Zeit) deutlich überlegen ist. Aber wollte man alle parallel und ggf. gleichzeitig arbeitenden Funktionen und Kompetenzen des menschlichen Gehirns nachbilden, müsste ein Computer gebaut werden, den es bisher mit diesen Kapazitäten noch nicht annähernd gibt, vielleicht auch nie geben wird. Immerhin geben einige Forscher an, dass sie dieses Ziel mit Hilfe einer 1-Milliarde-Euro-Förderung erreichen könnten. Sie konkurrieren damit im Rahmen der sog. „Flaggschiff-Initiative“ der EU-Kommission mit fünf anderen aus einer größeren Anzahl ausgewählten Großprojekten um den endgültigen Zuschlag jener 1 Milliarde, und zwar mit ähnlich ambitionierten Projekten: Einem sog. „Wissensbeschleuniger“ der ETH Zürich; einer verstärkten Forschung an dem modifizierten Kohlenstoff Graphen, das als Wundermaterial des 21. Jahrhunderts gilt; einem Projekt zur Erforschung von technischen Schutzengeln im Alltag, hilfreichen Minisen-

* Um einige Fußnoten ergänzte Fassung eines Impulsreferates, das am 15. 8. 2011 im Rahmen eines „Special Workshop“ des 25. Weltkongresses der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Frankfurt / Main gehalten wurde. Der Referatsstil wurde weitgehend beibehalten. – Der Beitrag ist dem Andenken von Alan Turing (1912 – 1954) gewidmet, der am 23. Juni 2012 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. 1 Die Zeit vom 19. Mai 2011, S. 37; Bericht von Ulrich Schnabel. 2 Vgl. http: // www.humanbrainproject.eu/introduction.html und http: // cordis.europa.eu/ fp7/ict/home_en.html. 3 Schnabel, a. a. O. (ob. Fn. 1).

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soren vergleichbar; einer gigantischen medizinischen Datenbank im Hinblick auf das Ziel einer individualisierten Medizin; und einer Entwicklung von Begleitrobotern mit emotionalen und kognitiven Fähigkeiten.4 Hier gibt es zwischen den meisten Projekten sicher Überschneidungsbereiche, aber das Projekt der Nachbildung eines menschlichen Gehirns regt die Phantasie wohl am meisten an und dürfte daher schon deshalb auch bei den Juroren der EU gute Karten für einen Erfolg haben. Nehmen wir daher einmal an, das Projekt werde gefördert und komme auch zur Realisierung und es funktioniere tatsächlich, ein menschliches Gehirn und dessen Tätigkeiten und Inhalte, vollständig auf einem Computer nachzubilden, einschließlich (künstlicher) Intelligenz, sinnlicher Emotionen und Lern- und Entscheidungsfähigkeit etc.5 Käme einem solchen Computer dann nicht auch Würde zu, die der Menschenwürde in ihrem normativen Anspruch vergleichbar wäre? Müsste etwa dieser Computer zuvor gefragt werden, ob er seinem eventuellen technischen Umbau zustimmt („informed consent“)? Hätte man Skrupel, diesen Computer abzustellen, ihn auf Dauer stillzulegen? Dürfte man ihn nicht mehr als bloßes Mittel verwenden, sondern müsste man ihn stets zugleich als Zweck gebrauchen? Müsste man eventuell auf seine Entwicklung ganz verzichten – wie schon ein Philosoph6 in ähnlichem Kontext in einem Vortrag gefordert hat –, weil dieser Supercomputer leidensfähig sein könnte und eventuell unter seiner Verfassung auch tatsächlich leiden würde?

Vgl. Die Zeit, a. a. O. (ob. Fn. 1). In Filmen wir Star Trek sind solche Möglichkeiten schon vorweggenommen worden, etwa bei der Schaffung sog. Androiden. – Zu der Frage, ob auch Androiden der Schutz der Menschenrechte zukommen sollte, siehe Robert Alexy, „Data und die Menschenrechte. Positronisches Gehirn und doppeltriadischer Personenbegriff“ (Vortrag, gehalten am 8. Februar 2000 im Auditorium Maximum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Rahmen einer Ringvorlesung „Populärkultur am Beispiel von Star Trek“), abrufbar unter http: // www.alexy. jura.uni-kiel.de/data-und-die-menschenrechte – Auf den Text Alexys hat mich dankenswerterweise Carsten Bäcker, Kiel, aufmerksam gemacht. – Ausführlich zu der Frage der Menschenwürde bei Mensch-Maschine-Systemen Susanne Beck, „Menschenwürde und MenschMaschine-Systeme“, in: Joerden / Hilgendorf / Thiele (Hrsg.), Handbuch Menschenwürde und Medizin, Berlin 2012, 47. Kapitel; vgl. im 43. Kapitel dieses Handbuchs auch die (vorwiegend soziologisch orientierten) Überlegungen von Gregor Fitzi und Hironori Matsuzaki, „Menschenwürde und Roboter“, mit einem besonderen Schwerpunkt in Bezug auf die sog. Pflegeroboter. In beiden Kapiteln des Handbuchs finden sich zudem viele weiterführende Hinweise auf die einschlägige Diskussion. 6 Thomas Metzinger, „Postbiotisches Bewusstsein: Wie man ein künstliches Subjekt baut – und warum wir es nicht tun sollten“, abrufbar unter http: // www.hnf.de/veranstaltungen/pader borner_podium/05_Computer_Gehirn_und_Bewusstsein/Vortrag_Prof._Dr._Thomas_Metzinger. asp. 4 5

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II. Im Hinblick auf die Frage, ob ein Wesen – wie insbesondere ein Computer – Intelligenz hat, wurde von Alan Turing der berühmte, nach ihm benannte Test vorgeschlagen.7 Das Konzept eines solchen Turing-Tests kann man wie folgt wiedergeben: Man stellt eine Kommunikationsbeziehung einer Versuchsperson mit (1) einem Menschen und (2) einem Computer her, ohne dass die Versuchsperson sehen oder sonst sinnlich wahrnehmen kann, mit wem sie jeweils kommuniziert (etwa über eine Tastatur). Man mag sich das heute als Kommunikation über das Internet vorstellen. Der Nachweis, dass der Computer bzw. das betreffende Programm intelligent ist, soll dann geführt sein, wenn die Versuchsperson (die ihrerseits als intelligent vorausgesetzt wird) nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob sie gerade mit dem Menschen oder mit dem Computer kommuniziert. Es liegt nahe, dass es dabei wesentlich auf die Randbedingungen ankommt (Welche Fragen dürfen gestellt werden? Welche Sprache? etc.), damit der Test fair abläuft und die Versuchsperson eine faire Chance bekommt, hinreichend Informationen über ihre beiden Kommunikationspartner zu ermitteln. Denn wäre die Kommunikation auf bloße Ja / Nein-Antworten begrenzt, hätte der Zufall zu viel Gewicht und der Computer wäre deutlich im Vorteil in seinem Bestreben, sich als mit dem Menschen gleichbefähigt auszugeben. Aber auch die künstliche Intelligenz des Computers muss eine faire Chance bekommen; denn ist der Kommunikationsbereich allzu komplex, könnte es sein, dass es nie hinreichend intelligente Computer geben wird, die diese Form der Kommunikation bewältigen. Im Grunde wird dabei klar, dass der Turing-Test weniger die reale Beschreibung eines Vorgangs ist als vielmehr ein Gedankenexperiment. Immerhin wird man aber sagen können, dass dann, wenn sich die beiden Kommunikationspartner tatsächlich nicht mehr durch ihr Kommunikationsverhalten unterscheiden ließen, die Versuchsperson keinen guten Grund mehr hat, dem Computer dessen Intelligenz zu bestreiten – wie immer dieser Computer auch aussehen mag, wenn die Versuchsperson ihn dann real zu Gesicht bekommt. Es wurde übrigens schon ein Preis für dasjenige Computerprogramm ausgesetzt, das den Turing-Test dereinst besteht.8 Bis jetzt konnte der Preis noch nicht vergeben werden. Verdient haben könnte ihn eventuell der Supercomputer „Deep Blue“, gegen den der Schachprofi Garri Kasparow spielte und verlor. Kasparow soll über Deep Blue gesagt haben, die „Hand Gottes“ habe interveniert.9 Leider wusste er, dass er gegen einen Computer spielte, sonst hätte dies eine Art von erfolgreichem Turing-Test für Zur ersten Orientierung vgl. http: // de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test#Testablauf. Vgl. http: // de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test#Loebner-Preis. 9 Vgl. dazu etwa Charles Krauthammer, „Be Afraid. The Meaning of Deep Blue’s Victory“, The Weekly Standard vom 26. 5. 1997, abrufbar unter http: // wright.chebucto.net/AI. html – Siehe aber auch: „Zu viel Respekt vor der Maschine“, Interview mit dem seinerzeitigen Vize-Schachweltmeister Viswanathan Anand in: Der Spiegel vom 12. 5. 1997. 7 8

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Schachspieler gewesen sein können, obwohl die von Kasparow hier erkannte Qualität sogar über diejenige menschlicher Fähigkeiten hinauszureichen schien. Man könnte Deep Blue wohl zumindest das Prädikat der Erhabenheit zusprechen, das wir auch für Naturwunder oder Bauwerke (wie z. B. Kathedralen) verwenden würden. Aber alles dies reicht offenbar nicht hin, Deep Blue so etwas wie Würde, im weitesten Sinne gar Menschenwürde zuzusprechen. Man mag daher fragen, was uns nun dazu veranlassen könnte, einem Supercomputer Würde zuzusprechen, unter der Voraussetzung, dass er – so wie das eingangs kurz erläuterte Projekt einer Gehirnnachbildung – hinreichend Komplexität aufweist bzw. entwickelt.

III. Man könnte die Extremposition vertreten, dass wir das niemals tun würden, gleichgültig, welche Fähigkeiten auch immer ein solcher Supercomputer haben mag. Dafür spricht auf den ersten Blick, dass auch jeder denkbare Supercomputer ein Artefakt, also etwas künstlich Erzeugtes, sein wird. Aber ist das insoweit mit uns als Menschen wirklich so völlig anders? Man denke nur an die modernen Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung. Das Material, das da verwendet wird, ist zwar ein anderes, eben biologisch-natürliches Material und kein technisch-physikalisches wie beim Computer. Aber sollte der (normative) Unterschied tatsächlich an Äußerlichkeiten wie der Materie der jeweiligen Konstruktion festgemacht werden? Dagegen spricht schon, dass wir keineswegs allen biologischen Materialien und deren Kombinationen, z. B. Pflanzen, so etwas wie Würde zuschreiben. Es muss demnach offenbar bestimmte Eigenschaften, bestimmte Fähigkeiten geben, die uns zu einer Würdezuschreibung veranlassen. Dabei ist der Einwand gegen einen solchen auf Fähigkeiten bezogenen Ansatz natürlich auch schon lange bekannt: Wir schreiben doch Würde auch solchen Menschen zu, die keine der Eigenschaften haben, die da in Betracht kämen, wie Selbstbewusstsein, Autonomie, Vernunft, Lernfähigkeit, Moralfähigkeit etc., da wir ja sogar ungeborenen Kindern und etwa auch Menschen im Koma Würde zuschreiben. Aber das ist letztlich kein Einwand gegen eine solche Eigenschafts- bzw. Fähigkeitskonzeption von Würde. Denn der Grund, weshalb wir in Betracht ziehen, Föten und Komatösen Würde zuzuschreiben, liegt darin, dass sie jedenfalls zum Kreis der Menschen gehören10 und nur die Fähigkeiten, auf die es ankommen könnte, noch nicht oder nicht mehr haben. 10 Alexy hebt a. a. O. (ob. Fn. 5) zu Recht hervor, dass der Begriff „Person“ es durchaus zulässt, einerseits grundsätzlich alle Menschen zu umfassen und andererseits zusätzlich noch alle „vernünftigen Wesen“, die zwar keine Menschen sind, aber doch bestimmte Fähigkeiten haben. Alexy ruft dabei Immanuel Kants Redeweise vom „Zweck an sich selbst“ in Erinnerung: „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.“ (I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1911, S. 428).

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Dabei will ich hier nicht die Frage der genauen Grenzziehung erörtern, die sich immer stellen wird; aber es scheint doch so zu sein, dass wir Föten und Komatösen Würde vor allem deshalb zuschreiben, weil wir sie – und sei es auch lediglich aus tutioristischen Gründen11 – zu derjenigen Gruppe rechnen, die klarerweise in seiner übergroßen Anzahl Wesen umfasst, die die relevanten Eigenschaften und Fähigkeiten für eine Würdezuschreibung haben, und zwar eben zu der Gruppe der Menschen. Darin scheint mir im Übrigen auch der akzeptable Kern des sog. Kontinuitätsargumentes zu liegen. Da ich also die Frage nach der Grenzziehung (Wie weit reicht die Menschenwürde, etwa auch bis zu Vorformen des geborenen Menschen?) im Weiteren ausklammern möchte, werde ich mich auch nicht damit befassen, ob wir eventuell schon einem Laptop oder einem PC Würde zuschreiben sollten, wenn wir diese einem Supercomputer zuschreiben würden. Vielmehr möchte ich fragen, unter welchen Bedingungen wir dem Supercomputer eine solche Würde zubilligen würden, die es mit der Menschenwürde zumindest aufnehmen könnte. Dies muss mit Eigenschaften zu tun haben, die wir in uns selbst entdecken und dann auch in einer anderen Person. Dies letztere kann m.E. nur im Wege eines Analogieschlusses geschehen, weil wir nie wissen werden, ob der Andere nicht im Grunde nur ein exzellent konstruierter Roboter ist – eine These, die uns (mehr oder weniger freiwillig) die moderne Hirnforschung ja immer wieder nahezubringen sucht, wenn sie in Zweifel zieht, dass Menschen einen freien Willen haben können. Aber setzen wir einmal voraus, dass wir selbst (und insofern dürfte die Voraussetzung sogar unvermeidlich sein), aber auch andere Menschen, die uns alle ähneln, durchaus die Zuschreibung von Würde verdienen, dann fragt sich doch, wie wir diese bzw. das Vorliegen ihrer Voraussetzungen eigentlich feststellen können, da es sich bei dieser Feststellung ja nicht um einen reinen Willkürakt handeln sollte. Es mag zwar sein, dass wir uns im Hinblick auf andere Menschen bei dieser Feststellung aus Gründen der Vereinfachung mit gleicher Spezieszugehörigkeit begnügen können und daraus gleichsam eine unwiderlegbare Vermutung von Würde zugunsten aller Wesen mit menschlicher DNS ableiten. Was wir aber bei Computern brauchen – weil bei ihnen der DNS-Vergleich nicht mehr hinreicht – ist gewissermaßen ein Turing-Test für Würde. Nehmen wir an, wir könnten mit dem Anderen nur über eine große Distanz und ohne Skype einzusetzen kommunizieren, d. h. also ohne ihn in „Fleisch und Blut“ sehen zu können: Wie müsste dann ein Computer beschaffen sein, um uns davon zu überzeugen, es am anderen Ende der Kommunikationsleitung mit einem Wesen mit Würde zu tun zu haben? Dies ist offenbar nicht mehr nur eine Frage der (künstlichen) Intelligenz wie beim herkömmlichen TuringTest (vgl. oben), sondern erfordert die Feststellung anderer Qualitäten.

11 Diese tutioristischen Gründe erfordern allerdings m.E. allenfalls ab dem Beginn von Gehirntätigkeit beim Fötus den vollen Lebensrechtsschutz; vgl. Joerden, Menschenleben. Ethische Grund- und Grenzfragen des Medizinrechts, Stuttgart 2003, S. 37 ff.

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IV. Einen in mancher Hinsicht vergleichbaren Vorschlag zur Erweiterung des TuringTests gibt es übrigens schon; dieser Test kursiert unter der Bezeichnung VoightKampff-Test bei Science-Fiction-Fans, zu denen ich mich jetzt vorübergehend auch einmal rechnen möchte.12 Er geht zurück auf den Roman von Philip K. Dick aus dem Jahre 1868 mit dem Titel Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (Titel des Originals: Do Androids Dream of Electric Sheep?), der unter dem Titel Blade Runner im Jahre 1982 verfilmt wurde. Es kommt dabei hier nicht auf Einzelheiten dieses Romans bzw. Films an, aber in diesem Werk geht es vor allem darum, den Unterschied zwischen menschenähnlichen (biologischen) Androiden einerseits und echten Menschen andererseits festzustellen, um sich vor den Androiden, die sich bei den Menschen – natürlich in feindlicher Absicht – eingeschlichen haben, schützen zu können, indem die Richtigen, also die Androiden, bekämpft werden. Lässt man einmal die latente Missbrauchsmöglichkeit dieses Gedankenexperiments für rassistische Konzepte außer Acht, so ist doch interessant, dass man nicht die Intelligenz als Unterscheidungsmerkmal, das für den Menschen sprechen könnte, ausgemacht hat, denn darin sind die Androiden in dem Roman dem Menschen sogar überlegen (wie vielleicht bald auch der Supercomputer). Vielmehr wurde die Empathiefähigkeit in den Mittelpunkt gestellt, in eine moralische Fragestellung umgewandelt, also die Fähigkeit zur Anwendung der Goldenen Regel „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Im Hinblick auf diese Regel ist ja bekannt, dass ihre Anwendung u. a. die Fähigkeit zur Einfühlung in den Anderen verlangt, indem sie fordert, in dem Anderen überhaupt jemanden zu sehen, der die gleichen Gefühle, die gleichen Willensinhalte haben könnte wie man selbst. Immerhin hat der Voight-Kampff-Test schon einige Erfolge im Bereich der Psychologie erzielen können, also ganz unabhängig von dem Sciencefiction-Kontext, aus dem er kommt. Und zwar sind die Antworten auf die jeweils im Hinblick auf die Feststellung von Empathie-Fähigkeit gerichteten Fragen auch durchaus signifikant für die Diagnose einiger psychischer Erkrankungen, deren Symptom gerade Empathie-Mangel ist. Aber zurück zu der Ausgangsfrage: Würde ein Turing- bzw. Voight-Kampff-Test, mit dessen Hilfe sich auf Empathie-Fähigkeiten schließen lässt, schon hinreichen, um beim Bestehen des Tests dem jeweils unbekannten Wesen Würde zuzuschreiben? Ich denke: nein. Vielmehr wird man Empathie (wie auch schon Intelligenz) auch einem rein mechanisch wirkenden Computer zutrauen können, da auch Empathie – was immer das genau sein mag – sich wird simulieren lassen, indem dem Computer einprogrammiert wird, sich immer dann traurig zu geben, wenn der andere Signale von Traurigkeit aussendet, etwa indem er bestimmte Situationen schildert, die auf Trauer 12 Auch hierzu und zum Folgenden siehe als erste Orientierung: http: // de.wikipedia.org/ wiki/Tr%C3%A4umen_Androiden_von_elektrischen_Schafen %3F.

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schließen lassen, um nur eine Form von Empathie hier beispielhaft hervorzuheben. Ähnliches lässt sich wohl auch für Freude, Mitleid, Eifersucht, Aggression und andere Emotionen aus dem Bereich von Sympathie und Antipathie annehmen.

V. Sollte es allerdings einem Computer gelingen, sich in einer ihm präsentierten Entscheidungssituation überzeugend gegen die eigenen Interessen zu entscheiden, um einem Anderen (hier etwa der Versuchsperson in dem Turing-Test für Würde) aus einer Notlage zu helfen, dann wird es schwer für die Versuchsperson sein, den Computer noch von einem Menschen mit Würde zu unterscheiden. Denn die Fähigkeit, in einer Konfliktsituation gegen die eigenen Interessen zu handeln, um einem anderen zu helfen, ist es, die moralisches Verhalten genuin kennzeichnet. Natürlich muss dabei geklärt werden, was es heißen soll, dass ein Computer Interessen hat bzw. zeigt, gegen die er handeln kann. Aber Interessen und das Haben von Interessen lassen sich simulieren. Weiterhin muss geklärt werden, dass es um Entscheidungen gehen muss, die nicht bloß von einer Zufallsfunktion abhängen. Ob dies der Fall ist, wird die Versuchsperson mit Hilfe mehrfacher Wiederholungen ähnlicher Konstellationen bzw. darauf gerichteter Fragen versuchen müssen herauszufinden. Aber wenn es gelingt, die Versuchsperson davon zu überzeugen, dass der Computer zumindest in den meisten Fällen13, in denen ein Anderer sich in Not befindet, bereit ist, auf eigene Interessen zu verzichten und sich unter Aufgabe seiner Interessen für die Interessenwahrung der Versuchsperson zu engagieren, wird die Versuchsperson diesen Computer kaum noch von einem Menschen mit Würde unterscheiden können. Was uns natürlich auch nicht die Augen davor verschließen sollte, dass viele Menschen oftmals nicht so moralisch handeln wie eben beschrieben. Aber das macht sie ja nur noch weniger von einem entsprechend agierenden Computer unterscheidbar. Und der entscheidende Punkt des Turing-Tests bzw. aller seiner Nachfolgeversionen ist es gerade, die Möglichkeit der Unterscheidbarkeit der beiden Kommunikationspartner Mensch bzw. Computer zu prüfen.

Summary This article deals with the question whether a test for dignity parallel to the test for (artificial) intelligence proposed by Alan Turing (1912 – 1954) can be developed, and what conditions such a test would have to meet. A (simple) Turing test works on the assumption that a computer (or robot) must be marked as intelligent if 13 Dabei dürfte es zum Aufbau einer möglichst überzeugenden Präsentation sogar sinnvoll sein, den Computer nicht stets allzu „selbstlos handeln“ zu lassen, weil er sich schon allein dadurch für den Beobachter als nicht-menschlich „verdächtig“ machen könnte.

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and only if a person behind a veil and thus not knowing his communication partners’ identity communicating with both the computer and a human is no longer able to distinguish appropriately between human and computer. The question raised and expanded here concerns how a computer would have to behave, in a comparable experimental design, in order to succeed in creating the impression it is in fact a human having dignity.

Menschenwürde und Selbstverfügung Peter Schaber

Der Begriff der Menschenwürde ist umstritten. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, was er bedeutet und ob er überhaupt etwas bedeutet. Gleichzeitig spielt er sowohl in verfassungsrechtlichen Kontexten wie auch in solchen der angewandten Ethik eine zentrale Rolle. Wenn es um die moralische Beurteilung von Praktiken wie Sterbehilfe, Leihmutterschaft und Forschung am Menschen geht, um hier nur einige Beispiel zu nennen, steht oft die Frage im Mittelpunkt, ob mit diese Praktiken die Würde von Menschen verletzt wird. Der Vorwurf, eine Handlungsweise sei mit der Würde des Menschen unverträglich, kommt einer endgültigen Verurteilung gleich. Denn Praktiken, welche die Würde von Menschen verletzen, lassen sich nach einer sehr verbreiteten Auffassung nicht rechtfertigen. Ob eine Handlungsweise allerdings die Würde von Menschen verletzt, hängt davon ab, was unter der ‚Würde des Menschen‘ zu verstehen ist. Es geht dabei um den Begriff der Würde, wie er in Verfassungskontexten verwendet wird. Es geht um die Würde, von der gesagt wird, sie sei unantastbar. Diesen Begriff der Würde kann man in unterschiedlicher Weise verstehen. Ich möchte nachfolgend für ein Verständnis dieses Begriffs plädieren, der den paradigmatischen Verwendungen dieses Begriffs und insbesondere den paradigmatischen Befunden der Würdeverletzung am besten Rechnung zu tragen vermag. Dabei werden die Begriffe der Selbstachtung und der Selbstverfügung in der Explikation des Würdebegriffs eine zentrale Rolle spielen.1

I. Kants Vorschlag Eine zentrale Referenzgrösse für die Bestimmung der Bedeutung des Würdebegriffs sind Kants diesbezüglich einschlägigen Ausführungen zur Würde des Menschen. Menschen haben Würde heisst für Kant zunächst negativ: Menschen haben keinen Preis. Unter ‚Preis‘ versteht Kant nicht bloss den Marktpreis, den wir für Güter und Leistungen bezahlen, sondern auch den Wert von Dingen, die wir nicht gegen Geld tauschen, die wir aber mit dem Wert anderer Dinge vergleichen. Solche Dinge haben keinen Marktpreis, aber, wie Kant sagt, einen „Affektionspreis“. Sie haben einen Wert für uns, ohne dass wir sie kaufen oder verkaufen würden. Wesen, die Würde haben, besitzen einen absoluten Wert. Und das heisst: Ihr Wert kann 1

Vgl. dazu auch Schaber (2012), Kap. 7.

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nicht mit dem Wert anderer Dinge verglichen werden. Das unterscheidet sie von Dingen, die einen Markt- oder Affektionspreis haben. Was keinen absoluten Wert hat, „an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden, was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“.2 Die Achtung, die wir anderen Personen schulden, ist nach Kant die Achtung ihrer Würde. „Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann, ist die Anerkennung einer Würde an anderen Menschen, d.i. eines Werths, der keinen Preis hat, kein Äquivalent“.3 Die Würde ist nicht etwas, was Menschen erwerben, sondern etwas, das ihnen vielmehr als Vernunftwesen zukommt. Die Würde ist nach Kant auch gleichzeitig etwas, was Menschen nicht verlieren können. Kant redet zwar davon, dass wer sich zum Knecht anderer Menschen macht, wer seine Rechte ungeahndet mit Füssen treten lasse oder wer lüge, seine Würde wegwerfe oder gleichsam vernichte. Doch weder der, welcher sich zum Knecht macht, noch der Verbrecher verlieren ihren Anspruch, in ihrer Würde geachtet zu werden. Die ist nach Kant dem Umstand geschuldet, dass man sich immer bessern kann. Deshalb können nach ihm auch die grössten Untaten nicht „zur völligen Verachtung und Absprechung alles moralischen Werths des Lasterhaften ausschlagen“.4 Dies würde der Idee des Menschen als eines moralischen Wesens zuwiderlaufen, das „nie alle Anlage zum Guten einbüssen kann“5. Die Würde des Menschen ist zu achten. Was aber bedeutet es, die Würde der anderen Person zu achten? Was kann der andere dabei von mir fordern (und umgekehrt)? Kant meint, dass ich den anderen (und mich selbst) genau dann in seiner Würde achte, wenn ich ihn „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel“6 behandle. Wir verletzen die Pflicht, den anderen in seiner Würde zu achten, wenn wir ihn, so Kant, „zu einem blossen Mittel zu eigenen Zwecken herabwürdigen“7. Den Anspruch, den eine andere Person mir als einem Wesen mit Würde gegenüber geltend machen kann, wird so von Kant über das Instrumentalisierungsverbot bestimmt. Dieses untersagt uns, Personen (sich selbst wie auch andere) bloss als Mittel zu benutzen. Doch wann behandeln wir andere bloss als Mittel?

II. Das Instrumentalisierungsverbot Kant erläutert das Instrumentalisierungsverbot unter anderem am Beispiel des falschen Versprechens. Jeder werde sofort einsehen, dass wer so handelt, „sich eines 2 3 4 5 6 7

Kant (1907 / 14a), 429. Kant (1907 / 14b), 462. Kant (1907 / 14b), 464. Kant (1907 / 14b), 464. Kant (1907 / 14a), 429. Kant (1907 / 14b), 450.

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anderen Menschen bloss als Mittels bedienen will“.8 Denn derjenige, der Opfer eines solchen Versprechens sei, könne „unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen“9. Dasselbe trifft nach Kant auch auf Handlungen zu, welche die Freiheit und das Eigentum anderer nicht respektieren. Auch solche Handlungen stellen Verletzungen des Instrumentalisierungsverbots dar. Doch was ist es, das diese Handlungen zu Verletzungen des Instrumentalisierungsverbots macht? Bloss als Mittel behandle ich den anderen, wie Kant in seinen Erläuterungen zum falschen Versprechen ausführt, wenn ich ihn in einer Weise behandle, der er unmöglich zustimmen kann. Doch was heisst es, dass der andere unmöglich zustimmen kann? Im Blick auf das Beispiel des falschen Versprechens kann man folgendes sagen: Das Opfer ist nicht in der Lage, dem, was der andere mit ihm tut, zuzustimmen. Das Opfer weiss nicht, was der andere mit ihm vorhat. Das gehört zum Begriff des falschen Versprechens. Als Opfer eines falschen Versprechens weiss man nicht, was vor sich geht und ist deshalb nicht fähig, seine Zustimmung zu geben oder zu verweigern. Diesem Verständnis zufolge ist die Unmöglichkeit, von der Kant redet, eine logische Unmöglichkeit: Man kann nicht zustimmen. Die Unmöglichkeit lässt sich auch in einem normativen Sinn verstehen. Man kann sagen, die andere Person könne einer bestimmten Behandlung unmöglich zustimmen, wenn sie dazu keinen Grund hat und sie sich nicht rational verhalten würde, wenn sie zustimmen würde. So liesse sich im Blick auf die von Kant erwähnten Angriffe auf die Freiheit und das Eigentum von Personen sagen, dass die jeweiligen Opfer keinen Grund haben, in die Weise, wie sie behandelt werden, einzuwilligen. Die andere Person in ihrer Würde zu achten, heisst nach Kant, wenn wir uns an der Idee logischer Unmöglichkeit orientieren, sie in einer Weise zu behandeln, die ihr die Möglichkeit gibt, zu dem, was man mit ihr tut, zustimmend oder ablehnend Stellung zu nehmen. In Orientierung an der normativen Unmöglichkeit könnte man alternativ sagen: Eine andere Person in ihrer Würde zu achten, bedeutet, sie in einer Weise zu behandeln, der sie vernünftigerweise zustimmen kann. Welche der beiden Interpretationen sollte man vorziehen? Sind unzulässige Instrumentalisierungen nur solche zu denen ich keine Stellung nehmen kann? Oder werde ich immer dann bloss als Mittel benutzt, wenn ich der Weise, wie ich behandelt werde, vernünftigerweise nicht zustimmen kann? Wie auch immer wir uns hier entscheiden: die Frage, die uns interessiert hier, lautet: Liefert eine der beiden Interpretationen des Instrumentalisierungsverbots einen angemessenen Begriff der Würde bzw. der Würdeverletzung? Nach der ersten engeren Interpretation gilt: Eine Person wird in ihrer Würde verletzt, wenn sie – wie im falschen Versprechen – nicht Stellung nehmen kann. Dann wäre allerdings die Demütigung einer Person keine Würdeverletzung. Und das ist 8 9

Kant (1907 / 14a), 429. Kant (1907 / 14a), 429.

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wenig plausibel. Nach der zweiten Interpretation gilt: Eine Person wird in ihrer Würde verletzt, wenn sie der Weise, wie von anderen behandelt wird, vernünftigerweise nicht zustimmen kann. Das, was Kant Angriffe auf die Freiheit nennt, sind Handlungen, denen man vernünftigerweise nicht zustimmen kann. Wer mich daran hindert, das Buch, das ich gerne lesen möchte, zu lesen, handelt falsch, aber er verletzt mich nicht in meiner Würde. Dasselbe gilt auch z. B. für Verletzungen von Eigentumsrechten. Angriffe auf das Eigentum anderer sind moralisch falsch, ohne eine Würdeverletzung darzustellen. Es drängt sich deshalb auf, den Würdebegriff gegenüber dieser zweiten Interpretation enger zu fassen.

III. Selbstachtung Betrachten wir dazu den Vorschlag, Würde über den Begriff der Selbstachtung zu bestimmen. Der Vorschlag geht auf Überlegungen zurück, die Avishai Margalits in seinem 1996 erschienenen Buch „The Decent Society“ entwickelt. Margalit untersucht darin Zusammenhänge zwischen Demütigung und Würde. Er erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte jüdischer Bürger, die von den Nazis gezwungen wurden, mit der Zahnbürste den Gehsteig zu reinigen.10 Menschen wurden hier zutiefst gedemütigt, und darin liegt, wie Margalit meint, die Verletzung ihrer Würde. Wer einen anderen Menschen demütigt, achtet ihn nicht als ein Wesen mit denselben Ansprüchen. Möglicherweise spricht er dem anderen gar jeden Anspruch ab. Demütigungen zielen nach Margalit auf die Selbstachtung der gedemütigten Personen. Der zentrale Begriff dieses Verständnisses von ‚Menschenwürde‘ ist derjenige der Selbstachtung. Würdeverletzung stellt nach Margalit einen Angriff auf die Selbstachtung von Menschen dar. Was unter Würde verstanden wird, hängt entsprechend davon ab, was man unter Selbstachtung versteht. Margalit selbst versteht darunter eine Einstellung von Personen zu sich selbst. Personen nehmen diese Einstellung sich selbst gegenüber ein, wenn sie sich einen intrinsischen Wert zuschreiben: einen Wert, den sie für sich selbst besitzen, unabhängig vom Wert, den sie für andere haben. Selbstachtung ist eine Wertschätzung seiner selbst, die sich nicht auf eigene Taten und Fähigkeiten, sondern auf das eigene Menschsein bezieht: „Self-respect … is the honor a person grants herself solely on the basis of the awareness that she is human.“11

Diese Einstellung der Wertschätzung seiner selbst ist nach Margalit allerdings abhängig von den Einstellungen, die andere einem gegenüber einnehmen. Ich kann mich nicht selbst als Mensch achten, wenn andere mich nicht achten.12 Und wenn Margalit (1996), 127. Margalit (1996), 24. 12 Margalit (1996), 124: „(A)lthough self-respect is an attitude you may have toward yourself, it depends on the attitude of others toward you.“ 10 11

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ich von anderen gedemütigt werde, zielen diese darauf ab, meine Einstellung der Selbstachtung, mithin die Selbstzuschreibung eines intrinsischen Werts zu verhindern. Doch was heisst es, sich als Mensch zu achten? Ist das ein psychologischer Zustand? Hat es etwas damit zu tun, dass ich mich für wertvoll halte? Ist Selbstachtung also eine Form des Selbstwertschätzens? Wenn das so wäre, würde eine Verletzung der Würde eines Menschen vorliegen, wenn jemand in seiner Selbstwertschätzung beeinträchtigt würde. Dieselbe Demütigung kann beim einen allerdings eine solche Beeinträchtigung auslösen, beim anderen nicht. Sind Demütigungen entsprechend bloss kontingenterweise würdeverletzend? Nach Margalit sollte man zwischen Selbstachtung und Selbstwertschätzung unterscheiden („self-respect and self-esteem … can and should be distinguished“13). Es ist aber nicht klar, ob Margalit selbst Selbstachtung nicht als eine Art der Selbstwertschätzung versteht, wenn er sie als etwas versteht, das von den Einstellungen anderer abhängig ist. Richtig ist, dass man klar zwischen Selbstachtung und Selbstwertschätzung unterscheiden sollte. Selbstachtung, um die es bei der Würde geht, ist kein psychischer Zustand. Ob die Würde eines Menschen verletzt wird, hängt nämlich nicht davon ab, ob er durch Demütigungen in seinem Selbstwertgefühl beeinträchtigt wird oder nicht. Denn dann würde die Verletzung der Würde davon abhängig sein, wie robust die psychische Verfassung von Menschen ist und die eine Person würde durch eine Demütigung in ihrer Würde verletzt, die andere nicht. Das ist unplausibel. Demütigungen der beschriebenen Art stellen Würdeverletzungen dar, unabhängig davon, wie die Opfer psychisch reagieren. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, sollte man die Selbstachtung, um die es im Kontext des Würdeschutzes geht, nicht als psychischen Zustand verstehen. Was aber ist dann unter Selbstachtung zu verstehen, wenn man sie nicht als Selbstwertschätzung versteht? Selbstachtung in dem hier relevanten Sinn hat mit der Achtung des eigenen moralischen Status zu tun. Ein Mensch, der sich selbst achtet, versteht sich als jemand, der berechtigt ist, Ansprüche anderen gegenüber geltend zu machen, als jemand, der Forderungen stellen darf und der gegebenfalls auch aufsteht und seine Ansprüche geltend macht. Er versteht sich mit anderen Worten als ein Wesen, das eine normative Autorität über sich selbst besitzt, deren Achtung er von anderen einfordern kann. Und die Würde des Menschen, so mein Vorschlag, besteht darin, als jemand, der diese Autorität besitzt, anerkannt zu sein. Genauer: Als ein Wesen anerkannt zu sein, das eine normative Autorität über das eigene Leben besitzt. Andere dürfen mich nicht daran hindern, meine Verfügung über mich selbst auszuüben. Ich habe ein Recht über mich, das es mir erlaubt, andere Menschen auszuschließen. Andere haben nicht das Recht, z. B. zu bestimmen, mit wem ich zusammenlebe, welchen Beruf ich ausübe, welcher Partei, wenn überhaupt einer, ich angehöre etc. Dieses Selbstverfügungsrecht ausüben zu dürfen, be-

13

Margalit (1996), 44.

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deutet, Würde zu haben. Sie ist die Anerkennung meiner normativen Autorität über mich selbst (sowie Selbstachtung meine eigene Anerkennung und Wahrnehmung dieser normativen Autorität ist). Dieses Selbstverfügungsrecht wird verletzt, wenn man Menschen erniedrigt und demütigt, wenn man Menschen, wie der Folterer dies tut, absichtlich vor Augen führen will, dass sie nicht zählen, dass man mit ihnen machen kann, was man will, dass sie Objekte sind, über die man beliebig verfügen kann. Was die Folter zu einem Paradigma von Würdeverletzung macht, ist nicht die Tatsache, dass dem Opfer große Schmerzen zugefügt werden, sondern dass es in unerträglicher Weise gedemütigt wird. Dem Opfer wir vor Augen geführt, dass es nicht zählt. Jean Améry, der selbst Folteropfer war, beschreibt das, was dem Gefolterten dabei widerfährt, folgendermassen: „Der erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewusstsein, dass er hilfos ist – und damit enthält er alles Spätere schon im Keime …“.14 Demütigungen dieser Art schränken das Selbstverfügungsrecht nicht nur ein, durch sie wird den Opfern vielmehr ganz generell das Recht abgesprochen, über sich verfügen zu können. Die Würde von Menschen wird verletzt, wenn dies geschieht und sie so behandelt werden, als hätten sie gar kein Recht, über sich selbst zu verfügen.

IV. Würde und moralische Rechte Würde haben, heißt, dieses Selbstverfügungsrecht zu haben und es ausüben zu dürfen. Um dazu in der Lage zu sein, ist man darauf angewiesen, zwischen akzeptablen Optionen wählen zu können. Wenn ich mich bloß zwischen verschiedenen Berufen entscheiden könnte, die allesamt mit erniedrigenden Tätigkeiten verbunden wären, könnte ich mein Selbstverfügungsrecht bei der Berufswahl nicht ausüben. Ich wäre vielmehr gezwungen, etwas zu tun, was ich nicht tun möchte. Wenn Würde zu haben bedeutet, ein Selbstverfügungsrecht zu besitzen, dann gibt es Gründe, den Menschen die Rechte zuzusprechen, welche die Bedingungen schützen, die erfüllt sein müssen, soll das Selbstverfügungsrecht wirklich ausgeübt werden können; nämlich Rechte, welche akzeptable Optionen von Menschen schützen. Das sind Rechte wie das Recht, nicht erniedrigt oder Opfer inhumaner Behandlung zu werden; oder das Recht, kein Leben in absoluter Armut führen zu müssen, mithin das Recht auf ein Existenzminimum, wie es in Artikel 25 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung formuliert wird; oder das Recht auf physische Integrität, oder das Recht, seinen Partner frei wählen zu können, oder auch das Recht auf Eigentum und das Recht auf Bildung, um hier nur einige Beispiele solcher Rechte zu nennen. Das sind Rechte, die im Selbstverfügungsrecht begründet sind. Die moralischen Rechte, die in diesem Sinn aus der Würde hervorgehen, beziehen sich allesamt auf Dinge, die mir die Wahl zwischen akzeptablen Optionen 14

Améry (1977), 77.

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ermöglichen. Sie beziehen sich auf die erforderlichen Mittel, um ein Leben in Selbstachtung führen zu können. Man sollte dabei zwischen zwei Arten von Rechten unterscheiden: Es gibt a) die Rechte, die direkt der Würde zugeordnet sind, und b) die Rechte, welche die Bedingungen der Würde schützen. Zur ersten Gruppe von Rechten gehören die Rechte, deren Verletzung eine Verletzung der Würde des Menschen darstellt. Handlungen, die das tun, sprechen den Betroffenen ein Selbstverfügungsrecht ab. Das ist der Fall, wenn Menschen versklavt, gefoltert, erniedrigt und gedemütigt werden. Das sind Handlungen, die Menschen klarmachen, dass sie nicht zählen, dass über sie verfügt werden kann. Wer demgegenüber Rechte verletzt, die aus der Würde abgeleitet sind, wer zum Beispiel einen anderen daran hindert, sein Eigentumsrecht wahrzunehmen, tut etwas, was es dem anderen unmöglich macht, sein Selbstverfügungsrecht auszuüben. Das ist moralisch falsch, aber keine Verletzung der Würde des Opfers. Sein Selbstverfügungsrecht wird nicht grundsätzlich in Abrede gestellt, vielmehr wird nur seine Ausübung beeinträchtigt.

V. Autonomie Doch versteht man Würde, wenn man sie in der vorgeschlagenen Weise versteht, nicht einfach als Autonomie? Die englische Medizinethikerin Ruth Macklin meint, den anderen in seiner Würde achten, heisse in der Tat nichts anderes als seine Autonomie zu respektieren. Macklin begründet die These damit, dass in medizinethischen Kontexten mit dem Begriff der Würde oft nur dies gemeint sei. Im Blick auf eine Aussage zur Würde des Menschen, die sich im Bericht des Nuffield Council on Bioethics zum Thema „Genetics, Freedom and Human Dignity“ findet, meint Macklin: „Although this renders the concept of human dignity meaningful, it is nothing more than a capacity for rational thought and action, the central features conveyed in the principle of respect for autonomy.“15

Wenn z. B. von einem Sterben in Würde die Rede sei, stehe ein selbstbestimmtes Sterben im Blick. Manchmal sei allerdings auch unklar, was mit Würde gemeint sei. Der Begriff der Würde könne immer, wenn er verständlich verwendet werde, durch den Begriff der Achtung vor der Autonomie von Personen ersetzt werden. Der Begriff der Würde sei deshalb irreführend: Er stifte Verwirrung, weil er suggeriere, es stehe etwas anderes als Achtung vor der Autonomie von Personen im Blick. Was dieses Andere sei, könne man aber nicht sagen. Deshalb sollte der Begriff der Würde durch den Begriff der Achtung vor der Autonomie ersetzt werden. Kann der Begriff der Würde auf den Begriff der Autonomie reduziert werden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir vorgängig wissen, was es heisst, die Autono15

Macklin (2003), 1420.

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mie einer Person zu achten. Der Autonomiebegriff ist selber umstritten. Es ist deshalb alles andere als klar, was mit Würde gemeint wäre, würden wir damit die Achtung vor der Autonomie von Personen verstehen. Wir bräuchten also vorgängig eine Klärung des Ausdrucks ‚Achtung vor der Autonomie von Personen‘. Vergleichen wir den vorliegenden Vorschlag zum Verständnis von Würde mit dem prominenten Vorschlag des Rechtsphilosophen Joel Feinberg, Achtung vor der Autonomie als Achtung vor den freien Entscheidungen anderer zu verstehen: „(R)espect for a person’s autonomy is respect for his unfettered voluntary choice as the sole rightful determinant of his actions except where the interests of others need protection from him.“16

Heisst also den anderen in seiner Würde nichts anderes als ihn nicht daran zu hindern, das zu tun, was er tun will und ihn in seinen Entscheidungen zu achten, sofern er freiwillig handelt und dabei niemandem Schaden zufügt? Es gibt verschiedene Gründe, das zu bestreiten. Die Würde des Menschen wird als ein grundlegendes Gut aufgefasst, dessen Verletzung schwerwiegend ist. Die Formulierung des Grundgesetzes, die Würde sei unantastbar, legt nahe, nicht nur, dass die Würde nie verletzt werden darf, sondern auch dass deren Verletzung ein schwerwiegendes moralisches Vergehen darstellt. Mit der Würde wird nach Artikel 1 des Grundgesetzes gar das grundlegendste Gut der Rechtsgemeinschaft verletzt. Wenn mit Würde die Achtung vor der Autonomie gemeint wäre, müsste das auch auf jede Missachtung, also Verletzung der Autonomie zutreffen. Wie wir oben gesehen haben, gibt es verschiedene Weisen, die Autonomie einer anderen Person zu missachten, die sie nicht in ihrer Würde verletzen. Verletzungen der Autonomie sind nicht immer Verletzungen der Würde von Menschen. Die Würde einer Person zu achten, heisst, ihr ein Recht zuzugestehen, über essentielle Bereiche ihres Lebens bestimmen zu können. Dieses Selbstverfügungsrecht wird entsprechend missachtet, wenn sie erniedrigt und gedemütigt wird, wenn man ihr klar machen will, dass sie nicht zählt, dass man mit ihr machen kann, was man will, dass sie ein Objekt ist, über das man beliebig verfügen kann. Wenn in dieser Weise die normative Autorität von Personen missachtet wird, wird auch die Autonomie von Personen nicht geachtet. Doch umgekehrt ist es nicht so, dass eine Missachtung der Autonomie von Personen auch eo ipso eine Missachtung ihres Selbstverfügungsrechts ist. Das Selbstverfügungsrecht wird nicht missachtet, wenn Menschen daran gehindert werden, das zu tun, was sie tun wollen. Wenn mich jemand z. B. daran hindert, ein Buch zu lesen, missachtet er meine Autonomie. Was er tut, ist moralisch falsch, aber keine Missachtung meines Selbstverfügungsrechts. Dieses Recht liegt dem Recht, das zu tun, was man tun will, zugrunde. Der Wille von Personen ist zu achten, weil sie ein Verfügungsrecht über sich selbst haben und das heisst: weil sie Würde haben. Würdeverletzungen sind Verletzungen des Rechts, über sich selbst verfügen zu können. Sie zielen nicht auf eine Einschränkung der 16

Feinberg (1986), 68.

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Autonomie von Personen, sondern darauf, den Betroffenen klar zu machen, dass sie nicht zählen.

VI. Würdezuschreibung Wieso sollen wir Menschen – so werden einige fragen – als Wesen sehen, die ein solches Recht über sich besitzen? Was macht – anders gefragt – Menschen zu Wesen mit Würde? Oder besser gefragt, was ist es, das Wesen zu Würdeträgern macht? Die Frage sollte so gestellt werden, da strittig ist, ob bloss Menschen Würde haben. In der Schweizer Verfassung ist seit einigen Jahren von der Würde der Kreatur die Rede.17 Es mag sein, dass mit der Würde der Kreatur etwas ganz anderes gemeint ist als die Würde des Menschen. Aber man kann das nicht einfach annehmen. Was ist der Grund des Würdebesitzes? Gewisse meinen, Würde werde einfach zugesprochen und beruhe nicht auf Eigenschaften. Aber wem soll Würde denn zugesprochen werden? Das kann nicht willkürlich getan werden werden. Dazu brauchen wir Gründe. Und damit sind wir bei der Frage nach dem Grund, Wesen eine inhärente Würde zuzuschreiben. In der Literatur findet man auch Kandidaten für diesen Grund. Kant meint, dass uns Würde zukommt, weil wir fähig sind, uns am moralischen Gesetz zu orientieren.18 Andere glauben, es sei die Fähigkeit zur rationalen Wahl, die hier ausschlaggebend sei. Julian Nida-Rümelin z. B. meint, es sei die Fähigkeit zur Selbstachtung, die uns Würde verleihe, ein Vorschlag, der für diejenigen Würdetheoretiker besonders attraktiv zu sein scheint, die Würde, wie oben dargelegt, über Selbstachtung zu explizieren versuchen.19 Meiner Ansicht nach kommt Würde nicht aufgrund von Fähigkeiten, die sie haben, zu. Fähigkeiten sind natürliche Eigenschaften, die Menschen haben. Es ist unklar, was an ihnen normativ bedeutsam ist. Wenn sie Grund des Würdebesitzes wären, dann bloss aufgrund von Eigenschaften, die Fähigkeiten normativ bedeutsam machen würden. So eine Eigenschaft wäre beispielsweise die, dass es gut ist für Personen, eine bestimmte Fähigkeit ausüben zu können. Doch ist z. B. die Fähigkeit zur Selbstachtung gut für Menschen? Es ist gut, wenn wir uns selbst achten können. Ist aber der Besitz der Fähigkeit selbst gut für Menschen? Fähigkeiten wie in unserem Kontext die Fähigkeit zur Selbstachtung sind meiner Ansicht nicht mehr als notwendige Bedingungen, die erfüllt sein müssen, soll eine Würdezuschreibung sinnvoll sein. So ist es nicht sinnvoll, einem Wesen ein Recht auf Selbstachtung zuzuschreiben, das unter keinen Umständen je in der Lage sein wird, dieses Recht auch wahrzunehmen. Die Fähigkeit zur Selbstachtung ist eine notwendige Bedingung, kein Grund der Würde.

17 18 19

Vgl. dazu Balzer et al. (1998). Kant (1007 / 14a), 354. Vgl. Nida-Rümelin (2002), 407.

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Was aber ist dann der Grund des Würdebesitzes? Meiner Ansicht nach gibt es dafür keinen normativen Grund. Das heisst: es gibt keinen Grund, der für die Zuschreibung eines Selbstverfügungsrechts spricht. Der Würde des Menschen liegt normativ nichts zugrunde. Gebe es einen Grund des Würdebesitzes, würde es sich bei der Würde um keinen normativen Grundanspruch handeln. Würde ist der Grund für Rechte, ohne selber einen Grund zu haben. Wir sollten Menschen als Wesen mit Würde sehen, nicht weil sie die Fähigkeit zur Selbstachtung oder irgendeine andere Fähigkeit haben, sondern schlicht und einfach, weil sie Würde haben. Für die Aussage ‚Menschen haben Würde‘ gibt es keine normativen Gründe. Es gibt allerdings Gründe, die Aussage ‚Menschen haben ein Selbstverfügungsrecht‘ für wahr zu halten. Diese Gründe werden uns zugänglich in der Explikation dessen, was beispielsweise die Erniedrigung von Menschen moralisch falsch macht. Wenn wir fragen: Was ist es, das Erniedrigungen moralisch verwerflich macht?, und dann sagen: Erniedrigungen sind falsch, weil sie Angriffe auf den moralischen Status des anderen als eines über sich selbst verfügenden Wesen darstellen, dann nennen wir die Gründe, Menschen als Wesen mit Würde im explizierten Sinn zu verstehen. Die gegebene Antwort legt uns nämlich nahe, die Würde, die wir durch Erniedrigungen verletzt sehen, als Selbstverfügungsrecht zu verstehen. Wir entdecken in Explikationen der gegebenen Art, dass das, was durch Erniedrigungen verletzt wird, einen solches Recht betrifft. Und Würde ist der Begriff, der für dieses grundlegende Recht steht. Wer diese Explikation des moralisch Verwerflichseins von Erniedrigungen für richtig hält, sieht Menschen als Wesen mit Würde: als Wesen, die das Recht haben, über essentielle Bereiche ihres Lebens zu verfügen. Der Begriff der Würde hat erst nach dem 2. Weltkrieg Einzug in die Menschenrechtserklärung sowie auch in verschiedene Verfassungen gefunden. Dies war ohne Zweifel eine Reaktion auf die Erfahrung der massenhaften und systematischen Erniedrigungen von Millionen von Menschen. Das, was hier mit Füssen getreten wurde, war nicht einfach die Autonomie oder einzelne Rechte von Menschen, sondern vielmehr das Recht, das dem Recht auf Autonomie wie auch allen anderen Rechten zugrunde liegt: was hier mit Füssen getreten wurde, war nichts anderes als die Würde des Menschen.

Summary Human Dignity is a contested concept. It is unclear what it is means and also whether it has any meaning at all. But at the same time, it is an important concept used in many juridical and ethical discussions. Is it possible to give the concept of human dignity a precise meaning? It is argued in this paper that a precise concept of dignity should account for paradigmatic violations of dignity. It is the aim of this paper to show that dignity should be understood as having normative authority over oneself. Normative authority should not be taken as autonomy. Having normative authority over oneself is having a moral status from which rights can be derived.

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The violations of the derived rights are violations of autonomy, but not necessarily the violation of dignity. Dignity is the moral status autonomy is based on. We have rights of autonomy, because we have dignity, it is argued: a normative authority over ourselves.

Literatur Améry, J. (1977): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart. Balzer et al. (1998): Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, Freiburg / München. Kant, I. (1907 / 14a): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Berlin. – (1907 / 14b): Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, Berlin. Macklin, R. (2003): Dignity is a Useless Concept, in: British Medical Journal 327, 1419 – 1420. Margalit, A. (1996): The Decent Society, Cambridge, Mass. Nida-Rümlin, J. (2002): Wo die Menschenwürde beginnt, in: Ethische Essays, Frankfurt a. M., 405 – 410. Schaber, P. (2012): Menschenwürde, Stuttgart.

Communication by Brain Computer Interfaces and Human Dignity in Medicine Guglielmo Tamburrini

I. Introduction Recordings of brain activity can be used for both communication purposes and control of peripheral devices. The technologies used for these purposes notably include Brain-Computer Interfaces (BCIs from now on) and functional magnetic resonance imaging (fMRI). This contribution explores human dignity protection opportunities and issues arising in connection with prospective uses of both technological approaches. To begin with, let us briefly recall some distinguishing features of these technologies for brain activity recording and interpretation, in the restricted context of their potential applications for communication and control. BCI technologies and systems that are being developed in research laboratories promise to afford unique technological support for severely paralyzed patients who cannot use most of their neuromuscular pathways to communicate and act (Walpow and Walpow 2012). Indeed, BCI systems process brain activity online and enable one to identify brain signatures of user mental states in order to control peripheral ICT and robotic systems. Therefore, the communication channels from brain to machine that are made available by BCI technologies substitute – in a variety of functional roles – neuromuscular pathways that are normally used to control human action. And one can appropriately speak of BCI-enabled brain reading in this context, insofar as one can identify and use brain signatures of user mental states. Some ground-breaking experimental studies (Owen et al. 2006, Monti et al. 2010) suggest the possibility of using fMRI recordings of brain activity to provide a communication channel with some patients affected by disorders of consciousness (DOC patients from now on). More specifically, this form of communication was explored in experiments involving DOC patients who were diagnosed to be in a vegetative or a minimally conscious state (VS or MCS patients). In the experimental study involving the larger population of patients so far (Monti et al. 2010), VS or MCS individuals were verbally instructed to perform a motor imagery task (playing tennis) or else a spatial imagery task (visiting rooms in their home), in order to convey their “yes” or “no” answer, respectively, to questions uttered by experimenters. From an analysis of fMRI scans taken upon administering autobiographical questions (e.g., “Is your father’s name Thomas?” and “Do you have any sisters?”), re-

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Guglielmo Tamburrini

gional brain activations were reliably and repeatedly found to correspond to correct imagery-conveyed answers in a small proportion of those patients (referred to as fMRI-responsive DOC patients from now on). Interestingly, in view of the poor temporal resolution of fMRI imaging techniques, the patients enrolled in this experimental study were required to sustain for dozens of seconds the mental imagery activity that the communication protocol associates to any answer. It is remarkable that several different applications of this communication protocol were immediately proposed upon the publication of this experimental study. These extensions concern a variety of dialogical contexts, ranging from subjective symptom reporting (Monti et al. 2010) to informed consent, and even to continued medical care decision-making (Ropper 2010). Human dignity affords ethical motivations for each one of these suggested uses of brain reading technologies in view of conceptual connections linking dignity to human agency and fundamental rights. Indeed, BCI-enabled brain reading has the potential to foster in novel ways the protection of human agency as such. And fMRI-enabled brain reading potentially affords the protection of some fundamental rights. However, substantial advances of both scientific and technological knowledge are still needed to probe the actual strength of these ethical motivations. Let’s see.

II. Human Dignity and Brain Reading Technologies In some clinical conditions, the human capability to act is almost or completely lost and disconnected from the persisting mental ability to conceive intentions to act. Notably, conscious and intentional thinking is largely preserved in patients affected by the Locked-In Syndrome (LIS patients). These patients, however, can hardly turn any intention to act into appropriate sequences of bodily movements. Thus, human agency as such is mostly or completely compromised in LIS patients, in view of the pervasive character of their motor disability, which is not selectively confined to specific limbs or voluntary muscles. There is a fairly direct connection between human agency as such and human dignity. The concept of agent – that is, the concept of an entity capable of performing a repertoire of actions guided by desires, intentions, and beliefs about the world – plays a central role in both Kantian and neo-aristotelian accounts of human dignity. According to Kantian approaches, the intrinsic worth of human beings is ultimately grounded in their capability to act as homo noumenon, by endorsing rationally and conforming their behaviours to the maxims of practical reason. And according to the neo-aristotelian account of dignity worked out by Martha Nussbaum, the exercise of human capabilities – notably including the capabilities for practical deliberation, control over one’s own environment, and political and social engagement – is the primary course which is available to human beings towards the realization of a dignified human life (Nussbaum 2006, pp. 77 – 78 and p. 161).

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Clearly, both conceptions of human dignity afford ethical motivations for protecting a generalized capability to perform actions, whose vulnerability is dramatically underscored by the equally generalized action impairments occurring in LIS and other pervasive motor disabilities. By learning how to use BCI technologies, patients affected by LIS acquire once again some general-purpose capability to act, insofar as BCI technologies enable one to use brain signals as control inputs for a wide repertoire of ICT and robotic devices. Presently, BCI-actuated devices include robotic manipulators, virtual computer keyboards, robotic wheelchairs, internet surfing systems, photo browsing, virtual drawing and painting systems (Millàn et al. 2010). The use of internet, in particular, enables one to make many sorts of economic transactions and to access a wide variety of information resources. Thus, the use of BCI technologies for functional substitution in severe motor disabilities is instrumental to human dignity protection through the intermediary of generalized human agency protection. Ethically motivated roles have been envisaged for fMRI-enabled brain reading too, in the different clinical context of disorders of consciousness. However, two crucial differences emerge with respect to the motor disability context of use. The first difference is that prospective uses of fMRI in the DOC context are less diversified than those envisaged for BCI systems in the case of people affected by LIS. Thus, an appeal to human agency as such appears to be inappropriate as an ethical motivation in the DOC context, insofar as brain reading technologies appear to be insufficient to support a generalized restoration of human agency. Nevertheless, meaningful connections between human dignity and these specialized uses of fMRI-enabled brain reading can still be found in the light of conceptual relationships between the protection of human dignity and the protection of fundamental human rights. Indeed, dignity, freedom, and justice are usually regarded as deeply intertwined and mutually illuminating concepts. According to some hierarchically organized views of these conceptual relationships, human dignity is what entitles human beings to fundamental rights (Andorno 2009, Rothaar 2010): human dignity plays a foundational role with respect to fundamental rights, and any failure to protect fundamental rights arguably counts as a failure to protect human dignity. The second difference is that LIS patients satisfy mental preconditions for ethically motivated uses of brain reading that are not obviously met by DOC patients. A non-trivial instance of this problem is readily brought out by examining the autobiographical communication protocol proposed in (Monti et al. 2010) in the light of the Charter of Fundamental Rights of the European Union. Under the chapter heading Equality, Article 26 of the Charter states: “The Union recognizes and respects the right of persons with disabilities to benefit from measures designed to ensure their independence, social and occupational integration and participation in the life of the community.” This article affords a prima facie ethical motivation for granting fMRI-responsive DOC patients access to autobiographical communication based on brain reading protocols. Indeed, one can hardly doubt that the sharing of autobio-

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graphical recollections is a significant component in the life and identity of individuals and communities formed by disabled people, their caregivers, family, and friends. Nevertheless, one can make a strong case that only consciously aware persons are able to enter genuine autobiographical communication, at least insofar as these interactions require participants to refer to themselves a variety of recollected properties and episodes. Under this view, the prescriptive force of Article 26 in this medical context depends on the ascription of conscious thinking to fMRI-responsive DOC patients. Are the experimental findings reported in (Monti et al. 2010) sufficient to conclude that fMRI-responsive DOC patients are consciously aware? Clearly, these patients are able to process verbally presented instructions in conditional form, and this processing requires one to perform memorized information retrieval, semantic processing, and mental imagery tasks. It has been suggested, however, that these impressive cognitive performances of fMRI-responsive DOC patients can be the outcome of wholly automatic and unconscious mental processing (Nachev and Husain 2007). Similar doubts can be additionally (albeit more indirectly) fuelled by increasing evidence about the vast processing abilities of the “unconscious mind”, which notably include the subliminal processing of word meanings (Gaillard et al. 2006). The problem of ascribing conscious thinking to fMRI-responsive DOC patients as a requirement for ethically motivated uses of brain-reading techniques extends beyond autobiographical dialogues. Indeed, a similar issue arises in connection with dialogues concerning pain reporting, informed consent, and continued medical care decision making. The various aspects of conscious thinking that appear to be selectively needed in each of these cases are analyzed in section IV on the basis of central distinctions about varieties of consciousness that one finds in the framework of contemporary philosophy of mind. Preliminarily, let us consider in the next section more straightforward technological preconditions to be satisfied in order to protect human autonomy by means of BCI systems. III. BCI Technological Preconditions for Human Autonomy Protection BCI technologies systems come in different varieties. Invasive BCI technologies involve the use of recording devices inserted inside the body (such as cortically implanted electrodes and electrocorticography apparatuses). The use of invasive BCI systems for communication and control of, say, mobile robots or prosthetic devices is presently restricted and constrained by implant risk, stability, reversibility, and body integrity concerns. Non-invasive BCI technologies preserve body integrity and raise no risks associated to bodily implants. Moreover, non-invasive systems based on the analysis of the electroencephalography (EEG) are particularly convenient in terms of signal temporal resolution, cost, and practicality of use. For these various reasons, we focus in the following on the potentially more pervasive BCI technologies of the non-invasive kind that are based on the EEG.

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Interaction between EEG-based BCI systems and their users can take place by synchronous or asynchronous communication protocols. In synchronous communication protocols, the mental effort required of the human user is locked to the presentation of some perceptual stimuli. For example, letters of the alphabet are consecutively flashed on a screen, and the user must concentrate on the letter she wants to select and write by means of a word processor. In asynchronous communication protocols, a mental effort is voluntarily initiated and self-paced by human users. For example, human users select a mental task from some suitable set of cognitive tasks – such as the imagination of a specific body movement or the iterated execution of a specific arithmetic operation such as addition or subtraction. Asynchronous communication protocols take advantage of a distinguishing feature of neuro-cognitive processing: different mental tasks activate local cortical areas in different ways, and these differences are often reflected into characteristic features of EEG signals. Users of asynchronous BCIs are aware of the fact that imagining some specific body movement (resp. executing a specific arithmetic operation) is meant to convey through its neural correlates the command that some action A (resp. some action B) must be planned and carried out by the BCI-actuated ICT or robotic device. A similar asynchronous communication protocol is adopted in the case of the fMRI technique described in (Monti et al. 2010). In order to identify which mental task a user is currently carrying out, the BCI system applies an appropriate classification rule to suitably pre-processed EEG traces that are recorded at standard scalp locations. This classification rule is usually generated by means of a machine learning technique involving a supervised learning process. The learning algorithm is provided with a training set, which is formed by pairs consisting of the suitably processed EEG trace and its correct classification. Eventually, the learning algorithm generates a procedure which, given any hitherto unseen EEG trace, classifies this trace and identifies the corresponding command, if any. How reliable are these classification procedures in their interpretation of BCI user intents? The theoretical and empirical methods that are used to estimate the reliability of learned classification rules involve distinctive background assumptions about the significance of training data and the stability of the stochastic phenomenon one is dealing with. These assumptions, however, are difficult to buttress when the classification of neural correlates of cognitive processing is at stake. In fact, increased familiarity with mental tasks, mental fatigue, variable attention levels, EEG cap changing position, and various other factors affect the stability of EEG correlates of mental states. Briefly, the reliability of learned classification rules depends on boundary conditions on brain processing that are difficult to isolate and control, insofar as task execution history, current mental context, and technical setup procedures concur to affect EEG correlates of cognitive processing (Tamburrini 2009). Similar epistemic uncertainties apply to fMRI-based communication too, even though the interpretation of brain activity recordings is usually entrusted there to

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human experts. These experts must deal with similar stability issues – arising in view of task execution history, mental fatigue, variable attention levels, and technical set-up procedures – which affect inferences about users’ mental states from the observation of their fMRI recordings. These interpretive functions are at the heart of the shared control architectures underlying both BCI and fMRI-based brain-reading systems for communication and control. And in turn, the shared character of action control distinctively shapes human autonomy protection issues arising in these technological contexts. Let’s see. Communication and control protocols based on brain reading require an act of delegation, whereby human users delegate both identification of high-level action intents and control of their detailed execution to a computational system (or to a human expert in the case of the fMRI experiments examined above). Surrendering these aspects of action control to a machine is subservient to restoring basic forms of autonomous action in a severely paralyzed BCI user. For example, the autonomy of severely paralyzed patients is protected and promoted by means of a machine, insofar as these individuals are put in the position to express their informed consent, to write their last will or, say, to engage into e-banking transactions on the internet. One should be careful to note, however, that this delegation act raises the concurrent problem of protecting autonomous action from uncertainties affecting the behaviours of BCI systems. To make a concrete example, the sources of user intent misclassification mentioned in the previous section may be appealed to in order to question the identification between the action intended by the BCI user and the action actually performed by the BCI-actuated device. More concretely, let us consider user protection from a machine in the light of the following question: “What is the binding value of informed consent and last will that patients affected by LIS express by means of a BCI?” The legal representatives of some disappointed heir may appeal to the epistemic uncertainty affecting BCI classifications of user intents in order to question the binding value of some BCI-rendered last will. After all, a misclassification of neural signals which convey a few bits of information may utterly change the meaning of sentences composed by means of a BCI-controlled virtual keyboard: in his novel The History of the Siege of Lisbon, José Saramago imagines proof-reader Raimundo Silva radically altering the canonical account of the siege of Lisbon by adding a ‘not’ in the page proofs of a history book: on their way to Jerusalem the Crusaders did not help the king of Portugal against the Moors. Thus, the right to exercise autonomous action should be effectively protected in these contexts, in view of uncertainties affecting the identification of user intents. In particular, regulations prescribing appropriate intent-corroboration procedures should be identified and introduced to harness legally binding uses of BCI-enabled communication. Additional issues concerning the protection of autonomous action from BCI systems arise in connection with the shared control of action in BCI-actuated robotic systems (Tamburrini 2009, Santoro et al. 2008). The need for delegating to ma-

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chines the control of several aspects of robotic action arises from the limited capacity of BCI communication channels. BCI users are able to convey high-level commands only to a robotic system; due to the very limited bit-rate transfer allowed by current BCI technologies and communication protocols, they can hardly control low-level stepwise execution of robotic behaviours. Therefore, BCI-actuated robots (such as robotic wheelchairs and robotic arms for grasping and manipulating) plan and carry out autonomously low-level movements and ancillary tasks such as the avoidance of unforeseen obstacles (Galàn et al. 2008). Additional discrepancies between user intents and actual trajectories of robotic systems may arise even when user intents are correctly identified, insofar as robotic behaviours are affected by external perturbations and by noise propagating from its sensory readings to the reasoning and planning components of its controller. IV. Mental Competence Preconditions and Communication in DOC Each one of the above applications of brain reading for communication and control presupposes the possession of a wide variety of mental capabilities on the part of their prospective users. These mental prerequisites are usually satisfied by LIS patients, who possess a basically intact mind trapped into an almost or completely paralyzed body – a butterfly in a diving bell, to use the words with which JeanDominique Bauby conveyed his dramatic condition (Bauby 1997). It was pointed out above that one cannot take for granted that the required mental preconditions for autobiographical communication are satisfied by fMRI-responsive DOC patients. Similar doubts can be raised about the mental competence required by various kinds of dialogues envisaged in the wake of the experimental results presented in (Monti et al. 2010). The authors of that experimental study suggest, for example, that “patients could be asked if they are feeling any pain, and this information could be useful in determining whether analgesic agents should be administered.” Medical beneficence provides powerful ethical motivations for this suggested form of communication with fMRI-responsive DOC patients. Related suggestions concern informed consent and continued medical care communication. In particular, it was claimed that “the first and obvious use of mental signalling by means of functional MRI could be to preserve the patient’s autonomy by querying his or her wishes regarding continued medical care” (Ropper 2010). Understanding which aspects of consciousness must be present and how one can detect them are formidable scientific and medical challenges (Laureys et al. 2004; Owen et al. 2009). The distinctions between varieties of consciousness that are made in the framework of contemporary philosophy of mind provide helpful, albeit only preliminary, clarifications of the many conceptual and empirical challenges that are involved (Tamburrini and Mattia 2011). In particular, the notions of phenomenal, access, and narrative consciousness appear to be useful in order to isolate and distinguish between preconditions for genuine communication about

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pain reporting, informed consent, and continued medical care, respectively. Let’s see. Access consciousness is identified, roughly speaking, with the ability to introspect one’s own mental states and to make the introspected mental states available for modification by reflection (Block 1995). The introspective and reflective components of access consciousness do not necessarily come together in conscious mental life, insofar as one may introspect, say, one’s own desire without being able to modify it by reflection. Actions driven by some irresistible desire and perceptual illusions that are cognitively impenetrable and incorrigible by reflection are significant cases in point. The subjective feel or experiential dimension of one’s own mental states is not captured by the notion of access consciousness. The capability to experience what it is like to be in a certain mental state is identified with another variety of consciousness, usually referred to as phenomenal consciousness (Nagel 1974). Perceptual experiences, like tasting something, and bodily experiences, like pains, are manifestations of this capability. Finally, mental states can be recalled and unified as a narrative of episodes, which are experienced and accessed from the unitary perspective of the individual self, taking into account their causal and intentional connections. This ability to organize, access and experience from a unitary subjective perspective a series of mental states is often referred to as narrative consciousness (Merkel 2007). Let us now bring these distinctions between varieties of consciousness to bear on the context of brain reading technologies and their application to communication with DOC patients. According to the definition advanced by the International Association for the Study of Pain (IASP), the term ‘pain’ denotes “an unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage.”. Thus, being in pain involves having an experience of the qualitative feel of pain, to feel what it is like to be in pain. In other words, in order to deal competently with pain questions one must be endowed, among other things, with some form of phenomenal consciousness. Are DOC patients endowed with phenomenal consciousness, to the extent that is required in order to feel pain? A relatively recent survey on this issue revealed that only 56 % of medical doctors answered “yes” to the question “Do you think that patients in a vegetative state can feel pain?” (Demertzi et al. 2009). Available scientific knowledge is clearly insufficient to provide firmer orientation. The authors of this study concluded that “in light of many controversies around pain (and hence pain management) in VS and MCS patients, an increase in scientific evidence is essential to enhance our understanding and to permit the development of adapted standards of care and improved clinical guidelines for these challenging and vulnerable noncommunicative patients with DOCs.” Let us now turn to consider communication concerning informed consent about medical treatment or participation in research trials. This kind of communication is

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usually motivated on autonomy protection grounds. The exercise of one’s own autonomy involves the capability to act on one’s own desires. Since, however, agents who are solely driven by a strong desire or impulse to act fail to qualify as autonomous, in the etymologically grounded sense of being self-ruled agents, individual autonomy additionally requires the capability to endorse, modify or reject one’s own desires to act. Briefly, autonomy ascriptions involve full access consciousness ascriptions, insofar as autonomous agents must be able to introspect and perform reflective interventions of various sorts on their own mental states. Even more comprehensive consciousness ascriptions appear to be presupposed in communication concerning continued medical care decision making. Introspective and reflective abilities are clearly involved. And additional demands arise from the circumstance that continued medical care decision-making is anything but a oneshot business. An expressed preference to discontinue medical care must be pondered over, remain open to revision for some time ahead, and must be typically reinforced in iterated interviews. Accordingly, one is presupposing that the recipient of continued medical care questions is endowed with memory continuity of the sort that allows one to recall previously expressed preferences, if any, their motivations, and their evolving patterns from one interview to the next. Briefly, by raising questions about continued medical care, one is pragmatically assuming that their recipient is capable of putting together a serial narrative of reflective and deliberative episodes, as these are experienced from a subjective, unitary, and first-person perspective. These abilities are typically associated to the narrative variety of consciousness. In conclusion, by raising continued medical care questions one is pragmatically presupposing that their recipient is endowed with mental abilities associated to access consciousness, in addition to mental abilities that are distinctively associated to the narrative variety of consciousness. The consciousness requirements that we have come to isolate for various ethically motivated communication contexts are summarized in the following table 1 (adapted from Tamburrini and Mattia 2011). Table 1 Communication, Ethical Motivations, and Consciousness Requirements COMMUNICATION

ETHICAL MOTIVATIONS

CONSCIOUSNESS REQUIREMENT

Pain symptom presentation

Medical ethics beneficence

Phenomenal consciousness

Informed consent on clinical trial participation

Autonomy protection

Phenomenal consciousness, access consciousness (both introspective and reflective capabilities)

Continued medical care decisions

Autonomy protection

Narrative consciousness (plus access consciousness)

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V. Conclusion: Communicating Brain Communication to Stakeholders The empirically elusive and formidable challenge of detecting whether DOC patients still possess the required varieties and degrees of consciousness calls for a cautious attitude in the process of evaluating the purported significance, if any, of the results in (Monti et al. 2010) for autonomous decision-making by fMRI-responsive DOC patient. A similarly cautious attitude is suggested by recent investigations on the impairment of other cognitive and social-emotional functions after severe traumatic brain injury, which happens to be correlated with an impaired ability to estimate correctly one’s own deficits and impaired functioning (Ciurli et al. 2010). In addition to raising empirical challenges for neuroscientific and clinical research, the analysis of consciousness preconditions for communicating with DOC patients may serve the purpose of sharing and disseminating realistic expectations on brain communication and control. Surrogates of DOC patients, families and their associations, health care policy makers, and journalists must be put in the position to appreciate the formidable scientific and medical challenges that have to be met before one can justifiably claim on ethical grounds fMRI-enabled communication with DOC patients – or the even more remote possibility of BCI-enabled communication with DOC patients as described in (Kübler 2009). A similarly cautious attitude must be adopted in connection with expectations raised by BCI-enabled communication and control by LIS patients. Several experiments and data on prototypical BCI systems are solely based on healthy subjects, and more extensive experimentation on severely paralyzed subjects is clearly needed. For example, a recent study found out that the performance of a ‘P300’ BCI speller for controlling a virtual keyboard depends in a significant way on eye gaze (Brunner et al. 2010). This finding suggests, contrary to a widespread assumption, that the results obtained by healthy subjects in BCI communication and control may not be easily replicated by subjects with severe neuromuscular disabilities, and especially by those with impaired eye movements. The proposed uses of BCI technologies and systems for the benefit of LIS patients must be additionally evaluated in the light of BCI system reliability, cognitive decline in LIS patients, and so-called BCI illiteracy or inability to use a BCI. Moreover, one has to perform detailed comparative analyses of BCI costs and benefits with respect to alternative communication methods for the benefit of patients who are not completely locked-in, insofar as they are still able to communicate, say, by moving their eyes and eye-lids. Briefly, the protection of human dignity and fundamental human rights which is potentially in the purview of fMRI-enabled and BCI-enabled communication and control must be properly communicated in the evolving context of scientific and technological inquiry – by warning against unrealistic expectations about

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new scientific and medical developments, by fostering understanding of scientific method and clinical procedures, and by promoting mutual trust between stakeholders, including medical doctors, patients, their surrogates, and their families.

Zusammenfassung Dieser Artikel analysiert den Schutz der Menschenwürde im Rahmen der medizinischen Anwendungen von Gehirn-Computer-Schnittstellen und den damit verbundenen bildgebenden Verfahren. Grundlegende Menschenrechte und die Vorstellung des Menschen als Agenten liefern wichtige ethische Gründe, die Kommunikations- und Handlungsfähigkeit von Menschen mit einem Locked-inSyndrom wieder herzustellen. Neuen klinischen Ergebnissen zufolge berühren ethische Beweggründe auf der Basis der Menschenrechte auch den Einsatz von bildgebenden Verfahren (fMRI) mit Ziel der Kommunikation mit Menschen in einem vegetativen Zustand. Jedoch setzt echte Kommunikation verschiedene geistige Fähigkeiten voraus, von deren Vorhandensein man im Zusammenhang mit dem vegetativen Zustand nicht selbstverständlich ausgehen kann. Diese notwendigen Erfordernisse werden hier auf der Basis der philosophischen Unterscheidungen zwischen phänomenalen, introspektiven, reflexiven und narrativen Bewusstseinsebenen analysiert.

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Is There a Human Right to Life? Paul Tiedemann*

I. Introduction The title question of this paper may make some readers feel deeply frightened. Some may think that whoever makes a query about the right to life, also questions a fundamental taboo on which our current moral civilization is based, namely human rights in general. They might think: If there is a human right at all, then it must surely be the right to life, and if there is no right to life, then there is no human right. However, it only makes sense to speak of a right if it is possible to violate this right. In the case of the right to life it is not so easy to show that possibility. We generally distinguish between the offender of a human rights violation and the victim of a human rights violation. And we imply that the offender is not identical with the victim. In the following section I will show that in the case of the right to life it is not possible to identify a victim if we use this pattern. The killing of someone seems not to leave a victim, someone whose right to life could be violated. – In the third section I will show that appearances are deceiving. The victim of a violation of the right to life seems to disappear only because in the case of this right the victim is identical with the offender. In the fourth section I will discuss some ideas of Jürgen Habermas, which go in the same direction but do not meet the crucial point I mentioned above.

II. Victim-related Theories of Damage The claim that it is much more difficult to explain who really is the victim of a violation of the right to life is confirmed by a multitude of explanations. These explanations will be discussed in order to show that the human being who is killed is

* The author is judge at the Administrative Court Frankfurt am Main und honorary professor at Justus-Liebig-University Giessen, and adjunct professor at Ozyeğin-University Istanbul. The paper contains some quotations from other texts of the author which are not marked as such. The author thanks Ass. Professor Amos Nascimento, University of Washington, Tacoma for the review of the text in terms of grammatical, stylistic and orthographic mistakes. All remaining errors are my sole responsibility.

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Paul Tiedemann

at the same time the victim of a violation of the right to life. However we must understand that all these attempts at explanation fail: The person who is killed is never the victim of the act of killing. 1. Non-Existence as Damage As long as we live it is of fundamental importance for us to live under humane and dignified conditions. If we experience that this or that condition must be met in order to live humanely and realize that these conditions are threatened by human behaviour, we postulate a human right in order to make sure that the condition concerned may not be impaired. So, a human right is a right whose violation leads to an inhuman state of the bearer of the right. Since it is inhuman to be tortured or to be hindered to express one’s own opinion, a situation of torture or censorship perpetrated by another human is a violation of human rights. Whether any postulate or interest is a subject of a human right depends on whether the person concerned is forced to live under inhuman conditions if the postulate or interest is not met. If we apply this criterion to the question whether there is a human right to life, then we get the following result: The right to life prohibits the killing of a human being. The violation of this right consists therefore of the killing of a human being. Killing is the termination of the existence of an individual (human) living thing. After the carrying out of the act of killing, there exists only a corpse or a memory but not the human being who was killed, because to be a human being means always to be a living thing. Killing exterminates the existence of the living thing with which this right is concerned. If the violation of a human right consists in exposing a human being to an inhuman state, then the right to life is only a human right if the individual concerned is exposed to an inhuman state by the extermination of her existence. We must therefore ask whether a person who does not exist (anymore), is in an inhuman state. The answer is very simple: A non-existing human being cannot be in an inhuman state, simply because existence is the prerequisite of any state. The being alive of a living thing is not a property of the living thing (an ontological category) but its existence (reality, actualization).1 In other words: Existence is not a predicate that could contribute to a narrower definition of an entity except to say that the entity concerned is not only a bare idea but that this idea is related to a reality. The proposition “Socrates is existing” and the proposition “Socrates is hungry” are not on the same level. Being alive is not a property of a living thing but it characterizes a living thing as such. In the face of the triviality of these previous considerations, it is surprising how often the difference between existence and predicate is overlooked in philosophical

1

Cf. Uwe Meixner, Einführung in die Ontologie, Darmstadt 2004, p. 18, 22 f., 60.

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discourse. For instance, the German philosopher Theda Rehbock defends the theory that humans could be holders of rights even after their death, with the argument that a human after death could not be considered as a bare lifeless object like a stone. Rather, “he meets us as a personal opposite, in whose situation we could be and eventually will be ourselves.”2 The idea that we could be in a certain situation if we no longer exist has possibly something to do with the equivocation of the auxiliary verb “to be”.3 The proposition “Socrates exists” (= “Socrates is existing”) has the same grammatical structure as the proposition “Socrates starves” (= “Socrates is starving”). However, existence is not a property that we could attribute to or deny a subject like the property of starving. Whatever does not exist has no properties. A living thing that does not live does not exist. It can neither be in a humane nor in an inhuman state. Therefore it is not possible to violate someone’s human dignity by taking his life. As long as the person exists, her life is not taken and thus her human dignity is not violated. As soon as the act of killing is carried out, it is not possible anymore to violate her human dignity because she does not exist anymore.

2. Life as Basic Condition of all Other Goods The claim that the right to life is to be recognized as a human right is often justified with the function of human rights in general. This is the function of protecting exceptionally important goods that are necessary for a humane life. All these goods are goods only as goods for someone. They assume that the human being, who wants to enjoy them, exists. If, however, the pure existence is the necessary condition of the possibility of enjoying all these goods, then life itself must be a good to be protected. Therefore there is a human right to life. This view was already shared in the natural law debate of the 19th century, represented in the Staats-Lexikon of 1848, edited by Carl von Rotteck and Carl Welcker. According to this opinion, the absolute value of human life follows from the fact that the pure existence of the human individual is the necessary condition for a life in a humane state. In order to lead a humane life it is at first necessary to exist.4 In this tradition stands the first decision of the German Federal Constitutional Court on abortion, in which the court states succinctly that life is “a highest value within the constitutional order […]; it is the vital basis for human dignity and the prerequisite of all other fundamental rights.”5 With similar reasoning the prohibition of the Theda Rehbock, Menschenwürde und Bioethik. In: InfPhil 36 (2008), 1, p. 25. Klaus Rehkämper, Ist Existenz eine Eigenschaft? In: InfPhil 31 (2003), 2, p. 18. 4 Gustav v. Struve, Menschenrechte. In: Carl v. Rotteck / Carl Welcker (eds.): Das StaatsLexikon. Enzyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Altona 1847 [Reprint Frankfurt / M 1990], vol. 9 p. 69; P. Pfizer, Urrechte oder unveräußerliche Rechte; vorzüglich in Beziehung auf den Staat. In: Carl v. Rotteck / Carl Welcker (eds. …) ibid. vol. 12, p. 694. 2 3

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death penalty was derived from the concept of human dignity by the Constitutional Courts of South Africa6 and of Hungary.7 Without any doubt it is true that life, i.e. the pure existence of a human being, is the condition for the fact that other things, which are protected by human rights (e. g. health, freedom of speech etc.), are valuable for the human being. These goods have no value as long as they are not goods of living human beings. But from this fact it does not follow that life itself must be valuable. The situation is similar to a journey by flight. If one is flying in an airplane, it is important and valuable for him that the flight is not delayed, that the food on board is not poisoned, and that the pilot is not drunk. But from the fact that all these things are important and valuable, it does not follow that the flight itself is important and valuable. If one is hindered to travel or if one relinquishes it, all these things lose their importance and value. In the same way, it does not follow from the importance and value of certain circumstances of life that life itself has a certain importance and value. Rather all these circumstances lose their relevance if the life, whose circumstances they are, does not exist anymore. So, it is not possible to derive the value of life from the value of the circumstances of life.

3. The Doctrine of the Holiness of Life In today's debate about a right to life rarely is the question asked about how exactly a human being becomes a victim, i.e. which damage he actually suffers through his killing. This has several reasons. One reason lies in the still widespread doctrine of the sanctity of life, which owes its existence in Western society to Christian theology.8 Accordingly, we have to respect human life absolutely because it is a gift of God or because human life is a property of God, which man may not misappropriate.

5 BVerfG judg. of 25. 02. 1975 – 1 BvR – 6 / 74 –, BVerfGE 39, 1 [42]; judg. of 15. 02. 2006 – 1 BvR 357 / 05 –, EuGRZ 2006, 83 [90]; see also Michael Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dargestellt am Beispiel der Menschenwürde. In: Christian Starck (eds.): Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts. vol. II Tübingen 1976, pp. 405.; the same: Leben und Würde des Menschen. In: Peter Badura / Horst Dreier (eds.): Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht vol. II. Tübingen 2001, pp. 77). 6 Constitutional Court of South Africa judg. of. 06. 06. 1995 – Satte v. Makwanyane et. al. – CCSA 1995 3 SA 391. 7 Alkotmánybíróság judg. of 24. 10. 1990 – Nr. 23 / 1990 –, az 1990, 88 (engl. translation in: Verfassungsgericht der Republik Ungarn: Ausgewählte Entscheidungen in englischer Sprache. Budapest n.d.). 8 Helga Kuhse, Die Lehre von der “Heiligkeit des Lebens”. In: Anton Leist (ed.): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei der Abtreibung, künstlichen Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Frankfurt / M.: 1990, pp. 75 [93].

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There are also secular variants of the doctrine of the sanctity of life. One of them is the natural law doctrine of John Locke, according to which life is a property title, but not one of God but one of the human individual himself. Each individual has ownership of his own life, because it is the individual himself who lives and reigns over his own life.9 Locke's justification of the right to life suffers, however, like all natural law conceptions, from a lack of a clear distinction between facts and norms or facts and values. The inference from the fact that the individual reigns over his life to a right to this reign is a naturalistic fallacy.10 Because the fact of reigning does not infer a right to reign. Other secular variations of the doctrine of the sanctity of life point out that human life in comparison to the lives of other living things and in comparison to non-living things has a higher value because it is characterized by special abilities11, by superior complexity12, or by self-reflexivity.13 Peter Singer, however, has argued rightly that this preference of the existence of human beings is justified by nothing.14 Human life has characteristics that are different from non-human life or even from non-living material. But this does not necessarily mean that human life has a higher value. The decision as to whether something is valuable or whether it is more valuable than something else, is always dependent from on who decides on this matter. His decision depends on his subjective interests. The fact that people hold their own lives more valuable than that of animals is therefore not surprising but from the perspective of the animals not binding. An “objective“ scale for the value of human life could only be achieved if one could judge things from a divine perspective. This point of view is not available for us, and certainly not if we share a secular standpoint. Also the utilitarian justification of the right to life can be understood as a secular variant of the doctrine of the sanctity of life. According to Singer, there is a duty to consider the pleasure of other living beings as valuable.15 Consequently, the lives of creatures that can feel pleasure have some value, while the lives of creatures who 9 John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government [1689]) Reinbek 1966, p. 27. 10 Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung. München 2004, pp. 142.; For the history of the naturalistic fallacy and it’s dicovering very instructive: Norbert Hoerster, Zum Problem der Ableitung eines Sollens aus einem Sein in der analytischen Moralphilosophie, ARSP 45 (1969), pp. 11 ff. see also Janina-Maria Gärtner, Ist das Sollen ableitbar aus dem Sein? Berlin: Duncker & Humblot 2010, pp. 17. 11 Otfried Höffe, Menschenwürde als ethisches Prinzip. In: the same / Ludger Honnefelder / Josef Idensee / Paul Kirchhof: Gentechnik und Menschenwürde. Köln 2002, pp. 115. 12 Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen. Darmstadt 2.ed. 2002, pp. 230. 13 Ludger Honnefelder, Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos. In: Otfried Höffe / Honnefelder, Ludger / Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.): Gentechnik und Menschenwürde. Köln 2002, p. 86. 14 Peter Singer, Praktische Ethik. Stuttgart 1984, p. 108. 15 Singer ibid., p. 118.

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have no consciousness and therefore cannot feel any pleasure has no value. In comparison of animal and human, the human life has a higher value because, from a neutral point of view, self-conscious life enables more pleasure than a non-self-conscious life.16 A person has a consciousness of her mortality and suffers when she has to reckon with her death. Therefore the right to life must be granted to her. This reasoning, however, sees life only as a necessary condition for the experience of pleasure. So it is really a doctrine of the sanctity of pleasure, for whose sake the life must be respected. Why, from the perspective of a potential offender, the pleasure of his potential victim should be a relevant argument, however, remains obscure. This is only clear and understandable, if one assumes that the pleasure, as such, has holiness. If pleasure, as such, is holy, then every living being that can feel pleasure, participates in this holiness. The holiness of pleasure can only be a subject of a confession of faith and is not necessarily accessible to reason. In comparison to secular versions of the doctrine of the sanctity of life, the theological justification is internally consistent and consequent. But it is confronted with the objection to a non universal religious faith. Above all, one can argue against it on the basis that it is not possible to justify a human right (a right of humans) but only a divine right (a right of God). Bearer of the subjective right to life is hence not the human being but God.

4. Deprivation Theory A current widely used strategy in support of the right to life is based on the fact that the loss of life is an evil that happens during the life time of a human being. It contradicts the opposing opinion which was already supported by Epicurus, according to which one could not befall any evil if one does not exist, and therefore death was not evil.17 This view is countered by the argument that not only the experience of pain is evil, but also the frustration of our future related desires, intentions and plans. The so-called deprivation theory claims that it is an evil to prevent a human being from enjoying pleasure that would be given to him if he would not die. It was therefore an evil, when death prevents the realization of our desires, in particular the desire to continue to live.18 Suppose a person lives 80 years. Then typically he Singer ibid., pp. 123. Epikuros, Brief an Menoikeus. In: Epikur, Philosophie der Freude, München 1988 pp. 54. 18 Jeff McMahan, The Ethics of Killing. Problems at the Margins of Life, Oxford 2002, p. 172; cf. also. Julius Schälike, Der Wert des Lebens und die Ethik des Tötens, ZphilForsch 64 (2010), pp. 357.; Oliver Hallich, Das Argument der Existenzverhinderung in der Abtreibungsdebatte, ZphilForsch 64 (2010), pp. 216; see also already Anton Leist, Eine Frage des Lebens. Ethik der Abtreibung und künstliche Befruchtung. Frankfurt / M.: 1990, p. 81; Héctor Wittwer: Ist der Tod unbegreifbar? In: InfPhil 39 (2011), Heft 2, p. 20. Cf. also the same, Selbsttötung als philosophisches Problem. Über die Rationalität und Moralität des Suizids, Paderborn 2003. 16 17

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would have experienced during these 80 years a whole series of joyful feelings that make his life appear worth living. If he had died at age 40, his death would have robbed him of all the positive things that were to happen in the second half of his life. The supporters of the deprivation theory infer from this idea that the victim of an action of killing suffers a loss (during his life time), against which the right to life should protect. This right, however, has a relative weight that varies between the different ages of humans. The sooner a human dies the greater the damage he suffers by the loss of goods (future positive life experiences), he otherwise would be able to enjoy. Upon closer examination, this argument is not as impressive as it first appears. While it is true that those who die earlier are dead longer, the time difference is actually insignificant. The length of time in which the living being is deprived of positive life experience after death is namely infinite. Even the natural death at 80 or 100 years frustrates the desire to experience those positive things that would occur in the 81st, the 125th or in the 1013th year of age, and so on. In comparison, some 40, 60, or 80 years more or less are not worth mentioning. The deprivation theory does not do what it claims to do. It provides no reason for a right to life. Rather, it leads to the conclusion that it makes no essential difference to whether and when a person dies, or if and when he is killed. Maybe behind the deprivation theory, however, stands an intuition that in the formulation of this theory is not clearly and unequivocally expressed. The evil of killing consists not in the fact that the death prevents one section of life, which the person would like to experience. The problem is rather that in the face of death all current life experiences and all plans lose their meaning and value. This argument, however, refers not to the termination of life by killing as such but refers to the living condition under which we are living in the expectation of death. Undoubtedly, we can concede that a person (who is not weary of life) suffers from the fact that she has to expect her death. Human life is in large part related to the future. Everything we do refers to our future, regardless of whether we think about our great life plans or only our short-term actions. In a certain sense all our activities seem to lose their meaning if our future is closed. Thinking about our death usually generates therefore a specific kind of sadness. However, the question is whether our state of mind when we think of our own death should be qualified as inhumane and contrary to human dignity. Is the awareness of our mortality and of the limitations of all meaning in life not rather a condition for a dignified life? – Death may be regarded as an evil because it removes the meaning from life. But this evil is not the result of an intentional act of killing, but the consequence of our mortality. A human right to life and its strict observance cannot eliminate this evil, and nothing can contribute to its prevention.

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5. The Contractual Argument In order to overcome the deficiencies of the deprivation theory Norbert Hoerster argues on the basis of the contract theory that each self-conscious person has a survival interest, which appears as mortal fear as soon as she comes into a serious danger of life. Anyone who has an interest in survival hopes that this interest is recognized by all others. This can be achieved only if one also recognizes the survival interests of others. Therefore it is in the interest of one's own survival, to recognize the other’s a right to life.19 Hoerster concedes that this reason for the recognition of a right to life is not convincing in all conditions. “Nevertheless,” he says, “the probability is very high that this reason is sufficient for the vast majority of people in our society today.”20 However, there could be situations where, according to Hoerster’s approach, there is no reason to respect a person's life. Imagine, for example, that by satellite reconnaissance a huge gold deposit in the midst of the Amazon region was discovered. At the same time a tribe was also found living in this area. This tribe, we further assume, has never had any contact with the “civilized” world nor to people outside the tribe. It is assumed that these people believe that they are the only people on our planet. Therefore, they cannot suffer if we are considering killing them in order to get more easily to the gold reserves. We, for our part, have no reason to give these people a right to life, because they have no respect for our lives. Because they know nothing of our existence, they cannot become dangerous for us under any circumstances. Now assume further that there is the possibility of employing an odourless gas in the territory of this tribe, without fear- triggering circumstances and with the result that all tribal members are killed simultaneously and without any suffering – under the principle of the contract theory there would not be any objection to do so. The contract theory does not deliver any reason for the protection of life itself but it only delivers good reasons for the protection against mortal fear. An absolute respect for human life as such cannot be justified in this way.

6. Protection against Mortal Fear Anyone who expects to be killed, though, has to experience a kind of evil and suffering that goes far beyond the pain about their own mortality and about the futility of his or her own life plans. This additional suffering does not refer to the fact that I must die, but to the fact that there are other human beings who are either indifferent to my existence or are interested in my destruction. There is no stronger 19 Norbert Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart 2002, p. 78. 20 Hoerster ibid., p. 80.

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form of contempt of a human as being indifferent to his death or wishing his death.21 This experience of contempt makes people not only sad, but triggers deep despair. Admittedly, a person who is in the natural dying process, also experiences attacks of boundless despair. It is a condition that is inevitably associated with death and dying. It can only be mitigated by active care, but cannot be completely prevented.22 However, these natural causes of despair must be distinguished from the existential despair which is caused by the contempt of those who claim to dispose of the life of others. The former despair is caused by the inability to escape death, while the latter despair is caused by the denial of human recognition. This contempt hits and hurts the person at her roots. It deprives her of the ground of her personal existence. It denies her being as a subject and treats her rather as a thing which can be used for the sake of somebody else. Someone who is exposed to such contempt will in the long run lose his capacity to maintain his own personhood. He loses the capacity to determine himself through reflexions and considerations. Sooner or later he will get to a state of panic, which wears him down and deprives him of the capacity of personal self-determination. In order to maintain personal self-determination, humans are dependent on the recognition of their personhood by other persons. The despair by existential contempt has much more weight than the despair by mortal fear. It can lead to a much severe disaster. It can become so strong that it overcomes the mortal fear and motivates suicide. The despair through contempt and the associated loss of personal self-determination show themselves in almost perfect purity in the death row syndrome, in which someone has to sit in a prison and wait for his execution.23 The long stay in a death row leads to a state in which the person concerned loses his right mind and his capacity to create his own free will based on his own considerations and reflexions. He suffers a process of depersonalisation that is similar to the state of torture. Such a state is without any doubt contrary to human dignity and demands protection by human rights. But is it the right to life which grants this protection? The European Court of Human Rights (ECtHR) had to decide this question in 1989.24 The court had to deal with the case of a claimant who wanted to prevent his extradition to the USA by the United Kingdom. In the USA he had to expect a trial 21 It is however, even possible to wish the death of another person out of respect toward this person, e.g. in the context with euthanasia. 22 Elisabeth Kübler-Ross, Verstehen was Sterbende sagen wollen, Gütersloh 3. ed. 1990, pp. 48. 23 Kurt Rossa, Todesstrafen. Ihre Wirklichkeit in drei Jahrtausenden, Oldenburg / Hamburg 1966, pp. 153. 24 ECtHR, judg. of. 7. 7. 1989 – 1 / 1989 / 161 / 217 – (Soering v. UK), EuGRZ 1989, 314; disagreeing: separate vote Cancado Trinidate et Abreu Burelli in IACourtHR – Villagran Morales et al. v. Guatemala – 1993, quoted in Viviana Bohórquez Monsalve / Javier Aguirre Román, Tensions of Human Dignity: Conceptualization and Application to International Human Rights Law, In: SUR – International Journal of Human Rights 6 (2009), 11, pp. 39 [52].

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and probably the death penalty due to the murder for which he was accused. According to the version of the European Convention of Human Rights (ECHR) at the time, the death penalty was not prohibited.25 So, the threatening death penalty as such was not a reason to protect the claimant from extradition to the USA. The court came, however, to the conclusion that the claimant in the case of his extradition would be exposed to a long stay on death row where he would have to suffer the death row syndrome. The court considered the detention in death row as inhuman or degrading treatment in the meaning of Article 3 ECHR and inferred therefore that the extradition of the claimant would be a violation of Article 3 ECHR. The ECtHR distinguished here clearly between the act of killing which under certain conditions can be a violation of the right to life (Article 2 ECHR) and the act of a death threat, which is an act of inhuman or degrading treatment that falls under the right not to be treated inhumanely (Article 3 ECHR). We can learn from this case law (which was confirmed in many other cases of the court) that death threats can bring a human in a state that is not in accordance with his dignity. But this does not protect the right to life but rather argues for the prohibition of inhuman and degrading treatment. The human right to life does not deal with evils that happen during one’s life time but it deals with the act of killing itself, i.e. the act of terminating the existence of a human being. As we have clarified above terminating the existence of a human does not bring the person concerned in an inhumane state. In other words: It is not possible to violate a good of a human individual through the act of killing him. It is not possible to lose a good by being killed. Either the individual is still alive – then he cannot suffer from the loss of life, or he is dead – then there is nobody who could suffer from the loss of life. The violation of the right to life seems not to produce a victim. But does it make sense to talk about a right if the violation of that right can never produce victims?

III. Offender-related Theory of Damage Now I will show that, contrary to appearances, in the case of a killing there is after all a victim. This fact, however, remains hidden, as long as we have got only the person in view, against whom the act of killing takes place. As it has been shown, this person does not come into consideration as a victim. The victim of an act of killing appears only if we have an eye on the perpetrator, and on all those people who grant the offender the right to kill another person, or who are indifferent toward the activities of the offender. That these people, especially the perpetrators, are the real victims of an act of killing, can be explained by the thesis of the equiprimordiality of human dignity. This theory explains that and why the infringement of 25 The death penalty had been abolished already by the Additional Protocol No. 6 of 28. 04. 1983, but Britain was not yet acceded to the Protocol. This happened only at 01. 06. 1999 (cf. http: // conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=114&CM8 &DF=23/06/2011&CL=ENG).

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human rights always and necessarily must damage the offender, while it does not necessarily must damage the one whose rights were infringed. The latter is especially not the case in the right to life. 1. The Relationship between Human Rights and Human Dignity Human rights are different from other legal titles particularly due to the fact that they can be derived from the principle of human dignity.26 A right is a human right if and only if its violation is at the same time a violation of human dignity. The human-dignity-formula actually refers to a value judgment, namely the judgment, that humans are assessed as entities that not only have a price but also dignity. To say that a person has dignity, means to award that person a certain value, namely an absolute value. Something is absolutely valuable (“has dignity”), if nothing else could be, which in any aspect could be more important and valuable. The most important quality which for every human being is far beyond any other possible valuable entities and which he / she would never exchange against anything else or which he / she would never give up is his / her own personal identity. Personal identity is the awareness that I am and the awareness of who I am. It results from the lifelong stream of thoughts and acts that I can understand as my own thoughts and acts, because I can understand myself as the author of these thoughts and acts. This understanding can be called the awareness of authenticity. By understanding ourselves as the author of our thoughts and acts we understand ourselves as Someone and not only as something. To understand oneself as Someone and not only as something means to understand oneself as the last point of reference of every evaluation, i.e. as subject of evaluation that stands beyond every possible weighting and relativization. Someone has therefore an absolute value and not – like anything – a relative value. Only a subject has its value for its own sake. Any other thing has its value only for the sake of a subject. To award dignity to a person therefore means, to evaluate a person as absolute valuable because of his / her being as Someone, in other words: because of his / her personal identity. Therefore it is the most thinkable personal disaster if our personal identity will be damaged or destroyed. If this happens by the acts of other people, then we talk about a violation of human dignity and of a violation of human rights.

26 Paul Tiedemann, The Relation between Human Dignity and Human Rights: What is meant by Deriving Human Rights from Human Dignity? In: Stephan Kirste (ed.): Human Dignity as a Foundation of Law, ARSP Beiheft, Wiesbaden 2012 will appear in 2013. Cf. Preamble of the International Covenant on Civil and Political Rights (http: // www.uni-potsdam.de/u/mrz/ un/int-bill/ipbprde.htm) and on Social, Economic, and Cultural Rights (http: // www.uni-pots dam.de/u/mrz/un/int-bill // ipwskde.htm) of 19. 12. 1966.

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2. Equiprimordiality of the Human Dignity The thesis of the equiprimordiality of human dignity now says that the ability to understand oneself as Somebody and to appreciate oneself as such absolutely stands or falls with the ability to understand and appreciate absolutely every other person as Someone. If we cannot understand and appreciate others in this way, we cannot understand and appreciate ourselves either. If we cannot understand ourselves that way, neither can we understand and appreciate others. Only if we recognize and appreciate others as Someone we can recognize and appreciate ourselves as someone; only if we recognize and appreciate ourselves as Someone we can recognize and appreciate others as Someone and not only as something. So, the awareness and the consciousness of our own dignity and the awareness and consciousness of the dignity of other persons are equiprimordial. Both are to each other as the two sides of the same coin. Either we have both sides together or we have none of it. If the equiprimordiality-thesis is true, then it follows that we lose the ability to understand and to protect ourselves as Someone if we only take in consideration the act of killing another person. Wishing to kill a person means wishing to destroy his / her personal identity. We cannot have this wish as long as we consider the other person as Someone and not only as something. So, before we are able to kill him / her we must first finish our understanding of him / her as Someone. We must first start to consider him / her as only something. In other words: We can consider the killing of another person only if we first have lose the ability to be aware of him / her as Someone, as a person who is not merely something of more or less valuable for us but rather the last reference of all evaluation. However, if we have lost the ability to understand another person as Someone, then we have already lost the ability to understand ourselves as Someone. If we start to consider the others as mere somethings we also start to consider ourselves as mere somethings. So, if we consider killing another person, we become ourselves victims of this consideration. The act of killing does not only make the perpetrator of the act to become a victim of a violation of human dignity but also affects anybody who accepts this acting or is indifferent towards the personhood of others. Therefore, the thesis of equiprimordiality can explain in what way we can understand the right to life as a human right. The persuasiveness of this explanation, however, depends on the possibility of justifying this thesis itself. So, we have to try to justify this thesis before we can be sure that our result is convincing.

3. Justification of the Equiprimordiality-Thesis The justification of the equiprimordiality-thesis cannot be the task of a philosophical argumentation. Philosophy can only clear up the meaning of concepts. But it cannot prove that there is a reality which makes the concept true. This is the task of the empirical sciences. So, we have to call up the results of the empirical sciences in

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order to clarify whether there is a reality which confirms the equiprimordiality-thesis. And indeed, developmental psychology can show that our understanding and our appreciation of our own personal identity depends on our understanding and our appreciation of the personal identity (personhood) of others.27 A person acquires a consciousness of his own authenticity as Someone just by the fact that he / she was already treated by his / her fellow humans so as if he / she were Someone before he / she really was Someone. We acquire the attitudes and evaluations toward ourselves by taking over the attitudes and evaluations of other people toward us. We can take over the attitude and evaluation of others toward us only if we are able to recognize it as attitudes and evaluations. In order to recognize the attitudes and evaluations of others we must understand that the others are subjects who are able to understand and to evaluate. So, by nature a young human being must be able to assume that fellow humans are persons who are the last references of their own evaluations. Only if the young human recognizes his / her fellow humans as authentic persons he / she can take over their attitudes and evaluations toward himself / herself.28 So, we can understand and appreciate our own authenticity because we can understand and appreciate the authenticity of others. However, if we are not able to understand and appreciate the authenticity of others, then we are also not able to understand and appreciate the authenticity of ourselves. In other words: The consciousness and the appreciation of our own authenticity is equiprimordial with the consciousness and the appreciation of the authenticity of others. Developmental psychology shows this relationship, however, only for the relationship of a person to his caregivers, friends and other people with whom a personal relationship exists. If these people refuse the recognition and appreciation of the personhood of the human concerned, then this human will not develop or lose his / her capacity to recognize and to appreciate the authenticity of others. It would be short-sighted, however, to believe that equiprimordiality is only functioning in the relationship between acquaintances, so that we can only prove the existence of something like a communitarian conception of human rights but not a universal one. Persons must not only appreciate the dignity of their caregivers and acquaintances in order to maintain the sense of their own dignity, but they must also respect the human dignity of everybody. This follows from the fact that it is not possible to recognize the dignity of some persons while refusing the appreciation of the dignity of others at the same time. In order to appreciate humans in respect of dignity differently it would be necessary to have a common standard according to which we can

27 Jessica Benjamin, Die Fesseln der Liebe. Frankfurt / M 1993; Daniel N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 1992; Martin Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt / M. 1996. 28 An explanation that we have this capability, provides the theory of mirror neurons. Cf. Giacomo Rizzolatti / Corrado Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt / M. 2008.

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decide if we should appreciate or not appreciate the dignity of others. This standard could never be the capacity to determine oneself authentically. It must always be any other standard, something by which humans are attached a certain price but not dignity.

4. Conclusion One cannot kill another human without ignoring him or her as a person, i.e. to disparage his / her existence as a person. This may not further damage the killed person, because she no longer exists and therefore she cannot suffer damage anymore. But this does not alter the fact that the violation of her dignity retroacts on the perpetrator and causes that he loses his sense of his own dignity. He will consider himself rather as something and not more as Someone. Thus, one who kills another, becomes not only to a perpetrator, but at the same time also a victim of a human rights violation. A violation of a human right is in most cases both, a violation of the dignity of a victim but also a violation of the dignity of the perpetrator. In some cases there is not violation of the dignity of a victim but always is there a violation of the dignity of the perpetrator. This is true not only in the case of killing but also in other cases. For example it is not possible to violate the dignity of someone by prohibiting him to express an opinion he doesn’t have. But we, if we try to oppress the expressing of an opinion of others, we violate our own dignity because by doing so we stop to consider the other person as Someone. We treat him as something and that prompts us to understand ourselves as mere things. The actual attempt may be vain, but the attitude behind it undermines the consciousness both for the own dignity and for the dignity of others. This aspect is largely ignored in the current debate about the right to life and dignity of the human embryo or fetus.29 The debate has only the human embryo or fetus as such in mind but not those who claim the right to be able to do as they want with them. We search, so to speak, the victim on the wrong side. Not those are the victims but we are the victims of a life form that gives the life of others in our power.

IV. Jürgen Habermas’ Contribution to the Genetic Engineering Debate The perspective proposed here is very close to the contribution of Jürgen Habermas in the debate on genetic engineering. Habermas believes that pre-personal human beings could be considered neither as subjects of duties nor as bearer of rights.

29 Similar although: Klaus Meyer-Abich, Die gesellschaftliche Menschenwürde des Embryos in der Naturgeschichte. In: ZRP 35 (2002), 219 [221].

Is There a Human Right to Life?

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However, he stresses the idea that there are duties towards them. We had these duties for the sake of ourselves.30 He considers genetic programming of our own offspring as an instrumentalization of descendants for purposes that are not their own. The view on the programmed persons as instruments for purposes of others had repercussions on the consciousness of all of us that is also on the consciousness of the programmers. It was about our intuitive self-consciousness, i.e. about the image, which we had about the human being. Habermas fears that genetic engineering could change our moral self-understanding under which we can understand ourselves as authors of our own life and as equal members of the moral community.31 Mind you, at this point, Habermas speaks about our self-understanding and not about the self-understanding of those persons to whom genetic interventions have been made. Unfortunately, Habermas doesn’t follow this idea consequently. Time and again, Habermas has the feared negative consequences of genetic interventions in mind, which might appear at the later-born person to which these procedures were performed. He does not see sufficiently clear that the effect of an instrumental attitude to those who have them, is independent from the effects of instrumentalization for the victims. Therefore, he refuses to grant the embryo absolute protection of life, although on the other hand, he speaks about the intuition according to which pre-personal beings cannot simply be made available to competing interests.32 In addition, Habermas wrongly weights the effect of instrumentalization on the perpetrators and on the victims. Considered in isolation, the risk for the self-understanding of those persons to whom genetic interventions have been made is even more likely of minor weight. If the members of a society in which those people live could maintain their image as authors of their own life, then it would be no less more likely that also those people who have been genetically manipulated, could develop an authentic identity. Even these people can distance themselves from their genetic makeup as well as from the knowledge of their genetic manipulation and can make it the subject of an autonomous assessment. By their fate they are prevented as little to the development of an authentic identity as any other human being. However, it is just the consciousness of the availability about humans that has an effect to the whole society and the capacity of its members to understand themselves as authors of their life, and only on this detour, it will influence the selfunderstanding of whom, who were genetically manipulated. The self-understanding of a society in which human life is taboo will differ significantly from the self-understanding of a society in which human life is at the disposal of others. The difference is that it will be very hard for the members of the latter society to understand themselves in their authentic personality as absolutely valuable. They will insidiously lose the sense of human dignity. We can maintain 30 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt / M. 2001, p. 67. 31 Habermas ibid., p. 77. 32 Habermas ibid., p. 78.

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this sense only if the human life as well as the personhood at all are occupied with an absolute taboo. What we think depends on what we do.

Zusammenfassung Wenn es überhaupt ein Menschenrecht geben sollte, dann, so die allgemeine Meinung, muss es wohl das Recht auf Leben sein. Diese Selbstverständlichkeit gerät jedoch ins Wanken, wenn man die Aufmerksamkeit auf den Umstand richtet, dass die Idee der Menschenrechte gewöhnlich mit der Vorstellung verbunden ist, dass es im Falle seiner Verletzung nicht nur einen Täter, sondern auch ein Opfer gibt und Täter und Opfer nicht identisch sind. Das aber gilt nicht für das Recht auf Leben. Denn solange die Tötungshandlung noch nicht vollzogen ist, gibt es noch kein Opfer, und wenn sie vollzogen ist, gibt es kein Opfer mehr. Der Aufsatz stellt einige Versuche der Lösung dieses Dilemmas vor, die jedoch alle mangels Überzeugungskraft abgelehnt werden müssen. Vorgeschlagen wird stattdessen eine neue Sichtweise, die den Täter selbst als Opfer wahrnimmt, also von der Identität von Täter und Opfer ausgeht: Wer die Menschenwürde eines anderen nicht achtet, der beschädigt immer zugleich auch sein Selbstverständnis als Träger von Menschenwürde. Was im Falle des Rechts auf Leben besonders klar zu Tage tritt, gilt aber im Prinzip für die Verletzung jeden Menschenrechts.

Diskussionsforum – Discussion Forum

Rhetorik als Rechtsphilosophie1 João Maurício Adeodato

I. Rechtsanwälte werden Philosophen Ziel dieses Textes ist es, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass die Rhetorik eine Weise ist, die Welt zu „erfahren“, mit all den Assoziierungen, die dieses Verb mit sich bringt, wie: „sehen“, „fühlen“, „denken“, „ausprobieren“, „urteilen“. Sie ist eine Art Einstellung, die Umgebung zu beobachten und sich gleichwohl in ihr aufzuhalten. Eine historische Betrachtung lässt erkennen, dass der schlechte Ruf der Rhetorik auf einer unzulässigen und metonymischen Wahrnehmung beruht. Die traditionellen Philosophen haben die Rhetorik ausschließlich mit ihrer strategischen Richtlinie identifiziert, den materiellen Aspekt der Rhetorik als einzige mögliche Realität beiseite gelassen und angenommen, dass jede Rhetorik zu überzeugen und Verhalten zu beeinflussen sucht. Zudem lässt sich daraus erklären, dass von den drei Grundlagen der Rhetorik (ethos, pathos und logos) die Rhetorik pars pro toto mit pathos identifiziert wurde, d. h. mit ihrer Funktion, Emotionen hervorzurufen. Während die Ontologien der Wahrheit sich die Rhetorik des logos und des ethos aneigneten, indem sie die Erkenntnistheorie und die Ethik als Hauptanliegen „der“ Philosophie hervorhoben, schrieben sie den Rhetoren nicht einmal „einfachen“ pathos zu, sondern ein pathos ohne ethos, noch logos. Damit wurde die Rhetorik auf doppelzüngige, betrügerische Argumente reduziert. Der schlechte Ruf der Rhetoren, der noch immer voll von Widersprüchen ist, kam also nicht von ungefähr. Sogar im mittelalterlichen Europa, unter der Vorherrschaft Platons und der ontologischen Seite Aristoteles’, wurde der Rhetorik mehr Beachtung geschenkt als zu Beginn der Moderne. Dies beruht auf der neuen kartesianischen Mentalität, die den Historizismus und den Humanismus der Renaissance zu bekämpfen suchte, welche wiederum mit aller Kraft die philosophischen Quellen der antiken Rhetorik haben auferstehen lassen. Die Moderne ist dieser Hiatus, der die Rhetorik bis zur „linguistischen Wende“ des 20. Jahrhunderts, als die Aufmerksamkeit sich wieder auf die rhetorische Perspektive richtete, noch marginaler erscheinen lässt. 1 Der Verfasser dankt Sven Hirschfeld für die sprachliche und CAPES für die finanzielle Unterstützung.

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Der Humanismus hatte die Rhetorik jedoch schon zu einem Teil von sich gemacht. Seine Grundlagen waren bereits in der Wende Sokrates’ gelegt, und es kommt nicht von Ungefähr, dass die italienische Renaissance sich vom Hellenismus inspirieren ließ. Dieselbe Quelle beeinflusste auch den Humanismus des klassischen Roms, u. a. des Ciceros sowie des Scipionenkreises, während das Mittelalter stets ein Interregnum eines Theologismus blieb, das es zu überwinden galt. Trotz der Banalisierung und der Desintegration des Begriffes „Humanismus“ in der Moderne, der aber gleichzeitig durch Wissenschaftler, Strukturalisten, Marxisten angegriffen wurde, fiel diese „Kulturrevolution“ mit der weltweiten europäischen Hegemonie, die mit dem Ende des 15. Jhds. begann und sich bis Mitte des 20. Jhds. fortsetzte, zusammen.2 Eines der wichtigsten Lehrwerke war die Rhetorica ad Herennium, die eigentlich Cicero zugeschrieben, später jedoch in Hinblick auf ihre Echtheit in Frage gestellt wurde. Die taxonomische Zusammenstellung des Werkes, so wie bei vielen anderen dieser Gattung, veranschaulicht die fundamentalen Bestandteile einer Rede, die in Werken über Rhetorik zu finden sind: inventio (die Plausibilität des Argumentes schaffen), dispositio (die Informationen sortieren), elocutio (das Denken an die Form des Ausdruckes anpassen), memoria (die Information behalten) und pronuntiatio (Mäßigung, Stimmlage, Atmung, Eleganz im Sprechen und Schreiben).3 Die Klassifizierungen und Kriterien variieren sehr stark: Alles in allem können diese Bestandteile als „Stationen in der Entstehung der Rede“ beschrieben werden, während der Begriff partes orationis für exordium, narratio, argumentatio und conclusio oder peroratio genutzt wird. Details dieser Art sind hier jedoch unbeachtlich4 und nur als Beispiele des humanistischen Studiums gemeint. Rhetorik ist zwar Zierrat, aber nicht nur zierend. Ornatus ist die Qualität des Redners, die die Rede krönt, und das Wort ist der für das Gefecht gewappnete Geselle. Diese „Rüstung“ besteht aus einem Arsenal von Qualitäten, die den Stil begründen, die überragende Fähigkeit des großen Redners.5 Die Retorica ad 2 Lafaye, Jacques, Por amor al griego. La nación europea, señorio humanista (siglos XIV – XVII). México: Fondo de Cultura Econômica, 2005, S. 21 – 25. Kirste, Stephan, „Menschenwürde und die Freiheitsrechte des Status Activus – Rennaissance und gegenwärtige Verfassungsdiskussion“, in: Gröschner, Rolf / Kirste, Stephan / Lembcke, Oliver W. (eds.). Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Rennaissance. Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, S. 187 – 214. 3 Das Werk wird nur noch integriert in das von Marcus Tulilius Cicero publiziert. S. Retórica a Herennio. Obras Completas de Marco Tulio Cíceron (em 16 tomos). Madrid: Librería y Casa Editorial Hernando, 1928, tomo III. 4 Ueding, Gert, „Was ist Rhetorik?“, in: Soudry, Rouven (ed.). Rhetorik – Eine interdisziplinäre Einführung in die rhetorische Praxis. Heidelberg: C. F. Müller Verlag, 2006, S. 13 – 23. 5 Skinner, Quentin, Reason and rhetoric in the philosophy of Hobbes. Cambridge: Cambridge University Press, 1996, S. 49 s.

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Herennium vergleicht wörtlich die Eloquenz mit einer kraftvollen Waffe zur Vernichtung des Feindes. Schon vor Quintilian teilt sich die Rhetorik in eine Theorie der Argumente, die Topik, und eine förmlichere Theorie der Figuren auf. Merkwürdig scheint es da nur, dass die Betonung des Ornaments mehr von den Gegnern ausgeht, als von den Rhetorikern selbst. Natürlich vermindert dies nicht die Strategie des Ornamentes, aber die Wichtigkeit der Topik als überzeugenden „Inhalt“ der Rede. Dies zeigt, dass der radikale, hauptsächlich klassifizierende und ausschließlich diesen Stilfiguren gewidmete Formalismus, um dessentwillen manchmal die Schüler Quintilians in die Kritik geraten, keiner genaueren Analyse standhalten kann. Eine systematische Auffassung vertritt einer dieser Schüler um 1825 in Recife: Frei Caneca reduziert die Rhetorik nicht auf eine Theorie der Figuren und Stile, eine bis heute verwirrende Vereinfachung; er bleibt Aristoteles treu und wägt auch die topischen Aspekte der Rhetorik ab. Tatsächlich wird die Unzertrennlichkeit zwischen der formellen Analyse der Stilfiguren und dem argumentativen Inhalt, den der Redner zu übermitteln sucht, immer wieder von ihm betont. Wenn die Motive in einem Schlusswort ethisch oder pathetisch sein können, muss zum Beispiel, die gezielte Auswahl die thematische Beabsichtigung der Rede zum Kriterium und Fundament haben, und der „angemessene Anstand“ muss „… die Person des Redners selbst; die Personen seiner Hörer; und die Personen von denen seine Rede handelt“ beachten.6 Solche Erwägungen sind jedoch auch topisch im Hinblick darauf, dass die überzeugenden Inhalte nur mit Gemeinplätzen ausgefüllt werden können, für den rednerischen Bereich, für jene rhetorische Umwelt geltend, das heißt, heikle Auffassungen, die schwankend generalisierbar und nur schwer zu kontrollieren sind. Hieran zeigt sich, dass der Humanismus die Topik mit ethischem Inhalt füllt. Frei Caneca ist lediglich einer von vielen Autoren, die in jene Richtung gegangen sind. Diese zwei konvergierenden Betrachtungsweisen der Welt, historische und humanistische, bekamen einen außergewöhnlichen Impuls mit der Erfindung des Buchdruckes durch Johannes Gutenberg in Mainz, der es erschwerte alle Exemplare eines Buches zu vernichten und Ideen zum schweigen zu bringen. Um die Annahme, dass die Sophistik auch Philosophie ist, zu bestärken, lässt sich vermerken, dass gerade im Übergang von Mythos zu Philosophie, durch welchen der neue Anspruch auf Rationalität gegenüber dem Glauben konfrontiert wird, der Unterschied der Philosophie zwischen der Sophistik – abweichend – und der Ontologie – treuer zur religiösen Tradition – zustande kommt. Die Religionen, insbesondere die großen Monotheismen und ihre exklusiven Kosmologien, das steht fest, haben die Ontologien unterstützt. 6 Caneca, Frei Joaquim do Amor Divino, Tratado de eloqüência – Obras políticas e literárias (colecionadas pelo Comendador Antonio Joaquim de Mello). Recife: Typographia Mercantil, 1875 (ed. fac simile, 1972, S. 63 – 155), S. 69, 77 u. passim.

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Selbst in der griechischen, polytheistischen Religion zeigt die Theogonie Hesiods, wie sich das anfängliche Chaos in einem Kosmos organisiert, die Materie der Erde, Gaia, ordnend, über welche allein Uranos herrscht und die sich in ihm eint, Kronos, der Zeit, Leben schenkend. Dieser besiegt den Vater und stellt etwas mehr Ordnung im Kosmos her, verschlingt jedoch alles, absurderweise einschließlich seiner eigenen Kinder, die er zusammen mit Rhea (Kybele), seiner Schwester und Frau, hat. Rhea gelingt es, ihm die Geburt des Zeus zu verheimlichen, welcher dem Groll des Vaters entkommen kann, um ihn später zu Fall zu bringen und die Macht an sich zu reißen. Zeus repräsentiert den Sieg der Vernunft und der Spiritualität über den endlosen Fluss der Zeit, den Ordnungsprozess abschließend und die daraus folgende Herrschaft über das Chaos. Hier kann vom Aufkommen des Menschen im engeren Sinne gesprochen werden, mit der Entstehung einer Sprache, um ihn zu schützen und ihn zum Herrn über die Welt – zumindest über seine Umwelt, die Welt seiner Zeichen – zu machen. SCHEMA (historische Evolution der Rhetorik) Figurenlehre (Stil, Zierde)

Theorie der Argumentation (Topik, Enthymem)

Rhetorik (Skeptizismus, Historizismus und Humanismus)

Sophistik

Ontologien der Wahrheit

Philosophie

Religion

Mythos

Ein wichtiger Aspekt für Philosophiehistoriker war stets herauszufinden, in welcher Beziehung Rhetorik und Sophistik zueinander stehen. Während der eher philosophische Skeptizismus der Rhetorik darauf abzielt, Zweifel zu etablieren, befasst sich die praktisch orientierte Sophistik mit der wirksamen Überzeugung des Publikums und damit, es argumentativ in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es liegt auf der Hand, dass eine sophistische Einstellung zu einem rhetorischen Weltbild

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führen kann. Es gibt auch historische Belege für einen sophistischen Einfluss bei den ersten Rhetorikern. Zwingend ist dieser Zusammenhand allerdings nicht. Rhetorik und Sophistik traf oft dasselbe Schicksal in einer überwiegend platonisch und paulinisch geprägten Kultur wie der des Abendlands, weil beide Randerscheinungen einer verbreiteten ontologischen Philosophie waren. Ihre Positionen wurden systematisch von ihren Widersachern übertrieben, um sie weniger glaubwürdig erscheinen zu lassen (ironischerweise eine Technik, die typischerweise mit Sophisten und Rechtsanwälten in Verbindung gebracht wird). Durch Rhetorik sind Rechtsanwälte Philosophen geworden. Weiteren nennenswerten Aufzeichnungen zur Folge, wurde an bestimmten Punkten in der griechischen Antike das Wort „Dialektik“ als Synonym für „Logik“ verwendet, eine Ansicht, die durch das Mittelalter hindurch bis in die Moderne andauert. Eine derartige Bedeutung dieser Worte ist dennoch nicht stimmig. Philosophen wie Kant und Schopenhauer, eher ethymologisch, assoziieren die Dialektik mit der Rhetorik und der Sophistik als einer „Kunst des Streitens“, während das Wort Logik die Regeln a priori des puren Denkens zusammenfasst.7 Dieses Verständnis scheint heute als vorherrschend gefestigt zu sein. Der Leser hat schon verstanden, dass es hier irrelevant ist, ob die Vorhersage, die Theorie, die Ideologie oder die wissenschaftliche Wahrheit in der Realität danach oder zuvor „verifiziert“ worden sind oder nicht; diese konfirmative Bestätigung seinerseits ist schon ein anderer rhetorischer Vorgang, auch Gegenstand eines fliehenden Konsenses, anderer Abwandlungen der wissenschaftlichen Paradigmen, irgendeines anderen Berichts. Die methodische Rhetorik entfernt sich vom Prozeduralismus Habermas’, genauso wie von der philosophischen Hermeneutik Gadamers und seiner Schüler, denn das Vorverständnis impliziert den Begriff der Überzeugung von der Wahrheit, angepasst an die Welt des Lebens, was sich nicht mit den analytischen Voraussetzungen vereinbaren lässt.

II. Rhetorik und Wahrheit Abhängig davon, wie weit der Begriff der Philosophie gefasst wird, befindet sich die Rhetorik inner- oder außerhalb der Begriffsbestimmung. Wenn Philosophie die Suche nach der Wahrheit für die Erkenntnis und nach der Gerechtigkeit für die Ethik bedeutet, und Rhetorik auf diese Begriffe verzichtet, so ist sie kein Teil der Philosophie. Ottmar Ballweg trennt nach jenem Kriterium die Rhetorik und die Philosophie und schließt somit aus letzterer Strömungen wie Skeptizismus, Agnostizismus, Voluntarismus, Nominalismus, Positivismus, Pragmatismus und Nihilismus aus.8 7 Schopenauer, Arthur, „Eristische Dialektik“, in: Schopenhauer, Arthur. Sämtliche Werke, 6. Band. Deussen, Paul (Hrsg.). München, 1923, S. 391 – 428.

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Nimmt man hingegen an, dass Philosophie nicht diese Ziele hat, dann befindet sich die Rhetorik im Gegensatz zur Ontologie, und beide konstituieren eine grundlegende Dichotomie der westlichen Tradition. Auf Grund ihrer Weite, Langlebigkeit und ihres Gültigkeitsbereiches ist sie mehr als eine „Schule“. So auch versteht dieser Text die Rhetorik als eine Spezies der Philosophie. Charakteristisch für sie ist die Idee von der Sprache als einziger Ort für dieses eigentümliche Wissen, welches der Mensch von der Welt haben kann: das rhetorische Wissen. Dabei sind alle philosophischen Auffassungen rhetorisch, die aus einer „armen“ Anthropologie hervorgehen, während all jene, die auf einer „reichen“ Anthropologie basieren, ontologisch sind. Was bedeuten diese Idealtypen? Den ontologischen, essentialistischen Philosophien ist die Sprache einfach ein Mittel zur Entdeckung der Wahrheit, welches einigen offensichtlich ist, anderen wiederum mit allen Kombinationen und Eklektizismen hinter irgendeiner Fassade verborgen bleibt. Bedeutsam ist hierbei die Idee, dass es dem Menschen möglich ist, an Hand von Methode, Logik, Intuition, Emotion und der kompetenten Anwendung seines gesamten kognitiven Apparates, zur Wahrheit zu gelangen, zu einer Schlussfolgerung, welche sich allen zu akzeptieren aufzwingt. Im Bereich der Ethik entspricht der Wahrheit die Gerechtigkeit. In anderer Richtung sind sich Rhetoriker diverser Strömungen darüber einig, dass es sich dabei um eine Illusion handelt, und die Sprache nicht nur das höchstmögliche Maß der Übereinstimmung, sondern auch das Einzige ist. Und selbst wenn diese Übereinstimmung vorübergehend sowie umstandsbedingt ist und sehr häufig unterbrochen wird, ist sie das Einzige, das „Rationalität“ genannt werden kann. Die Problematik gestaltet sich wie folgt: Die Sprache und alles, was sich als so genannte „Intelligenz“, „Verstand“ oder „Geist“ etablierte, kann als ein Plus, wie es üblicherweise in der westlichen Kultur getan wird, aber auch als ein Minus angesehen werden. Offenbart sich der freie Wille oder die Freiheit im Hinblick auf die Natur nun als ein Plus oder als ein Minus? Die politische Freiheit sowie die Willensfreiheit könnte man als etwas Erhabenes, das den Menschen Gott ähnlich macht und ihn zum höchsten aller Wesen verwandelt, verstehen. All diese menschlichen Züge, skeptisch oder biologisch, wären aber auch als ein „Defekt“ im genetischen Code denkbar und könnten eine fehlende Anpassungsfähigkeit an die Welt und Konflikte erzeugen, die zwischen Bienen und Ameisen nicht existieren.9 Es lässt sich einfach verstehen, wie die etwas bescheidenere Auslegung der Philosophie als Rhetorik zu relevanten Unterschieden bezüglich einer Theorie der Erkenntnis und einer ethischen Auffassung angesichts der Welt führen wird. 8 Ballweg, Ottmar, „Phronetik, Semiotik und Rhetorik“, in: Ballweg, Ottmar / Seibert, Thomas-Michael (Eds.). Rhetorische Rechtstheorie. Freiburg-München: Alber, 1982, S. 27 – 71. 9 Adeodato, João Maurício, Filosofia do direito – uma crítica à verdade na ética e na ciência, 3. bearb. Auflage. São Paulo: Saraiva, 2005, S. 235 u. f.

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Die Rhetorik könnte auf diese Weise als philosophische Methode betrachtet werden, jedoch wäre diese Behauptung insofern unvollständig, als eine andere These hier gerade versucht zu zeigen, dass die Rhetorik, über die Methode hinaus, auch aus einer Methodologie und einer Methodik besteht. Dem wird der Unterschied zwischen materieller, strategischer und analytischer Rhetorik zu Grunde gelegt, welcher im weiteren Verlauf erläutert wird. So versucht man zusammenzuwirken, um einen nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in philosophischen Bereichen weit verbreiteten Fehler zu bekämpfen, nämlich den, dass die Rhetorik ausschließlich eine Zierde und eine Strategie ist, um die Meinung Leichtgläubiger zu beeinflussen. Obwohl diese Funktion natürlich als wichtig zu erwägen ist, ist die Rhetorik viel mehr als das. Sie kann als Instrument dafür dienen, den Menschen bezüglich seines Wissens und seiner Beziehung zu anderen Menschen auf eine adäquatere Art und Weise in der Welt zu platzieren. Jene Betrachtungsweise, die die Situation des eigenen menschlichen Wissens und seiner Sprache beschreibt, eignet sich zur Analyse in der Rechtsphilosophie und anderen diskursiven Bereichen, wie auch zum Studium der Paradigmen in den biologischen und mathematischen Wissenschaften. Des Weiteren ist die Wissenschaft eine linguistische Metavereinbarung über ein gemeinsames linguistisches Gebiet, welches seinerseits auch durch eine Vereinbarung bestimmt wird. Jene zwei Tendenzen (ontologische und rhetorische), welche die westliche Kultur prägen, gehen bis auf den Radikalismus der Gegensätzlichkeiten im antiken Griechenland zurück: Parmenides zufolge verändert sich nichts, da die Bewegung eine Illusion und das Wissen immanent ist, denn die Sicherheit der Erkenntnis befindet sich im Menschen. Gemäß Heraklit verändert sich alles, nur die Veränderung hat beständigen Charakter, und diese, sich ständig in Bewegung befindende Außenwelt, ist der sicherste Punkt für das Wissen, welches transzendent ist, denn „alles fließt, nichts bleibt“ (πάντα ῥε οὔδεν μένει – pánta rheĩ oúden ménei – in der späteren Zusammenfassung seines Denkens). Der Grad der Originalität und Sicherheit der Behauptungen der diversen Strömungen, die diesen Widerspruch in der Philosophie ausdrücken, ist extrem variabel. Festellen lässt sich aber, dass die Rationalisten den Empiristen zumindest bis Descartes und Locke gegenüber stehen und auch die Versuche von Kant, Hegel und anderen Denkern, Synthesen zu bilden, die Widersprüchlichkeiten nicht aufzuheben vermochten. Klar bleibt in diesem Duell, dass die Ontologien in den philosophischen Konzeptionen des Westens eine Vorherrschaft inne haben, vor allem nach dem Sieg der Monotheismen und der unnachgiebigen Verteidigung ihrer eigenen Wahrheit. Die Überlegenheit der Ontologien rührt vielleicht nicht nur von den guten Argumenten und dem Prestige der platonisch-aristotelischen Tradition her, sondern repräsentiert den idealisierten Ausdruck selbst, das atavistische Verlangen des Men-

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schen nach Sicherheit: Wahrheit in der Theorie des Wissens, Gerechtigkeit in der Sphäre der Ethik. Es gibt auch strategische Gründe, die Wahrheit zu behaupten, zumindest unter den praktischen Juristen, die den rhetorischen Charakter ihrer Arbeit meist verbergen, um die eigenen Argumente zu bekräftigen. Wie das Ziel eine „Wahrheit des Gesetztes und der Fakten“ zu verteidigen ist, ohne erkennen zu lassen, dass es sich dabei um „reine“ Stellungnahmen handelt, präsentiert sich der Jurist als ein „Theoretiker“ oder Wissenschaftler und nicht als ein Doktrinär oder Dogmatiker.10 Die verschiedenen rhetorischen Tendenzen, seit der Sophistik, leiden allesamt unter demselben Vorurteil, welches Rhetorik und Eristik gleicht, und Enthymemen und Erismen auf dieselbe Ebene stellt.11 Richtiger ist es, das Erisma als eine Art von Urteilsverknüpfung sophistischer Argumente zu verstehen, anders als das Enthymem. Und dennoch hat das Erisma zwei grundsätzliche Bedeutungen: die des falschen Arguments, eine abwertende Assoziation zur Sophistik, wie das Ziel, um jeden Preis zu überreden, und das der Kontroverse, des dissoi logoi, angelehnt an die Agonistik, die Kunst der Debatte im Diskurs. Die anti-rhetorische Tradition identifiziert nicht nur Enthymem und Erisma, sondern reduziert auch das Erisma selbst auf eine anerkannte negative Bedeutung (über die aber keine Einigkeit besteht). Geht man hier analytisch vor und versucht den Urteilen den Wert zu entziehen, denn jeder Mensch argumentiert von Zeit zu Zeit eristisch, auch durch die Auslegung von Ködern, kann die Eristik als eine Form der Argumentation definiert werden, die sich der Unwissenheit des Gegners, unabhängig vom Inhalt, bedient, um ihn in Widersprüche, Verwirrungen, unglaubwürdige und falsche Behauptungen zu verwickeln und auf diese Weise die Debatte zu gewinnen. Die Behauptungen können bewusst falsch sein, das heißt, der Redner kann sich dessen bewusst sein, dass er lügt. Dies tritt jedoch nicht zwangsläufig ein; und objektiv falsch können sie nicht sein, denn dies impliziert eine Gewissheit, die sich der öffentlichen Kontrolle der Sprache entzieht. Festgehalten werden kann jedoch, dass nur wenige philosophische Zirkel derartige Debatten und Kontroversen auszulösen vermögen, wie die Sophistik. Ihre Vertreter werden heute als politisch konservativ, morgen als „Linke“, bald als „Rechte“ wahrgenommen. Ausgehend von den klassischen Sophisten, die sich Sokrates, Platon und Aristoteles gegenüberstellten, bis zu den Skeptikern der Gegenwart, werden sie einerseits für Symptom und sogar Ursache des Zerfalls der griechischen Polis gehalten und andererseits als Progressisten, Modernisten bis zu Illuministen verstanden. Relativisten, Nihilisten, Agnostiker, Individualisten, Skep-

10 Ballweg, Ottmar, „Phronetik, Semiotik und Rhetorik“, in: Ballweg, Ottmar / Seibert, Thomas-Michael (Eds.). Rhetorische Rechtstheorie. Freiburg-München: Alber, 1982, S. 38 – 39. 11 Adeodato, João Maurício, „The rhetorical syllogism (enthymeme) in judicial argumentation“. International Journal for the Semiotics of Law, vol. 12, n. 34. Amsterdam: Kluwer Academic Publishers, 1999, S. 135 – 152.

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tiker und Positivisten sind einige der Ephiteta, die auf die Sophisten angewandt werden, alle aus gutem Grund.12 In Max Webers methodischem Denkansatz ist die Klassifizierung, angesiedelt zwischen ontologischen und rhetorischen Philosophien, nur Annäherung und ideale Verallgemeinerung der Autoren und Konzeptionen, die sie zu beschreiben versuchen und die immer einzigartig, individualisiert und unwiederholbar sind. Mit dieser Vorbemerkung kann eine Linie gezogen werden zwischen zwei typischen Vertretern als Annäherungen an die Konzepte, die sich hier gegenüberstehen: Am einen Ende steht die Philosophie Nikolai Hartmanns, für den Werte in sich selbst existieren. Sie werden „entdeckt“ und sind objektiv, ja hängen nicht einmal von der Existenz menschlicher Wesen ab. Den anderen Pol bildet die paradigmatische Figur Gorgias, für den nichts erkannt, geäußert oder verstanden werden kann (so schon sein berümtes Sprichwort). Das erste Konzept nenne ich hier die ontologische, das zweite die rhetorische Seite.13 Philosophen können nach ihrer Nähe zu einem der beiden Extreme eingeordnet werden. Rhetoriker tendieren dazu, sich gegen das hegelianische philosophische Programm, den Zufall außer Acht zu lassen und den Menschen absolut zu setzen, zu wenden. Denn sie stehen für eine „Apologie des Zufälligen“, weil ihre Anthropologie aus einer „Philosophie des Stattdessen“14 besteht. Ereignisse und das menschliche Verhalten, das in ihnen enthalten ist, könnten immer auftreten und immer in einer anderen Form als der, die wirklich geschehen ist.

III. Rhetorik und Erkenntnis: Isosthenia Isosthenia (gleiche Stärke), die Basis des epistemologischen Skeptizismus, bedeutet, zwei unvereinbaren Aussagen das gleiche Gewicht und den gleichen Grad an Plausibilität zuzumessen. Dies führt zu einer Suspension der Aussagen über Objekte und die Welt, um die Ataraxie („Unverwirrung“), d. h. die Ordnung zu erlangen, über die der folgende Abschnitt berichtet. 12 Kirste, Stephan, „Einleitung“, in: Kirste, Stephan / Waechter, Kay / Walther, Manfred (Eds.). Die Sophistik – Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht. Stuttgart: Steiner, 2002, S. 7 – 16. Gast, Wolfgang, „Die sechs Elemente der juristischen Rhetorik: Das Modell rhetorischer Kommunikation bei der Rechtsanwendung“, in: Soudry, Rouven (Ed.), Rhetorik – Eine interdisziplinäre Einführung in die rhetorische Praxis. Heidelberg: C. F. Müller Verlag, 2006, S. 30. Sowie Guthrie, W. K. C., The sophists., Cambridge: Cambridge University Press, 1991, S. 51. 13 Adeodato, João Maurício, Filosofia do direito – uma crítica à verdade na ética e na ciência. São Paulo: Saraiva, 4. Auflage 2009, S. 243 f. Blumenberg, Hans, „Antropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: Blumenberg, Hans. Wirklichkeiten, in denen wir leben – Aufsätze und eine Rede (Stuttgart: Philipp Reclam), 1986, S. 104 – 136. 14 Marquard, Odo, Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Kohlammer, 1986, S. 118 f. Ders., Philosophie des Stattdessen. Stuttgart: Reclam, 2000, S. 7 – 29.

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Adela sind diese „geheimnisvollen Dinge“, die Nicht-Beweise, die ontologische Philosophen zu „entdecken“ behaupten. Sie konstruieren ausgeklügelte Argumente, die in ein System passen und voneinander abgeleitet sind. Sie verteidigen die Existenz von Dingen, die aus sich heraus evident sind (prodela), und die Möglichkeit, dass nicht-evidente Dinge durch hinweisende Zeichen erkannt werden können, die auf der Beziehung zu den evidenten Dingen basieren. Ontologische Philosophien glauben, dass ihre Argumente es rationell vermögen, jedes vernünftige Individuum, das fähig ist, ihnen zu folgen, zu überzeugen. Für Rhetoriker sagen die Zeichen, deren Wahrnehmung erfasst wird, nichts über geheimnisvolle Realitäten aus, sondern stattdessen über andere Erfahrungen, die häufig mit ihnen assoziiert werden. So wie die Idee einer Nelke die Idee ihres Parfüms hervorruft, konstituiert die Erfahrung eines Zeichens den Beweis einer anderen Wahrnehmung, die im Gedächtnis gespeichert liegt und auch aus einer Erfahrung stammt. Solche Assoziationen sind essentiell im täglichen Leben und gewährleisten, dass eine regelmäßige (nicht „rationale“) Anzahl von Erwartungen erfüllt werden, selbst wenn sie manchmal enttäuscht werden können von der Unmöglichkeit, Gewissheit über sie zu erlangen. Menschliches Wissen ist begrenzt und kann die Natur von Dingen nicht akkurat definieren. Dies führt zu Unbestimmtheit (adiaphora). Isosthenia kann zusammgefasst werden als die Möglichkeit, gleichermaßen zwei verschiedene oder sogar entgegengesetzte Standpunkte zu vertreten. Dies ist sehr nützlich für Anwälte und moderne Rechtsgelehrte. Mächtige Instrumente in dieser Methodologie sind die Amphibolien, die auftauchen, wenn ein Wort zwei oder mehr Bedeutungen hat, die auf unterschiedliche Objekte bezogen werden können (Unklarheit und Doppeldeutigkeit, wie wir heute sagen würden). Diese Formel, „zu jedem Argument gibt es ein gleichwertiges Gegenargument“, die die Grundlage der isosthenia darstellt, bedeutet, dass jede dogmatische Bejahung mit einer anderen wieder bestritten werden kann und dass es kein rational einschlägiges Kriterium gibt, um sich zwischen ihnen zu entscheiden. Argumente können abgegrenzt werden anhand ihrer Plausibilität und Glaubwürdigkeit, aber es gibt kein definitives Kriterium, weil das Plausible das möglich Wahre ebenso beinhaltet wie das möglich Falsche.15 Dieses Thema führt zu dem folgenden und letzten Teil meiner Analyse.

IV. Rhetorik und Ethik: Ataraxia Das große Problem, das deutlich wird, wenn man sich einmal näher mit Themen und Ausdrücken von einer so bedeutenden Langlebig- und Wichtigkeit befasst, ist der hohe Grad der linguistischen Porosität der Wörter. Über die Jahre hinweg

15 Sextus Empiricus, Pyrrhoniae Hypotyposes – PH I, II e III. Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, eingeleitet und übersetzt von Malte Hossenfelder (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985).

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kommt es immer wieder zu Überschneidungen, Differenzierungen, Übersetzungen oder einfachen Verwechslungen von Begriffen. Bei Aristoteles wird die Verbindung von Rhetorik und moralischer Tugend deutlich dargestellt. So begleitet das ethos die Tugend (aretě) und die Überlegung oder Vorsicht (phrónēsis). Gerade diese Wechselbeziehung wurde jedoch stets hinterfragt und seit jeher diskutieren die Gelehrten über die verschiedenen Kriterien der begrifflichen Unterscheidung von ethos, aretě und phrónēsis. Während Aristoteles selbst darauf bestand, dass die Rhetorik ohne eine gute Ethik nicht genutzt werden dürfe, sehen Gegenansichten sie als Mittel für Ziele jeglicher Art. Gerade die Existenz dieser Kontroverse belegt das tausendjährige Problem des Verhältnisses zwischen Rhetorik und Ethik. Etymologisch betrachtet scheint es so, als ob das Wort ethos schon eine Verbindung oder Evolution zweier sich ähnelnder, jedoch unterschiedlicher, griechischer Wörter sei: zum einen ΕΘΟΣ (έθος, éthos), was so viel wie „Gewohnheit“, „Sitte“, „Brauch“ heißt, und zum anderen ΗΘΟΣ (ήθος, ěthos), welches „Charakter“, „Sinnesart“ bedeutet. Im Alt-Griechischen unterschied sich der eine Terminus nicht vom anderen.16 Jedoch auch nach der erfolgten Differenzierung, lassen sich diese zwei Bedeutungen im Wort „Ethik“ wiederfinden: eine soziale und eine persönliche. Das Wort „Ethik“ beschreibt bereits die Gesamtheit der Erkenntnisse in Verbindung mit dem ethos. Aber es ist nicht nur die Doktrin oder Disziplin, an Hand derer der ethos erforscht wird, sondern auch jener ethos selbst, im Sinne einer simultanen Bezeichnung der Metasprache (Studium des menschlichen Charakters) und der Objektsprache (der menschliche Charakter selbst, so wie er sich zeigt). Andere Autoren bevorzugen es, diese Objektethik als „Moral“ zu bezeichnen und sich dabei den Begriff „philosophische Moral“ für das Erforschen und Wissen vom Objekt (Metaethik) vorzubehalten.17 Im Zusammenhang mit der Metasprache erfolgte noch eine weitere Differenzierung: „Ethik“ bezeichnet zum einen, das Studium der Ziele, die effektiv das Verhalten leiten und die Mittel, die zu diesen Zielen führen, allesamt „Werte“ genannt; zum anderen, bezieht sie sich auf das Studium der Weisen (Wege, Strategien) zur Kontrolle und Leitung eben dieser Mittel und Ziele. Um für die erste Ansicht ein Beispiel zu nennen: das ethische Wissen zeigt, dass unsichere Individuen sich gerne mit Schleimern umgeben; für die andere, dass Schleimer, sowie Unsichere gemieden oder gepriesen werden sollten, was abhängig von der Ethik ist. Erstere ist die deskriptive Ethik, zweitere die präskriptive oder normative Ethik. Eines der guten Argumente dafür, dass die präskriptive Ethik geeigneter ist als die Perspektive der erkenntnistheoretischen Ethik (Ebene der Metasprache), ist dass die deskriptive Einstellung schon in den Aufgabenbereich der Soziologie, der Anthropologie, der Psychologie und vieler anderer Wissenschaften fällt.18 16 17

Pellegrin, Pierre, Le Vocabulaire d’Aristote. Paris: Ellipses, 2001, S. 23 s. Chauí, Marilena, Convite à filosofia. São Paulo: Ática, 2001, S. 339 s.

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Um diesem Problem zu entgehen, einschließlich all seiner Auslegungsformen, wird hier ein Gleichgewicht zwischen diesen zwei traditionellen Auslegungsmöglichkeiten des Begriffes „Ethik“ angenommen (Metasprache und Objektsprache); eine der beiden (Metasprache) wird in zwei weitere aufgespaltet (deskriptive und präskriptive Ethik) – was zu drei Auslegungen führt –, und wiederum eine andere Dreiteilung andeutet: Rhetorik als Methode, Methodologie und Methodik.19 Die Wichtigkeit, die dem pathos durch den Redner in der Rhetorik der Sophisten zur Zeit Aristoteles zugekommen ist, scheint relativ groß gewesen zu sein, da er die übermäßig oder exklusiv auf den pathos beschränkten Diskurse kritisiert. Jedoch hebt Aristoteles in seiner Ethik, abgesehen davon, dass Gefühle als irrational angesehen werden, die Wichtigkeit des pathos hervor und sieht eine direkte Verbindung zwischen pathos und ethos. Denn „Affekte“ müssen durch die Tugend des Charakters kontrolliert und ein rationaler und vorsichtiger Mittelweg – die metriopatia zwischen den schädlichen Extremen der Leidenschaften – erreicht werden, da „… die Tugend sich auf Leidenschaften und Handlungen bezieht, in denen der Exzess eine Form des Misserfolges darstellt …“20. Noch heute zeigt sich in dem Adjektiv „pathetisch“ der Sieg dieser apollinischen (Nietzsche) Kontrolle, von Aristoteles bis Kant, da es stets einen übertriebenen, abwertenden Beigeschmack entfaltet. Dies weil, wie schon die antike Rhetorik mahnte, abgesehen von den Schlussfolgerungen des Aristoteles, die große Gefahr des pathos die Übertreibung ist, die die Empörung oder das Mitleid in eine Affektiertheit wandelt. Das höhlt den pathos aus, macht ihn „leer“, „zu tief“, macht ihn zum bathos. Wie bereits erwähnt, ist diese Verbindung zwischen pathos und ethos bei Aristoteles im Kontext der rhetorischen Überzeugungsarbeit auf Seiten des logos einzuordnen. Die schlüssigen demonstrativen Gedankengänge des logos besaßen damals nicht das Prestige, das ihm die „logische“ Wissenschaft in der Moderne verlieh. Schon im antiken Griechenland gibt es ein klares Bewusstsein dafür, dass einige menschliche Themen, vor bestimmten Arten von Publikum, wenig mit der „logischen“ Ratio zu tun haben. Diese analytische, zwingende Rationalität, in der „Logos“ oft auch heute verstanden wird, bildet nur einen Aspekt des Wortes. Der Begriff logos, im Plural lógoi, wurde mit „Vernunft“ oder „Wissenschaft“ übersetzt, jedoch scheint es, als bedeute er ursprünglich „Sprache“. Der erste Sinn des Wortes logos (in der verbalen Form légein) ist: sprechen, sagen. Mit anderen Worten, beschreibt der logos nicht nur das System der das Denken führenden Regeln, er ist Sprache im performativen Sinne, mit all seinen Strategien und Variatio18 Neri, Demétrio, Filosofia moral – manual introdutivo. Trad. Orlando Soares Moreira. São Paulo: Loyola, 2004, S. 27 – 29. 19 Ausführlicherer in Adeodato, João Maurício, „Rhetorik als Methodik der Jurisprudenz“, in: Anderheiden, Michael / Kirste, Stephan (Ed.). Tagung ZiF Bielefeld (in Vorbereitung). 20 Aristotle, Nichomachean Ethics. Transl. W. D. Ross. Col. Great Books of the Western World. Chicago: Encyclopaedia Britannica, 1990, v. 8, II, 5 – 6, 1106b20 – 25, S. 352.

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nen. Nur im Nachhinein unterschied sich der logische logos der „Vernunft“ von den Bereichen der Meinung, der Wahrnehmung und des Mythos. Daher verteidigte schon Protagoras das dissoi logoi und erklärte, gleichgültig um welche Thematik es sich handle, sei es stets möglich, gegensätzliche Meinungen zu vertreten. Daher sind alle Dinge zur selben Zeit gut und schlecht, gerecht und ungerecht, wahr und falsch. Dies ist der logos der Rhetorik. Das Ziel hier ist herauszustellen, dass die Kritiker der Rhetorik aus der herrschenden Philosophie nicht nur beschränkt sind auf den epistemologischen Zweifel, den es bezüglich der Möglichkeit von überzeugend korrektem Wissen gibt, auch wenn dies der Ausgangpunkt gewesen sein mag. Ein ebenso starker, wenn nicht sogar stärkerer, Belang ist die Bekämpfung der Behauptung eines ethisch korrekten Lebens auf der Grundlage von „Wahrheiten“, die aus sich heraus gültig sind, frei sind von Ideologien oder persönlichen Vorlieben, so dass jegliche Behauptung von objektiv Gutem oder Bösem stark davon abhängt, welches Konzept man von diesen „Wahrheiten“ hat: Während der Tod selbst für einige das Schlimmste sein mag, kann er für andere „der einzige Ausweg aus der Folter dieses Lebens“ sein, ebenso wie Schmerz, Wohlstand, Ruhm oder sogar Gesundheit. Jahrhunderte später wird Montaigne darauf hinweisen, „dass der Geschmack des Guten und Bösen zum Großteil von der Ansicht abhängt, die wir von ihnen haben“21. Eine Vision, die zwar nicht vollkommen falsch ist, freilich aber einseitig in Beziehung auf die rhetorische Ethik, ist die von Russell22: Wenn es keine rationale Basis gibt, aufgrund derer eine ethische Position der anderen vorzuziehen wäre, bedeutet dies praktisch, dass sich die Rhetoriker den gesellschaftlichen Ethikvorstellungen ihrer Umgebung zu fügen haben und sich im Einklang mit diesen Regeln zu verhalten haben, selbst wenn sie kein sicheres Wissen haben, weshalb sie so handeln. Dennoch, um mit der Rhetorik kompatibel zu sein, muss sich Ethik nicht notwendigerweise an konservative, etablierte soziale Werte anpassen, auch wenn diese Position für einen Rhetoriker verständlich ist. Man sollte nicht schlussfolgern, dass Rhetorik notwendigerweise auf einer pessimistischen Weltsicht basiert, die auf einen müden Menschen abzielt, ernüchtert von der wirklichen Welt, oder dass rhetorische Weltsichten sich nur in Zeiten sozialer Wirrnisse, von Instabilität und einem Mangel an Vertrauen in die weltlichen Angelegenheiten verbreiten. Es ist ein Fehler, rhetorische Philosophien für eine paralysierende Verneinung jeglicher Stellung zum Leben zu halten. Im Gegenteil setzen sie sogar ein eudämonistisches Konzept der Welt voraus – von eudaimonia, das Streben nach Glückseligkeit im täglichen Leben. Für Rhetoriker wird diese Glückselig21 Montaigne, Michel Eyquem de, The Essays, as trans. Donald M. Frame. Chicago: Encyclopaedia Britannica, 1993 (Col. Great Books of the Western World, vol. 23, S. 47–597), S. 69. 22 Russell, Bertrand, History of Western philosophy – and its connection with political and social circumstances from the earliest times to the present day. London: Routledge, 1993, S. 243.

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keit durch ein ruhiges und friedvolles Leben ohne intensiven Glauben oder irgendwelchen Fanatismus erreicht. Ataraxia ist die Ruhe, die nicht gestört werden kann, die Unstörbarkeit. Der Ausdruck leitet sich von tarache ab, der Störung durch ständige Suche nach Gut und Böse unter anderen Störungen im Leben. „Jede Störung bringt Unglückseligkeit.“ Adiaphoria, ein wichtiger Wert für den Rhetoriker, besteht aus der Überzeugung, dass Ereignisse von Natur aus indifferent für Menschen sind. Dieser Geisteszustand wirkt mit an der Idee der Bescheidenheit oder metriopateia23. Rhetoriker sehen sich selbst nicht als absolut frei von jeglicher Störung an, weil sie wissen, dass es unausweichliche Unglücksfälle gibt, denen der Mensch ausgesetzt ist; aber davon auszugehen, dass diese Ereignisse von Natur aus böse sind, hemmt die Ataraxia. Die Metriopateia besteht aus der Fähigkeit, weitestmöglich Emotionen unter Kontrolle zu halten, wenn man mit Ereignissen konfrontiert ist, gegen die man nichts ausrichten kann. Auf der Grundlage dieser Werte ist existenziell und grundlegend für Glückseligkeit (neben anderen Voraussetzungen) die aponia, die Freiheit von Schmerz, das Wohlbefinden des Körpers, weil es schwieriger ist, die Ataraxie aufrechtzuerhalten, wenn der Körper krank ist. Ein Rhetoriker zu sein bedeutet nicht, eine Ansammlung an Lehrmeinungen zu akzeptieren oder ein spezielles technisches Vokabular zu beherrschen, sondern agogé zu haben, das ständige Bemühen darum, eine noch nachhaltigere Unabhägigkeit von weltlichen Ereignissen zu erwerben und damit Glückseligkeit so wenig wie möglich von externen Fakten abhängen zu lassen, die vom Zufall des Lebens bestimmt werden. Dies bedeutet nicht Gleichgültigkeit der Welt gegenüber, sondern Unabhängigkeit. Freilich ist diese Distanziertheit relativ, eine versuchte Suche nach Unabhängigkeit. Je näher man daran herankommt, desto mehr hat man das ethische Ideal der Rhetorik erreicht. Jedenfalls ist der rhetorische Skeptizismus in keinem seiner Aspekte radikal oder nihilistisch, seien es die epistemologischen, ontologischen oder axiologischen Arten. Es gibt verschiedene klassische Formen der Rhetorik, und – überdies – wanderte die rhetorische Perspektive durch mehrere Unterteilungen in vergangenen Zeiten mit der Wiederentdeckung des Werks von Sextus Empiricus und den Beiträgen von Montaigne, Hume und anderen.24 Was den rhetorischen Skeptizismus anbetrifft wird von Hankinson25 eine weitere Klassifikation vorgeschlagen. Eine Strömung kann genuiner Skeptizismus genannt 23 Sextus Empiricus, Pyrrhoniae Hypotyposes (PH I, II und III). Outlines of Pyrrhonism, in Selections from the Major Writings on Scepticism, Man & God, edited with introduction and notes by Phillip P. Hallie, as trans. from the original Greek by Sanford G. Etheridge, new foreword and bibliography by Donald R. Morrison. Indianapolis-Cambridge: Hackett Publishing Co., 1985, S. 100 – 101. 24 Cavini, W., Appunti sulla prima diffusione in occidente delle opere di Sesto Empirico. Medioevo 3, 1977, S. 1 – 20. Floridi, W., The Diffusion of Sextus Empiricus’ Works in the Renaissance, Journal of the History of Ideas, 56.1, 1995, S. 63 – 85.

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werden, wenn sie davon ausgeht, dass man weder Wahrheiten bestätigen kann, noch bezweifeln kann, dass sie bestehen (Sextus nennt dies „Phyrrhonismus“). Davon zu unterscheiden ist der negative Dogmatismus (den Sextus „dogmatischen“ Skeptizismus nennen würde), nach dem jegliche Behauptung über die Welt falsch ist. Überhaupt nicht skeptisch ist die dritte Position, die die Möglichkeit von Wahrheit verteidigt und positiver Dogmatismus genannt werden kann. Diese drei metaphysischen Positionen sind überall in der Geschichte der Philosophie entweder radikaler und verweisen auf die Verfassung des Universums selbst (Sein ist irrational von sich selbst aus) oder beziehen sich auf die menschliche Kapazität, das Universum zu verstehen (Sein mag rational sein, ist aber unverstehbar und damit irrational für menschliches Wissen). Die erste Gruppe ist ontologisch, die zweite epistemologisch. Mit anderen Worten: Skeptizismus wird hier als ontologisch aufgefasst, wenn er sich auf das Universum selbst bezieht, auf eine intrinsische Irrationalität; Skeptizismus wird als epistemologisch aufgefasst, wenn das Universum für Menschen wegen der Defizite ihres eigenen kognitiven Apparats undurchdringbar ist. Es gibt folglich einen ontologischen und einen epistemologischen Skeptizismus, einen negativen ontologischen und epistemologischen Dogmatismus und einen positiven ontologischen und epistemologischen Dogmatismus. Wenn man ein kantisches Kriterium, wohlbekannt für Juristen, betrachtet, ist eine andere Klassifikation möglich, die als zentralen Anknüpfungspunkt die Unterscheidung zwischen deskriptiven (bezogen auf das Sein) und präskriptiven (bezogen auf das Sollen) Aussagen betrachtet. Davon ausgehend kann man entweder das Universum in seiner objektiven Anordnung als erkennbar betrachten (wahre oder falsche Aussagen) oder getrennt aus einer axiologischen Perspektive (ethisch richtige oder falsche Stellungnahme). Damit ist Kant skeptisch gegenüber der Idee der Fähigkeit der „reiner Vernunft“, die „Sache an sich“ zu erfassen, ist es aber nicht in Bezug auf die ethischen Aussagen der „praktischen Vernunft“26. Andererseits argumentieren Biologen wie Maturana und Varela, dass die Fähigkeit, unser physisches und biologisches Universum zu kennen, nichts über ethische Positionen und ihre Beziehung dazu aussagt27. Sie sind daher axiologische, aber nicht epistemologische Skeptiker. Die Rhetorik ist skeptisch in beiden Bedeutungen. So erkennt der rhetorische Skeptizismus, auch wenn er das Absolute und das Unbestreitbare ablehnt, einige Ausgangspunkte an: Erstens neigt er zur Teilung der Macht im Sinne von Gewalt, er lehnt jegliche Konzentration oder Vormachtstellung 25

Hankinson, R. J., The sceptics. London / New York: Routledge, 1998, S. 13 und 318 –

319. 26 Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kritik der praktischen Vernunft. Werkausgabe in zwölf Bände, herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, vol. 7, S. 300: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetzt in mir.“ 27 Maturana, Humberto / Varela, Francisco, Autopoiesis and cognition – The realization of the living. Dordrecht: D. Reidel, 1972, S. 85 f.

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ab, weil Zweifeln (dubitare) mindestens zwei Seiten hat. Zweitens erkennt die rhetorische Wahrnehmungsweise ethnomethodologisch die Unvermeidbarkeit von Trivialitäten, von täglichen Ereignissen und entwickelt deshalb eine Sensibilität für Gemeinplätze insofern, als sie Menschen ausmachen und sie ihnen nicht entfliehen können. Drittens besteht das rhetorische Konzept aus der Offenheit für Eventualitäten selbst, in der ruhigen Akzeptanz des Schicksals als ein existenzieller Schauplatz des Lebens. In einem Kapitel über „Das Kriterium des Skeptizismus“ behauptet Sextus Empiricus ausdrücklich, dass eine weise Person sich an die Welt der Erscheinungen anpassen muss, um mit den Erfahrungen des täglichen Lebens übereinstimmend zu leben, weil man im täglichen Leben nicht vollkommen inaktiv sein kann. Diese Strategie hat vier grundlegende Orientierungspunkte: Erstens eingestellt bleiben auf natürliche Zwänge und auf die physische Umwelt, in der man lebt (jemand, der nicht an die Existenz eines Ozeans glaubt, kann auch nicht versuchen, darin zu schwimmen); zweitens die Zwänge der Gefühle und menschlichen Bedürfnisse zu respektieren (weil Hunger schlicht Nahrung erfordert und Durst Wasser); drittens eingestellt bleiben auf die Traditionen der Bräuche und Gesetze, weil eine menschliche Gesellschaft mittels dieser Parameter Gut und Böse unterscheidet (Abtreibung oder die Todesstrafe werden anders gesehen von verschiedenen Leuten, das Gesetz aber sollte die Regeln für eine ethische Wahl vorgeben und einen Hintergrund bieten für Debatten und Änderungswünsche); schließlich sollte der Rhetoriker eingestellt bleiben auf die Errungenschaften der Technik, der Künste und der Wissenschaften als Wege, die Natur zu kontrollieren und das mensczhliche Leben einfacher zu gestalten.28 So oft wie möglich sollen Toleranz, die Einbeziehung des anderen in seine Erwägungen und die Freiheit von Selbstdetermination die Ethik der Rhetorik leiten, indem „die Freunde zu Lehrern werden und der Nutzen des Lernens mit der Freude des Sprechens verbunden wird.“29 Dies ist ein vernünftiger Rat an kluge Leute, nicht an desillusionierte oder verzweifelte. Die weniger konstruktive Seite ist, dass Rhetoriker die „großen Geschichten“30 in Frage stellen, die großen Lösungen bezweifeln und Schurken, die das Licht der erleuchteten Heiligen fürchten, denjenigen vorziehen, die nur dem wahren Licht folgen, das sie behaupten wahrgenommen zu haben und in dem viele häufig nicht gebadet sind. Trotz ihrer historischen Bedeutung wurde die Rhetorik von den Rechtsphilosophen nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdient. Diese Geringschät28 Sextus Empiricus, Pyrrhoniae Hypotyposes (PH I, II und III). Outlines of Pyrrhonism, in Selections from the Major Writings on Scepticism, Man & God, edited with introduction and notes by Phillip P. Hallie, as trans. from the original Greek by Sanford G. Etheridge, new foreword and bibliography by Donald R. Morrison. Indianapolis-Cambridge: Hackett Publishing Co., 1985, S. 114. 29 Gracían, Baltasar, Oráculo manual y arte de prudencia. Edición de Luys Santa Marina, introducción y notas de Raquel Asun. Barcelona: Planeta, 1996, S. 145 – 146. 30 „Les grands récis du Monde“ ist ein Ausdruck von Lyotard, Jean-François, La condition postmoderne. Paris: Minuit, 1979, S. 7 f.

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zung wurde beinahe generalisiert in der modernen westlichen Philosophie31, obwohl Rhetoriker immer im Scheinwerferlicht stehen, entweder weil sie von den herrschenden Strömungen angefochten werden oder von anderen gestärkt werden. Dies ist der Fall seit der Renaissance, vielleicht sogar schon vorher. Dies auch nicht nur bei den romanischen Europäern, denn der Einfluss der Rhetorik in der englischen Renaissance scheint unbezweifelbar zu sein32, und sogar Hegel gibt sich Mühe, gegen den rhetorischen Skeptizismus seines Zeitgenossen Gottlob Ernst Schulze33 zu argumentieren. Kurz: Der rhetorische Ansatz sollte von Juristen nicht ingoriert werden, sein Studium zielt darauf, dem Inhalt Aufmerksamkeit zu widmen.

Summary According to essentialist philosophies, usually called ontological and clearly prevailing in Western tradition and in contemporary philosophy of law, there is a truth to be discovered by competent proceedings. The common idea is that with method, logic, intuition, emotion and all their knowledge apparatus, it is possible for human beings to find truth, statements which would compel everyone to acceptance (“rationality”). In what ethics is concerned, truth equals correctness, justice and other laudatory adjectives. This paper applies a particular concept of rhetoric to defend the thesis that this is a highly functional illusion and that the precarious agreements of language not only constitute the maximum possible guarantees, they are the only ones. Moreover, despite being temporary, autopoietic and circumstantial, with promises which are frequently disrespected in their attempt to control the future, they are all that can be called rationality.

31 Popkin, Richard, The highroad to pyrrhonismus. Indianapolis / Cambridge: Hackett, 1993, S. xi – xiv und 3 – 10. 32 Skinner, Quentin, Reason and rhetoric in the philosophy of Hobbes. Cambridge: Cambridge University Press, 1996, S. 19. 33 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten, Aufsätze aus dem Kritischen Journal der Philosophie (1801), in: Philosophie von Platon bis Nietzsche. Berlin: Digitale Bibliothek, 2000, S. 3812 – 3840.

Two-State Solution – The Way Forward Raphael Cohen-Almagor* I. Introduction On my blog, http: // almagor.blogspot.com, in November 2011, I launched my fourth international campaign which is arguably the most difficult of all but like the former three is much needed. This campaign calls for a two state solution. I believe this is the only true option for both Israel and Palestine. I believe it is a just and necessary solution. To be clear, I am calling for:  The end of all hostilities between Israel and Palestine;  Zero tolerance to violence and terror;  Ceasing incitement on both sides of the Fence;  Overhauling the Israeli and Palestinian education curricula on all levels: Kindergarten, primary school, and high school on all issues that pertain to the Conflict;  The evacuation of all, or almost all settlements situated in the West Bank (94 – 97% of territory);  Compensating the Palestinians for the part that would remain in Israel;  The end of Israeli occupation of the West Bank;  The re-routing of the Fence along the pre-1967 war Green Line;  The end of the all-encompassing, unjustified blockade of the Gaza Strip. There is a crucial difference between securing Israel’s borders and assuring that no weap* Raphael Cohen-Almagor (D. Phil., Oxon) is an educator, researcher, human rights activist and Chair in Politics, University of Hull, UK. He has published extensively in the fields of political science, law, ethics and philosophy. He was Visiting Professor at UCLA and Johns Hopkins, and Senior Fellow at the Woodrow Wilson Center for Scholars. He established a few organizations, including “The Second Generation to the Holocaust and Heroism Remembrance”, The Medical Ethics Think-tank at the Van Leer Jerusalem Institute, The Center for Democratic Studies, University of Haifa, and the Middle East Study Group at the University of Hull. He was a Member of The Israel Press Council, and of the Public Committee that drafted the Israel Dying Patient Law. Among his recent books are Speech, Media and Ethics (2001, 2005), The Scope of Tolerance (2006, 2007), The Democratic Catch (2007), and his second poetry book Voyages (2007). Further information http: // www.hull.ac.uk/rca and http: // almagor.blogspot.com.

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ons are smuggled into the Gaza Strip and blockading Gaza tout court. Suffocating Gaza is contradictory to Israeli interests;  The establishment of a Palestinian State alongside Israel. Palestine is sovereign to decide its capital, like all other sovereign states.

Only a fair solution for both sides will be successful. A partial solution, or a solution that favours one side over another would leave the other side frustrated and angry. It won’t work.

II. 2001 Taba Peace Talks On January 22 – 28, 2001 in Taba, when Barak brought the experienced dove Minister of Justice Yossi Beilin to the negotiation team, he was willing to cede 94 percent of the West Bank to Palestinian control, and the two sides came very close to agreement: The Palestinians proposed that Israel annex 3.1 percent but consented that the annexation would consist three settlement blocs which amounted to four percent. Israel demanded to annex eight percent but two of them on lease. Thus the disagreement concerned two percent, approximately 110 square kilometers.1 In Taba, Israel was willing to negotiate issues that it declined to discuss in Camp David 2000. Regarding Palestinian right of return, repatriation and relocation, Israel proposed that each refugee may apply to one of the following programs: a) To Israel – capped to an agreed limit of XX refugees, and with priority being accorded to those Palestinian refugees currently resident in Lebanon. The State of Israel noted its moral commitment to the swift resolution of the plight of the refugee population of the Sabra and Shatila camps. b) To Israeli swapped territory. For this purpose, the infrastructure shall be prepared for the absorption of refugees in the sovereign areas of the State of Israel that shall be turned over to Palestinian sovereignty in the context of an overall development program. c) To the State of Palestine: the Palestinian refugees may exercise their return in an unrestricted manner to the State of Palestine, as the homeland of the Palestinian people, in accordance with its sovereign laws and legislation. d) Rehabilitation within existing Host Countries. Immediate and extensive rehabilitation wherever possible. e) Relocation to third countries: voluntary relocation to third countries expressing the willingness and capacity to absorb Palestinian refugees.2 1 Yossi Beilin, The Path to Geneva (NY: RDV Books, 2004), pp. 246 – 247; Ron Pundak, “From Oslo to Taba: What Went Wrong?”, Survival, Vol. 43, No. 3 (2001), p. 44. 2 Israeli Response RE Refugees, The Taba Proposals and the Refugee Problem, http: // www.mideastweb.org/taba.htm.

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As for the Temple Mount, Israel agreed that it will remain under Palestinian control but the issue of sovereignty over the holy places remained open, contemplating internationalization as a possible solution.3 Taba was the closest point to reach an agreement between Israel and the Palestinian Authority but there were two major problems. Elections to the prime minister office were due in a few days, on February 6, 2001, so the timing was very wrong. Taba was a desperate last moment call for reaching an agreement but it is hard to see how such an agreement could have been binding. And the compromises that both sides were willing to make were not enough. The Palestinians insisted on Israeli acceptance of the right of return and on having the sole sovereignty over the Temple Mount.4 Fundamentally, Arafat did not wish to go down in history as the first Palestinian leader who gave up on the Palestinian dream of one Palestine, at the destruction of Israel. And in the negotiation process, Barak and Arafat lost the people. The Israeli public was no more willing to pay the price for peace. The price was perceived to be too high, in return to an abstract peace that was never practiced. Indeed, terror and democratic processes cannot live together. A zero sum game exists between terror and democracy. One comes at the expense of the other. Barak, who came to office as Mr. Security faded away. Things escalated rapidly when the Al Akza Intifada erupted in late September 2000, following the provocative visit of Ariel Sharon to the Plaza of the Mosques. Shootings became a routine in the everyday life. When Arafat met French President Jacques Chirac on October 4, he told him that in four days the Palestinians lost 64 people while 2,300 others were wounded. Nine Israeli Arabs were killed as well.5 The Israelis were also horrified by the surge of violence, even more so following the lynch of two Israeli reserve soldiers in Ramallah on October 12, 2000. That was a bitter reminder of the real face of Israel’s ‘partners’ for peace. The lynch took place in a police station. Sharon won in the February 6, 2001 elections with a significant majority of 62.4 percent of the vote (it was the first time that special elections were called only to the prime minister office; Barak received 37.6% of the vote) because the public lost trust. Barak’s entire campaign was negative: Why Sharon is bad for Israel? There was hardly something to say, in positive terms, about Barak’s regime. Only the pulling out from Lebanon stood for Barak’s credit.6 This was too little, and did

3 Beilin, The Path to Geneva, p. 246. See also Israeli Position on Three Main Points at Taba Talks (January 21, 2001), http: // www.mfa.gov.il/MFA/MFAArchive/2000_2009/2001/1/Israeli %20Position %20on%20Three %20Main%20Points %20at %20Taba%20Talk. 4 Benny Morris, “An Interview with Ehud Barak”, New York Review of Books, Vol. XLIX, 10 (June 13, 2002), http: // www.nybooks.com/articles/archives/2002/jun/13/camp-david-andafter-an-exchange-1-an-interview-wi/?pagination=false. 5 Charles Enderlin, Shattered Dreams: The Failure of the Peace Process in the Middle East, 1995 – 2002 (NY: Other Press, 2003), p. 297. 6 On May 24, 2000, Israel withdrew its forces from south Lebanon unilaterally, ending the two decade long military presence inside its neighbour’s territory.

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not address the real issue at hand: restoring security to daily lives. The Israeli public was not willing to pay such a high price for peace: everyday killings by snipers, bombs, cars driven into crowds, lynching. The 2002 Arab Peace Initiative of the Council of Arab States could have been a positive step in the right direction. It called for full Israeli withdrawal from all the territories occupied since 1967, finding a just solution to the Palestinian refugee problem, the establishment of a sovereign independent Palestinian in the West Bank and Gaza Strip, with East Jerusalem as its capital, ending the Arab-Israeli conflict, providing security for all the states of the region, and establishing normal relations within the context of comprehensive peace with Israel.7 However, the initiative came at the worst possible time. It coincided with the Passover suicide bombing at Park Hotel in Netanya on March 27, 2002 which further drew the parties apart. In the Passover Massacre thirty people were killed and 140 injured – 20 of them seriously. Hamas claimed responsibility for the attack. The Seder massacre pushed the Israeli population to shift from peace yearning to security yearning. It was an awakening call for Israel. Peace was a dream that could not have been achieved at present.8 Israel began construction of a barrier that would separate most of the West Bank from areas inside Israel. The fence (as Israel terms it; others call it wall) was deemed necessary as the thought was that it will block terrorists from entering Israel. Indeed, the fence proved a security success story. The facts are conclusive: Before the fence / wall was erected, the average number of terrorist attacks was 26 per year. Since its partial construction, the number has dropped to three-to-zero per year as Israel was able to foil every suicide bombing originating from the northern West Bank and specifically from the cities of Nablus and Jenin, areas that had previously been infamous for exporting suicide bombers. However, almost the entire fence / wall is passing inside Palestinian territory. Some 17,000 Palestinians are expected to live between the barrier and the Green Line. Upon the completion of the barrier (eight years after construction began, Israel has completed 64 percent of it),9 16.6 % of the West Bank land will serve as a buffer between Israel and the fence / wall. These are the most fertile lands of the Bank. Some 160,000 Palestinians are expected to be locked in buffers, created by the fence / wall.10 Because of the route of the barrier, which passes through Palestinian living space, 47 gates have been established that are supposed to enable daily movement of farmThe Arab Peace Initiative 2002, http: // www.al-bab.com/arab/docs/league/peace02.htm Between April 1993 and May 2005 there were 164 suicide attacks. They resulted in 670 people killed and 4255 people injured. I thank Arie Perliger for the information. See also Raphael Cohen-Almagor, “An Israeli’s Shift from Peace Activist To War Backer”, The Washington Post (March 31, 2002), p. B1. 9 Israel’s Wall still far from completion (July 8, 2010), http: // www.jmcc.org/news.aspx? id=1243. 10 Israeli Politics, http: // almagor.blogspot.com/2004_01_18_archive.html 7 8

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ers to their lands, students and teachers to their schools, businessmen and merchants to their places of work, and more. As a result, freedom of movement for Palestinians, whose lives are now run against their will on both sides of the barrier, is drastically restricted. The frustrated Palestinians moved to a new form of terror – rocket attack on Southern Israel. The fence / wall cannot stop this form of terrorism that was bound to happen. If you declare a divorce, you need to see that both sides are happy with the settlement, otherwise the children will be miserable. The Palestinian and Israeli children continue to pay a high price. As expected, on July 9, 2004, the International Court of Justice (ICJ) ruled in its Advisory Opinion that the West Bank separation barrier contravenes international law, that it must be dismantled, and that compensation must be paid to the Palestinian owners of property confiscated for its construction. Fourteen justices supported the decision and the sole opponent was the American judge, Thomas Buerghenthal.11 In building the Wall, the court opined, Israel violated international humanitarian law, by infringing on Palestinians’ freedom of movement, freedom to seek employment, education and health. It also states that Israel violated international treaties it had signed which deal with these topics: “The construction of such a wall accordingly constitutes breaches by Israel of its various obligations under the applicable international humanitarian law and human rights instruments”.12 The judges rightly question the route of the wall determined by Israel, saying they are “not convinced that the specific course Israel has chosen for the wall was necessary to attain its security objectives”.13 The ruling says: “The wall, along the route chosen, and its associated regime, gravely infringe a number of rights of Palestinians residing in the territory occupied by Israel, and the infringements resulting from that route cannot be justified by military exigencies or by the requirements of national security or public order”.14 On the issue of compensating Palestinians harmed by construction of the wall, the court rules that, “Israel is under an obligation to make reparation for all damage caused by the construction of the wall in the Occupied Palestinian Territory, including in and around East Jerusalem”.15 The Hague decision is not binding. As expected, Israel immediately reacted by saying that it will not honour the ICJ advisory opinion. 11 Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, http: // www.icj-cij.org/docket/index.php?p1=3&p2=4&k=5a&case=131&code=mwp&p3=6 / . 12 Ibid. 13 Ibid. 14 Ibid. 15 Ibid.

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The separation barrier should have been built along the 1967 Green Line, with some accommodations necessary to include large settlements in the Jerusalem area and Ariel inside the fence / wall, and compensating the Palestinians in other areas. The idea of using the barrier to create geographic facts that in effect make greater Israel and smaller Palestine was unfair, discriminatory, unwise and unjust. The fence / wall should be moved, and I hasten to think that pressure will be exerted that it will. The questions revolve only about time, money and blood involved.

III. Sharon’s Gaza Plan On June 6, 2004, the cabinet approved Prime Minister Ariel Sharon’s revised disengagement plan by a 14 – 7 majority. The result, however, that Sharon lost the majority in the Knesset, left with 59 MK out of 120. Labour assured that it will back him as long as he pursues the Gaza First Plan. The key principles of the four-stage disengagement plan were: A. The stalemate was perceived as damaging; in order to break the stalemate, the government initiated a process that was not dependent on cooperation with the Palestinians. This infuriated the Palestinians. B. The aim of the plan was to bring about for Israel a better security, diplomatic economic and demographic reality. C. In any future permanent arrangement, there will be no Israeli presence in the Gaza Strip. Sharon said there will be no Jews in Gaza by the end of 2005. D. The withdrawal from the Gaza Strip and from the northern part of Samaria will reduce interaction with the Palestinian population. E. Completion of the four-stage disengagement plan will negate any claims on Israel regarding its responsibility for the Palestinian population of the Gaza Strip.16 I should say that I thought the evacuation of Gaza was a step in the right direction. In 2000 I opened an international campaign to that effect under the banner Gaza First. In my letters to prominent politicians in Israel, articles in international newspapers and lectures delivered in four continents (Asia, Europe, North America and Africa) I said that the way to exit the futile cycle of violence and retaliation was by the evacuation of Gaza. The reasons were as follows: Gaza is not emotionallyfraught with religious significance as are Judea and Samaria. By evacuating major settlements, by acknowledging the right of the Palestinians to an independent state, by pulling back the military which lost so many lives to defend a few thousand settlers, Israel would be no longer seen as the occupier with the strongest army in the Middle East, but as a wise democracy which was willing to pay a price for a 16 For further discussion, see R. Cohen-Almagor, “The best first step”, The Baltimore Sun (December 18, 2003).

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solution. It would suit Israel to initiate the Palestinian state’s establishment rather than succumb to international pressure to do so. If criticism of the plan is that it is a victory for the Palestinians, it can be shown that it is to Israel’s advantage. With Palestinian sovereignty would come the responsibility to the community of nations to overcome terrorism and prove that Palestine is capable of statehood. I said it was in Israel’s interest not to suffocate Gaza, but to enable the Gazans to develop independent economic resources. The settlers, who built their homes in Gaza and lived there for many years and played an historical role, would need to be compensated and resettled in other parts of Israel. Gaza, I said, will be a test case for the Palestinians’ willingness to resolve the conflict. In this test, I am sorry to say, Gaza miserably failed. From a key to the solution, Gaza became a major impediment with the Hamas takeover and its unshaken confidence in its ability to destroy Israel. Two major lessons should be learnt: First, Implementation by agreement is preferable to unilateral steps. President Abbas wanted to be involved in the steps leading to Israel’s evacuation of Gaza. Prime Minister Sharon was not interested. He was aloof and arrogant. The result was that the vacuum created by the Israeli evacuation was immediately filled by Hamas. It was an Israeli interest to see that the PA will take control, not Hamas. Israeli decision-making process was shortsighted. Second, when the enemy accumulates weapons, it is for a reason. It intends to use them when the time seems right. When I started my Gaza First campaign in 2000, I did not know about the Kassams. In 2008, I had a discussion with Dov Weisglass, Prime Minister Ariel Sharon's Chief of Staff, who said: We knew about the Hamas rocket power; we did not think that Hamas will terrorize Israel with the Kassams. On January 25, 2006, elections were held for the Palestinian Legislative Council (PLC), the legislature of the Palestinian National Authority (PNA). This was the first election to the PLC since 1996. The final results showed that Hamas won the election, with 74 seats to the ruling-Fatah’s 45, providing Hamas with the majority of the 132 available seats and the ability to form a majority government on their own. It might have been a mistake to allow Hamas to participate in the elections before it accepted the Oslo principles. In June 2007, Hamas vanquished its Fatah rivals and effectively took control of the Gaza Strip. Rocket terrorist attacks on Israel intensified. When Hamas came to power, one would have hoped that with power comes responsibility; responsibility for economy, food, housing, welfare, health, education, agriculture, infrastructure; responsibility for the running of a daily life of society. Hamas until now has preferred to invest more in fighting Israel than in caring for its own people. The brutal results are inescapable.

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IV. 2006 Israeli Elections Elections for the 17th Knesset were held in Israel on March 28, 2006. The voting resulted in a plurality of seats for the then-new Kadima party, followed by the Labour Party, and a major loss for the Likud. After the election, the government was formed by the Kadima, Labour, Shas and Gil parties, with the Yisrael Beitenu party joining the government later. Ehud Olmert, leader of Kadima, was elected prime minister. He had been the acting prime minister going into the election after Sharon’s health deteriorated. Sharon is still in a state of post-coma unawareness.17 Olmert wanted to annex 6.3 percent of the West Bank to Israel, areas that are home to 75 percent of the Jewish population of the territories. His proposal would have also involved evacuation of dozens of settlements in the Jordan Valley, in the eastern Samarian hills and in the Hebron region. In return for the annexation to Israel of Ma’aleh Adumim, the Gush Etzion bloc of settlements, Ariel, Beit Aryeh and settlements adjacent to Jerusalem, Olmert proposed the transfer of territory to the Palestinians equivalent to 5.8 percent of the area of the West Bank as well as a safe-passage route from Hebron to the Gaza Strip via a highway that would remain part of the sovereign territory of Israel but where there would be no Israeli presence. Olmert spoke of the establishment of a Palestinian state with its capital in East Jerusalem, and was willing to accept a token number of Palestinian refugees.18 However, the person who was elected on a clear and explicit peace plan, who was the Peace Camp great hope led Israel to two wars in three years: July – August 2006 – Israel-Hezbollah War;19 Israel-Hamas War 2008 – 2009, Operation Cast Lead.20 These two wars plus corruption allegation brought about the premature end of Olmert’s term in office. Olmert left behind a very different legacy from the one he had in mind when he assumed PM responsibilities. 17 For discussion of this condition, see R. Cohen-Almagor, “Some Observations on PostComa Unawareness Patients and on Other Forms of Unconscious Patients: Policy Proposals”, Medicine and Law, Vol. 16, No. 3 (1997), pp. 451 – 471. 18 Aluf Benn, “Haaretz exclusive: Olmert’s plan for peace with the Palestinians”, Haaretz (December 17, 2009), http: // www.haaretz.com/print-edition/news/haaretz-exclusive-olmert-splan-for-peace-with-the-palestinians-1.1970; Ehud Olmert interview to Stephen Sackur, BBC HARDtalk (2009), http: // webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:RhsmGjUhoY8J: www.bbc.co.uk/iplayer/episode/b00n4fw3/HARDtalk_Ehud_Olmert_Israeli_Prime_Minister_ 2006_2009/+Ehud+Olmert+talks+to+Stephen+Sackur+about+his+Palestinian+peace+proposals&cd=1&hl=en&ct=clnk&gl=uk. 19 See Raphael Cohen-Almagor and Sharon Haleva-Amir, “The Israel-Hezbollah War and the Winograd Committee”, Journal of Parliamentary and Political Law, Vol. II:1 (2008), pp. 113 – 130. 20 See Israeli Politics, http: // almagor.blogspot.com/2010_01_31_archive.html; http: // almagor.blogspot.com/2010_04_25_archive.html; on the Goldstone Report, http: // almagor.blogspot. com/2010_04_04_archive.html.

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V. The 2009 Israeli Elections Elections for the 18th Knesset were held in Israel on February 10, 2009. These elections became necessary due to the resignation of Prime Minister Ehud Olmert as leader of the Kadima party, and the failure of his successor, Tzipi Livni, to form a coalition government. Benjamin Netanyahu formed the arguably most hawkish government in the history of modern Israel. In the Bar Ilan University speech (June 14, 2009), Netanyahu, for the first time, endorsed the idea a Palestinian state. He started by describing the kind of Palestinian entity that would be acceptable to Israel in the framework of a peace agreement. That entity would have to be, according to Netanyahu, fully demilitarized, with iron-clad international supervision. He made it clear, albeit in a rather implicit manner, that the frontiers would have to be supervised to prevent smuggling of prohibited weaponry, and the freedom of its airspace would have to be partially curtailed to avert any possible aerial attack of Israeli targets. Netanyahu then went on to say that, if the aforementioned conditions were met, he would agree to the establishment of a Palestinian state.21 The manner by which Netanyahu presented his consent to the creation of a Palestinian state was related to his domestic audience. By describing first the main characteristics of a Palestinian entity, by emphasizing the security elements essential to Israel to begin with, and then moving on to state that he would be ready to accept a Palestinian state, Netanyahu may have wished to convey the impression that the change entailed in his position was of a gradual, incremental nature.22 To his internal critic, Netanyahu may explain that his views did not actually change much, if at all. As security was put at the foremost of the political agenda vis-a-vis the Palestinians, the latter were required to assert their governance on all radical factions before granted the green light for declaration of statehood. Netanyahu had no intention to make the Balfour Declaration for the Palestinian people. His speech was designed to maintain a delicate equilibrium by adopting the idea of a Palestinian state while not wracking his coalition boat. His speech was with an eye to the international community while maintaining the backing of his domestic base. It should be stressed that none of the Zionist parties to the left of Netanyahu would accept a militarized Palestinian state whose frontiers would not be supervised and its aerial space fully under the control of a Palestinian state.

21 Address by PM Netanyahu at Bar-Ilan University, http: // www.mfa.gov.il/MFA/ Government/Speeches+by+Israeli+leaders/2009/Address_PM_Netanyahu_Bar-Ilan_University_ 14-Jun-2009.htm. 22 Yoav J. Tenembaum, “The Conceptual Dimension of Netanyahu’s Peace Policy,” Letras Internacionales, http: // www.ort.edu.uy/facs/boletininternacionales/contenidos/87/tenembaum 87.html.

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Netanyahu is not a pragmatist like Menachem Begin who withdrew from Sinai23 and Ariel Sharon who withdrew from Gaza; he is not driven by a sense of history, as Begin was, and his realpolitik is based on different principles than Sharon’s. Netanyahu’s philosophy is based on the following components:  Israel should take care of itself. No other country will go out of its way for Israel. The world is busy. Countries have other priorities. We are the only people who understand our needs, appreciate our difficulties, and will be there for us in time of trouble.  Therefore, Israel needs to be strong. Very strong. Our enemies will restrain themselves in the face of strong Israel.  Strength is manifested also by a strong economy which is founded on capitalist interests, bringing wealth to the nation, and retaining it. This means keeping the economic elite happy, and bringing external investments.  Israel is a very small country, surrounded by hostile neighbours. It should not be smaller than it already is. Therefore, we should retain our territory, build in it, settle it, and we need to help those pioneers, those wonderful people who are willing to conquer new lands, and establish facts in the land. These people truly care for Israel and its destiny.  The Palestinians have severe problems. They should strive to solve them, possibly with the help of the Arab world, but not at the expense of Israel.  Some of their problems are the result of Israel’s presence in the occupied territories. This is granted. But these problems are the result of their terrorist behavior. They should first prove to us that they had deserted terror. Once they do, Israel will be happy to relax the pressure. We don’t enjoy pressurizing the Palestinians. We do it out of necessity to retain our strength and secure our people.  The UN is not to be trusted. It is biased toward the Muslim and Arab world, with dozens of representatives in the Mission, against one tiny Israel.  The European Union is biased. It is driven by economic interests, by its own concern vis-a-vis the growing Muslim presence in the continent, by geopolitical interests in which Israel features as a problem. Some argue that Europe is antiSemitic. Europe should prove otherwise.  Israel should retain its special relationship with the USA. We should be attentive to any American administration’s demands, with reason, communication, and mutual understanding of the respective needs.

23 In his comments, Sam Lehman-Wilzig writes: “After declaring his acceptance of 2 States, it is hard to see how you can say Netanyahu is not a ‘pragmatist’. Comparing him to Begin is grossly unfair – Begin gave up land that was never ‘Israel’. Moreover, Begin explicitly refused to allow the Palestinians ‘independence’ but merely ‘autonomy’. Not much of a pragmatist. …”

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This set of principles allows very little scope for concessions and for pragmatism. The Palestinians will not be satisfied with what is offered. At best, the region is in a standstill as far as peace is concerned. At worse, things will escalate into yet another bloody confrontation. Iran, with its offshoots (Hezbollah in Lebanon, Hamas in Gaza and the West Bank), will make things messier and volatile. In September 2010, President Barack Obama convened a peace summit in Washington. The opening statements of Prime Minister Netanyhau and President Abbas revealed the wide gaps between the two. Netanyahu said that Israel withdrew from Lebanon and in return received terror sponsored by Iran. Israel withdrew from Gaza and in return received yet again Iranian-sponsored terror. Israel must insist on preserving its security. This means all the things that the Palestinian dread and wish to dismantle: the Fence; checkpoints; settlements; army presence. President Abbas, in turn, spoke of borders, Jerusalem, water, the right of return, checkpoints, settlements – the well-known bones of contention. President Obama delineated a one-year process. I am afraid it will take more than a year.24

VI. The Way Forward In Camp David, Prime Minister Barak was willing to confront history and mythology and to make hard concessions. However, his tactics was deficient, and he had no partner who was similarly willing to confront history and mythology and to make hard decisions. To resolve the Israeli-Palestinian conflict there is a need for courageous leaders on both sides who seize the opportunities presented before them and make the most for their peoples. There is also a need for balanced, unbiased and fair broker / s as intermediary, one or more parties perceived by both sides as honest, even-handed and reliable. During 1993 – 2010, the United States has not been perceived as an honest broker by the Palestinians. On numerous occasions the USA cooperated and coordinated with Israel, drafting documents and initiating proposals in concert with the Israelis, without incorporating and consulting the Palestinians in the process.25 At present, many Israelis are quite content with satisfying security needs. They believe that the status quo is good for Israel. However, in reality there is no status 24 Comments by Obama, Netanyahu, Mubarak, Abdullah and Abbas at start of peace talks (September 1, 2010), http: // sdjewishworld.wordpress.com/2010/09/01/comments-by-obamanetanyahu-mubarak-abdullah-and-abbas-at-start-of-peace-talks/. 25 One example is the Sharm el-Sheik summit of October 2000, when the Palestinian delegation was presented an “American-Egyptian” working document which was, in fact, an Israeli document. The Israeli delegation examined and studied it prior the summit while the Palestinians saw it for the first time during the summit. Abed Rabbo, the Palestinian negotiator, complained to the Americans, saying this was not right, “don’t play that game with us.” See Charles Enderlin, Shattered Dreams: The Failure of the Peace Process in the Middle East, 1995 – 2002, p. 314.

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quo, as Israel continues to build the settlements, thus is hampering the possibility of striking a deal with the Palestinians in the future. The situation on the ground keeps changing supposedly in favour of Israel. The Palestinians observe as their future state is shrinking in front of their eyes and there is very little that they can do about it. Furthermore, the occupation remains in reality and is undermining the vital ingredients needed for peace talks, good faith and trust. Under occupation, Palestinians lack freedom and control over their lives. Their economic activities, the allocation and management of their natural resources, their health and well being, their ability to move are in the hands of Israel.26 What of the September 1993 Oslo Accords is still relevant today in 2010? The Palestinian Authority, established in 1994, controls parts of the West Bank and administers the lives of most Palestinians. In 2007, it lost control over the Gazan population to Hamas. PLO remains as the sole legitimate representative of the Palestinian people. All governments in Israel negotiate with the PLO. Israelis still cannot enter the A Zone, under Palestinian security control. The PA administers the civic life of the population in Zone B. The Oslo Accords provide judicial framework for all negotiations between Israel and the Palestinians. After Oslo, Israel and the PA signed the Paris Accords which include bilateral economic and humanitarian relationships between Israel and the PA.27 The Oslo Accords brought about the lifting of some of the Arab ban on Israel. They led to the peace accord with Jordan, and to the establishment of some forms of relationship with other Arab states, mainly in the Gulf. To erect peace, it is essential to have: Trust Good will Security. The fence / wall creates political reality. It should move along the 1967 borders. Both sides need to clean the atmosphere: fight bigotry, racism, incitement and hate on both sides of the fence. This includes a close study of the education curricula in both the PA and Israel. Both sides should utilize the media to promote peaceful messages of reconciliation and mutual recognition. Israel should remain steadfast on its demand of the Palestinians to fight down terrorism. Zero tolerance in this sphere. 26 Omar M. Dajani, “Surviving Opportunities”, in Tamara Cofman Wittes (ed.), How Israelis and Palestinians Negotiate (Washington DC: US Institute of Peace Press, 2005), p. 46. 27 http: // publicintelligence.net/international-agreements-with-third-parties/.

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Finally, international cooperation is required to lift the Iranian existential threat. I believe that if there is a will, there is a way. Both sides should aspire for peace in order to reach peace. Both sides need to understand that peace is a precious commodity and therefore be prepared to pay high price for its achievement. Both sides should reach a solution that is agreeable to both. The peace deal should be attractive to both, equally. It cannot be one sided, enforced or coerced. Of all the possible solutions presently on the table, a two state solution seems to be the most viable.28 I believe that good starting points are the Clinton parameters29 and the Geneva Accord.30 Both documents lay the foundations for resolving all contentious issues: Borders – Israel will withdraw to the Green Line, evacuating settlements and resettling the settlers in other parts of the country. Major settlement blocs may be annexed to Israel upon reaching an agreement with the PA of territory exchange that will be equal in size. As above-mentioned, at the Taba talks, the Palestinians presented a map in which Israel would annex 3.1 percent of the West Bank and transfer to the PA other territory of the same size.31 Beilin said that they were willing to concede Israeli annexation of three settlement blocs of at least 4 percent of the West Bank.32 Prime Minister Olmert offered Palestinian President Abbas a similar or even slightly better deal but Abbas did not reply positively. This on the grounds of the Palestinian right of return. Olmert was willing to admit 5,000 refugees and President Abbas said he could not tell 4,000,000 that only some thousands of them could return home.33 Territorial contiguity – a major elevated highway will connect the West Bank and the Gaza Strip to allow safe and free passage. The road will be solely Palestinian. No Israeli checkpoints will be there. Security – The Palestinian sovereignty should be respected as much as possible. Checkpoints will be dismantled. Only the most necessary will remain, subject to review and necessity. The Palestinian state will be non-militarized. This issue was agreed upon in 1995. Also agreed: Joint Israeli-Palestinian patrols along the Jordan River, and the establishment of a permanent international observer force to ensure the implementation of the agreed security arrangements.34 Jerusalem – What is Palestinian will come under the territory of the new capital Al Kuds. What is Jewish will remain under Israeli sovereignty. 28 See Aditi Bhaduri, “A society under constant stress”, In the Fray (May 6, 2007) http: // inthefray.org/content/view/2268/36/. 29 The Clinton Parameters, http: // www.peacelobby.org/clinton_parameters.htm. 30 The Geneva Accord, http: // www.geneva-accord.org/mainmenu/english. 31 Beilin, The Path to Geneva, p. 239. 32 Beilin, The Path to Geneva, p. 246. 33 Natasha Mozgovaya, “Condoleezza Rice’s Biography,” Haaretz (October 25, 2011, Hebrew). 34 Beilin, The Path to Geneva, p. 169.

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Haram al-Sharif – Palestine will be granted extraterritorial sovereignty over the site under Waqf administration. Jews will enjoy right of access. Water – Israel and Palestine should seek a fair solution that would not infringe the rights of any of the sides and will assure that the Palestinian people will have the required water supply for sustenance and growth. Terrorism and violence – Both sides will work together to curb terrorism and violence. I emphasize that there is zero sum game between terror and peace. Therefore, both sides will see that their citizens on both sides of the border reside in peace and tranquility. Zealots and terrorists, Palestinian and Jews, will receive grave penalties for any violation of peace and tranquility. The Palestinians, apparently, fail to understand the gravity of terrorism and are willing to accept it as part of life. Nabil Shaath said: “The option is not either armed struggle or negotiations. We can fight and negotiate at the same time, just as the Algerians and the Vietnamese had done”.35 Democracies, however, see things differently. On this issue there should be no compromise. Incitement – Both sides will overhaul their education curricula, excluding incitement, racism, bigotry and hate against one another. The curricula should reflect a language of peace, tolerance and liberty. Prisoner exchange – As an act of good will, part of the trust-building process, Israel will release a number of agreed upon prisoners. With time, as trust will grow between the two sides, all security prisoners will return home. Right of return – the 1948 Palestinian refugees will be able to settle in Palestine. Israel will recognize the Nakba and compensate the 1948 refugees and their children (but not grandchildren) for the suffering inflicted on them. Unification of families should be allowed on a limited quota annual scale. But massive refugee return to Israel will not be allowed. This dream should be abandoned.36 Israel is the stronger side. It should adopt prudent policy to secure a solution to this protracted and bloody conflict. The establishment of a Palestinian State is a Palestinian interest. It is also an Israeli interest.

35 Shlomo Ben-Ami, Scars of War, Wounds of Peace, (London; Phoenix, 2005) p. 240. Yossi Beilin tells the story of the Taba talks during which two Israelis were murdered in Tulkarem. The Palestinians, he writes, expressed their shock at the murder but they found it difficult to understand why “we always play into the hands of those who want to sabotage the talks”. Beilin, The Path to Geneva, p. 243. 36 Today, more than 4.2 million Palestinian refugees are dispersed across areas of the Middle East in which their forefathers originally took refuge, with others dispersed across the world. See The UN refugee Agency, http: // www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/search?page= search&docid=4444afcb0&query=palestinian%20refugee %20number.

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Zusammenfassung Im November 2011 habe ich meine vierte Kampagne gestartet, die wohl die schwierigste aller dieser Kampagnen ist, die aber – wie die vorangehenden drei – als sehr notwendig erscheint. Diese vierte Kampagne fordert eine Zwei-StaatenLösung. Ich bin davon überzeugt, dass dies sowohl für Israel als auch für Palästina die einzig wahre Option ist. Ich bin zudem davon überzeugt, dass sie eine gerechte und notwendige Lösung darstellt. Nur eine für beide Seiten faire Lösung wird erfolgreich sein. Eine Teil-Lösung oder eine Lösung, welche die eine Seite der anderen gegenüber bevorteilt, würde die jeweils andere Seite frustriert und zornig zurücklassen. Sie würde nicht funktionieren.

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Hartmut Kreß, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik, Ethik: Grundlagen und Handlungsfelder, Band 4, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2012, 335 S., ISBN 978-3-17-018670-5. Der trotz seines Umfangs handliche Band erscheint in einer Reihe, die verschiedene Teilgebiete der Ethik – von der Wirtschaft über die Medizin bis zur Sozialethik – betreut. Der Autor lehrt Ethik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn und befasst sich offenbar auch mit diesen Gebieten. Mit einer „Rechtsethik“ postuliert das Buch indes zugleich eine ethische Bindung des Rechts. Der Legitimationskrise des Staates soll eine Ethik der Rechtsordnung abhelfen. Das ist wohl nicht problematisch, wenn man sich der persönlichen republikanischen Tugenden seiner Bürger erinnert, derer ein demokratischer Verfassungsstaat bedarf, soll er bestehen können. Es sind die Tugenden der Bürger, um die es geht, nicht des Rechts. Dies sind aber nicht nur Tugenden der Teilhabe am öffentlichen Leben, sondern auch solche des nicht autoritär-willkürlichen, vielmehr gesetzlichen, damit eigenen Regeln folgenden und von Mitwirkung geprägten Gehorsams gegenüber dem Gemeinwesen. Es sind dann also Tugenden, die der Respekt vor dem eigenen, selbst gesetzten Recht vermittelt. Nicht erst die amerikanischen Gründungsväter wussten darum, dass solche Tugenden notwendige Bedingung einer stabilen und anerkannten Ordnung sind, die ohne erzwungene Bindungen auskommt und so die partikularen Interessen auf ihren Platz verweisen kann. Seit Sokrates dem Gesetz trotz anderer Einsicht Folge leistete, ist dies für die griechische Stadtkultur dokumentiert, die – ohne eine vorgegebene hierarchische Struktur – die nach der jeweiligen Verfassung gebotene Herrschaft nicht eines göttlichen, sondern des selbst gesetzten Rechts ermöglichte. Eine Ethik der Rechtsordnung kann, soll sie vor allem an das Recht anknüpfen, nur Verfassungslehre im Sinne einer Ethik republikanischen Rechtsgehorsams sein, geht doch der Staat hervor aus der Verfassung, wie insbesondere die eingehend behandelten Grund- und Menschenrechte zeigen, und lebt diese vom Respekt ihrer Bürger, wobei es in der Philosophie durchaus Bemühungen um eine neue Fundierung der Tugendlehren gibt (vgl. z. B. T. Rentsch, Die Konstitution der Moralität, 1990, S. 298 ff.). Im vorliegenden Band wird Recht dabei schon im ersten Teil als Kulturgut verstanden. Er behandelt zunächst die kulturellen Grundlagen der heutigen Rechtsordnung und dann Ethik und Recht im Wege einer Verhältnisbestimmung im heutigen Pluralismus. Der Einstieg erfolgt dabei über die Säkularität des heutigen Staates, nicht über die heutige Verfassung. Dies ist indes nicht erstaunlich, da das Feld nicht von einem theoretischen Ansatz her beackert wird, sondern von den Zuständen aus, wie sie sind. Später sind es die Grundrechte, darunter insbesondere die menschliche Würde, die als Anker dienen. Das entspricht der Gründungsmaxime der Bundesrepublik zur dienenden Funktion des Staates als Antwort auf das nationalsozialistische Regime, wonach heute der Mensch nicht um des Staates willen, sondern der Staat um des Menschen willen da ist (C. Schmid). Der zweite Teil widmet sich dem Religionsrecht als Sonderfall der Rechtsordnung: Religionsrecht einerseits verstanden als jeweiliges Partikularrecht der Religionen und andererseits als weltliches Recht des säkularen Rechtsstaats im Verhältnis zu den Religionen. Der dritte Teil entfaltet die Grundrechte als Kern der Rechtsethik, wobei hier vor allem Platz ist für die menschliche Würde in einem pluralistischen Gemeinwesen, das Grundrechte vorzugsweise als Ort von Freiheit und Selbstbestimmung versteht. Es folgt dann ein Teil zu den Funktionen der Rechtsordnung vor einem Resümee zur Ethik der Rechtsordnung im säkularen Staat. Den kulturellen Charakter des Rechts entwickelt das Buch anhand des säkularen Staates, wie er heute auftritt. Das führt zur Auseinandersetzung mit der These, dass der heutige Staat

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von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne – ein Diktum, das auf J. Freiherr von Eichendorff, den Juristen und Dichter der Romantik, zurückgeht, der in der Zeit der Verfassungskämpfe im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts die Abhängigkeit der Verfassung vom „moralischen Volksgefühl“ als „der öffentlichen Gesinnung, welche das Ganze hält oder bricht […]“, also von einer konstitutionellen Variante des Volksgeistes postulierte. Erst E.-W. Böckenförde setzte dann in der ihm eigenen Verfassungsromantik an die Stelle der Verfassung den Staat und anonymisierte die Voraussetzungen, von denen „sein“ Staat leben soll. Dadurch wurde das Diktum zum Rätsel, dem jede weltanschauliche Richtung ihre eigene Lösung geben kann (für die Belege bei Eichendorff und Böckenförde siehe H. Goerlich, Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Heft 7 / 2011, S. 33 f., Anm. 3). Daran schließt ein Beitrag zur Debatte um die Aufnahme eines Gottesbezugs in die ersten Sätze einer künftigen europäischen Verfassung an, die ja zuvor hierzulande etwa in Niedersachsen mit anderem Ausgang geführt worden war, wo eine Volksabstimmung zu einer entsprechenden Verfassungsänderung führte. Die Entflechtung von Ethik und Recht als Ergebnis der neuzeitlichen Rechtskultur legitimiert sodann den heutigen Pluralismus. Dabei wendet sich die Schrift ebenso gegen die katholische Tradition eines theokratischen, Universalität beanspruchenden Monismus der Legitimation allen Rechts wie gegen die in Deutschland früher dominante und vor allem protestantisch verankerte Zurückweisung einer Kultur der Grundrechte, weithin in Anknüpfung an eine angeblich besondere, eigenständig tragende deutsch-protestantische Kultur, die sich von bloßer Zivilisation – ein pejorativer Schlüsselbegriff – westlicher Verfassungsstaaten abgrenzte. Diese Unterscheidung – ebenso wie jene national angeseilten angeblichen Sonderkulturen – hat die Geschichte mit guten Gründen verabschiedet; von der deutschtümelnden Eigenständigkeit, die auch leicht in der nationalsozialistischen Ideologie aufgehen konnte, ist nichts geblieben. Sodann fordert die Schrift eine Rekonstruktion des Verhältnisses von Staat, Recht und Religionen mit Hilfe eines Religionsverfassungsrechts, das einerseits mit dem absoluten Anspruch der katholischen Kirche als Rechtskirche umgehen kann und andererseits in der Lage ist, den religiösen Pluralismus unter Öffnung für die großen Schriftreligionen ebenso wie für die Fülle religiöser Orientierungen und Verbandsbildungen nicht nur hinzunehmen, sondern rechtlich auf Grundlage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit einzuhegen. Exemplarisch wird das an Fragen des Arbeitsrechts und des Umgangs mit dem Islam deutlich, der in seinen verschiedenen Varianten nicht nur wahrgenommen, sondern dem Leser auch vermittelt wird. Man wird dadurch daran gehindert, einen Teil für das Ganze zu nehmen und Offenheit und Vielfalt auszublenden, die eine religiöse Tradition vermitteln kann, die – entsprechend den Kulturen ihrer Entstehungsregion am Rande der Wüste – ganz ohne Hierarchie und verordnete Dogmatik entstanden ist und bis heute auskommt. Dabei wird auch sichtbar, dass die Berufung einer kirchlichen „Dienstgemeinschaft“ – eine Begriffsbildung des NS-Staates im Anschluss an seine trügerische „Volksgemeinschaft“ – nicht dazu herhalten kann, kirchlichen Mitarbeitern ihre nach weltlichem Recht zustehenden Rechtspositionen zu schmälern; ebenso ermöglicht erst eine – im Islam an sich nahe liegende – Öffnung für die Vielfalt der Traditionen, die das Fehlen jeder Hierarchie zulässt, unterschiedliche Auslegungen der Schriften und erlaubt es, sich mit „dem“ Islam in angemessener Weise auseinanderzusetzen. Der dritte Teil fundiert alsdann die pluralistische Konzeption der Schrift in den Grundrechten. Sie werden an einer Diskussion der Würde des Menschen in all ihren Facetten exemplifiziert, ohne die menschliche Autonomie an den Rand zu drängen. Dabei zeigt sich, in welchem Maße die in Deutschland zögerliche Rezeption westlicher Grundrechtskonzepte auf die geis-

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tesgeschichtliche Verspätung der eben auch insoweit „verspäteten Nation“ (H. Plessner) zurückgeht. Wie die Würde des Menschen sich zugleich in konkreten Grundrechten spiegelt, zeigt die Untersuchung dann an Fragen der Religions- und der Wissenschaftsfreiheit und macht deutlich, welches tiefere Gewicht es hat, endlich auch Studiengänge zum Islam einzurichten – nicht nur, weil ein Bedarf dafür aufgrund der Bevölkerungsstruktur und der Nachfrage besteht, sondern auch, weil nur dann die kulturelle Vielfalt erreicht wird, die beide Freiheiten einfordern, um Glauben und Wissen angemessen pflegen zu können. Ein letzter Durchgang befasst sich dann mit den Funktionen der Rechtsordnung: Sie soll eine gewisse Stabilität ermöglichen, Verteilungsprobleme lösen und befähigen, eigene Probleme als eigene zu lösen. Sie soll aber auch Ziele so ausgestalten, dass sie in zweckmäßiger Weise gewahrt und verfolgt werden können. Dies setzt voraus, dass das Recht die Wege für verschiedene Problemlösungen offen hält. Dazu können Gebote der Selbstbestimmung kraft der Grundrechte dienen und für jene Toleranz den Raum sichern, die unabdingbar ist, soll das Recht der Gesellschaft die Anpassungsfähigkeit erhalten helfen, die sie benötigt, um in Zukunft bestehen zu können. In diesem Sinne ist Toleranz Produkt der Kultur eines Rechts, das mehr bietet als bloße Toleranz angesichts eines Wahrheits- oder Herrschaftsanspruchs, nämlich Rechtsstellungen zugunsten des Einzelnen und der Minderheiten. Sie sind es nämlich, die des Schutzes bedürfen und ihn dank der Selbstbestimmung, die die Grundrechte sichern, auch im Interesse aller nutzen. Das Buch, das sich immer wieder auch Einzelfragen widmet und insofern einen viel größeren Reichtum entfaltet, als er hier dargeboten werden kann, ist außerordentlich gut lesbar. Es macht viele Fragen zugänglich und bietet einfach gefasste, indes keineswegs vereinfachende Antworten. Es belegt seine Argumente und bietet eine umfassende Bibliographie. Über die Sozialethik als theologische Disziplin hinaus ist es daher von großem Nutzen. Es kann in der Lehre nicht nur dazu dienen, die Perspektiven der früheren Großkirchen, religiöser Gruppen und neuerer Bewegungen nach außen darzustellen und nach innen zu beeinflussen. Es ist vielmehr ein gutes Beispiel für den öffentlichen Dialog, der in der Europäischen Union mit religiösen und weltanschaulichen Gruppen zu führen ist. Religion und Weltanschauung werden dort – auch dank des Verzichts auf einen Gottesbezug in den eröffnenden Passagen der verbindlichen Rechtstexte – nicht mehr verordnet, sondern in ihrer Vielfalt als Teil einer pluralistischen Ordnung in gegenseitiger Rücksichtnahme entfaltet. Für das Gebiet des Religionsverfassungsrechts enthält das Buch ganz wesentliche Beiträge, während es im Anschluss an einen sehr erfolgreichen Band des Autors zur medizinischen Ethik in derselben Reihe als weiteres Referenzgebiet häufig das Gesundheitsrecht heranzieht. Für die Verwirklichung solcher Rechtsstrukturen ist die vorliegende Schrift von Kreß nicht nur ein Beitrag, der sich vielfältig nutzen lässt, sondern auch eine große Hilfe, sozusagen ein didaktisch gelungenes Lehrstück für Dozenten, aber gerade auch für Studierende, sei es am Anfang eines jugendlichen Studiums oder später in der Situation dessen, der sich aus dem Berufsleben heraus fortbilden möchte. Helmut Goerlich

Autoren- und Herausgeberverzeichnis Adeodato, João Maurício, Prof., Universidade Federal de Pernambuco, Centro de Ciências Jurídicas, Departamento de Teoria Geral do Direito e do Direito Privado, Praça, Fleming, 117 / 2001, 52050-180-Recife, PE-Brasil E-Mail: [email protected] Aichele, Alexander, PD Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, Schleiermacherstraße 1, D-06114 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Bachofen, Blaise, Prof. Dr., Université de Cergy-Pontoise, Centre de philosophie juridique et politique, 33 bd. du Port, F-95 011 Cergy-Pontoise Cedex E-Mail: [email protected] Byrd, B. Sharon, Prof. Dr., Law & Language Center, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Carl-Zeiss-Straße. 3, D-07743 Jena E-Mail: [email protected] Cohen-Almagor, Raphael, Prof. Dr., Chair in Politics, Department of Politics and International Studies, The University of Hull, Cottingham Road, HULL, HU6 7RX, United Kingdom E-Mail: [email protected] Dierickx, Kris, Prof. Dr., Catholic University Leuven, Faculty of Medicine, Centre for biomedical ethic and law, Kapucijnenvoer 35 Box 7001, B-3000 Leuven E-Mail: [email protected] Forschner, Maximilian, Prof. em. Dr., Institut für Philosophie der Universität Erlangen-Nürnberg, Bismarckstr. 1, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Goerlich, Helmut, Prof. em. Dr., Universität Leipzig, Juristenfakultät, Otto-Schill-Straße 2, D-04109 Leipzig E-Mail: [email protected] Grell, Frithjof, Prof. Dr., Lehrstuhl für Elementar und Familienpädagogik, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, D-96047 Bamberg E-Mail: [email protected] Hansen Hendrik, PD Dr., Leiter der Professur für Politikwissenschaft II, Andrássy Universität Budapest, Fakultät für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften, Pollack Mihály tér 3, H-1088 Budapest E-Mail: [email protected] Henrich, Daniel C., Dr. Postdoc-Fellow, Postgraduate Program „Bioethics“, International Centre for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW), Eberhard Karls University, Wilhelmstraße 19, D-72074 Tübingen E-Mail: [email protected]

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Heper, Altan Dr. Dr., Özyeğin-Universität, Juristische Fakultät, Kusbakisi Cad. No. 2, 34662, Üsküdar-Istanbul, Türkei E-Mail: [email protected] Herb, Karlfriedrich, Prof. Dr., Universität Regensburg, Lehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichte, D-93040 Regensburg E-Mail: [email protected] Hołówka, Jacek A., Prof. Dr., University of Warsaw, Faculty of Philosophy and Sociology, Institute of Philosophy, Section of Analytical Philosophy, 3, Krakowskie Przedmieście Street, PL-00-927 Warsaw, Poland E-Mail: [email protected] Hruschka, Joachim, Prof. Dr., Universität Erlangen, Institut für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Schillerstraße 1, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Joerden, Jan C., Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Große Scharrnstraße 59, D-15230 Frankfurt (Oder) E-Mail: [email protected] Kirchhoffer, David G., Dr., Australian Catholic University, Faculty of Theology and Philosophy, PO Box 456, Virginia, Queensland, 4014 Australia E-Mail: [email protected] Mabe, Jacob Emmanuel, PD Dr. Dr. Dr. habil., Machnower Straße 42, D-14165 Berlin E-Mail: [email protected] Özmen, Elif, PD Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München E-Mail: [email protected] Rehm, Michaela, Jun.Prof. Dr., Universität Bielefeld, Abteilung Philosophie, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld E-Mail: [email protected] Renzikowski, Joachim, Prof. Dr., Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie / Rechtstheorie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsplatz 6, D-06099 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Sack, Jörn, Florastraße 14, D-12163 Berlin E-Mail: [email protected] Schaber, Peter, Prof. Dr., Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik, Ethik-Zentrum der Universität Zürich, Zollikerstr. 117, CH-8008 Zürich E-Mail: [email protected] Sigwart, Hans-Jörg, PD Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Politische Wissenschaft, Kochstr. 4, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Tamburrini, Guglielmo, Prof. Dr., Università di Napoli „Federico II“, Dipartimento di Scienze Fisiche, Complesso Universitario Monte S. Angelo, Via Cintia, I-80126 Napoli E-Mail: [email protected]

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Tiedemann, Paul, Prof. Dr. Dr., Richter am Verwaltungsgericht, Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen, apl. Professor an der Özyeğin-Universität Istanbul, Rangenbergstraße 46, D-60388 Frankfurt am Main E-mail: [email protected]; [email protected]; Paul.Tiede [email protected] Zimmermann, Stephan, Dr., Universität Bonn, Institut für Philosophie, Lennéstr. 39, D-53113 Bonn E-Mail: [email protected]

Personenverzeichnis / Index of Names Abbas, Mahmoud 387, 391, 393 Adams, John 197, 201 ff. Agar, Nicholas 261 Alcorn, Randy 294, 297 Allhoff, Fritz 264 f. Améry, Jean 324 Arafat, Yassir 383 Arendt, Hannah 40, 200, 206 f. Aristoteles 5, 32, 91, 122, 131 f., 135, 141, 363, 365, 370, 373 f. Aron, Raymond 32 Augustinus 15 f. Barak, Ehud 382 f., 391 Barber, Benjamin 211 f., 215 Barbeyrac, Jean 142 Beaufort, Jan 47 Beccaria, Cesare 159, 167 Begin, Menachem 390 Beilin, Jossi 382, 393 Bellah, Robert 210 Berlin, Isaiah 41, 119 Bielefeldt, Heiner 278 Birnbacher, Dieter 274, 281 f. Bloom, Allan 195, 208 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 129, 400 Boonin, David 299 f. Bormann, Franz-Josef 45 Brandt, Reinhard 55 Burlamaqui, Jean-Jacques 142, 223 Campbell, Tom D. 305 Cicero, Marcus Tullius 364 Clemenceau, Georges 40 Clinton, Bill 393 Cohen, Joshua 31 Constant, Benjamin 41, 119 ff. Davis, Nancy 287 ff., 304 f. Dewey, John 74, 213 ff.

Dick, Philip K. 316 Diderot, Denis 34, 148 ff. Engels, Friedrich 156, 189 Epikur (Epicurus) 350 Feinberg, Joel 326 Fichte, Johann Gottlieb 106, 163 f. Foot, Philippa 290 Forschner, Maximilian 44, 47, 54 Frei Caneca 365 Gadamer, Hans-Georg 367 Gagnebin, Bernard 44, 55 Gebhardt, Jürgen 44 Gracián, Baltasar 378 Grotius, Hugo 139, 150, 223, 228 Habermas, Jürgen 262 ff., 345, 358 ff., 367 Hamilton, Alexander 203 f. Hartz, Louis 201, 215 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 96, 173, 396, 379 Herb, Karlfriedrich 55 Hilgendorf, Eric 281 Hobbes, Thomas 34, 41, 82 ff., 87, 90 ff., 96, 123, 126, 133, 139, 150, 152, 175 f., 221, 226, 228 f., 231, 240 Hoerster, Norbert 352 Hofmann, Rupert 44 Humboldt, Wilhelm von 69 Jantzen, Jörg 44 Jefferson, Thomas 198 f., 203, 207 Jesus 48, 50, 275 Jobs, Steve 184 Kainz, Peter 87 Kant, Immanuel 65, 68 f., 74, 77, 85 f., 93, 96, 98, 120, 164, 170, 263, 276, 319 ff., 327, 332, 367, 369, 374, 377

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Personenverzeichnis / Index of Names

Kasparow, Garri 313 f. Klusendorf, Scott 303 Kuhn, Helmut 44

Prechtl, Peter 47 Pufendorf, Samuel von 139, 159, 223, 228, 276

Leibner, Theodor 280 Leidhold, Wolfgang 44 Locke, John 43, 52, 66 ff., 82 ff., 90 ff., 120, 123, 175 f., 196 f., 199, 201, 203, 221, 226, 228 f., 231, 235, 240, 349, 369 Lomasky, Loren E. 294 Lyotard, Jean-François 378

Quintilian 365 Quong, Jonathan 291

Machiavelli, Niccolò di Bernardo die 49, 51, 208 Macklin, Ruth 325 Madison, James 203 ff., 212 Mandeville, Bernard 37 Margalit, Avishai 322 f. Marx, Karl 81, 178 f., 189, 213 Maturana, Humberto Romesín 377 McKay, A. J. 305 Menzius (Mengzi) 280 Molière 30 Molina, Luis de 3 Montaigne, Michel de 375 f. Nagel, Thomas 268, 338 Netanyahu, Benjamin 389 ff. Nida-Rümelin, Julian 327 Nietzsche, Friedrich 374 Noonan Jr., John T. 294 Obama, Barack 391 Olmert, Ehud 388 f., 393 O’Neill, Onora 301, 305 f. Ottmann, Henning 44 Parfit, Derek 295 f. Pascal, Blaise 275 Pico della Mirandola, Giovanni 275 Platon 31, 51, 91, 129, 363, 367, 369 f. Pocock, J. G. A. 199, 208

Rawls, John 31, 215, 261, 264 ff. Raymond, Marcel 44 Rehbock, Theda 347 Rehm, Michaela 45 f. Robespierre, Maximilien de 81, 90, 155 f., 166 Rousseau, Jean-Jacques 3 ff., 25 ff., 43 ff., 57 ff., 81 ff., 93 ff., 105 ff., 120 f., 124 ff., 134 ff., 139 ff., 155 ff., 169 ff., 195 ff., 221 ff. Sartre, Jean-Paul 100 Schellnhuber, Hans Joachim 170, 174 Schöpf, Alfred 47 Schröer, Christian 45 Schwartz, Adina 266 ff. Sextus Empiricus 376 ff. Sharon, Ariel 383, 386 ff., Singer, Peter 349 Sokrates 136, 364, 370, 399 Spranger, Eduard 112, 115 Talmon, Yaakov Leib 81 Taylor, Charles 195, 210 Thomson, Judith Jarvis 289, 292 f., 304 Tocqueville, Alexis de 96, 195, 210 Tooley, Michael 289, 296 Turing, Alan 311 ff., 317 Varela, Francisco 377 Velleman, J. David 305 Voltaire, François Marie 55, 155, 167, 172 Warren, Mary Anne 298, 303 Zehnpfennig, Barbara 91

Sachverzeichnis / Index of Subjects Aberglaube 51 Absolutismus 176 Abtreibung (abortion) 285 ff. Access consciousness 338 f. Adela 372 Agentenkausalität 10 Aggregat (agrégation) 26 Al Akza Intifada 383 Aliénation totale 97, 126 Allgemeinwille 127, 134, 155, 159 ff., 165 f., 169, 180 f., 184, 186, 188 ff. Altruismus 43, 50, 55 Ambivalenz 81, 84, 93 f., 120 Amerikanische Revolution 197 ff. Anarchie 82 f., 123 Androiden 316 Anthropologie 58, 64, 94, 122 f., 170, 223 f., 227, 233, 368, 371, 373, Anthropologie, rhetorische 368 Arab-Israeli conflict 384 Arab Peace Initiative 384 Ataraxia 372 ff. Atheismus 45 f., 53, 55, 130 Autarkie 221, 228, 238 f. Authentizität (authenticity) 49, 94, 98, 102, 136, 355, 357 Autonomie (autonomy) 85, 94 ff., 102, 130, 153, 196, 221, 230, 234, 238, 261 f., 276, 279, 325 ff., 401 Autonomy protection 334 ff., 339 Bedingung, notwendige 14 f., 19, 21, 327, 399 Bildsamkeit (perfectibilité) 58 ff., 62, 64, 73 ff., 77 Biobanken (biobanks) 247 ff. bourgeois 33, 37, 101 f. Brain-Computer Interface 331 Brüderlichkeit 50, 53, 106, 177 f.

Bundesverfassungsgericht (Federal Constitutional Court) 183, 277 ff. Bürger (citoyen) 32 ff., 46, 64, 95 ff., 230 Bürgerfreundschaft / politische Freundschaft 132 ff. Camp David 2000 382 Christentum 45 f., 48 ff., 53, 55 Clinton Parameters 393 Consciousness, disorders of 331, 333, 341 Consciousness, phenomenal 338 f. Consciousness and communication preconditions 337 f., 340 f. Datenschutz (data protection) 250 f. Deep Blue 313 f. Dekarbonisierung 169, 191 Deliberation 31 f., 37, 39, 135 f. Demokratie 96 f., 105 ff., 121, 134 ff., 170, 176 f., 182 ff., 186, 190, 193, 203, 210 ff. Deskriptive Ethik 373 ff. Determination 4, 7, 9, 15 Disorders of consciousness 331, 333, 341 Disposition 5, 7, 9, 13 ff., 19 f., 22 f. Diversität 272, 274 Dogma 45, 52 ff., 129 f., 377 Egalitarismus 211 ff. Eigenliebe 5, 10, 12 ff., 19 f., 22 Eigentum 204 ff. Eigentumsrechte 70, 88, 204, 322 Einheit 93 f., 102 Eltern, Rechte und Pflichten der 66 ff. Empathie 316 f. Enhancement 262, 265 Ensembletheorie 281 Enthymem 366, 370 Erziehung 23, 37, 71 ff., 85, 101 ff., 114 ff., 130 f., 240

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Sachverzeichnis / Index of Subjects

Ethik, normative und deskriptive 373 ff. Ethik und Rhetorik 363, 372 f. Ethischer Pluralismus 277 Ethnozentrismus 105, 107 Ethos 221 ff., 234 ff. Eudämonismus 92 Europäische Union 31, 183, 189 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (European Court of Human Rights) 353 f. Existenz (existence) 346 ff., 352 ff., 357 f. Fanatismus 51, 376 Feindstrafrecht 157, 161, 163, 165 Fest 100 f., 103 Fetus 285 ff., 291 ff. Französische Revolution 106, 119, 155 ff., 165, 177, 200, 206, 208 Freiheit 95 f., 98, 101 ff., passim Freiheit, negative 119, 127 f. Freiheit, sittliche 128, 221, 231 ff, 238 Frieden 52 f., 187 f. Fundamental Rights 332 f., 347 GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) 179 Gaza First Plan 386 Gemeininteresse (intérêt commun) 25 ff. Gemeinwille (general will, volonté générale) 4 f., 23, 25 f., 28 ff., 32 f., 36, 39 f., 43, 47, 81 f., 89 ff., 96 f., 100, 114 f., 121, 126 ff., 135 f., 149, 161, 164, 166, 169, 181, 184, 194, 204, 212, 215, 231, 235 ff. Gemeinwohl (bien commun) 26 f., 30 ff., 34, 37, 41, 81, 84, 98, 116, 125 f., 157, 167, 204 Geneva Accords 393 Gesellschaftskritik 107 ff., 210 Gesellschaftskritik, amerikanische 210 ff. Gesellschaftsvertrag (social contract, contract social) 43, 49, 52, 54, 87 ff., 94 ff., 99 ff., 139, 148, 150 ff., 155 ff., 169, 175 ff., passim Gesetzgeber 55, 89, 93, 98, 102, 129 ff., 200, 278 f. Gewissen (conscience) 131, 147, 149 Goldene Regel 316 Göttliches Recht (divine right) 350

Governance 112 ff., 389 Grundrechte 43, 111, 281 f., 284, 399 ff. Grünes Wachstum 181 Hamas 384, 387 f., 391 f. Handlungsfreiheit 4, 10 Haram al-Sharif 394 Heidentum 48, 51 Heiligkeit des Lebens, Lehre von der (sanctity of life, doctrine of) 348 ff. Herrschaft, legitime und illegitime 60, 66 Herrschaft des Rechts 399 Homme sauvage 5, 10 f., 13, 20, 24 Human Brain Project 311 Humanität, Humanismus 53 f., 105, 275, 363 ff. Incitement 381, 392, 394 Indeterminismus 3 ff. Indifferenz 4 f., 8, 13 f., 21, 23 Individualinteresse 28 f., 33 ff., 41 Individualismus 81 ff., 120, 126, 210 Instinkt 5 ff., 11, 62, 67 f., 111, 231 f. Interkulturalität 106 Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 179 Intimität 99, 103 In-Vitro-Fertilisation 259 Irrtum 8, 23 Isosthenia 371 f. Israeli occupation 381 Israeli-Palestinian conflict 391, 393 Israeli settlements 392 Jakobiner 90, 155, 172, 213 Jakobinische Terrorherrschaft 155 f., 165 f. Jerusalem 336, 384 ff., 388, 391, 393 Katholizismus 49, 272 Kind, Kindheit 57 ff., 65 ff. Klimaschutz 170, 174, 191 Kollektivismus 81, 91, 120 Kompatibilismus 3, 20, 24 Kontinuitätsargument 315 Kontraktualismus 95, 97, 228 f., 231, 239 ff. Kooperation 113, 124, 126, 183, 205 Kooperationsrevolution 170, 189 Kult 48 ff.

Sachverzeichnis / Index of Subjects Lebewesen (living thing) 346 f., 349 Leidenschaft 50 Liberalismus 81 ff., 120, 134, 195 ff., 278 Locked-in Syndrome 332 Menschenrechte (human rights) 221, 226 ff., 234 f., 237, 239 f., 345 ff. Menschenwürde (human dignity) 247 ff., 312 ff., 331 ff., 347 f., 351, 353 ff. Menschenwürde als Leitwert 273 f., 283 Menschenwürde als normativer Anker 284 Menschenwürde im starken Sinne 282 Menschliche Natur (human nature); s. a. Natur des Menschen 140 f., 143 ff., 151 f., 154, 202, 267 Metriopateia 376 Migrationshintergrund 272 Minimalmoral 280 ff. Mitleid (pity, pitié) 68, 142 ff. Moi commun 126 f., 134, 137, 237, 239 Moral 11 f., 15 ff., 19 ff., 27 Moralische Rechte 324 f. Multikulturalität 271, 273 Nächster 49, 54 Narrative consciousness 337 ff. Nationalismus 54 Nationalstaat 178, 183 f. Natur des Menschen; s. a. Menschliche Natur 12, 63 ff., 94 f., 97, 107, 223 ff., 227 Naturalistischer Fehlschluss (naturalistic fallacy) 349 Natürliche Gesetze 84 Naturrecht (natural law) 48, 54, 139 ff. Naturzustand (state of nature) 63 ff., 74, 82 ff., 88, 90, 108 ff., 123 ff., 128, 139, 141 ff., 146 ff., 153 f., 162 ff., 225 f., 228 f., 231, 233, 240 Negative Freiheit 119, 127 f. Neuer Gesellschaftsvertrag 169, 175 ff. Neutralität, verfassungsgemäße 274 Nichtregierungsorganisationen 188 Normative Autorität 323, 326 Normative Ethik 373 ff. Notwendigkeit 4, 7, 16 Objektformel 276 f. OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) 179

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Öffentliches und Privates 98 ff. Ontologien der Wahrheit 363, 366 Opferbereitschaft 43, 55 Ornatus 364 Oslo accords 392 Palestinian authority 383, 392 Palestinian refugees 382, 388, 394 Parallelgesellschaften 273 Partikularinteresse (intérêt particulier) 25 ff., 135, 161, 204 Partizipation 97, 113, 209, 211 ff., 235 Pathologie 98, 100 Patriotismus 47 f., 50, 53, 116, 167 Perfektibilität (perfectibility, perfectibilité) 63 f., 95, 110, 143 ff., 151, 153 Personalität (personhood) 293 ff., 353, 356 f., 360 Pflicht (als Gegensatz zur Neigung) 86 Phenomenal consciousness 338 f. Pluralismus, ethischer 277 Pluralismus, Pluralität 53, 59, 81, 135 f., 204, 271, 273 f., 277, 399 f. Polis 44, 74, 99, 122, 132, 184, 194, 370 Politische Freundschaft / Bürgerfreundschaft 132 ff. Politischer Körper (body politic) 26, 115, 126, 152 f. Postmoderne 58 Präimplantationsdiagnostik (PID) 259 Prärogative 84 Priesterreligion 48 Privates und Öffentliches 98 ff. Privatinteresse 28 f., 32, 34 ff., 38 ff., 125, 127, 130 Rationalität (rationality, rationalité) 43, 100, 139 ff., 143 ff., 148 ff., 266 f., 365, 368, 374 Recht auf Bildung 71 ff., 324 Recht auf individuelle Selbstbestimmung 221, 226 ff., 235, 237, 240 Recht auf Leben (right to life) 285 f., 296 ff., 298 ff., 307 ff., 345 ff. Rechte, moralische 324 f. Rechte des Kindes 57 ff. Rechte und Pflichten der Eltern 66 ff. Rechtsethik 399

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Sachverzeichnis / Index of Subjects

Reich Gottes 50 Religion des Bürgers 48, 52 Religion des Menschen 48 Religionsverfassungsrecht 400 f. Repräsentation 38, 97, 100, 201, 203 ff. Republik 97 ff., 101 f. Republikanismus 97, 196, 199 Rhetorik als Philosophie 363 ff. Rhetorik und Ethik 363, 372 f. Rhetorik und Wahrheit 367 ff. Rhetorische Anthropologie 368 Rocket terror 387 Scientific communication and ethics 340 Selbstachtung 319, 322 ff. Selbsterhaltungstrieb (instinct de conservation) 73, 110, 116 Selbstliebe (self love, amour de soi) 5, 10, 12 ff., 17, 19, 22 f., 44, 46 f., 100, 109, 116, 142, 146, 224 f. Selbstwertschätzung 323 Selbstwiderspruch 18 f., 22 Sex-selection 259 Sharm el-Sheik summit 391 Sittliche Freiheit 128, 221, 231 ff, 238 Skeptizismus 366 f., 371, 376 ff. Sophistik als Philosophie 365 ff. Souveränität / Volkssouveränität 175 f., 181 ff., 189, 193, 196, 204 ff., 212 ff., 230, 235, 238 Soziabilität (sociability, sociabilité) 127, 143 f., 150 f. Soziale Marktwirtschaft 179 Sozialstaatlichkeit 177 Spezieszugehörigkeit 22, 315 Spontaneität 11, 20 Stabilität 126, 133 f., 401 Strafrecht 155 ff. Supercomputer 311 ff. Taba Peace Talks 382 Terror (terrorism) 90, 155 f., 165 f., 385, 387, 392, 394 Theismus 45, 54 Todesstrafe (death penalty) 158 ff., 163 f., 167, 281, 378 Todeszellensyndrom (death row syndrome) 353 f.

Toleranz / Intoleranz 37, 45, 51 ff., 62, 116, 130, 378, 401 Totalitarismus 81, 91, 165 ff. Totschlagargument 275 Transparenz 98, 100 Trittbrettfahrer (free rider) 35 Tugend 37 f., 46 f., 53, 86, 122 ff., 131 ff., 137, 156, 166 f., 238, 373 f., 399 Turing-Test für Würde 311 ff. Two-state solutions 381 Umweltschutz 173, 187 f., 191 Ungleichheit 88 f. UN-Kinderrechtskonvention 57 f. Urteil, individuell reflexives 5, 13, 22 Urteil, reflexives 9, 12 f., 18, 20 ff. Urteil, universal reflexives 5, 18, 22 Verantwortungsgefühl 68 Vereinigung (association) 26 f., 95, 114 Vereinte Nationen (UN) 57, 178, 185 f., 191, 271 Verfassung, amerikanische 203 ff. Verfassungsgerichtshof Südafrika (Constitutional Court of South Africa) 348 Verfassungsgerichtshof Ungarn (Constitutional Court Hungary) 348 Verfassungsstaat 43 f., 177 ff., 399 f. Vergleich 13 ff. Vermögen 5 ff., 9 ff., 17, 19 ff. Verpflichtung (obligation) 147 ff., 151 ff., 251 f. Vertragstheoretische Strafbegründung 158 ff. Vertragstheorie 44, 82 ff. Vertragstheorie (contract theory) 139, 352 Voight-Kampff-Test 316 Volkssouveränität 175 f., 181 ff., 189, 193, 196, 206, 213 f. Volonté générale 4 f., 23, 28, 43, 96, 100, 127, 136, 169, 181, 184, 194, 204, 212, 215, 231, 235 ff. Wahrheit 8 f., 12, 20 ff. Wahrheit und Rhetorik 367 ff. Weltbürgerschaft 181, 184 f., 192 Weltrevolution 179, 189 Weltstaat 186

Sachverzeichnis / Index of Subjects West Bank separation barrier 385 Willen aller (volonté de tous) 28, 36 Willensfreiheit (free agency) 3 ff., 143 f., 151 f. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) 169 ff.

Wissensgesellschaft 193 Würde eines Computers 311 ff. Zivilgesellschaft 112, 116, 134 Zivilreligion 37, 43 ff., 129 f. Zweikammernsystem 201

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Hinweise für Autoren Manuskripte sollten mit 1 1 / 2-fachem Zeilenabstand einseitig auf DIN A 4 Bogen geschrieben sein (36 Zeilen à 60 Anschläge = 3 / 4 Druckseite), sowie zusätzlich als Word oder Word Perfect-Datei auf einer IBM-kompatibel formatierten Diskette eingereicht werden. Fußnoten (nicht Endnoten) sollten in der Word oder Word Perfect-Version enthalten und in einer zusätzlichen Datei abgespeichert sein. Es müssen jeweils zwei Kopien der Manuskripte eingereicht werden, von denen eines den Namen des Autors nicht wieder gibt. Eingesandt werden können nur Originalbeiträge, die keinem Copyright anderer Herausgeber oder Verlage unterliegen. Mit der Einsendung des Manuskripts erklärt der Verfasser zugleich, im Falle der Annahme des Manuskripts zur Veröffentlichung sämtliche Rechte an dem Beitrag auf den Verlag zu übertragen; der Verfasser ist bis zur Entscheidung über die Annahme seines Beitrages an diese Erklärung gebunden. Beitragstitel und – falls vorhanden – Untertitel sind deutlich voneinander abzusetzen. Die Überschriften sind im Text in der Abstufung I., 1., a) usw. zu bezeichnen. Falls keine Überschriften vorgesehen sind, kann diese Bezeichnungsfolge auch für die Textgliederung (sog. Absatznumerierung) verwendet werden. Absätze im Text, insbesondere bei Seitenübergängen, müssen im Manuskript durch 1 1 / 2-fachen Zeilenabstand und Einrücken der ersten Zeile um drei Leerzeichen gekennzeichnet werden. Nachträgliche Änderungen (Teilung eines Absatzes in zwei Absätze oder Zusammenziehen mehrerer Absätze zu einem Absatz) sind kostspielig und werden dem Autor ggf. in Rechnung gestellt. Im Kleindruck (Petit) zu setzende Textteile, Aufzählungen und Übersichten sind seitlich mit farbigem Strich zu markieren. Hervorhebungen sind durch Unterstreichung für Kursivsatz (Schrägdruck) kenntlich zu machen und möglichst zusätzlich farbig zu markieren. Im Text sollen Namen in Normalschrift, zitierte Titel in Kursivschrift erscheinen; bei Literaturangaben in den Fußnoten wird der Autorenname kursiv hervorgehoben. Titel von Artikeln und Überschriften von Buchabschnitten sollen sowohl im Text als auch in den Fußnoten in Anführungszeichen gesetzt werden. Bei der Zitierweise ist zu beachten, daß die Zitate den Namen des Autors, den Titel des Buches oder Artikels (gefolgt von dem Titel des Buches, in dem der Artikel erschienen ist), den Ort der Veröffentlichung (bei mehr als einem Ort zwischen den Orten einen Schrägstrich): den Verlag, das Jahr und die Seitenangabe (S.) aufweisen. Wenn Artikel aus Sammelwerken zitiert werden, sollte(n) der (die) Name(n) des (der) Herausgeber(s) (in Normalschrift) nach einem vorangestellten „in:“ und gefolgt von „(Hrsg.)“ angegeben werden. Zwischen zwei oder mehr Herausgebernamen sollte jeweils ein Schrägstrich ( / ) eingefügt werden. Sofern ein Buch nur unter dem (den) Namen des (der) Herausgeber(s) zitiert wird, sollte(n) der (die) Name(n) kursiv hervorgehoben sein.

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Hinweise für Autoren

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Name, „Titel des Artikels“, in: Name / Name (Hrsg.), Buchtitel, Ort: Verlag, Jahr, Seitenzahl. Sofern ein Werk zum zweiten oder wiederholten Male zitiert wird, sollte die Abkürzung „Ebd.“ oder „Ibid.“ verwendet werden, wenn der Nachweis sich auf eine unmittelbar vorausgehende Zitierung bezieht, und nach einem Komma die Seitenangabe folgen. Wenn auf eine weiter zurückliegende Zitierung Bezug genommen werden soll, sollte der Name des Autors (kursiv gesetzt) wiederholt und in Klammern auf die Fußnote, die die erste Zitierung des Werkes aufweist, hingewiesen werden: Name (Fn. *), Seitenzahl. Seitenhinweise auf die eigene Arbeit sind aus Kostengründen zu vermeiden und durch Gliederungshinweise zu ersetzen. Von dem gesetzten Manuskript erhält der Autor nur einen Korrekturabzug. Korrekturen müssen dabei auf das Notwendige beschränkt bleiben; Kosten für nachträgliche Änderungen gehen zu Lasten des Autors. Autoren erhalten ein Belegexemplar des betreffenden Bandes des Jahrbuchs und jeweils 15 Sonderdrucke ihres Beitrages kostenlos. Die Autoren können weitere Exemplare mit einem Nachlaß von 25 % vom Ladenpreis und weitere Sonderdrucke zu einem Seitenpreis von 0,15 € beim Verlag beziehen. Das Manuskript bitte an folgende Anschrift einsenden: Jahrbuch für Recht und Ethik Institut für Strafrecht und Rechtsphilosophie Schillerstr. 1 D-91054 Erlangen Tel.: 0 91 31 / 8 52 69 33 email: [email protected] oder:

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